Migration und Innovation um 1900: Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende 9783205203483, 9783205202585


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Migration und Innovation um 1900: Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende
 9783205203483, 9783205202585

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Elisabeth Röhrlich (Hg.)

Migration und Innovation um 1900 Perspektiven auf das Wien der Jahrhundertwende Unter Mitarbeit von Agnes Meisinger

2016 BÖHLAU VERLAG · WIEN · KÖLN · WEIMAR

Veröffentlicht mit Unterstützung durch die Historisch-kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien die Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Adolf Hölzel: Dynamische Kreisrhythmen. Um 1930 (Privatbesitz).

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Ernst Grabovszki, Wien Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Layout: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Dimograf, Bielsko Biala Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20258-5

Inhalt

Elisabeth Röhrlich

Migration als Motor für Innovation in Wissenschaft und Kultur? Forschungsperspektiven auf die Wiener Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . 9 Michael John

Vielfalt und Heterogenität Zur Migration nach Wien um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Moritz Csáky

Hybride Kommunikationsräume und Mehrfachidentitäten Zentraleuropa und Wien um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Jacques Le Rider

Die Identitätskrisen in der Wiener Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Andreas Resch

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910 und die Partizipation von Juden, Tschechen und „Staatsfremden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Sylvia Hahn

Migrantinnen in Wien um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Steven Beller

The Influence of Jewish Immigration on the Modern Culture of Vienna 1900 . . . . . . 193

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Inhalt

Klaus Hödl

Galizische Juden und Jüdinnen in Wien Einige Gründe für deren Stereotypisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Wladimir Fischer-Nebmaier

Difference and the City Migrants from the Predominantly South-Slavic Speaking Regions of Austria-Hungary in Vienna around 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Birgit Peter

Elitär populär Diversität von Theaterformen im Wien um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Wolfgang Müller-Funk

Migration ohne transkulturelles Pathos Literarische Emigration und ihre Spuren in und nach der Jahrhundertwende in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Hans Petschar

Über die Konstruktion von Identitäten Vergangenheit und Zukunft im Kronprinzenwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Christian Glanz

Musikalische Wiener Jahrhundertwende mit Migrationshintergrund Über den problematischen Zusammenhang zwischen Migration, Innovation und kultureller Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Thomas Olechowski

Von Georg Jellinek zu Hans Kelsen Ein Beitrag zur Geschichte der Staatsrechtslehre an der Universität Wien um 1900 . . . 375 Elisabeth Heimann

Migrationsziel Wien Die moderne Großstadt als Anziehungspunkt für Kunstschaffende und Mäzene . . . . .399

Inhalt

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Alexander Klee

Viribus unitis? Networking im Vielvölkerstaat am Beispiel der Verlegerfamilie Hölzel . . . . . . . . . .425 Isabella Lehner

Migration, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Wiener Gemeinderat (1892–1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Marcus Gräser

„Gallert-Demokratien“? Migration, Parteibildung und kommunale Politik in Wien und Chicago 1890–1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Andreas Weigl

Wien um 1900 – ein Sonderfall in der Wiener Migrationsgeschichte? Der „Schmelztiegel“ in der kollektiven Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525

Elisabeth Röhrlich

Migration als Motor für Innovation in Wissenschaft und Kultur? Forschungsperspektiven auf die Wiener Jahrhundertwende

Eine Einleitung

Am 5. Oktober 1908 wurde am Columbia Theater in Washington ein Theaterstück uraufgeführt, dessen Titel zu einer der prägendsten Metaphern für die amerikanische Einwanderungsgesellschaft wurde: Israel Zangwills The Melting Pot. Das Stück spielt an der New Yorker Lower East Side und handelt von einer jüdisch-russischen Einwandererfamilie. Mit diesem Thema traf der britische Autor des Stückes bei seinem amerikanischen Publikum einen Nerv. In den Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs wanderten Millionen in die Vereinigten Staaten ein, ein Großteil von ihnen aus Süd- und Osteuropa. Die Frage nach der Zukunft der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft war allgegenwärtig. Das Stück, bei dessen Premiere sogar Präsident Theodore Roosevelt anwesend war, wurde ein großer Publikumserfolg, was zur Popularisierung der Metapher vom Melting Pot beitrug.1 Das Bild von der Einwanderungsgesellschaft als Schmelztiegel, in der Zuwanderer und Zuwanderinnen unterschiedlicher kultureller, nationaler und ethnischer Herkunft zu einer neuen Gemeinschaft verschmelzen, ist später oft auf andere Länder und Zeiten übertragen worden, um Phänomene von Migration und Integration zu beschreiben. Auch für Wien wurde die Metapher des Melting Pot immer wieder herangezogen.2 Das gilt insbesondere für die Jahrzehnte um 1900, als die Binnenmigration innerhalb der Habsburgermonarchie die kaiserliche Reichs- und Residenzstadt zur viertgrößten Metropole Europas machte. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Wien im europäischen Vergleich sogar, wenn auch mit deutlichem Abstand zu London und Paris, an dritter Stelle gestanden.3 1

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Neil Larry Shumsky, Zangwill’s The Melting Pot: Ethnic Tensions on Stage, in: American Quarterly, Vol. 27, Nr. 1 (März 1975), 29–41, hier: 29; Philip Gleason, The Melting Pot: Symbol of Fusion or Confusion?, in: American Quarterly, Vol. 16, Nr. 1 (Frühjahr 1964), 22–46, hier: 24. Vgl. besonders: Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Migration und Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990. Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien, Wien 1953; Wilhelm Rausch, Die Städ-

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Der Rückblick auf Wien um 1900 konzentriert sich aber nicht nur auf die Bedeutung der Zuwanderung, sondern richtet sich vor allem auf die wegweisenden Innovationen in Kunst, Kultur und Wissenschaft. Eine ganze Reihe von Begriffen versucht die Vielzahl und die Besonderheit der epochalen intellektuellen und künstlerischen Leistungen der Wiener Jahrhundertwende zu beschreiben. Durch die Arbeiten des amerikanischen Historikers Carl E. Schorske fand vor allem die Bezeichnung des Fin de Siècle große Resonanz.4 Er griff dabei einen zeitgenössischen Begriff auf, den unter anderem bereits ein Erzählband von Hermann Bahr aus dem Jahr 1891 im Titel geführt hatte.5 Aber auch von Vienna’s Golden Age6 oder von der Wiener Moderne7 ist die Rede. Viele Protagonisten und Protagonistinnen des kulturellen Booms der Jahrhundertwende waren Zuwanderer der ersten und zweiten Generation, oder, im aktuellen Sprachgebrauch: Menschen mit Migrationshintergrund. Welches Innovationspotenzial ging von der Zuwanderung in den urbanen Raum aus? In welchen kulturellen und wissenschaftlichen Bereichen schlugen sich die vielfältigen Einflüsse von Migration nieder? Hier ist nach Wissens- und Kulturtransfer zu fragen, nach Netzwerken, Assimilations- und Integrationsprozessen sowie differenzierten Identitäten, aber auch nach dem größeren Zusammenhang von Urbanität und Zuwanderung. Die Mobilität innerhalb der Habsburgermonarchie war ein Grund für die Diversität, welche die Großstadt Wien erst zur Metropole und zum modernen urbanen Raum werden ließ. Zuwanderung bedingte Heterogenität, die zugleich gesellschaftliche Herausforderung und Quelle neuer Kreativität sein konnte. Der hier vorliegende Sammelband nimmt diese Fragestellungen auf und möchte damit neue Perspektiven auf die Wiener Jahrhundertwende eröffnen. Er ist das Ergebnis eines am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien von Oliver Rathkolb initiierten und von der Kulturabteilung der Stadt Wien geförderten Forschungsprojektes, in dessen Rahmen die hier versammelten Aufsätze zwischen 2011 und 2015 entstanden. Die Autoren und Autorinnen beschäftigen sich mit unterschiedlichen Aspekten des Themas in Musik, Literatur und Bildender Kunst und gehen dabei auch auf die politischen Rahmenbedingungen sowie auf

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te Mitteleuropas im 19. Jahrhundert, Wien 1983. Siehe hierzu auch die Beiträge von Michael John und Andreas Weigl in diesem Band. Außerdem: Heinz Faßmann/Rainer Münz (Hrsg.), Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen, Wien 1995. Carl E. Schorske, Fin-de-siècle Vienna: Politics and Culture, Cambridge 1981. Hermann Bahr, Fin de Siècle, Berlin 1891. Reinhold Heller, Recent Scholarship on Vienna’s „Golden Age“, Gustav Klimt, and Egon Schiele, in: The Art Bulletin, Vol. 59, Nr. 1 (März 1977), 111–118. Vgl. zu Begriff und Theorie der „Wiener Moderne“: Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp (Hrsg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien – Köln – Graz 1993 (darin insbesondere die Aufsätze der Rubrik „Zur Theorie der Wiener Moderne“, 51–178).

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Diskriminierungserfahrungen, die viele Zuwanderer und Zuwanderinnen machten, ein. Die Beiträge ergänzen sich und nehmen immer wieder aufeinander Bezug. Dennoch sollen die einzelnen Texte auch für sich stehen können, weswegen darauf verzichtet wurde, inhaltliche Überschneidungen (etwa hinsichtlich des Zahlenmaterials) zu kürzen. 1. Die Wiener Jahrhundertwende im Fokus der Forschung

Beschäftigt man sich mit dem Zusammenhang von Zuwanderung und Innovation während der Wiener Jahrhundertwende, so findet man ein facettenreiches Forschungsfeld zu den künstlerischen und wissenschaftlichen Neuerungen der Zeit vor. Anfang der 1980er-Jahre erreichte das Interesse an diesem Thema mit Schorskes Fin de Siècle Vienna und dessen Übersetzung ins Deutsche8 einen Höhepunkt. Doch waren dem Buch bereits wichtige Studien vorausgegangen. Erste Impulse kamen hier von Emigranten und Remigranten.9 Seit den 1960er-Jahren erschienen die ersten Aufsätze Schorskes zum Thema, in denen er das Fin de Siècle Vienna Paradigma entwickelte. Die Wiener Moderne sah er dabei als ein Ergebnis der Krise des Liberalismus sowie der Identitätskrise junger Künstler und Schriftsteller.10 Zur weiteren Etablierung des Forschungsgegenstandes trugen Anfang der 1970er-Jahre auch das gemeinsam von Allan Janik und Stephen Toulmin verfasste Werk Wittgenstein’s Vienna11 sowie William M. Johnstons Buch The Austrian Mind: An Intellectual and Social History 1848–1938 12 bei. Als 2006 eine deutschsprachige Übersetzung von Johnstons Monographie erschien, nannte Johnston in einem neu verfassten Vorwort die Gründe, die ihn zwanzig Jahre zuvor für dieses Forschungsthema eingenommen hatten. Die Reichs- und Residenzstadt Wien habe ihn, so der Autor, vor allem als Ziel der internen Migration im Habsburgerreich interessiert: Die Reichshauptstadt war ein Treffpunkt für Intellektuelle aus allen Winkeln dieses Vielvölkerstaates. Ich betrachtete Wien also nicht als Welt für sich, sondern als einen Magneten, der ta-

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Schorske, Fin-de-siècle Vienna. Deutsche Übersetzung: Ders., Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt am Main 1982. 9 Z. B.: Hilde Spiel (Hrsg.), Wien. Spektrum einer Stadt, Wien – München 1971; Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit, Frankfurt am Main 1948; Henry Schnitzler, Gay Vienna: Myth and Reality, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 15, Nr. 1 (Januar 1954), 94–118; Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1942. 10 Vgl. hierzu auch: Carl E. Schorske (Hrsg.), The Transformation of the Garden: Ideal and Society in Austrian Literature. XIIe Congrès International des Sciences Historiques, Vienne, 29.8.– 5.9.1965. 11 Allan Janik/Stephen Toulmin, Wittgenstein’s Vienna, New York 1973. 12 William M. Johnston, The Austrian Mind: An Intellectual and Social History, 1848–1939, Berkeley 1972.

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lentierte junge Männer und Frauen verschiedenster Herkunft aus allen Gebieten der Monarchie anzog (oder manchmal auch abstieß).13

Auch Janik und Toulmin sowie Schorske berücksichtigen diese demographischen Entwicklungen und beschreiben sie als Teil des sozialen und gesellschaftlichen Hintergrunds, vor dem das Wirken der Wiener Intellektuellen und Kulturschaffenden stattfand. Die Zuwanderung nach Wien war Teil des vielschichtigen Zeitkontexts, in dem die künstlerischen und intellektuellen Leistungen der Wiener Moderne entstanden. Ohne im engeren Sinne Forschung zur Wirkung von Zuwanderung zu betreiben, verweisen die Autoren damit implizit auf die Bedeutung des Faktors Migration. Mit dem Erscheinen von Schorskes Monographie, vor allem aber mit dessen Übersetzung ins Deutsche, erfuhr das Fin de Siècle Vienna auch ein breites öffentliches Interesse. Die Wiener Ausstellung Traum und Wirklichkeit. Wien 1870–1930 zog nicht nur ein österreichisches Publikum, sondern auch internationale Touristen an. Mit welchem Aufwand diese Großausstellung realisiert worden war, lässt ein damaliger Bericht aus dem deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel erkennen: Dem schon weidlich strapazierten Sujet des Jahrhundertwende-Wien wird mit enormem Aufwand (umgerechnet mindestens fünf Millionen Mark) und ausgepichten Regie-Gags eine höchst originelle Inszenierung abgewonnen, die der Besucher durchwandert wie ein k. u. k. Disneyland.14

Zurückkommend auf den Aspekt der Migration zeigt sich an den Arbeiten zum Fin de Siècle Vienna, dass dieses Thema nicht nur hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Trends, sondern auch auf individueller Ebene in den Blick gerät. Das ist besonders dann der Fall, wenn die Biographie der untersuchten Personen und ihrer Vorfahren von Migration geprägt war und sich dies auf deren künstlerisches und wissenschaftliches Werk auswirkte, sei es durch Wissenstransfer oder, mittelbar, durch spezifische Identitätskonstruktionen und Zugehörigkeitsgefühle. Der französische Forscher Jacques Le Rider hat etwa von den Identitätskrisen der Wiener Moderne gesprochen.15 Das wird etwa am Beispiel Theodor Herzls und seinem Weg zum Zionismus deutlich, wenngleich dies keineswegs monokausal auf dessen jüdisch-ungarische Herkunft zurückgeführt wird. So ist es in Schorskes Darstellung vor allem die Auseinandersetzung mit der El13 William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien – Köln – Weimar 2006, v. 14 K. u. k. Disneyland, in: Der Spiegel, Nr. 14/1985, 231f. 15 Vgl. zum Aspekt der Identität auch die zentrale Studie: Jacques Le Rider, Modernité viennoise et crises de l’identité, 2. überarb. Aufl., Paris 1994.

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terngeneration und den von ihr vertretenen Werten und Lebensvorstellungen, denen eine zentrale Bedeutung für die intellektuellen Entwicklungen – auch im Denken Herzls – beigemessen wird.16 Das Werk Herzls ist auch ein Beispiel für die unterschiedlichen Gedankenmodelle und Gesellschaftskonzepte, die in Reaktion auf den von Zuwanderung geprägten gesellschaftlichen Wandel entstanden. In den Studien der Fin de Siècle-Forschung werden dabei vor allem jene Konzepte und Ideologien diskutiert, die in einem Zusammenhang mit der jüdischen Frage stehen. So wird insbesondere der wachsende Antisemitismus untersucht, der unter Karl Lueger zur Massenbewegung und unter Georg von Schönerer radikalisiert wurde. Doch auch ganz andere Gesellschaftsentwürfe und Politikkonzepte tragen auf je unterschiedliche Weise die Handschrift der von Migration geprägten Zeit. Hier kann exemplarisch die Beschäftigung Karl Renners, der aus Mähren stammte, mit der Nationalitätenfrage17 genannt werden oder auch die Idee Paneuropa – entwickelt von dem in Tokio geborenen und in Böhmen aufgewachsenen Richard von Coudenhove-Kalergi.18 Seit den 1980er-Jahren nahm in den kultur- und geistesgeschichtlichen Studien über die Wiener Moderne verstärkt die Auseinandersetzung mit dem Judentum eine herausgehobene Stellung ein, wie Steven Beller in einem 2011 erschienen Aufsatz zur Geschichte der Fin de Siècle-Forschung herausgearbeitet hat.19 1983 legte die US-amerikanische Historikerin Marsha L. Rozenblit ihre Studie The Jews of Vienna vor, in der sie auf der Basis empirischer Daten eine umfassende Untersuchung der jüdischen Immigration bot.20 Ausführlich untersuchte sie die Bedingungen, Formen und Phasen der jüdischen Zuwanderung nach Wien, welche den größten Anteil am rapiden Wachstum der Stadt hatte. Rozenblit unterscheidet vor allem drei Phasen der jüdischen Zuwanderung nach Wien: die erste aus Böhmen und Mähren, gefolgt von einer zweiten Zuwanderungsphase aus Ungarn und schließlich drittens der Zuzug aus Galizien. Die jüdische Binnenmigration im Habsburgerreich, so Rozenblit, konzentrierte sich vor allem auf die Städte, dort wiederum auf bestimmte Stadtviertel. In Wien waren dies die Innere Stadt (I. Bezirk), die Leopoldstadt (II. Bezirk) und der Alsergrund (IX. Bezirk). Rozenblit vertritt dabei die These, dass sich die jüdische Zuwanderung nach Wien von anderen Migrationsbewegungen – etwa der vom Wiener Umland in das städtische Zentrum – markant unterschied:

16 Schorske, Fin-de-siècle Vienna, 1981, 161–180. 17 Karl Renner, Grundzüge für eine endgiltige Lösung der Nationalitätenfrage in Oesterreich, Wien 1897. 18 Richard Nicolaus von Coudenhove-Kalergi, Das pan-europäische Manifest, 1924. 19 Steven Beller, Fin de Fin-de-Siècle Vienna? A Letter of Remembrance, in: Global Austria. Contemporary Austrian Studies 20 (2011), 46–80, hier: 47. 20 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867–1914. Assimilation and Identity, Albany 1983.

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Jewish immigrants to Vienna may have participated in a larger Austrian population movement, but when they arrived in the city – as indeed after they had lived in the city for decades – they were a unique group, profoundly different from non-Jewish immigrants.21

Rozenblit verbindet in ihrer Studie den Blick auf Herkunftsregionen und Migrationsmuster mit jenem auf die Situation in der Aufnahmegesellschaft. Neben der Wahl des Wohnortes geht sie dabei auch auf Netzwerke, Heiratsverhalten und Ausbildungswege ein. Sie arbeitet heraus, dass der Anteil jüdischer Schüler an den Wiener Gymnasien prozentual deutlich höher war als jener aus nicht-jüdischen Familien. Zur hohen Bedeutung, welche der wissenschaftlichen Ausbildung beigemessen wurde, kamen gut funktionierende Netzwerke innerhalb des gehobenen jüdischen Bürgertums. Damit bietet Rozenblit einen Erklärungsansatz für den großen Anteil jüdischer Kulturschaffender und Intellektueller unter den kreativen Schöpfern und Schöpferinnen der Wiener Moderne. Gleichwohl dürfen auch jene Migrationsgeschichten, die keine Erfolgsgeschichten waren, nicht aus den Augen verloren werden. So ist etwa durch die Arbeiten Klaus Hödls auch eine andere Seite der jüdischen Zuwanderung nach Wien in den Fokus geraten: die Armut weiter Teile des galizischen Judentums.22 Auch Beller setzt sich in seinen Studien intensiv mit dem Wiener Judentum auseinander. Für ihn kommt dem „Jewish aspect“ eine eminente Bedeutung bei der Ausformung der spezifisch Wienerischen Moderne zu.23 In seinen Thesen geht er davon aus, dass es kein Zufall sei, dass zahlreiche herausragende Vertreter und Vertreterinnen der Wiener Moderne aus jüdischen Familien kamen. Deren Herkunft habe im Gegenteil stark auf ihre intellektuelle und künstlerische Entwicklung eingewirkt: It provided new perspectives from transformed Jewish traditional values and attitudes; it also, through the experience of emancipation and indeed assimilation, added an innovative and critical edge to cultural and intellectual production.24

Bellers Thesen stießen bei dem aus Wien emigrierten britischen Kunsthistoriker Ernst Gombrich auf entschiedenen Widerspruch, was in den 1990er-Jahren zu einer Forschungskontroverse innerhalb der Fin de Siècle-Forschung führte. Gombrich lehnte vor allem die Idee einer 21 Ebd., 19. 22 Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien – Köln – Weimar 1994 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek). 23 Steven Beller, Is there a Jewish Aspect to Modern Austrian History?, in: Hanni Mittermann/Armin A. Wallas, Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis, Tübingen 2001, 43–52, hier: 43. 24 Ebd., 50f.

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spezifisch „jüdischen Kultur“ ab, da er darin ausschließlich eine Erfindung „von Hitler und seinen Vor- und Nachläufern“ sah.25 Die Studien zum Wiener Fin de Siècle bieten damit höchst interessante Ansätze, um der Frage nach dem Innovationspotenzial von Zuwanderung nachzugehen. Auch wenn dabei oft ein deutlicher Schwerpunkt auf der jüdischen Migration liegt, kann hier der Blick auf andere Gruppen von Zuwanderern angeschlossen werden. So ist danach zu fragen, ob das, was Robert Wistrich über das Wiener Judentum sagt, auch auf andere Gruppen von Migranten zutrifft: They helped transform a city which had not been in the forefront of European intellectual or artistic activity (except in music) into an experimental laboratory for the creative triumphs and traumas of the modern world.26

In den Lebenswegen zahlreicher Wiener und Wienerinnen der Jahrhundertwende waren jüdische Herkunft und Migrationshintergrund direkt miteinander verbunden: Bis auf wenige Ausnahmen waren die jüdischen Bewohner und Bewohnerinnen Wiens entweder selbst in die Metropole zugewandert oder aber ihre Eltern. In diesem Sinne kann die Frage nach dem jüdischen Anteil an der Wiener Moderne auch als Frage nach Migrationserfahrungen und -wirkungen gestellt werden. 2. Das andere Wien um 1900 – Weiterentwicklungen der Fin de Siècle-Forschung seit den 1980er-Jahren

Die Fragestellungen, welche die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Wiener Moderne begleiten, weisen häufig einen Bezug zur Gegenwart auf – zu der Zeit also, aus der heraus die Forscher und Forscherinnen über die Wiener Jahrhundertwende schreiben. So erläutert Schorske in seiner Einleitung, dass die zunehmende Aufmerksamkeit, welche amerikanische Intellektuelle in den 1950er-Jahren den Schriften Sigmund Freuds schenkten, sein Interesse an der Wiener Moderne verstärkt habe.27 Für Janik und Toulmin ist es das Thema Migration, das sie einen Bezug zwischen dem Wien der Jahrhundertwende und den Vereinigten Staaten der 1970er-Jahre ziehen lässt. Am Ende ihrer Studie setzen sie beide Einwanderungsgesellschaften in Bezug zueinander:

25 Ernst Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung. Mit einer Einleitung von Emil Brix und einer Diskussionsdokumentation von Frederick Baker, hrsg. v. Emil Brix und Frederick Baker, Wien 1997, 33. 26 Robert S. Wistrich, The Jews of Vienna in the Age of Franz Joseph, New York 1989, xii. 27 Schorske, Fin-de-Siècle Vienna, 1981, xxiv.

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So, in the United States today, we often seem to be watching, while only half understanding, a bungled remake of some political drama originally played out in the last days of the Habsburg Empire.28

Der Vergleich ist auch mit Blick auf die österreichische Forschungsdebatte interessant. Hier ging die Aufmerksamkeit genau in die entgegengesetzte Richtung: Das aus dem amerikanischen Diskurs entlehnte Bild des Melting Pot wurde sogar zum Titel der ersten umfassenden Bestandsaufnahme der Zuwanderung nach Wien um 1900. Anfang der 1990er-Jahre erschien der von Michael John und Albert Lichtblau herausgegebene Band Schmelztiegel Wien – einst und jetzt, der sich, wie es auch der Untertitel beschrieb, mit Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten in Wien beschäftigte.29 Angesichts der Allgegenwart von Zuwanderung im Wien der 1980er-Jahre und zusätzlich angeregt durch die geschichtspolitisch fragwürdigen Veranstaltungen zur 200-Jahr-Feier der „Türkenbefreiung“, sahen sich die Herausgeber und ihr Forschungsteam dazu herausgefordert, einen neuen Blick auf die Geschichte Wiens als Einwanderungsstadt zu werfen. Erstmals wurde eine umfassende Darstellung der Zuwanderung nach Wien um 1900 – mit Perspektiven auf die Gegenwart – vorgelegt, in der nicht allein die jüdische und tschechische Zuwanderung im Zentrum des Interesses standen, sondern auch zahlenmäßig kleinere ethnische und nationale Gruppen. Anders als in den Studien der Fin de Siècle-Forschung, in welchen der Schwerpunkt auf den künstlerischen und intellektuellen Eliten liegt, berücksichtigt der Band dabei auch breite Bevölkerungsschichten. Zur gleichen Zeit wie John und Lichtblau machten sich auch andere Wiener Wissenschaftler an eine Kurskorrektur der Forschung zur Wiener Jahrhundertwende. Hier ist vor allem der von Hubert Christian Ehalt, Gernot Heiß und Hannes Stekl gemeinsam herausgegebene Sammelband „Glücklich ist, wer vergisst ...?“ Das andere Wien um 1900 zu nennen, der bereits in seinem Titel provokant auf die bis dahin dominierende Fin de Siècle-Forschung reagierte.30 Mit „Romantisierung des Fin de Siècle“,31 wie Frank Stern und Barbara Eichinger es einmal zugespitzt formuliert haben, haben die hier gesammelten Aufsätze nichts gemein. Bewusst wird der Blick von der Hoch- auf die Alltagskultur gerichtet sowie Geschlechter- und Wohnverhältnisse, Familienleben und unterschiedlichste Kulturbereiche in die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Wiener Jahrhundertwende einbezogen. Ein vergleichbares Anliegen verfolgten auch Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner in ihrem 1999 veröffentlichten 28 Janik/Toulmin, Wittgenstein’s Vienna, 1973, 270. 29 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 1993. 30 Hubert Ch. Ehalt/Gernot Heiß/Hannes Stekl (Hrsg.), Glücklich ist, wer vergisst ...? Das andere Wien um 1900, Wien – Köln – Graz 1986. 31 Frank Stern/Barbara Eichinger, Einleitung. Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938, in: Dies. (Hrsg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien – Köln –Weimar 2009; xiii–xxv, hier: xvii.

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Band Die Anarchie der Vorstadt, der in seinem Untertitel ebenfalls das programmatische Statement vom „anderen Wien um 1900“ übernahm.32 Hier wurde dem Wien der Ringstraße die urbane Peripherie gegenübergestellt und die Vorstädte in die Perspektive mit einbezogen. Denn es waren diese Wiener Vorstädte, welche durch die Zuwanderung aus den unterschiedlichen Gebieten der Habsburgermonarchie das rasanteste Bevölkerungswachstum erfuhren. Wohnungsnot, Armut, Kriminalität, aber auch neue Formen von Massen- und Unterhaltungskultur gehörten zum Leben an den wachsenden Rändern der Metropole. Dieser Blick auf die Peripherie Wiens bestimmt auch aktuelle Forschungen, welche die „Meistererzählung“ vom Wiener Fin de Siècle durch neue Perspektiven ergänzen möchten. In einem Aufsatz über die bisher kaum von der Forschung berücksichtigten südosteuropäischen Migranten in Wien – darunter etwa die griechisch-orthodoxe Zuwanderung – erläutert Wladimir Fischer, dass für dieses Anliegen auch neue Quellen jenseits der künstlerischen und literarischen Schöpfungen der Hochkultur herangezogen werden müssen: Obwohl Wien um die Jahrhundertwende international als Slumstadt galt, hat sich dieses Bild nicht in den Texten niedergeschlagen, die auch heute noch Teil unserer vorherrschenden Gedächtnisprojektion sind.33

Wie einige andere der zitierten Studien zur Wiener Jahrhundertwende nimmt auch die 2010 von Moritz Csáky veröffentlichte Monographie Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa Bezug auf die Gegenwart des Autors. Csáky hatte bereits seit den 1990er-Jahren den einflussreichen Grazer Spezialforschungsbereich „Wien und Zentraleuropa um 1900“ geleitet.34 In der Einleitung heißt es: Migrationen und Mobilitäten von Personen und Gruppen gehören ohne Zweifel zu den großen Herausforderungen der Gegenwart, denen sich die Gesellschaft und die Politik der jeweils betroffenen Länder zu stellen haben.35

32 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt am Main – New York 1999. 33 Wladimir Fischer, Von Einschusslöschern und Gesäßabdrücken. Spuren von MigrantInnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900, in: Ders. u.a., Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867–1918. Kulturwissenschaftliche Annäherungen, Tübingen 2010, 139–172, hier: 145. 34 Der Endbericht des Spezialforschungsbereiches ist online zugänglich unter: http://www-gewi.unigraz.at/moderne/sfb2004.htm (zuletzt abgerufen am 07.08.2015). 35 Moritz Czáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien – Köln – Weimar 2010.

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In seiner Studie widmet sich Csáky den urbanen Zentren im Zentraleuropa der Jahrhundertwende und bietet dabei zahlreiche Einblicke in unterschiedliche Bereiche der Hoch-, aber auch der Massenkultur der Zeit. Kulturelle Vielfalt und hybride Zugehörigkeiten kennzeichnen seine Darstellung der Innovationslandschaft der Wiener Jahrhundertwende: Die Nähe beziehungsweise die Verschränkung vielfältiger kultureller Traditionen in einer sozialen Schicht oder in einer Person, wie sie in den urbanen Milieus sichtbar wurde, konnte zu einem wichtigen Stimulans für Kreativität werden.36

Vor dem Hintergrund dieser – hier nur in ihren groben Zügen und ohne Anspruch auf Vollständigkeit nachgezeichneten – Debatten zur Wiener Moderne erschien es ein vielversprechendes Forschungsanliegen, die einzelnen Ansätze zu bündeln und sich neu der Frage zu widmen, welchen spezifischen Anteil Zuwanderung an den innovativen wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen hatte. Dazu gehören Fragen nach Kulturtransfer, hybriden Identitäten und unterschiedlichen Integrationsformen ebenso wie nach kultureller, nationaler und ethnischer Diversität. Auch die Einbeziehung der Herkunftsregion und der Migrationsgeschichten in den jeweiligen Familienbiographien – die damit verbundenen Prägungen, Erfahrungen, Traditionen und Kenntnisse – verspricht neue Erkenntnisse über die innovativen Leistungen der kreativen Schöpfer der Wiener Jahrhundertwende. Die Forschungsdebatte ist keineswegs abgeschlossen, wofür Csákys Monographie ein wichtiges Beispiel ist. 3. Innovation, Migration und Wirtschaft

Bereits in den frühen Studien zum Wiener Fin de Siècle wurde das Innovative der kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen jener Zeit betont. „Great intellectual innovators“ – so nannte etwa Carl E. Schorske die Vertreter und Vertreterinnen der Wiener Moderne.37 Innovationen fanden in den unterschiedlichsten Bereichen von Musik, Literatur, von Medizin und Psychologie, Bildender Kunst und Architektur statt. Das Interesse der Fin de Siècle-Forschung liegt dabei meist auf den intellektuellen und künstlerischen Leistungen, auf deren Qualität und Originalität. Nach der ökonomischen Bedeutung und dem wirtschaftlichen Erfolg dieser Innovationen wird dagegen selten gefragt. Im Gegenteil: In den Studien zur Wiener Moderne werden deren wichtigste Vertreter klar von der Gründerzeit-Generation ihrer Eltern abgegrenzt. Janik und Toulmin erläutern:

36 Ebd., 361. 37 Schorske, Fin-de-Siècle Vienna, 1981, xviii.

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If the generation of the Gründer held that „Business is Business“ and art is essentially the ornamentation of (business) life, their sons, for whom art was essentially something creative, retorted that „Art is Art“ and business is a tedious distraction diverting one from (artistic) creation.38

Seit einigen Jahren erscheinen mehr und mehr Studien, die sich dem Bereich der Kreativwirtschaft in Wien widmen und dabei, wenn auch erst vereinzelt, auf die Zeit der Wiener Jahrhundertwende zurückgehen. Hier ist insbesondere die von Peter Mayerhofer, Philipp Peltz und Andreas Resch im Rahmen eines WWTF-Projektes erarbeitete Studie Creative Industries in Wien: Dynamik, Arbeitsplätze, Akteure zu nennen.39 Während sich die an anglo-amerikanische Forschungsdebatten anknüpfenden Studien zur Wiener Kreativwirtschaft in weiten Teilen auf Entwicklungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder die Gegenwart konzentrieren, geht Resch bis zum Anfang des Jahrhunderts zurück. Er fokussiert dabei vor allem auf die Entwicklung der Beschäftigungszahlen und das unternehmerische Potenzial der Creative Industries, zu denen er Architektur, den audiovisuellen Bereich, die Bildende Kunst einschließlich des Kunstmarktes, daneben Darstellende Kunst und Unterhaltungskunst, die Bereiche Grafik, Mode und Design sowie Literatur, Verlagswesen, Musikwirtschaft, Museen und Bibliotheken zählt.40 Im Jahrhundertvergleich verweist Resch explizit auf die Hochphase der Creative Industries während der Wiener Jahrhundertwende: Insgesamt machen die stark verminderten Bevölkerungs- und Beschäftigungszahlen aus dem Jahr 1951 im Vergleich zu 1910 deutlich, wie schwer sich der Rückschlag auswirkte, den die Wiener Wirtschaft und insbesondere auch der Wiener Kreativwirtschaft nach der Wachstumsphase im Fin de Siècle durch die Auflösung der Habsburgermonarchie, die schwache wirtschaftliche Entwicklung während der Zwischenkriegszeit und die NS-Herrschaft erlitt.41

Auch wenn der Aspekt der Migration nicht im Zentrum der Studien zu den Creative Industries steht, bietet jener Forschungsbereich gleichwohl interessante theoretische Anregungen, die für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Wiener Kreativwirtschaft um 1900 fruchtbar sein können. Hier wird auch deutlich, mit welchen Analysemodellen der Faktor Migration stärker berücksichtigt werden kann. So betonen Andreas Resch und Reinhold Hofer die Relevanz gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum:

38 Janik/Toulmin, Wittgenstein’s Vienna, 1973, 45. 39 Peter Mayerhofer/Philipp Peltz/Andreas Resch, „Creative Industries“ in Wien. Dynamik, Arbeitsplätze, Akteure, Wien – Berlin 2008. 40 Ebd., 23. 41 Ebd., 28.

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Vor dem Hintergrund des heutigen Erkenntnisstandes sind innovative industrielle Sektoren stark von einem entsprechenden Milieu abhängig, welches u.a. durch qualifiziertes Personal, Unternehmertum und Kapitalbereitstellung sowie die nötigen kaufkräftigen und aufgeschlossenen Nachfrager gekennzeichnet ist.42

In Sammelbänden zu Innovationsmustern und Innovationskultur in Wien werden zudem theoretische Impulse gegeben, die etwa die Bedeutung „grenzüberschreitender Netzwerke“43 und den damit verbundenen Transfer von Wissen und Kompetenzen betonen oder Ansätze zur Analyse sozialer Netzwerke entwickeln.44 Auch wenn diese Analysemodelle vor allem auf den Bereich der wirtschaftlichen Innovation gerichtet sind, scheint es eine anregende Aufgabe, ihre Fragestellungen und Ansätze auch auf den Bereich der wissenschaftlichen und kulturellen Innovation zu übertragen. Die Sparten Design, Architektur und Unterhaltungsindustrie sind nur drei mögliche Beispiele für Bereiche, in denen sich während der Wiener Jahrhundertwende Kunst und Kommerz überschnitten. Der international wohl bekannteste Vertreter der Creative-Industries-Forschung, Richard Florida, verweist darüber hinaus auf die Funktion, welche Zuwanderung und gesellschaftliche Diversität bei der Schaffung eines kreativen Umfelds haben. In seinem Buch Cities and the Creative Class45 erläutert er dies anhand der jüngeren Entwicklung ausgewählter nordamerikanischer Städte. Für Florida sind es drei Aspekte, die ökonomisches Wachstum bewirken: Technologie, Talent und Toleranz.46 Insbesondere was den letzten Punkt betrifft, misst er dem Aspekt der Migration eine besondere Rolle bei. Zuwanderung sieht er in einem direkten Zusammenhang mit dem kreativen Potenzial einer Stadt. Der „Melting Pot Index“ einer Stadt wirke auf die dortige Kreativwirtschaft zurück:47

42 Andreas Resch/Reinhold Hofer, Österreichische Innovationsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert: Indikatoren des Innovationssystems und Muster des Innovationsverhaltens, Innsbruck – Wien – Bozen 2010, 21. 43 Dorothea Jansen, Innovationen durch Organisationen, Märkte oder Netzwerke?, in: Reinhold Reith/Rupert Pichler/Christian Dirninger (Hrsg.), Innovationskultur in historischer und ökonomischer Perspektive. Modelle, Indikatoren und regionale Entwicklungslinien, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 77–97, hier: 77. 44 Wolfgang Neurath, Innovation und soziale Netzwerkanalyse, in: Rupert Pichler (Hrsg.), Innovationsmuster in der österreichischen Wirtschaftsgeschichte. Wirtschaftliche Entwicklung, Unternehmen, Politik und Innovationsverhalten im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck – Wien – München – Bozen 2003, 73–91. 45 Richard Florida, Cities and the Creative Class, New York 2005. 46 Ebd., 6. 47 Ebd.

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All else being equal, more open and diverse places are likely to attract greater numbers of talented and creative people – the sort of people who power innovation and growth.48

Auch wenn Florida auf den Anfang des 21. Jahrhunderts und nicht den des 20. Jahrhunderts blickt, knüpft er doch an die frühere Epoche an. Er schlägt einen Bogen zu den Forschungen der Chicago School, die seit den 1920er-Jahren erschienen und bis heute von der Migrationssoziologie und der Urban Anthropology stark rezipiert werden. Robert Ezra Park, einer der Pioniere der Chicago School, stellte den Zusammenhang von Diversität, Kreativität und Innovation ins Zentrum seiner Studien.49 Er unterscheidet zwischen früheren Migrationsphasen, die in der Regel kollektiv erfolgten, und modernen – deutlich individuelleren und auf persönlichen Motiven basierenden – Migrationsprozessen. Ausführlich widmet sich Park dem Verhältnis von Zugewanderten und Aufnahmegesellschaft. Den emanzipierten Juden („the emancipated Jew“) charakterisiert er dabei als „marginal man“ und als „cultural hybrid“ in der modernen Gesellschaft: He was a man on the margin of two cultures and two societies, which never completely interpenetrated and fused. The emancipated Jew was, and is, historically and typically the marginal man, the first cosmopolite and citizen of the world.50

Die Überlegungen Parks bringen uns zurück auf die eingangs formulierten Fragen zum vielschichtigen Zusammenhang von Migration, Identität, Integration und Innovation. Nicht zuletzt angesichts der aktuellen Relevanz des Themenkomplexes Migration und Integration können sie Anregung für eine neue Beschäftigung mit der Wiener Jahrhundertwende sein. Dabei soll das Innovationspotenzial von Zuwanderung im Mittelpunkt des Interesses stehen und somit auch der im aktuellen Diskurs oft erkennbaren Kulturalisierung sozialer Themen entgangen werden. Das Coverbild des Bandes soll daran erinnern, dass Migrationsbewegungen nicht immer mit einem klaren Anfang und Ende, einem Ausgangspunkt und einem endgültigen Ankunftsziel verbunden sind. Das Bild stammt von dem Mahler Adolf Hölzel, dessen Migrationsgeschichte von mehreren Migrationswanderungen geprägt ist. Das hier abgebildete Aquarell entstand um 1930 in Stuttgart. Seine künstlerische Prägung hatte der aus Mähren stammende Hölzel aber zu großen Teilen in Wien, München und Dachau erhalten.51 48 Ebd., 40. 49 Ebd., 27f. 50 Robert Ezra Park, Human Migration and the Marginal Man, in: Ders., Collective Papers, Bd. 1: Race and Culture, hrsg. v. Everett Cherrington Hughes u.a., Illinois u.a. 1950, 345–356, hier: 354. 51 Adolf Hölzel, Dynamische Kreiswelten, um 1930 (in Privatbesitz). Vgl. zu Hölzel auch den Beitrag von Alexander Klee in diesem Band.

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Abschließend sei allen Autorinnen und Autoren für ihre spannenden Beiträge und für ihre Geduld bei der langen Entstehungsgeschichte des Bandes gedankt, ebenso wie Oliver Rathkolb für die Initiierung und Leitung des Projekts und der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7) für dessen Finanzierung. Agnes Meisinger hat an der Konzeption und Umsetzung des Bandes intensiv mitgearbeitet und die wichtige Aufgabe der inhaltlichen und redaktionellen Schlussbearbeitung übernommen.

Michael John

Vielfalt und Heterogenität Zur Migration nach Wien um 1900

Eine starke Zuwanderung in die Residenzstadt Wien setzte bereits früh ein. Sylvia Hahns Feststellung, „dass die regionalen Arbeitsmärkte bereits seit dem 17., 18. und 19. Jahrhundert“ auch von „der überregionalen Rekrutierung von Arbeitskräften“ geprägt seien, traf auf die Metropole des Habsburgerreich jedenfalls zu. 1 Die Herkunft der Migranten und Migrantinnen stand im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt, aber auch mit dem Alter, mit vorhandenen Netzwerken und der ökonomischen und gesellschaftlichen Situation in den Herkunftsregionen. Migration ist ein komplexer Vorgang. Heterogenität kennzeichnete die Zuwanderungsbevölkerung sowohl im Hinblick auf die Herkunft als auch in sozialer Hinsicht. Eine starke soziale und sozialräumliche Segregation war für die Stadt ebenso charakteristisch wie die teils multiethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen und Auswirkungen der Zuwanderung lässt sich feststellen: „In Habsburg Central Europe, the practices of everyday life were shaped both by nationalist doctrines of national homogeneity and a reality of striking heterogeneity (language, confession, culture).“2 Aus dieser Kombination entstanden Widersprüche und ambivalente Realitäten. 1. Multiethnische Zuwanderung 1867 bis 1914: Tschechen, Juden, Ungarn, Slowaken, Italiener ...

Vor mehr als 25 Jahren verfasste der Autor zusammen mit Albert Lichtblau ein Werk, das sich mit der Geschichte der Zuwanderung nach Wien auseinandersetzte: Schmelztiegel Wien – einst und jetzt.3 Seitdem haben sich die Perzeptionen dieses Vorgangs verändert, nicht aber die Fak1 2

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Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Transkulturelle Perspektiven 5), Göttingen 2008, 83. Johannes Feichtinger/Gary B. Cohen, Introduction. Understanding Multiculturalism: The Habsburg Central European Experience, in: Gary Cohen/Johannes Feichtinger (Hrsg.), Understanding Multiculturalism and the Habsburg Central European Experience, New York – Oxford 2014, 10–11. Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990 (1993). Schon damals hätte der Titel des Buches „Schmelztiegel Wien?“ lauten müssen, was aus Gründen der Buchtitelgestaltung unterblieb.

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ten: Die Agglomeration Wien (Innere Stadt, Vorstädte, Vororte) vergrößerte ihre Bevölkerungszahl von rund 240.000 im Jahre 1810 auf 2,05 Millionen im Jahre 1910 und geschätzte 2,15 Millionen bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Neben den zeitweise hohen Geburtenraten hatte das Bevölkerungswachstum im deutschsprachigen Raum der Monarchie durch die Zuwanderung in den Großraum Wien eine enorme Dynamik erhalten. Heinz Faßmann bezeichnete das Wien der Jahrhundertwende als „Magneten“, der Wanderungen innerhalb der österreichischen Reichshälfte anzog.4 Demgegenüber verzeichneten die Kronländer Galizien, Bukowina, Dalmatien, Schlesien, Mähren, Böhmen und Krain in Altösterreich die größten Wanderungsverluste.5 In dem Sammelband Wien als Magnet?, der schriftstellerische Arbeiten aus Ost-, Ostmittel- und Südeuropa über die Donaumetropole enthält, wird die etwas mechanisch wirkende Metapher ebenfalls verwendet. Dahinter steht die große Attraktivität der Stadt für Zuwanderer.6 Es steht außer Frage, dass auf gesamtgesellschaftlicher Ebene das sogenannte „Migrationsregime“ der Hochgründer- und Spätgründerzeit – ungeachtet der bestehenden Heimatgesetzgebung – als vergleichsweise liberal angesehen werden muss, insbesondere auch als die wesentlichen Zuwanderungsbewegungen als Binnenmigration anzusehen waren. Die Zeit war durch weitgehende Migrationsfreiheit geprägt.7 Um 1900 war Wien eine Zuwanderungsstadt, die zuwandernde Bevölkerung kam aus zahlreichen mittel- und osteuropäischen Regionen. Die Stadt war in der Hoch- und Spätgründerzeit durch von Multiethnizität und Diversität gekennzeichnete Migrationen geprägt, die sich in Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft auswirkten. Andererseits hatten sich Kräfte entfaltet, die der Diversität in der Reichshauptstadt massiv entgegenzuwirken trachteten.8 Die Österreichisch-Ungarische Monarchie war 4

5 6 7

8

Heinz Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band IX/1, Lebens- und Arbeitswelten in der industriellen Revolution, Wien 2010, 159–184, hier: 173. Ebd., 163. Vgl. Gertraud Marinelli-König/Nina Pavlova (Hrsg.), Wien als Magnet? Schriftsteller aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa über die Stadt, Wien 1996. Dirk Hoerder/Jan Lucassen/Leo Lucassen, Terminologie und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Klaus Bade/Pieter Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hrsg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2007, 28–52, hier: 43. Die folgenden Ausführungen basieren zum Teil auf Michael John, „We do Not Posses Our ­Selves“: On Identity and Ethnicity in Austria, 1880–1937, in: Austrian History Yearbook Vol. 30 (1999), Minneapolis 1999, 17–64; Michael John, National Movements and Imperial Ethnic Hegemonies in Austria 1867–1918, in: Dirk Hoerder/Christiane Harzig/Adrian Shubert (Hrsg.), The Historical Practice of Diversity: Transcultural Interactions from the Early Modern Mediterranean to the Postcolonial World, New York – Oxford 2003, 87–108; Michael John, „Schmelztiegel“ – „Mosaik“ – „regionales Zentrum“ 1880–1914. Stadttypus im Vergleich (Migration, Integration und Ethnizität), in: Lukas Fasora/Jiři Hanuš/Jiři Malíř (Hrsg.), Brünn – Wien, Wien – Brünn. Landesmetropolen und Zentren des Reiches im 19. Jahrhundert, Brno 2008, 221–242.

Vielfalt und Heterogenität

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ein multiethnischer Territorialstaat mit einer Reihe anerkannter Religionsgemeinschaften und Sprachen. Ungeachtet der Dominanz der deutschsprachigen Eliten gab es in der österreichischen Reichshälfte keine per definitionem festgelegte Staatssprache. Nach 1867 sollte sich das Gewicht dynastischer Überlegungen und supranationaler Schwerpunktsetzung sukzessive verringern. Aufgrund der massiven Zuwanderung stellte sich die nationale Frage ab den 1880er-Jahren nachhaltig. Aus allen Teilen der Monarchie strömten Zuwanderer und Zuwanderinnen in die Reichshauptstadt. Ein desintegrativ wirkendes Heimatrecht komplizierte die Situation, Geburtsbevölkerung und heimatberechtigte Bevölkerung differierten deutlich. Hunderttausende Arbeitsmigranten und -migrantinnen aus der Monarchie wurden so zu „Fremden im eigenen Land“ und trugen auf diese Weise zur Heterogenität der Bevölkerung bei.9 Bis zur Heimatrechtsreform um die Jahrhundertwende gab es keinen Anspruch auf eine Ersitzung des Heimatrechts, im Falle der Verarmung oder bei Kleinkriminalität konnte der Fremde, gleichgültig ob er aus Rovereto, Lemberg oder Ragusa, aus Hohenau, Mistelbach oder Steyr stammte, in die Heimatgemeinde abgeschoben werden. Das Heimatrecht ging vom Mann auf Frau und Kinder über. 1863 war das Heimatrecht enorm verschärft worden und blieb in dieser Form bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Kraft.10 Eine wichtige Quelle, die Indikatoren zur Herkunft der zuwandernden Bevölkerung enthält, sind die Volkszählungen. Die altösterreichische Sprachstatistik gibt allerdings keine klaren Hinweise auf die Herkunft der Zuwanderer. Die Volkszählungen, bei denen in Österreich ab 1880 unter einem gewissen Druck nach nur einer, unklar definierten, Umgangssprache gefragt wurde, spiegelten die multiethnische Zusammensetzung der Wiener Bevölkerung nur undeutlich wider. 1900 wurden beispielsweise 92 Prozent der Bevölkerung als deutschsprachig klassifiziert, 8 Prozent sprachen eine andere Sprache (tschechisch, sonstige).11 Von 1890 bis 1910 wurde im Abgeordnetenhaus des Reichsrates in mehr als zwanzig Interpellationen und Anträgen die Ersetzung der Fragestellung bei der Volkszählung nach der „Umgangssprache“ durch die Begriffe „Nationalität“ oder „Muttersprache“ gefordert. Sämtliche Initiativen wurden abgelehnt oder sie blieben ohne Ergebnis. Da die Volkszählungen jeweils am 31. Dezember des Stichjahres abgehalten wurden, befanden sich viele Zuwanderer und Zuwandererinnen zudem nicht am Arbeitsort und damit nicht am potenziellen Zählort, sodass auch hinsichtlich des Zeitpunktes der Volkszählungen eine Reform gefordert wurde.12 9

Vgl. Sylvia Hahn, Österreich, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer, Enzyklopädie Migration, 171– 188, hier: 177–179. 10 Vgl. Sylvia Hahn, Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatberechtigung im 19. Jahrhundert, in: Pro Civitate Austriae. Information zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, NF Heft 10 (2005), 23–44, hier: 26–29. 11 Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1901, Wien 1903, 59. 12 Vgl. Emil Brix, Die nationale Frage anhand der Umgangsspracherhebung in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910, Univ. phil. Diss., Wien 1979, 719–723.

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Abgesehen von den Erhebungskriterien der Volkszählung13 wurde in den letzten drei Jahrzehnten des Bestandes der Donaumonarchie überdies spürbarer Druck seitens der Behörden der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung ausgeübt, um „ihre“ Minderheiten in möglichst geringem Umfang zu erheben. Dies war der Fall in Laibach/Ljubljana, Prag/Praha, Krakau/Krakow und vielen anderen Städten bzw. Gemeinden, so auch in Wien.14 Nach einem nicht veröffentlichten Bericht des Wiener Magistrats aus dem Jahre 1911 an die Niederösterreichische Statthalterei sind die Ergebnisse der Sprachzählung von 1900 als wertlos bezeichnet worden und zur Volkszählung 1910 hieß es: [Es] muss auch von der diesjährigen Volkszählung erklärt werden, dass die gewonnenen Ziffern hinsichtlich der Umgangssprache wegen der noch immer bestandenen (sic!) ungleichmäßigen Auffassung des Begriffes ,Umgangssprache‘ keinen entscheidenden Wert haben und ein Schluss daraus auf die Zahl der Mitbewohner anderer Nationalität nicht zutreffend erscheint.15

Den Wiener Spracherhebungen nach galt Wien für die politischen Eliten allerdings als „deutsch“: Nicht nur die Deutschnationalen, der christlich-soziale Bürgermeister Karl Lueger, sondern auch die sozialdemokratischen Politiker Victor Adler, Otto Bauer und Karl Renner, die ebenfalls von einer Überlegenheit der deutschen Kultur ausgingen, sahen Wien als „deutsche Stadt“.16 Auf der Basis weiterer Erhebungen der Volkszählungen, nämlich der Herkunft – d. h. der Heimatberechtigung und der Geburtsorte der Wiener Wohnbevölkerung –, lässt sich aber ein anderes Bild entwerfen: Die Zuwanderung aus dem Gebiet der heutigen Bundesländer, sieht man von der Nahzuwanderung aus niederösterreichischen Gemeinden und dem späteren 13 Die ungarischen Sprachzählungen, bei denen im Gegensatz zur österreichischen Reichshälfte auch die Sprachkenntnisse der Einwohner erhoben wurden, zeigen das Bild einer mehrheitlich gemischtsprachigen Bevölkerung: In Budapest waren zur Jahrhundertwende 55 Prozent der Bevölkerung doppel- oder dreisprachig (40,7 Prozent zweisprachig, 14,4 Prozent drei- oder mehrsprachig). Budapest Szekesfövaros Statisztikai es Közigazgatasi Evkönyve, IV. Evfolyam 1899–1901/Statistisch-Administratives Jahrbuch der Haupt- und Residenzstadt Budapest, IV. Jahrgang 1899–1901, Budapest 1904, 38. Die ungarische Statistik war nicht frei von nationalem Kalkül, es wurden allerdings mehrere Kategorien aufgenommen: Umgangssprachen (Sprachkenntnisse), Muttersprache, Nationalität. 14 Vgl. dazu auch Michael John, Ethnizität und Ambivalenz. Krisen um Mehrfach­identitäten im Wien der Jahrhundertwende, in: Traude Horvath (Hrsg.), Die Maschekseite. Zur Identität in Österreich, Wien 1997, 40–42. 15 Bericht des Wiener Magistrats an die Niederösterreichische Statthalterei, 1.6.1911, Zl. XXI/238, Durchführung der Volkszählung 1910. ÖStA, AVA, Innenministerium, Fasz. 2094, Akt 20.768/1911. 16 Vgl. Hans Mommsen, Arbeiterbewegung und Nationale Frage, Göttingen 1979, 210–215.

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Burgenland ab, war nur von mäßiger Bedeutung. Eine multiethnische Zusammensetzung der Wohnbevölkerung war um 1900 jedenfalls gegeben – damals stammten von den rund 1,6 Millionen Einwohnern 410.000 Personen aus Böhmen/Mähren, davon etwa 300.000 aus mehrheitlich tschechischsprachigen Bezirken, 140.000 stammten aus Ländern der ungarischen Krone, die als „Ausland“ gezählt wurden, 37.000 aus Galizien, ebenfalls 37.000 aus dem Süden der Monarchie – so weit die amtliche Statistik, die in den Volkszählungsjahren den Geburtsort der in Wien lebenden Einwohner wiedergab. Tabelle 1: Geburtsländer der Bevölkerung Wiens 1880–1910 1880 % 1900 Wien 271.429 38,5 777.105 Bundesländer** 131.694 18,7 250.857 Böhmen/Mähren 188.379 26,7 411.037 Galizien/Bukow. 13.577 1,9 36.763 sonst. Zisleith. 16.746 2,4 36.616 Ungarn** 54.128 7,7 140.280 Deutschland** 20.142 2,9 21.733 andere Staaten** 8.661 1,2 13.422 Wohnbevölkerung

704.756

1.674.957

% 46,4 15,0 24,5 2,2 2,2

1910 991.157 301.275 467.158 47.115 41.955 155.519 22.930 18.469

% 48,8 14,8 23,0 2,3 2,1

2.031.421

* Gebiet der Bundesländer des heutigen Österreich, ohne Burgenland. ** 1900 und 1910 wurde das Geburtsland nicht nach Staaten spezifiziert; die Zahlen geben die jeweiligen Staatsangehörigen an. Quelle: Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990, 14–15.

Eine große, in sich wiederum heterogene Zuwanderergruppe waren primär deutschsprachige Zuwanderer aus den österreichischen Alpenvorländern und den Alpenregionen sowie viele Nahzuwanderer aus Niederösterreich und Deutsch-Westungarn, welches das spätere österreichische Bundesland Burgenland mit einschloss. Ferner sind Oberösterreich und die Steiermark in diesem Zusammenhang als Einzugsgebiete zu nennen. Um 1900 stammten rund 250.000 Zuwanderer und Zuwanderinnen aus dem Gebiet der heutigen Republik Österreich (ohne Wien und Burgenland). Mehr als 100.000 deutschsprachige Migranten und Migrantinnen kamen aus Böhmen und Mähren, meist aus den südlichen Regionen. Der Großteil dieser Zuwanderer stammte aus ländlichen Gebieten, war meist katholisch geprägt, mit Netzwerken, die in Wien weiter existierten. Der Politiker Karl Renner (1870–1950), geboren in einem deutschmährischen Dorf nahe der niederösterreichischen Grenze, schrieb dazu in seiner Autobiografie:

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So versammelte sich in einer Weinwirtschaft vor der Alser Linie eine ansehnliche Anzahl von Landsleuten, eine Zusammenkunft, die man als ,Unter-Tannowitz in Wien‘ oder ,das Dorf in der Großstadt‘ bezeichnen konnte. [...] Ich war nach Wien gekommen, um die Großstadt kennenzulernen, um sie gleichsam zu entdecken, und sah hier einen Ausschnitt ihrer Bevölkerung, die gewissermaßen einen Übergang vom Land in die Stadt darstellte, ich fragte mich, wie stark denn [...] dieses ,Dorf in der Großstadt‘ sein mochte.17

Auch der spätere Gewerkschaftspräsident Johann Böhm (1886–1959), der im niederösterreichischen Markl lebte, erhielt zusammen mit seinem Vater – die beiden verdingten sich als Bauarbeiter – über einen Kollegen aus demselben Ort eine Unterkunft in Wien-Favoriten.18 Einen anderen Typus des Zuwanderers repräsentierte der in Linz geborene Sohn eines Juristen, Hermann Bahr (1863–1934). Die Aufenthaltsorte des späteren Schriftstellers waren vorerst die oberösterreichische und die salzburgische Landeshauptstadt, ehe er zum Studium nach Wien übersiedelte.19 Die größte Gruppe der nicht aus primär deutschsprachigen Gebieten kommenden Zuwanderer waren Tschechen und Tschechinnen. Selbst nach der amtlichen Statistik, gerechnet nach der Umgangssprache, war Wien mit 102.974 Personen im Jahre 1900 die zweitgrößte tschechische Stadt Europas.20 Mehr als hundert Vereine sorgten für das ethnische und kulturelle Netzwerk der Wiener Tschechen. Eine große Gruppe, abweichend von der Mehrheitsbevölkerung, stellten Juden und Jüdinnen dar; sie können aus der obigen Statistik nicht abgeleitet werden. In weiterer Folge lebten auch mehr als 40.000 Slowaken und Slowakinnen in Wien, teilweise in ethnisch relativ geschlossenen Ansiedlungen, die mitunter undifferenziert als „Krowotendörfl“ bezeichnet wurden. Slowaken waren hier in erster Linie in den Berufsgruppen Ziegelarbeiter, Straßenarbeiter, Kohlenhändler, Dienstmägde und Hausierer zu finden. 1901 wurde in Wien ein slowakischer Arbeiterverein gegründet, der Bildungsverein „Slovenská vzdelávacia beseda“, der sich in der Folge zu einem Zentrum der slowakischen Arbeiterkultur entwickelte. Diese Gründung war Ausdruck des wachsenden slowakischen Nationalgefühls.21 Die Slowaken zählten großteils zur Gruppe der ungarischen Staatsangehörigen. Soweit aus dieser großen Gruppe Erhebungen zur Muttersprache vorlagen, zeigte sich, dass 54.958 dieser Migranten und Migrantinnen aus mehrheitlich ungarischsprachigen Komitaten, 42.896 aus mehrheitlich slowakischsprachigen, 15.770 aus mehrheitlich deutschsprachigen, 17 18 19 20 21

Karl Renner, An der Wende zweier Zeiten. Lebenserinnerungen, Wien 1946, 187. Johann Böhm, Erinnerungen aus meinem Leben, Wien – Köln – Stuttgart – Zürich 1964, 22–24. Vgl. ÖBL (Österreichisches Bibliographisches Lexikon) 1815–1950, Bd. 1, Wien 1954, 44–45. Jahrbuch 1901, 59. Pavel Hapák, Die slowakische Arbeiterkultur und das Kulturleben der slowa­kischen Arbeiterschaft bis zum Jahre 1918, in: Studia Historica Slovaca XVII (Culture and Education in Slovakia), Bratislava 1990, 195–226, hier: 216.

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5.376 aus mehrheitlich rumänischsprachigen, 3.237 aus mehrheitlich serbischsprachigen und 3.089 aus mehrheitlich kroatischsprachigen Komitaten stammten.22 Dazu kamen Tausende aus kleineren Minderheiten, wie Polen, Kroaten, Slowenen, Serben, Bosnier und die sogenannten „Ruthenen“, bei denen es sich um ukrainische Zuwanderer handelte. Zur Jahrhundertwende waren in Wien zwei ruthenische Arbeitervereine aktiv. Von 1.432 Personen, die Ruthenisch als Umgangssprache angaben, wurden 1.041 in Galizien, 326 in der Bukowina geboren.23 Ferner sind im Stadtbild präsente Hausierer- und Händlerminderheiten mit einer spezifischen Kultur und spezifischen Traditionen zu nennen, z. B. die Gottscheer aus der Krain (heute Kočevje, Slowenien), Griechen oder Türken. Eine bulgarische Migration nach Wien war ebenfalls ein Faktum. Bekannt geworden sind die bulgarischen Gärtner, die über besonderes Know-how verfügten und sich in Kaiserebersdorf und Simmering ansiedelten sowie ihrerseits bulgarische Saisonarbeiter beschäftigten.24 Eine andere Gruppe stellten Personen aus jüdisch-sephardischen Familien dar, die aus Bulgarien stammten, darunter der Schriftsteller Elias Canetti und der Geiger Felix Galimir. Zur Zeit der Jahrhundertwende war Wien ein kleines, aber wichtiges Zentrum sephardischer Kultur. Die Universität Wien zog Sephardim aus Belgrad, aus Bulgarien, Rumänien und anderen Ländern an.25 Mit Sicherheit lebten schließlich 10.000 bis 20.000 Italiener, nach manchen Angaben bis zu 30.0000, als Arbeitsmigranten und -migrantinnen in der Stadt, sie waren jedoch in der amtlichen Statistik nicht erkennbar.26 Erdarbeiter, Straßenarbeiter, Ziegelarbeiter, Taglöhner, Scherenschleifer, Rauchfangkehrer zählten zu jenen Berufsgruppen, in denen italienische Zuwanderer, sei es aus den italienischsprachigen Teilen der Monarchie oder aus dem Königreich Italien, in Wien am stärksten vertreten waren. Zu einem erheblichen Teil handelte es sich dabei um temporäre Migration. Italiener etablierten sich auch als Selbstständige.27 Ferner ist noch die zweite Generation ehemaliger Zuwanderer zu nennen, deren Angehörige – obzwar in Wien geboren – oft ebenfalls Sprach- und Kulturkenntnisse aus dem Heimatland 22 23 24 25

Zit. nach John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 50. Statistische Monatsschrift, Brünn, NF 18 (1913), 348. Vgl. John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 64–65. Esther Sarah Rosenkranz, Die soziolinguistische Entwicklung des Sephardischen in der Diaspora – unter besonderer Berücksichtigung Israels, Univ. Dipl. Arb., Wien 2008, 40. 26 Es wurde zu einem Zeitpunkt gezählt, als viele Migranten und Migrantinnen nicht in Wien anwesend waren, nämlich am 31. Dezember. Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 2, Wien 1903, 18–19. Zudem gaben nicht alle österreichischen Italiener und Italienerinnen italienisch als Umgangssprache an. 27 Zur italienischen Zuwanderung vgl. Ferdinand Opll, Italiener in Wien, in: Wiener Geschichtsblätter, Bd. 42 Beiheft 3 (1987), 1–12; Michaela Thalhammer, Italienische Rauchfangkehrer in Wien im 18. und 19. Jahrhundert, Univ. Dipl. Arb., Wien 2008; Josef Ehmer/Karl Ille (Hrsg.), Italienische Anteile am multikulturellen Wien, Innsbruck – Wien – Bozen 2009.

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ihrer Eltern besaßen. Mehr als 500.000 Wiener und Wienerinnen, bis zu einem Drittel der Einwohnerschaft, stammten demnach aus nicht-deutschsprachigen Regionen der Monarchie. Die Sprachwirklichkeit vieler Zuwanderer wurde durch die österreichischen Umgangssprachenerhebungen der Kaiserzeit, wie bereits erwähnt, nur unzulänglich wiedergegeben. Die Existenz nationaler „Zwischenmilieus“ wurde somit jedenfalls negiert. Es ist von einem erheblichen Bevölkerungsanteil auszugehen, der mehr als eine Verkehrssprache verwenden konnte. Schließlich ist auch das Militär zu nennen, bei dem es sich mehrheitlich um Personen mit vorübergehendem Aufenthalt handelte. Da sich Multikulturalität auch optisch und sinnlich vermittelt, stand das Militär durchaus oftmals im Fokus der Betrachtungen. Es sorgte in Wien mit seinen ungarischen Honvéd und den bosnischen Elitetruppen (Bosniaken) für entsprechende Akzente; überdies wurde es von Seiten der Deutschnationalen regelmäßig in Konflikte verwickelt.28 2. Mobilität – Nicht alle, die kamen, blieben

In Hinblick auf die Migrationsströme war während der gesamten franzisko-josephinischen Epoche eine enorme Mobilität und Fluktuation festzustellen. Die Mobilität erreichte in der Spätgründerzeit, als die Eisenbahnlinien bereits gut ausgebaut waren, einen Höhepunkt. Die Volkszählung des Jahres 1910 erlaubte eine ziemlich exakte Berechnung der Bevölkerung nach bleibenden Migranten und zurückkehrenden, die – unter Ausschluss der typischen Saisonwanderer – etwa im Verhältnis 15.000 zu 65.000 lagen, also pro bleibendem Zuwanderer fünf fluktuierende.29 Und mit dieser auf einer Berechnung basierenden Schätzung wird das reale Ausmaß der Mobilität mit Sicherheit noch ganz deutlich unterschätzt. Die damaligen Messinstrumente waren zu grob, um den tatsächlichen Umfang der Mobilität darstellen zu können. Auf die Probleme der Erfassung italienischer Zuwanderer, der italienischen Wanderarbeiter, die sich zum Volkszählungszeitpunkt nicht in Wien befanden, ist bereits hingewiesen worden. In der Dekade zwischen den Volkszählungen 1900 und 1910 hat dies wohl insgesamt hunderttausende Dienstboten, Bau- und Erdarbeiter, Ziegelarbeiter, Hilfsarbeiter und Taglöhner betroffen. Der spätere österreichische Sozialminister Viktor Mataja hat diese mobilen Schichten als das „flottante Element“ der Arbeiterschaft bezeichnet.30 Dies betraf nicht nur 28 Vgl. beispielsweise Illustriertes Wiener Extrablatt, 18.9.1911, 1–3; Neue Zeitung, 18.9.1911, 1–3; Friedrich Torberg, „Kaffeehaus war überall.“ Briefwechsel, Wien 1982, 42. 29 Der durchschnittliche Wanderungszuwachs betrug im Jahrzehnt 1900–1910 15.170 Personen. Statistisches Handbuch 1983, 18. Nach den Volkszählungs­erhebungen des Jahres 1910 befanden sich 127.770 Personen seit weniger als einem Jahr in Wien, bei Abzug von 46.128 Neugeborenen des Jahres 1910. Vgl. Felix Olegnik, Historisch-Statistische Übersichten von Wien, Teil 1, Wien 1956, 92. Es verblieben rund 80.000 Personen, die sich rein rechnerisch in die Grobgruppen 15.000 (Bleibende) und 65.000 (Fluktuierende) teilen. Statistisches Jahrbuch 1912, Wien 1913, 911. 30 Victor Mataja, Die Arbeitsvermittlung in Österreich, verfasst und herausgegeben vom Statisti-

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italienische Zuwanderer, sondern umfasste ein breiteres Umfeld, wie es etwa Franz Nader, gelernter Maurer aus dem Waldviertel, zeitgenössischer Sozialdemokrat und Gewerkschafter, am Beispiel der Bauarbeiter beschrieb: Aus dem südlichen Böhmen und Mähren, aus dem Waldviertel und aus dem westlichen Ungarn ziehen Jahr für Jahr in den Monaten Februar bis April viele Tausende Bauarbeiter nach Wien und dessen Umgebung. Die Ungarn aus den Eisenberger und Oedenburger Komitaten besetzen zum Teil Wien und die ganze Südbahnstrecke bis nach Graz, wo vom Süden die Wenden und Slowenen dazu stoßen. Aus den Tälern Welschtirols kommen gleichfalls viele Tausende hervor [...] Die Italiener sind, wie die Südböhmen, in fast allen Teilen Oesterreichs und Deutschlandes zu finden. Sie werden, wie die Reichsitaliener, mit Vorliebe zu Straßen- und Eisenbahnbauten, wo viel Erd- und Steinarbeit ist, verwendet [...] Interessant ist die Beobachtung, dass das Gebiet, welches Wien mit Bauarbeitern versorgt, stetig an Ausdehnung gewinnt.31

Viele Dienstmädchen, Köchinnen, Kellnerinnen, Blumenverkäuferinnen oder -macherinnen, Federnschmückerinnen waren ebenfalls hoch mobil und blieben nur vorübergehend in Wien; sie kamen häufig aus nördlich von Wien gelegenen Kronländern. So hieß es in der Enquete zur Lage der Lohnarbeiterinnen über diese Gruppe im Jahre 1897: Es sind meistens Landmädchen. Überhaupt herrscht da ein direkter Mädchenschacher. In der stillen Saison gehen die Mädchen meistens in ihre Heimat zurück und bringen von dort wieder noch einige mit. Meistentheils aus Böhmen, und zwar sind das Tschechinnen.32

Ebenfalls nicht aus der Herkunftsstatistik ableitbar waren andere, noch nicht benannte mobile Personen, Wandergesellen, auf Arbeitssuche Befindliche sowie von den Behörden teilweise als „Vazierende“ benannte Personen. Sigrid Wadauer hat diese Gruppe untersucht. Demnach meldete Niederösterreich im Jahre 1895 in den Verpflegungsstationen insgesamt 326.493 zubzw. durchgereiste Personen. Ein einziges Gewerbe, nämlich jenes der Buchdrucker, führte eine durchgängige Statistik der Besucher der Buchdruckerherberge. 1910 bis 1914 wurden schen Department im k. k. Handelsministerium, Wien 1898, 283; vgl. dazu ferner Eugene Sensenig-Dabbous, Von Metternich bis EU-Beitritt. Reichsfremde, Staatsfremde und Drittausländer. Immigration und Einwanderungspolitik in Österreich, Salzburg 1998, 98–102, Internet-Publikation, http://www.ndu.edu.lb/lerc/publications/Von_Metternich_bis_EU_Beitritt.pdf (zuletzt abgerufen am 15.12.2015). 31 Franz Nader, Wandlungen im Wandern der Bauarbeiter, in: Der Kampf, Bd. 1, Wien 1908, 282. 32 Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Wiener Lohnarbeiterinnen. Ergebnisse und stenographisches Protokoll der Enquête über Frauenarbeit abgehalten in Wien vom 1. März bis 21. April 1896, Wien 1897, 59.

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Spitzenwerte von 1.000 bis 1.400 Besuchern angegeben.33 Zehntausende Personen aus der angesprochenen Gruppe mit einer unterschiedlichen Lebensweise und mit von der Mehrheitsbevölkerung differenten Perspektiven trugen jedenfalls ebenfalls zur Heterogenität der in Wien befindlichen Bevölkerung bei. Die Mobilität der Saison- und Wanderarbeiter, der Vazierenden, ebenso wie jener Personen, die bewusst und häufig den Aufenthaltsort wechselten, wie etwa der zeitweilig sich in Wien aufhaltende tschechische Tischlergeselle Gustav Hab(e)r­man (1864–1932), ist teilweise durchaus als Resilienz gegen widrige Lebensbedingungen zu bewerten. Das „Leben an mehr als einem Ort“ kann als rein erzwungene Strategie gesehen werden, aber auch als Möglichkeit den Bedrohungen einer unsozialen Klassengesellschaft, der Abschiebung und Diskriminierung immer wieder zu entgehen.34 3. „Schmelztiegel“ und „Mosaik“

Es sei hier nochmals auf die zweite Generation der Zuwanderer hingewiesen: Ihre Dimension verdeutlicht die Heimatberechtigungsstatistik nur andeutungsweise, nicht exakt, da einerseits Personen aus diversen Gründen vor 1900 doch die Heimatberechtigung erhalten, andererseits beispielsweise in Wien heimatberechtigte Frauen ihre Heimatberechtigung durch Heirat mit einem Zuwanderer verlieren konnten. Jedenfalls zeigt sich anhand dieser Statistik erneut die große Bedeutung der Zuwanderung aus Böhmen und Mähren sowie aus der ungarischen Reichshälfte. Zieht man die im Österreichischen Städtebuch enthaltenen Statistiken hinsichtlich des Erhalts des Heimatrechts nach der Reform heran, zeigt sich, dass sowohl 1901 als auch 1910 rund 60 Prozent der Neuerwerbungen (Ersitzung) des Wiener Heimatrechts auf Personen entfielen, die vorher in Böhmen oder Mähren heimatberechtigt gewesen waren; Niederösterreich folgte mit rund 20 Prozent Neuerwerbungen auf Platz drei. Im Hinblick auf die freiwillige Verleihung des Heimatrechts – dies betraf in erster Linie einkommensstärkere und renommierte Zuwanderer – bildeten die ungarischen Staatsangehörigen die stärkste Gruppe.35

33 Sigrid Wadauer, Vazierende Gesellen und wandernde Arbeitslose (Österreich, ca. 1880–1938), in: Annemarie Steidl/Thomas Buchner/Werner Lausecker/Alexander Pinwinkler/Sigrid Wadauer/ Hermann Zeitlhofer (Hrsg.), Übergänge und Schnittmengen. Arbeit und Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion, Wien 2008, 101–131, hier: 112–114. 34 Vgl. dazu grundsätzlich Cedric Duchene-Lacroix/Pascal Maeder (Hrsg.), Hier und Dort. Ressourcen und Verwundbarkeiten in multilokalen Lebenswelten, Basel 2013, vgl. besonders: 115–186 (Abschnitt Multilokalität als Resilienz); Gustav Haberman, Arbeiter und politischer Aktivist, lebte in Wien, Paris, New York, Chicago, danach wieder in Böhmen und Mähren. Er wurde im November 1918 Bildungsminister des neuen tschechoslowakischen Staates. In seiner Biografie hatte er seine Mobilität selbst stets als Selbstbehauptung interpretiert. Vgl. Gustav Habrman, Aus meinem Leben, Wien 1919. 35 Zit. nach Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht, 154.

Vielfalt und Heterogenität

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Tabelle 2: Heimatberechtigung der Wohnbevölkerung, Wien 1880–1900 Heimatberechtigt in Wien Bundesländer* Böhmen, Mähren Galizien, Bukowina sonst. Zisleithanien Länder d. Ungar. Krone Deutsches Reich sonst. Ausland

1880 absolut 247.967 118.173 215.522 15.871 18.690 60.857

in % 35,2 16,8 30,6 2,3 2,6 8,6

1890 absolut 467.418 218.349 453.119 28.774 37.218 115.736

in % 34,9 16,0 33,2 2,1 2,7 8,5

1900 absolut 636.230 254.204 518.333 45.717 42.798 140.280

in % 38,0 15,2 30,9 2,7 2,5 8,4

18.546 9.130

2,6 1,3

23.680 11.254

1,8 0,8

21.733 15.662

1,3 1,0

Quelle: John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 16–17.

Wie die Statistik zeigt, waren knapp 90 Prozent der Zuwanderer österreichische Staatsangehörige, für die im Wesentlichen die gleichen Rechte galten und die sich im Rahmen der Gesetze frei bewegen konnten. Das Heimatrecht galt für Zuwanderer in gleicher Weise, ob sie nun aus dem galizischen Przemyśl kamen oder aus Spittal an der Drau in Kärnten. Für die Staatsangehörigen der ungarischen Reichshälfte, insbesondere auch für das Militär, galten Sonderregelungen. Es zeigt sich, dass – rechnet man die Österreich-Ungarische Monarchie als Gesamtstaat – lediglich 2 bis 3 Prozent ausländische Staatsangehörige zuwanderten. Um 1900 waren dies 1,3 Prozent aus dem Deutschen Reich und 1 Prozent aus dem sonstigen Ausland. Bei der Zuwanderung nach Wien handelte es sich ebenso wie bei der Zuwanderung in die meisten größeren österreichischen Städte in erster Linie um eine Binnenwanderung. Im Folgenden werden die Unterschiede zwischen verschiedenen Migrations- und Akkulturationstypen am Beispiel mehrerer Landeshauptstädte dargestellt, und zwar anhand der Residenzstadt Wien („Schmelztiegel“), der bukowinischen Hauptstadt Czernowitz („Mosaik“), Oberösterreichs Hauptstadt Linz („regionales Zentrum“), Mährens Hauptstadt Brünn/Brno und anhand von Graz in der Steiermark. Im Falle der Hauptstadt Mährens wird man mit einer spezifischen Mischform konfrontiert. Als Indikatoren werden Herkunft, Umgangssprache und Religionsbekenntnis herangezogen. Unter der Metapher „Schmelztiegel“, eine Übersetzung des englischen Begriffs „Melting Pot“, ist ein Entwicklungstypus zu verstehen, der durch eine stark überregionale Zuwanderung geprägt ist. Das Verhalten der autochthonen Bevölkerung und die kommunale Politik gegenüber den Zuwanderern sind dabei in erster Linie von Assimilationsdruck und Assimilationspolitik geprägt; die verschiedenen Ethnien werden zu einem einheitlichen Typus geformt. In genau diesem Sinne der Einformung diverser Ethnien zu einem – in diesem Fall dem US-amerikanischen – Typus ist die Chiffre des „Melting Pot“

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in der amerikanischen Diskussion entstanden, an Pluralität hat man dabei nicht gedacht.36 Verantwortlich für die Begriffsbildung „Mosaik“ war die stadtsoziologische Chicago-Schule in den USA, angeführt von Robert Park. Unter „Mosaik“ ist ein Typus zu verstehen, in dem verschiedene Ethnien ohne zwingenden Assimilationsdruck zusammenleben; dies kann in mehr oder weniger segregierten oder auch integrierten Formen der Fall sein. Ein internationales Beispiel dafür sind die meisten nordamerikanischen Einwandererstädte, wo es ein Chinatown, ein Little Italy, jüdische, irische und andere Viertel gab. Ab den 1960er-Jahren wurde in der US-amerikanischen Forschung die multiethnische Realität in den Großstädten der Ideologie des „Melting Pot“ gegenübergestellt. Schließlich zum Begriff „regionales Zentrum“: Für „regionale Zentren“ ist in der Regel eine starke Zuwanderung charakteristisch, und zwar in erster Linie durch Formen der Nahwanderung. Die Migration erfolgte hauptsächlich aus der jeweiligen das Zuwanderungsziel umgebenden Region. Tabelle 3: Vergleichsstatistik Wien – Czernowitz – Linz – Brünn – Graz Herkunft der Bevölkerung (Geburtsort), 1900 Gesamt 1.674.957 100 %

777.105 46,4 %

aus dem Kronland 188.493 11,2 %

Czernowitz

67.622 100 %

34.546 51,1 %

16.788 24,8 %

13.704 20,3 %

2.584 3,8 %

Linz

58.791 100 %

18.330 31,2 %

23.921 40,7 %

14.134 24 %

2.406 4,1 %

Brünn/Brno

109.346 100 %

42.387 38,8 %

48.107 44,0 %

16.505 15,1 %

2.347 2,1 %

Graz

138.080 100 %

42.716 30,9 %

52.449 38,0 %

29.349 21,3 %

13.566 9,8 %

Wien

aus dem Ort

sonst. Zisleith. 546.780 32,6 %

Ausland (inkl. Ungarn) 162.579 9,8 %

Quelle: Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 2, Wien 1902, 16–19 (Wien), 16–19 (Linz), 28–31 (Brünn), 36–39 (Czernowitz), 16–19 (Graz).

Aus obiger Statistik wird deutlich, dass Linz und Graz mit nahezu 70 Prozent gegenüber beispielsweise 53,6 Prozent im Falle der Reichshauptstadt Wien zwar den höchsten Anteil an 36 Vgl. Annette Treibel, Migration in modernen Gesellschaften, Weinheim – München 1990, 36–39.

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Migranten und Migrantinnen aufwiesen, diese stammten allerdings primär aus demselben Kronland, in diesem Fall also aus Oberösterreich bzw. der Steiermark. Der Anteil der überregionalen Zuwanderer hingegen war in Wien am höchsten und lag bei über 40 Prozent. In Linz war dieser Anteil wesentlich geringer. In Czernowitz war ein hoher Anteil der im Wohnort geborenen Bevölkerung festzustellen; insgesamt stammten mehr als drei Viertel der Stadtbevölkerung aus dem Kronland Bukowina. Czernowitz war insofern als „regionales Zentrum“ zu bezeichnen, kann andererseits jedoch auch als Migrationsmittelpunkt eines Kronlandes angesehen werden, das selbst in hohem Ausmaß multiethnisch strukturiert war, während dies in Linz und Oberösterreich nicht der Fall war. Brünn/Brno wies demgegenüber eine stärker binationale Struktur auf und war seit den 1880er-Jahren von einem ausgeprägten, wenngleich nicht fanatisch ausgetragenen deutsch-tschechischen Konflikt geprägt. Juden stellten eine von beiden Gruppen relativ isolierte Minderheit dar.37 Ein Teil der Juden und Jüdinnen stammte aus Ungarn.38 Die Zahl der zugewanderten Slowaken und Slowakinnen war verhältnismäßig gering. Deutlich anders gestaltete sich die Situation, wie aus den Statistiken ableitbar, in der Residenzmetropole Wien, die allein aufgrund der quantitativen Dimensionen als Ausnahmeerscheinung anzusehen ist. Als Reichshauptstadt war diese viel stärker Zielpunkt überregionaler Zuwanderung als die innerösterreichischen, alpenländischen Hauptstädte. In Wien war die raum-zeitliche Entwicklung der Zuwanderung durch einen Wandel der Herkunftsgebiete gekennzeichnet. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren Süd- und Mitteldeutschland und damit ein west-ost-gerichteter Migrationsstrom vorherrschend. 1857 merkte man dies noch daran, dass die deutsche Zuwanderung rund 5 Prozent ausmachte und etwa gleich groß war wie die Zuwanderung aus dem Königreich Ungarn. Im Laufe des 19. Jahrhunderts traten dann Böhmen und Mähren und damit eine nord-süd-geleitete Wanderungsrichtung in den Vordergrund. Diese Wanderung war in erster Linie von Arbeitsmigration gekennzeichnet und wies einen hohen Anteil an Einzelzuwanderung auf.39 Eine ebenfalls zunehmende Tendenz war bei jüdischen Zuwandererinnen und Zuwanderern aus dem Osten (Galizien, Ungarn) zu beobachten; ihre Migration wurde sowohl durch eine Arbeits- und Handelsmigration als auch durch Karrieremigration gekennzeichnet. Die galizische und ungarisch-­ jüdische Zuwanderung war in einem bestimmten Ausmaß auch als Familienzuwanderung zu klassifizieren. Zur Jahrhundertwende lebten, wie erwähnt, viele ungarische Staatsangehörige 37 Vgl. dazu Helena Bočková, Zusammenleben der Brünner Tschechen und Deutschen: Licht und Schatten, in: Slowakische Akademie der Wissenschaften – Institut für Ethnographie, Ethnokulturelle Prozesse in Großstädten Mitteleuropas, Bratislava 1992, 127–135. 38 Hannelore Burger, Juden zwischen Wien und Brünn, in: Fasora/Hanuš/Malíř (Hrsg.), Brünn – Wien, 243–251, hier: 249. 39 Heinz Faßmann, Migration in Österreich: 1850–1900, in: Demographische Informationen 1986, Wien 1986, 28–29.

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in Wien, darunter zehntausende Slowaken und Slowakinnen. Der Eisenbahnbau, der zunächst den Norden erschloss, die Entwicklung der österreichischen Wirtschaft und der damit zusammenhängende zunehmende Bedarf an Massenarbeitern in den Fabriken sowie eine gewisse gesellschaftliche Distanzierung Österreichs von Deutschland waren die Gründe für die Nord-Ost-Orientierung Wiens. 1900 betrug der Anteil der deutschen Staatsbürger in Wien nur mehr 1,3 Prozent der Bevölkerung, jener der ungarischen Staatsangehörigen hingegen 8,4 Prozent.40 Die multiethnische Zuwanderung machte aus Wien zum Teil ein „Mosaik“ diverser Ethnien, der massive Assimilationsdruck formte den sogenannten „Schmelztiegel“. Im aktuellen Sprachgebrauch würde man die Begriffe Hybrid bzw. Hybridität (kulturelle Überschneidung, Vermischung) verwenden. Tabelle 4: Vergleichsstatistik Wien – Brünn – Czernowitz – Linz – Graz, 1900 Umgangssprache, Herkunft, Religionsbekenntnis (in Prozent) Herkunft aus nicht-deutschsprach. Regionen*

Umgangssprache deutsch

Anteil d. Juden

Religionen**

andere

Wien

35,0

92,6

7,4

8,8

3

Czernowitz

60,0

52,3

47,7

31,9

5

3,5

98,5

1,5

1,0

1

57,0

64,0

36,0

7,5

3

49,0***

98,4

1,4

1,2

1

Linz Brünn/Brno Graz

* Geschätzt auf Basis der Herkunfts- und Umgangssprachenstatistik. ** Anzahl der Religionen mit einem Anteil von mindestens 3% Glaubensangehörigen. *** Herkunft aus nicht-deutsch und gemischtsprachigen Regionen Die Umgangssprache wurde nur für Personen mit österreichischer Reichshälfte (Zisleithanien) erhoben. Quelle: Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 2, Wien 19 02, 16–19, 57 (Wien), 16–19, 58 (Linz), 28–31, 66 (Brünn/Brno), 36–39, 71 (Czernowitz), 16–19, 59 (Graz); Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 1, Wien 1902, LXX (Wien), LXXI (Linz), LXXXII (Brünn), LXXXIX (Czernowitz), LXXII (Graz). 40 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 14.

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In vielen österreichischen Städten bildete die regionale Zuwanderung den wesentlichen Bestandteil des Bevölkerungswachstums. Innsbruck, Salzburg, Linz und Klagenfurt entwickelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Städten mittlerer Größe, zu Landeshauptstädten im wahrsten Sinn des Wortes: Die Zuwanderer kamen aus der näheren Umgebung, zumindest aber mehrheitlich aus dem jeweiligen Kronland. In Linz war daher auch ein einziges Religionsbekenntnis, und zwar römisch-katholisch, als sehr dominant zu bezeichnen. Die jüdische Zuwanderung, die über Kronlandgrenzen hinweg verlief, war demgegenüber gering. Graz präsentiert sich in der statistischen Wahrnehmung ähnlich wie Linz als „regionales Zentrum“, war aber gegenüber den eben erwähnten Mittelstädten doch ein Sonderfall. Graz, die alte Haupt- und Residenzstadt Innerösterreichs wies eine größere Bevölkerung auf und hatte auch – als Tor zum Süden und Südosten der Monarchie – andere Standortqualitäten. Es lebten in Linz zur Jahrhundertwende keine „Muhamadaner“, in Graz waren es 358, in Linz waren 39 christlich-orthodoxe Religionsangehörige gemeldet, in Graz 774 Orthodoxe sowie 1.620 Juden.41 Darüber hinaus war Graz eine jahrhundertealte Universitätsstadt, dies hatte zur Zuwanderung von Eliten und karrierewilligen Menschen beigetragen. Assimilationsdruck, Assimilation, unscharfe Erhebungsmodalitäten führten dazu, dass sich die Zuwanderung zehntausender Migranten aus nicht-deutschsprachigen oder gemischtsprachigen Gebieten in der Statistik nicht abbildete.42 41 Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 1, Wien 1902, 52–53, 58–59. Zur jüdischen Zuwanderung nach Graz vgl. generell Gerald Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg, Graz 2007. 42 1900 lebten in Graz laut Volkszählung 1.430 Personen mit slowenisch­er Umgangssprache. Hingegen stammten zur Jahrhundertwende 29.795 Personen oder 21,6 Prozent aus doppelsprachigem und slowenischsprachigem Gebiet und zwar 8.041 aus Kärnten, 3.960 aus Krain, 1.713 aus Marburg/Pettau/ Cilli und 16.081 aus den zu mehr als 50 Prozent slowenischsprachigen Regionen der Untersteiermark. Es ist aus der Heimatberechtigungsstatistik zu schließen, dass in Graz mit Sicherheit ein durchaus erheblicher Prozentsatz ursprünglich slowenisch- oder zumindest doppelsprachiger Migranten lebte, der schließlich unter Assimilationsdruck bei der Volkszählung Deutsch als Umgangssprache angegeben hat. Neben den Slowenen sind als zweitstärkste Gruppe mit 10.652 Personen (= 7,7 Prozent) die Zuwanderer aus den Ländern der ungarischen Krone sowie in weiterer Folge mit 10.535 Personen (= 7,6 Prozent) die Migranten aus Böhmen und Mähren zu nennen. Österreichische Statistik, Band 64, Heft 1, Wien 1902, 4–23; Heft 2, Wien 1905, 2–3. Zu Graz vgl. die schon ältere Studie William Hubbard, Auf dem Weg zur Großstadt: Eine Sozialgeschichte der Stadt Graz, 1850–1914, Wien 1985. Hubbard hinterfragt und diskutiert allerdings die Angaben der zeitgenössischen Statistik zu Zuwanderung und Ethnizität nicht. Vgl. ferner Klaus-Jürgen Hermanik, The Hidden Slovene Minority in Styria, in: Christian Promitzer/Klaus-Jürgen Hermanik/Eduard Staudinger (Hrsg.), (Hidden) Minorities. Language and Ethnic Identity between Central Europe and the Balkans, Wien 2009, 109–128; Christianitzer, Small is Beautiful. The Issue of Hidden Minorities in Central Europe and the Balkans, in: Promitzer/Hermanik/Staudinger, (Hidden) Minorities, 75–99.

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4. Zur Heterogenität der Konfessionen

Hinsichtlich des Religionsbekenntnisses ist festzuhalten, dass Wien zwar ein pluraleres Profil aufwies als die Provinzstädte Linz, Salzburg oder Innsbruck, die beiden evangelischen Bekenntnisse A. B. und H. B. zusammen aber nicht mehr als 3,2 Prozent erreichten und die jüdische Konfession 8,8 Prozent; mehr als 87 Prozent der Bevölkerung waren katholisch. Das Profil der Stadt war im Hinblick auf die Konfessionen wesentlich weniger von Diversität geprägt als etwa in der Gegenwart. Die Religionsstatistik wies um 1900 zwar insgesamt 17 Kategorien aus, neben römisch-katholisch, „israelitisch“ und evangelisch waren die Zahlen der jeweiligen Religionsanhänger jedoch relativ gering. So zählte man etwa 3.674 Personen mit „griechisch-orientalischem“ (griechisch-orthodoxem) Bekenntnis und 889 „Muhamadaner“. Tabelle 5: Religionsbekenntnisse in Wien, Originalbezeichnungen, 1900 Wohnbevölkerung Römisch-Katholisch Israeliten Evangelisch A.B. Evangelisch H.B. Evangelisch ges. Griechisch uniert Griechisch orientalisch Altkatholisch Confessionslos

1.674.957 1.461.891 146.926 48.213 6.151 54.364 2.521 3.674 975 2.772

(87,3 %) (8,8 %)

(3,2 %)

Herrenhuter Anglikanisch Mennoniten Unitarier Lippowaner Muhamadaner Armenisch uniert Armenisch orient. Andere Confess.

5 490 7 65 6 889 85 98 189

Quelle: Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 1, Wien 1902, 48–49.

Pluraler und weniger dominant katholisch wird das Bild im Hinblick auf die Religionsverhältnisse in Wien dann, wenn man die Zahlen der 177.675 „Staatsfremden“ genauer ansieht. In erster Linie betraf dies Personen aus der ungarischen Reichshälfte, sodann Deutsche, Italiener, Bulgaren und sonstige. Auf jeden Fall handelte es sich hier ausschließlich um Personen mit migrantischem Hintergrund. In Summe waren 99.521 Staatsfremde katholisch (56 Prozent), 50.394 jüdisch (28,4 Prozent), 23.164 evangelisch (13 Prozent), 3.076 griechisch-orthodox (1,7 Prozent) und 1.520 sonstiger Konfession (0,9 Prozent).43 Neben römisch-katholisch stellte die „israelitische Konfession“ das zweitstärkste Religionsbekenntnis. Tausende Juden und Jüdinnen wanderten bereits nach der Revolution von 1848 aus ihren Heimatregionen ab, in den 1850er-Jahren existierten hinsichtlich der jüdischen Zuwanderung aber nach wie vor Restriktionen. Erst ab 1867/68, als ihnen volle und gleiche Bürgerrechte 43 Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 3, Wien 1903, 175–176.

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verliehen worden waren, folgten Zehntausende aus dem Norden und Osten der Monarchie in Richtung Wien und Budapest. Die jüdische Bevölkerung war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eindeutig als „Zuwanderungsminderheit“ zu bezeichnen. Man konnte daher zu Recht von einer „Metropolisierung“ des (ost-)mitteleuropäischen Judentums sprechen. Wien war zur Jahrhundertwende mit rund 147.000 Juden nach Warschau und Budapest die drittgrößte jüdische Stadt Europas (1910: 175.000). Tabelle 6 : „Israelitisches“ (Jüdisches) Glaubensbekenntnis, Wien 1857–1934 Jahr 1857 1869 1880 1890

Personen 15.116 40.230 72.588 118.495

in % der Gesamtbev. 3,2 % 6,6 % 5,3 % 5,3 %

Jahr

Personen

1900 1910 1923 1934

146.926 175.318 201.513 176.034

in % der Gesamtbev. 8,8 % 8,6 % 10,8 % 9,4 %

Quelle: John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 36.

Die Volkszählung des Jahres 1880 gab Aufschluss über die Herkunft der in Wien lebenden Juden und Jüdinnen. Rund 30 Prozent der jüdischen Bevölkerung waren bereits in Wien geboren, 28 Prozent stammten aus der ungarischen Reichshälfte, vor allem aus der Slowakei, 13 Prozent aus Mähren, 11 Prozent aus Galizien und der Bukowina, 10 Prozent aus Böhmen, 4 Prozent aus dem Ausland, der Rest aus dem übrigen Reichsgebiet.44 Ab den 1880er-Jahren wuchs die Abwanderung aus dem Osten stark an: Zum einen waren die Bahnverbindungen durch den Ausbau lokaler Linien in kleinere Orte verbessert worden, zum anderen führten die Pogrome im zaristischen Russland (1881) insbesondere in grenznahen Regionen zur Verunsicherung Hunderttausender Juden in (Ost-)Galizien. Der Anteil der „Galizianer“ an den Juden Wiens stieg von rund 11 Prozent im Jahre 1880 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf etwa 20 Prozent an. 1910 waren 42.695 Personen aus der Wiener Wohnbevölkerung in Galizien geboren worden; es dominierten dabei der Bezirk Lemberg-Stadt sowie östliche Landesteile wie Brody, Tarnopol und Stanislau.45 Ungeachtet dessen wies die amtliche Statistik ein unterschiedliches Bild aus, das einerseits aus erhebungstechnischen Details resultiert, andererseits aus der Orientierung des Großteils der

44 Stephan Sedlaczek, Die k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880, Wien 1885, Bd. 2, 16–17. 45 Vgl. Michael John, Galician Jews in Austria the 18th to the Early 20th Century, in: Klaus Bade/Pieter Emmer/Leo Lucassen/Jochen Oltmer (Hrsg.), The Encyclopedia of Migration and Minorities in Europe. From the 17th Century to the Present, Cambridge 2011, 400–402, hier: 400.

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jüdischen Bevölkerung an der deutschsprachigen Kultur in Wien ableitbar ist: Von 146.926 in der Statistik der Volkszählung von 1900 gezählten Juden und Jüdinnen hatten 95.286 Deutsch als Umgangssprache angegeben, 625 Böhmisch/Mährisch/Slowakisch und 621 eine andere Umgangssprache. Jiddisch, das viele Juden und Jüdinnen sprachen, war nicht als eigene Kategorie geführt worden. Weiters waren 50.394 Juden und Jüdinnen als Staatsfremde geführt worden, zum Großteil handelte es sich dabei um ungarische Staatsangehörige.46 Bei den Staatsfremden wurde die Umgangssprache nicht angegeben, aus der ungarischen Statistik wissen wir allerdings, dass um 1900 ein hoher Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung – bis zu 70 Prozent – zwei, drei oder mehrere Sprachen angegeben hatte, mithin als mehrsprachig anzusehen war.47 Über den Gegensatz Ost und West ist im Zusammenhang mit der jüdischen Zuwanderung nach Wien bereits viel publiziert worden, in erster Linie wurden differente Religionstraditionen und unterschiedliche kulturelle Milieus angesprochen.48 Dabei spielte das Herkunftsgebiet auf jeden Fall eine bedeutende Rolle. Die Linien verliefen hier entlang der Regionen Wien, Mähren, Böhmen versus Galizien, Bukowina, Russland und schließlich Ungarn, das auch Oberungarn, die heutige Slowakei, mit einschloss. Josef Redlich (1869–1936), Wissenschaftler und Politiker, stammte aus einer jüdischen Industriellenfamilie in Göding/Hodonín in Mähren und war, ebenso wie Sigmund Freud und weitere prominente Wiener Juden, aus Mähren zugewandert. Er hielt anlässlich einer Zugfahrt seine persönlichen Vorurteile, die die Heterogenität der jüdischen Bevölkerung reflektieren, in einem Tagebuch fest: Als Coupégenosse ein jüdisch aussehender Ladenjüngling. Aber in Regensburg wurde es noch dicker; offenbar, um mir den Abschied von daheim zu erschweren, bekam ich eine schwere Tracht ungarisch-semitischer Wichtigtuerei ins Coupé, sodass ich froh war, in Nürnberg von all dem befreit zu werden.49

Im Mittelpunkt der innerjüdischen Gegensätze standen jedoch zweifellos die aus dem Osten Galiziens stammenden Zuwanderer.50 Dies ging bis in angesehene Kreise, so machte etwa der 46 Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 3, Wien 1903, 175. 47 Budapest Szekes Fövaros Statisztikai Evkönyve, IV. Evfolyam 1899–1901/Statistisches Jahrbuch der Stadt Budapest, 4. Jahrgang 1899–1901, Budapest 1904, 38. 48 Vgl. beispielsweise Albert Lichtblau, Juden in Österreich – Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn. Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, in: Evelyn Brugger/ Martha Keil/Albert Lichtblau/Christoph Lind/Barbara Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, 447–565, hier: 476–478. 49 Fritz Fellner/Doris Corradini (Hrsg.), Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936. Band I: Erinnerungen und Tagebücher 1869–1914 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 105/I), Wien – Köln – Weimar 2011, 94. 50 Vgl. dazu den Beitrag von Klaus Hödl in diesem Band.

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Wiener Gemeinderabbiner David 1906 abschätzige Bemerkungen über „Ostjuden“ ebenso wie der bekannte jüdische Intellektuelle Theodor Gomperz, der sich mit galizischen Zuwanderern in keiner Weise verbunden sah.51 Die Zuwanderung aus Galizien und Bukowina war selbst ebenfalls von Heterogenität geprägt, man verhielt sich auch je nach Generation unterschiedlich. Die traditionsgebundenen „Galizianer“ wohnten im Gegensatz zu anderen Wiener Juden häufiger in den Bezirken Leopoldstadt (2. Bezirk) und Brigittenau (20. Bezirk). So lebten 57 Prozent aller aus Galizien stammenden Juden und Jüdinnen, die zwischen 1870 und 1910 die Ehe schlossen, in einem dieser beiden Bezirke. Besonders prägnant war das Phänomen der Konzentration im 20. Bezirk Brigittenau, der in der sozialen Hierarchie am unteren Ende der Wiener Bezirke zu finden war: Dort lebten 10 Prozent der galizischen Juden, 1 Prozent stammte aus Ungarn, 1 Prozent aus Böhmen und 3 Prozent waren in Wien geboren worden. Unter ihnen fanden sich Millionäre, ein Mittelstand, aber auch Bettler, Hausierer, Möbelpacker sowie Hilfs- und Facharbeiter.52 Ab der Jahrhundertwende kamen etwa 4.000 russische Juden und Jüdinnen, die im Zuge der Flucht vor Pogromen das Zarenreich verlassen hatten, nach Wien.53 Im Dezember 1905 nützte dies Bürgermeister Karl Lueger für einen populistischen Angriff auf die Juden. Lueger warnte, dass das Schicksal, das über ihre Glaubensgenossen in Russland hereingebrochen war, auch die in Wien lebenden Juden erwarten könne, sollten sie in Wien weiter die Sozialdemokratie unterstützen. Proteste zeigten keine Wirkung, Lueger rief sogar zum Boykott jüdischer Geschäfte auf.54 Noch zu Zeiten der Monarchie, während des Ersten Weltkriegs, sollte die Einwohnerzahl der jüdischen Bevölkerung erneut ansteigen, diesmal durch eine viel größere Flüchtlingspopulation. Im Mai 1917 befanden sich 40.637 jüdische Kriegsflüchtlinge, großteils aus Galizien und der Bukowina, in Wien. Von 1917 bis 1920 sollten diese anlässlich erheblicher antisemitischer Agitationen im Mittelpunkt vieler Debatten stehen. Der jüdischen Gemeinde verhalfen sie gleichzeitig zu einer quantitativen Zunahme, die unter anderem auch ein großes intellektuelles Potenzial in die Stadt brachte und mit Namen wie Billy Wilder, Manès Sperber, Prive Friedjung und Minna Lachs verbunden war.55 51 Vgl. Walter R. Weitzmann, Die Politik der jüdischen Gemeinde Wiens zwischen 1890 und 1914, in: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak/Nina Scholz (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben, Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 2002, 197–224, hier: 201, 411 (Fußnote). 52 John, Galician Jews, 401. 53 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1912, Wien 1914, 902. 54 Weitzmann, Jüdische Gemeinde Wiens, 211–212. 55 Rund 25.000 der galizischen und bukowinischen jüdischen Flüchtlinge blieben nach 1918 längerfristig in Wien. Zum Thema vgl. Lichtblau, Juden in Österreich, 497–501; Andreas Hutter/Klaus Kamolz, Billie Wilder. Eine europäische Karriere, Wien – Köln – Weimar 1998, 13–23.

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5. Heterogenität messen

Juden und Jüdinnen haben sich in Wien ungeachtet aller Assimilationsbemühungen am stärksten segregiert. Der Frage, wie heterogen Wien um 1900 im Hinblick auf ethnische und religiöse Unterschiede war, kann man sich über die sogenannten Segregations- und Dissimilaritätsindices annähern. Das Ansiedlungsmuster der nach Wien zugewanderten Tschechen war bis zu einem gewissen Grad dispers. Der Segregationsindex der tschechischsprachigen Einwohner betrug 1900 23,8, jener der jüdischen Bewohner 45,0. Das bedeutet, dass 45 Prozent der jüdischen respektive 23,8 Prozent der tschechischen Bevölkerung umziehen hätten müssen, um in der Stadt auf dieselbe Weise verteilt zu sein wie die übrigen Einwohner.56 Die Segregation der tschechischen Bevölkerung war also wesentlich geringer als jene der stärker separierten jüdischen Bewohner Wiens. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht war bei Ersteren also vielfach von größerer Bedeutung für das Siedlungsverhalten als die ethnische (nationale) Zugehörigkeit. Einschränkend sei allerdings hinzugefügt, dass das Zählraster der Wiener Stadtbezirke zu grobmaschig war, um klein- und kleinsträumige Konzentrationen zu erfassen, wie etwa die Wohnsiedlungen der vornehmlich tschechischen Ziegelarbeiter am südlichen Rand Wiens, in Favoriten, die immerhin einige Tausend Personen ausmachten. Auch im Bezirk Ottakring war eine starke Konzentration tschechischer Zuwanderer festzustellen.57 Dass der bewussten Deklaration der tschechischen Umgangssprache eine spezifische Bedeutung zukommt und sich diese Gruppe jedenfalls von jener unterscheidet, die in Böhmen und Mähren den Status der Heimatberechtigung aufwies, geht aus dem Indexvergleich hervor. Eine Segregation ließ sich bei den Bewohnern mit böhmischer oder mährischer Heimatberechtigung in schwächerem Ausmaß feststellen als bei jenen, die deklariert Tschechisch als Umgangssprache angegeben hatten. Die Gruppe der Heimatberechtigten umfasste auch sämtliche rein deutschsprachigen Zuwanderer, vollständig assimilierte Bewohner, Ehepartnerinnen und Personen aus der zweiten Generation. Die umfangreiche Gruppe der ungarischen Staatsangehörigen (1900: 140.000, 1910: 155.000 Personen) war ebenfalls heterogen – Deutschsprachige zählten ebenso dazu wie slowakische, ungarische, rumänische Migranten und Migrantinnen und deren Familienumfeld. Im Hinblick auf die große Heterogenität war der Segregationsindex wesentlich niedriger als bei der deklariert tschechischen oder jüdischen Bevölkerung.

56 Zur Messung der unterschiedlichen Segregation zweier Bevölkerungsgruppen wurden von amerikanischen Soziologen der Dissimilaritätsindex und der Segregationsindex entwickelt, wobei Ersterer die Differenz in der räumlichen Verteilung zweier Bevölkerungsgruppen und Zweiterer die räumliche Verteilung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe und der Restbevölkerung misst. 57 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1901, Wien 1903, 52–55.

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Tabelle 7: Segregations- und Dissimilaritätsindices, Wien 1880–1910 1880 1900 1900 1900 1900 1900 1910

20,1 23,8 8,6 16,5 45,0 51,6 21,2

Umgangssprache Tschechisch/Slowakisch Umgangssprache Tschechisch/Slowakisch Heimatberechtigung Böhmen/Mähren Ungarische Staatsangehörige Jüdische Bevölkerung (Konfession) Jüdische vs. tschechische Bevölkerung (Umgangssprache) Umgangssprache Tschechisch/Slowakisch

Quellen: Stephan Sedlaczek: Die k. k. Reichshauptstadt Wien. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880. II. Theil. Demographische Ergebnisse, Wien 1885, 170–171; Stephan Sedlaczek, Die definitiven Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1890 in der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien 1891, 72–80; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1901, Wien 1903, 54; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1912, Wien 1914, 912.

Die Zuwanderung aus dem Nordosten (Galizien, Bukowina) führte zu einer ausgeprägten Heterogenität der Wiener jüdischen Bevölkerung. Tschechische und jüdische Migranten und Migrantinnen standen häufig in sozialer und kultureller Distanz, mitunter auch in Konflikt zueinander. Der hohe Dissimilaritätsindex von 51,6 (Juden/Jüdinnen vs. Tschechen/Tschechinnen) weist auf eine deutliche Distanz der beiden Gruppen hin. Im Jahr 1910 hatte der Segregationsindex der Tschechen (Umgangssprache) den relativ niedrigen Wert 21,2, jener der jüdischen Bevölkerung lag 1910 bei 44,2 (siehe Tabelle 7). Die stärkste Konzentration wiesen Tschechen (Umgangssprache) 1910 mit einem Bevölkerungsanteil von 15,1 Prozent im Bezirk Favoriten (10. Bezirk) und 11,5 Prozent im Bezirk Brigittenau (20. Bezirk) auf. Juden konzentrierten sich mit 33,9 Prozent am stärksten in der Leopoldstadt (2. Bezirk) sowie mit 20,5 Prozent im Bezirk Alsergrund (9. Bezirk) und in der Inneren Stadt (1. Bezirk).58 Der Segregationsindex der jüdischen Bevölkerung lag in Wien auf einem hohen Niveau: Er betrug im jeweiligen Stadtgebiet: 1880: 43,1, 1890: 43,5, 1900: 45,0 und 1910: 44,2.59 Diese Werte sind im internationalen Vergleich durchaus erheblich: In New York hatte dieser Index vor dem Ersten Weltkrieg 38 betragen, in Berlin im Jahre 1910 bei 32,8 und auch in Budapest lag er immer deutlich unter dem Wiener Wert.60 Der Wert für Budapest im jeweiligen Stadtgebiet sank von 1880 bis 1910 beständig: 1880: 37,7, 1890: 36,7, 1900: 33,1 und 1910: 29,6.61 Die 58 59 60 61

John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 152. Vgl. auch Albert Lichtblau, Antisemitismus in Berlin und Wien 1867–1914, Berlin 1994, 28. Ebd., 29. Gyula Zeke, The Residential Segregation of Jews in Budapest during the Period of Capitalist Mo-

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erhebliche Verminderung der Segregation zwischen Juden und Nichtjuden bis 1910 hing dort sowohl mit einer starken Assimilationstendenz als auch mit der Magyarisierungsteilhabe der ungarischen Juden zusammen.62 Antisemitismus dürfte als Segregationsgrund weniger relevant gewesen sein als in Wien.63 Vergleicht man Wien mit Budapest hinsichtlich der Disparitäten bei den Wirtschaftssektoren, so zeigt sich eine etwas stärkere Angleichung der jüdischen Berufstätigen an die nichtjüdischen Berufstätigen in Budapest; vor allem die Tendenz zu den Handelsberufen war nicht dermaßen ausgeprägt wie in Wien, die Disparität hinsichtlich der Berufsstruktur war in Budapest etwas geringer als in Wien.64 Die Integrationschancen für jüdische Zuwanderer waren offenbar in der zweiten Metropole des österreichisch-ungarischen Kaiserstaates, in Budapest, günstiger als in Wien. Peter Hanak verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „Schmelztiegels der Magyarisierung“.65 Gerhard Seewann betonte, dass antisemitische Strömungen seitens der ungarischen Spitzenpolitik nicht zugelassen wurden.66 Nichts kennzeichnete die atmosphärischen Unterschiede zwischen Wien und Budapest besser als die Besetzung der Bürgermeisterpositionen. In Wien amtierte der christlich-soziale Antisemit Karl Lueger (1844–1910). Durch eine antimagyarische Haltung geprägt, soll er selbst die zweite Metropole der Doppelmonarchie als „Judapest“ bezeichnet haben, ein Wortspiel mit dem Namen der Stadt, den Juden und

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dernization 1867–1941 (unveröffentlichtes Manuskript, Kopie im Besitz des Verfassers), 8. Der Aufsatz ist eine englischsprachige Version des Artikels Gyula Zeke, A budapesti zsidosag lakohelyi szegregacioja a tökes modernizacio korszakaban, 1867–1941, in: Ferenc L. Lendvai/Anikó Sohár/Pál Horváth (Hrsg.), Het evtized a hazai zsidosag eleteben (Sieben Jahrzehnte im Leben des hiesigen Judentums), Bd. 1, Budapest 1990, 162–183. Zu Magyarisierung und Assimilation der Juden vgl. die kurze und übersichtliche Darstellung Victor Karady, Ethnicité, Scolarisation et Assimilation chez les Juifs et les Luthériens en Hongrie pendant la Monarchie bicéphale (étude sociologique), in: Hungarian Studies, Vol. 4/No. 1 (1988), 23–41. Zeke, Residential Segregation, 1–2. Michael John, Die jüdische Bevölkerung in Wirtschaft und Gesellschaft Österreich-Ungarns 1867–1918. Bestandsaufnahme, Überblick und Thesen unter be­sonderer Berücksichtigung der Süd-Ostregion, in: Rudolf Kropf (Hrsg.), Juden im Grenz­raum. Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland, Eisenstadt 1993, 197–244, hier: 209–210. Zit. nach Julia Richers, Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar 2009, 140. Gerhard Seewann, Geschichte der Juden und der Ungarndeutschen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert: Rechtliche und wirtschaftliche Positionen, Sozialstruktur, Identität und rechtlich-politische Bestrebungen, in: Jakob-Bleyer-Gemeinschaft (Hrsg.), Akten der Historikertagung zum Verhältnis von Ungarndeutschen und Juden in Ungarn, Budapest 2009, 9–10. Nach 1918 sollten sich in Buda­ pest antisemitische Strömungen intensivieren.

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der Assoziation mit der todbringenden Krankheit Pest.67 Zur gleichen Zeit waren in der ungarischen Hauptstadt zwei jüdische Vizebürgermeister und 1913 ein jüdischer Bürgermeister, Ferenc Heltai, im Amt.68 Unterschiedliche Kenndaten der Dissimilarität Juden–Nichtjuden in Budapest und Wien liefen parallel zur dargestellten Entwicklung. 6. „Eskimos“, „Zulus“ und „Chinesen“. Reichshauptstadt und nationale Auseinandersetzungen in Altösterreich

Die franzisko-josephinische Ära war von Ambivalenz und einem Doppelcharakter der Gesellschaft geprägt. Mehrsprachigkeit und Überregionalität, aber auch Bemühungen hinsichtlich eines Ausgleichs oder einer Autonomie, wie etwa in Galizien, Mähren, in der Bukowina und in Böhmen (1914: deutsch-tschechischer Ausgleich in Budweis/České Budějovice), standen Nationalismus, Ausgrenzung und Assimilationsdruck gegenüber.69 Die Idee ethnisch-sprachlich homogener Nationalstaaten, die zentrale, attraktiv erscheinende Idee des 19. Jahrhunderts, stand im Widerspruch zum Gedanken der Dynastie, zur kaiserlich-dynastischen Konzeption. Der Erfolg der ungarischen Nationalbewegung, der sich im österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 manifestierte, schlug die entscheidende Bresche in die Auffassung einer multiethnischen (wenngleich deutschsprachig dominierten) Gesamtmonarchie. Es war in der Folge vor allem die „tschechische Frage“, die insbesondere ab den 1880er-Jahren zu einem Problem außerordentlicher Größenordnung wurde. 1897 versuchte der österreichische Ministerpräsident Graf Badeni den deutsch-tschechischen Konflikt durch Sprachenverordnungen zu entschärfen. Dies führte zum heftigen Widerspruch der Deutschnationalen und Liberalen, die die deutsche Vormachtstellung bedroht sahen, aber auch zur Opposition der Sozialdemokraten. Die Situation kulminierte in Gewalttätigkeiten im Parlament und in einem Duell des aus Galizien stammenden österreichischen Ministerpräsidenten Graf Kasimir Badeni mit einem deutschnationalen Kontrahenten, der das Vorgehen der Regierung als „polnische Schufterei“ bezeichnet hatte.70 Der verblüffte Journalist Mark Twain berichtete über diese Vorgänge in seinem in den USA Aufsehen erre-

67 Richers, Jüdisches Budapest, 148. 68 Vgl. Rolf Fischer, Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose, München 1988, 9–10. 69 Vgl. Emil Brix, Der Böhmische Ausgleich in Budweis, in: Österreichische Osthefte 24 (1982), 225–248. 70 Vgl. Hannelore Burger/Helmut Wohnout, Eine „polnische Schufterei“? Die badenischen Sprachverordnungen für Böhmen und Mähren 1897, in: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hrsg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Thaur – Wien – München 1995, 79–98.

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genden Essay „Stirring Times in Austria“.71 Die Auseinandersetzungen griffen auf die Straßen von Wien und Graz, Tumulte wurden auch aus Prag und anderen Städten Böhmens berichtet. In Wien wurden in Gaststätten Tafeln angebracht, die „Tschechen, Juden und Hunden“ den Eintritt untersagten. Ein Viertel gespritzter Wein, der sogenannte „G’spritzte“, wurde als „Viertel Badeni“ bestellt. Eine breite Bewegung formierte sich gegen „polnische“ und „tschechische Umtriebe“. Schließlich musste der Ministerpräsident zurücktreten, die folgenden Kabinette zogen die Verordnungen zurück.72 Letztlich verhinderte deutschnationaler Radikalismus nicht nur die ausgleichenden Badeni-Sprachverordnungen, sondern setzte auch ein Signal gegen die slowenischen bzw. italienischen Emanzipationsbestrebungen. Rückständigkeit und Unterentwicklung sowie Unterlegenheit waren zentrale Termini von deutschnationaler Seite gegenüber der „slawischen“ Bevölkerung und deren Kultur.73 So verglich der deutschnationale Abgeordnete Karl Hermann Wolf im Reichsrat die tschechische Kultur mit jener der „Eskimos und Zulus“ und beschwor damit einen Riesentumult im Parlament und auf den Wiener Straßen herauf. Auch in Kunstkritiken wurde etwa hinsichtlich einer tschechischen Oper formuliert, dass diese für das Wiener Publikum so überraschend „wie ein indisches Flötenkonzert“ sei.74 Traditionell war Politik damals ausschließlich männlich dominiert, Frauen besaßen kein Wahlrecht. Ab den 1880er-Jahren wurde in Zisleithanien versucht, mit spezifischen Argumenten auch Frauen für die nationale Anliegen zu mobilisieren. So hieß es in einer deutschnationalen Agitationsschrift: „Fragen der Freiheit kämpfen Männer alleine aus; sie liegen dem Weibe zu fern. Wenn aber der Gegner die höchsten nationalen Güter bedroht, wenn er das heilige Vermächtniß der Ahnen, die Muttersprache antastet, dann ist auch das Mutterherz getroffen.“75 Diese Aufforderung zur nationalpolitischen Aktivität schrieb dem, wie Pieter Judson schreibt, „gefährdeten Objekt, der ,Muttersprache‘, eine spezifisch weibliche Identität zu“.76 Die politische Mobilisierung von Frauen, in einem anderen Kontext damals sicher

71 Vgl. Mark Twain, Stirring Times in Austria, in: Harper’s Monthly Magazine, March 1898, Vol. 96, 530–540; Alexander Gerschenkron, An Economic Spurt that Failed. Four Lectures in Austrian History, Princeton 1977, 16–19. 72 Vgl. Burger/Wohnout, Eine „polnische Schufterei“?, 90–95, sowie Paul Molisch, Zur Geschichte der Badenischen Sprachverordnungen vom 5. und 22. April 1897, Wien 1923. 73 Vgl. dazu Christian Promitzer, The South Slavs in the Austrian Imagination, in: Nancy M. Wingfield, Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, New York – Oxford 2004, 183–215. 74 Vgl. Vlasta Reittererova/Hubert Reitterer, Vier Dutzend rothe Strümpfe ... Zur Rezeptionsgeschichte der verkauften Braut, Wien 2004, 59–60. 75 Deutscher Schulvereinskalender für 1884, Wien 1883, 6–7. 76 Pieter Judson, Deutschnationale Politik und Geschlecht in Österreich 1880–1900, in: David Good/ Margarete Grandner/Mary Jo Maynes (Hrsg.), Frauen in Österreich. Beiträge zu ihrer Situation im 20. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar 1994, 32–47, hier: 38.

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nicht als gesellschaftlich akzeptiert angesehen, wurde damit in diesem Fall gerechtfertigt. Die Argumente, die dabei vorgebracht wurden, gingen bis ans Absurde. So wurden „deutsche“ Mütter vor „tschechischen“ Ammen gewarnt, da das Kind „mit der Milch einer tschechischen Amme auch deren Sprache aufnehmen“ würde.77 Bereits 1887 hatten Georg von Schönerer und seine Gesinnungsgenossen im österreichischen Reichsrat für Aufsehen gesorgt, als sie Juden und Jüdinnen – gemeint waren galizische, russische, ungarische Juden und Jüdinnen – in ihrer Fremdheit mit „Chinesen“ verglichen: Schönerer ließ sich dabei vom US-amerikanischen Chinese Exclusion Act inspirieren. Er forderte in seinem Antrag die Regierung auf, nach dem Vorbilde der in den Jahren 1882 und 1884 in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gegen die Einwanderung der Chinesen gesetzlich beschlossenen Anti-Chinesen-Bill, dem Abgeordnetenhause ein Antisemitengesetz mit strengen Bestimmungen gegen die Einwanderung und Niederlassung ausländischer Juden in Österreich zur verfassungsmäßigen Genehmigung vorzulegen.78

Ein anderes Mal forderte Schönerer ein Gesetz zur Abwehr des jüdischen Zuzugs aus Russland und eine Beschränkung aller Juden in Österreich auf bestimmte Aufenthaltsorte; er schloss seinen Antrag mit den Worten: „Im Kampf gegen das alles zersetzende Judentum muss auch die Kampfgenossenschaft der Slawen und Romanen jederzeit willkommen sein.“79 Das Illustrierte Wiener Extrablatt verglich bereits zu Beginn der 1880er-Jahre italienische Bauund Erdarbeiter mit chinesischen Arbeitskräften in den Vereinigten Staaten: „Die Italiener als Arbeiter sind in unserem Österreich im Kleinen das, was die Chinesen im großen Stile in Nordamerika bedeuten, wo sie in Massen einwandern und durch ihre Billigkeit alle Arbeiten an sich reißen.“80 Zeitgleich mit der Agitation gegen eine heterogene Bevölkerungsstruktur und gegen spezifische Zuwanderergruppen hatten populistische Parteien Migrationsskepsis und Anpassungsdruck verbreitet. 1892 wurde ein Gemeinderatsantrag gestellt, der zum Inhalt hatte, „die Schar der Hungernden und Arbeitslosen“, unter denen sich „mindestens 70 Prozent aus Böhmen und Mähren“ befinden, nicht durch weitere Zuwanderer zu vergrößern.81 77 Julius Lippert, Die Erziehung auf nationaler Grundlage, Prag 1882, zit. nach Judson, Deutschnationale Politik, 43. 78 Antrag des Abgeordneten Georg Ritter von Schönerer und Genossen betreffend die Erlassung eines Antisemitengesetzes vom 27. Mai 1887, in: Eva Philippoff (Hrsg.), Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Ein politisches Lesebuch (1867–1918), Villeneuve d’Ascq 2002, 162. 79 Die stenographischen Protokolle des österreichischen Reichsrats, Haus der Abgeordneten, 10. Session, 3. Sitzung, 1887, 5202. 80 Illustriertes Wiener Extrablatt, 23.3.1881, 1. 81 Monika Glettler, Das tschechische Wien historisch, in: Christa Rothmeier (Hrsg.), Entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien in der tschechischen Literatur, Wien 2004, 77–108, hier: 89.

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7. Heterogenität anschärfen?

Es waren die Jahre 1867 bis 1914 in Altösterreich, wie bereits erwähnt, durch weitgehende Migrationsfreiheit geprägt.82 Die Zuwanderung nach Wien aus dem großen Habsburgerreich, aber auch aus dem Ausland, war daher von Vielfalt und Heterogenität geprägt. Im Alltag konnte dies zu Spannungen führen, aber auch zur Herausbildung informeller und auch formaler Solidarstrukturen (Vereine). Mitunter spielte die Herkunft im Alltagsleben aber auch keine dominierende Rolle. Auf regionaler und lokaler Ebene versuchten in den meisten Kronländern populistisch ausgerichtete politische Bewegungen die Heterogenität der Zuwanderung für sich zu nutzen. Dies war insbesondere auch in Wien der Fall. Von der Rathausmehrheit der Jahre 1897 bis 1914, lange geführt vom christlich-sozialen Bürgermeister Karl Lueger, wurde jedenfalls neben antisemitischen Ausfällen vor allem eine strikt anti-tschechische Politik verfolgt. Anträge der weitaus stärksten Minderheitengruppe Wiens, der tschechischen Ethnie, wurden durchwegs abgelehnt: 1) Nichtanerkennung der Wiener Tschechen als nationale Minderheit, 2) Verweigerung des Öffentlichkeitsrechts für tschechische Schulen, 3) Verpflichtung für Neubürger, nach dem Gemeindestatut von 1900 den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrechtzuerhalten.83 Seitens der deutschsprachigen Gemeinderatsmehrheit wurde ein klarer Assimilationsanspruch definiert. Eine offizielle Darstellung hielt 1913 fest: Hinsichtlich der Volksmischung steht die Wiener Bevölkerung unter den Bevölkerungen der europäischen Weltstädte ganz einzigartig da. Denn während in London, Paris und Berlin die Zuwanderung aus dem Inlande, neben welcher die Auslandsfremden keine Rolle spielen, homogene Bevölkerungselemente bringt, hat Wien Jahr für Jahr eine sehr große Zahl national und sprachlich verschiedener Elemente zu assimilieren.84

Anpassung an die Großstadt bedeutete für die großteils ländlichen und auch zu einem erheblichen Teil aus entfernten Gebieten der Monarchie stammenden Zuwanderer einen komplizierten Prozess, der behutsam oder weniger behutsam in unterschiedlichen Formen – Akkulturation, Partizipation, Integration, Assimilation – gestaltet werden konnte. Zu jedem dieser Begriffe gibt es Typologien, die den spezifischen Verlauf der Vorgänge beschreiben. Es handelt sich um komplexe Prozesse, die auch die Frage nach der „Heterogenität der Zuwanderung“ 82 Vgl. Hoerder/Lucassen/Lucassen, Terminologie und Konzepte in der Migrationsforschung, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hrsg.), Enzyklopädie Migration, 43. 83 Vgl. Michael John, Der lange Atem der Migration – die tschechische Zuwanderung nach Wien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Regina Wonisch (Hrsg.), Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 31–60, hier: 35–36. 84 Die Stadt Wien. Eine amtliche Darstellung, Wien 1913, 41.

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tangierten und keineswegs ungebrochen und geradlinig, auch nicht ohne Wertekonflikte, Interaktion und Rückkopplungseffekte abliefen. „Die Migranten tragen ihre ungeschriebene Geschichte mit sich, und haben zugleich neue Formen der sozialen Organisation zu erlernen“, formulierte Wolfgang Maderthaner. „Die Fremdheit in der Stadt und die Sprachlosigkeit in der Öffentlichkeit verstärken ein Gefühl des Anders- und Ausgeschlossenseins.“85 Hunderttausende Wiener Tschechen und Tschechinnen haben sich im Laufe des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts assimiliert. Damit wurde ein Zeichen gegen eine ethnisch heterogene Gesellschaft gesetzt – unter durchaus starkem Assimilationsdruck seitens der Mehrheitsbevölkerung und einiger Kreise der Politik. Fremdenfeindliche Klischees waren Teil einer bestimmten Volkskultur geworden und mitunter auch ins Selbstbild übernommen worden. Bereits 1877 hatte in der deutschnationalen Burschenschaft „Teutonia“ Jaromir Tobiaschek, aus einer slawischen Familie stammend, den sogenannten Arierparagrafen und damit die Aussonderung der jüdischen Bundesbrüder durchgesetzt. Als bekanntere Beispiele des Typus des antisemitischen, christlich-sozialen oder deutschnationalen Assimilanten können die um die Jahrhundertwende und bis in die Erste Republik hinein aktiven Politiker Anton Pumera, Luegers Kämmerer bei Rathaussitzungen, und Josef Jerzabek, christlich-sozialer Gemeinderat und Führer des Antisemitenbundes, genannt werden. Bereits in den 1890er-Jahren hatten die assimilierten Gewerbetreibenden Josef Blitza, Johann Jedlicka, später auch Wenzel Dolejs für die Christlichsozialen unter der populären Bezeichnung „Antisemiten“ kandidiert.86 Im zentralen sozialdemokratischen Diskussionsorgan Kampf hielt 1909 Franz Tomášek, Funktionär der Wiener tschechischen Sozialdemokraten, fest: [Es] ist kaum zufällig, dass man [in Wien] so viele tschechische Namen in den Reihen der christlichsozialen Partei findet. Die Nachkommen der tschechischen Einwanderer [....] füllen die Reihen dieser Partei und gebärden sich oft besonders deutsch. [...] In den ärmsten Familien, wo beide Eltern den ganzen Tag hindurch durch die Fabriksfron von den Kindern entfernt sind, wo die Kinder einerseits der Gasse und andererseits der anderssprachigen Schule überlassen sind, kommt es dann nicht selten vor, dass die Kinder nur deutsch, die Eltern nur tschechisch sprechen, dass sich beide nur mühselig verständigen, dass dann in solchen Familien so ein Kauderwelsch Platz greift, das nur Lachen und Spott der Nachbarn hervorruft.87

85 Wolfgang Maderthaner, Urbane Lebenswelten: Metropolen und Großstädte, in: Rumpler/Urbanitsch (Hrsg.), Habsburgermonarchie, Band IX/1, 493–538, hier: 497. 86 Wiener Schuhmacher-Genossenschafts-Zeitung, 20.12.1890, 3 zit. nach Lichtblau, Antisemitismus, 117. 87 Franz Tomášek, Nationale Minderheitsschulen als soziale Erscheinung, in: Der Kampf, 3. Jahrgang, 1 (1909–1910), 109.

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Tomášek sprach an dieser Stelle das sogenannte „Kuchlböhmisch“ (Kuchlbehmisch) an, eine Mischsprache, die wohl von zehntausenden Menschen in den letzten Jahrzehnten der Monarchie verwendet wurde. „Spott“, Diffamierung, Missverständnis und Entfremdung – etwa zwischen erster und zweiter Generation der Zuwanderer – waren die Folge.88 Es konnte aber auch zum eher spielerischen Umgang, jedenfalls um eine um Verständigung bemühte Verwendung der Sprachelemente kommen. Dies war etwa in den Wienerberger Ziegelarbeiterquartieren der Fall, wo auch nicht aus Böhmen und Mähren stammende Bewohner die Mischsprache verwendeten.89 Aber auch der jüdische Architekt Norbert Troller (1896–1981), der aus der Mittelschicht kam, merkte etwa in seinen Jugenderinnerungen an: In den Ferien waren wir uns selbst überlassen. Mit den einheimischen Kindern sprachen wir ausschließlich Tschechisch, selbst die Wiener Cousins lernten „Kuchlbehmisch“, ein Gemengsel von Deutsch und Tschechisch, das in Wien mit seiner großen tschechischen Bevölkerung geläufig täglich gesprochen wurde.90

Im Mainstream des Meinungsklimas war „Kuchlböhmisch“ allerdings etwas Minderwertiges, pejorative Reaktionen gab es sowohl von Seiten Deutschsprachiger als auch von tschechischer Seite. Aus Wien stammende, in Wien lebende Tschechen aus den unteren sozialen Schichten wurden mitunter deutlich abqualifiziert, Unterschiede zu bildungsnäheren Schichten wurden hervorgehoben.91 Wie bereits John Boyer betont hat, wohnte dem Antisemitismus für seine vielen tschechisch-assimilierten Träger eine stabilisierende Funktion für deren Psyche inne. Solcherart konnte das Gefühl nationaler Minderwertigkeit kompensiert werden. Bei der Distanz zwischen den beiden größten Minderheiten Wiens, der tschechischen und der jüdischen, spielten jedoch auch andere Faktoren, wie zum Beispiel die enormen sozialen Unterschiede eine Rolle. Auch die teilweise betont deutschnationale Ausrichtung, die Abwehr des ver-

88 Zur Praxis des „Kuchlböhmisch“ vgl. John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 224–225; Monika Glettler, Böhmisches Wien, Wien – München 1985, 102–104; Regina Wonisch, Die tschechische Minderheit in Wien, in: Matthias Theodor Vogt/Jan Sokol/Dieter Bingen/Jürgen Neyer/Albert Löhr (Hrsg.). Der Fremde als Bereicherung, Frankfurt am Main 2010, 85–116, hier: 95. 89 Zur Situation am Wienerberg gl. John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 251–254. 90 Norbert Troller, Meine Erinnerungen – Memoiren, o.O. 1978–1981, in: Albert Lichtblau (Hrsg.), Als hätten wir dazu gehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie, Wien – Köln – Weimar 1999, 315–326, hier: 323. 91 Vgl. dazu Vlasta Valeš, Die Kommunikationsorte der Wiener Tschechen zwischen den 1840er und den 1930er Jahren, in: Martin Scheutz/Vlasta Valeš (Hrsg.), Wien und seine WienerInnen. Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte, Wien – Köln – Weimar 2008, 285–296, hier: 286–87; ferner Glettler, Das tschechische Wien, 98.

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meintlich „Fremden“, kann im Sinne einer psychischen Stabilisierung interpretiert werden.92 Nicht ohne Verankerung in der Realität thematisierte der tschechisch-nationale Schriftsteller Adolf Brabec (1875–1928) in seinem 1910 erschienen Roman „Česká Vídeň“ (Das tschechische Wien) unter anderem das Renegatentum innerhalb der Wiener Minderheit. Einen Höhepunkt stellt dabei ein von seinem Sohn, einem deutschnationalen Burschenschafter, als „Sauböhm“ beschimpfter Vater dar.93 Die poetische Zuspitzung hat dahingehend ein Pendant in der Realität, als im Adressenverzeichnis der „alten Herren“ der Burschenschaft „Ostmark“ in Wien bei den 388 Namen ein Anteil von 21,5 Prozent nichtdeutscher und 12 Prozent definitiv tschechischer Namen zu erheben ist. Insbesondere der Buchstabe C liest sich wie ein Kabarett-Text: Auf Caucig folgen Charlemont und Christof, sodann Chvostek, Czadek, Czap, Czech, Czelechowsky, Czermak, Czernitzky, Czihatschek.94 In Linz betrug der entsprechende Anteil 3,2 Prozent (eine Person von 31), in Innsbruck 0 Prozent (von 31) und in Prag überraschenderweise ebenfalls nicht mehr als 21,4 Prozent (neun respektive acht von 60).95 Jeder fünfte Burschenschafter („alter Herr“) hatte in Wien jedenfalls keinen in der Alltagssituation als solchen zu erkennenden „deutschen“ Namen, etliche hatten ihre Namen germanisiert. Die jüdische Bevölkerung wiederum, die zur Jahrhundertwende nicht als ethnische Minderheit begriffen wurde, war, in der Kommunalpolitik ebenso wie im Alltagsleben, mit dem dargestellten massiven Antisemitismus konfrontiert. In den 1880er-Jahren soll der Reichsratsabgeordnete Ferdinand Kronawetter den „Antisemitismus“ als „Sozialismus des dummen Kerls von Wien“ bezeichnet haben. In den 1890er-Jahren gelang es der damals antisemitischen Christlichsozialen Partei unter dem charismatischen Karl Lueger die Gemeinderatsmehrheit in Wien zu erringen. Ein wichtiger Agitator des christlich-sozialen Antisemitismus auf Kirchenboden war der aus Niederösterreich stammende Pfarrer Joseph Deckert. Er textete ein neues Vaterunser, das die „Erlösung von der Judennoth“ beinhaltete, erbat den „Sieg des Christenthums“, forderte eine „Re-Emancipation“, also die Rücknahme der rechtlichen Gleichstellung der Juden und Jüdinnen.96 „Was geschieht mit uns Juden?“, fragte ein Artikel in einer jüdischen Wochenschrift. Nicht nur in diesem Artikel, sondern auch in der jüdischen Gemeinde versuchte man die Stimmung zu kalmieren.97 Letztlich erwies 92 John Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago – London 1981, 105. 93 Vgl. Christa Rothmeier, Vorwort. Das Bild Wiens in der tschechischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Rothmeier (Hrsg.), Entzauberte Idylle, 9–76, hier: 38–39. 94 Hauptleitung des Verbandes alter Burschenschaften Österreichs (Hrsg.), Verzeichnis der alten Burschenschafter der Ostmark 1902, Wien 1902, 62–81, hier: 65. 95 Verzeichnis der alten Burschenschafter 1902, 20–22 (Prag), 84 (Linz), 115–116 (Innsbruck), 62–81 (Wien). 96 Vgl. Joseph Deckert, Türkennnoth und Judenherrschaft. 3 Conferenzreden, Wien 1894, 24–30. 97 Vgl. Lichtblau, Juden in Österreich, 507–513.

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sich der Antisemitismus Lueger’scher Prägung als populistisches Instrument. 98 Die damals verbreitete antisemitische Haltung wirkte allerdings mit, das Klima zwischen den Juden und der Bevölkerungsmehrheit in Wien zu vergiften, und war bis weit in das meinungsbildende Spektrum der Gesellschaft vorgedrungen. Zwischen 1900 und 1914 traten mehr als 8.000 Wiener Juden und Jüdinnen aus unterschiedlichen Gründen aus ihrer Religionsgemeinschaft aus und zum römisch-katholischen oder protestantischen Glauben über. Die Taufquote der jüdischen Einwohner Wiens war zur Jahrhundertwende etwa dreimal so hoch wie in Berlin. Wien galt als „Taufmaschine“.99 Eine sehr wichtige Form der politischen Reaktion stellten die jüdisch-nationale und die zionistische Ausrichtung dar. Auch in Richtung deutschnationalen Gedankenguts akkulturierten sich die Juden: Vor der Einführung des „Waidhofner Beschlusses“, der Juden von Burschenschaften ausschloss, waren viele Studenten begeisterte Mitglieder derselben, danach wurden eigene Burschenschaften gegründet. Arthur Koestler, selbst aktiver Burschenschafter, zählte jüdische Kommilitonen zu den „gefürchtetsten Klingen der Universität [Wien]“.100 Dass der christlich-soziale Antisemitismus und der Antislawismus nicht in Handlungen umgesetzt wurde, hat Adolf Hitler (1889–1945), der 1907 bis 1911 im aufgeheizten Wiener Klima sozialisiert wurde, an der Gemeinderatspolitik nachdrücklich kritisiert. Hitler sprach von „Halbheit“ und „Scheinantisemitismus“ und kritisierte in dieser Hinsicht Karl Lueger scharf.101 Der zeitgenössische deutschnationale, besonders der alldeutsche Antisemitismus gingen in ihren Forderungen damals bereits weiter: Burschenschafter schlossen Juden als Mitglieder aus, „Kauft nicht bei Juden“ wurde zur Losung, Juden sollten in Politik und im Geschäftsleben geächtet werden, man trat auch für einen „Auszug“ der „Israeliten“ ein. Hitler hat in Mein Kampf, das als politisch-agitatorisch geprägte Autobiografie zu sehen ist, die Multiethnizität in Wien um 1910 wie folgt dargestellt: Wo immer ich ging, sah ich nun Juden, und je mehr ich sah, um so schärfer sonderten sie sich für das Auge von den anderen Menschen ab. Besonders die innere Stadt und die Bezirke nördlich des Donaukanals wimmelten von einem Volke, das schon äußerlich eine Ähnlichkeit mit dem deutschen nicht mehr besaß.102 98 John W. Boyer, Cultural and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897–1918, Chicago 1995, 164–235. 99 Vgl. Albert Lichtblau, Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie, Wien – Köln – Weimar 1999, 59, 193; Peter Honigmann, Die Austritte aus dem Judentum in Wien 1868–1944, in: zeitgeschichte, 15. Jahrgang, Heft 12 (1988), 459–460. 100 Arthur Koestler, Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens 1905–1931, Wien – Mün­chen – Basel 1953, 100–101. 101 Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München – Zürich 1996, 418. 102 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1943, 851.–855. Auflage, 60.

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Und später: Widerwärtig war mir das Rassenkonglomerat, das die Reichshauptstadt zeigte, widerwärtig dieses ganze Völkergemisch von Tschechen, Polen, Ungarn, Ruthenen, Serben und Kroaten usw., zwischen allem aber als ewiger Spaltpilz der Menschheit – Juden und wieder Juden. Mir erschien die Riesenstadt als die Verkörperung der Blutschande. Je länger ich in dieser Stadt weilte, umso mehr stieg mein Haß gegen das fremde Völkergemisch, das diese alte deutsche Kulturstätte zu zerfressen begann.103

Von einem kleinen, aber deutlich wahrnehmbaren gesellschaftlichen und politischen Spektrum wurde die Heterogenität der Zuwanderung nach Wien ins Groteske übersteigert. Fremd wie „Eskimos“, „Zulus“, „Chinesen“ und „Inder“ sollten die Zuwanderer sein und „widerwärtig [...] das Völkergemisch“. In der Kaiserzeit und der Zwischenkriegszeit wurde immer wieder angemerkt, dass xenophobe Ausfälligkeiten in Wien meist nicht ganz ernst zu nehmen seien: „A Hetz“, wie man sagte.104 Schon in der damaligen Tagespolitik sollten jedoch antisemitische und antitschechische verbale Ausfälle nachhaltige Folgen zeitigen (Badeni-Krise 1897, Luegers Ablehnung als Bürgermeister durch den Kaiser, die Obstruktionspolitik etc.). In der sogenannten „Provinz“ wurde in den gesellschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzungen ein Gegensatz zwischen den von ländlicher Bevölkerung dominierten Kronländern und der „verfaulten“ multiethnischen Metropole in den Vordergrund gerückt. Auch für die zeitgenössische Assimilation hatte die Verbreitung extremer Klischees Folgen. Noch allerdings dominierten im Kaiserreich starke politische und gesellschaftliche Kräfte, die einer derartigen Wahrnehmung entgegenstanden und machtpolitisch entgegenwirkten. Erst Jahrzehnte später sollten die extremen Verzerrungen der Zuwanderungsrealität seitens der Nationalsozialisten geschichtsmächtig und von einem großen Kreis der Bevölkerung akzeptiert sowie als Handlungsrichtlinie angenommen werden. Im Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach wurde allerdings bereits eine extreme Feindseligkeit gegenüber „nicht-deutschen“ Bevölkerungsgruppen in Österreich sichtbar.105 Als Hinweis auf mögliche Entwick103 Ebd., 135. 104 Vgl. Albert Lichtblau, „A Hetz muaß sein!“ Der Wiener und seine Fremden, in: Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1996, 145–150. 105 Anzusprechen sind hier die Greueltaten gegenüber slawischen Bevölkerungsgruppen, Grausamkeiten gegenüber italienischsprachigen Österreichern während des Ersten Weltkriegs ebenso wie die Feindseligkeit gegenüber jüdischen Flüchtlingen aus Galizien und Bukowina. Vgl. dazu unter anderem Hans Hautmann, Blutgemütliches Etwas. Die Habsburgermonarchie, in: Fin de siècle. Hundert Jahre Jahrhundertwende, Berlin 1988, 40–45; Ders., Die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und ihre Nicht-Bewältigung nach 1918. Referat

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lungslinien mögen Überlegungen des Migrationsforschers Rainer Bauböck dienen, der nach Erklärungen für die massive Ausgrenzung des vermeintlich ethnisch Fremden suchte: Die Verbindungslinien zwischen dem an Nationalitätenkonflikten zerbrochenen Habsburgerreich, der um den Anschluss an Deutschland bemühten Ersten Republik [...] sind deutlich genug. Im Vokabular der Psychoanalyse ließen sie sich wohl als Abwehr, Wiederkehr und Projektion verdrängter Ethnizität beschreiben.106

8. Antagonismen? Zur sozialen und ethnischen Heterogenität

Im Zuge einer Abhandlung über die Heterogenität der Zuwanderung nach Wien sollte auch die soziale Heterogenität angesprochen werden. Im Verlaufe der rasanten Stadtentwicklung während der Industrialisierung entstand in der Stadt Wien eine großflächige Segregation. Langfristiges Ergebnis der innerstädtischen Mobilität sowie der Zuwanderung war eine ausgeprägte räumliche Distanzierung der sozialen Kernschichten Bürgertum und Industriearbeiterschaft. Am Ende der Spätgründerzeit konnte man eine Citybildung in der Inneren Stadt registrieren, die Wohnbevölkerung des vierten, sechsten, siebten und achten Bezirks waren in der Hauptsache ebenfalls von Personen aus der Mittel- und Oberschicht bevölkert. In der Leopoldstadt, Landstraße, am Alsergrund (2., 3., 9. Bezirk), Bezirken des alten Stadtgebiets, lebte neben Ober- und Mittelschicht eine große Unterschichtpopulation, ebenso wie in Margareten (5. Bezirk). Ein enormes Wachstum war für den zehnten Bezirk – Favoriten – zu beobachten ebenso wie für die Zone der ehemaligen Vororte (11. bis 19. Bezirk), die hauptsächlich von unteren Schichten bewohnt wurden (Ausnahmen: 13., 18. und 19. Bezirk). Die Stadt hatte sich nach einem zonalen Bauprinzip in peripherer Richtung erweitert.107 1910 wiesen die proletarischen Außenbezirke von Favoriten bis Brigittenau und Floridsauf der 23. Jahrestagung der amerikanischen „German Studies Association“ in Atlanta/USA; Ders., Die österreichisch-ungarische Armee auf dem Balkan, in: Franz W. Seidler/Alfred M. de Zayas (Hrsg.), Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg – Berlin – Bonn 2002, 36–41; Michael Pesendorfer, Die Militärjustiz Österreich-Ungarns im 1. Weltkrieg, iur. Diss., Salzburg 1994; Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–1918, Darmstadt 2008. 106 Vgl. Rainer Bauböck/Bernhard Perchinig, Migrations- und Integrationspolitik, in: Herbert Dachs/ Peter Gerlich/Herbert Gottweis/Helmut Kramer/Volkmar Lauber/Wolfgang C. Müller/Emmerich Tálos, Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien 2006, 726–742, hier: 727–728. 107 Vgl. dazu Renate Banik-Schweitzer, Zur Bestimmung der Rolle Wiens als Industriestadt für die wirtschaftliche Entwicklung der Habsburgermonarchie, in: Renate Banik-Schweitzer/Gerhard Meißl, Industriestadt Wien. Die Durchsetzung der industriellen Marktproduktion in der Habsburgerresidenz, Wien 1983, 39–47.

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dorf einen prozentuellen Anteil der Arbeiter, Taglöhner und Lehrlinge an der erwerbstätigen Bevölkerung zwischen 62 und 76 Prozent auf.108 In den Unterschichtquartieren jenseits der „Linien“, in der sogenannten „Vorstadt“, lebte eine von der Herkunft heterogene Arbeiterbevölkerung (bis hin zu subproletarischen Schichten) mit kleinen Angestellten und Kleingewerbetreibenden, Meistern mit eigenem Verkauf, geringem Umsatz mit einkommensschwachen Kunden zusammen. Über die Lebensverhältnisse der Schuster- und Schneidermeister geben zwei Studien aus den Jahren 1901 und 1906 Aufschluss: So verdienten 32,5 Prozent der Schneider nicht mehr als 1.000 Kronen (ein auch für Arbeiter unterdurchschnittliches Einkommen), bei den Schustermeistern waren es 70,8 Prozent. Daraus resultierten kleine Wohnungsgrößen, eine ungünstige Miete-Einkommensrelation und ein hoher Anteil an Wohnungen mit Untermietern und Bettgehern. Überdies waren Arbeits-, Wohn- und Schlafraum häufig identisch.109 Roman Sandgruber hat jüngst eine Studie vorgelegt, die zeigt, dass das Wien der Spätgründerzeit von einer enormen Einkommensungleichheit geprägt war. Die Steuerquote auf Einkommen war damals sehr niedrig. Konkret entfielen nach seinen Berechnungen in Wien auf 0,01 Prozent der Bevölkerung 6,4 Prozent des Gesamteinkommens, auf 0,5 Prozent rund 19,2 Prozent des Einkommens und auf 1 Prozent rund 26,9 Prozent. Da Wien eingangs mit Linz, Brno/Brünn und Cernowitz verglichen wurde, seien die Vergleichszahlen für die Ein-Prozent-Gruppe genannt: 9,8 Prozent für Oberösterreich, 13,4 Prozent für Mähren und 12,9 Prozent für die Bukowina.110 Aus diesen Zahlen ist eine große Ungleichheit ableitbar, die in Wien am stärksten ausgeprägt war. Sandgruber hatte im Zuge seiner Forschungen eine Namens- und Datenliste jener 929 Bezieher der höchsten Einkommen in Wien und Niederösterreich im Jahr 1910 (mit Einkommensdaten von 1909 und 1910) zur Verfügung, die ein Jahreseinkommen von 100.000 Kronen und darüber versteuerten. Die Liste weist einen hohen Anteil nicht in Wien geborener Personen sowie einen ausgeprägten Anteil von Personen jüdischer Herkunft aus.

108 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1913, Wien 1916, 910–911. 109 Die Wohnungs- und Gesundheitsverhältnisse der Heimarbeiter in der Kleider und Wäscheconfektion, Wien 1901, 26–27, 62; Die Wohnungs- und Gesundheitsverhältnisse der Schuhmacher, Wien 1906, 31, 43, 69. 110 Vgl. Roman Sandgruber, Die 1000 reichsten Österreicher im Jahr 1910. Verteilungsstatistische und kollektivbiographische Auswertungen, 2013 (Manuskript, Kopie im Besitz des Verfassers), 5. Zur Thematik vgl. umfassend Roman Sandgruber, Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wiener­ innen und Wiener im Jahr 1910, Graz 2013.

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Tabelle 8: Geburtsorte einkommensstarker Personen*, Wien, 1910 Geburtsorte in Wien Niederösterreich sonstiges Österreich Böhmen/Mähren Slowakei Ungarn Galizien sonstige Monarchie Deutschland sonstiges Ausland

Insgesamt

%

davon jüdisch

%

282 36 21 196 25 66 19 10 85 37

36,3 4,6 2,7 25,2 3,2 8,5 2,4 1,3 10,9 4,8

141 8 4 140 22 60 19 4 44 22

30,4 1,7 0,9 30,2 4,7 12,9 4,1 0,9 9,5 4,7

* Jahreseinkommen über 100.000 Kronen, 1910; wohnhaft in Wien (Niederösterreich) Quelle: Roman Sandgruber, Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Graz 2013, 227.

In Zusammenhang mit der genannten Liste wäre beispielsweise der Bankier Theodor Ritter von Taussig (1849–1909), zeitweilig Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, zu nennen, der in Prag geboren wurde und später nach Wien übersiedelte.111 Auch andere Erhebungen weisen auf einen hohen jüdischen Anteil bei den Superreichen hin. Eine Untersuchung der Verlassenschaften des Jahres 1906 beinhaltetet 15 Millionäre, Personen, die ein Vermögen in der Höhe von mindestens einer Million Kronen hinterlassen hatten. Acht von ihnen waren mosaischer Konfession, sechs katholischen Glaubens, der Maschinenfabrikant Jean Roth möglicherweise Konvertit. Die Mehrheit der Millionäre waren Zuwanderer: 33 Millionen vererbte der aus Galizien stammende Bankier Sigmund Reitzes (1835–1906), ebenfalls ein großes Vermögen der aus Bonyhád in Ungarn stammende Textilfabrikant Ludwig Zwieback.112 Während der aus Lemberg zugewanderte Reitzes wegen seiner Geschäftsmethoden und seiner jüdisch-galizischen Herkunft heftig angegriffen wurde, ist ein anderer aus dem Kreis der superreichen Wiener, der aus dem slowakischen, damals ungarischen Sillein/Žilina stammende Bankier Sigmund Rosenfeld, von der Arbeiter-Zeitung ausdrücklich wegen seiner seriösen Praktiken und sozialen Einstellung gewürdigt worden.113 Der Anteil jener vermögen111 Österreichische Nationalbibliothek (Hrsg.), Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft. 18. bis 20. Jahrhundert, Bd. 3, München 2002, 1370. 112 Vgl. Vera Maria Streller, „Verschwender und Geizkrägen.“ Eine strukturelle Untersuchung des Wirtschaftsbürgertums um 1900 auf Grund von Verlassenschaftsakten, Univ. Dipl. Arb., Wien 1988, 19. 113 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frank-

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den Personen, die nicht in Wien (und Niederösterreich) geboren wurden, lag deutlich über dem Durchschnitt der Wiener Bevölkerung; Mobilität war also ein Faktor, der einem hohen Einkommen nicht entgegenwirkte, eher im Gegenteil.114 Geschlecht war im Gegensatz zur geographischen Herkunft hingegen ein wesentlich bedeutsamerer Faktor, die meisten Reichen, nahezu 90 Prozent derjenigen mit einem Jahreseinkommen von mindestens 100.000 Kronen, waren männlich.115 Oft wurde dieser Reichtum aber durch das Einbringen einer Mitgift, eines sog. Heiratsguts, ermöglicht oder befördert, wie etwa im Fall der aus Budapest stammenden Serena Lederer, geborene Sidonie Pulitzer. Die spätere Förderin des Malers Gustav Klimt heiratete den aus Böhmisch Leipa stammenden Unternehmer August Lederer, einen ähnlichen Fall stellte die Heirat Bertha Wittgensteins, die ebenfalls jüdischer Herkunft war, mit dem Gutsbesitzer Karl Kupelwieser dar.116 Während der sogenannten Gründerzeit war Zuwanderung in Wien als ein umfassender gesellschaftlicher Faktor zu begreifen, auf den man in der Oberschicht, in den Mittelschichten sowie in hohem Ausmaß vor allem auch in den Unterschichten und in deren Wohnquartieren stieß: Im Bezirk Brigittenau (20. Bezirk) hatte der Anteil der nicht in Wien Heimatberechtigten um 1900 76 Prozent betragen, davon 33,4 Prozent in Böhmen und Mähren heimatberechtigt, 11,8 Prozent hatten Tschechisch als Umgangssprache angegeben; im zehnten Bezirk Favoriten waren 73,5 Prozent der Bevölkerung nicht heimatberechtigt, mit einem Anteil von 45,7 Prozent aus Böhmen und Mähren, 20 Prozent hatten Tschechisch als Umgangssprache vermerkt, in Ottakring (16. Bezirk) waren rund 70 Prozent der Bevölkerung nicht heimatberechtigt, 34 Prozent waren in Böhmen und Mähren heimatberechtigt und 8

furt am Main – New York 2000, 166–175; Nachruf Sigmund Rosenfeld, in: Arbeiter-Zeitung, 3.6.1900, 6. 114 Edward Anderson hat nachgewiesen, dass in einer Reihe von Fällen, in denen Regionen mit guten Verdienstmöglichkeiten Zuwanderer anzogen, die wenig qualifiziert waren und über eine geringe Bildung verfügten, dies die soziale Ungleichheit in dieser Zuwanderungsregion verstärkte. Bei seinen empirisch fundierten Berechnungen hinsichtlich des Zeitraums 1900-1910 ist Michael Pammer im Falle Wiens und Niederösterreichs genau auf diesen Effekt nicht gestoßen. Eine einkommensstarke Mittel- und Oberschicht mit Migrationshintergrund wie in Wien wäre eine mögliche Erklärung dafür. Vgl. Edward Anderson, Globalisation and Wage Inequalities, 1870–1970, in: European Review of Economic History 5 (2001), 91–118, hier: 97–101; Michael Pammer, Interregional and Intraregional Wealth Inequality in Nineteenth Century Austria, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2013), 37–55. 115 Vgl. Sandgruber, Traumzeit, 144. 116 Vgl. dazu generell Sonja Niederacher, Eigentum und Geschlecht. Jüdische Unternehmerfamilien in Wien (1900–1960), Wien – Köln – Weimar 2012, 80–90; ferner Sophie Lillie, Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Wien 2003, 657; Sandgruber, Traumzeit, 382, 386.

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Prozent hatten Tschechisch als Umgangssprache angegeben.117 Ein teilweise ethnisch segmentierter Arbeitsmarkt wird etwa dadurch belegt, dass 87 Prozent der Dienstboten zugewandert waren, davon mehr als 50 Prozent aus Böhmen und Mähren stammten.118 Bei Ziegelarbeitern, Schustern, Schneidern, Bauarbeitern, Taglöhnern war der Anteil der Migranten und Migrantinnen aus Böhmen und Mähren ebenfalls hoch. Die Tatsache, dass 16 Prozent der Polnisch-, Italienisch- oder Rumänischsprachigen (sogenannte „andere Sprachen“) als Bettgeher lebten und 11 Prozent der Tschechischsprachigen, hingegen nur 3 Prozent der Deutschsprachigen, weist ebenfalls in diese Richtung.119 Bettgeher stellten die unterste Bewohnerkategorie in ­einem Haushalt dar. Ein sozialer Aufstieg war damals – sowohl in Wien als auch im österreichischen Alpen- und Alpenvorland – fast ausschließlich an den Gebrauch der deutschen Sprache gebunden.120 Dass man in Wien von „marginalisierten“, großteils zugewanderten Massen, die in erster Linie in den sogenannten „Außenbezirken“ lebten, sprechen kann, ist mittlerweile in einer Reihe von Arbeiten thematisiert worden. Von einer integrierten Gesellschaft konnte nicht die Rede sein.121 9. Gewalt, Heterogenität und ein Ausblick

Die Verschränkung ethnischer und sozialer Heterogenität resultierte mitunter in gewalttätigem Protest. Dabei spielten die Unterschichten und insbesondere das „flottante Element“, hochmobile Zuwanderer, wie etwa Bau- und Erdarbeiter, aber auch Ziegelarbeiter eine zentrale Rolle. Die hier angesprochene Form des Protests stand stets mit den konkreten Lebensverhältnissen der Betroffenen im Zusammenhang. Bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein war die Wohnsituation der Ziegelarbeiter mit dem Begriff „ausgeprägte Unterversorgung“ zu charakterisieren. Victor Adlers Artikel über die Wohn- und Lebenssituation der Wienerberger Ziegelarbeiter in der Zeitschrift Gleichheit (1888) kann in Österreich

117 Vgl. John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 154. 118 Marina Tichy, Alltag und Traum. Leben und Lektüre der Dienst­mädchen im Wien der Jahrhundertwende, Wien – Köln – Graz 1984, 25. 119 Österreichische Statistik, Bd. 63, Heft 3, Wien 1903, 2. 120 Vgl. Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900. Die Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, München – Wien 1972, 51–60. 121 Vgl. Maderthaner/Musner, Anarchie; Wolfgang Hösl/Gottfried Pirhofer, Wohnen in Wien 1848 bis 1938. Studien zur Konstitution des Massenwohnens, Wien 1988; Michael John, „Straßenkrawalle und Exzesse.“ Formen des sozialen Protests der Unterschichten in Wien 1880–1918, in: Gerhard Melinz/Susan Zimmermann (Hrsg.), Wien – Prag – Budapest: Blütezeit der Habsburgermetropolen; Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867–1918), Wien 1996, 230– 244; Michael Garstenauer, Marginalisierung in der „Vorstadt“ – sozioökonomische Entwicklung Wiens und Madrids im 19. Jahrhundert, Univ. Dipl. Arb., Wien 2007.

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als Klassiker der Sozialreportage angesehen werden, der in der zeitgenössischen Öffentlichkeit großes Aufsehen erregte, jedoch zu keiner Reform führte.122 Aus diesem Grund kam es dann später, 1895 zu einem blutigen Streik der großteils zugewanderten Ziegelarbeiter, Militär wurde eingesetzt und die Angelegenheit hat man im Reichsrat diskutiert.123 Auch die Obrigkeit sah das Problem. Die Bemerkung des niederösterreichischen Statthalters, dass vor allem die ungenügenden Wohnverhältnisse an dem Ausbruch des Streiks verantwortlich seien, veranlasste die großen bürgerlichen Blätter Wiens zur Berichterstattung. 124 In der Folge wurden neue Wohnhäuser gebaut. Beim zweitgrößten Produzenten im Wiener Raum, der Union-Baugesellschaft, wurden diverse Missstände auch noch später festgestellt. Um die Lebensumstände dieser Migranten zu dokumentieren, wird keine Sozialreportage, sondern ein nüchternes Begehungsprotokoll eines Bezirkshauptmanns, eines k. k. Gewerbeinspektors und des zuständigen k. k. Sanitätsrats herangezogen: Gegenstand ist die in der Nacht vom 29. auf den 30. April 1897 vorgenommene unangesagte Revision in den Arbeiterwohnungen auf den Ziegelwerken I, III und V der Union-Baumaterialien-Gesellschaft. Die gefertigten Kommissionsmitglieder begaben sich am 29. April um 9 Uhr abends auf das Ziegelwerk V [...] fanden daselbst acht Räumlichkeiten vor, in welchen Arbeiter der genannten Gesellschaft ihre gemeinschaftlichen Schlafstätten haben. Je nach der Größe dieser Räumlichkeiten waren in jeder derselben zwischen 15 und 30 Personen theils in Betten, theils auf dem Boden liegend untergebracht [...] Es wurden alle diese Räumlichkeiten als überfüllt anerkannt [...] Die Anzahl der Betten war keine der Zahl der Personen entsprechende, indem in der Regel zwei, drei Erwachsene oder vier Kinder in einem Bette schliefen [...] In einem und demselben Raume schliefen verheiratete Personen mit ledigen Männern und Mädchen, sowie Kinder und Säuglinge an der Brust der Mutter. Es wurde vorgefunden, dass Betten mit Männern unmittelbar an Betten mit Mädchen aufgestellt waren. Frauen und Mädchen wurden im halbnackten Zustande vorgefunden und ließ ihre Lage darauf schließen, dass unmittelbar vor Erscheinen der Commission, Männer an denselben den Beischlaf ausgeübt haben. Auf einem Heuboden daselbst waren 26 italienische Arbeiter untergebracht, und muss die Benützung dieses Raumes als Schlafstätte als in hohem Grade feuergefährlich bezeichnet werden, da nur eine kleine hölzerne Treppe den Zugang zu diesem Schlaflager bildet. Die ganz gleichen Zustände – nur im verstärkten Maße – wurden auf dem Werke III angetroffen [...] in einem dieser mit nur zwei Fenstern an der Längsseite versehenen Zimmer waren 36 Personen untergebracht [...] Der bei der Revision intervenirende k.k. Oberbezirksarzt erklärt die besichtigten Räume als geradezu

122 Die Gleichheit, 1.12.1888, 1–2. 123 Vgl. Ilse Reiter, Gustav Harpner (1864–1924). Vom Anarchistenverteidiger zum Anwalt der Republik, Wien – Köln – Weimar 2008, 72–76. 124 Vgl. beispielsweise Neue Freie Presse, 25.4.1895, 3–4.

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gesundheitsschädlich, nachdem dieselben überfüllt und jeder ausreichenden Lüftung entbehren [...] Aktenzahl 12698. Tremel m.p. k.k. Bezirkskommissär. Ing. C. Pallusmann m.p. k.k. Gewerbeinspektor- Assistent. Dr. Wawra m.p. k.k. Ober- Bezirksarzt.125

Die Ziegelarbeitersiedlungen im Süden Wiens wurden damals vom Bürgertum in erster Linie als sozialer Unruheherd wahrgenommen.126 Zehn Jahre später sollten erneut die Lebensbedingungen vornehmlich zugewanderter Arbeiterschichten zu Konflikten führen. Die Urbanisierungsforscherin Banik-Schweitzer hielt fest, dass junge, unqualifizierte Zuwanderer aus ländlichen Regionen in der Großstadt ihre Arbeitskraft sofort verwerten mussten, zum Erwerb höherer Qualifikation fehlten meist Zeit und Geld.127 Genau diese Gruppe kann als ein wesentlicher Träger massiver sozialer Proteste im Wien der Spätgründerzeit ausgemacht werden. Bereits ab 1907 nahmen in der österreichischen Gesellschaft die sozialen und politischen Spannungen zu. Nach dem Wahlerfolg der Sozial­ demokratie bei der ersten Wahl nach Einführung des allgemeinen, gleichen Männerwahlrechts hatte sich das gesellschaftliche Klima verschärft: Nun kooperierten die bürgerlichen Parteien enger miteinander, Arbeitgeberorganisationen und Industriellenklubs wurden offensiver. 1910 begannen sich die Lebensbedingungen der einkommensschwächeren Bevölkerung zu verschlechtern, eine Lebensmittelverteuerung und Fleischknappheit setzte ein. Dazu kam die in Wien schwierige Situation auf dem Wohnungsmarkt: Zwar waren die Wohnverhältnisse besser als in vielen anderen Industriestädten und als im ländlichen Raum. Preis und Beschaffung stellten allerdings enorme Probleme dar.128 Von Dutzenden Ereignissen wurde in den Jahren 1910 und 1911 in den Zeitungen berichtet, die als unkonventioneller Protest gegen die starke Marginalisierung der Lebenswelten von Unterschichten gedeutet werden können. Charakteristisch für diesen Protest der Unterschichten waren mitunter auch Elemente der Fremdenfeindlichkeit. Bei einer Reihe von Mieter- oder Teuerungsprotesten wurden traditionelle Vorurteile und Klischees gegen „reiche“, „wuchernde“ Juden wirksam: „Haut’s dem Juden alles z’samm’“, war ein Ruf, der gehört wurde.129 Antislawische Ressentiments rückten meist dann in den Vordergrund, wenn es sich um Auseinandersetzungen innerhalb der 125 Wienerberger Ziegelwerke AG, Firmenarchiv der Wienerberger Baugesellschaft, k. k. Bezirkshauptmannschaft Mödling, Zl. 12698 ex 1897. 126 Vgl. John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 251–254; Erika Iglauer, Ziegel – Baustoff unseres Lebens, Wien 1974, 201–210. 127 Renate Banik-Schweitzer, Der Prozess der Urbanisierung, in: Rumpler/Urbanitsch, Habsburgermonarchie Band IX/1, 185–232, hier: 222. 128 Vgl. z. B. Hösl, Pirhofer, Wohnen, 54–81; Albert Lichtblau, Wiener Wohnungspolitik 1892–1919, Wien 1984. 129 Zu Elementen des Antisemitismus vgl. John, „Straßenkrawalle“, 230–240; Maderthaner/Musner, Anarchie, 174–175, 176–208.

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Arbeiterschaft handelte, etwa bei Streikbruch oder vermeintlichen Streikbrechern, wobei es oft um Konflikte zwischen „alteingesessenen“, teilweise assimilierten Zuwanderern und neu Zugewanderten ging.130 Auf dem Simmeringer Lebensmittelmarkt konnte 1911 der Geschäftsverkehr nur noch unter dem Schutz eines Polizeiaufgebots abgewickelt werden. Bäckermeister und ihre Geschäfte waren mehrmals das Ziel von Steinwürfen, Sachbeschädigungen und Raufhändeln. Obdachlosenasyle wurden von wütenden Obdachlosen gestürmt, die Polizei mit Steinen beworfen. Bei einem tagelang andauernden Mieterkrawall in Meidling ereigneten sich am 9. September 1911 besondere Ausschreitungen: Demonstranten bewarfen die Polizei mit Steinen, zerstörten Fensterscheiben und Straßenlaternen, aus den Nachbarhäusern flogen Steine, Biergläser und heiße Bügeleisen.131 Nach Vorlage des Berichts über diese Demonstration setzte Kaiser Franz Joseph persönlich die Notiz: „Es wäre an der Zeit diesen wiederholten Straßenkrawallen energisch ein Ende zu setzen“ in den Tagesrapport.132 Die Sozialdemokratische Partei organisierte im Laufe des Jahres 1911 eine Reihe von Teuerungsversammlungen. Von kleinen Zwischenfällen abgesehen, verliefen die Versammlungen und Umzüge ruhig. Am 17. September 1911 wurde eine Großdemonstration gegen die Teuerung mit mehr als 100.000 Teilnehmern und Teilnehmerinnen abgehalten. Maderthaner und Musner kommentierten die Ereignisse dieses Tages: [Es] erhob sich das Proletarierviertel Ottakring in einer Hungerrevolte. Dabei ging es nicht nur um Auszehrung und Nahrungsmangel, vielmehr artikulierte sich ein erstes, breites Aufbegehren marginalisierter vorstädtischer Massen. Diese setzten sich nicht nur aus angestammten Unterschichten zusammen, es war vor allem die große Zahl jüngst zugewanderter Migranten, deren Sehnsüchte nach einem besseren Leben zu zerbrechen drohten.133

Die Großdemonstration des 17. September, von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei organisiert, war in der Innenstadt in Ruhe beendet worden, als Steine gegen das Rathaus geworfen und Geschäfte und Restaurants geplündert wurden. Besonders gewalttätig verlief der Sonntagnachmittag im Bezirk Ottakring. Schließlich wurden im Zuge der Ausschreitungen 130 Das Zerbrechen der „Kleinen Internationalen“ innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung verschärfte die Heterogenität in der Gesellschaft zusätzlich. Vgl. Raimund Löw, Der Zerfall der „Kleinen Internationale“. Nationalitäten­konflikte in der Arbeiterbewegung des alten Österreich 1889–1914, Wien 1984, 132–177; Michael John, Die öster­reichische Arbeiterbewegung und der soziale Protest der Unterschichten 1867–1914, in: Archiv 1990. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien 1990, 6–27. 131 Vgl. John, „Straßenkrawalle“, 234. 132 Tagesrapport 9.9.1911, Zl. 9251 ex 1911, AVA, MdI, 22 in gen., Ktn. 2089. 133 Maderthaner/Musner, Anarchie, 14–15.

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Elitetruppen des Militärs eingesetzt, die Schießbefehl erhielten. Es handelte sich dabei um ungarische Honvéd-Soldaten und bosnische Kavalleristen. Nach Zeitungsberichten reagierten die Demonstranten darauf mit den Rufen: „Jetzt lässt man den Ungar auf den Wiener los!“, „Die Bosniaken haben hier nichts zu suchen!“134 126 Personen wurden zum Teil schwer verletzt, vier Tote waren zu beklagen. Die multiethnische Soldatentruppe feuerte – gegen den Befehl – eine Salve über die Aufrührer hinweg, sonst hätte es mehr Tote gegeben. Am 18. September drohte die Regierung mit dem Standrecht und verhängte über den 16. Bezirk den Ausnahmezustand. Polizei und Militär arretierten in diesen Tagen 488 Personen, die in Schnellverfahren drakonisch bestraft wurden. Nach den vorhandenen Angaben zur Heimatberechtigung waren mehr als zwei Drittel der Festgenommenen „fremd“.135 Das Innenministerium notierte 1910 und 1911 insgesamt hunderte Teuerungs- oder Mieterdemonstrationen, -streiks oder -krawalle in den Wiener Zinshausquartieren. Von den Verurteilten der Teuerungsdemonstration vom 17. September 1911 abgesehen, wurden in Wien 1910 2.112 und 1911 2.054 Personen wegen „Wachebeleidigung“ verurteilt, 2.565 (1910) und 2.469 (1911) wegen „sonstiger Übertretungen“ gegen die öffentliche Ruhe, 371 bzw. 363 Personen wegen „Einmengung in eine Amtshandlung“, 345 bzw. 413 Personen wegen des Verbrechens „gewaltsame[r] Handanlegung oder gefährliche[r] Drohung gegen obrigkeitliche Personen in Amtssachen“ und schließlich 56 bzw. 77 Personen wegen „Auflauf nach §§ 279–284 StG“ und 516 bzw. 713 Personen wegen „öffentlicher Gewalttätigkeit“.136 Auch 1912 gab es noch eine Reihe einschlägiger Krawalle und lokaler Tumulte, insgesamt kann man 1910 bis 1912 wohl als „bewegte Jahre“ charakterisieren. Hundert Jahre danach, im September 2011, wurde in einer Wiener Tageszeitung, nachdem sich in London und Paris heftige soziale Unruhen ereignet hatten, folgende Parallele gezogen: „Im September 1911 kam es in Wien zu einer blutigen ‚Teuerungsrevolte‘, die mit den Unruhen in London vergleichbar ist.“137 Die Hintergründe des historischen Aufstands wirken angesichts der Jugendkrawalle in London, Paris und anderen Städten auf den ersten Blick sehr aktuell.138 In der Gegenwart werden die Proteste in erster Linie von Jugendlichen getragen, auch 134 Vgl. dazu die Zeitungsberichte in Illustriertes Wiener Extrablatt, 18.9.1911, 1–7; Neue Zeitung, 18.9.1911, 1–5. 135 Vgl. John, „Straßenkrawalle“, 235. 136 Statistisches Jahrbuch Wien 1912, 314–334. 137 Georg Markus, Der Aufstand der „kleinen Leute“, in: Kurier, 4.9.2011, 22. 138 In der Tageszeitung Der Standard erschienen die Zeilen: „Am 17. September trugen sich in diesem Teil der Stadt Szenen zu, die man eins zu eins ins London oder ins Paris des 21. Jahrhunderts transformieren könnte.“ Vgl. http://derStandard.at/1315006409807/17-September-1911-Wohnungselend-und-Hungerrevolte-Als-in-Ottakring-die-Steine-flogen (zuletzt abgerufen am 16.01.2016); vgl. dazu ferner Wohnungselend und Hungerrevolte. http://news.orf.at/stories/2079392/2079359 (zuletzt abgerufen am 16.01.2016).

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sie wehren sich vor allem gegen steigende Mietpreise und hohe Lebensmittelkosten. Doch sind die Vorgänge insgesamt schwer zu vergleichen: Um 1910 gab es in Österreich-Ungarn keinen funktionierenden Sozialstaat, große Teile der Unterschichten befanden sich in sehr schwierigen Lebenslagen, in der die Deckung elementarer Bedürfnisse infrage gestellt war. Die Protestformen um 1910 waren schließlich andere als um 2010. Manche Ausschreitungen jüngeren Datums in London oder Paris wurden mit dem Begriff „Rassenkrawalle“ versehen, wobei die Proteste vor allem von Jugendlichen arabischer, muslimischer, afrikanischer, karibischer Herkunft getragen wurden. Zur Zeit der Jahrhundertwende kann man schwer von „Rassenkrawallen“ oder ethnisch geprägten Revolten sprechen, obgleich der ethnisch-religiöse Faktor auch bei den Ausschreitungen in Wien eine Rolle spielte. Die historische Protestforschung kann jedenfalls anhand der Untersuchung konkreter Konflikte auch einen Beitrag zur Beschaffenheit von Gesellschaften leisten: Heterogenität lässt sich auch auf diese Weise darstellen.139 Die neurotisierenden Konflikte und Spannungen zwischen den Ethnien in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie und die „Judenfrage“ bildeten sich auch in den historischen Protesten in Wien um 1910 ab. Der Versuch eines Vergleichs 1911–2011 zeigt aber auch die Schwierigkeiten auf, die Heterogenität der Gesellschaft im Wien der Kaiserzeit mit jener der Gegenwart in Beziehung zu stellen. Diese Schwierigkeiten werden größer, wenn man verschiedene Sozialräume (Wien – London – Paris etc.) miteinander zu vergleichen sucht. London, Paris oder New York gelten als so genannte „Global Cities“ und auch im Wien der Gegenwart lebt teilweise eine Gesellschaft weltweiter Herkunft. Die Bevölkerung mit nichtösterreichischem Migrationshintergrund wurde 2013 mit 49 Prozent angegeben, deutlich über diesem bereits hohen Durchschnittswert lagen der 15., der 5., der 16. und der 20. Bezirk.140 Der Einzugsbereich der Zuwanderung nach Wien hat sich im Zuge der Globalisierung enorm erweitert, die Herkunftsgebiete der Zuwanderer sowie deren kultureller Background haben sich verändert. Bei der Volkszählung 2001 gaben 25 Prozent der Wohnbevölkerung eine nichtdeutsche Umgangssprache an, davon 58,9 Prozent Sprachen aus dem ehemaligen Jugoslawien, 18,5 Prozent Türkisch, 6,9 Prozent Englisch, 4 Prozent Ungarisch, nahezu 3 Prozent Arabisch.141 Der Spitzenreiter unter den nichtdeutschen Sprachen der Jahrhundertwende – Tschechisch – 139 Vgl. dazu beispielsweise Thomas Lindenberger, Die Moabiter Unruhen 1910: Straßenpolitik und Klassenkonflikt im spätwilheminischen Berlin, in: Jahrbuch des Landesarchives Berlin 1995, Berlin 1995, 131–148; Manfred Gailus, Contentious food politics: sozialer Protest, Märkte und Zivilgesellschaft (18.–20. Jahrhundert), Veröffentlichung der Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft: historisch-sozialwissenschaftliche Perspektiven“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Discussion Paper, No. SP IV (2004). 140 Stadt Wien, Magistratsabteilung 17 (Hg.), 3. Wiener Integrations- & Diversitätsmonitor 2011-2013, Wien 2014, 39, 68. 141 Statistik Austria, Volkszählung 2001. Hauptergebnisse I – Wien, Wien 2003, 18–19.

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spielte als Umgangssprache nur eine geringe Rolle, lag hinter Albanisch und in etwa gleichauf mit Persisch und Chinesisch.142 Waren die „Tschechen“ der Jahrhundertwende die „Tschuschen“, die „Gastarbeiter“ der jüngeren Vergangenheit? (Nein, sagt etwa Wladimir Fischer).143 Wer waren die Tschetschenen, die Afrikaner von 1900, welche Gruppe lässt sich mit den „islamischen Zuwanderern“ und den diesen gegenüber getroffenen Zuschreibungen gleichsetzen? Was bedeuteten Fremdheit und Heterogenität um 1900 in einer nicht derart mobilen und vernetzten Gesellschaft wie der zeitgenössischen, und lässt sich deren Wahrnehmung von „fremd“ und „anders“ mit jener der Gegenwart vergleichen? Bis heute gibt es überdies keine grundlegende, profunde Studie über die Auswirkungen der Habsburgermonarchie auf die Gegenwartsgesellschaft.144 Hinsichtlich dieser Fragestellungen wäre wohl auf zukünftige Forschungen zu verweisen.

142 Ebd., 102. 143 Wladimir Fischer, „I haaß Vocelka – du haaßt Vocelka.“ Der Diskurs über die „Gastarbeiter“ in den 1960er- bis 1980er-Jahren und der unhistorische Vergleich mit der Wiener Arbeitsmigration um 1900, in: Martin Scheutz/Vlasta Valeš (Hrsg.), Wien und seine WienerInnen. Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte, Wien – Köln – Weimar 2008, 327–353. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Wladimir Fischer in diesem Band. 144 Zu dieser Problemstellung vgl. auch Michael John, Migration in Austria, an Overview: 1920s to 2000s, in: Cohen/Feichtinger (Hrsg.), Understanding Multiculturalism, 122–157, hier: 145–149.

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Hybride Kommunikationsräume und Mehrfachidentitäten Zentraleuropa und Wien um 1900

Eine der bedeutendsten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte ist ohne Zweifel die weltweite Zunahme von Migration und Mobilität. Das hat zur Folge, dass sich Länder, die noch vor wenigen Jahrzehnten scheinbar von einer sprachlich und kulturell relativ homogenen Gesellschaft bestimmt waren – eine Zielvorstellung, auf die sich die nationale Ideologie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gestützt hatte – von der politischen Vision, eine solche Homogenität auch in der Zukunft aufrechterhalten zu können, verabschieden müssen. Statt Homogenität wurde Heterogenität das bestimmende Merkmal unserer Zeit. Hinter einer solchen Entwicklung, die mit Sicherheit auch für die kommenden Jahrzehnte von Bedeutung bleiben dürfte, steht die zunehmende ökonomische Globalisierung, die auch Arbeit neu regelt und sie in einer postfordistischen, postmodernen Realität weltweit neu verteilt. John Fiske ortet jedoch hinter diesen Tendenzen auch eine Zunahme der Erfahrung des Lokalen und dessen wachsende Bedeutung. „Globalisierung hat immer auch Lokalisierung zur Folge“, meint Fiske, womit auch eine Heterogenisierung einherginge, „und ein Resultat dieser gegenläufigen Kräfte ist die Zersetzung des Nationalstaates von außen durch die Globalisierung und von innen durch die subnationale Lokalisierung. Diese subnationalen Konflikte, die häufig zwischen ethnischen Gruppen bestehen und die mit der Schwächung des Nationalstaates in Zusammenhang stehen, produzieren fortwährend enorme Flüchtlingsströme, die die transnationale Bewegung von Menschen verstärken. Diaspora, Exil und Immigration sind in einer globalen Gesellschaft normal [Hervorhebung M. Cs.].“1 Angesichts einer solchen Bestandsaufnahme kann man sich freilich zu Recht die Frage stellen, ob Migrationen und Mobilitäten, welche Heterogenisierungen zur Folge haben, die heute gewiss von weltweiter Relevanz geworden sind, wirklich so neue Phänomene sind. Beschränkt man sich nur auf die vergangenen zwei Jahrhunderte, kann man feststellen, dass aufgrund der weitreichenden ökonomischen, technischen und sozialen Transformationen, von denen die westliche Welt infolge der Modernisierung betroffen war, Mobilitäten und 1

John Fiske, Hybride Energie: Populärkultur in einer multikulturellen, postfordistischen Welt, in: Rainer Winter/Lothar Mikos (Hrsg.), Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader, Bielefeld 2001, 285–307, hier: 288.

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Migrationen bereits seit dem beginnenden 19. Jahrhundert sprunghaft zugenommen haben. Und dass daher die Vorstellung von einem ethnisch einheitlichen, geschlossenen, homogenen Nationalstaat in der Tat ein Traum geblieben ist. Oder anders gewendet: dass die Zielvorstellung der nationalen Ideologie, ethnisch und sprachlich homogene Räume zu schaffen, sich auch der Tatsache verdankte, dass Gesellschaften aufgrund von zunehmenden Mobilitäten immer durchlässiger und inhomogener wurden. Dies betraf nicht nur mehrsprachige und plurikulturelle Gesellschaften, wie jene in der ehemaligen Habsburgermonarchie, sondern ebenso westeuropäische Staaten, wie, nach Pierre Milza, das Beispiel Frankreichs zeigt: On sait de manière fiable que 20% de la population française, par ascendance paternelle ou maternelle, possède une origine étrangère (10 à 12 millions de personnes). Évidemment, si l’on remonte au-delà de trois générations, les proportions seraient plus importantes, surtout si l’on tient compte des changements de nom du XIXe siècle.2

Dieser Feststellung fügt Gérard Noiriel hinzu, dass „la population française est l’une de celles qui, dans le monde entier, a été la plus renouvelée au XXe siècle par l’immigration; plus même qu’aux États-Unis“.3 Während die offizielle Politik in der Gegenwart auf die Ströme von Immigranten und Immigrantinnen zum Teil ratlos, zum Teil irritiert und abweisend reagiert, was zu parteipolitischen, populistischen Instrumentalisierungen dieses Problems geführt hat, ging man auch in der Vergangenheit mit Migranten und Migrantinnen nicht gerade freundschaftlich um. Man sah sie, vor allem in den urbanen Milieus, als eine Bedrohung der, wenn zuweilen auch nur postulierten, sprachlich-kulturellen Homogenität an. In der Habsburgermonarchie verlagerten sich unter solchen Umständen die Rivalitäten der Nationalitäten, die letztlich als die Konkurrenz von unterschiedlichen individuellen und kollektiven Identitäten angesehen werden können, aufgrund von Migrationen aus dem Makrokosmos der Region in die Mikrokosmen der Städte; jene Nationalitätenkämpfe, von denen Robert Musil in seiner Beschreibung Kakaniens ironisch gemeint hatte, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre. Und es war auch nichts Wirkliches gewesen. Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon früh, und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet,

2 3

Les mécanismes de l’intégration. Entretien avec Pierre Milza, in: Jean-Claude Ruano-Borbalan (Hrsg.), L’histoire aujourd’hui, Auxerre 1999, 119–123, hier: 119. La tyrannie du national. Entretien avec Gérard Noiriel, in: Ruano-Borbalan (Hrsg.), L’histoire, 113–118, hier: 114.

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das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre.

Es waren dies sozial-politische Prozesse, die, wie Musil ausdrücklich betonte, „mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen“.4 Eine solche Neugierde ist freilich auch jenseits von ihrem ehemaligen zeithistorischen Kontext insofern berechtigt, als es sich hier, vor dem Hintergrund von Migration und Mobilität, um permanente, dynamische, zugleich jedoch auch krisenhafte gesellschaftliche Veränderungen handelte, die freilich für kulturelle Prozesse ganz allgemein kennzeichnend sind und diese zu verdeutlichen vermögen. Ich möchte daher im Folgenden versuchen, mit einigen Hinweisen auf deren kulturhistorische und vor allem kulturtheoretische Relevanz einzugehen. 1. Zentraleuropa: Eine Region der Kontraste

Hier möchte ich zunächst wieder auf das bekannte Kakanien-Kapitel in Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ zurückkommen, um in der Folge auf die spezifischen Kriterien der zentraleuropäischen Region einzugehen. Die Bezeichnung Kakanien ist bei Musil ein fiktives Synonym für die Habsburgermonarchie. Die Beschreibung der Verfasstheit der Monarchie ist ein Hinweis auf die konkreten Konditionen der Region, in der sich diese vorfand. Darüber hinaus sind freilich – und darauf zielt Musil in erster Linie ab – Charakteristika einer Situation angesprochen, die für die Moderne beziehungsweise die Postmoderne symptomatisch sind. Es ist eine Situation „ohne Eigenschaften“ oder eine Situation einer Vielfalt von nebeneinander existierenden und ineinander übergreifenden, nur schwer fassbaren Eigenschaften. So lassen sich auch die „Charaktere“ oder die Identitäten der Bewohner und Bewohnerinnen Kakaniens – im Verständnis von Identität als reflektiertes Bewusstsein – nur schwer bestimmen, denn sie besitzen gleichzeitig mehrere unterschiedliche, fast möchte man meinen widersprüchliche Charaktere, sie sind gekennzeichnet nicht von einem eindeutigen, sondern von einem „zerstreuten Gedächtnis“.5 Es wäre immer falsch, so Musil, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen 4 5

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1987, 34. Robert Musil, Ein Mensch ohne Charakter, in: Robert Musil, Gesammelte Werke I: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1983, 533–539, hier: 534.

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unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.6

Michael Rössner hat diesen „zehnten Charakter“ aus einer lateinamerikanischen, postkolonialen Perspektive zu deuten und im Kontext des Homi K. Bhabha’schen hybriden „Third Space“ zu verorten versucht.7 Ein solcher „Dritter Raum“, als ein verbindender „Grenzort“, zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm Differenzen aufeinandertreffen und, nicht zuletzt aufgrund der Aushandlung von spurenhaften „Ähnlichkeiten“,8 miteinander zu einer hybriden Gemengelage verschmelzen, ohne jedoch ihre ursprünglichen Merkmale völlig zu verlieren. Freilich lässt sich die musilsche Beschreibung eines „zehnten Charakters“ auch mithilfe der Michel Foucault’schen Leitfigur der Heterotopie verdeutlichen, denn: „Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind.“ Es sind dies Orte beziehungsweise Räume, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager […], in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert,

6 7

8

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 34. Vgl. dazu auch Musil, Ein Mensch ohne Charakter, 537. Michael Rössner, Das leere (zentraleuropäische) Zentrum und die lebendige Peripherie – Gedanken zu Musils „Kakanien“-Kapitel im Mann ohne Eigenschaften in einem lateinamerikanischen Kontext, in: Johannes Feichtinger/Elisabeth Großegger/Gertraud Marinelli-König/Peter Stachel/ Heidemarie Uhl (Hrsg.), Schauplatz Kultur – Transdisziplinäre Annäherungen, Innsbruck – Wien – Bozen 2006, 269–277. Zum „Dritten Raum“ als einem „Zwischenraum“, in dem binäre Differenz entgrenzt, das heißt obsolet wird, vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2011 (2000), v. a. 55–58. Vgl. dazu Anil Bhatti/Dorothee Kimmich/Albrecht Koschorke/Rudolf Schlögl/Jürgen Wertheimer, Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 36 (2011) 1, 233–247, hier: 245.

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bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.9

Ein solcher von vielfältigen, widersprüchlichen Charakteren, das heißt von sich selbst nicht ganz ernst nehmenden und daher den Menschen auflösenden Identitäten bestimmter Raum verdankt sich in der Tat einer ganz konkreten Situation von gesellschaftlichen Heterogenitäten, von kulturellen Differenzen und folglich von performativen Hybriditäten, die für die ehemalige, historische Monarchie kennzeichnend war und für die zentraleuropäische Region von allgemeiner Relevanz geblieben ist. Das sogenannte Kronprinzenwerk „Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild“, das von Kronprinz Rudolf angeregt wurde und zwischen 1886 und 1902 in vierundzwanzig Bänden erschien, zeichnete in einer dem damaligen dominanten nationalistischen Diskurs zumeist gegenläufigen Tendenz, das heißt aus einer möglichst „neutralen“ Distanz, ein Bild von der Vielfalt beziehungsweise Heterogenität der Völker und Kulturen, die der damaligen Monarchie angehörten. In der Einleitung, die im ersten, im Dezember 1885 erschienen Faszikel publiziert wurde und dann den Beginn des zweiten Übersichtsbandes (1887) bildete, betonte Rudolf daher: Es ist […] gerade in unserem Vaterlande von hoher Wichtigkeit, die Ethnographie und ihre Hilfswissenschaften zu pflegen, da dieselben, ferne von allen unreifen Theorien und von allen Parteileidenschaften, das Material sammeln, aus welchem allein eine objective Vergleichung und Abschätzung der verschiedenen Völker hervorgeht.10

Man könnte folglich das große Unternehmen als einen ethnografischen Seismografen bezeichnen, legte es doch größtes Gewicht auf eine den damaligen wissenschaftlichen Erkennt9

Michel Foucault, Andere Räume, in: Michel Foucault, Botschaften der Macht. Der Foucault Reader. Diskurs und Medien, hrsg. von Jan Engelmann, Stuttgart 1999, 145–157, hier: 148, 149. 10 Erzherzog Rudolf, Einleitung. Zit. in: Brigitte Hamann (Hrsg.), Kronprinz Rudolf „Majestät, ich warne Sie …“ Geheime und private Schriften, München – Zürich 1987, 327–334, hier: 328. Vgl. zum Kronprinzenwerk u.a. György M. Vajda, Wien und die Literaturen der Donaumonarchie. Zur Kulturgeschichte Mitteleuropas 1740–1918 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 4), Wien – Köln – Weimar 1994, 143–164; Zoltán Szász, Das „Kronprinzenwerk“ und dessen Konzeption, in: Csaba Kiss/Endre Kiss/Justin Stagl (Hrsg.), Nation und Nationalismus in wissenschaftlichen Standardwerken Österreich-Ungarns ca. 1867–1918, Wien – Köln – Weimar 1997, 65–70. Zu den nationalistischen Tendenzen in den Ungarn betreffenden Bänden des Kronprinzenwerkes vgl. Vilmos Heiszler, Ungarischer (magyarischer) Nationalismus im „Kronprinzenwerk“, in: ebd., 71–77. Das Kronprinzenwerk unter einem bildgeschichtlich-semiotischen Gesichtspunkt behandelt Vilmos Voigt, Die Österreichisch-Ungarische Monarchie in Wort und Bild, in: Károly Csúri/Zoltán Fónagy/Volker Munz (Hrsg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde (Österreich-Studien Szeged 3), Wien 2008, 89–99.

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nissen entsprechende Darstellung der ethnisch-kulturellen „Kontraste“ beziehungsweise Differenzen der Region. Gibt es denn, fragt Rudolf, einen Staat so reich an Gegensätzen seiner Bodengestaltung, der, naturhistorisch, landschaftlich und klimatisch so herrliche Mannigfaltigkeiten in seinen Grenzen vereinigend, in der ethnographischen Zusammensetzung verschiedener Völkergruppen gleich interessante Bilder zu einem großen Werke liefern könnte?11

Der Kronprinz verabsäumte es nicht, auf die „vielsprachigen Nationen“ aufmerksam zu machen, die die Monarchie bevölkerten, zählte diese einzeln auf und erwähnte neben dem Volk der „Zigeuner“ explizit auch die Juden. Zwei Völker, die in der offiziellen Volkszählung als eigene Nationalitäten nicht aufschienen, wobei die Nennung der Juden den Vertretern des damals zunehmenden Antisemitismus vermutlich verdächtig erscheinen mochte: Alle diese Nationen und Stämme, diese einzelnen Typen, ihre so wechselnden Dialecte und Gewohnheiten, ihre Lebensweisen, Wohnungen, ihre Erwerbsquellen, ihre Feste, Unterhaltungen und Gebräuche, ihre alten Trachten und Waffen, ihre Bildung, ihre Nationalpoesie, ihr Blühen und Gedeihen innerhalb der Grenzen dieser Monarchie

darzustellen, sei das Ziel dieser „Enzyklopädie“.12 Was hier auffällt, ist die Tatsache, dass diese Vielfalt von Völkern, Sprachen, Gewohnheiten oder Eigenschaften nicht von der Warte einer nostalgischen oder harmonisierenden Sichtweise aus erfolgte, sondern vor allem auf Differenzen und „Kontraste“, das heißt indirekt auf die immanente Krisen- und Konfliktanfälligkeit einer solchen Situation aufmerksam gemacht wurde, die sich in der Realität des politischen Alltags nur allzu deutlich bemerkbar machte. Ganz ähnlich argumentierte wenige Jahre zuvor auch der Wiener Geograf Friedrich Umlauft. Seine Darstellung ist insofern von größtem Interesse, als sie unter anderem zwei Konsequenzen benennt, die sich einer solchen widersprüchlichen ethnisch-kulturellen Heterogenität, das heißt der Tatsache verdanken, dass – so Umlauft wörtlich – die Monarchie ein „Staat der Contraste“ ist. Es bestünden hier prinzipiell fließende „Grenzen“, die vor allem in dem einander Durchdringen von kulturellen Differenzen sichtbar würden. Da jedoch die genannten Völker nicht durchweg scharf abgegrenzte, abgeschlossene Gebiete bewohnen, sondern sich in vielen Gegenden gegenseitig durchdringen, so ist in solchen Grenzbezirken häufig eine eigenthümlich gemischte Bevölkerung zu finden. Ja die Vermischung der

11 Erzherzog Rudolf, Einleitung, 328–329. 12 Ebd., 332–333.

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verschiedenen Nationalitäten läßt sich nirgends in Europa in so augenfälliger Weise beobachten, wie eben in unserem Vaterlande.13

Wenn Umlauft hier von Grenzbezirken spricht, ist nicht nur an die Peripherie zu denken, Grenzen werden auch im metropolitanen Zentrum, vor allem in den urbanen Milieus wie zum Beispiel in Wien, zu einer kulturell bestimmenden Realität. Die Menschen, die sich in solchen Grenzbereichen befanden, waren folglich auch sprachlich und kulturell „eigentümlich gemischt“, das heißt sie gehörten zwei oder mehreren kulturellen Kommunikationsräumen an, mit denen sie sich, zumeist unbewusst, identifizierten. Sie wiesen Mehrfachidentitäten auf, die dem nationalen Narrativ widersprachen, das auf eine eindeutige national-kulturelle Identität ausgerichtet war. Man könnte mit solchen konkreten empirischen Erhebungen die These von Jurij M. Lotman untermauern, wonach Kultur als eine Semiosphäre prinzipiell von Heterogenitäten, von Grenzsituationen bestimmt wäre: Die Brennpunkte der semiotisierenden […] Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer anderen Semiotik überträgt.

Und etwas weiter meint Lotman: „Faktisch ist der gesamte Raum der Semiosphäre von Grenzen unterschiedlicher Niveaus durchzogen […].“14 In einer solchen „vermischten“ Situation, folgert Umlauft weiter, sind auch die historischen Erinnerungen mehrdeutig, es ist eine Vielfalt von Gedächtnisebenen zu berücksichtigen, will man die Geschichte einer solchen von Kontrasten geprägten Region darstellen: Daher fließt auch Oesterreichs Geschichte aus der Deutschlands, Ungarn und Polens zusammen, ähnlich der früheren oder späteren Vereinigung verschiedener Zuflüsse in einem großen Strombette, das dann die aufgenommenen Wassermassen gemeinschaftlich weiterführt.15

13 Friedrich Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie. Geographisch-statistisches Handbuch mit besonderer Rücksicht auf politische und Cultur-Geschichte für Leser aller Stände, Wien – Pest 1876, 1–4, hier: 2. 14 Jurij M. Lotman, Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur. Aus dem Russischen von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja. Hrsg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz, Frankfurt am Main 2010, 182, 184. 15 Umlauft, Die Oeterreichisch-Ungarische Monarchie, 2.

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Umlauft antizipiert hier eine Sichtweise, die der „histoire croisée“, der „shared history“ oder der Forderung nach „entangled histories“, nach einer Geschichte von Verflechtungen, durchaus entspricht.16 Umlaufts Plädoyer entspricht also einer annähernd postkolonialen Perspektive, die später Eward Said für eine Geschichte der Palästinenser einfordern sollte: Es gibt viele verschiedene palästinensische Erfahrungen, die nicht alle in einer einzigen Geschichtsschilderung zusammengefasst werden können. Deswegen müsste man parallele Geschichten der Gemeinden im Libanon, den besetzten Gebieten und so weiter schreiben. Das ist das zentrale Problem. Es ist praktisch unmöglich, sich eine einzige Geschichtsschreibung vorzustellen.17

Diese Multiperspektivität, unter der die Vergangenheit eingefangen werden sollte, hat schon vor mehreren Jahrzehnten Fernand Braudel eingefordert: Für mich ist die Geschichte die Summe aller möglichen Geschichten – eine Sammlung von Fächern und Gesichtspunkten von gestern, heute und morgen. Der einzige Irrtum wäre meines Erachtens, eine dieser Geschichten unter Ausschluß der anderen zu wählen.18 2. Pluralitäten und Heterogenitäten

Ein besonderes Kennzeichen der zentraleuropäischen Region und innerhalb dieser der historischen Habsburgermonarchie bestand in der Tat in ihrer Polyglossie, Plurikulturalität beziehungsweise Pluriethnizität. Zentraleuropa war eine Region, in der Grenzen, nicht zuletzt in dem von Jurij M. Lotman angedeuteten Sinne, wichtige Kriterien, empirisch nachweisbar und tagtäglich erfahrbar waren. Zentraleuropa war von einer Vielzahl von Differenzen, das heißt von Völkern, Sprachen und Kulturen geprägt. Das bestimmende Merkmal oder die

16 Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Penser l’histoire croisée: entre empirie et réflexivité, in: Michael Werner/Bénédicte Zimmermann (Hrsg.), De la comparaison à l’histoire croisée, Paris 2004, 15–49. Sebastian Conrad/Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in der Geschichts- und Kulturwissenschaften. Unter Mitarbeit von Beate Sutterlüty, Frankfurt am Main – New York 2002, 9–49, v. a. 17–22. 17 Salman Rushdie, Über die Identität der Palästinenser. Ein Gespräch mit Edward Said, in: Salman Rushdie, Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991, München 1992, 200–220, hier: 214. 18 Fernand Braudel, Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée, in: Claudia Honegger (Hrsg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main 1977, 47–85, hier: 59.

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Übereinstimmung Zentraleuropas, wie widersprüchlich dies auch klingen mag, bestand und besteht gerade in dieser seiner Heterogenität oder Pluralität. Ich habe bereits mehrmals auf diese Tatsache aufmerksam gemacht und dabei zwischen einer endogenen und einer exogenen Pluralität unterschieden.19 Unter endogener Pluralität verstehe ich die in der Region gleichsam als eine historische „longue durée“ oder als eine strukturell vorhandene Heterogenität: Verschiedene Völker, Kulturen, Sprachen, Religionen – bekanntlich sind in diesem Raum bis in die Gegenwart drei monotheistische Weltreligionen (Judentum, Christentum und Islam) in ihren unterschiedlichsten Ausformungen vorhanden – oder Bräuche können hier seit Jahrhunderten nachgewiesen werden. Solche Heterogenitäten waren jedoch keine statisch nebeneinander existierenden Entitäten, vielmehr befanden sie sich stets in einem dynamischen Austauschprozess. Grenzen bedeuteten nicht nur Trennungen, sondern ebenso Orte andauernder Aushandlungen und „Translationen“ von Differenzen, einer Annäherung, Rezeption und Verschmelzung von unterschiedlichen Zeichen, kulturellen Codes oder Symbolen, ein kreativer Prozess, der die Produktion eines (kulturellen) Mehrwerts beinhaltete. Grenzen sind also jenseits ihrer historisch-geografischen beziehungsweise topografischen Festlegungen ein kulturwissenschaftliches Paradigma, das sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Mobilität impliziert, widerspiegelt und zu verdeutlichen vermag. Daraus folgt im Konkreten nicht nur, dass Mobilität ein der Region inhärentes charakteristisches Merkmal ist, sondern dass spezifische sozial-kulturelle Konfigurationen hier – wie freilich auch ganz allgemein – keine homogenen oder eindeutigen Größen darstellen, sondern „fließend“, „entgrenzt“, das heißt ohne feste, lineare, trennende äußere Abgrenzungen, verlaufen und daher prinzipiell mehrdeutig sind. Aufgrund dieser „Grenzoffenheit“ orientieren sich hier gesellschaftliche Gruppen und Individuen zeitgleich in differenten, ähnlichen, miteinander verwo19 Vgl. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien – Köln – Weimar 2010, v. a. 66–87; Ders., Le Problème du pluralisme dans la région mitteleuropéenne, in: Miklós Molnár/André Reszler (Hrsg.), Le Génie de l’Autriche-Hongrie. État, société, culture, Paris 1989, 19–29; Ders., Pluralität. Beiträge zu einer Theorie der österreichischen Geschichte, in: Herwig Ebner/Horst Haselsteiner/Ingrid Wiesflecker-Friedhuber (Hrsg.), Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 1990, 19–28; Ders., Historische Reflexionen über das Problem einer österreichischen Identität, in: Herwig Wolfram/Walter Pohl (Hrsg.), Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991, 29–47; Ders., Critères d’une auto-reconnaissance sous la Monarchie des Habsbourg, in: Les Temps Modernes 48 (Paris 1992) 5, 154–170; Ders., Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropas, in: Catherine Bosshart-Pfluger/Joseph Jung/Franziska Metzger (Hrsg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten. Festschrift für Urs Altermatt, Frauenfeld – Stuttgart – Wien 2002, 25–49; Ders., Eine Region der Kontraste und kulturellen Vernetzungen: Das Paradigma Zentraleuropas, in: Hartmut Krones (Hrsg.), Multikulturelle internationale Konzepte in der Neuen Musik, Wien – Köln – Weimar 2008, 49–68.

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benen kulturellen Feldern. Mehrfachidentitäten sind in einer solchen Situation daher nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Unter exogener Pluralität verstehe ich die von außen einwirkenden „globalen“, vor allem die gesamteuropäischen Faktoren, die für die Region bestimmend geworden sind. Während kleinräumige, subregionale Mobilitäten die Region in Bewegung hielten – man denke in der vorindustriellen Zeit zum Beispiel an die saisonalen Feldarbeiter und Feldarbeiterinnen, die zur Zeit der Ernte von einer Gegend in die andere wanderten, um ihren Unterhalt zu verdienen; oder an Bevölkerungsverschiebungen auf ein und derselben Grundherrschaft, die subregional, geografisch weit ausgedehnt sein konnte; an den permanenten Austausch im familiären Bereich, im Güter- und Dienstleistungssektor oder auf der medialen Ebene von Übermittlungen –, wurde Zentraleuropa ebenso von zyklisch bedingten, die Region übergreifenden Mobilitäten erfasst: beispielsweise Zuwanderer und Zuwanderinnen aus dem Heiligen Römischen Reich im Mittelalter oder Neuansiedler oder Kolonisatoren in die von den Osmanen befreiten Gebiete in der Frühen Neuzeit. Ebenso wäre hier auch an dynamische kulturelle Transferprozesse zu erinnern, an spanische Einflüsse zur Zeit der Gegenreformation – eine der Voraussetzungen des die Region tief prägenden Barock –, an Italienisches, nicht zuletzt im Bereich der Architektur oder der Musik, das sich auf die „Wiener Klassik“ auswirkte, an Französisches zur Zeit der Aufklärung, aber auch an Osmanisches, dessen Spuren den Alltag mancher Völker bis heute nachhaltig beeinflusst haben (zum Beispiel Speisen, Trachten, Militärmusik oder architektonische Elemente). Ich will es bei diesen wenigen vagen Andeutungen belassen. Was mir wichtig erscheint, sind die Schlussfolgerungen, die sich einer solchen Situation verdanken. Deutlich wird, dass die zentraleuropäische Region von dichten Differenzen, zugleich aber auch von Interaktionen geprägt ist; sie sind synchron und – historisch gesehen – diachron nachweisbar. Begreift man diese Differenzen in einem übertragenen Sinne als Texte oder als Sprachen, ist „Mehrsprachigkeit“ das signifikante Kriterium der Region. Sprache reduziert sich freilich nicht nur auf den Akt des Sprechens, sie vermittelt und konstruiert Inhalte, „Texte“. Diese beruhen unter anderem auf Erinnerungs- und Gedächtnisinhalten. Diese sind hier, innerhalb einer regionalen „Vielsprachigkeit“, in unterschiedlicher Ausformung nachweisbar, folglich nicht eindeutig, sondern mehrdeutig. Gesellschaftliche Gruppen und Individuen bedienen sich dieser „Vielsprachigkeit“ und identifizieren sich folglich nicht nur mit einer Sprache, mit einem (kulturellen) Text, sondern mit mehreren Sprachen und Texten, mit der „früheren oder späteren Vereinigung verschiedener Zuflüsse“, wie Friedrich Umlauft gemeint hat.20 Auch wenn Sprachgemeinschaften und „nationelle“ Kulturen, wie diese im Österreich des 19. Jahrhundert bezeichnet wurden, zwar eindeutig wahrgenommen werden können, so sind ihre Abgrenzungen doch fließend, berühren einander permanent, 20 Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie, 2.

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in einer dynamischen Weise, an performativen Grenzbereichen, vereinigen sich – in einem „Dritten Raum“ – zu hybriden Gemengelagen, die ihrerseits kontinuierlich Rückwirkungen auf ihre Ursprünge haben können und dadurch auch diese in eine Grenzsituation verweisen. Diese komplexen Prozesse lassen sich auf verschiedenen Ebenen empirisch verdeutlichen. Lotman zum Beispiel verweist auf den permanenten Wandel der Mode. Für Zentraleuropa ist vor allem der Hinweis auf Speisen und Essgewohnheiten lohnend. Speisen können hier jeweils verschiedenen sozial-kulturellen Kontexten entlehnt sein und sich gleichsam als eine „Zirkulation sozialer Energie“ auf die Gesamtregion und über diese hinaus ausbreiten. Dabei erfahren sie freilich eine mehr oder weniger wahrnehmbare Veränderung. Es entsteht eine spezifische neue Speisenkonfiguration gegenüber der Herstellung in jenem kulturellen Kontext, aus dem sie rezipiert werden, sie erfahren eine „Vermischung“, eine Hybridisierung, indem sie sich zum Beispiel jeweils einem unterschiedlichen „Geschmack“ angleichen, der historisch beziehungsweise sozial und kulturell bedingt ist: Die Wiener Gulaschsuppe ist einem „ungarischen“ Kontext entlehnt, durch ihre spezifisch neue, kulturell bedingte Zubereitungsweise erfährt sie gegenüber ihrer ursprünglichen Herstellung aber eine merkbare Veränderung. Selbst die Herstellung ein und derselben Speise in einem gleichen kulturellen Kontext ist unterschiedlich und entspricht der jeweiligen „Kunst“ jener, die sie herstellen. Die Zubereitungen von Speisen sind folglich dynamische, performative Prozesse, sie verdanken sich der Verschränkung zahlreicher Elemente, das heißt Ingredienzien, und ihre End­produkte können insofern als hybrid bezeichnet werden, als die einzelnen Elemente in ein und derselben Speise zwar zu einer spezifischen Einheit verschmelzen, jedoch als Einzelelemente immer noch – geschmacklich – wahrgenommen werden können. So lassen sich sowohl an der Zubereitung von Speisen als auch am Endprodukt „Speise“ kulturelle Prozesse ablesen beziehungsweise verdeutlichen. In diesem Zusammenhang sei abermals an die lotmansche Semiosphäre erinnert: „Semiotische Systeme sind in ständiger Bewegung. Veränderung ist das Existenzgesetz der Semiosphäre. Sie verändert sich als ganze, und sie verändert fortwährend ihre innere Struktur.“21 Eine solche Feststellung erlaubt auch Rückschlüsse für die Bestimmung kollektiver und individueller Identitäten. Erstens sind diese nicht statisch, sondern bilden einen dynamischen Prozess; sie wandeln sich, verändern sich und definieren sich stets neu. Zweitens folgt daraus, dass die Ausrichtung von Individuen und Gruppen gleichzeitig auf mehrere Orientierungsangebote möglich ist, ja die Regel zu sein scheint, das heißt multipolare oder Mehrfachidentitäten das Leben bestimmen. Ich möchte diese kulturtheoretischen Hinweise noch von einem anderen Blickwinkel aus zu verdeutlichen versuchen. Zahlreiche historische Darstellungen thematisieren die Heterogenität Zentraleuropas immer wieder aus der Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts, das heißt aus 21 Lotman, Die Innenwelt, 203.

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einer Zeit, in der die rivalisierenden „Nationalitäten“ der Region bestrebt waren, nationale Autonomie im kulturellen und politischen Bereich zu erlangen. Solche Darstellungen schreiben somit das nationale Narrativ – bewusst oder unbewusst – im Prinzip nur fort. Demgegenüber könnte eine kulturwissenschaftliche Analyse sogenannte „nationelle“ Heterogenitäten und Pluralitäten aus einer anderen Perspektive, nämlich jener von Kultur und frei von ideologischen Vorgaben, zu interpretieren versuchen. 3. Kultur als Kommunikationsraum

Ich habe bereits verschiedentlich versucht anzudeuten, wie man sich einem solchen Unterfangen mithilfe eines offenen, weit gefassten Kulturbegriffs annähern könnte. Unter Kultur verstehe ich erstens nicht ein holistisches, integratives, essenzialistisches Konzept, das der Vorstellung von Nationalkultur zugrunde liegt. Freilich gibt es auch da verschiedene Interaktionen, Transfers von einer in eine andere (National)Kultur. Prinzipiell jedoch sind Kulturen in einem solchen nationalen Verständnis in sich geschlossen und, wie Herder meinte, Kugeln vergleichbar, die sich gegenseitig abstoßen.22 Kulturen in einem solchen Verständnis sind nicht von fragilen, entgrenzten Differenzen gekennzeichnet, die komplexe Verflechtungen implizieren, sondern naturgemäß von unüberbrückbaren Diversitäten, das heißt von notwendiger Kohärenz bestimmt. „Von kultureller Diversität zu sprechen“, meint Homi K. Bhabha, „beinhaltet die Anerkennung vorgegebener kultureller Inhalte und Bräuche“.23 Und Kohärenz ist, wie der Kulturanthropologe Clifford Geertz einmahnt, eben nicht „der ausschlaggebende Gültigkeitsbeweis für die Beschreibung einer Kultur“.24 Zweitens ist auch die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur, zwischen repräsentativer und Alltagskultur durchaus fragwürdig. Eine solche Unterscheidung beinhaltet insofern eine Voreingenommenheit, als sie sich einem ganz konkreten sozialen Kontext, in diesem Fall einer bürgerlichen Weltsicht des 19. Jahrhunderts, verdankt und daher in gewissem Sinne ideologisch begründet ist. Ich möchte vielmehr zunächst den Überlegungen des Ethnologen Bronisław Malinowski folgen, der unter Kultur den „umfassende[n] Zusammenhang menschlichen Verhaltens“ begreift, einen dynamischen Prozess von Verhaltensweisen also, über die andauernd, performativ verhandelt wird.25 Verhaltensweisen implizieren kontinuier22 Vgl. dazu Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Irmela Schneider/Christian W. Thomsen (Hrsg.), Hybridkultur. Medien, Netze, Künste, Köln 1997, 67–90, hier: 68. 23 Bhabha, Die Verortung, 52. 24 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main ³1994, 7–43, hier: 26. 25 Bronisław Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur [1941]. Übersetzt von Fritz Levi.

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liche Kommunikation unter Individuen innerhalb einer Gesellschaft. Kommuniziert wird, hält man sich die Vorgaben der Kultursemiotik vor Augen, mit einer Fülle von Zeichen und Symbolen, die auch die lotmansche Semiosphäre bilden. Der Literatur- und Kulturtheoretiker Stephen Greenblatt verbindet den kulturanthropologischen mit dem kultursemiotischen Aspekt und meint, Kultur sei einerseits „ein bestimmtes Netzwerk von Verhandlungen“. Andererseits gäbe es „in jeder Kultur […] einen allgemeinen Symbolhaushalt, bestehend aus den Myriaden von Zeichen, die Verlangen, Furcht und Aggression des Menschen erregen“.26 Somit umfasst Kultur das Ensemble von Elementen, das heißt von Zeichen, Symbolen und Codes, mittels derer Individuen oder Gruppen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren („verhandeln“). In einem übertragenen Sinne ist Kultur daher, in Abwandlung der lotmanschen Semiosphäre, ein dynamischer Kommunikationsraum, in dem durch die Setzung und Verwerfung von Elementen (Zeichen, Symbolen, Codes) kontinuierlich Lebenswelten gedeutet, konstituiert, konstruiert, reproduziert oder repräsentiert, das heißt performativ individuelle und kollektive Identitäten (neu) geschaffen und dadurch zugleich Machtverhältnisse ausgehandelt werden.27 Das hat zur Folge, dass es innerhalb eines solchen Prozesses stets Gewinner/Gewinnerinnen und Verlierer/Verliererinnen gibt, solche, die sich ein ökonomisches und symbolisches Kapital anzueignen wissen, und solche, die unterliegen. Kulturellen Prozessen sind daher Krisen und Konflikte inhärent. Kultur als dynamischer, durchlässiger, das heißt „entgrenzter“ Kommunikationsraum ist insofern identitätsstiftend, als er als Bedeutungssystem von Zeichen Individuen und sozialen Gruppen als Orientierung dient. Nicht zuletzt ist es die konkrete Sprache, die eine täglich wahrnehmbare Stütze für eine solche Orientierung ist. Aber auch konkrete Sprachen verändern sich und entwickeln sich weiter. Zum Beispiel verändert sich mit der Zeit die Sinndeutung von Wörtern, es finden Wortentlehnungen aus anderen Sprachen statt, früher gebräuchliche Wörter geraten außer Kraft und selbst die Syntax kann Entlehnungen aus benachbarten Sprachen übernehmen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche gelebte Varianten innerhalb einer gesprochenen Sprache – Dialekte oder Soziolekte –, ein deutlicher Hinweis auf die Ambiguität, die im Grunde genommen jede Sprache kennzeichnet. Dennoch gilt ganz allgemein: Die konkrete, verbale Sprache bleibt das sichtbare, primäre Merkmal konkreter kultureller Konfigurationen, das heißt die jeweils unterschiedlichen konkreten Sprachen werden zu deutlichen, wahrnehmbaren Kriterien für die Unterscheidung von kulturellen Kommunikationsräumen.

Mit einer Einleitung von Paul Reiswald, in: Ders., Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur, Frankfurt am Main ²2004, 45–172, hier: 47. 26 Stephen Greenblatt, Kultur, in: Moritz Baßler (Hrsg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main 1995, 48–59, hier: 55. 27 Vgl. dazu Csáky, Das Gedächtnis, 89–127, v. a. 101–109.

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„Wir sind inzwischen so sehr daran gewöhnt“, meint Eric J. Hobsbawm, „Nationen über ethnische und sprachliche Kriterien zu definieren, daß wir vergessen, daß es sich dabei im Grunde um eine Erfindung des ausgehenden 19. Jahrhunderts handelt.“28 Wie lässt sich nun gegenüber solchen gängigen Erklärungsmodellen, die auf der Basis von nationalen Diversitäten, das heißt nicht nur von sprachlichen, sondern vor allem von „erfundenen“ ethnisch-kulturellen Unterschieden, beruhen,29 mithilfe kulturwissenschaftlicher Parameter die Heterogenität beziehungsweise Pluralität erklären, die, wie ich ausgeführt habe, ein Kennzeichen der zentraleuropäischen Region ist? Das heißt: Welche Vorteile könnte also gegenüber einem solchen, dem nationalen Denken des 19. Jahrhunderts verhafteten Erklärungsmuster eine kulturtheoretische Herangehensweise haben? Überträgt man das zuvor diskutierte Kulturmodell auf die Region, ist Zentraleuropa in der Tat von einer dichten Vielzahl von einander konkurrenzierenden und einander überlappenden Kommunikationsräumen gekennzeichnet, in denen sich Individuen und gesellschaftliche Gruppen vorfinden. Die Grenzzonen, die zwischen den einzelnen kulturellen Kommunikationsräumen aufrechterhalten bleiben, bedeuten zum einen Trennungen, markieren jedoch gleichzeitig auch Verbindungen. Trennungen vor allem durch die jeweils unterschiedlichen verbalen Sprachen, Verbindungen durch das Ineinanderfließen, das bewegte Vermischen von Zeichen und Symbolen. Individuen und soziale Gruppen befinden sich hier in einem „Sowohl-als-auch“, in einem „Entweder-und-oder“, in dem einen sowie auch in einem anderen Kommunikationsraum, in einem Zwischenraum, einem hybriden „Dritten Raum“, mit der Möglichkeit und Notwendigkeit, sich in diesem offenen Grenzraum flexibel, abwechselnd oder gleichzeitig auf eine mehrfache Weise zu orientieren. Ein solcher Grenzraum als „Dritter Raum“ widerlegt die Vorstellung von der „Reinheit“ von Kulturen, eine Vorstellung, die eine Vorgabe jeder Nationalkultur und ihrer narrativen Strategien darstellt. „Die Einführung dieses Raumes“, meint Homi K. Bhabha, „stellt unsere Auffassung von der historischen Kultur als einer homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft, die aus der originären Vergangenheit ihre Authentizität bezieht, sehr zu Recht in Frage“.30 Hier sei abermals an die Charakterisierung der Monarchie durch Friedrich Umlauft erinnert, der auf die zwölf Sprachnationalitäten aufmerksam macht und zugleich von einer „eigenthümlich gemischte[n] Bevölkerung“ in „Grenzbezirken“ spricht.31 Grenzbezirke sind freilich nicht nur linear auf topografisch festlegbare Bereiche beschränkt. Grenzen, die trennen und zugleich verbinden, sind auch in der Mitte einer Gesellschaft, in unterschiedlichen sozi-

28 Eric J. Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Frankfurt – New York 1989, 186. 29 Werner Sollors, Introduction: The Invention of Ethnicity, in: Ders. (Hrsg.), The Invention of Ethnicity, New York – Oxford 1989, IX–XX. 30 Bhabha, Die Verortung, 56. 31 Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie, 2.

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alen Schichten, feststellbar. Die eigentümliche Mischung an solchen Grenzen, an denen Zeichen beziehungsweise Elemente verschiedener Kommunikationsräume ineinander übergehen, betrifft, wie ich bereits ausgeführt habe, freilich auch die dynamischen, performativen Interaktionen einer konkreten, verbalen Sprache. Wortanleihen aus verschiedenen Sprachen finden sich beispielsweise in sogenannten Makkaronisätzen, das heißt Sätzen, in denen Wörter unterschiedlicher Sprachen verwendet wurden und die auch in literarischen Produkten der Region bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts nachweisbar sind, unter anderem in Romanen und Erzählungen des ungarischen Schriftstellers Kálmán (Koloman) Mikszáth.32 Die deutschsprachige kroatische Schriftstellerin Wilma von Vukelich beschreibt anschaulich die Eigenart jener Umgangssprache, die um 1900 in der slawonischen Stadt Essek (Osijek) gesprochen wurde: Das Esseker Deutsch […] war überhaupt keine Sprache, sondern ein Sprachgemisch, das sich kaum wiedergeben lässt und nur von den dort Geborenen und Aufgewachsenen […] gesprochen und verstanden wurde. Es ist ein Idiom mit verschluckten Endsilben, Konsonanten und Vokalen, kein reiner Ton, sondern alles wie in einem Nebel. Kein Satz, in dem sich nicht ein paar fremdartige Elemente mischen, keine Spur von Syntax, Grammatik oder Orthographie. Das, was man dort Sprache nennt, ist ein Konglomerat aus dem vom Wiener Handwerker noch zuzeiten Maria Theresias und des seligen Kaiser Joseph importierten Hernalser Deutsch und dem württembergisch-hessischen Elementen des schwäbischen Bauern. Dazu das vom Musikfeldwebel der 78er hierher verpflanzte Böhmische, zahlreiche Jargonausdrücke, die dem Wortschatz des jüdischen Hausierers entstammten, das Rotwelsch der Landstreicher und Wanderburschen, die ihren Weg über Budapest, Prag und München nahmen, der serbische Einschlag der Unterstädter autochthonen Bevölkerung, das verdorbene Beamtendeutsch und -kroatisch der nahen Militärgrenze, der schlechte Stil der deutschen Lokalblätter und das falsche Bühnenpathos der zugewanderten Theatertruppen aus Olmütz und Pressburg.33

Die Kennzeichnung eines solchen Deutsch lässt sich analog auch auf andere urbane Milieus und deren Sprachen übertragen, zum Beispiel auf die polyglotte Ornamentik der Wiener Alltagssprache beziehungsweise auf den Wiener Dialekt, von dem die Sprachwissenschaftlerin Maria Hornung meint:

32 György Eisemann, Der Leser als Übersetzer. Deutschsprachige Elemente in Werken von Jókai und Mikszáth, in: Károly Csúri/Zoltán Fónagy/Volker Munz (Hrsg.), Kulturtransfer und kulturelle Identität. Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Wien 2008, 207–213; Csáky, Das Gedächtnis, 289–292. 33 Wilma von Vukelich, Spuren der Vergangenheit. Osijek um die Jahrhundertwende, hrsg. von Vlado Obad, München 1992, 95.

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So zahlreiche fremdsprachige Einflüsse sind im Dialekt keiner anderen europäischen Großstadt festzustellen wie hier. Bemerkenswert ist, wie Wien alle diese Beeinflussungen zu verarbeiten verstand und versteht, man denke nur an den ungeheuren Zustrom von Tschechen, der in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingesetzt hat und bis zum 1. Weltkrieg anhielt […]. Ein Blick ins Wiener Telefonbuch zeigt die Fülle fremder Namen: diese tschechischen, slowakischen, polnischen, ungarischen, kroatischen, italienischen und friaulischen Familiennamen haben aber nichts Fremdartiges, und deren Träger sprechen einer wie der andere unverfälscht den Wiener Dialekt.34

Solche sprachlichen Interferenzen und Interaktionen sind also keine willkürlichen Erfindungen, sondern sie spiegeln die soziale und kulturelle Realität des Alltags wider. Sie sind ein Nachweis dafür, dass an solchen „inneren Grenzen“ Personen und Gruppen sich in mehreren Kommunikationsräumen vorfinden und mit diesen identifizieren. Eine Erfahrung, die nicht allein auf eine Region beschränkt bleibt, die von einander konkurrenzierenden und einander überlappenden kulturellen Räumen bestimmt wird. Es ist eine Erfahrung, die in einer „postkolonialen“, globalisierten, das heißt einer zunehmend komplexeren Welt zur Regel werden kann. In einer Rechtfertigung seines Romans „Die Satanischen Verse“ meinte der Schriftsteller Salman Rushdie: Das Buch erfreut sich am Mischen der Rassen und fürchtet den Absolutismus des Reinen. Melange, Mischmasch, ein bißchen von diesem und ein bißchen von jenem, das ist es wodurch das Neue in die Welt tritt. […] Während der ganzen Menschheitsgeschichte haben die Apostel der Reinheit, jene, die behaupten, eine hundertprozentige Erklärung zu haben, Verheerendes unter den verwirrten Menschen angerichtet: Genau wie viele andere Millionen Menschen bin ich ein Bastardkind der Geschichte.35 4. Sprache und die Konstruktion von Identitäten

Während in Zentraleuropa, trotz zahlreicher Wechselwirkungen, das eigentlich differenzierende Merkmal zwischen den unterschiedlichen kulturellen Kommunikationsräumen die Grenzen der verbalen Sprachen blieben, die sich in Konkurrenz zueinander befanden, war doch auch eine wesentliche Funktion von solchen Grenzen, dass in diesen vor allem Zeichen, Symbole und Codes auch der nonverbalen Kommunikation der verschiedenen Räume einen dynamischen Austausch- und Hybridisierungsprozess eingehen konnten. Dies hatte zur 34 Maria Hornung, Sprache, in: Peter Csendes, Ferdinand Opll, Friederike Goldmann (Hrsg.), Die Stadt Wien (Österreichisches Städtebuch 7), Wien 1999, 85–95, hier: 85. 35 Salman Rushdie, In gutem Glauben, in: Ders., Heimatländer der Phantasie, 456–481, hier: 457– 458.

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Folge, dass trotz der verbalen sprachlichen Differenzen eine allen verständliche Sprache, eine erklärende „Metasprache“, entstand, die zum Beispiel in verbindlichen alltäglichen Verhaltensweisen, in der Kulinarik, in der musikalischen (Alltags-)Sprache, in der Architektur oder in der formalen, räumlichen Gestaltung der Städte sichtbar wurde, die die realen Differenzen überbrückte, differente Zeichen umcodierte und zu deuten vermochte. Eine solche Vermischung oder Mehrfachorientierung betraf natürlich auch die wechselweisen sozialen, familiären Verhältnisse wie zum Beispiel Mischehen, sprachlich-kulturelle Integrationen oder Assimilationen, die insgesamt die Zielvorstellung der nationalen Ideologie nach klaren ethnisch-kulturellen Unterschieden ad absurdum führten. Sichtbare Relikte solcher Verflechtungen waren zahlreiche Familiennamen, die auf einen anderen als den der nationalen Intention genehmen Ursprung verweisen konnten. So wurde zum Beispiel im vielsprachigen Königreich Ungarn, in dem im 19. Jahrhundert ungefähr die Hälfte der Bewohner und Bewohnerinnen einer nichtungarischen Sprachgemeinschaft angehörte, die Magyarisierung solcher Familiennamen – um nicht als „Fremde“ aufzufallen – zu einer gängigen Praxis. Durch eine sprachliche Veränderung von Namen sollte jede Spur auf eine familiäre Identität, welche auf die Zugehörigkeit zu einem nicht magyarischsprachigen Kommunikationsraum hinweisen konnte, ausgelöscht werden.36 Dies kam einer inneren Kolonisierung gleich, die freilich nicht nur die Kolonisierten betraf, sondern auch die Majorität der Kolonisatoren und Kolonisatorinnen zu verändern drohte. Das heißt Differenzen wurden durch solche Prozesse von kolonisatorischen Assimilationen nicht beseitigt, sondern nur auf einer anderen Ebene sichtbar. Der Schriftsteller und Filmtheoretiker Béla Balázs hat das zu spüren bekommen, wie einer Eintragung in seinem Tagebuch zu entnehmen ist: Ich habe einen deutschen Namen [Herbert Bauer], ethnisch bin ich ein Jude, auch meine Schriften werden niemals die charakteristischen Merkmale des ungarischen Volkes widerspiegeln. Ich kann nicht damit einen Kult betreiben, was ich nicht besitze. Was wird aus mir werden?

Und ein wenig später, im Rückblick auf das Jahr 1912, in welchem die Magyarisierung seines Familiennamens und die Konversion zum Katholizismus erfolgt war, meint Balázs: Ich wurde getauft, ich habe meinen Namen magyarisiert und habe geheiratet. Ich habe also alle Akzidenzien meines Lebens verändert. Ich habe eine neue Haut über mich gestülpt. Jetzt bin ich

36 Viktor Karády/István Kozma, Név és nemzet. Családnév-változtatás, névpolitika és nemzetiségi erőviszonyok Magyarországon a feudalizmustól a kommunizmusig (Name und Nation. Familiennamenwechsel, Namenspolitik und das Kräfteverhältnis der Nationalitäten in Ungarn vom Feudalismus bis zum Kommunismus), Budapest 2002.

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römisch-katholisch, und offiziell nennt man mich Béla Balázs. […] Ich habe jedoch von meiner Taufe gar keinen Nutzen. Nur Nachteile. Die Juden sind böse, in den Augen der ,Christen‘ bleibe ich immer noch ein Jude. Mein Bruder hat meinetwegen ein jüdisches Stipendium verloren.37

Angesichts der Tatsache, dass im nonverbalen Bereich gegenseitige Rezeptionen, Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen von Zeichen und Symbolen zu einer allgemein verständlichen, hybriden Sprache verschmolzen, die freilich durch gegenläufige nationale Diskurse vereinnahmt, beziehungsweise instrumentalisiert werden konnte – das Doppelkreuz im slowakischen Staatswappen ist ein Symbol für eine slowakische, im ungarischen Wappen für die magyarische Nation –, blieb als differenzierendes Merkmal in erster Linie die jeweils konkrete beziehungsweise geschriebene Sprache, auf die man sich berufen konnte. „Ein sprachlicher Nationalismus“, bemerkt daher Hobsbawm, „war die Schöpfung von Menschen, die schrieben und lasen, aber nicht von Leuten, die sprachen“.38 Sprache wurde folglich für die Markierung von nationalen „Diversitäten“ eingesetzt und instrumentalisiert. Es ist daher keineswegs verwunderlich, wenn seit dem 19. Jahrhundert nationale Auseinandersetzungen, deren Ziel die Konstitution einer eigenständigen nationalen Identität war, stets in Sprachenstreitigkeiten mündeten, ging es doch um die Dominanz der einen über eine andere Sprache in einem jeweils definierten nationalen Territorium. Die These von der Definition einer Nation aufgrund der Sprache oder aufgrund der verbalen und vor allem schriftlichen Kommunikation war in der Tat bereits im 19. Jahrhundert verbreitet. Sie war auch in der zentraleuropäischen Region, in der die kulturellen Kommunikationsräume in den dichten „Grenzbereichen“, vor allem auf der nonverbalen Eben, miteinander verschmolzen und zudem eine unverfälschte ethnische Abstammung mehr als fragwürdig sein musste, eine logischere Konsequenz. Sie konnte auch von Seiten der Sprachwissenschaft objektiver, das heißt überzeugender argumentiert werden, als es der Rekurs auf die ethnische Komponente oder als es die von Vertretern und Vertreterinnen eines nationalen Liberalismus verfochtene Meinung der freien Willenskundgebung eines Individuums für eine Nation vermochte. In Ungarn hat der Linguist und Ethnograf Paul (Pál) Hunfalvy (ursprünglich Hunsdorfer) die Bedeutung der Sprache für die Definition einer Nation – eines Volkes – hervorgehoben: Bei meiner Auffassung von Volk und Nation haben die anthropologischen oder vielmehr zoologischen Beschreibungen nur geringen Wert. Nicht die Formen des Schädels, noch das Wachstum der Haare oder die Farbe der Haut machen den Menschen oder ein Volk; sondern allein dessen Sprache und soziales Wesen.39

37 Béla Balázs, Napló (Tagebuch), Bd. 1, 1903–1914, Budapest 1983, 541, 601–602 (Übersetzung M. C.). 38 Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter, 187. 39 Paul Hunfalvy, Ethnographie von Ungarn. Mit Zustimmung des Verfassers ins Deutsche übertragen von Prof. I. H. Schwicker, Budapest 1877, XII.

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Etwas später präzisiert Hunfalvy dann: Allein ein Volk vermehrt sich nicht blos auf dem natürlichen Wege der Fortpflanzung und schwindet nicht blos durch das Absterben seiner Glieder; sondern es vergrössert sich auch durch äusserlichen Anschluss oder nimmt ab durch Lostrennen. Die Sprache wird nicht mit dem Menschen geboren; er lernt diese erst später von seinen Ältern, von seiner Umgebung; ja mit der Veränderung der früheren Genossen kann er von seinen neuen Gefährten auch eine neue Sprache erlernen, dadurch sich von seinem Muttervolke trennen und ein neues Volkstum annehmen.40

Die Meinung, dass die Sprache das primäre und ausschlaggebende Kriterium für Nation sei, machen sich viele historische Abhandlungen des 19. Jahrhunderts zu eigen. In der bis ins 20. Jahrhundert einflussreichen, zugleich aber auch umstrittenen Monografie „Das alte Ungarn“ von Béla Grünwald wird vor allem dem Adel und den Intellektuellen, die sich seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr der ungarischen, sondern der lateinischen und der deutschen Sprache oder anderer Volkssprachen bedienten, die Zugehörigkeit zur (ungarischen, das heißt magyarischen) Nation abgesprochen, sie wären „entnationalisiert“ gewesen. Die Magnaten, die großteils der Nationalsprache nicht mehr mächtig waren, hätten „tatsächlich aufgehört, Mitglieder der Nation zu sein […]. Das charakteristische Merkmal des ungarischen Magnaten war [daher] vor allem, dass er kein Ungar [das heißt Magyar] war“. Denn die „Sprache ist eine Schöpfung des nationalen Genius; die Literatur ist das Ergebnis der geistigen Arbeit der Nation“.41 Ähnliches gelte auch für den mittleren Adel, der sich der nichtungarischsprachigen Umgebung anglich. Was Hunfalvy nicht erwähnt, für unsere Überlegungen jedoch wichtig ist, ist erstens die Tatsache, dass, wie eingangs bereits angedeutet, Individuen und soziale Gruppen sich mehreren Sprachen zugehörig fühlen können, und zweitens, dass die Zugehörigkeit zu einer (großen) Sprachgemeinschaft, wie zum Beispiel zum Englischen oder Spanischen, keineswegs bedeutet, ausschließlich der englischen oder spanischen Nation (Volk) anzugehören. In der Tat war Polyglossie in einer Region, in der mehrere verbale Kommunikationsräume in einer engen Dichte und sich überschneidend vorhanden waren, keine Ausnahme. Das heißt die Kenntnis nicht nur einer Sprache war konsequenterweise die Identifikation mit nicht nur einem kulturellen Kommunikationsraum, sondern hatte eine kulturelle Mehrfachidentität zur Folge.

40 Hunfalvy, Ethnographie, 34. Beide Zitate nach Zoltán Tóth, Liberale Auffassung der Ethnizität in der „Ethnographie von Ungarn“ von Pál Hunfalvy, in: Kiss/Kiss/Stagl, Nation und Nationalismus, 57–64, hier: 58, 59. 41 Béla Grünwald, A régi Magyarország 1711–1825 (Das alte Ungarn 1711–1825), Budapest ³1910 (1888), 93, 445, vgl. v. a. 444–512 (Übersetzung M. Cs.).

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Hunfalvys Argumentation bewegt sich freilich im Kontext des allgemeinen nationalen Diskurses des 19. Jahrhunderts. Sein Problem ist folglich ebenfalls die zu seiner Zeit aktuelle Frage nach den Kriterien der Zugehörigkeit zu einer Nation, die er mit dem sprachlichen Umgang und dem klaren Bekenntnis zu einer konkreten Sprache zu beantworten versucht. In der Realität war die Sprache freilich keineswegs nur der Hinweis auf die Identifikation mit einer nationalen, vielmehr auf die Identifikation mit einer kulturellen Zugehörigkeit. Und diese war in einem komplexen System von vielfältigen sprachlich-kulturellen Kommunikationsräumen durchaus multipolar und vielschichtig und daher, wenn man will, überaus ambivalent. Wenn freilich aus der Perspektive der nationalen Ideologie das Bekenntnis zu nur einer nationalen Sprachgemeinschaft gefordert wurde und man sich so nur für eine nationale Identität entscheiden konnte, musste dies angesichts der konkreten Erfahrungen in einem mehrsprachigen Kontext mitunter zu einer krisenhaften Verunsicherung führen. Die Vorgabe eines solchen nationalen Postulats war mit der gelebten Wirklichkeit durchaus nicht konform. Der Oxforder Historiker Robert J. W. Evans hat mehrfach auf die Bedeutung der Sprachen und auf die Lösung der Sprachenfrage innerhalb der ehemaligen Habsburgermonarchie hingewiesen. Er fordert, statt die nationale Frage in den Vordergrund der historischen Untersuchungen zu stellen, der „Sozialgeschichte der Sprachen“ im Kontext Zentraleuropas größere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn „we may ask, whether the monarchy was destroyed not so much by national conflicts as by linguistic diversity in itself“. Ganz konkret sei zum Beispiel das ungarische Nationalitätengesetz aus dem Jahre 1868 (Gesetzesartikel 44) im Grunde genommen ein Gesetz, das sich ausschließlich auf die Sprachenfrage konzentrierte: „The nationality question is here explicitly reduced to a matter of language, even as Austrian governments sought to hold the two apart.“42 Es sind dies Erkenntnisse eines Historikers, die nicht nur die konkrete Sprache ganz allgemein, wie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert üblich, für die Definition von Nation einer kritischen Analyse unterziehen, sondern im Hinblick auf die konkrete Situation in Zentraleuropa sprachliche Differenz jenseits ihrer ausschließlichen Inanspruchnahme für Nation betrachten. Damit bestätigen und zugleich ergänzen sie meine Sicht von der dominanten Bedeutung der einander konkurrenzierenden 42 Robert J. W. Evans, Language and State Building: The Case of the Habsburg Monarchy, in: Austrian History Yearbook XXV (2004), 1–24, hier: 2, 17. Vgl. auch Ders., Language and Society in the Nineteenth Century: Some Central-European Comparisons, in: Geraint H. Jenkins (Hrsg.), Language and Community in the Nineteenth Century, Cardiff 1998, 397–424; Ders., The Language of History and the History of Language. An Inaugural Lecture delivered before the University of Oxford on 11 May 1998, Oxford 1998; Ders., The Politics of Language and the Languages of Politics: Latin and Vernaculars in Eighteenth-Century Hungary, in: Hamish Scott/Brendan Simms (Hrsg.), Cultures of Power in Europe during the Long Eighteenth Century, Cambridge 2007, 200–224.

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und gleichzeitig überlappenden kulturellen Kommunikationsräume, die folglich Mehrfachzugehörigkeiten, Mehrfachidentitäten mit einschließen. Durch die ökonomischen und sozialen Transformationen, die eine Folge der Industrialisierung, Technisierung und Modernisierung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert waren, bekam die Frage nach den sprachlich-kulturellen und nationalen Zugehörigkeiten von Individuen und sozialen Gruppen eine neue qualitative Dimension. Ich möchte in diesem Zusammenhang vor allem auf zwei Aspekte hinweisen: einerseits auf die zunehmenden, durch die Modernisierung ausgelösten Migrationen und innergesellschaftlichen Mobilitäten, die zu einer Veränderung beziehungsweise Verschiebung der Bevölkerung der zentraleuropäischen Region beitrugen; und andererseits auf die Verunsicherung von Identitäten und die Fragmentierung des Bewusstseins, das sich nicht zuletzt der inneren, vertikalen Differenziertheit der Gesellschaft verdankte und zu einem signifikanten Kriterium der europäischen Moderne um 1900 werden sollte. 5. „Vielsprachiges“ Wien

Migrationen wurden vor allem in den urbanen Milieus der Region, nicht zuletzt auch in Wien, sichtbar. „Die Hauptstadt“, so charakterisiert Robert Musil das Wien der Jahrhundertwende, „war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind“.43 Wie setzte sich diese Großstadt bevölkerungsmäßig zusammen?44 Die Haupt- und Residenzstadt Wien zählte in ihrer jeweiligen Begrenzung im Jahre 1869 607.515 Einwohner und Einwohnerinnen,45 zwanzig Jahre später (1890) ungefähr 1,4 Millionen, 1900 bereits über 1,7 Millionen und im Jahre 1910 über zwei Millionen. Wien war nach London, Paris und Berlin im Jahre 1900 in der Tat die viertgrößte Stadt Europas. Die Verdreifachung der Bevölkerung innerhalb einer Generation verdankte sich freilich nicht nur den Eingemeindungen von Vororten, vielmehr war die Binnenmigration, die Zuwanderung aus der sprachlich heterogenen Monarchie (Region), maßgeblich daran beteiligt, was zur Folge hatte, dass im Jahre 1880 von den Einwohnern und Einwohnerinnen Wiens nur 38 Prozent und zwanzig Jahre später (1900) nur 46 Prozent hier geboren waren. Diese Situation spiegelt sich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei der Erhebung der Bevölkerung des ersten Bezirkes wider, in dem 1856 nur 47,4 Prozent „Einheimische“ lebten.46 Betrug der Anteil an Zugewanderten, offensichtlich nichtfranzösischsprachigen „Fremden“ in

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Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 33. Vgl. dazu insgesamt Csáky, Das Gedächtnis, 129–271. Umlauft, Die Oesterreichisch-Ungarische Monarchie, 578. Elisabeth Lichtenberger, Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City, Wien 1977, 167–173.

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Paris im Jahre 1900 nur 6,3 Prozent,47 machte dieser also in Wien mehr als 50 Prozent aus, von denen ein Großteil ursprünglich nichtdeutschsprachig war. Es genügte freilich nicht, in Wien geboren zu sein, vielmehr wurden auch jene, die hier kein offizielles Heimatrecht besaßen, zu den „Fremden“ gezählt. Das Heimatrecht, mit dem „das Recht des ungestörten Aufenthaltes an einem Ort und die Versorgung im Alter und bei Erwerbslosigkeit verbunden war“, wurde gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer restriktiver gehandhabt, sodass im Jahre 1900 in Wien, wie bereits erwähnt, zwar 46,4 Prozent hier geboren waren, von diesen allerdings nur 38 Prozent das Heimatrecht besaßen, also 62 Prozent der Wiener Bevölkerung als „Fremde“ gelten konnten.48 Unter den Immigranten und Immigrantinnen waren 411.037 Zuwanderer (der ersten Generation) aus Böhmen und Mähren (24,5 Prozent der Bevölkerung). Folgt man den Berechnungen von Michael John und Albert Lichtblau, stammten von diesen 44,1 Prozent aus rein tschechischsprachigen, 28,6 Prozent aus überwiegend tschechischsprachigen und nur 11,4 Prozent aus deutschsprachigen Gebieten Böhmens und Mährens. Es war vor allem die arbeitslose Landbevölkerung, die in die Städte drängte, in der Hoffnung, hier eine Beschäftigung zu finden. Orientiert man sich am Prinzip des Heimatrechts, waren im Jahre 1900 sogar 518.333 Bewohner und Bewohnerinnen Wiens (30,9 Prozent) nicht in Wien, sondern in Böhmen oder Mähren heimatberechtigt. Zehn Jahre später, im Jahre 1910, waren 467.158 (23 Prozent) der Wiener Bevölkerung in Böhmen und Mähren geboren, von denen freilich nur 98.461 Tschechisch als ihre Umgangssprache angaben; offensichtlich weil sie fürchteten, wegen ihres „fremden“ Sprachgebrauchs sozialen und ökonomischen Repressionen ausgesetzt zu werden. Wien um 1900 die größte tschechische Stadt wie Triest die größte slowenische Stadt? Von den Bewohnern und Bewohnerinnen Wiens besaßen im Jahre 1900 140.280 Personen in den Ländern der ungarischen Krone das Heimatrecht (8,4 Prozent); unter ihnen befanden sich freilich nicht nur Ungarn, sondern ebenso Deutschsprachige und vor allem zahlreiche Slowaken und Slowakinnen aus dem damaligen Oberungarn, der heutigen Slowakei. Tatsächlich waren um 1900 „42.896 in Wien anwesende Personen in mehrheitlich slowakischsprachigen Bezirken der Ungarischen Länder heimatberechtigt, 1910 waren es 46.216 Personen“.49 54.958 stammten aus mehrheitlich ungarischsprachigen Gebieten, 1910 waren es bereits 65.290.50 47 Philippe Arriès, Georges Duby (Hrsg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hrsg. von Michelle Perrot, Frankfurt am Main 1992, 17. 48 Sylvia Hahn, Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatrecht im 19. Jahrhundert, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, Neue Folge 10 (2005), 23–44, hier: 23. 49 Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990, 18, 50. 50 Ebd., 49–50.

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Weitere 100.000 Zuwanderer und Zuwanderinnen, nicht zuletzt zahlreiche jüdische Immigranten, kamen aus Galizien, der Bukowina und anderen Teilen der Monarchie und im Jahre 1900 250.857 aus den zuweilen mehrsprachigen ehemaligen Erblanden (15 Prozent), die nur zum Teil den heutigen, nun sprachlich weitgehend homogenisierten österreichischen Bundesländern entsprachen.51 Dies hatte, wie bereits angedeutet, insgesamt zur Folge, dass um 1900 mehr als die Hälfte der städtischen Bevölkerung Wiens aus Zugewanderten bestand.52 Neben den tschechischsprachigen Bevölkerungsgruppen war die jüdische die zweitstärkste Bevölkerungsgemeinschaft, die das heterogene Wien aufzuweisen hatte. Der Anteil der Wiener Bevölkerung mit jüdischem Glaubensbekenntnis – die Assimilierten, die in der Öffentlichkeit zumeist dennoch als Juden wahrgenommen wurden, was unter anderem Béla Balázs’ zitierte Tagebucheintragung belegt, können hier nicht miterfasst werden, weil sie zum Teil statistisch nur schwer nachweisbar sind – betrug 1880 72.588 Personen (10,1 Prozent der Bevölkerung), die erst nach zehn Jahren eingemeindeten Vororte (11.–19. Bezirk) hinzugezählt 5,3 Prozent, 1890 118.495 Personen (8,7 Prozent), zehn Jahre später, zur Zeit der Jahrhundertwende, 146.926 (8,8 Prozent).53 Zum Vergleich betrug der Anteil der jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen im Jahre 1900 in Paris nur 50.000 Personen54 und von den 150.726 Einwohnern und Einwohnerinnen Zürichs waren sogar nur 2.713 Juden,55 was in beiden Fällen jeweils ungefähr 2 Prozent der städtischen Gesamtbevölkerung ausmachte. Der Anteil der in sich heterogenen jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen Wiens erhöhte sich dann 1910 auf 175.318 (8,6 Prozent), um 1923 mit 201.513 (10,8 Prozent) ihren Höchststand zu erreichen. In der Tat war Wien zur Zeit der Jahrhundertwende nach Warschau und Budapest die drittgrößte jüdische Großstadt Zentraleuropas. In Warschau betrug der jüdische Anteil mit 219.000 Personen 32 Prozent, in Budapest 23,6 Prozent, in Krakau rund 27 Prozent und in Czernowitz, der kulturell bedeutenden Hauptstadt der Bukowina, war der Anteil der jüdischen Einwohner und Einwohnerinnen im Jahr 1910 32,8 Prozent, im 1913 bereits 47,4 Prozent der Gesamtbevölkerung: „Czernowitz hatte nach Wien und Lemberg die drittgrößte jüdische Gemeinde im Habsburgerreich.“56 In Prag hingegen nahmen sowohl das Bekenntnis 51 Ebd., 14–18. 52 Ebd., 14. 53 Ebd., 36. Vgl. dazu die Daten bei Marsha L. Rozenblit, die für 1880 und 1890 die Vororte zu Recht nicht mitzählt: Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna 1867–1914, Albany 1983, 17; ähnlich früher Hans Tietze, Die Juden Wiens, Wien 2007 (1933), 196. 54 Vgl. Paris, in: Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 15, Leipzig – Wien 61906, 438–449, hier: 442. 55 Vgl. Zürich, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 20, Leipzig – Wien 61909, 1022–1025, hier: 1022. 56 Mariana Hausleitner, Eine wechselvolle Geschichte. Die Bukowina und die Stadt Czernowitz vom

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zur deutschen Sprache als auch der jüdische Bevölkerungsanteil kontinuierlich ab. Kleinere Städte im Osten der zentraleuropäischen Region wiesen um 1900 sogar einen jüdischen Bevölkerungsanteil von über 50 Prozent auf, wie zum Beispiel Brody (72,1 Prozent), Sanok (52,7 Prozent) oder Kolomea/Kolomyja (50,8 Prozent).57 Durch Migrationen und Mobilitäten, die sich der Modernisierung verdankten, bündelte sich innerhalb kurzer Zeit die Differenz der Region, ihre Plurikulturalität und Vielsprachigkeit, vor allem in größeren urbanen Räumen. Die einander konkurrenzierenden und überlappenden Kommunikationsräume des Makrokosmos Zentraleuropa wurden in den Mikrokosmen der Städte sichtbar – man denke unter anderem an die Kleidung, durch die die meisten Zuwanderer und Zuwanderinnen der ersten Generation auffielen –, durch unterschiedliche Sprachen vernehmbar oder aufgrund verschiedener religiöser Bräuche erfahrbar, das heißt insgesamt tagtäglich deutlich wahrnehmbar. Während Industrialisierung und Technisierung im Allgemeinen auch eine Vereinheitlichung und Verbesserung der Lebenswelt zur Folge hatte, stellten die großen Bevölkerungsbewegungen eine solche einheitliche Lebenswelt wieder infrage, weil sie in den Städten zu einer vermehrten Differenziertheit, zur Hybridisierung des urbanen sozial-kulturellen Kontextes wesentlich beitrugen. Damit erlangte die heterogene Verfasstheit der Region in den urbanen Milieus eine neue qualitative Dimension. Oder anders gesprochen: Die „Grenzen“, von denen diese „Semiosphäre“ durchzogen war, verlagerten sich von den Peripherien, den Provinzen der Region, in die metropolitanen Zentren. Betroffen davon waren zunächst die in den Städten ursprünglich Ansässigen, die sich einerseits von den Zuwanderern und Zuwanderinnen in ihrer gewohnten Lebenswelt, was zum Beispiel die Sprache oder die täglichen Lebensgewohnheiten betraf, zurückgedrängt oder in ihren früher als sicher angesehenen Arbeitsplätzen bedroht fühlten. Dies hatte zur Folge, dass die Masse der zugewanderten Fremden als Eindringlinge wahrgenommen wurden und man sich gegen sie durch eine hypertrophe, diskursive Konstruktion von Fremd- und Feindbildern zur Wehr setzte. „Der von außen Zugewanderte“, meint Hobsbawm, „verkörperte zunehmend die Zerstörung des Althergebrachten […]. So hatte der virulente politische Antisemitismus, der sich seit den 80er-Jahren in der westlichen Welt ausbreitete, wenig zu tun mit

18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Helmut Braun (Hrsg.), Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole, Berlin ²2006, 31–81, hier: 50; Lajos Pándi (Hrsg.), Köztes Európa 1763–1993 (Zwischeneuropa 1763–1993), Budapest 1997, 76–83. 57 Paul Robert Magocsi, Historical Atlas of Central Europe. Revised and Expanded Edition, Seattle ²2002, 109. Zahlreiche statistische Erhebungen finden sich auch in Wolfdieter Bihl, Die Juden, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Völker des Reiches. Die Habsburgermonarchie, Bd. III, Wien 1980, 880–948. Hier auch zum Anteil von Juden in Kleinstädten: 885–886. Zu Brody vgl. Börries Kuzmany, Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jahrhundert, Wien – Köln – Weimar 2011, 125–160.

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der tatsächlichen Anzahl der Juden, gegen die er sich richtete“.58 Der Hass auf die Tschechen und Juden in Wien um 1900, der, wie zum Beispiel auch zahlreiche Wienerlieder belegen, vor allem die Mittel- und Unterschichten erfasste – geschürt durch eine immer deutlichere deutschnationale städtische Politik diesen Fremden gegenüber –, wurde zum Synonym für den Hass auf Fremde insgesamt. In einer solchen Situation konnte auch die nationale (Sprach-)Ideologie erstarken: Durch Verordnungen wurde zum Beispiel der tschechische Schulunterricht eingeschränkt beziehungsweise nicht anerkannt, denn Sprache war ja eine Grundvoraussetzung für Nationalität. In dem von Bürgermeister Karl Lueger persönlich abgeänderten Bürgereid, der in der Regel nach einem zehnjährigen Aufenthalt in der Stadt abgelegt wurde, war eingefügt worden, den „deutschen Charakter“ der Stadt zu verteidigen. Nach abgelegtem Eid wurden daher Wiener Tschechen und Tschechinnen ebenso wie Angehörige anderer sprachlicher oder kultureller Zugehörigkeiten, wie zum Beispiel die aus dem Osten zugewanderten Juden, offiziell als Deutsche registriert.59 Eric J. Hobsbawm meint, dass die Zunahme der Nationalismen im ausgehenden 19. Jahrhundert ganz wesentlich mit diesen massenhaften Migrationen in die Städte zu tun hatte. Die Agitatoren des Nationalismus waren zumeist Angehörige der städtischen Mittelschichten, die sich gegen die „Überfremdung“ zur Wehr setzten: „In der Tat wurde der Vormarsch des Nationalismus“, meint Hobsbawm, „in unserer Periode weitgehend von diesen gesellschaftlichen Mittelschichten getragen“.60 Von einer Verunsicherung waren nicht nur die „Einheimischen“, sondern auch die Zugewanderten betroffen, befanden sie sich doch in der Stadt in einer völlig neuen, ungewohnten Lebenswelt. Unter anderem hat Ernst H. Gombrich im Zusammenhang mit den jüdischen Immigranten und Immigrantinnen auf diese Tatsache hingewiesen. Wenn nun zahlreiche, zunächst zugewanderte oder zum Teil assimilierte Angehörige des Judentums plötzlich in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen, die ihnen bislang verwehrt geblieben waren, und auch durch Nobilitierungen selbst in alteingesessenen Führungsschichten aufschienen, war dies die Ursache einerseits für eine gewisse Orientierungslosigkeit der Juden selbst und andererseits für den zunehmenden Antisemitismus jener, die sich bedroht fühlten. Diese „Eindringlinge“ empfanden sich als Fremde und wurden zugleich auch als „Fremde“ gebrandmarkt, wodurch man sich ihrer zunehmend zu entledigen versuchte. Denn zum Unterschied von einer hierarchischen Gesellschaft, wo jeder wußte, wo er hingehörte und sich damit begnügte, dem Vater im Beruf zu folgen, gab es keine derartigen Einschränkungen im industriellen und kommerziellen Bereich. Im Gegenteil, wenn sich die Neuankömmlinge aus der Armut des Stetls emporgearbeitet hatten, hofften und erwarteten sie, daß es ihre Kinder noch

58 Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter, 200. 59 Csáky, Das Gedächtnis, 140–141. 60 Hobsbawm, Das imperiale Zeitalter, 197.

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weiter als sie bringen würden. Mit anderen Worten, sie wußten wirklich nicht, wo sie hingehörten und wurden daher von den anderen als opportunistische Emporkömmlinge verschrien, auch wenn sie sich bemühten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.61

Eine ähnliche Situation beschreibt Homi K. Bhabha aus einer postkolonialen Perspektive. Diese Sicht hat auch für Wien um 1900 insofern eine Bedeutung, als die erzwungene oder freiwillige Integration der „Minorität“ der Zugewanderten in die „Majorität“ der Einheimischen als ein kolonialer Akt begriffen werden kann, der sowohl die „Kolonisierten“ als auch die „Kolonisatoren“ maßgeblich veränderte. Unter „Mimikry“ versteht Bhabha jenen vergeblichen Versuch der Assimilation, der in einer perfekten Nachahmung einer „fremden“ Kultur besteht, ein Sich-Angleichen, das freilich unvermittelt auch die dominante Kultur zu unterminieren und zu verändern vermag, insofern nämlich, als es dieser Differenzen „Grenzen“ einschreibt. Eine solche Mimikry ist „gleich der Tarnung keine harmonisierte Form der Unterdrückung von Differenz, sondern eine Form von Ähnlichkeit, die sich von der Präsenz dadurch unterscheidet […], daß sie sie zum Teil, nämlich metonymisch, zur Schau stellt“.62 All dies weist darauf hin, dass die durch die Migrationen veränderte Situation der Städte, nicht zuletzt Wiens, auf ihre Bewohner und Bewohnerinnen, auf die Einheimischen wie die Zugewanderten, destabilisierend wirkte und Anlass für tief greifende sozial-kulturelle und politische Missverständnisse, das heißt für Krisen und Konflikte, sein konnte. Gewohnte Ordnungsmuster waren somit brüchig geworden und hatten ihre Funktion verloren, identitätsstabilisierend zu wirken. Nimmt man andererseits in Betracht, dass auch ein Großteil der Wiener Intellektuellen, Künstler und Künstlerinnen oder Kulturschaffenden der Jahrzehnte um 1900 Zugewanderte der ersten oder zweiten Generation waren, muss man sich vor Augen halten, dass sich auch das kreative Potenzial in einer gewissen Weise dieser Tatsache verdankte. Denn sie waren es gewohnt, „Grenzgänger“ zu sein, zwei oder mehrere „mémoires culturelles“ in sich zu vereinen und womöglich widersprüchliche Inhalte zu einem unverhofft Neuen zu verschränken. Robert Ezra Park hatte bereits in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auf dieses Phänomen hingewiesen, indem er dem in die Stadt Zugewanderten, vor allem dem jüdischen Immigranten, der ein Grenzgänger, ein „marginal man“, ein „cultural hybrid, a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples“ bleiben musste, ein solches kreatives Potenzial zuschrieb: „He was a man on the margin of two cultures and two societies, which never completely interpenetrated and fused.“63 61 Ernst H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal. Eine Diskussionsbemerkung. Mit einer Einleitung von Emil Brix und einer Diskussionsdokumentation von Frederick Baker. Hrsg. von Emil Brix und Frederick Baker, Wien 1997, 61. 62 Bhabha, Die Verortung von Kultur, 133. 63 Robert E. Park, Human Migration and the Marginal Man (1928), in: Werner Sollors (Hrsg.), Theories of Ethnicity. A Classical Reader, New York 1996, 156–167, hier: 165.

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Im Konkreten waren in Wien solche „Grenzen“ oder Schnittstellen, an denen sich Personen unterschiedlicher kultureller Kommunikationsräume trafen und an denen sich differente kulturelle Zeichen und Codes zu verschränken vermochten, ganz bestimmte „Orte“: zum Beispiel die Redaktion der Zeit um Hermann Bahr oder vor allem das Kaffeehaus als jene „Heterotopie“, in der sich Menschen unterschiedlicher Interessen wie Schriftsteller, Künstler, Musiker, Professoren, Politiker, Unternehmer, Kaufleute oder Gewerbetreibende aus verschiedenen sprachlichen und kulturellen Kommunikationsräumen gelegentlich oder regelmäßig trafen oder sich gegenseitig annäherten, sich unterhielten und austauschten. Das hatte zur Folge, dass das Café auch zu einem wichtigen Ort permanenter kreativer, dynamischer kultureller Prozesse wurde. In Arthur Schnitzlers Erinnerung war das Kaffeehaus ein „neutraler Boden“, wo man sich traf. Freilich war die „gemäßere Atmosphäre“ für Schnitzler „die künstlerische oder was ich mir eben darunter vorstellte, – besonders, wenn ein etwas zigeunerlicher Hauch sie durchwehte“. Die Funktion des Kaffeehauses bestand darin, dass hier lose, flüchtige Netzwerke von Bekanntschaften geknüpft werden konnten: „So bildeten sich um mich Menschenkreise der verschiedensten Art, flossen ineinander, zerflossen wieder.“64 Schließlich möchte ich noch auf einen weiteren Grenzort oder Schnittpunkt hinweisen, an dem sich vor allem Angehörige der ökonomisch und sozial Marginalisierten trafen: Der Wurstelprater wurde gleichsam zu einer Raststätte der armen Leute.65 Es war, nach einer Beschreibung des Schriftstellers Felix Salten, ein Treffpunkt und Vergnügungsort von Armen und Personen aus sozialen Randgruppen, die hier ihre Sorgen und die Mühen des Alltags zu vergessen oder zu verdrängen suchten. Zugleich war der Wurstelprater ein transitorischer Ort, an dem man sich nur kurz, vorübergehend aufhielt, ein „Nicht-Ort“ im Marc Augé’schen Sinne66. Er blieb aber dennoch eine jener Schnittstellen, an denen die sprachlich-kulturelle Heterogenität und Mehrdeutigkeit der Stadt sichtbar, erfahrbar und erlebbar wurde. Exemplarisch verdeutlicht dies Salten am sogenannten Fünfkreuzertanz, an dem man für einen geringen Betrag teilnehmen konnte. Dieser Tanz versetzte die Teilnehmenden in einen anderen, vom Alltag unberührten Raum des Trostes, gleichsam in eine Heterotopie im Michel Foucault’schen Sinne,67 in der man sich wie in einem Spiegel erkannte und zugleich distanziert fremd blieb, was vor allem für jene zutraf, die aus der Ferne in die Stadt zugewandert waren:

64 Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hrsg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Mit einem Nachwort von Friedrich Torberg, Frankfurt am Main 1981, 99. 65 Siehe dazu ausführlicher Csáky, Das Gedächtnis, 208–217. 66 Marc Augé, Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort Marc Augés zur Neuausgabe, München 2010. 67 Foucault, Andere Räume, 145–157.

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Für alle die Einfachen und Niedrigen, die aus den bunten Provinzen des Reiches in Wien zusammen strömen, für alle die Jugend, die aus Dörfern und kleinen Städten in die Großstadt zieht, um da zu arbeiten, ist hier ein Trost.68

Hier trafen also Vertreter und Vertreterinnen unterschiedlicher sprachlich-kultureller Kommunikationsräume aufeinander, und indem sie sich einem illusorischen Vergnügen hingaben, überlappten sich diese Kommunikationsräume und bildeten einen neuen Raum, der sich über die anderen Räume wölbte. In seiner Praterbeschreibung aus dem Jahre 1880 hat Max Konody auf die Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten und vor allem auf die vielen Fremden, die sich hier aufhielten, aufmerksam gemacht: „Alle Stände, alle Nationalitäten, alle Confessionen treiben sich jetzt durcheinander.“ Nicht nur die Besucher und Besucherinnen des Praters seien national und sprachlich bunt gemischt, auch die Darsteller auf den Bühnen seien es.69 Im Saal wurde Ländler, Kreuzpolka oder Csárdás aufgespielt, „die bescheidene Tanzmusik der armen Leute“.70 Es waren dies jedoch auch Tänze, die um 1900 zu musikalischen Repräsentationsfiguren für Wien geworden waren. Sie fanden sich zum Beispiel auch in der Rhythmik der Wiener Operette, in der die „fremde“ Folklore, die zunächst von den aus verschiedenen Gegenden der Region in die Stadt Zugewanderten mühelos dekodiert werden konnte, zugleich auch zur eigenen, zur Wiener Musik geworden war. Salten macht explizit auf die Mehrdeutigkeit, auf das differenzierende Moment in der Wahrnehmung solcher im Dreivierteltakt gespielter Tänze aufmerksam, denn der Ländler wird von den Städtern als Walzer, von den vom Land Hinzugezogenen als Ländler „missverstanden“: Ein Ländler begann […]. Und jetzt waren die Großstadtkinder und die vom Lande Zugereisten deutlich zu unterscheiden. Für die einen war’s eben nur wieder ein Walzer, die anderen aber fingen an, sich in kleinen Gehschritten kirchweihmäßig zu wiegen, in jener ernsthaften Ruhe, mit der die Bauern den Tanz als eine feierliche Arbeit traktieren, und das Bauerng’wand schien unter mancher Uniform jetzt sichtbar zu werden.71

Hier im Tanzsaal überlappten sich in der musikalischen Darbietung die differenten Kommunikationsräume und bildeten einen neuen, übergreifenden, die Differenzen überwölbenden 68 Siegfried Mattl/Klaus Müller-Richter/Werner Michael Schwarz (Hrsg.), Felix Salten: Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne, Wien 2004, 71. 69 Max Konody, Wiener Straßenbilder (1880), zit. in: Gertraud Pressler, Jüdisches und Antisemitisches in der Wiener Volksunterhaltung, in: Musicologica Austriaca 17 (1998), 63–82, hier: 66. 70 Mattl/Müller-Richter/Schwarz (Hrsg.), Felix Salten: Wurstelprater, 72. 71 Felix Salten, Fünfkreuzertanz, in: Ders., Das österreichische Antlitz. Essays, Berlin 1910, 49–58, hier: 57.

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nonverbalen, hybriden musikalischen Kommunikationsraum, der den aus unterschiedlichen Gegenden Zugewanderten verständlich war, in dem sie sich jedoch in der Großstadt auch wieder nur als Fremde wiedererkannten: Und ob nun die Musik einen Walzer spielt, einen Ländler, eine Kreuzpolka oder einen Czárdás, allen diesen Menschen hier ist eines gemeinsam: daß sie fremd sind in dieser riesigen Stadt, von deren Arbeitsmühlen sie verschlungen, in ihrem Wesen entfärbt, zerrieben und verbraucht werden.72 6. Fragmentiertheit des Bewusstseins

Das heißt freilich auch, dass eine solche Multipolarität von Identitäten mit einer permanenten Präsenz von inneren Konflikten einherging, denn „in the case of the marginal man the period of crises is relatively permanent“.73 Eine solche Erkenntnis mag auch für zahlreiche Wiener Intellektuelle, „marginal men“, gegolten haben. Arthur Schnitzler äußerte sich in diesem Zusammenhang in einem seiner Briefe: In Österreich haben wir uns die Bezeichnung ‚echt deutsch‘ für alles edle, starke, schöne aufgespart – (wie die Deutschen selbst) – wir verbinden die Worte ‚echt‘ und ‚deutsch‘ – nur zum Zweck des Preisens miteinander; – und drüben gerade das Gegentheil. Es geht uns Oesterreichern – fast schon – wie uns Juden; übrigens, mit Beziehung aufs Ausland könnte man fortsetzen: uns Deutschen – wie uns Oesterreichern – und uns Juden. Wir werden verkannt. Sonderbar, dass wir uns in dieser Zeit als alles zugleich fühlen müssen. Ich bin Jude, Oesterreicher, Deutscher. Es muss wohl so sein – denn beleidigt fühl ich mich im Namen des Judentums, des Oesterreichertums und Deutschlands, wenn man einem von den Dreien was Schlimmes nachsagt.74

Mit noch eindringlicheren Worten formulierte diese als krisenhaft empfundene Mehrfachidentität, die sich der Marginalität und einer vergeblichen Assimilation (Mimikry) verdankte und die auch Béla Balázs erfahren hatte, Gustav Mahler, wenn man Alma Mahlers Erinnerungen Glauben schenken darf: „Ich bin dreifach heimatlos: Als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Überall ist man Eindringling, nirgends ‚erwünscht‘.“75 Im Prinzip war diese reflektierte Mehrfachidentität ein 72 Mattl/Müller-Richter/Schwarz (Hrsg.), Felix Salten: Wurstelprater, 76. 73 Park, Human Migration, 166. 74 Arthur Schnitzlers an Elisabeth Steinrück (22.12.1914), in: Arthur Schnitzler, Briefe 1913–1931. Hrsg. von Peter Michael Braunwarth/Richard Miklin/Susanne Pertlik/Heinrich Schnitzler, Frankfurt am Main 1984, 68–69. 75 Alma Mahler-Werfel, Erinnerungen an Gustav Mahler. Gustav Mahler, Briefe an Alma Mahler. Hrsg. von Donald Mitchell, Frankfurt am Main – Berlin – Wien 1978, 137.

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Problem, das sich den Bewohnern und Bewohnerinnen der Städte stellte, in denen sie einander konkurrenzierende und überlappende unterschiedliche kulturelle Räume vorfanden, wo „die weitgehende Freisetzung der Individuen aus tradierten Gruppenbindungen mit der Folge ihrer sozialen und räumlichen Mobilität […] eine Simultanpräsenz verschiedener und nicht selten disparater Möglichkeiten der Lebensführung“ erzwang.76 Es mag in unserem Zusammenhang von Interesse sein und daher nicht unerwähnt bleiben, dass Robert E. Park erste Eindrücke für den Entwurf seiner Theorie des „marginal man“ im Jahre 1905 während einer Studienreise durch die ehemalige plurikulturelle Monarchie erfahren und gesammelt hat. Er hätte, so Park wörtlich, „dabei mehr Interessantes und Fruchtbares erfahren, als in einem gleich langen Zeitraum zuvor und danach“.77 Die urbanen Milieus Zentraleuropas, vor allem das urbane Milieu Wiens in den Jahrzehnten um 1900, waren aufgrund zahlreicher Immigranten und Immigrantinnen, die infolge der großen ökonomischen und sozialen Transformationen hierher gezogen waren, von jener sprachlich-kulturellen Heterogenität geprägt, die ein Kennzeichen der plurikulturellen und polyglossen Region war. Im Mikrokosmos Wiens spiegelte sich gleichsam die horizontale Differenziertheit des Makrokosmos der zentraleuropäischen Region wider. Modernisierung, Industrialisierung und Technisierung hatten zusätzlich jedoch noch eine weitere, nämlich eine innere, vertikale Ausdifferenzierung der Gesellschaft zur Folge. Nicht nur die alte ständische Gesellschaftsstruktur hatte sich aufgelöst, auch die Differenzierung der Arbeitsprozesse ließ permanent neue soziale Schichten innerhalb einer relativ homogenen Gesellschaft entstehen, was gleichfalls zu einer individuellen und kollektiven Verunsicherung beitrug. Selbst die Errungenschaften der Technik, die im Allgemeinen an einer Vereinheitlichung des Lebensstils Anteil hatten, konnten als bedrohlich empfunden und folglich als eine Ursache für die Fragmentierung des Bewusstsein und für zahlreiche krankhafte, moderne Nervenleiden angesehen werden. Max Nordau, Pariser Korrespondent der Neuen Freien Presse und einer der namhaftesten Kritiker der Moderne, der selbst die Literatur und Kunst seiner Zeit als eine „Emanation“ eines nervösen Krankheitssymptoms maßregelte, erblickte vor allem im „Aufenthalt in der Großstadt“ eine große Gefahr: Der Bewohner der Großstadt, selbst der reichste, der vom ausbündigsten Luxus umgebene, ist fortwährend ungünstigsten Einflüssen ausgesetzt, die seine Lebenskraft weit über das unvermeidliche Maß hinaus mindern. Er athmet eine mit den Ergebnissen des Stoffwechsels geschwängerte Luft, er ißt welke, verunreinigte, gefälschte Speisen, er befindet sich in einem Zustande beständi-

76 Michael Makropoulos/Robert Ezra Park (1864–1944). Modernität zwischen Urbanität und Grenzidentität, in: Martin Ludwig Hofmann, Tobias F. Korta, Sibylle Niekisch, Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie, Frankfurt am Main 2004, 48–66, hier: 61. 77 Ebd., 50.

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ger Nervenerregung und man kann ihn ohne Zwang dem Bewohner einer Sumpfgegend gleichstellen.78

Und etwas später fährt Nordau dann fort: Jede Zeile, die wir lesen oder schreiben, jedes Menschengesicht, das wir sehen, jedes Gespräch, das wir führen, jedes Bild, das wir bei einem Blick aus dem Wagenfenster des dahinfliegenden Schnellzuges aufnehmen, versetzt unsere Sinnesnerven und unser Hirnzentrum in Thätigkeit. Ja selbst die gar nicht bewußt wahrgenommenen kleinen Erschütterungen auf der Eisenbahnfahrt, die beständigen Geräusche und wechselnden Anblicke der Großstadt-Straßen, unsere Spannung auf die Fortsetzung der Mittheilungen über begangene Ereignisse, die beständige Erwartung der Zeitung, des Briefträgers, der Besucher bereitet unserem Gehirn Arbeit.79

Ähnliche zeitgenössische Befunde ließen sich vermehrt aufzählen und selbst Sigmund Freud sieht sich genötigt, diese – nicht zuletzt im Kontext der Großstadt – anzuführen, um dann freilich in der Triebsublimierung, in der Unterdrückung des Sexualtriebs, die eigentliche Ursache der „Nervosität“, das heißt der Neurosen und Psychoneurosen, seiner Zeit zu diagnostizieren.80 Ähnlich argumentierte auch der Soziologe Georg Simmel: Die dem modernen Großstädter typische Reaktion heterogensten äußeren Reizen gegenüber wäre unter anderem „Blasiertheit“, das heißt „Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge“, Gleichgültigkeit, „gegenseitige Fremdheit und Abstoßung“, aber auch die „Ausbildung persönlicher Sonderart“, alles Eigenschaften, die dem Walter Benjamin’schen Flaneur zu eigen sind und ebenso auf die Situation der Bewohner Wiens um 1900 zutrafen.81 Die Differenziertheit und Fragmentiertheit der modernen Lebenswelt trug also zu einer Fragmentiertheit des individuellen und kollektiven Bewusstseins bei, es war dies, so können wir festhalten, ein immanentes Kriterium der Moderne, der „Décadence“. „Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence?“, fragte Friedrich Nietzsche: 78 Max Nordau, Entartung, Bd. 1, Berlin ²1893, 65. 79 Ebd., 72. 80 Sigmund Freud, Die „kulturelle“ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), in: Ders., Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich, Frankfurt am Main 72001, 109–132, v. a. 113–115. Zur Nervosität der Zeit, die sich auch im Arbeitermilieu vorfand, vgl. Joachim Radkau, Nationalismus und Nervosität, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler, Kulturgeschichte heute (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 16), Göttingen 1996, 284–315, v. a. 286. 81 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Otthein Rammstedt (Hrsg.), Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 7: Georg Simmel Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, hrsg. von Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995, 116–131.

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Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr. […] Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.82

Eine ähnlich abwertende Zeitdiagnose entwarf, auf Nietzsche und Ibsen rekurrierend, auch der konservative Wiener Schriftsteller Richard von Kralik – ein Antipode der modernen katholischen Literaturbewegung um Carl Muth. Trotz der abwertenden Kritik, die seinen Worten eingeschrieben ist, bestätigt diese Diagnose die Differenziertheit und Fragmentiertheit des Bewusstseins, die eine Relativität der Gegenstände und Methoden mit einschließt, als ein Kriterium der Zeit um 1900: Alles ist relativ. Es gibt keine ewigen Wahrheiten, kein unbedingt Wahres, Gutes, Schönes. Alles entwickelt sich, alles verändert, verkehrt sich. […] Und diese moderne ‚Lebenskunst und praktische Lebensweisheit‘ hat nach ästhetischer Notwendigkeit den ‚modernen‘ Stil, die moderne Technik emanieren müssen.83

Im Unterschied zur Moderne als Prozess, die nach Stephen Toulmin mit der Pluralisierung der Lebenswelt in der Frühen Neuzeit begonnen hätte,84 könnte eine Bestimmung des Kulturphänomens Moderne als Epoche dann angesetzt werden, wenn sich nachweisen lässt, dass Intellektuelle, Künstler und Künstlerinnen oder Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bewusst oder unbewusst die modernisierungsbedingte Differenziertheit, Fragmentiertheit und indirekt die regionale Heterogenität reflektieren und zu einem bestimmenden Kriterium ihres Schaffens machen. Bewusst zum Ausdruck bringen diese Situation, zeitlich unterschiedlich, zum Beispiel Schriftsteller und Intellektuelle wie Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Endre Ady, Georg Lukács oder Robert Musil. Unbewusst lässt sie sich aus der Fragmentiertheit in der Kunst (u.a. synchrone Stilpluralität) oder Musik (u.a. „schwebende Tonalität“, Atonalität) ablesen oder in der Entwicklung einer spezifischen Wissenschaftskultur nachweisen, die für Zentraleuropa typisch zu sein scheint und auf den Umgang mit und der Reflexion von kultureller Differenz beruht.85 82 Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner [1888], in: Ders., Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1980, 9–53, hier: 27. 83 Richard von Kralik, Die katholische Literaturbewegung der Gegenwart. Ein Beitrag zu ihrer Geschichte, Regensburg 1909, 37. 84 Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1991. 85 Johannes Feichtinger, Wissenschaft als reflexives Projekt. Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848–1938, Bielefeld 2010.

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Die von performativen „Grenzen“ durchzogene Semiosphäre der Stadt, das heißt die Vielfalt von einander konkurrenzierenden und überlappenden kulturellen Kommunikationsräumen, war die Voraussetzung dafür, dass eindeutige Orientierungsmuster obsolet wurden, dass in einer solchen hybriden urbanen und regionalen Situation multipolare oder Mehrfachidentitäten, die eine zuweilen krisenhafte Erfahrung sein konnten, nicht die Ausnahme, sondern die Regel bildeten. Aus der Sicht des nationalen Narrativs stellte sich das freilich als eine Orientierungslosigkeit dar, der eine präskriptive, verbindliche Ausrichtung auf eine eindeutige nationale Identität Abhilfe schaffen sollte, was der Anlass für weitere Konflikte sein konnte. So haben es jedenfalls Zeitgenossen der Jahrzehnte um 1900 erfahren. „Ich stehe zwischen Deutsch und Polnisch“, bekannte der zweisprachige Schriftsteller Tadeusz (Thaddäus) Rittner von sich. Das heißt: ich kenne und empfinde beides. Meiner Abstammung, meinen innersten Neigungen nach bin ich Pole. Und oft fällt es mir leichter, in dieser als in jener Sprache zu denken. Aber zuweilen verhält es sich umgekehrt. Von so manchem, was ich geschrieben habe, sagen die Deutschen, es sei polnisch, und die Polen, es sei deutsch. Man behandelt mich vielfach auf beiden Seiten als Gast. Und ich sehe so vieles, hier und dort, mit dem unbefangenen Blick eines Fremden.86

Ähnlich argumentierte der Schriftsteller Ödön von Horváth in Bezug auf die Frage, welcher Sprache, welcher Kultur, welcher Nation er sich eigentlich zugehörig fühle: Sie fragen mich nach meiner Heimat, ich antworte: ich wurde in Fiume geboren, bin in Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien und München aufgewachsen und habe einen ungarischen Paß – aber ‚Heimat‘? Kenn ich nicht. Ich bin eine typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung: magyarisch, kroatisch, deutsch, tschechisch […] Allerdings: Der Begriff ‚Vaterland‘, nationalistisch gefälscht, ist mir fremd.87

86 Thaddäus Rittner, Mein Leben, in: Das Literarische Echo 19 (1.1.1917) 7, 400–401, hier: 400. Zit. in: Joanna Giel, Das zweisprachige Schaffen von Thaddäus Rittner in den Augen polnischer Literaturhistoriker, in: Jens Adam/Hans-Joachim Hahn/Lucjan Puchalski/Irina Światłowska (Hrsg.), Transitraum Deutsch. Literatur und Kultur im transnationalen Zeitalter, Wrocław – Dresden 2007, 275–284, hier: 283. 87 Zit. in: Antal Mádl, Nikolaus Lenau und sein kulturelles und sozialpolitisches Umfeld, München 2005, 314.

Jacques Le Rider

Die Identitätskrisen in der Wiener Moderne

1. Individuelle und kollektive Identitätskrisen

Im Folgenden wird die Identität des Einzelnen als psychologisches Identitätsgefühl und als biografischer Prozess verstanden. Identitätskrisen kommen in Situationen, die das Identitätsgefühl verunsichern, oder in kritischen Phasen der Geschichte des Individuums vor.1 Wie sich die Identität ihrer selbst in Sprechakten (durch den Gebrauch des Ich-Personalpronomens) versichert, so wird sie in der Dialektik von Selbst- und Fremdbild Teil des kommunikativen Handelns. Individuelle Identitätskrisen kommen in objektiven und subjektiven Ego-Dokumenten zum Ausdruck: in ärztlichen Krankengeschichten, Prozessakten, Schulund Hochschularchivstücken einerseits, Tagebüchern, autobiografischen Berichten, Briefen und anderen Zeugnissen des Ich-Narrativs andererseits. Dieses eigentlich unbegrenzte Korpus der schriftlichen Spuren individueller Identitätskrisen interessiert ein breites Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen, von der historischen Anthropologie, der Kultur- und Sozialgeschichte bis zur Literaturwissenschaft. Das vorliegende Exposé versteht sich als Beitrag zu einer kulturwissenschaftlich erweiterten Literaturgeschichte der „Wiener Moderne“.2 1

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Hauptpublikationen des Verfassers zu diesem Thema: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und des Antisemitismus, übers. von Dieter Hornig, Wien 1985; Das Ende der Illusion. Zur Kritik der Moderne. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität, übers. von Robert Fleck, Wien 1990; Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffes, übers. von Robert Fleck, Wien 1994; Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende, übers. von Leopold Federmair, Wien 1997; Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wiener Moderne, übers. von Eva Werth, Wien, Passagen, 2002. Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne, übers. von Christian Winterhalter, Wien 2004; Arthur Schnitzler oder Die Wiener Belle Epoque, übers. von Christian Winterhalter, Wien 2006. Zur Einordnung dieses Forschungsansatzes in die umfangreiche Bibliothek der Studien zur Kulturgeschichte von Wiens und Budapest in der Epoche 1890–1938 kann man das eindrucksvolle historiographische Panorama William M. Johnston, Zur Kulturgeschichte Österreichs und Ungarns 1890–1938. Auf der Suche nach verborgenen Gemeinsamkeiten, Wien – Köln – Graz 2015 (Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 110), in dem alle Tendenzen der Forschung seit etwa vier Jahrzehnten von dem Autor des Klassikers Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und

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Das Stichwort „Identitätskrise“ ist einerseits ein heuristischer Begriff, andererseits ein Schlagwort der Epoche, die hier betrachtet wird. Im Zuge des ab 1890 allgemein verbreiteten Nietzscheanismus wird der Aufbau der individuellen Identität als „Wille zur Macht“ im Sinne der Befreiung des Willens zum Leben beschrieben: Die Jugend z. B. behauptet sich gegen die ältere Generation und will ihren neuen Identitätsentwurf durchsetzen. Nicht mehr die Überlieferung und die Traditionen prägen die kulturell vorgegebenen Identitätsmuster, sondern das lebensimmanente Prinzip „Werde, wer du bist“. Die Thematik des „Werdens“ enthält ein für die Gebildeten beruhigendes Goethe-Echo. Das „moderne“ Werden wird zum Bildungsroman jedes Einzelnen. Aber das Werden kann in bestimmten Fällen auch Identitätskrise genannt werden. Auch im Bereich der Psychologie und Psychiatrie ist um 1900 das Stichwort „Identitätskrise“ im Trend. Die Vorstellung von der „multiplen Identität“ des Einzelnen wird als neuromantische, „unheimliche“ Fantasie und als wissenschaftliche Kategorie der Psychopathologie geradezu volkstümlich. Nach solchen Vorstellungen hat jedes Individuum verschiedene „Teil­ identitäten“ im Familienkreis, im beruflichen Leben, in der Öffentlichkeit, im sogenannten Liebesleben etc., die sich entweder ergänzen und wechselseitig festigen und ein kohärentes Identitätsgefühl zulassen oder in Widerspruch geraten, einen „inneren Konflikt“ auslösen, die Person spalten und zusammenbrechen lassen, also vielfältige Identitätskrisen verursachen und jedes Individuum zu einem potenziellen „Doctor Jekyll and Mr. Hyde“ bzw. zu einer persona mit wechselnden Masken auf der Bühne der psychiatrischen Klinik werden lassen. Jede Identität ist relational, wird in Bezug auf eine Alterität empfunden bzw. statuiert. Eine Identität ergibt sich aus der Interaktion mit Mitmenschen. Insofern kann jede Identität zugleich als sozial definiert werden. Der frühe Identitätsaufbau erfolgt im Verlauf der ersten Sozialisierung im Beziehungsgeflecht der Familie. Die historische Soziologie des Individuums grenzt sich von der Psychologie ab und bemüht sich, die „soziale Identität“ des Individuums an seinen Handlungen und Verhaltensweisen zu beobachten, an der Art und Weise, wie es sich an die Normen des sozialen Systems anpasst oder mit diesen Normen in Konflikt gerät. Wenn der soziale Anpassungszwang die selbstbestimmten Identitätsentwürfe und -wünsche des Individuums unter Druck setzt, wenn die sozialen Diskurse mit dem individuellen Identitätsgefühl in Konflikt geraten, können „Identitätskrisen“ ausgelöst werden. Die individuelle Identität ist bewusst unbewusst Teil einer Gruppenidentität: einer sozialen Identität (Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen bzw. beruflichen „Stand“, zu einer „Klasse“) und einer kulturellen Identität, die durch die Sprache, die Konfession, die Ausbildung und „Bildung“, die Zugehörigkeit zu einer Heimat, einem Volk und einer Nationalität Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien, 11974, 4. ergänzte Aufl. 2006 (The Austrian Mind – An Intellectual and Social History, University of California Press, 11972) dargestellt und diskutiert werden.

Die Identitätskrise der Wiener Moderne

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(„Nationen“ darf es in Österreich-Ungarn nicht geben!) gekennzeichnet wird. Um 1900 ist außerdem die „Rasse“ ein Begriff, der sich auch in Wien in den sozialen Diskursen etabliert hat und z. B. im Munde der Antisemiten „den Juden“ eine feste, rassistisch definierte „Identität“ verleiht, von der sich, meinen die Antisemiten, kein Wiener jüdischer Herkunft absetzen kann. Jede kollektive Identität ist wie die individuelle ein Konstrukt, ein historischer Prozess mit Krisenphasen. Auch sie entsteht in der Dialektik von Selbst- und Fremdbildern, als Resultante von kulturellen Transfers, die das Eigene und das Fremde durcheinanderbringen und vermischen. Die Interaktion zwischen Minorität(en) und Bevölkerungsmehrheit, zwischen Zugewanderten und „Einheimischen“ kann als Konfrontation verschiedener sozio-kultureller Identitäten interpretiert werden, die bald zu Integrations- und Assimilationsprozessen oder „intrakulturellen“ Transfers, bald zu Konflikten und individuellen und kollektiven Identitätskrisen auf allen Seiten führen können. In solchen konfliktuellen Konfrontationen zwischen der eigenen und der fremden Gruppenidentität verschärfen sich die jeweiligen Identitätsdiskurse: Neue regionale, nationale, supranationale Identitätsvorstellungen und -diskurse werden produziert bzw. „imaginiert“ und „erfunden“. Im Verlauf solcher kollektiven Identitätskrisen verändern sich bewusst und unbewusst alle Identitätsmuster. Die Reaktion auf „fremde“ Minorität(en) bewirkt eine Neukodierung der Identitätsdiskurse der Bevölkerungsmehrheit (in Wien um 1900: der Wiener Deutschen). Jede neu zugewanderte Minorität entfremdet sich von ihrer Herkunftsregion, wird aber vom alteingesessenen Teil der gleichen Minorität wiederum als fremd empfunden (das ist der Fall der galizischen Juden und Jüdinnen der Leopoldstadt in den Augen des assimilierten jüdischen Bürgertums). Wie das individuelle Identitätsgefühl kommt die kollektive Identität in Form von (kollektivem) Gedächtnis, erzählten Erinnerungen und selektivem Vergessen zum Ausdruck. Wie die individuelle, klammert sich auch die kollektive Identität an Erinnerungsorte.3 3

Vincent Descombes, Les Embarras de l’identité, Paris, Gallimard (Les essais) 2013, zeigt, wie der Begriff „Identität“ heute verschiedene Wörter wie Charakter, personality oder self abgelöst hat. Erik H. Erikson, Identity, Youth and Crisis, New York, 1968, thematisierte das Stichwort „Identitätskrise“ im Kontext der ego- (oder self-)identity in den nach dem klassischen Schema des Bildungsund Sozialisierungsromans konzipierten Übergangsphasen von einem Lebensalter zum nächsten. Clément Rosset, Loin de moi. Étude sur l’identité, Paris, 1999, hat in der wiederkehrenden Klage über den Konflikt zwischen dem individuellen „authentischen“ Identitätsgefühl und den konventionellen sozialen Identitätsmustern, die die „authentische“ Identität angeblich unterdrücken, eine „rousseauistische Illusion“ zu entlarven unternommen (eine vergleichbare Kritik am sentimentalen Rousseauismus der Modernen war schon ein zentrales Thema von Nietzsches Kulturkritik). Im vorliegenden Aufsatz wird „Identität“ im Sinne von Hartmut Rosa, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt am Main 1998, verstanden. Die Erfindung

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2. Zum Epochenbegriff „Wiener Moderne“

Der Begriff „Moderne“ lässt sich in mehrere Teilbegriffe aufteilen: Modernisierung, Modernismus und Modernität. Der technische, wirtschaftliche, demografische und soziale Wandel bewirkt die durchgreifende Modernisierung der Gesellschaft und Kultur. Der Modernismus ist die Ideologie, die die Modernisierung im Namen des Fortschritts in allen Bereichen (auch in den Künsten) bejaht und das Alte, Herkömmliche, Traditionsverpflichtete verwirft. Die Modernität (nach dem von Charles Baudelaire definierten Begriff der modernité4) bedeutet schließlich die kritische und selektive Haltung, die die Modernisierung einerseits als unaufhaltsam und unabwendbar in Kauf nimmt (man ist in den Modernisierungsprozess verstrickt und kann nicht aus ihm aussteigen), andererseits als ambivalenten Destruktions- und Innovationsprozess mit einer Verlust- und einer Gewinnseite analysiert. Bei Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin, die beide Baudelaire-Verehrer waren, überwiegt diese kritische und selektive Einstellung zum Modernen. Wir fassen die Wiener Moderne um 1900 in diesem Sinne als eine Konstellation von guten und schmerzlichen Erfahrungen, von bejahenden und kritischen Reaktionen zur Modernisierung, die sogar eine Postmoderne vorausnimmt, die keinen Gegensatz erblickt zwischen modern und historisch. Die Verräumlichung oder Spatialisierung der wissenschaftlichen Diskurse über die Moderne ist in den letzten Jahrzehnten so sehr im Trend gewesen, dass man heute von der Wiener, der Prager, der Budapester, der Berliner, der Münchner Moderne um 1900 spricht, wobei der gemeinsame Begriff erhebliche Unterschiede verdeckt. In diesem Aufsatz wird die Wiener Moderne als die Periode zwischen dem Fin de Siècle (1880er- und 1890er-Jahre) und dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verstanden. Der Ausdruck „Wiener Moderne“ täuscht eine Geschlossenheit vor, die es vermutlich nie gegeben hat; höchstens kann man die Hypothese aufstellen, dass in Wien die Interaktionen zwischen den schöpferischen Kreisen dynamischer waren als in anderen europäischen Metropolen.5 Der Epochenbegriff „Wiener Moderne“6 erhält eine relative Deutlichkeit vor allem

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(im Sinne von invention) und die Behauptung der „nationalen Identitäten“ seit der Spätaufklärung und den Napoleonischen Kriegen hat Anne-Marie Thiesse, La Création des identités nationales: Europe XVIIIe–XXe siècle, Paris, 2001, rekonstruiert. Charles Baudelaire, „La modernité“, Kap. 4 des Essays „Le peintre de la vie moderne“ [über Constantin Guys], erste Fassung 1863 (in der Zeitschrift Figaro), zweite Fassung 1868 (in Baudelaires Essay-Sammlung L’Art romantique). Vgl. Edward Timms, „Die Wiener Kreise. Schöpferische Interaktionen in der Wiener Moderne“, in: Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse – Umwelt – Wirkungen, hrsg. von Jürgen Nautz und Richard Vahrenkamp, Wien – Köln – Graz 1993 (Studien zur Politik und Verwaltung, Bd. 46), 128–143. Dagmar Lorenz, Wiener Moderne, Stuttgart – Weimar 22007 (Sammlung Metzler, Bd. 290), vermittelt einen Überblick über die umfangreiche „Bibliothek der Wiener Moderne“.

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auf den Gebieten der Ideen-, Literatur- und Kunstgeschichte. Was dieser Begriff für die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte taugt, ist eine andere Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. Es ist jedenfalls klar, dass die wissenschaftliche Diskussion über „die Wiener Moderne“ um 1900 einen interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Horizont voraussetzt. 3. Wien um 1900 als Metropole der zentraleuropäischen Pluralität

1869 zählt Wien 607.515 Einwohner, 1890 1,4 Millionen, 1900 ca. 1,7 Millionen (um 1900 beträgt die Einwohnerzahl von London 4,5 Millionen, die von Paris 2,7 Millionen und Berlin ist mit 1,9 Millionen Einwohnern die mit Wien am ehesten vergleichbare Hauptstadt).7 Im Jahre 1900 sind 46 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen Wiens gebürtige Wiener: Mehr als die Hälfte der Wiener Bevölkerung besteht also aus „Zuwanderern“, wenn man die Binnenwanderung aus den Provinzen der Monarchie und die Immigration aus dem Ausland mit einem einzigen Wort bezeichnen darf. Allerdings besitzen nur 38 Prozent der Wiener und Wienerinnen im Jahre 1900 das Heimatrecht, was den Anteil der „Fremden“ an der Gesamtbevölkerung Wiens auf 62 Prozent erhöht. Eine andere Schwierigkeit ergibt sich aus der Definition der Nationalität durch die angegebene Umgangssprache: 1910 geben nur 98.461 Wiener Tschechisch als ihre Umgangssprache an, obwohl 467.158 Wiener in Böhmen und Mähren geboren sind. Die Schwierigkeit, die Anwendung des Beiworts „fremd“ in der demografischen Statistik streng zu definieren, verzerrt den internationalen Vergleich zum Beispiel mit Paris, wo man 1890 „nur“ 6,3 Prozent Fremde zählt, da die Zuwanderung aus den französischen Provinzen in dieser Zahl nicht miterfasst wird. Sind um 1900 die Bretonen, die „Auvergnats“, die „Picards“ oder die Lothringer in Paris vergleichbar mit den Böhmen, Slowaken, Slowenen oder Galiziern in Wien? Das ist ein anderes Thema, das hier nicht behandelt werden kann. Im vorliegenden Beitrag kann es aber nicht nur darum gehen, das Wien der Jahrhundertwende durch eine große soziale und kulturelle Pluralität zu charakterisieren und das ambivalente Potenzial dieser Pluralität hervorzuheben (einerseits kulturelle Kreativität, andererseits erhöhte Konfliktgeladenheit): Dies könnte man von jeder Metropole behaupten. Spezifisch ist, dass Wien um 1900 eine Verdichtung der zentraleuropäischen Gemengelage der Nationalitäten darstellt. Das interkulturelle Potenzial dieser besonderen Form der Internationalität wird im Zeitalter des Nationalismus vom Kampf der kulturellen Identitäten in einen destruktiven Prozess umgewandelt. Von einem „böhmischen Wien“, einem polnischen, kroatischen, 7

Dieser Abschnitt stützt sich auf Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Kap. IV: „Ein urbanes Milieu in der Moderne: Wien“, Wien – Köln – Weimar 2010, 129–271. Vgl. auch Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar (1990) 21993.

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slowenischen, ungarischen etc. kann man reden, und es wäre falsch, Wiens kulturelle Identität um 1900 als deutsch-österreichisch zu bezeichnen, selbst wenn die „Leitkultur“ deutsch war. Die Lage wird dadurch noch komplexer, dass Wien um 1900 auch als eine „jüdische“ Hauptstadt bezeichnet werden kann, wobei der Sammelbegriff „Wiener Juden“ die große Heterogenität der „jüdischen Identitäten“ verdeckt. Um die Jahrhundertwende sind Antisemitismus, Antislawismus und Antimagyarismus zu „kulturellen Codes“ geworden, wenn es zulässig ist, den von Shulamit Volkov geprägten Ausdruck in dieser Weise auszudehnen.8 Diese verschiedenen Formen des Fremdenhasses können als Proteste gegen die Multikulturalität und als Sehnsucht nach einer holistischen Gesellschaftsform interpretiert werden, in der jeder „Volksstamm“ eine kompakte Gemeinschaft auf einem geschlossenen Territorium bilden möchte. Sie bewirken nicht nur eine Identitätskrise aufseiten der durch solche Affekte betroffenen Individuen und sozialen Gruppen, sondern auch eine Krise der dominierenden deutschen kulturellen Identität der Wiener Deutschen. Deutsch-österreichisch konservativ, national liberal, alldeutsch, christlichsozial mögen eine antisemitische Grundstimmung als gemeinsamen Nenner haben, sind aber weit mehr als nur „Facetten“ der deutschen Identität in Wien um 1900: Sie sind getrennte, gegeneinander streitende Lager. Diese interne Pluralisierung der deutschen identitären Diskurse kann als eine weitere Erscheinungsform der Identitätskrisen in der Wiener Moderne gesehen werden.

4. Pluralität ohne Pluralismus: ein blockiertes politisches und soziales System

Die meisten wissenschaftlichen Diskurse über die „Wiener Moderne“ um 1900 rekurrieren seit drei Jahrzehnten auf Carl E. Schorskes Thesen vom Untergang des liberalen homo politicus und dem Auftritt des frustrierten homo psychologicus. Hier handelt es sich um eine engere gesellschaftliche Gruppe, und zwar um die Träger der untergehenden liberalen bürgerlichen Kultur, das Bildungsbürgertum und die gebildeten classes moyennes, die intellektuellen Berufe (Lehrer, Universitätsangehörige und sonstige Wissenschaftler, Ärzte, leitende Beamte, Rechtsanwälte, Publizisten …), die Schriftsteller und Künstler etc. Schorskes Diagnose ist also auf jene sozialen Kreise beschränkt, in denen man die Schaffenden und die ersten Rezipienten der „Wiener Moderne“ im Sinne der Literatur-, Kunst- und Ideengeschichte antrifft. „Das überlieferte liberale Weltbild kreiste um den rationalen Menschen, von dessen wissenschaftlicher Beherrschung der Natur und sittlicher Selbstbeherrschung man die Schöpfung der glücklichen Gesellschaft erwartete.“ Das Gefühl der Einzwängung in einem archaischen, durch die aristokratische „erste Gesellschaft“ und die kaiserliche Regierung be8

Shulamit Volkov, „Antisemitismus als kultureller Code“, in: Dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, 12–36.

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herrschten politischen System, und vor allem das tiefe Unbehagen angesichts des Siegeszugs der „christlich-sozialen Demagogen, [die] all das verbanden, was dem klassischen Liberalismus verhasst war: Antisemitismus, Klerikalismus und Sozialismus auf kommunaler Ebene“, zeitigten „tiefe psychologische Rückwirkungen. Die Stimmung, die sie hervorrief, war weniger eine der Dekadenz als der Impotenz, […] Angst, Unfähigkeit [und] einer gesteigerten Wahrnehmung der Härte der sozialen Existenz“.9 So fasst Schorske das Grundmuster der „Identitätskrise in der Wiener Moderne“ zusammen. An diese Diagnose des Wiener homo psychologicus können sich beliebig viele Fallstudien anschließen. In Schorskes Buch sind es vor allem Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal, Georg von Schönerer, Karl Lueger und Theodor Herzl, Sigmund Freud, Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg, die als zentrale Figuren studiert werden. Nicht nur in den Ausgangsthesen, sondern auch in der Methode bleibt Schorskes Buch für die Forschung über die „Wiener Moderne“ prägend. Die Thematik der „Identitätskrise“ kann vor allem an individuellen Fällen aufgrund schriftlicher Ego-Dokumente verfolgt werden: Es ist eine schier unabschließbare serielle Untersuchung mit unzähligen einzelnen Varianten und Abwandlungen, die am besten in Form der biografischen Erzählung oder des zusammenfassenden Porträts bzw. Gruppenbildes darzustellen sind. Deshalb wird hier im Plural von den Identitätskrisen in der Wiener Moderne gesprochen.10 5. Männlich – weiblich – jüdisch

In der europäischen Kultur um 1900 verkörpern die Gestalten der Frau und des Juden die Moderne. Beide waren in politischer und sozialer Hinsicht die ersten Begünstigten und sofort auch die ersten Opfer der Emanzipation und der Errungenschaften der Gleichberechtigung, die, kaum erreicht, schon umstritten waren. Auf jeden Schritt der Emanzipation und Gleichstellung der europäischen Juden und Jüdinnen seit der Aufklärung folgten Wellen des Antijudaismus und bald auch des Antisemitismus. Der Integrationsprozess und der soziale Aufstieg der Juden und Jüdinnen innerhalb der Wiener Gesellschaft erfolgten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch das Schulund Hochschulsystem. 1890 waren 48 Prozent der Studenten der medizinischen Fakultät der Universität Wien jüdischer Herkunft. Im Jahrzehnt von 1885 bis 1895 waren 42 Prozent der Wiener Rechtsanwälte und Ärzte Juden; für die Periode von 1890 bis 1910 erhöht sich ihr Anteil an diesen freien Berufen auf 63 Prozent.11 Anhand solcher Zahlen ist besser zu verste9

Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle, übers. von Horst Günther, Frankfurt am Main 1982, 4–6 (Fin de siècle Vienna: Politics and Culture, New York 1979). 10 Michael Pollak, Vienne 1900. Une identité blessée, Paris 1984 (Wien 1900. Eine verletzte Identität, übers. von Andreas Pfeuffer, Konstanz 1997), bleibt beim Singular. 11 Hans Tietze, Die Juden Wiens (11933), Wien 2007, 220.

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hen, warum die „Wiener Moderne“ um 1900 zu einem wesentlichen Teil die Produktion von jüdischen Künstlern, Autoren, Theoretikern und Wissenschaftlern war. Auch die Kerngruppe des Publikums der Theater und Konzerte, der Bücher- und Zeitschriftenleser und -leserinnen rekrutierte sich aus diesem Gesellschaftskreis.12 Deshalb ist die durch den antisemitischen Kontext verschärfte jüdische Identitätskrise ein so charakteristisches Phänomen der Wiener Moderne, das in zahlreichen Briefen, Tagebüchern, Autobiografien und Fiktionen mit autobiografischem Hintergrund bzw. in politischen und theoretischen Schriften zur „jüdischen Frage“ thematisiert wird. Die „emanzipierte Frau“ verärgert und beunruhigt auch in Wien, wo doch die Frauenbewegung weniger auffällig ist als in England und selbst in Deutschland,13 was paradoxerweise nicht verhindert, dass der Antifeminismus gerade in Wien mit Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ (1903) eine merkwürdige Radikalität erreicht. Der Kampf der Geschlechter, ein europaweit verbreitetes Thema der modernen Intellektuellen und Künstler um die Jahrhundertwende, wird auch in Wien auf der Bühne, in den literarischen „realistischen“ Fiktionen und in den Künsten häufig thematisiert. Den „weiblichen Identitätskrisen“ entsprechen „männliche Identitätskrisen“, für die Otto Weiningers zum Selbstmord führende existenzielle Krise wiederum das katastrophalste Beispiel abgibt.14 Der Fall Weininger ist deshalb faszinierend, weil sich bei ihm Judenhass (manchmal „jüdischer Selbsthass“ genannt) und Frauenhass (als unbeherrschbare Kastrationsangst) kumulieren und wechselseitig potenzieren. Die strukturelle Parallele zwischen Antifeminismus und Antisemitismus ist nicht schwer zu entdecken: Der Antifeminismus reagiert auf den modernen Wandel der „Sexualmoral“, der Familienkonstellation und der sozialen und kulturellen Geschlechterrollen, verstärkt somit die durch die Erosion der traditionellen „Sitten“ ohnehin bereits ausgelöste weibliche Identitätskrise, verrät aber zugleich eine tiefgreifende Identitätskrise der Männlichkeit. Die Analyse der gemeinsamen Wurzeln und der Interaktionen von weiblichen und männlichen Identitätskrisen wird dadurch komplizierter gemacht, dass die Polarität von männlich und weiblich in der Moderne eine völlige „Dekonstruktion“ durchmacht: Von den Diskursfiguren der Epoche wie „Bisexualität“ oder „sexuelle Zwischenformen“ zur Unterscheidung zwischen sexueller und Gender-Identität wird der Begriff Identität selbst infrage gestellt.

12 Vgl. Steven Beller, Vienna and the Jews, 1867–1938. A Cultural History, Cambridge – New York 1989. 13 Vgl. Harriet Anderson, Vision und Leidenschaft. Die Frauenbewegung im Fin de Siècle Wiens, Wien 1994; Die Frauen der Wiener Moderne, hrsg. von Lisa Fischer und Emil Brix, Wien – München 1997; Das alles war ich. Politikerinnen, Künstlerinnen, Exzentrikerinnen der Wiener Moderne, hrsg. von Frauke Severit, Wien – Köln – Weimar 1998. 14 Vgl. Ernst Hanisch, Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien – Köln – Weimar 2005, 127–164 (Kap. „Liebe und Sexualität im Fin de Siècle“).

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Auf ähnliche Weise kann man beobachten, wie die Antisemiten „den Juden“, deren (von ihnen fantasierte) Identität für sie keine Frage ist, sondern eine massive Evidenz, die „Schuld“ an der sozialen und kulturellen Modernisierung zuschieben und dabei die durch Säkularisierung, Emanzipation, Assimilation etc. ohnehin bereits ausgelöste jüdische Identitätskrise verschärfen. Zugleich verrät dies jedoch eine Identitätskrise der Deutschen Wiens u.a. im Kontext der Nationalitätenkämpfe in Cisleithanien, aber auch im Zusammenhang mit dem seit 1866 und 1871 noch nicht abgeschlossenen Definitionsprozess der österreichischen und Wiener gegenüber der reichsdeutschen und Berliner Identität. Vielleicht ist es gerade diese Verunsicherung des wienerdeutschen Identitätsgefühls, die den „modernen“ antisemitischen Strömungen in der Schönerer- und Luegerzeit ein so gefährliches Potenzial verleiht, das sich ab 1934 und 1938 erst recht entfachen wird. Die Wiener Moderne ist auch Hitlers Wien.15 6. Dekonstruktion ohne Rekonstruktion des Identitätsbegriffs: Sigmund Freud

Oft genug wurde der Versuch unternommen, die freudsche Interpretationsmethode auf Robert Musil und dessen Texte anzuwenden. Ebenso oft wurden die Spuren der Rezeption der Psychoanalyse bei Robert Musil untersucht. In diesem und dem nächsten Abschnitt soll etwas anderes versucht werden, und zwar die Parallele zwischen Freud und Musil als Diagnostiker bzw. Phänomenologen der modernen Identitätskrisen und als Anthropologen des modernen Individuums als Bündel einer „Mehrheit der psychischen Personen“16 bzw. als „Mensch ohne Eigenschaften“ aufzuzeigen. In Freuds und Musils anthropologischen Ansätzen wird von der Vorstellung einer labilen und wandelbaren Zusammensetzung von Teilidentitäten bzw. Identifizierungen ausgegangen. Der Formel „Mehrheit der psychischen Personen“ folgt in Freuds Beilage zu einem Brief an Wilhelm Fließ vom 2. Mai 1897 der lapidare Satz: „Die Tatsache der Identifizierung gestattet vielleicht sie wörtlich zu nehmen.“ In der „Traumdeutung“ wird letzterer Begriff zuerst im Kapitel IV, „Die Traumentstellung“, nach dem Modell der hysterischen Identifizierung erläutert: Der Traum erhält ihre neue Deutung, wenn [die Dame] im Traum nicht sich, sondern die Freundin meint, wenn sie sich an die Stelle der Freundin gesetzt oder, wie wir sagen können, sich mit 15 Im Mai 1906 weilte Adolf Hitler zum ersten Mal in Wien; ab September 1907 bis 1913 lebte er im „Wien der Moderne“ (so der Titel des 2. Kapitels von Brigitte Hamanns Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996). 16 Sigmund Freud, Manuskript L, Beilage zu Brief 126 vom 2. Mai 1897, in: S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hrsg. von Jeffrey Moussaieff Masson, deutsche Fassung von Michael Schröter, Frankfurt am Main 1986, 256. Wir verstehen hier „Mehrheit“ im Sinne von „Pluralität“. Vgl. Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis, Vocabulaire de la psychanalyse, Paris 1967, Beitrag „Identification“.

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ihr identifiziert hat. […] Die Identifizierung ist ein für den Mechanismus der hysterischen Symptome höchst wichtiges Moment; auf diesem Wege bringen es die Kranken zustande, die Erlebnisse einer großen Reihe von Personen, nicht nur die eigenen, in ihren Symptomen auszudrücken, gleichsam für einen ganzen Menschenhaufen zu leiden und alle Rollen eines Schauspiels allein mit ihren persönlichen Mitteln darzustellen.17

Diese Stellen stehen am Anfang des Weges, der 1924 in dem Aufsatz „Der Untergang des Ödipuskomplexes“ seinen vorläufigen Abschluss findet: „Das Ich des Kindes wendet sich vom Ödipuskomplex ab. […] Die Objektbesetzungen werden aufgegeben und durch Identifizierung ersetzt.“18 In der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1933) wird Freud seine Verwendung des Begriffs „Identifizierung“ zwar selbstkritisch einschätzen, zugleich jedoch einräumen, dass ihm kein besseres Wort einfällt: „Ich bin von diesen Ausführungen über die Identifizierung selbst durchaus nicht befriedigt, aber genug, wenn Sie mir zugeben können, dass die Einsetzung des Über-Ichs als ein gelungener Fall von Identifizierung mit der Elterninstanz beschrieben werden kann.“19 In „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) widmet Freud das gesamte Kapitel VIII der Identifizierung.20 Die Ergebnisse seiner ich-analytischen Theoriebildung fasst er so zusammen: Das aus diesen drei Quellen Gelernte können wir dahin zusammenfassen, dass erstens die Identifizierung die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung an ein Objekt ist, zweitens dass sie auf regressivem Wege zum Ersatz für eine libidinöse Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion des Objekts ins Ich, und dass sie drittens bei jeder neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, entstehen kann. Je bedeutsamer diese Gemeinsamkeit ist, desto erfolgreicher muss diese partielle Identifizierung werden können und so dem Anfang einer neuen Bindung entsprechen.21

An dieser Stelle vollzieht Freud den Übergang von der Ich-Analyse zur Massenpsychologie: „Wir ahnen bereits, dass die gegenseitige Bindung der Massenindividuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Gemeinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer.“ Nach diesem Satz unterbricht sich Freud mit einer selbstkritischen Bemerkung, welche die schon zitierte Anmerkung in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ antizipiert: 17 18 19 20 21

Freud, GW II/III, 154f. Freud, GW XIII, 398f. Freud, GW XV, 70. Freud, GW XIII, 115–121. Ebd., 118.

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Eine andere Ahnung kann uns sagen, dass wir weit davon entfernt sind, das Problem der Identifizierung erschöpft zu haben, dass wir vor dem Vorgang stehen, den die Psychologie ,Einfühlung‘ heißt, und der den größten Anteil an unserem Verständnis für das Ichfremde anderer Personen hat.22

Tatsächlich spürt man hinter Freuds Versuch, den Begriff „Identitifizierung“ im Bereich der Massenpsychologie anzuwenden, den Einfluss von Gabriel Tardes „Les Lois de l’imitation“,23 einer psycho-soziologischen Studie, aus der Gustave Le Bon für seine „Psychologie des foules“24 (ein Modell für Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“) Wesentliches übernommen hatte. Wenn er mit dem Begriff „Identifizierung“ umgeht, hat Freud das untrügliche Gefühl, dass seine psychoanalytische Interpretation in eine geläufige Psychologie bzw. Sozialpsychologie umzukippen droht, die um die Jahrhundertwende und im début de siècle ziemlich verbreitet ist. Tatsächlich hatte schon Hippolyte Taine in „De l’intelligence“ (11870) geschrieben: „Le cerveau humain est un théâtre où se jouent à la fois plusieurs pièces différentes, sur plusieurs plans dont un seul est en lumière. Rien de plus digne d’étude que cette pluralité foncière du moi.“25 Zwar hat Taines Bewusstseinspsychologie mit Freuds Psychoanalyse wenig Berührungspunkte – der Ausdruck „pluralité foncière du moi“ erweist sich trotzdem als mit Freuds Formel von der „Mehrheit der psychischen Personen“ im Brief an Fließ vom 2. Mai 1897 eng verwandt. In Paul Bourgets erfolgreichem Roman „Le Disciple“ (1889) ist die Titelfigur, der „Jünger“ also, der Autor einer „Contribution à l’étude de la multiplicité du moi“. Das Thema der „personnalités doubles et multiples“ ist à la mode.26 In seinem berühmten Aufsatz über Ernst Machs „unrettbares Ich“ bekennt Hermann Bahr, er sei zu Machs „Analyse der Empfindungen“ über Théodule Ribot gelangt: „Nun las ich ein entsetzliches Buch, Ribots Les maladies de la personnalité; hier werden Menschen gezeigt, welche plötzlich ihr Ich verlieren […]; ja, es kommen solche vor, die ein dreifaches oder vierfaches Ich haben.“27 Das Thema der Identitätskrise ist bei weitem nicht eine Erfindung der Wiener Moderne. Eine Wiener Eigentümlichkeit ist es jedoch, dass hier der Ich-Zerfall und die Ich-Spaltung für die durch den Prozess der Modernisierung ausgelöste Gesellschaftsund Kulturkrise emblematisch werden. 22 23 24 25 26 27

Ebd., 118f. Gabriel Tarde, Les Lois de l’imitation, étude sociologique, Paris 1890. Gustave Le Bon, Psychologie des foules, Paris 1895. Hippolyte. Taine, De l’intelligence, Paris 1911, Bd. I, 16. Vgl. Jacqueline Carroy, Les Personnalités doubles et multiples. Entre science et fiction, Paris 1993. Hermann Bahr, „Das unrettbare Ich“, in: Ders., Dialog vom Tragischen, Berlin 1904, 93, zitiert nach der Ausgabe H. Bahr, Zur Überwindung des Naturalismus, hrsg. von Gotthart Wunberg, Stuttgart 1968, 183–192, hier: 189.

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Als Hugo von Hofmannsthal ab 1907 sein unvollendetes Meisterwerk, das Romanfragment „Andreas oder Die Vereinigten“, konzipierte, griff er nicht, wie so oft, auf Freuds Psychoanalyse, sondern auf Morton Princes „The Dissociation of a Personality“ zurück. 28 Was Tarde die Nachahmung (imitation), Freud die Identifizierung nennt, heißt bei Hofmannsthal „das allomatische Prinzip“29: Das Allomatische; […] an Andreas ist ihm [dem Malteser] anziehend, dass dieser von den Andern so beeinflussbar, der andern Leben ist in ihm so rein und stark vorhanden, wie wenn man einen Tropfen Blutes oder ausgehauchte Luft eines andern in einer Glaskugel dem starken Feuer aussetzt – so in Andreas die fremden Geschicke. Andreas ist wie der Kaufmannssohn [im „Märchen der 672. Nacht“]: der geometrische Ort fremder Geschicke.30 7. Vom „unrettbaren Ich“ zum Menschen ohne Eigenschaften

Der vehemente Kritiker der zeitgenössischen Moderne, Otto Weininger, erkennt in „Geschlecht und Charakter“ die epochale Bedeutung Ernst Machs an. „Die Analyse der Empfindungen“ sieht er als den theoretischen Begleitdiskurs des modernen Kulturverfalls. In der Nachfolge von David Hume und Georg Christoph Lichtenberg habe Mach das Universum als eine zusammenhängende Masse von Elementen aufgefasst, meint Weininger, in der jedes einzelne Ich ein bloßer Punkt, eine kleine Konzentration von Elementen sei, die den mehr oder weniger illusorischen Anschein einer stärkeren Konsistenz erwecke. Das Ich sei keine wirkliche, nur eine praktische Einheit, als Träger der Identität unrettbar, „bloßer Wartesaal für Empfindungen“.31 Die entscheidenden Stellen befinden sich im ersten Kapitel von Machs „Analyse der Empfindungen“ (1886), das den Titel „Antimetaphysische Vorbemerkungen“ trägt.

28 Morton Henry Prince, The Dissociation of a Personality, New York 1906. Entscheidende Impulse verdankte Morton Prince der Psychopathologie von Jean-Martin Charcot (vgl. Charcot, Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems, insbesondere über Hysterie, übers. von Sigmund Freud, Leipzig – Wien 1886) und Pierre Janet (vgl. Janet, État mental des hystériques. Les stigmates mentaux, Paris 1892). 29 Den Ausdruck fand Hofmannsthal bei Ferdinand Maack, Zweimal gestorben. Die Geschichte eines Rosenkreuzers aus dem 18. Jahrhundert, Leipzig 1912. 30 Hugo von Hofmannsthal, Andreas, in: Ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Bd. 7, Erzählungen, Frankfurt am Main 1979 (Fischer Taschenbuch Nr. 2165), 305. 31 Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Wien 1903, hier zitiert nach der 22. Aufl. 1921, 191f.

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Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen besonderen Körper (den Leib) gebundene Komplex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. […] Die scheinbare Beständigkeit des Ich besteht vorzüglich nur in der Kontinuität, in der langsamen Änderung. […] Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfindungen). […] Die Elemente bilden das Ich. […] Das Ich ist keine unveränderliche, bestimmte, scharf begrenzte Einheit. […] Das Ich ist unrettbar. […] Man wird hiedurch zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Missachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt. Das ethische Ideal, welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich entfernt sein von jenem des Asketen, […] wie auch von jenem des Nietzscheschen frechen ‚Übermenschen‘.32

Ernst Machs „Analyse der Empfindungen“ als Zeugnis der Identitätskrisen in der Wiener Moderne hinzustellen, wäre abwegig, wenn man nicht sofort hinzufügen würde, dass erst die Rezeption der Formel vom „unrettbaren Ich“ diese „psychophysische“, in der Tradition des englischsprachigen Empirismus liegende Reduktion des Ich als krisenhaften Vorgang deutete. Machs Anliegen ist die Entlarvung des Ich als leere Worthülse und als metaphysische Illusion. Diese Entlarvung soll zu einer „freieren und verklärten Lebensauffassung“ hinführen. Machs Formel vom „unrettbaren Ich“ wollte als Motto einer wissenschaftlichen Weltauffassung und Lebensweisheit verstanden werden, nicht als kulturkritisches Alarmsignal. Eine vergleichbare Nüchternheit, durch Witz und Ironie bereichert, trifft man bei Robert Musil in den „ratioiden“ Kapiteln des „Mann ohne Eigenschaften“. Im achten, „Kakanien“ betitelten Kapitel entwickelt Musil die psycho-soziologische Anwendung des machschen Reduktionismus. Wie bei Mach wird hier die individuelle Identität auf ein Konglomerat von mehr oder weniger zusammenhängenden Elementen reduziert. Das „Kakanien“-Kapitel beginnt mit der Schilderung der typischen „überamerikanischen Großstadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht“. Diesem „hypermodernen“ Großstadtleben entsprechen moderne Menschen mit holzschnittartig umrissener klarer Identität: „Jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen.“33 Nicht die individuelle Identität ist wesentlich, sondern die jedem Einzelnen zufallende Rolle im gesellschaftlichen Ameisenhaufen: „Die Zoologie lehrt, dass aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann.“34 Auch Kakanien sei modern gewesen, schreibt Musil weiter, doch nicht „überamerikanisch“: „Es gab auch Tempo; aber nicht zuviel Tempo.“35 Der schematischen Eindeutigkeit 32 Zitiert nach Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1911 (sechste vermehrte Auflage), 2–20. 33 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1987 (neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe 1978), 31. 34 Ebd., 32. 35 Ebd.

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der Identitäten in der amerikanisierten Moderne entspricht in Kakanien eine Komplexität, die von außen betrachtet unverständlich bleibt. „Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, dass man es gewöhnlich geschlossen hielt.“36 Der feinen Organisation des kakanischen Systems entsprachen ein strukturell chaotischer Zustand und ein permanentes Krisenmanagement: „[Die] nationalen Kämpfe […] waren so heftig, dass ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus.“37 Krise als Normalität, stabilisierte Labilität, zusammenhängende Widersprüchlichkeit: Das ist Musils Kakanien. In den darauffolgenden Zeilen benützt Musil das Wort „Charakter“ ungefähr im Sinne von „Identität“ (auch in Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ bedeutet „Charakter“ das Gleiche wie „Identität“). Ist die Inkohärenz Kakaniens eine Folge der anscheinenden Charakterschwäche des Kakaniers? Man handelte in diesem Land – und mitunter bis zu den höchsten Graden der Leidenschaft und ihren Folgen – immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das ist falsch; und es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewussten, einen unbewussten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf […]. Jeder Erdbewohner hat auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume.38

Der Charakter bzw. die Identität des Kakaniers wäre also durch eine innere Pluralität von „Elementen“ geprägt, die auf den ersten Blick als ein verwirrendes mixtum compositum erscheint, die Musil aber als ein allgemeingütiges Modell der Identitätskonstruktion aller „Erdbewohner“ definiert. Zusammenfassend kann man in diesem Kapitel 8 des „Mann ohne Eigenschaften“ zwei entgegengesetzte moderne Konstellationen erkennen: Mit der „überamerikanischen Moderne“ und ihren holzschnittartig konturierten Identitäten kontrastiert eine kakanische bzw. 36 Ebd., 33. 37 Ebd., 34. 38 Ebd.

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Wiener Moderne der „unrettbaren Ichs“ mit fließenden Konturen und der labilen, gleitenden und wandelbaren Identitätskonstrukte. Wenn man dieser Interpretation folgt, ist der „kakanische“ Typus der kollektiven und individuellen Identität gerade flexibel genug, um ernsthafte politische, soziale und psychologische Krisen zu bestehen. Musil sagt es unumwunden: Kakanien als organisiertes Chaos hätte lange bestanden, „wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre“.39 Nun aber zeigt der „Mann ohne Eigenschaften“ Kakanien am Vorabend des Ersten Weltkriegs als ein in allseitige Identitätskrisen verstricktes, baufälliges Durcheinander, das beim ersten Anstoß einzustürzen droht. Das ist nur eine der zahllosen Ambivalenzen dieses monumentalen Romanfragments, in dem jede These unter der Hand zurückgenommen wird und in dem der Autor den Lesern und Leserinnen jede Form der Eindeutigkeit verweigert. Die Identitätskrisen in der Wiener Moderne erscheinen bei Musil bald als utopisches Potenzial für den Aufbau „flexibler krisenfester Identitäten“, bald als eine wachsende und auf eine unabsehbare Schlusskatastrophe hinauslaufende Unordnung. In den Kapiteln des riesenhaften Romanfragments, die im Zweiten Buch40 den „anderen Zustand“ umkreisen, geht es dann um abgründige „Identitätskrisen“: um Selbstmordfantasien, um Transgressionen aller Tabus, die weit über provokative Verletzungen der kulturellen Normen hinausgehen, um die Unterminierung des Ich und des Über-Ich durch regressive destruktive Triebe. Erst in diesen Kapiteln, die am Ende des „MoE-Konvoluts“ wie zerstreute Mosaiksteinchen auf einem Trümmerfeld herumliegen, wird klar, dass die „Identitätskrisen in der Wiener Moderne“ für Musil im Rückblick nichts anderes bedeuten als einen allgemeinen Zusammenbruch, der unaufhaltsam zum Ersten Weltkrieg hinführt. 8. Sprachkritik und Sprachkrisen

Die in der Wiener Moderne vielmals thematisierte Sprachkritik und die Erfahrung der Sprachkrise, wie sie im „Chandos-Brief“ Hugo von Hofmannsthals zum Ausdruck kommen, können im Zusammenhang mit den in diesem Aufsatz behandelten „Identitätskrisen“ interpretiert werden. Obwohl Fritz Mauthners Sprachkritik und Sprachskepsis mit seiner deutschböhmischen frühen Sozialisierung und seiner pragerdeutschen Jugendzeit41 mehr als mit der Wiener Moderne zu tun haben, ist der Fall Mauthner hier wegen seiner paradigmatischen Bedeutung, seiner Analogie zum „Fall Chandos“ und des Vergleichs mit Karl Kraus erwähnenswert. Zwei Aspekte der mauthnerschen Sprachproblematik möchte ich hervorheben: 39 Ebd. 40 Dritter Teil: „Ins tausendjährige Reich (Die Verbrecher)“, in: ebd., 671ff. 41 Fritz Mauthner (1849–1923) verbrachte seine Kindheit in Horzitz (Hořice) im Nordosten Böhmens, 90 km von Prag entfernt, in der Nähe von Königgrätz. Von 1855 bis 1876 lebte er in Prag. Vgl. Jacques Le Rider, Fritz Mauthner. Scepticisme linguistique et modernité, Paris 2012.

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Mauthners Sprachgefühl wurde durch die ängstliche Verdrängung der „verborgenen Sprache der Juden“42 und durch die sprachliche Pluralität Böhmens und Prags geprägt, die für Mauthner als eine schwere Belastung seiner sprachlichen und kulturellen Identität erlebt wurde. In seinen „Erinnerungen“ schreibt Mauthner: „[Mein Vater] verachtete und bekämpfte unerbittlich jeden leisen Anklang an Kuchelböhmisch oder an Mauscheldeutsch und bemühte sich mit unzureichenden Mitteln, uns eine reine, übertrieben puristische hochdeutsche Sprache zu lehren.“43 Hier verbinden sich die soziale und sprachnationalistische Verachtung des Tschechischen und der von Sander L. Gilman analysierte „jüdische Selbsthass“, der jeden Rückfall in das „Mauscheln“ als beschämende Bloßlegung einer „unzulänglichen“ Assimilation an die deutsche Kultur durch einen angestrengten Purismus zu vermeiden sucht. Jede Vermischung der hochdeutschen Bildungssprache mit den Umgangssprachen Jiddisch oder Tschechisch wurde von Mauthners Vater als Makel zensiert. Später wurde diese obsessive Reinhaltung des Sprachgebrauchs in der Zeit, in der die Assimilation durch den neuen Antisemitismus in Abrede gestellt wurde, zu einem Symptom der deutschjüdischen Identitätskrise Fritz Mauthners. In seinen ab 1908 verfassten und erst 1918 veröffentlichten Jugenderinnerungen besteht darüber kein Zweifel: Der Jude, der in einer slawischen Gegend Österreichs geboren war, musste gewissermaßen zugleich Deutsch, Tschechisch und Hebräisch als die Sprachen seiner ‚Vorfahren‘ verehren. Und die Mischung ganz unähnlicher Sprachen im gemeinen Kuchelböhmisch oder in dem noch viel gemeineren Mauscheldeutsch mußte schon das Kind auf gewisse Sprachgesetze aufmerksam machen, auf Entlehnung und Kontamination, die in ihrer ganzen Bedeutung von der Sprachwissenschaft noch heute nicht völlig begriffen worden sind.44

Der Vergleich mit Karl Kraus liegt nahe. Es geht natürlich nicht darum, eine Kraus/Mauthner-Parallele zu ziehen oder die vielen Aspekte und Varianten der Sprachkritik auf die Problematik der jüdischen Identitätskrise zu reduzieren. Auffällig ist aber bei Karl Kraus die unerbittliche Kritik an den „mauschelnden“ Journalisten: Die Aufdeckung der korrupten „Mauschelsprache“ des modernen Zeit- und Zeitungsgeistes gilt in der Fackel als Beleg des gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls, wobei „mauscheln“ als metaphorische Bezeichnung für die zeitgenössische Verderbtheit der Sprachsitten verstanden werden könnte, wenn nicht ausgerechnet jüdische Journalisten und Journalistinnen die bevorzugten Zielscheiben

42 Vgl. Gilman, Sander L., Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, übers. Von Isabella König, Frankfurt am Main 1993, zu Fritz Mauthner: 131–140 (Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986). 43 Fritz Mauthner, Erinnerungen, I., Prager Jugendjahre, München 1918, 33. 44 Ebd., 32f.

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Kraus’ gewesen wären: Moritz Benedikt, Imre Békessy, Maximilian Harden, Alice Schalek etc. Obwohl dies von Karl Kraus-Verehrern und -Verehrerinnen höchst ungern vernommen wird, fehlt es nicht an guten Argumenten, Karl Kraus’ Sprachkampf im Zusammenhang mit den jüdischen Identitätskrisen in der Wiener Moderne zu interpretieren.45 Über vermeintliche Spuren einer Rezeption von Mauthners „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“46 in Hofmannsthals „Ein Brief“ 47 ist oft spekuliert worden. Historische Tatsache ist, dass Hofmannsthal im ersten Band von Mauthners sprachkritischer Trilogie geblättert und einige Stellen angestrichen hat und dass beide Autoren nach Erscheinen des ChandosBriefs einige bedeutende und aufschlussreiche Briefe ausgetauscht haben. Zwei Dimensionen der „Soziogenese“ der mauthnerschen Sprachkritik, die vorhin hervorgehoben wurden, die Reaktion auf die Sprachenpluralität, ja auf den Sprachenkrieg in Böhmen, und die Verdrängung der „verborgenen (Mauschel)Sprache der Juden“ kommen hier im Zusammenhang mit Hofmannsthals Chandos-Brief kaum in Betracht. Hofmannsthal lebt und schreibt in einer Welt, in der die Stellung der deutschen Sprache keine Frage ist. Er definiert sich als deutscher Schriftsteller; erst im Verlauf des Ersten Weltkriegs wird bei ihm die österreichische Identität zum existenziellen Problem. Die sprachliche Pluralität, in der sich sein kosmopolitisches Kultur- und Literaturverständnis bewegt, ist keine zentraleuropäische, sondern eine europäische überhaupt: Das klassische altgriechische und lateinische Kulturerbe, England, Frankreich, Italien und weitere Kulturräume sind für Hofmannsthal wichtig. Seine teilweise jüdische Herkunft, über die er sich nur selten und widerwillig äußerte, hat, scheint mir, mit seinem Sprachgefühl kaum zu tun. Eine andere Dimension der Sprachkritik ist Mauthners „Beiträgen“ und Hofmannsthals „Chandos-Brief“ gemeinsam, und zwar der an die englischsprachige Tradition anknüpfende, durch Nietzsches Sprachkritik potenzierte Empirismus und Sensualismus. Bacon, Locke und Hume sind für Mauthner entscheidende Inspiratoren der Sprachkritik. Philipp Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath, schreibt an Francis Bacon, später Lord Verulam und Viscount St. Albans. Nun aber ist bei Bacon, Locke und Hume die Analyse der illusorischen, durch die Sprache suggerierten Ich-Identität ein zentrales Thema der Sprachkritik; diese Tradition der englischen Philosophie führt übrigens auch zu Machs Diktum vom „unrettbaren Ich“ und Mauthner betrachtete sich selbst als einen Ernst-Mach-Jünger. Der 45 Die Diskussion über den Begriff „jüdischer Selbsthass“ bleibt dabei offen. Zweifelsohne ist die Anwendung dieses im berühmt-berüchtigten Essay Theodor Lessings von 1930 eingeführten Begriffs auf Karl Kraus ein Problem. Andererseits ist es wohl gerechtfertigt, im Falle Otto Weiningers von „jüdischem Selbsthass“ zu sprechen, und Karl Kraus hat sich in mancher Hinsicht mit dem Autor von „Geschlecht und Charakter“ identifiziert … 46 Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde. (Bd. 1: Sprache und Psychologie, 1901; Bd. 2: Zur Sprachwissenschaft, 1901; Bd. 3: Zur Grammatik und Logik, 1902), Stuttgart 1901–1902. 47 Der „Chandos-Brief“ erschien zuerst in Der Tag, Berlin, am 18. und 19. Oktober 1902.

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Jacques Le Rider

andere Impuls, der für Mauthner und noch mehr für Hofmannsthals „Chandos-Brief“ wichtig war, ist Nietzsches Sprach- und Metaphysikkritik. Aus folgendem Zitat aus Nietzsches „Götzen-Dämmerung“ (1888), hier unter vielen anderen möglichen Belegen in Nietzsches Büchern und nachgelassenen Fragmenten ausgewählt, lässt sich ermessen, wie eng verknüpft die Sprachkritik und die Dekonstruktion der diskursiven Ich-Identität sind: Und gar das Ich! Das ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wortspiel: das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen! […] Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener ,Empirie‘ getrieben, wir hatten die Welt daraufhin geschaffen als eine Ursachen-Welt, als eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt. […] Was Wunder, dass [der Mensch] später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt hatte . 48

Die Sprachkrise von Lord Chandos hat den Zusammenbruch seiner Ich-Identität und die Entstehung einer neuen Beziehung zum „Nicht-Ich“, zu den vom sprechenden Ich getrennten „Dingen“, zur Folge. Die Stunde der wahren, d. h. ungeworteten Empfindungen, in denen Subjekt und Objekt eins werden, ist für Lord Chandos gekommen. Die Metaphysik- und Sprachkritik ist die erste Phase dieser produktiven Krise: „Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ,Geist‘, ,Seele‘, oder ,Körper‘ nur auszusprechen. […] Die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“49 Dabei zerfallen die Ich-Identität und die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich in „Teile“ (bei Mach heißen sie „Elemente“): „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich.“50 Jetzt wird jede empirische Wahrnehmung zu einer „ichlosen“ Verschmelzung des empfindenden Körpers und der ihn umgebenden „Dinge“: Ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäss meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände […] kann für mich plötzlich […] ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.51

48 Friedrich Nietzsche, „Die vier grossen Irrthümer“, § 3, in: Götzen-Dämmerung, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München – Berlin 1980, Bd. 6, 9. 49 Hugo von Hofmannsthal, „Ein Brief“, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 7, Erzählungen, erfundene Gespräche und Briefe, 465. 50 Ebd., 466. 51 Ebd., 467.

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Die durch die Sprachkrise ausgelöste Dekonstruktion der begrifflichen Illusion „Ich“ wirkt sich befreiend, ja erlösend aus. Die neue, wortlose Körpersprache der Empfindungen, die Lord Chandos erlernt, ist „eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen“.52 Nachdem der „Vertrag“ zwischen Wort und Wirklichkeit in der Moderne unwiederbringlich gebrochen worden ist, lässt diese neue, wortlose Sprache der Empfindungen die Welt in ihrer „realen Gegenwart“ aufscheinen.53 „Identitätskrise“ ist tatsächlich ein Merkwort der Wiener Moderne um 1900. Die Vieldeutigkeit des Begriffs und die Vielfältigkeit der möglichen Fallstudien, von denen hier nur Beispiele gegeben wurden, machen die Studie der Identitätskrisen in der Wiener Moderne zu einer unendlichen Analyse. Sind in jeder modernen Konstellation um die Jahrhundertwende vergleichbare Erscheinungen zu beobachten? Wenn ja, sollte man von den spezifischen Faktoren und der besonderen Artikulierung solcher individuellen und kollektiven Identitätskrisen in der Wiener Moderne sprechen. Allgemein wäre dann das Phänomen der Identitätskrise in der Moderne; spezifisch für Wien blieben die mit der zentraleuropäischen Pluralität zusammenhängenden sozio-kulturellen Faktoren dieser Krisen und deren Artikulierung in besonderen narrativen Bauformen und theoretischen Interpretationen, die ihnen ein unverwechselbares air de famille einprägen.

52 Ebd., 467. „Die Sprache der stummen Dinge“ ist ein heimliches Zitat der letzten Zeile von Charles Baudelaires „Élévation“ (drittes Gedicht von „Spleen und Ideal“) in den „Blumen des Bösen“: „Le langage des fleurs et des choses muettes. “ 53 Vgl. George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, übers. von Jörg Trobitius, München 1990 (Real Presences, London – Chicago 1989).

Andreas Resch

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910 und die Partizipation von ­Juden, Tschechen und „Staatsfremden“ Eine quantitative Darstellung unter Einbeziehung zeitgenössischer sozioökonomischer Entwicklungen und aktueller Diskurse zur Wiener Kultur im sogenannten „Fin de Siècle“

Der vorliegende Beitrag bietet primär einen quantitativen Überblick über die Kulturwirtschaft in Wien um 1910 unter Berücksichtigung der ethnischen bzw. nationalen und religiösen Gliederung der Akteure und Akteurinnen. Darüber hinaus werden die Kulturbranchen im Rahmen charakteristischer sozioökonomischer Trends der Zeit verortet. Die Thematik ist verwandt, aber nicht identisch mit jener, die im Beitrag von Steven Beller in diesem Band behandelt wird. Von diesem unterscheidet sich der Text vor allem in dreierlei Hinsicht: Er ist nicht auf die Hochkultur fokussiert, sondern befasst sich mit allen Bereichen der Kulturwirtschaft, die Aussagen basieren schwerpunktmäßig auf quantitativen Befunden, kaum auf qualitativen Bewertungen und im Fokus der Studie stehen hier nicht vor allem die Juden und Jüdinnen in Wien, sondern es werden sämtliche große Bevölkerungsgruppen, definiert nach Sprache, Religion etc. einbezogen. Die Grundlagen für die quantifizierende Zugangsweise scheinen auf den ersten Blick trivial zu sein: Mittels der verfügbaren Volkszählungsdaten werden Klassen von Trägern beruflicher, religiöser und sprachlicher Merkmale eruiert und gegebenenfalls statistische Zusammenhänge zwischen den erhobenen Größen untersucht. Bei näherer Betrachtung sind die von der amtlichen Statistik vorgegebenen Kategorien jedoch zu hinterfragen und zu differenzieren, um den komplexen historischen Realitäten besser gerecht werden zu können. Diesen Vorüberlegungen gemäß wird im Folgenden zuerst auf gängige Konzepte zum Thema ­„Kreativwirtschaft“ sowie auf geschichts- und sozialwissenschaftliche Diskurse zu Kultur, ­Politik, Ethnien, Religionsgruppen und sozialen Entwicklungen in Wien um 1900 eingegangen. Anschließend werden quantitative Befunde zur soziodemografischen Lage in Wien und zur Wiener Kulturwirtschaft sowie dem Stellenwert von Personen bzw. Gruppen, die nicht zu den in Wien geborenen Katholiken mit deutscher Umgangssprache gehörten, präsentiert. Diese Befunde werden im Lichte der zuvor dargelegten Diskurse diskutiert, wodurch die gängigen Geschichtserzählungen zur Fin de Siècle-Kultur ihrerseits in den Rahmen der soziodemografischen Daten gestellt werden.

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Andreas Resch

1. Diskursstränge zur Kulturwirtschaft in Wien vor dem Ersten Weltkrieg

Seit dem späten 20. Jahrhundert hat sich im Zusammenhang mit dem Niedergang alter städtischer Industrien und der Suche nach neuen, vielversprechenden Schwerpunkten urbaner Ökonomien ein lebhaftes Interesse für den Bereich der Kulturwirtschaft, Kreativwirtschaft bzw. Creative Industries (CI) entwickelt.1 Darunter werden Wirtschaftsbereiche subsumiert, die wesentlich auf der Hervorbringung von immateriellen Inhalten, also auf kreativer „Kopf­ arbeit“ beruhen. Im Zentrum der Wertschöpfung im Rahmen der CI stehen Texte, Zeichenkombinationen bzw. Designs, die den Wert der darauf basierenden Produktion wesentlich beeinflussen, seien es Realisierungen als einmalige „Werke“ (Kunst, Architektur), als Aufführungen (Musik und darstellende Künste) oder als massenhafte Reproduktion und Diffusion (massenmediale Branchen). Der amerikanische Autor Richard Florida hat mit seinem Werk „The Rise of the Creative Class“2 so etwas wie die „Bibel“ dieser Strömung verfasst, in der er überaus optimistische Erwartungen an derartige Branchen ausmalt. Allgemein akzeptiert ist, dass Städte wegen der räumlichen Ballung von Talenten, Kommunikations- und Verwertungsmöglichkeiten als förderliches Umfeld für die Kreativwirtschaft gelten. Diese Branchen erweisen sich überdies als ideal für den urbanen Bereich, da sie nicht primär auf stoffliche Wertschöpfung setzen, wodurch Umweltprobleme, die von traditioneller, materieller Produktion in verdichteten Siedlungsgebieten ausgehen, vermieden werden. Somit erscheint es naheliegend, die entsprechenden ökonomischen Aktivitäten nicht nur in gegenwärtigen Stadtökonomien, sondern auch in solchen der Hochindustrialisierungsphase um 1900 zu untersuchen. Die optimistischen Konzepte kreativwirtschaftlicher Entwicklungen positionieren sich bewusst im Gegensatz zum kritischen Diskursstrang, der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit dem Terminus der „Kulturindustrie“3 begründet wurde. Die Repräsentanten der Frankfurter Schule warnten vor den bedenklichen gesellschaftlichen Konsequenzen der Kommerzialisierung (massenmedialer) Kulturproduktion. Dem hielt schon Walter Benjamin die dialektische Logik von Kunstmärkten entgegen, die nicht zuletzt eine Wertschätzung für „widerständige“, unangepasste Werke generieren – eine paradoxe Logik, die insbesondere auch von avantgardistischen Künstlern und Künstlerinnen aufgegriffen wurde, die die Stärke 1

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Dieser Artikel wurde im Jahr 2012 fertiggestellt. Die drei Termini werden im Folgenden synonym verwendet, obwohl sich auch Bedeutungs­ differenzierungen argumentieren ließen. Vgl. etwa Andreas Resch, Anmerkungen zur langfristigen Entwicklung der „Creative Industries“ in Wien, in: Peter Mayerhofer/Philipp Peltz/Andreas Resch, „Creative Industries“ in Wien. Dynamik, Arbeitsplätze, Akteure (Kreativwirtschaft in Wien, Band 1), Wien – Berlin 2008, 9–33, hier: 9–14. Richard Florida, The Rise of the Creative Class, New York 2002. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1998.

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ihres kulturellen Tuns gerade aus dem Spiel mit Marktmechanismen und dem traditionellen Begriff des (vermarktbaren) Kunstwerks beziehen.4 Im Rahmen zahlreicher seit den 1990er-Jahren vorgelegter Studien hat sich ein Katalog von Tätigkeitsbereichen herausgebildet, die man konventioneller Weise den Creative Industries zurechnet. Um den vorliegenden Beitrag konzeptionell vergleichbar mit anderen Wien-Studien zu halten, sei als Vorgabe dessen, was in die weiteren Ausführungen einbezogen wird, die Definition von CI herangezogen, wie sie in der umfassenden Dokumentation „Untersuchung des ökonomischen Potenzials der ‚Creative Industries‘ in Wien“ verwendet wurde. Diese umfasst zehn Sektoren, nämlich5 Architektur, Audiovisueller Bereich, Bildende Kunst/Kunstmarkt, Darstellende und Unterhaltungskunst, Grafik/Mode/Design, Literatur/Verlagswesen/Printmedien, Musikwirtschaft, Museen/Bibliotheken, Software/Multimedia/Spiele/Internet und Werbung. Dabei werden die Aktivitäten zusätzlich untergliedert in Manufacturing & Reproduction, Content Origination und Exchange. Unter dem ersten dieser drei Bereiche werden die Erzeugung spezifischer Inputgüter und vor allem die physische (Re-)Produktion der Werke subsumiert. Mit Content Origination ist die eigentliche Kreation von Inhalten (Designs, Texte, Kompositionen etc.) gemeint, Exchange umfasst die Strukturen von Vertrieb und kommerzieller Verwertung. In einer früheren Publikation6 wurde bereits eine detaillierte Dokumentation des Ausmaßes der so definierten Creative Industries in den Stichjahren 1910, 1951 und 2001 präsentiert, für deren Erstellung neben Volkszählungsdaten auch andere Quellen herangezogen wurden. Für die Angaben zur Wiener Kulturwirtschaft im vorliegenden Text werden hingegen allein Daten aus den Volkszählungen 1890, 1900 und 1910 verwendet, damit diese mit anderen Auswertungen der Zensuserhebungen in Beziehung gesetzt werden können. Die ausgewiesenen Gesamtzahlen für 1910 weichen deshalb geringfügig von den früher publizierten Werten ab – vor allem müssen in den quantitativen Angaben infolge der Beschränkung auf die Volkszählungsdaten der damals noch sehr kleine audiovisuelle Bereich (erste Anfänge der Wiener Filmwirtschaft ab den 1890er-Jahren) und die (ebenfalls noch vergleichsweise kleine) Werbewirtschaft weggelassen werden. Der Bereich Software/Multimedia/Spiele/Internet hat in seiner modernen Form noch nicht bestanden, wenngleich es natürlich traditionelle Formen der Produktion und des Handels mit Spielen schon gab – man denke etwa an die bekannte Spielkartenmarke Piatnik. 4

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Ingo Andruchowitz, Über den gesellschaftlichen Stellenwert von Kunst und Kultur. Zur Aktualität der kunst- und kulturphilosophischen Diskurse in der Zwischenkriegszeit, Working Paper Series: Creative Industries in Vienna: Development, Dynamics and Potentials, Working Paper No. 4, Wien 2011, http://epub.wu.ac.at/3456/1/creativeindustries4andruchowitz.pdf (zuletzt abgerufen am 10.02.2016). Veronika Ratzenböck u.a., Untersuchung des ökonomischen Potentials der „Creative Industries“ in Wien, Studie von Kulturdokumentation, Mediacult und WIFO, Wien 2004. Resch, Anmerkungen, 14–33.

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Die Anwendung des Konzeptes der Creative Industries auf Wien vor dem Ersten Weltkrieg bietet sich nicht zuletzt an, weil diese Ära als Blütezeit kultureller Entwicklungen in der Donaumetropole gilt. Obwohl sich damals – im Gegensatz zum Umfeld der CI im späten 20. Jahrhundert – auch die modernen Industrien in einem dynamischen Wachstumsprozess befanden, erreichte der Kulturbereich einen bedeutsamen ökonomischen Stellenwert und nicht zuletzt wurde er auch zur Identitätsbildung der Stadt herangezogen. Zahlreiche Studien liegen dazu vor, wie in Wien bewusst das Image als Kulturstadt, insbesondere als Musikstadt, gepflegt wurde, damit Politik gemacht wurde und nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen verbunden waren.7 Das Konzept der Creative Industries inkludiert aber neben den konventionellen Sphären der „Hochkultur“ auch sämtliche Bereiche der damals entstehenden Massenkultur, die kommerziell genutzten Formen traditioneller Volkskultur sowie weite Bereiche kunstgewerblicher Erzeugung. Damit ist der Ansatz für eine breit angelegte Betrachtung geeignet. Den institutionellen Hintergrund für die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Strömungen um 1900 prägten die „liberalen Reformen“ der neoabsolutistischen und liberalen Ära sowie die Hinwendung zu konservativer und schließlich populistisch antiliberaler und antisemitischer Politik.8 Zu den wesentlichen rechtlichen Neuerungen gehörten etwa die Abschaffung feudaler Institutionen im Jahr 1848, die Zollunion zwischen Österreich und Ungarn 1851 und die liberale Gewerbereform von 1859. Die Konstitution aus dem Jahr 1867 im Zusammenhang mit dem „Ausgleich“ brachte schließlich die gänzliche Emanzipation und rechtliche Gleichstellung der Juden und Jüdinnen und das Reichsvolksschulgesetz 1869 schuf liberalere Grundlagen für den Bereich der elementaren Bildung. Auf den lebhaften wirtschaftlichen Aufschwung um 1870 (Gründerzeit) folgte der Börsenkrach von 1873, der in eine lang anhaltende wirtschaftliche Depression führte. Nachdem sich die „humanistischen Versprechungen der Liberalismus“9 augenscheinlich nicht erfüllt zu haben schienen, kam es in Cisleithanien zu einer konservativen Regierung unter Eduard Graf Taaffe (1879–1893), die durch das Aufkommen der Massenparteien (Christlichsoziale, Sozialdemokraten, nationale Strömungen) und eine populistische Politik im Reichsrat abgelöst wurde, der in einem zunehmenden Ausmaß durch Obstruktion gelähmt war. Als Reaktion auf die sozialen Probleme der Zeit bildeten sich auch neue Formen gesellschaftlicher Interessenvertretung, wie z. B. Gewerkschaften, heraus und es kam zu ersten So7 8

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Als instruktive neuere Studie siehe etwa Martina Nußbaumer, Musikstadt Wien, Freiburg im Breisgau – Berlin – Wien 2007. Vgl. etwa Peter Berger, Kurze Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, Wien 2007, 8–51; Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, Wien 1997, 261–573. Wolfgang Maderthaner, Kultur Macht Geschichte. Studien zur Wiener Stadtkultur im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2005, 28.

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zialgesetzen (Gewerbeinspektorate 1883, Unfallversicherung 1887, Krankenversicherung 1889), die jedoch oft Ausnahmen für den (klein-)gewerblichen Bereich vorsahen und so – ähnlich wie die Doppelbesteuerung von Aktiengesellschaften – zu Kostennachteilen für moderne Großunternehmen und den Eigenkapitalmarkt im Wege der Börse führten.10 In Wien gewann die christlichsoziale Lueger-Bewegung an Gewicht, was schließlich darin kulminierte, dass ihr Spitzenrepräsentant von 1897 bis 1910 das Amt des Bürgermeisters innehatte. Zentrale Elemente der luegerschen Politik waren Antiliberalismus, Antisemitismus und eine feindselige Haltung gegenüber den Tschechen in Wien, das Eintreten für ein „christliches“, „deutsches“ Wien, zugleich jedoch eine pragmatische Praxis der Verwaltung und Modernisierung der rasch wachsenden Stadt.11 Damit sprach man insbesondere das durch Zuwanderung, erhöhte (soziale) Mobilität und soziale Abstiegsängste beunruhigte Kleinbürgertum an (Modernisierungsverlierer), aber auch Kreise bis weit hinein ins wohl etablierte Bürgertum. Trotz der in vielerlei Hinsicht „antimodernen“ Politik vermochten sich in Wien ab den 1890er-Jahren innovative Großindustrien (Elektrogeräte, Maschinenbau, Nahrungsmittel etc.) und moderne Dienstleistungen (Finanzsektor etc.) durchaus dynamisch zu entwickeln.12 Die Migration nach Wien war vom gesamtgesellschaftlichen Strukturwandel im Donauraum im Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung und den rechtlichen Reformen mitbestimmt.13 Der Adel verlor im Wesentlichen seine Privilegien, behielt jedoch Wohlstand und Status bei, eine neue Industriellen- und Bankierselite bildete sich heraus, die Landbevölkerung und die Juden erlangten uneingeschränkte Mobilität. Ab den 1870er-Jahren gewann eine neue Mittelklasse von Angestellten und Freiberuflern in Dienstleistungsberufen, der Industrie und der Bürokratie an Gewicht, gegliedert in obere Mittelklasse (Banki10 Vgl. dazu Wolfgang Maderthaner, Die Arbeiterbewegung in Österreich und Ungarn bis 1914, Wien 1986; Emmerich Tálos, Staatliche Sozialpolitik in Österreich. Rekonstruktion und Analyse, Wien 1981; Fritz Klenner, Die österreichischen Gewerkschaften, Erster Band, Wien 1951; Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien – München 2001; Andreas Resch, Dieter Stiefel, Vienna: The Eventful History of a Financial Center, in: Günter Bischof u.a. (Hrsg.), Global Austria. Austria’s Place in Europe and the World (Contemporary Austrian Studies, Vol. 20), New Orleans – Innsbruck 2011, 117–146. 11 Zu Wien siehe etwa John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago – London 1981; Ders., Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897–1918, Chicago – London 1995; Ders., Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie, Wien – Köln – Weimar 2010. 12 Grundlegend dazu: Renate Banik-Schweitzer/Gerhard Meißl, Industriestadt Wien. Die Durchsetzung der industriellen Marktproduktion in der Habsburgerresidenz, Wien 1983; Günther Chaloupek/Peter Eigner/Michael Wagner, Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938, 2 Bde., Wien 1991. 13 Zum Folgenden siehe Ivan T. Berend, History Derailed. Central and Eastern Europe in the long nineteenth century, Berkeley – Los Angeles – London 2003, 181–234.

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ers, Rechtsanwälte, Journalisten, erfolgreiche Künstler etc.) und eine rasch wachsende untere Mittelklasse in Bürokratie und Gewerbe. Parallel dazu entwickelte sich auch eine qualifizierte Arbeiterschaft in modernen Industriebranchen. Die Agrarbevölkerung machte 1910 in Oberund Niederösterreich sowie Böhmen, Mähren und Schlesien nur noch ungefähr 35 Prozent aus. Personen, die aus dem Agrarbereich abwanderten, wurden überwiegend Arbeiter im Sekundärsektor. Dabei traten vielerlei Formen des Wandels und der Mobilität auf, von Reorientierung im regionalen Umfeld über saisonale Beschäftigung anderwärts (z. B. als Bauarbeiter) bis zur dauerhaften Migration in die urbanen Zentren. Hier nahm der Anteil an Jobs in modernen Großindustrien erst im späten 19. Jahrhundert deutlich zu, lange überwogen die Beschäftigungen in kleinbetrieblichen Formen, oft integriert in den Arbeitgeberhaushalt. Der Aufstieg in die modernen Dienstleistungsbereiche blieb aufgrund der ländlichen Sozialisation, niedriger Bildungsniveaus14 und unzureichender Vertrautheit mit dem städtischen Leben tendenziell verwehrt. Die jüdische Bevölkerung, die bis 1848 bzw. 1867 besonders krass diskriminiert worden war, profitierte am unmittelbarsten von den liberalen Reformen. Angesichts der historischen Ausgrenzung aus den traditionellen Beschäftigungsbereichen in Landwirtschaft und Gewerbe hatten sich die Juden überwiegend auf Berufe im Tertiärsektor wie Handel und Finanzdienstleistungen spezialisiert. Sie hatten traditionell in (Klein-)Städten gelebt und waren angesichts ihrer prekären Betätigungsmöglichkeiten auch auf (Aus-)Bildung für Tertiärberufe orientiert. Sie vermochten die neuen Chancen im Geschäfts- und Kulturleben daher überdurchschnittlich gut zu nutzen. Ungarn bot assimilationsbereiten Juden im Zuge der Modernisierungsbestrebungen ab den 1870er-Jahren umfangreiche Betätigungsmöglichkeiten und auch in der österreichischen Reichshälfte eröffneten sich vielfältige Lebenschancen im Rahmen der modernen Dienstleistungen und Industrien. Vor dem Ersten Weltkrieg bildete dann oft schon die zweite, bereits in Wien geborene Generation dieser erfolgreichen Zuwanderer einen wesentlichen Teil der bürgerlichen Elite in Wirtschaft und Kultur. All diese hier nur knapp skizzierten Entwicklungen bilden die Referenzfolie für den vorherrschenden Diskurs zur kulturellen Blüte Wiens in der Ära vor dem Ersten Weltkrieg, der nicht zuletzt vom Werk des US-amerikanischen Kulturhistorikers Carl E. Schorske, „Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle“,15 geprägt wurde. Darin schildert der Autor in mehreren Beiträgen die Donaumetropole als Zentrum einer spezifischen, widersprüchlichen Moderne, die Höchstleistungen in Bereichen wie Literatur, Musik, Psychologie, Malerei etc. 14 Im Jahr 1910 lag die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs in Österreich bei etwa sechs Jahren, in Ungarn bei rund fünf Jahren, in Deutschland hingegen bei acht Jahren. Vgl. Max-Stephan Schulze, Origins of Catch-up Failure: Comparative Productivity Growth in the Habsburg Empire, 1870–1910, in: European Review of Economic History 11 (2007), 189–218. 15 Im englischsprachigen Original: Carl E. Schorske, Fin-de-siècle Vienna: Politics and Culture, New York 1980.

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hervorbrachte, nachdem sich eine bürgerliche Elite nach enttäuschten Hoffnungen im Zusammenhang mit Aufklärung und Liberalismus im luegerschen Wien zunehmend aus dem Bereich der Politik in kulturell-ästhetische Aktivitäten zurückgezogen habe. Das Fin de Siècle wird dabei als kulturelle Blütephase, zugleich aber auch als Ära des Kulturpessimismus, der Dekadenz und Endzeitstimmung charakterisiert.16 Die hochkulturellen Leistungen um 1900 werden somit aus den widersprüchlichen, ja bedrohlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für das (liberale) Bürgertum jener Zeit erklärt. Steven Beller hat diese Sichtweise ergänzt und erweitert, indem er insbesondere auf den Beitrag der Juden in Wien zu den kulturellen Leistungen hinwies. In seinem Buch „Wien und die Juden 1867–1938“17 sowie in zahlreichen weiteren Artikeln – z. B. auch in diesem Band – arbeitet er heraus, dass die in Wien lebenden Juden auf Gebieten wie Psychologie, Philosophie, politisches Denken, Nationalökonomie, Rechtslehre, Literatur, Theater und Operette, Musik, Kunst und Architektur einen im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung weit überproportionalen Beitrag zu den Entwicklungen geleistet haben. Breit rezipierte Werke und überaus erfolgreiche Ausstellungen zu „Wien um 1900“ prägten in den 1980er-Jahren das Bild vom hochkulturell-glanzvollen und zugleich dekadenten Wien des Fin de Siècle und man stilisierte Wien zu einem Gedächtnisort dieser Leistungen.18 Diese Perspektive – und ihre oft einseitig für touristische Zwecke vorgenommene Zuspitzung – provozierte jedoch auch pointierte Gegenpositionen und erweiterte Sichtweisen. Einerseits forderte man, die Termini und Kategorien zur Beschreibung der Rolle von religiösen, ethnischen bzw. nationalen und sozialen Gruppen in der kulturellen Gesamtentwicklung stärker zu differenzieren und zu reflektieren, andererseits wurden wesentliche Kontrapunkte und Erweiterungen gegen die einseitige Konzentration auf die bürgerlich-hochkulturelle Sphäre vorgebracht. 16 Im Sammelband von Schorske sind Essays zu Schnitzler und Hofmannsthal, der Ringstraße, Schönerer, Lueger und Herzl, Freuds Traumdeutung, Gustav Klimt und die Malerei, Hofmannsthal und die Rolle der Literatur sowie Kokoschka und Schönberg enthalten. Bereits im ersten Essay schreibt Schorske, dass die Liberalen ab den 1890er Jahren Niederlagen erlitten, was „tiefe psychologische Rückwirkungen“ gezeigt habe. Die Welt der Kunst wurde zur Zuflucht „vor der unfreundlichen Welt einer zunehmend bedrohlichen politischen Wirklichkeit […] Das Leben der Kunst wurde ein Surrogat für das Handeln.“ Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt am Main 1982, 6 und 8. 17 Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938, Wien – Köln – Weimar 1993. 18 Vgl. etwa Heidemarie Uhl, „Wien um 1900“ – das making of eines Gedächtnisortes, in: Monika Sommer/Marcus Gräser/Ursula Prutsch (Hrsg.), Imaging Vienna. Innensichten, Außensichten, Stadterzählungen, Wien 2006, 47–70; Steven Beller (Hrsg.), Rethinking Vienna 1900, New York – Oxford 2001; Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp (Hrsg.), Die Wiener Jahrhundertwende, Wien – Köln – Graz 1993; Peter Berner/Emil Brix/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Die Wiener Moderne, Wien 1986.

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Gegen die Rede von Wien um 1900 als alles überragendes, jüdisch dominiertes Zentrum der Moderne wendet sich zum Beispiel der Kunsthistoriker Ernest H. Gombrich gleich in zweierlei Hinsicht. Er gesteht zu, dass Wien zweifellos „eines der Kulturzentren zur Jahrhundertwende war“, aber die „These, daß der Großteil des intellektuellen Lebens dieses unglücklichen Jahrhunderts in Wien erfunden wurde“ sieht er als „indiskutabel“. „Zum anderen“ hält er es für einen (aus jüdischer Sicht) „größenwahnsinnigen Anspruch, daß die Wiener Kultur je eine jüdische Kultur war“.19 Er weist zur Erläuterung dieses Standpunktes auf die vielfältige Identität von Bevölkerungsgruppen mit jüdischer Religion oder jüdischen Vorfahren hin. Die Angehörigen des Bürgertums hätten sich als Österreicher gefühlt, die sich am Bildungsideal des „Freigeists“ Goethe orientierten, „der nichts für organisierte Religion übrig hatte“.20 Des Weiteren befindet er, es zeuge von totaler Unkenntnis, von jüdischer Kultur zu sprechen und dabei keinen Unterschied zwischen Ostjuden […] und den assimilierten Juden Deutschlands und Österreichs zu machen. In Wahrheit verachteten und verspotteten die altansäßigen Juden die Ostjuden grausam, weil ihnen die Traditionen der abendländischen Bildung fremd blieben.21

Zur Terminologie, um diese komplexe Gemengelage von Identitäten und Gruppierungen zu bezeichnen,22 merkt er an: „Wir haben kein Wort, das alle Menschen jüdischer Herkunft bezeichnet und daher können wir nur eine im Grunde rassistische Terminologie verwenden.“ In diesem Sinne kritisiert Gombrich auch – durchaus wohlmeinende – Ansätze, in die Gesamtmenge der Juden alle Personen mit jüdischen Vorfahren zu einzurechnen, um so deren großen Stellenwert unter den Künstlern und Mäzenen herauszuarbeiten. 23 Der Han19 Ernest H. Gombrich, Jüdische Identität und jüdisches Schicksal, Wien 1997, 51. 20 Ebd., 42. 21 Ebd., 44. Für detaillierte Angaben zur Differenzierung zwischen Juden aus Böhmen, Mähren, Ungarn und Galizien sowie zwischen verschiedenen Zuwanderungswellen siehe Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867–1914. Assimilation und Identität, Wien – Köln – Graz 1989, 43–54. 22 Zu den Differenzen zwischen Orthodoxen und Liberalen siehe etwa Wolfgang Häusler, Das österreichische Judentum zwischen Beharrung und Fortschritt, in: Die Konfessionen (Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IV), Wien 1985, 633–669, hier: 647ff. 23 Das Kriterium, Vorfahren einer bestimmten Ethnie oder Religion zu haben, erweist sich als wenig trennscharfes Instrument, um danach einheitliche Gruppen zu konstruieren. Bekanntlich hat jeder Mensch im Rahmen von zehn Generationen 1024 direkte Vorfahren – da ist es statistisch unwahrscheinlich, nur Personen der gleichen Religions- und Sprachgruppe vorzufinden. Somit ist jede Person angesichts ihrer Ahnen mit hoher Wahrscheinlichkeit so ziemlich allen derartigen Gruppen zuordenbar. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man von einer bestehenden Population aus weiterdenkt. In Wien lebten zum Beispiel im Jahr 1910 rund 175.000 religiös organisierte Juden und Jüdinnen. Gut 14 Prozent der Eheschließungen wurden in diesem Jahr mit nichtjüdischen

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na-Arendt-Schüler Leon Botstein warnt diesbezüglich: „Auch wenn viele Geschichtsschreiber die maximale – das heißt rassistische – Definition annehmen, um ein positives (im philosophischen und ethischen Sinne) Ziel24 zu erreichen, bleibt die Methode eine gefährliche.“25 Man mag diese Vorbehalte ihrerseits als zu apodiktisch empfinden, jedenfalls machen sie klar, dass man stets offenlegen muss, welche Zuordnungskriterien verwendet werden, wenn man über „die Juden“ oder auch eine andere religiöse oder ethnische Gruppe spricht. Gombrich verweist überdies auf die Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Zuschreibungen durch eine antisemitische Umwelt, die bis zum Terror des Holocaust führten. Im späten 19. Jahrhundert verlor die an aufgeklärter deutscher Kultur und Säkularisierung orientierte Assimilationsstrategie, die in den 1870er-Jahren überaus attraktiv gewesen war, 26 zweifellos an Glaubwürdigkeit. Dazu trugen der erneut zunehmende Stellenwert der Religion in der Politik durch die Stärke der Christlichsozialen sowie der bedrohlicher werdende Antisemitismus und Deutschnationalismus bei; aber auch eine Welle der Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus dem Osten der Habsburgermonarchie, denen die aufgeklärten Haltungen des bereits anwesenden liberalen jüdischen Bürgertums oft fremd blieben. Autoren wie Michael Pollak deuten – gleichsam als Post-Schorskeaner – Engagement von Personen des bürgerlich-jüdischen Establishments in der Sozialdemokratie als Versuch, jenseits der orthodoxen liberalen Strömungen aufgeklärte, säkulare Strategien beizubehalten, die Hinwendung zum Zionismus als direkte Reaktion auf den allgegenwärtigen neuen Nationalismus und die Neigung zu wissenschaftlichen oder ästhetischen Aktivitäten (Psychoanalyse, Literaturgruppe „Jung Wien“ etc.) als Bestrebungen in elitären bourgeois-wissenschaftsaffiPersonen vollzogen. (Rozenblit, Die Juden Wiens, 133ff.; Ivar Oxaal, The Jews of Young Hitler’s Vienna: Historical and Sociological Aspects, in: Ivar Oxaal/Michael Pollak/Gerhard Botz [Hrsg.], Jews, Antisemitism and Culture in Vienna, London – New York 1987, 11–38, bes.: 29–33) Wenn man annimmt, dass in den folgenden Generationen aus dem je verbleibenden inneren Kreis „rein jüdischer“ Ehen weiterhin zirka 15 Prozent Nicht-Juden und -Jüdinnen heirateten, in den Nachfolgegenerationen der „gemischten“ Ehen hingegen 50 Prozent nichtjüdische Partner ehelichten, dann würde innerhalb weniger Generationen der Großteil der Bevölkerung gemäß dem Kriterium „jüdische Herkunft“ als Juden gelten. Nach ebendieser Logik würden dieselben Personen aber zugleich den „Deutschen“, Tschechen, Katholiken etc. zuordenbar sein. Dies illustriert, wie problematisch ein derartiges Konzept für die Definition eindeutiger Gruppenzuordnungen ist. Daher muss bei Aussagen zum Stellenwert von ethnischen bzw. religiösen Gruppen stets mitbedacht und ausgewiesen werden, welches Konstrukt den Zahlenangaben und Deutungen zugrunde gelegt wird. Ist zum Beispiel die Rede von den Juden, so ist zu deklarieren, ob aktuelle Mitglieder der Kultusgemeinde, unmittelbar diesem engsten Bereich von Kultur und Sozialisation Entstammende oder im weitesten Sinne Personen mit jüdischen Vorfahren gemeint sind. 24 Gemeint ist eine philosemitische Grundhaltung. 25 Leon Botstein, Judentum und Modernität, Wien – Köln 1991, 16. 26 Vgl. auch ebd.

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nen Milieus, auf individueller Ebene die gefährdete Identität in einer feindlicher werdenden Umgebung zu stabilisieren. In gleicher Perspektive zeichnet Peter Melichar die Bereitschaft von Personen aus liberalen bürgerlichen Familien, sich in kultureller Avantgarde und Sozialdemokratie zu engagieren, als historische Entwicklung, in der sich nach dem „autoritären Regime des Neoabsolutismus“ die 1848er-Revolution „sublimiert als Kulturrevolution“ durchgesetzt habe. Dabei seien „naturgemäß“ vielerlei Allianzen zwischen Sozialdemokratie und kultureller Avantgarde eingegangen worden. Wichtige Substrate des theoretischen Fundaments entstammten dem bürgerlich-liberalen Umfeld […]. Es entstand ein […] Netz von Bündnissen und vielschichtigen Kommunikationssystemen: Knotenpunkte […] waren Publikationsorgane, Volkshochschulen, Bildungsvereine, Institutionen wie die ,Kunststelle‘ und verschiedenste Gruppen, vom Pernerstorfer-Kreis mit seiner schwärmerischen Schiller- und Wagnerverehrung am Anfang bis zum ,Wiener Kreis‘ mit seiner Vorstellung von einer ,Einheitswissenschaft‘ in der Zwischenkriegszeit.

Genau in diesem Kontext verortet zum Beispiel auch Ernst Hanisch die Entwicklung von Otto Bauer zur Führungsfigur des Austromarxismus.27 Zu den Feindbildern jener politischen Strömungen, die um 1900 für ein deutsches, christliches Wien eintraten, gehörten neben den Juden und Jüdinnen insbesondere auch die Tschechen und Tschechinnen.28 Diese wiesen (ursprünglich) als einigendes Merkmal eine andere Sprache als die Mehrheitsbevölkerung auf. Sie waren in ihren Herkunftsgebieten nicht wie die Juden im Laufe der vorangegangenen Jahrhunderte in Landwirtschaft und Gewerbe diskriminiert worden, kamen daher überwiegend aus diesen Bereichen. Für viele (z. B. Arbeiter, Dienstbotinnen) war Wien nur eine vorübergehende Station im Lebensverlauf. Dieses Migrationsmuster unterschied sich deutlich von jenem der Juden, die überwiegend aus (Klein-) Städten und „in Form ganzer Familien“ zuwanderten sowie auf einen dauerhaften Aufenthalt orientiert waren,29 was andere Bedingungen für Erziehung und (Aus-)Bildung der Kinder, Berufswahl etc. zur Folge hatte. Personen mit slawischer Sprache waren – insbesondere, wenn sie einen dauerhaften Aufenthalt anstrebten – einem starken Assimilationsdruck unterworfen. Bekanntlich musste ab 1900 jeder Tscheche, der sich um das Wiener Heimatrecht bewarb, beeiden, dass er „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht halten 27 Peter Melichar, Hort der Vernunft. Bemerkungen zu Wissenschaft und Kultur im Austromarxismus, in: Helene Maimann (Hrsg.), Die ersten 100 Jahre, Österreichische Sozialdemokratie 1888–1988, Wien – München 1988, 134–137, hier: 134. Vgl. dazu auch Ernst Hanisch, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien – Köln – Weimar 2011, 40–57. 28 Zum Folgenden vgl. etwa die beiden Standardwerke von Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, Wien 1972, und Dies., Böhmisches Wien, Wien – München 1985. 29 Rozenblit, Die Juden Wiens, 25f.

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wolle“,30 was nicht zuletzt bedeutete, sich des Deutschen als Umgangssprache zu bedienen. Die Lebensrealität in Wien gestaltete sich nach Branchen und Geschlechterrollen auf differenzierte Weise. Die Spannweite reichte vom „Ziegelböhm“, dessen katastrophale Arbeitsund Lebensbedingungen Victor Adler in einer berühmten Reportage aufgezeigt hatte,31 über extrem abhängig in deutschsprachigen Haushalten mitlebende Dienstbotinnen und prekär selbstständige Kleinproduzenten von Bekleidung und Schuhen bis hin zu qualifizierten Arbeitern in den modernen Industrien sowie Angehörigen der bürgerlichen Sozialklassen und des böhmischen Adels. Angesichts dieser vielfältigen sozialen Profile waren Tschechen und Tschechinnen in sämtlichen Bereichen von der Hochkultur bis hin zu plebejischen Formen gemeinsamer Verausgabung in den Vorstädten Wiens vertreten. Als Orte der kulturellen Interaktion dienten oft Gasthäuser.32 Einen hohen Stellenwert erlangten auch Organisationsformen in Vereinen (Gesangsvereine, Geselligkeitsvereine, Komenský-Schulverein ab 1872, Akademischer Verein – Akademický spolek ab 1868, tschecho-slawischer Arbeiterverein ab 1868 etc.) sowie aufkommende nationale Parteien im Reichsrat ab den 1890er-Jahren (Alttschechen und Jung­ tschechen). Um die Jahrhundertwende wurden mehrere Genossenschaften aktiv, mit der Zielsetzung, eigene „Tschechische Häuser“ als Zentren der Kultur- und Vereinsaktivitäten zu errichten. 1896 gelang der Erwerb eines Hauses in der Turnergasse 9 (15. Bezirk), 1910 des „Hotel Post“ am Fleischmarkt (1. Bezirk) und 1902 kauften die tschechischen Sozialdemokraten ein Haus am Margarethenplatz (5.  Bezirk), wo das Parteisekretariat sowie die Redaktion und Druckerei für das Parteiblatt eingerichtet wurden.33 Alle diese Häuser boten mehreren tschechischen Vereinen eine Heimstatt. Es liegt nahe, dass die zahlreiche Zuwanderung tschechischer Bevölkerung nach Wien und ihre hier entfaltete kulturelle Praxis auch wirtschaftlich relevante Unternehmen und Aktivitäten, wie ein vielfältiges Presse- und Verlagswesen, musikalische Darbietungen, Partizipation an den Bereichen der Hochkultur und Wissenschaften, aber auch Vergnügungsstätten an der Peripherie, ergaben. Ebenso wie bei den Juden stehen einer eindimensionalen Quantifizierung „der Tschechen“ differenzierte soziale Realitäten sowie vielschichtige Selbst- und Fremdkonzepte entgegen. 30 Glettler, Böhmisches Wien, 27f.; Michael John, Der lange Atem der Migration – die tschechische Zuwanderung nach Wien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Regina Wonisch (Hrsg.), Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 31–60, hier: 35f. 31 Victor Adler, Die Lage der Ziegelarbeiter, in: Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, Heft 4, Wien 1925, 11–35. 32 Vlasta Valeš, Die Kommunikationsorte der Wiener Tschechen zwischen den 1840er und 1930er Jahren, in: Martin Scheutz/Vlasta Valeš (Hrsg.), Wien und seine WienerInnen. Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte, Wien – Köln – Weimar 2008, 285–296, hier: 285– 289. 33 Ebd., 291–293.

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Neben der Differenzierung der Konzepte von Religions- und Sprachgruppen in der Wiener Kulturentwicklung rief der seit den 1980er-Jahren vorherrschende „Wien um 1900“-Diskurs auch Gegenstimmen zur einseitigen Fokussierung auf die bürgerliche Oberschicht mit ihren Kulturleistungen und Identitätsproblemen hervor. Als Beispiel von vielen seien etwa der ausdrücklich gegen die „nostalgische Harmonisierung des ‚Wien um 1900‘“34 angelegte Sammelband „Glücklich ist, wer vergisst …?“,35 das materialreiche, kaleidoskopische Werk „Schmelztiegel Wien – einst und jetzt“36 sowie das auf einer in Kassel abgehaltenen Tagung basierende Buch „Die Wiener Jahrhundertwende“37 genannt. In all diesen Publikationen wird auf den Alltag (auch) jenseits großbürgerlichen Lebens,38 soziale Probleme39 im Zusammenhang mit Arbeitswelt,40 Wohnungsnot41 etc., rassistische Konflikte42 und ethnisch-kulturelle Vielfalt43 sowie die Vielfalt kultureller Praktiken und Lebensweisen44 eingegangen. Damit wird neben den kleinen bürgerlichen Eliten mit ihren Leistungen und Besorgnissen die gesamte, vielfältig differenzierte Bevölkerung mit ihren sozialen Problemen und Chancen sowie spezifischen Formen kultureller Praxis ins Blickfeld gerückt.

34 Zitat aus dem Klappentext. 35 Hubert Ch. Ehalt/Gernot Heiß/Hannes Stekl (Hrsg.), Glücklich ist, wer vergisst …? Das andere Wien um 1900, Wien – Köln – Graz 1986. 36 Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990. 37 Nautz/Vahrenkamp, Die Wiener Jahrhundertwende. 38 So zum einen Hannes Stekl, „Sei es wie es wolle, es war doch so schön.“ Bürgerliche Kindheit um 1900 in Autobiographien, in: Ehalt/Heiß/Stekl (Hrsg.), Glücklich ist, wer vergisst, 17–38, und andererseits Reinhard Sieder, „Vata, derf i aufstehn?“ Kindheitserfahrungen in Wiener Arbeiterfamilien um 1900, in: ebd., 39–90. 39 Rolf Schwendter, Armut und Kultur der Wiener Jahrhundertwende, in: Nautz /Vahrenkamp, Die Wiener Jahrhundertwende, 677–693; David F. Good, Ökonomische Ungleichheit im Vielvölkerstaat. Zur Rolle der Metropole Wien, in: ebd., 720–746. 40 Z. B. Josef Ehmer, Wiener Arbeitswelten um 1900, in: Ehalt/Heiß/Stekl (Hrsg.), Glücklich ist, wer vergisst, 195–214. 41 Z. B. Michael John, Obdachlosigkeit – Massenerscheinung und Unruheherd im Wien der Spätgründerzeit, in: Ehalt/Heiß/Stekl (Hrsg.), Glücklich ist, wer vergisst, 173–194; John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 169–212. 42 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 265–340. 43 Ebd., 11–88 und 417–460. 44 Z. B. zu Aspekten der Kultur der Sexualität: Inge Pronay-Strasser, Von Ornithologen und Grashupferinnen. Bemerkungen zur Sexualität um 1900, in: Ehalt/Heiß/Stekl (Hrsg.), Glücklich ist, wer vergisst, 113–132; Elisabeth Wiesmayer, Patt der Herzen. Inszenierungen der Liebe im fin de siècle, in: ebd., 133–144, und Sabine Kolleth, Gewalt in Ehe und Intimpartnerschaft, in: ebd., 145–172. Zu Familie, Nachbarschaft, Vereine: John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 213–264.

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Neben weiteren Bänden mit ähnlich breitem thematischem Spektrum sind in der jüngeren Vergangenheit mehrere Bücher aus dem historisch-kulturwissenschaftlichen Projekt „Wiener Beiträge zur Moderne“ erschienen,45 die sich auf der Grundlage eines dezidiert kulturhistorischen Ansatzes der Einbeziehung peripherer, nicht-hochkultureller Aspekte widmen. Auch dieses Projekt positionierte sich explizit gegen die „Praxis des kulturwissenschaftlichen Diskurses, der das Wiener Fin de Siècle als Summe seiner künstlerischen und intellektuellen Hervorbringungen ontologisiert“. Im Fokus des Forschungsinteresses standen „Spannungen zwischen repräsentativer und popularer Kultur, zwischen Hegemonie und Devianz, zwischen dominanten Identitätsnarrativen der ,Massen‘ und sozialen wie kulturellen Widersetzlichkeiten“. Des Weiteren waren die „Transformation einer urbanen Volkskultur zur modernen Massen- und Metropolenkultur“ sowie „lebensweltliche Transformationen von Modernisierung in die Sphäre des Alltags“46 Themen des Projekts. Das so erschlossene „andere Wien“ bezieht auch die Alltagskultur in „den Orten des Volksvergnügens“ im „Niemandsland, das nicht nur einseitig soziale und kulturelle Devianz bezeichnet, sondern eben auch Teil eines umfassenderen lebensweltlichen Spektrums der Vorstadt ist“, ein.47 Gemäß diesem Konzept wird der „Übergang von ländlich verfaßten Vororten zur modernen, industriellen Vorstadt“ in dialektischer Verbindung mit dem Entstehen „prototypischer Formen von Massenkultur“ gesehen. „Die Massenkultur schafft […] die industrielle Vorstadt als kulturelle Lebensform: So, wie die traditionelle Volkskultur groteske, karnevaleske Ausdrucksformen hervorgebracht“ hatte, sei „die entstehende Massenkultur als das organisierte Vergnügen der Entwurzelten und Mobilisierten zu verstehen, die in pauperisierten urbanen Umwelten ihr Leben unter den Bedingungen von harter industriell-gewerblicher Erwerbsarbeit, tristen Wohnverhältnissen und schlechter Ernährung neu zusammensetzen mußten.“ Typische Orte des Vergnügens dieser Kultur waren Wirtshaus und Spektakel, wie sie etwa der Prater bot.48 Auch diese Ansätze geben wesentliche Impulse für das Forschungsinteresse an der Kreativwirtschaft um 1900, die ja zu verstehen ist als Summe der Marktangebote für kulturelle Nachfrage jeglicher Art, von hochkulturellen Darbietungen bis hin zur Musik bei den Lumpenbällen der Vorstadt, von der literarischen Produktion der Gruppe „Jung Wien“ bis zur bebilderten Kronen Zeitung für Personen, die kaum des Lesens mächtig waren, oder von Designs der Wiener Werkstätte bis hin zu massenhaft reproduzierten Gegenständen des Alltags; 45 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2000; Roman Horak u.a. (Hrsg.), Metropole Wien. Texturen der Moderne, 2 Bde., Wien 2000; Roman Horak u.a. (Hrsg.), Stadt. Masse. Raum, Wiener Studien zur Archäologie des Popularen, Wien 2001. 46 Maderthaner, Kultur Macht Geschichte, 18. 47 Ebd., 30f. 48 Maderthaner/Musner, Die Anarchie der Vorstadt, 111f.

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jeweils noch differenziert durch ethnische, religiöse, klassenspezifische und sonstige soziale Codierungen. 2. Quantitative Angaben zur Kreativwirtschaft in Wien und zum Stellenwert jüdischer, tschechischer und ausländischer Akteure

Nach dem knappen Überblick über den Diskurs zur Fin de Siècle-Hochkultur in ihrer prekären gesellschaftlichen Umwelt, zur Differenzierung der „Juden“ und „Tschechen“ sowie über ergänzende Sichtweisen zur Kultur der „Entwurzelten“ und „Pauperisierten“ im „Schmelztiegel“ Wien seien in den folgenden beiden Unterkapiteln soziodemografische Angaben zum ökonomischen Rahmen dieser Entwicklungen und zur quantitativen Struktur der Kulturwirtschaft gemacht. Dazu werden zuerst Daten zur Bevölkerungsdynamik, zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur sozialen Lage in Wien präsentiert und danach folgt ein Überblick über das Ausmaß sowie die ethnische und religiöse Gliederung der Kulturwirtschaft anhand der Volkszählungen 1890–1910. 2.1 Soziodemografischer Rahmen

Vor dem Ersten Weltkrieg erreichte Wien einen historischen Höchststand der Einwohnerzahl. Bei der Volkszählung 1910 registrierte man 2.031.421 anwesende Personen, von denen 48,8 Prozent in der Stadt geboren waren. 24,3 Prozent stammten aus Böhmen, Mähren und Schlesien, 2,1 Prozent aus Galizien, 4,4 Prozent aus anderen österreichischen Ländern und 9 Prozent aus dem Ausland. Zugleich hielten sich 197.612 in Wien Geborene anderwärts auf. Tabelle 1: Im Ausland Heimatberechtigte unter den in Wien Anwesenden Staatsfremde insgesamt 1910 1900 1890 1880 1869

196.918 175.435 150.670 88.238 61.143

Länder der ungar. Krone 155.519 140.280 115.736 60.857 38.925

Deutsches Reich 22.930 21.733 23.680 18.701 12.902

Andere 18.469 13.422 11.254 8.680 9.316

Staatsfremde in % der Bevölkerung 9,7 10,5 11,0 12,5 10,1

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1912, Wien 1914, Anhang. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, Tabelle 2, Tabelle 6; John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien 16; eigene Berechnungen.

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Die Resultate der Volkszählungen 1869 bis 1910 ergeben, dass der Anteil der Ausländer bis 1880 zunahm, danach jedoch allmählich zurückging. Er lag 1910 um 2,8 Prozentpunkte (oder 22,4 Prozent) unter dem Wert von 1880. Diese Entwicklung wurde durch relative Gewichtsveränderungen der Komponenten des Bevölkerungswachstums bewirkt. Bis zur Jahrhundertwende trug die Zuwanderung mehr als der Geburtenüberschuss zum Bevölkerungswachstum bei, nach 1900 beruhte die Bevölkerungsvermehrung überwiegend auf dem Geburtenüberschuss in der Stadt selbst. Auch die absoluten Zuwanderungszahlen nahmen ab. Dadurch ging der Anteil nicht in Wien Geborener an der anwesenden Bevölkerung von 61,5 Prozent im Jahr 1880 auf 53,6 Prozent (1900) und 51,2 Prozent im Jahr 1910 zurück49 – ein für eine Metropole der Jahrhundertwende nicht sonderlich hoher Wert. Auch das Bevölkerungswachstum insgesamt verlangsamte sich. Es nahm von durchschnittlich 2,4 Prozent in den 1870er-Jahren auf nur noch 1,6 Prozent pro Jahr nach der Jahrhundertwende ab.50 Bei den Volkszählungen wurde auch erhoben, inwieweit Wien eine „christliche“ Stadt war. Der Zensus 1910 ergab, dass rund 87 Prozent der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche angehörten, den beiden evangelischen Bekenntnissen zusammen waren 3,4 Prozent zuzuordnen, 8,6 Prozent gehörten der jüdischen Religion an, 1,2 Prozent anderen Konfessionen und 0,2 Prozent waren ohne Bekenntnis. Mit der abnehmenden Zuwanderungsdynamik erhöhte sich der Anteil der Katholiken von 1880 bis 1900 etwas, ging danach bis 1910 geringfügig zurück, was aber durch einen Zuwachs der Protestanten ungefähr egalisiert wurde, sodass Wien bei sämtlichen Volkszählungen ab 1890 einen geringfügig höheren Anteil an Christen als bei jener von 1880 aufwies.51 Von den Antisemiten wurde die zahlenmäßige Entwicklung der jüdischen Bevölkerung mit (teils paranoidem) Argwohn verfolgt. Die Gesamtzahl der anwesenden Personen im Rahmen der jeweils gültigen Stadtgrenzen stieg von 607.514 im Jahr 1869 auf 2.031.498 (1910) an, während sich die Zahl der anwesenden Juden und Jüdinnen (Religionsbekenntnis) im gleichen Zeitraum von 40.230 auf 175.318 erhöhte. Ihr Anteil vergrößerte sich von 6,6 Prozent (1869) auf ein Maximum von 10,1 Prozent im Jahr 1880 und ging danach auf 8,6 Prozent (1910) zurück. Nimmt man als Bezugsgröße nicht die Bevölkerung innerhalb der Stadtgrenzen in den unterschiedlichen Stichjahren, sondern die Anwesenden im Gebiet der Stadt von 1910, so ergibt sich ein geringfügig abweichendes Bild:

49 Volkszählungsdaten nach John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 14f. 50 Bezogen auf das Stadtgebiet von 1910, berechnet nach: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1911, Wien 1913, 45. 51 Vgl. John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 37.

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Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung (Gebietsstand 1910) und Anzahl der Juden und Jüdinnen (jeweiliger Gebietsstand) Jahr 1869 1880 1890 1900 1910

Gesamtbevölkerung 880.051 1.136.700 1.399.922 1.728.701 2.031.498

Anzahl der Juden 40.230 73.222 118.495 146.926 175.318

Anteil in % 4,6 6,4 8,5 8,5 8,6

Periode

1869–1880 1880–1890 1890–1900 1900–1910

Jährl. Wachst. d. Jährl. Wachst. Gesamtbev. in % d. jüd. Bev. in % 2,4 2,1 2,1 1,6

6,2 4,9 2,2 1,8

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für 1911, Wien 1913, 45; Rozenblit, Die Juden Wiens, 24; eigene Berechnungen.

Bezogen auf die Bevölkerung im Gebietsstand von 191052 wies die Anzahl der Juden und Jüdinnen bis 1890, in den Formationsjahren der Lueger-Bewegung, ein deutlich höheres Wachstum auf als die Zahl der Anwesenden insgesamt. Danach näherten sich die jährlichen Wachstumsraten weitgehend an, wodurch der Bevölkerungsanteil der Personen mit jüdischem Glauben ab 1890 ungefähr stabil blieb, diese Kennzahl also keine Grundlage mehr dafür bot, eine Gefährdung des „christlichen“ Wien zu argumentieren. Mit dieser Entwicklung nahm logischerweise auch bei den Juden und Jüdinnen der Anteil der Zugewanderten in Relation zu den bereits in der Stadt geborenen Personen ab. Der Anspruch, dass Wien eine „deutsche“ Stadt sein sollte, bezog sich nicht zuletzt auf die verwendete Umgangssprache. Mit diesem bei den Volkszählungen erhobenen Merkmal wurde massiv Politik gemacht. Bei der Zählung wurde Druck ausgeübt, in Zweifelsfällen „Deutsch“ anzugeben. Zum Beispiel registrierte man bei tschechischen Dienstbotinnen, die in deutschsprachigen Haushalten arbeiteten, „Deutsch“ als Umgangssprache, mit dem Argument, sie hätten nur Umgang mit Deutschsprachigen, daher sei deren Sprache ihre Umgangssprache.53

52 Die Anzahl der Jüdinnen und Juden im jeweiligen Gebietsstand der verschiedenen Volkszählungsjahre auf die Bevölkerungszahl im Gebietsstand von 1910 zu beziehen, erscheint als gerechtfertigt, da sie sich vor allem in wenigen Bezirken ansiedelten, die schon zum Gebietsstand von vor 1890 gehörten. 53 Vgl. Glettler, Die Wiener Tschechen, 28–30; Glettler, Böhmisches Wien, 14; Emil Brix, Die nationale Frage an Hand der Umgangssprachenerhebungen in den zisleithanischen Volkszählungen 1880–1910, Univ. phil. Diss., Wien 1979, nach Karl M. Brousek, Wien und seine Tschechen, Wien 1980, 23.

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Tabelle 3: Umgangssprache der anwesenden österreichischen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen 1910 Zusammen M W Zus.

875.565 958.871 1.834.436

Deutsch 815.967 911.085 1.727.052

Böhmisch-MährischSlowakisch 53.947 44.483 98.430

Andere 5.651 3.303 8.954

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1913, Wien 1916, 975.

Angesichts dieser Zählpraxis erhob man für 1910 nur noch 98.430 Personen mit slawischer Umgangssprache, nachdem 1900 immerhin noch rund 103.000 Träger dieser Merkmalsausprägung gezählt worden waren. Damit konnte man 1910 einen Anteil der Bevölkerung mit deutscher Umgangssprache von mehr als 94 Prozent ausweisen, während jener der slawisch Sprechenden von 6,1 Prozent (1900) auf 5,4 Prozent (1910) zurückging.54 Die Zahl jener, die nach ihrer Herkunft als „Tschechen“ bezeichnet werden können, wird wesentlich höher geschätzt. Im Jahr 1910 lebten etwa eine halbe Million Personen, die in Böhmen, Mähren oder Schlesien geboren waren, in Wien. Diese stammten überwiegend aus gemischtsprachigen Regionen, sodass man annehmen kann, dass ungefähr 250.000 bis 300.000 im Hinblick auf erste Sprache und Geburtsregion als Tschechen und Tschechinnen gelten können.55 Tabelle 4: Religionsbekenntnis und Umgangssprache in Wien im Jahr 1910

Deutsch Böhm.-Mähr.Slowak. Andere Staatsfremde Zusammen

Katholisch Griech.- u. Evangelisch Israelitisch Andere und Zusammen armen.Konfessionsorientalisch lose 1.549.767 824 47.818 122.930 5.713 1.727.052 96.165 7.748 113.514 1.767.194

103 428 3.220 4.575

1.696 152 27.161 76.827

270 585 51.509 175.294

196 41 1.581 7.531

98.430 8.954 196.985 2.031.421

Quelle: Österreichische Statistik, Neue Folge, 1. Bd., 2. Heft, Die Bevölkerung nach der Gebürtigkeit, Religion … , Wien 1914, Tab VII; Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1912, Wien 1916, Anhang. Ergebnisse der Volkszählung, Tab 16. 54 Dass der slawische Anteil bei den Frauen um 1,6 Prozentpunkte oder ein Viertel unter jenem bei den Männern lag, mag mit der Zählpraxis bei den Dienstbotinnen zu erklären sein. 55 Glettler, Die Wiener Tschechen, 25–35; John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 18f.; John, Der Lange Atem, 31–33; Michael John, Ethnische und kulturelle Diversität in Österreich 1880–1925: Skizzen und Aspekte einer Entwicklung, in: Michael Pammer/Herta Neiß/Michael John (Hrsg.), Erfahrung der Moderne, Stuttgart 2007, 205–230, hier: 207f.

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Von den inländischen Katholiken sprachen 94 Prozent deutsch, von den inländischen Juden hingegen 99 Prozent. Von der inländischen slawisch sprechenden Bevölkerung waren 98 Prozent katholisch, von den inländischen Deutschsprachigen hingegen nur 90 Prozent. Somit entsprachen die Juden und Jüdinnen im Hinblick auf die Sprache mehr dem Anspruch auf ein „deutsches“ Wien als die Katholiken, während die slawisch sprechende Bevölkerung zu einem höheren Prozentsatz katholisch war als die deutschsprachigen Wiener und Wienerinnen. Die Aufteilung der berufstätigen Mitglieder der Religionsgemeinschaften auf die vier in der amtlichen Statistik gebildeten Berufsklassen A bis D stellte sich wie folgt dar: Tabelle 5: Berufsklassen und Religion 1910 Berufsklasse A Land- u Forstwirtschaft B Industrie u Gewerbe C Handel, Verkehr, einschl. Gast- u Schankwirtschaft D Öffentl. u Militärdienst, freie Berufe, Berufslose Zusammen

Katholisch* Evangelisch**

Israelitisch

Andere u. Konfessionslose 25 2.340

Im Ganzen

8.969 464.180

199 16.886

130 26.899

9.323 510.305

243.337

9.952

41.704

1.775

296.768

233.167 949.653

14.393 41.430

26.105 94.838

4.124 8.264

277.789 1.094.185

* römisch-, griechisch- und armenisch-katholisch ** alle Bekenntnisse Quelle: Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1916, 132.

In allen Berufsklassen verfügten die Wiener Katholiken bei Weitem über eine absolute Mehrheit. Auf sie entfielen 96 Prozent der Agrarier, 91 Prozent der Berufstätigen in Industrie und Gewerbe, 82 Prozent in Handel und Verkehr sowie 84 Prozent der Klasse D (öffentlicher und Militärdienst, freie Berufe und Berufslose). Die Angehörigen der jüdischen Konfession machten 8,7 Prozent aller Berufstätigen aus, im Sekundärsektor waren es 5,3 Prozent, in Handel und Gastronomie 14,1 Prozent und in der heterogenen Berufsklasse D 9,4 Prozent. Die Evangelischen waren, ähnlich den Juden, im Bereich der Sachgütererzeugung etwas unterrepräsentiert und wiesen einen Schwerpunkt im Bereich öffentlicher und Militärdienst sowie freie Berufe auf. Die Zahlenangaben zur jüdischen Bevölkerung zeigen einerseits auch

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im frühen 20. Jahrhundert noch Effekte der Vorgeschichte jahrhundertelanger Diskriminierung in Handwerk und Landwirtschaft auf, andererseits illustrieren sie die in allen Bereichen bei Weitem quantitativ dominierende Stellung der katholischen Berufstätigen, denen selbst in Handel und Verkehr mehr als vier Fünftel zuzurechnen waren.56 Die Daten geben jedoch keinen Aufschluss über die einkommens- und vermögensmäßige Gliederung nach Religionszugehörigkeit in den Berufsklassen. Anhand der Gliederung der Berufszugehörigen57 kann Wien mit Gesamtösterreich verglichen werden: Tabelle 6: Berufszugehörige in den Berufsklassen A bis D nach Religionszugehörigkeit 1910

A 13.839.289 12.941.119 B 7.562.962 6.973.050 C 3.541.186 2.758.583 D 3.627.363 3.276.234 Zus. 28.570.800 25.948.000

196.517 110.714 590.937 19.685 19.000 215.544 325.207 49.159 949.674 863.510 75.073 680.970 26.558 593.928 486.744 105.193 196.965 48.969 468.134 397.940 591.415 1.314.256 717.127 2.031.421 1.767.194

380 260 45 32.310 50.091 3.763 19.988 84.204 2.992 24.149 40.739 5.306 76.827 175.294 12.106

Quelle: Österreichisches Statistisches Handbuch für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder 1913, Wien 1914, 30f.; Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 1. Heft, Hauptübersicht und Besprechung der Ergebnisse, Wien 1916, 96; ebd., 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1916, 132; eigene Berechnungen.

Berechnet man die Verteilungen der Berufsgruppen innerhalb der Religionsgruppen nach Tabelle 6, so wird deutlich, dass diese in Wien weniger stark voneinander abwichen als auf Ebene der gesamten Reichshälfte. Während in Österreich nur elf Prozent der Katholiken, hingegen 52 Prozent der Juden dem Handelsbereich (C) zuzuordnen waren, beliefen sich die entsprechenden Werte in Wien auf 29 und 48 Prozent. In der inhomogenen Gruppe D (Staatsdiener, Freiberufler etc.) fanden in Österreich 13 Prozent der Katholiken und 15 Prozent der Juden, in Wien hingegen je 23 Prozent beider Religionsgruppen ihre ökonomische Grundlage. Offenbar führten im gemeinsamen urbanen Rahmen der Donaumetropole nicht-

56 Vgl. dazu Oxaal, The Jews of young Hitler’s Vienna, 34–38. 57 Berufstätige + Angehörige und Hausdienerschaft.

Andere

Israeliten

Evangel.

Katholiken

Gesamt

Andere

Wien Israeliten

Evangel.

Katholiken

Gesamt

Österreichische Reichshälfte

138

Andreas Resch

jüdische Traditionen in den Tertiärberufen und eine Tendenz zur beruflichen Konvergenz zwischen den Religionsgruppen zu ähnlicheren Berufsprofilen. Im Hinblick auf die Umgangssprache wurden 94 Prozent aller inländischen Berufstätigen in Wien als „deutsch“ registriert, 5,7 Prozent den Tschechen und Slowaken zugerechnet. Die Wiener Tschechen waren im Sekundärsektor am stärksten präsent; hier kamen sie auf 9 Prozent.58 Sie entsprachen somit dem oben angesprochenen Schema, dass vom Land abwandernde Schichten mit überwiegend agrarischem Hintergrund tendenziell in Gewerbe und Industrie Beschäftigung finden konnten. Die Lebenschancen, welche Zuwanderer und Zuwanderinnen in Wien vorfanden, waren im Wesentlichen von den sozioökonomischen Entwicklungen in der Stadt bestimmt.59 In Wien musste die Arbeiterschaft unter den Bedingungen von Wohnungsnot und prekären materiellen Verhältnissen überleben und auch der eingesessene (untere) Mittelstand entwickelte Abstiegsängste, die sich in aggressiver, populistischer Politik manifestierten. Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vermochten in Wien moderne Industriezweige wie der Maschinenbau und die neu entstehende Elektrotechnik überdurchschnittlich dynamisch zu expandieren. Zu den Wachstumsbranchen gehörten mit dem Aufkommen der Massenpresse auch die grafischen Gewerbe. Die „alte“ Textilindustrie wanderte an kostengünstigere Standorte ab, während sich die konsumentenorientierte Erzeugung von Bekleidung in differenzierten Formen von Verlagswesen, Zwischenmeistern und -meisterinnen, Heimarbeit etc. hielt. Auch spezialisierte Kunsthandwerke, die auf die Nachfragestärke der Haupt- und Residenzstadt angewiesen waren, florierten.60 Der Anteil des Maschinenbaus an den Beschäftigten 58 Vgl. Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreiche und Ländern, 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1916, 130. 59 Die Migrationsforschung geht heute nicht mehr von schlichten Pull-and-Push-Modellen aus, sondern von Ansätzen, die u.a. auch subjektive Erwartungen, soziale Netzwerke und individuelle Möglichkeiten berücksichtigen. Die vorliegende Arbeit ist primär auf die Anwesenden fokussiert und kann daher keine differenzierte Analyse ihrer Migrationsgeschichte leisten. Für gängige Ansätze zur Migrationsforschung siehe zum Beispiel Annemarie Steidl, Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt, Wien – München 2003; Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main – New York 2005; Jan Lucassen, Leo Lucassen, Alte Paradigmen und neue Perspektiven in der Migrationsgeschichte, in: Mathias Beer/Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Über die trockene Grenze und über das offene Meer. Binneneuropäische und transatlantische Migration im 18. und 19. Jahrhundert, Essen 2004, 17–42. Zur Persistenz kleingewerblicher Arbeits- und Lebensverhältnisse: Josef Ehmer, Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main – New York 1994. 60 Vgl. Gerhard Meißl, Im Spannungsfeld von Kunsthandwerk, Verlagswesen und Fabrik. Die He-

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

139

verdoppelte sich von 2,2 Prozent im Jahr 1869 (Wien, Vorstädte und Floridsdorf ) auf 4,5 Prozent im Jahr 1910 und jener der Beschäftigten in den grafischen Gewerben nahm im gleichen Zeitraum von 1,4 auf 2,2 Prozent zu.61 Während auf die Krise von 1873 in Niederösterreich (inklusive Wien) für einige Jahre eine Schrumpfung des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf folgte, war in den 1890er-Jahren wieder ein Wachstum pro Person und Jahr von 1,5 bis 2 Prozent zu verzeichnen, die gesamte Regionalwirtschaft wuchs um 3 Prozent pro Jahr; nach der Jahrhundertwende flachte die Dynamik zwar etwas ab, der Trend blieb aber auch auf der Pro-Kopf-Ebene im positiven Bereich.62 Die industriellen Veränderungen gestatteten allmählich einen geringfügig steigenden materiellen Lebensstandard und die Herausbildung eines gesellschaftlichen Raumes für stabilere soziale Formen des (Zusammen-)Lebens der Arbeiterschaft. Im traditionellen Gewerbe hatten unselbstständig Beschäftigte häufig im Haushalt der Meister mitgewohnt, während der Jahre höchster Zuwanderungsdynamik hatte sich als Alternative oft nur geboten, eine Unterkunft als Bettgeher oder Untermieter zu suchen. Die betreffenden Personen (nicht zuletzt auch Dienstbotinnen und Dienstboten) hatten keine Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen, was zu sehr hohen Quoten unehelich geborener Kinder führte. In dieser Hinsicht scheint lediglich die jüdische Zuwanderung eine Ausnahme dargestellt zu haben, da sie mehr in Form ganzer Kleinfamilien erfolgte. Die Entbindungen unverheirateter Mütter (sowie gegebenenfalls auch verheirateter Frauen, die sich von den Kindern trennen wollten oder mussten) erfolgten überwiegend im Gebärhaus, von wo die Säuglinge zu mehr als 90 Prozent ins Findelhaus kamen, wo etwa 15 Prozent verstarben und der Rest in „Pflege“ gegeben wurde.63 Diese Kinder wuchsen extrem bildungsfern auf und mussten frühzeitig als billige Arbeitskräfte dienen. Dadurch waren sie wesentlicher Entwicklungs- und Aufstiegschancen beraubt, wodurch sich die Armut sozial reproduzierte. Mit dem Aufkommen der modernen Industrien und dem damit einhergehenden Wohnbau in den neuen Industriebezirken (bei all seinen Defiziten!)64 bahnte sich allmählich ein

61 62 63

64

rausbildung der industriellen Marktproduktion und deren Standortbedingungen in Wien vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, in: Banik-Schweitzer/Meißl, Industriestadt Wien, 99–187. Vgl. Renate Banik-Schweitzer, Zur Bestimmung der Rolle Wiens als Industriestadt für die wirtschaftliche Entwicklung der Habsburgermonarchie, in: ebd., Tab. 19 und 21. Berechnet nach Max-Stephan Schulze, Regional GDP and Market Potential in Austria-Hungary, 1870–1910, LSE Working Paper in Economic History, No. 106/07, November 2007, 25f. Vgl. Verena Pawlowsky, Mutter ledig – Vater Staat. Das Gebär- und Findelhaus in Wien 1784– 1910, Innsbruck u.a. 2001; Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien, Wien 1980, 94–107. Vgl. Peter Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot in Wien, Wien 1977; Michael John, Wohnverhältnisse sozialer Unterschichten im Wien Kaiser Franz Josephs, Wien 1984; Albert Lichtblau, Wiener Wohnungspolitik 1892–1919, Wien 1984.

140

Andreas Resch

Wandel an.65 Als Form des Zusammenlebens konnte sich das Wohnen im Rahmen von Kernfamilien in Kleinwohnungen durchsetzen, wobei den Kindern zumindest einige Jahre ein regulärer Schulbesuch ermöglicht wurde. Söhne mussten üblicherweise ab dem Antritt einer Lehrstelle zum Familieneinkommen beitragen, Töchter oft Formen von Verlags- und Heimarbeit übernehmen, z. B. im Bekleidungsgewerbe. Damit bildete sich die „ehrbare Arbeiterfamilie“ als vorherrschende Sozialform heraus, die für Kinder durchaus Aufstiegschancen durch strukturierte Bildung und Ausbildung eröffnete. Der Anteil der „Familienangehörigen“ im modernen Sinne in den Wiener Haushalten erhöhte sich von 66 Prozent im Jahr 1880 auf 82 Prozent (1910), während sich der Anteil von mitwohnenden Arbeitskräften, Untermietern, Bettgehern etc. von 34 auf 18 Prozent halbierte.66 Dies war einerseits der hohen Wohnungsproduktion und andererseits dem industriellen Strukturwandel, der stabilere Jobs in den neuen Branchen bot, zuzuschreiben. Die Unehelichenquote ging von einem Maximum von 51 Prozent um die Jahrhundertmitte auf weniger als 30 Prozent um 1910 zurück.67 Damit entstanden für Angehörige der Arbeiterschaft in einem zunehmenden Ausmaß Perspektiven für ein stabiles Familien- und Erwerbsleben im Rahmen der sich modernisierenden Wirtschaftsstruktur Wiens. Mit der industriellen Modernisierung und der Etablierung der „ehrbaren Arbeiterfamilie“ ging das Aufkommen der modernen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung einher. Im Rahmen der Sozialdemokratie entwickelten sich gleichzeitig drei organisatorische Hauptstränge, nämlich erstens die bereits erwähnten Gruppierungen, die von Intellektuellen aus oft bürgerlich-jüdischem Elternhaus geprägt waren, zweitens gewerkschaftliche Organisationsformen (wenngleich gespalten durch die Nationalitätenkonflikte) sowie drittens aus dem Umfeld der Vorstädte rekrutierte lenkbare Massen, die populistischen Sozialdemokraten wie Franz Schuhmeier folgten.68 Insgesamt ging der Trend der Zeit von den „Entwurzelten und Pauperisierten“ zu den organisationsfähigen, disziplinierten Arbeitern mit entsprechend veränderter kultureller Praxis und berufsorientierter Ausbildung für die neuen Industrien. Die Sozialdemokratie baute ein Netzwerk von Bibliotheken, Gesangsvereinen, einem Pressewesen sowie Bildungs- und Kulturangeboten auf, dessen Krönung im Hinblick auf eine „bürgerlich-kulturelle“ Ausrichtung die seit 1905 veranstalteten Arbeitersinfoniekonzerte darstellten.69 65 66 67 68

Grundlegend dazu: Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation. Volkszählungsdaten nach ebd., 51 und 174. Ebd., 96. Vgl. etwa Maderthaner, Kultur Macht Geschichte, 34ff.; Ders., Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hrsg.), Wien, Bd. 3, Wien 2006, 175–544, hier: 232–243; Helmut Konrad, Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt?, in: Helmut Konrad/ Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), Das Werden der Ersten Republik. … der Rest ist Österreich, Bd. 1, Wien 2008, 223–240, hier: 224–227. 69 Vgl. etwa Josef Seiter, „Blutigrot und silbrig hell …“ Bild, Symbolik und Agitation der frühen

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

141

Damit legte man bereits vor dem Ersten Weltkrieg die organisatorischen Fundamente für die spätere Praxis im „Roten Wien“. Selbst die Arbeiterfesttage wie der 1. Mai wurden als „bildungsbürgerliche Feier“ und als „Erziehungsinstrument“ gestaltet.70 Der Zugang zu höherer Bildung blieb jedoch weiterhin schichten- bzw. klassenspezifisch determiniert.71 Als Abschluss des Kapitels zum sozialgeschichtlichen Hintergrund der Kulturwirtschaft in Wien um 1900 sei noch ein Überblick über Studierendenzahlen in ausgewählten Bildungseinrichtungen, die für die Kreativwirtschaft von besonderer Bedeutung waren, gegeben.

sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Österreich, Wien – Köln 1991, 9–26; Helmut Brenner, Stimmt an das Lied … Das große österreichische Arbeitersänger-Buch, Graz – Wien 1986, 13–87; Henriette Kotlaus-Werner, Kunst und Volk. David Josef Bach 1874–1947, Wien 1977; Alfred Pfoser, Literatur und Austromarxismus, Wien 1980, 85–88; Reinhard Kannonier, Zwischen Beethoven und Eisler. Zur Arbeitermusikbewegung in Österreich, Wien 1981; Josef Weidenholzer, Sozialdemokratische Bildungsarbeit, in: Konferenz Arbeiterkultur in Österreich 1918–1945 (ITH Tagungsberichte, Bd. 16), Wien 1981, 31–37; als Materialsammlung mit Schwerpunkt nach 1918: Mit uns zieht die neue Zeit. Arbeiterkultur in Österreich 1918–1934. Eine Ausstellung der Österreichischen Gesellschaft für Kulturpolitik und des Meidlinger Kulturkreises, Helene Maimann (Red.), Österreichische Gesellschaft für Kulturpolitik, Wien 1981. 70 Béla Rásky, Arbeiterfesttage. Die Fest- und Feiernkultur der sozialdemokratischen Bewegung in der Ersten Republik Österreich 1918–1934, Wien – Zürich 1992; Wolfgang Maderthaner/Michaela Maier (Hrsg.), Acht Stunden aber wollen wir Mensch sein. Der 1. Mai. Geschichte und Geschichten, Wien 2010. 71 Vgl. Gary B. Cohen, Education and Middle-Class Society in Imperial Austria 1848–1918, West Lafayette, Indiana, 1996.

142

Andreas Resch

Tabelle 7: Ausgewählte Hochschulen und Kunstakademien im Wintersemester 1909/10

Universität Wien TH Wien Wien, k. k. Akademie d. bildenden Künste Prag, k. k. Kunstakademie

9090 3211

7874 2891

592 144

624 176

6599 2535

291 2200 60 616

274

251

13

10

246

5

111

104

2

5

21

Krakau, k. k. Kunstakademien

151

88

0

63

1

K.k. Akademie f. Musik u. darst. Kunst in Wien

865

636

61

121

k. A.

Evangelische

Israelithen

Katholiken

Religion

Andere

Andere

Deutsch

Tschechisch

Muttersprache Länder d. ung. Krone

Österreich

Studierende

Heimat

5727 2079

2281 794

549 210

13

228

18

22

82

8

97

4

6

140 Polnisch

10

137

10

1

k. A. k. A.

554

208

69

Quelle: Österreichisches Statistisches Handbuch für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, 1911, Wien 1912, 342–354.

An der Universität Wien und der Technischen Hochschule Wien studierten 1909/10 zusammen mehr als 12.000 Personen, darunter an beiden Institutionen mehr als 30 Prozent Juden. Personen mit tschechischer Muttersprache waren nur geringfügig präsent, sie bevorzugten offenbar die ebenbürtigen Hochschulen in Prag und Brünn. An der Wiener Akademie der bildenden Künste waren in etwa so viele Studierende inskribiert wie an den Schwesterinstitutionen in Prag und Krakau zusammen. An den beiden Letztgenannten dominierten tschechisch- bzw. polnischsprachige Studierende. Der Anteil jüdischer Studierender lag in Wien und Prag unter 4 Prozent, in Krakau bei 6,6 Prozent. Auch Evangelische waren in einem ähnlich geringen Ausmaß vertreten. An der Akademie für Musik und darstellende Kunst stammten mehr als 7 Prozent der Studierenden aus den Ländern der ungarischen Krone, dieser Kunstbereich übte auch mehr Attraktivität auf das jüdische Publikum aus als die bildende Kunst. An der Wiener Musikakademie machten Juden ungefähr ein Viertel der Studierenden aus. Als weitere Institution, deren Absolventinnen und Absolventen für Kreation und Produktion im Bereich der Kulturwirtschaft ausgebildet wurden, sei noch die Kunstgewerbeschule des k. k. österreichischen Museums für Kunst und Industrie erwähnt. An dieser Institution

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

143

studierten 1910/11 297 Personen, von denen rund ein Drittel weiblich, etwa drei Viertel katholisch und ungefähr je 10 Prozent mosaisch oder evangelisch waren. Der Anteil ausländischer Studierender lag lediglich bei etwa 5 Prozent.72 Einschlägige handwerkliche Fertigkeiten wurden auch im Rahmen gewerblicher Fach- und Fortbildungsschulen sowie in 15 Zeichen-, Modellier- und Malschulen unterrichtet.73 2.2 Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910 im Spiegel der Volkszählungsdaten

Die Berufsauszählungen der Volkszählungen 1890, 1900 und 1910 lassen eine ungefähre Rekonstruktion der Anzahl der Personen, die in diesen Jahren in der Wiener Kulturwirtschaft tätig waren, zu. Die Kategorisierungsschemata stimmen jedoch untereinander nicht exakt überein und decken sich auch nicht mit jenen moderner Erhebungen (z. B. ÖNACE74). Der hier präsentierte Überblick entstand, indem für das Jahr 1910 jene Kategorien herausgesucht wurden, die den Bereichen der „Wiener Definition“ der Creative Industries aus dem frühen 21. Jahrhundert möglichst ähnlich sind. Danach wurden diesen Teilergebnissen wiederum die möglichst ähnlichen Bereiche aus den früheren Zensuslisten vorangestellt. Um allfällige Abweichungen der Definitionsbereiche transparent zu machen, sind die Bezeichnungen der Kategorien, für die Zahlen ausgewiesen werden, für alle Stichjahre angeführt (teilweise aus Platzgründen etwas abgekürzt). Auf diese Weise konnte für die Entwicklung der Wiener CI von 1890 bis 1910 folgender Überblick erstellt werden:

72 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1911, Wien 1913, 410. 73 Ebd., 411–440. 74 ÖNACE ist die österreichische Version des in der EU etablierten Gliederungsschemas wirtschaftlicher Tätigkeiten Nomenclature général des activités économiques dans les communautés européennes (NACE).

144

Andreas Resch

Tabelle 8: Beschäftigte in der Wiener Kulturwirtschaft 1890 bis 1910 1890 Architektur Manuf. + Repr. Cont. Orig.

Exchange Bildende Kunst/ Kunstmarkt Manuf. + Repr.

Cont. Orig.  

Exchange

Darstellende und Unterhaltungs-kunst Manuf. + Repr. Cont. Orig.

Exchange

Grafik/Mode/Design Manuf. + Repr.

1900 Berufstätige

Berufstätige

X.8 Baumeister, Arch., Civil- u Culturing., Geom., Drainage-techn.

2996

X.7 Bauuntern. u Bauunuterhaltg. (Hoch, Eisenb.-, Weg- u. Wasserbau)

8459

IX.3 Erz. v. Farben, Firnissen, Teer, Lacken etc. XIV.7 Rahmen-macher u. Vergolder XXVI.1 Maler u. Bildhauer 1/2 v. XI.1 Fotogr., Graveure etc.

656

IX.3 Farben, Firnisse etc.

1069

1183

XIV.7 Rahmen-macher u. Vergolder XXVII.1 Maler u. Bildhauer 1/2 v. XI.1 Fotogr., Graveure etc.

1418

1/3 v. XIX.12 Trödelhandel, Handel m. Abfällen 1/2 v XIX.10 Buch- u. Kunsthandel

1/2 v XXVI.4 Schausp., Tänzer, Sänger, Musiker, Theaterbed., öffentl. Schaustell. 1/2 XVI.4,6 u 7 Gasthof, Kaffeesieder, geist. Getränke

3815 2657,5

406,7

958,5

1/3 v XIX.15 Trödelhandel, Handel m. Abfällen 1/2 v XIX.13 Buch u. Kunsthandel

2994 3445,5

336,3

1704

2402

1/2 v XXVII.5 Schausp., Tänzer, Sänger, Musiker, Theaterbed. etc.

3060,5

12586

1/2 v XVI.4,6 u 7 Gasthof, Kaffeesieder, geist. Getränke

15205,5

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

145

1910 Berufst. inkl. Lehrl. u. mith. Fam.mgl. X.7 Bauuntern., techn. Bureaus, Architekten, Baumeister, Ziviling.

VIII.3 Firnisse, Lacke und Farben, Farb- und Bleistifte etc. XIV.5 Rahmenmacher u. Vergolder XXVIII.1 Maler u. Bildhauer XI.4 Sonst. Kunstgewerbe dieser Art (Muster­zeichner, Porträtm., Kalligr. etc.) 1/3 v. XVIII.14 Trödelhandel, Handel m. Abfällen 1/2 v XVIII.12 Buchund Kunsthandel

1/2 von XXVIII.5 Schausp., Tänzer, Sänger, Musiker, Theaterbed. etc. 1/2 von XXIII Gast- und Schankgewerbe

V.3 Gew. u. Bearb. v. Edel-, Halbedelst. u. Korallen

Davon weiblich

Exkl. Lehrl. u mith. Fam.mgl.

16333

2729

16232

929

252

911

768

75

709

1709

212

1691

2586

822

2377

391,7

149,7

354

2878,5

953,5

2804

3929,5

1302.5

3907,5

19503,5

7915,5

17286

156

33

127

146

Andreas Resch

1890 Architektur

1900 Berufstätige

XVII.1-6 Wäsche, Schneider, Putzmacher, Kürschner, Schuhm., Handsch. etc.

107471

Cont. Orig.

VI.1 Verarb. edler Metalle

 

 n.v.

 

1/2 v XI.1 Fotogr., Graveure etc. n.v.

2657,5

XIX.7 H. m. Mat. u. Prod. d. Textil u. Bekleidgsind. n.v.

10327

XI.2 Buchdr., Schriftgießer etc. XXVI.3 Schriftst., Redakteure, Stenogr., Schreiber 1/2 v XIX.10 Buch- u. Kunsthandel

6874

Exchange

Literatur/ Verlagswesen/ Printmedien Manuf. + Repr. Cont. Orig.

Exchange Musikwirtschaft Manuf. + Repr. Cont. Orig.

VIII.6 Musik Instrumente 1/2 v XXVI.4 Schausp., Tänzer, Sänger, Musiker etc.

4892

 

1646

958,5

1515 2402

Berufstätige XVII.1-6 Wäsche, Schneider, Putzmacher, Kürschner, Schuhm., Handschuhe etc. VI.1 Gold- u Silberdrahtzieher etc.

VII.2 Sonst. Verarb. v. Gold u Silber 1/2 v XI.1 Fotogr., Graveure etc. XIX.3 Handel m. Gold, Silber, Schmuckst.

104442

371

5069 3445,5 532

XIX.7 H. m. Mat. u. Prod. d. Textil u. Bekleidgsind. XIX.11 H. m. Holz-, Spiel-, Drechsler- u. Schnitzwaren

11335

XI.2 Buchdr., Schriftgießer etc. XXVII.3 Schriftsst., Redakteure, Privatgel., Journalisten 1/2 v XIX.13 Buch u. Kunsthandel

8995

VIII.6 Musik Instrumente 1/2 v XXVII.5 Schausp., Tänzer, Sänger, Musiker, Theaterbed. etc.

712

1508

1704

1545 3060,5

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910 und die Partizipation von J­ uden, Tschechen und „Staatsfremden“

147

1910

XVI.1-6 Wäsche, Schneider, Putzmacher, Kürschner, Schuhm., Handschuhe, Krawatten etc VI.10 Goldu Silberdraht­zieher etc.

VI.11 Sonst. Verarb v. Gold u. Silber XI.3 Fotogr. u. Lichtdruck XVIII.3 H. m. Gold, Silber, Schmuckst., Juwelen, Uhren XVIII.7 H. m. Mat. u. Prod. d. Textil u. Bekleidgsind. XVIII.10 H. m. Holz-, Spiel-, Drechsler- u. Schnitzw., m. Kurz-, Galanterie- u. Luxuswaren

Berufst. inkl. Lehrl. u. mith. Fam.mgl. 131006

Davon weiblich 68809

Exkl. Lehrl. u mith. Fam.mgl. 113278

331

148

300

5680

897

4790

2066

367

1914

1164

260

1113

19325

5532

17531

3080

928

2835

0

XI.1+2 Schriftg., Buchdruckerei etc. XXVIII.3 Schriftst., Journalisten, Redakteure, Privatgel. 1/2 v XVIII.12 Buchund Kunsthandel VII.8 Musikal. Instrumente 1/2 v XXVIII.5 Schausp., Tänzer, Sänger, Musiker, Theaterbed. etc.

15414

2912

13977

1471

174

1470

2878,5

953,5

2804

1706

141

1553

3929,5

1302,5

3907,5

148

Andreas Resch

1890 Architektur Exchange

1/2 XVI.4,6 u 7:Gasthof, Kaffeesieder, geist. Getr.

Museen/Bibliotheken Manuf. + Repr.   Cont. Orig. Exchange n.v.

Gesamtzahl Manuf. + Repr. exkl. Bekleidg. Cont. Orig. Exchange exkl. Gastronomie Zusammen Zus. mit Bekl. u Gastronomie

1900 Berufstätige

 

12586

 

Berufstätige 1/2 v XVI.4,6 u 7 Gasthof, Kaffeesieder, geist. Getr.

  n.v.

15205,5

 

10228

13027

18576 2323,7

31042 4988,3

31127,7 163770,7

49057,3 183910,3

Quelle: Österreichische Statistik XXXIII, Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1890 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1894, Tabelle II; Österreichische Statistik LXVI, Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. December 1900, 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1903, Tabelle II; Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1916, Tabelle II.

Wie bereits erwähnt, war es lediglich für sieben der zehn im Rahmen der „Wiener Definition“ der Creative Industries erfassten Bereiche möglich, entsprechende Zahlen in den Volkszählungen aus der Zeit um 1900 zu eruieren. Die Zensuslisten aus 1890 und 1900 weisen nur Hauptberufsträger exklusive Lehrlinge und mithelfende Familienangehörige aus, während diese in den Zahlen für 1910 auch enthalten sind. Zur besseren Vergleichbarkeit mit den früheren Stichjahren sind daher für 1910 in der rechten Spalte die Werte auch abzüglich der beiden genannten Gruppen angegeben. Im Folgenden seien einige Erläuterungen zur obigen Tabelle gegeben, insbesondere auch mit Hinweisen auf die Rolle von Juden, Tschechen und „Staatsfremden“.

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

149

1910

1/2 v XXIII Gast- und Schankgewerbe

  XXVII.3 Bibliotheken, wiss. Inst., Kunstsamml. u. dgl.

Berufst. inkl. Lehrl. u. mith. Fam.mgl. 19503,5

Davon weiblich 7915,5

Exkl. Lehrl. u mith. Fam.mgl. 17286

  290

99

  287

18973

3413

17277

37704 10682,7

7806 3343,7

36289 10197

67359,7 237372,7

14562,7 99202,7

63763 211613

2.2.1 Architektur

Die Architektur bot in Wien während der „zweiten Gründerzeit“ ab den 1890er-Jahren erneut reiche Betätigungsmöglichkeiten. Insgesamt verlagerte sich die Baudynamik mit der Fertigstellung der Ringstraßenpalais und der raschen Entwicklung der Industriebezirke entlang der Eisenbahnachsen räumlich und inhaltlich tendenziell in die Vorstadtbezirke. Leider lässt sich auf der Grundlage der hier verwendeten Quellen nicht angeben, inwieweit das ausgewiesene starke Wachstum der Beschäftigung in Baumeister-, Ingenieur- und Architekturbüros von knapp 3.000 Personen (1890) auf rund 16.000 (1910) unterschiedlichen Erhebungsmodi oder einem tatsächlichen Wachstum geschuldet ist. Es scheint sich in den Zahlen aber durchaus

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ein Trend zu einer überproportionalen Zunahme der Angestelltenberufe niederzuschlagen, wie er auch in anderen Bereichen des modernen Ingenieurwesens – etwa der Maschinenbauindustrie – zu beobachten war. Zweifellos gehörten Wien, aber auch Prag und Budapest vor dem Ersten Weltkrieg zu den Zentren der modernen Architektur in Mitteleuropa. Von den Stars der damaligen Architekturszene waren Adolf Loos in Brünn und Otto Wagner in Wien geboren. Aus Böhmen, Mähren oder Schlesien waren auch Josef Hoffmann, Josef M. Olbrich oder Ludwig Baumann zugewandert, während Jože Plečnik aus Laibach/ Ljubljana (Slowenien) stammte. Die Geburtsorte der beispielhaft genannten Personen verdeutlichen, in welch hohem Ausmaß die Zuwanderung aus allen Teilen der Monarchie, insbesondere aus den Ländern der böhmischen Krone, einen Beitrag zur Wiener Architekturszene erbrachte. Seit dem 18. Jahrhundert gehörte der böhmische Hochadel auch zu den großen Auftraggebern der Branche.75 Während Juden unter den Architekten offenbar nicht überrepräsentiert waren (selbst nach der breiten Definition „jüdischer Herkunft“, wie sie Steven Beller verwendet76), gehörten Angehörige ihrer Religionsgruppe, denen die Emanzipation neue Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet hatte, durchaus in hohem Ausmaß zu den Auftraggebern für die Bauwirtschaft. Zum Beispiel beauftragte der jüdische Schneider Leopold Goldman im Namen der Firma Goldman & Salatsch Adolf Loos mit dem Bau des berühmten Hauses am Michaelerplatz, das 1911 fertiggestellt und nach dem Architekten benannt wurde.77 Im Jahr 1910, als gerade der Neubau des Loos-Hauses eine großen Skandal hervorrief, ließ die damalige Geschäftsführerin des Herrenausstatters Kniže, Gisela Wolff, die Geschäftsräume ihres Unternehmens am Graben ebenfalls von Loos neu gestalten.78 In den ausführenden Bereichen der Baubranche (Bauarbeiten, Ziegelerzeugung etc.) entfiel ein erheblicher Teil der Arbeiterschaft auf dauerhafte und temporäre Zuwanderer aus den böhmischen Ländern und Italien.79 2.2.2 Audiovisueller Bereich (in der Tabelle nicht enthalten)

In der „Wiener“ CI-Definition folgt auf die Architektur der audiovisuelle Bereich. Dieser steckte vor dem Ersten Weltkrieg noch in den Kinderschuhen und ist der damaligen Statistik noch nicht zu entnehmen. Daher musste er in Tabelle 8 ausgelassen werden. Wien kann jedoch durchaus als interessantes frühes Zentrum der europäischen Filmwirtschaft gelten. 75 76 77 78

Vgl. Glettler, Böhmisches Wien, 68f. Beller, Wien und die Juden, 38. Marco Pogacnik, Adolf Loos und Wien (Architektur im Ringturm, 26), Salzburg – Wien 2011. Charlotte Natmeßnig, K. u. K. Hof-Schneider: Wien – Karlsbad – Berlin – Paris – Bad Gastein – New York. Die Firma Kniže, in Peter Eigner/Herbert Matis/Andreas Resch (Hrsg.), Entrepreneurship in schwierigen Zeiten, Wien 2013. 79 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 19ff., 52ff. und 417.

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Bereits 1896, ein Jahr nach der ersten Filmvorführung in Paris durch die Brüder Lumière, präsentierte deren Techniker Eugène Dupont hier das neue Medium, woraufhin in einigen Panoptiken, Konzertsälen und Varietés die ersten Kinos eingerichtet wurden. Bald folgten Wanderkinos und Lichtspiele in diversen Praterbuden. Ein Boom stationärer Filmtheater setzte nach der Jahrhundertwende ein: 1903 bestanden in Wien erst drei feste Kinos, 1915 waren es rund 150.80 Ab zirka 1910 entstanden die ersten relevanten Wiener Filmproduktionsunternehmen, unter ihnen die Wiener Kunstfilm GmbH, hinter der Louise Kolm, geborene Veltée, ihr Ehemann Gustav A. Kolm und ihr Kompagnon Jakob J. Fleck standen. Die Familie Veltée betrieb das bekannte Stadt-Panoptikon, wo man bereits Filmvorführungen veranstaltete. Die „Kunstfilm“ brachte 1912 den ersten großen österreichischen Spielfilm „Der Unbekannte“ auf den Markt.81 Zu einer dominierenden Größe im österreichischen Filmgeschäft wurde die 1910 vom böhmischen Aristokraten Alexander Joseph „Sascha“ Graf Kolowrat-Krakowsky gegründete Sascha-Filmfabrik. Das Unternehmen drehte Dokumentarfilme, publikumswirksame Spielfilme wie „Der Millionenonkel“ (1913) und während des Ersten Weltkriegs Propagandafilme. Nach 1918 wurde es in eine gleichnamige Aktiengesellschaft eingebracht, die u.a. Monumentalfilme wie „Sodom und Gomorrha“ (1922) oder „Die Sklavenkönigin“ (1924) herausbrachte.82 80 Walter Fritz, Kino in Österreich 1896–1930, Wien 1981; Christian Dewald/Michael Schwarz, Kino des Übergangs, in: Christian Dewald/Michael Schwarz (Hrsg.), Prater Kino Welt, Wien 2005, 13ff.; Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Logik der Transgression: Masse, Kultur und Politik im Wiener Fin-de-Siècle, in: Horak u.a. (Hrsg.), Metropole Wien, Bd. 1, 124–127; Andreas Resch, Das Geschäft mit Wort und Bild. Wirtschaftsgeschichte der Massenmedien und der Werbebranche in Wien (Kreativwirtschaft in Wien, Bd. 3), Wien – Berlin 2008, 107ff. 81 Markus Nepf, Die Pionierarbeit von Anton Kolm, Louise Veltée/Kolm/Fleck und Jakob Fleck bis zu Beginn des ersten Weltkriegs, Diplomarbeit, Wien 1991. Aus der Kunstfilm wurde 1919 die Vita-Film, die 1924 finanziell zusammenbrach. Anton Kolm verstarb 1922 und seine Witwe heiratete 1924 Jakob Fleck. Die beiden wurden ein bekanntes Regie-Ehepaar, das in der Zwischenkriegszeit in Wien und Berlin arbeitete. 1940 flüchteten sie, da Fleck gemäß den rassistischen NS-Gesetzen als Jude galt, nach Shanghai. 82 Elisabeth Büttner/Christian Dewald, Das tägliche Brennen. Eine Geschichte des österreichischen Film von den Anfängen bis 1945, Salzburg 2002, 182ff. Kolowrat verstarb 1927 und die Sascha Filmindustrie AG wurde 1931 von den Gebrüdern Pilzer und der Tobis AG (Berlin) saniert. Die Brüder Pilzer wurden ihrerseits 1937 unter antisemitischem Druck vonseiten des deutschen Marktes aus dem Unternehmen gedrängt. Armin Loacker, Anschluß im ¾-Takt. Filmproduktion und Filmpolitik 1930–1938, Trier 1999; Ders., Oskar Pilzer and the Austrian Film Industry in the 1930s. Oskar Pilzer und die österreichische Filmwirtschaft der dreißiger Jahre, in: Eleonore Lappin (Hrsg.), Jews and Film. Juden und Film, Wien 2001, 36–56; Resch, Geschäft mit Wort und Bild, 130ff.

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2.2.3 Bildende Kunst/Kunstmarkt

Als Maler und/oder Bildhauer arbeiteten 1910 rund 1.700 Personen. Ihre Zahl hatte seit 1890 stark abgenommen. Mehr den Bereichen der Gebrauchsgrafik zuzurechnen sind die rund 2.600 Personen, die 1910 als Musterzeichner, Porträtmaler, Kalligrafen etc. im Rahmen der grafischen Gewerbe erfasst wurden. In beiden zuvor durchgeführten Erhebungen wurden sie noch nicht getrennt von der Gruppe der Fotografen, Xylografen etc. erfasst. Da die beiden Untergruppen 1910 etwa gleich groß waren, wurde für 1890 und 1900 je die Hälfte der Gezählten den Fotografen etc. und den Musterzeichnern, Porträtmalern etc. zugeordnet. Sowohl die starke zahlenmäßige Abnahme der Maler und Bildhauer als auch der Gebrauchsgrafiker ist einerseits Unschärfen der Daten, andererseits zweifellos auch einer tatsächlich sinkenden Nachfrage zuzuschreiben. Während der ersten und zweiten Gründerzeit (um 1870 und ab den 1890er-Jahren) war es zu einer erhöhten Bauproduktion in den besten Lagen Wiens gekommen, die auch zu einer Nachfrage nach Ausstattung mit Kunst geführt hatte. Davon hatten dekorative Maler des Historismus wie Hans Makart, später auch modernere Richtungen sowie traditionelle Zweige, wie etwa die Vedutenmalerei,83 profitiert. Diese Dynamik ging jedoch mit der Fertigstellung der Ringstraßenbauten und ähnlicher Projekte spürbar zurück. Somit mussten sich Maler in der Zeit, als sich die Secession als führende, moderne Strömung etablierte, in einem insgesamt eher schrumpfenden Markt für Produkte aktueller bildender Kunst behaupten – vielleicht wirkte gerade dieser Umstand als ökonomischer Stimulus für künstlerische Differenzierungen in Richtung kontrovers wahrgenommener Moderne. Für diese begeisterten sich dann wiederum Angehörige des modernen Bürgertums, unter ihnen ein erheblicher Anteil jüdischer Herkunft, sei es im Sinne engerer oder breiterer Definitionen.84 Wie schon die Studierendenzahlen in den diversen Akademien gezeigt haben, waren Juden und Protestanten in den bildenden Künsten merklich unterrepräsentiert; ein offensichtlicher Zusammenhang mit ihrer bilderfernen85 religiösen Kultur. Die katholische Tradition war hingegen, wie in der Prachtentfaltung des Barock anschaulich demonstriert, dem Bild stärker zugetan. Von der Produktion bildender Kunst profitierten auch diverse zuliefernde Branchen wie Rahmenmacher, und Farbenerzeuger etc. Der reale, quantitative Rückgang, der durch die abnehmenden ausgewiesenen Künstlerzahlen angedeutet wurde, bestätigt sich auch in einer schrumpfenden Anzahl etwa von Rahmenmachern und Vergoldern etc.: Diese ging von mehr als 1.400 im Jahr 1900 auf gut 700 (1910) zurück, wobei durch die zunehmende Mechanisie83 Vgl. etwa Doris H. Lehmann, Historienmalerei in Wien: Anselm Feuerbach und Hans Makart im Spiegel zeitgenössischer Kritik, Köln – Wien 2011. 84 Beller, Wien und die Juden, 34f. 85 Vgl. ebd.

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rung – auch des Gewerbes – dank des Aufkommens elektrischer Antriebe jedoch durchaus Produktivitätssteigerungen zu vermuten sind. Der Tertiärsektor im Bereich des Buch- und Kunsthandels hingegen weitete sich von 1890 bis 1910 um 190 Prozent aus – ein Indiz für den Trend zunehmend dienstleistungsintensiver Distribution, auch am Kunstmarkt. 2.2.4 Darstellende und Unterhaltungskunst

Berufe im Bereich der darstellenden und Unterhaltungskunst konnten in unterschiedlichen Umfeldern, von den etablierten großen Bühnen wie dem k. k. Hofburgtheater bis hin zu den Spektakeln und Unterhaltungsstätten in den räumlich und sozial peripheren Bereichen Wiens, angesiedelt sein. Um 1910 zählte man 17 Theater mit zusammen 18.832 Sitzplätzen. Vier der Häuser waren im ersten, fünf im zweiten und je zwei im sechsten und neunten Bezirk situiert, alle innerhalb des Gürtels. In 16 dieser 17 Theater fanden 1910 insgesamt 5.314 Vorstellungen statt, im Durchschnitt also 14 pro Tag.86 Über Vorstadtbühnen und Stätten „plebejischer“ Lustbarkeiten, die zum Teil vermutlich auch im Bereich der Schattenwirtschaft angesiedelt waren, sind keine Statistiken überliefert. Einen hohen Stellenwert genoss das Theaterwesen auch im Rahmen der tschechischen Kultur in Wien. Bereits 1863 war der erste tschechische Theaterverein „Pokrok“ (Fortschritt) ins Leben gerufen worden, 1904 folgte der sozialdemokratische Verein „Máj“. Auch Gastspiele tschechischer Bühnen (z. B. Prager Nationaltheater und Brünner Oper) fanden immer wieder statt. Als prominenter tschechischer Schauspieler ist zum Beispiel Vladimir Šamberg zu erwähnen, der am Volkstheater große Erfolge feierte.87 Als bekannter Schauspieler jüdischer Herkunft galt Adolf von Sonnenthal, ein Star des Hofburgtheaters. In den Volkszählungen wurden alle aufführenden Künstler gemeinsam erfasst. In der obigen Tabelle wurden sie willkürlich je zur Hälfte der Musik und den darstellenden Künsten zugeordnet, sodass zwar deren Gesamtzahl korrekt, die Unterteilung hingegen ungenau ist. Gemäß den so produzierten Daten hat die Anzahl von Schauspielern, Theaterbediensteten etc. von 2.400 im Jahr 1890 bis 1910 um gut 60 Prozent auf mehr als 3.900 zugenommen. Für die nicht im Bereich der Hochkultur Tätigen boten diverse gastwirtschaftliche Etablissements zahlreiche Auftrittsmöglichkeiten. Die Beschäftigtenzahlen in der Gastronomie haben von 1890 bis 1910 um knapp 40 Prozent auf 17.000 bzw. 19.000 (ohne oder mit Lehrlingen und mithelfenden Familienangehörigen) zugenommen.

86 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1911, Wien 1913, 515. 87 Glettler, Böhmisches Wien, 86.

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2.2.5 Grafik/Mode/Design

Zum Inbegriff der Fin de Siècle-Ästhetik wurde der Jugendstil. Dieser prägte auch das bekannteste Design-Unternehmen jener Zeit, die Wiener Werkstätte. Die 1903 von Josef Hoffmann und Kolo(man) Moser gegründete Firma setzte, inspiriert von der britischen Mackintosh-Bewegung, auf gediegene Gestaltung und hochwertige kunsthandwerkliche Ausführung von Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Zu den Designern gehörten neben den Gründern und weiteren führenden Secessionisten z. B. Mathilde Flögl (geboren in Brünn), Carl O. Czeschka (Sohn böhmisch-mährischer Eltern, geboren in Wien), der aus der Steiermark zugewanderte Michael Powolny sowie Otto Prutscher.88 Die Wiener Werkstätte, die sich gegen die Methoden moderner industrieller Produktion zu positionieren trachtete, litt unter notorischen Finanzproblemen und verdankte ihr wirtschaftliches Überleben umfangreichen Kapitalzufuhren vonseiten des aus einer jüdischen Familie stammenden Textilindustriellen Fritz Waerndorfer.89 Daneben standen Gestaltern und Produzenten jeglicher Produkte des täglichen Bedarfs umfangreiche Strukturen gewerblichen und kunstgewerblichen Handwerks zur Verfügung. 1910 zählte man in Wien z. B. mehr als 1.500 Personen, die Töpferwaren, Fayencen etc. erzeugten, 7.000 Personen, die Gold und Silber verarbeiteten, 8.000 Schmiede und Eisengießer, knapp 18.000 Klempner und Verarbeiter von Messing, Bronze, Zinn, Blei etc., beinahe 1.800 Beschäftigte, die Uhren erzeugten und/oder reparierten, 6.200 Riemer, Sattler und Taschner und 47.000 Holzverarbeiter.90 Selbstverständlich ist nur ein kleiner Teil dieser Berufstätigen tatsächlich dem Manufacturing-Bereich der Creative Industries zuzurechnen, weswegen diese Gruppen nicht pauschal in die Gesamtzahl der Beschäftigten in der Kulturwirtschaft inkludiert wurden. Die Angaben verdeutlichen jedoch, in welch hohem Ausmaß die geballten einschlägigen Fähigkeiten als ermöglichender Faktor für die Entwicklung der CI in Wien wirkten. Gemäß dieser Logik behauptete sich Wien auch als starker Standort der Bekleidungserzeugung und Modebranche. Diese reichte von Luxusschneidern wie Kniže am Graben (mit tschechischen Wurzeln)91 und der bereits erwähnten Firma Goldman & Salatsch im Loos88 Otto Prutscher wurde 1939 zwangspensioniert, weil er sich von seiner Frau Helene, geb. Süßmandl, nicht scheiden ließ, die unter die Bestimmungen der nationalsozialistischen „Rassengesetze“ fiel. 89 Herta Neiß, Wiener Werkstätte. Zwischen Mythos und wirtschaftlicher Realität, Wien u.a. 2004. 90 Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreiche und Ländern, 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1916, Tab. II. 91 Vater und Sohn Kniže etablierten sich im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts erfolgreich als prominente Schneider. In den 1880er-Jahren wurde die Firma von der jüdischen Händlerfamilie Wolff übernommen, die das Unternehmen weiter ausbaute. Vgl. Natmeßnig, K. u. K. Hof-Schneider.

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Haus, die jüdischen Eigentümern gehörte, bis hin zur Erzeugung von Konfektions-Massenware in ausgedehnten Netzwerken von Verlegern, Zwischenmeistern und Heimarbeit. Diese Branche beschäftigte seit 1890 stabil ungefähr 110.000 Personen (mit Lehrlingen und mithelfenden Familienangehörigen 1910 sogar 131.000 Berufstätige) und war damit der größte Arbeitgeber in Wien. Die Bekleidungsbranche galt traditionell als Geschäftsbereich, in dem jüdische Händler einen hohen Stellenwert hatten, Schneider und Schuhmacher waren auch typische Berufe von tschechischen Migranten. Zuwanderer spielten somit in Design, Vertrieb und Produktion zweifellos eine überproportional große Rolle. Die Produktionszentren in Wien (sowie in Mähren) bildeten überdies die Grundlage für einen florierenden Exporthandel mit Wäsche.92 Vor Ort erwies sich für die Produktion von Mode- und Designartikeln die Kombination der großen Nachfrage in der Metropole mit kundennaher Erzeugung als Wettbewerbsstärke, weswegen diese Bereiche im Gegensatz zur fabrikmäßigen Textilindustrie nicht aus der Stadt abwanderten.93 Aus inhaltlicher Sicht sind gewiss nicht alle Beschäftigten in der Kleidungserzeugung als Reproduzierer von schützbaren Designs und somit als Teil des Manufacturing-Sektors der Creative Industries zu erachten. Gemäß der „Wiener Definition“ werden sie jedoch den CI zugerechnet, weswegen in Tabelle 8 eine alternative Gesamtsumme aller Beschäftigten unter Einschluss der Bekleidungserzeugung ausgewiesen wird. 2.2.6 Literatur/Verlagswesen/Printmedien

Der Bereich Literatur/Verlagswesen/Printmedien gehörte seit dem Aufkommen der Massenpresse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den dynamischen Wachstumsbranchen der Wiener Ökonomie. Im Jahr 1911 erschienen 63 Tageszeitungen, 24 Zeitschriften, die wöchentlich zwei oder drei Mal herauskamen, 304 Wochenschriften, 363 vierzehntägige Blätter, 461 Monatsmagazine und 39 Periodika mit geringerer Erscheinungsfrequenz. Das Pressewesen94 bot neben den deutschsprachigen Erzeugnissen 39 Periodika in tschechischer Sprache, darunter drei Tageszeitungen. Auf die Interessen der unterschiedlichen Religionsgruppen hatten sich 26 Zeitschriften spezialisiert.95

92 Als zeitgenössische Darstellung siehe etwa Hedwig Lemberger, Die Wiener Wäsche-Industrie, Wien – Leipzig 1907. 93 Meißl, Im Spannungsfeld. 94 Vgl. Kurt Paupié, Handbuch der österreichischen Pressegeschichte 1848–1959, Bd. I: Wien, Wien – Stuttgart 1960; Gabriele Melischek/Josef Seethaler, Die Presse als Indikator des Modernisierungsprozesses am Beispiel Cisleithaniens 1880–1910, in: 23. Österreichischer Historikertag, Salzburg 2003, 553–565; Resch, Geschäft mit Wort und Bild, 17ff. und 29ff. 95 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1911, Wien 1913, 512f.

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Die größeren Zeitungshäuser verfügten zumeist über eine eigene Druckerei. Zum Beispiel besaß die Österreichische Journal AG, welche die Neue Freie Presse herausgab, moderne Rotationsmaschinen und der Steyrermühl-Konzern wies eine Produktionstiefe von der Papierherstellung in Oberösterreich bis zur Erzeugung des Neuen Wiener Tagblatts im Steyrerhof am Fleischmarkt auf. Als weitere, teilweise miteinander verflochtene Unternehmen können die Gesellschaft für graphische Industrie, die Elbemühl Papierfabriks- und Verlagsgesellschaft sowie die Waldheim-Eberle AG genannt werden.96 Des Weiteren erschienen seit dem späten 19. Jahrhundert mehrere Parteizeitungen in hoher Auflage. Die christlichsoziale Reichspost entstand in der Herold-Druckerei, die Sozialdemokraten gaben u.a. seit 1889 die auflagenstarke Arbeiter-Zeitung heraus. Um die Jahrhundertwende kamen überdies billige, bebilderte Massenzeitungen auf den Markt, wie das Neue Wiener Journal und die Kronen Zeitung, welche 1912 eine Auflage von 180.000 Stück erzielte.97 Als Zentrum für Buchverlage hatte sich Wien eher schwach entwickelt, nicht zuletzt infolge der Zensur während der Metternich-Ära und der zögerlichen gesetzlichen Anerkennung von geistigen Eigentumsrechten. Trotzdem bestanden einige traditionsreiche Buchhändler und Verleger, wie etwa Artaria, der erfolgreiche Musikverlag Universal Edition sowie neue Buchhändler wie der Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky oder das Zeitungsbüro Goldschmiedt, aus dem später die Morawa-Gruppe hervorging.98 Die Anfänge des modernen Pressewesens gingen auf die liberale Ära zurück und damals hatten Akteure jüdischer Religion und/oder Herkunft in einem überproportionalen Ausmaß die neuen Chancen zu nutzen vermocht. Somit galten der Zeitungsbereich, aber auch das Literaturleben als besonders stark von jüdischen Akteuren beeinflusst. Steven Beller erachtet das literarische Schaffen als das „Kernstück“ der Wiener Kultur des Fin de Siècle, und er legt dar, dass ein großer Teil der damals zentralen Literatengruppe „Jung Wien“ jüdisch oder jüdischer Herkunft war.99 Gerade diese Zuordnung macht aber deutlich, wie vielschichtig, komplex und widersprüchlich sich diese Identitäten aus der Perspektive der Personen selbst, aber auch ihrer Um- und Nachwelt darstellen. Von den „Jung Wien“-Autoren hatte allein Hermann Bahr keinen „jüdischen Hintergrund“, aber die meisten anderen, wie Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann und Felix Salten, waren keine praktizierenden Juden im religiösen Sinne, manche waren aus der Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Karl Kraus hat sich bekanntlich 1898 explizit vom Judentum distanziert.100 Zahlreiche führen96 Sie alle wurden vor und nach dem Ersten Weltkrieg in der Rikola-Gruppe von Richard Kola zusammengeschlossen, welche aber ihrerseits bald wieder auseinanderbrach. 97 Paupié, Handbuch, 173. 98 Vgl. zur Verlagsgeschichte Murray G. Hall, Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938, 2 Bde., Wien 1985. 99 Beller, Wien und die Juden, 29–31. 100 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 423.

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de Literaten der Zeit – ob jüdisch oder nicht – waren nach Wien zugewandert, z. B. Rainer Maria Rilke aus Prag, Alexander Roda Roda aus Slawonien, Salten aus Budapest. Die Tschechen in Wien organisierten eigene Strukturen von Presse- und Verlagswesen. Um die Jahrhundertwende hatten sich Dĕlnická listy (Arbeiterzeitung, Auflage 1914: 13.700 Stück) und Vídeňský denik (Wiener Tagblatt) fest als Tageszeitung etabliert, daneben erschienen von Seiten der nationalen tschechischen Sozialdemokraten die Vídeňské listy (Wiener Blätter) vorübergehend als Tagblatt, danach als Wochenblatt. Zu den führenden tschechischen Produktionsbetrieben gehörte die Druckerei Melantrich (gegründet 1897) sowie die Lidová knihtiskárna (Volks-Buchdruckerei) der Sozialdemokraten mit angeschlossenem Verlag Vídeňská lidová knihovna (gegr. 1908). Ab den 1860er-Jahren entstanden mehrere Volksbüchereien, u.a. im Rahmen der tschechischen bzw. slawischen Vereine Slovanská Beseda und Akademický spolek. Aus dem Leseverein tschechischer Beamter wurde 1898 der Svatopluk Čech, der mit 660 Mitgliedern die größte tschechische Leihbibliothek im Jahr 1914 betrieb. Auch die tschechische Komenský-Schulbewegung engagierte sich im Aufbau von Bibliotheken. Mehreren tschechischen bzw. böhmischen Autorinnen und Autoren gelangen bemerkenswerte literarische Erfolge. Man denke etwa an Bertha von Suttner, eine geborene Gräfin Kinsky, Josef Svatopluk Machar (geboren in Kolín), der von 1891 bis 1918 in Wien lebte, den in Oberösterreich geborenen Sohn tschechischer Eltern Karel Klostermann oder an Ivan Cankar, einen Literaten, der eindrucksvolle Sozialreportagen über Wien um 1900 verfasste.101 Die Druckereiberufe gehörten zur „Arbeiteraristokratie“. Sie stellten hohe fachliche Anforderungen und die Berufstätigen hatten sich frühzeitig wirksam organisiert. Wichtige Voraussetzungen für den Erfolg in diesen Berufen waren die Beherrschung der deutschen Sprache, handwerkliches Geschick und ein guter Blick für grafische Gestaltung. Folglich war diese Branche weniger gut zugänglich für Migranten und Migrantinnen aus ländlichen, bildungsfernen und/oder fremdsprachigen Gebieten. 2.2.7 Musikwirtschaft

Die Musikwirtschaft reichte, wie die darstellenden Künste, von der Hochkultur in elitären Konzertsälen und privaten Salons über Musik im privaten Rahmen bis zu Musikdarbietungen und Hintergrundmusik in allen Arten von Gastronomie und Unterhaltungsstätten, die zahlreichen haupt- und nebenberuflichen Musikern Arbeitsmöglichkeiten boten. Wichtigster Ort für das Wiener Konzertleben war seit seiner Fertigstellung im Jahr 1870 das Musikvereinsgebäude; das Konzerthaus mit seinen drei Sälen wurde erst 1913 eröffnet. Daneben fanden Aufführungen in zahlreichen temporär für Konzerte genutzten Sälen statt.

101 Maderthaner, Kultur Macht Geschichte, 32f.

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Die verbreiteten Formen des Musiktheaters (Oper, Operette, populäre Singspiele und Volkskomödien) zeigen die wenig trennscharfen Übergänge zwischen Musik und darstellender Kunst auf. Die Gesamtzahl aufführender Künstler und Theaterbediensteter erhöhte sich von weniger als 5.000 im Jahr 1890 auf beinahe 8.000 im Jahr 1910. Wie bereits erwähnt, wurden in obenstehender Tabelle willkürlich 50 Prozent davon den darstellenden Künsten und 50 Prozent, also etwa 4.000, der Musikwirtschaft zugeordnet. In diesem Bereich waren auch viele Personen (offiziell oder inoffiziell) nebenberuflich tätig. Im Jahr 1900 kam die offizielle Statistik auf knapp 700 nebenberufliche Schauspieler, Tänzer, Sänger, Musiker, wobei hier zweifellos eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist. Bis zum Ende der Monarchie war die maschinelle Tonaufzeichnung nicht so weit entwickelt, dass sie Live-Musik ersetzen hätte können, weswegen die Nachfrage nach einer großen Zahl haupt- und nebenberuflicher Musiker und Musikerinnen aufrechtblieb. Das wohl glanzvollste Genre der Musikwirtschaft, die Oper, erlebte um 1900 während der Direktion von Gustav Mahler eine Blütezeit. Gegen den aus Mähren zugewanderten Komponisten und Dirigenten formierten sich massive antisemitische Intrigen. 1908 ging er an die Metropolitan Opera nach New York. Im Bereich der sogenannten E-Musik war Wien um 1900 erneut Schauplatz einer Revolution, die von der „Zweiten Wiener Schule“ ausging. Als führende Persönlichkeit tat sich Arnold Schönberg hervor, der „jüdischer Herkunft“ war, was auf seine berühmtesten Schüler Alban Berg und Anton (von) Webern nicht zutraf. Die großen Komponisten Brahms und Bruckner sind ebenfalls nicht einmal nach der „breiten“ Definition Bellers als Juden zu kategorisieren, waren aber beide keine geborenen Wiener – Brahms stammte aus Hamburg, Bruckner aus Oberösterreich. Aus Platzgründen kann hier nicht auf die große Zahl von Komponisten und Musikern im Einzelnen und die Frage, wer von ihnen nach welchem Kriterium welcher Religions- oder Sprachgruppe zuzuordnen ist, eingegangen werden.102 Steven Beller resümiert, dass der „jüdische Anteil“ insbesondere an Schönbergs (und natürlich auch Mahlers) Kreis „sehr bedeutend gewesen“ sein muss.103 Geradezu als Ausprägung früher kommerziell erfolgreicher Popularmusik können die Musikunternehmungen von Josef Lanner und Johann Strauß (Vater) erachtet werden, wie sie von den 1820er bis in die 1840er-Jahre bestanden. In manchen Darstellungen wird die Strauß-Dynastie auch dem „jüdischen Wien“ zugerechnet, da der Großvater von Johann Strauß Vater, der Budapester Johann Michael Strauß, erst anlässlich seiner Heirat um die Mitte des 18. Jahrhunderts vom Juden- zum Christentum übergetreten war.104 Eine derartige Zurechnung von Personen, die selbst der jüdischen Herkunft bereits sehr fern waren, muss 102 Vgl. etwa auch Wolfdieter Bihl, Die Juden, in: Die Völker des Reiches, 2. Teilband (Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. III), Wien 1980, 880–948, hier: 930f. 103 Beller, Wien und die Juden, 33. 104 Bihl, Die Juden, 930.

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aber wohl als Überdehnung eines (wohlmeinenden) Ansatzes gesehen werden, die Breite der jüdischen Beteiligung am Kulturleben herauszustreichen. Johann Strauß Sohn wandte sich ab den späten 1860er-Jahren auch der Operette zu, woraufhin er gemeinsam mit Franz von Suppé und Carl Millöcker die „Goldene Ära“ dieses Genres dominierte. Suppé war aus Split zugewandert, Millöcker wie Strauß in Wien geboren. Von den Komponisten, die sich in der „Silbernen Ära“ ab etwa 1900 erfolgreich behaupteten, waren zum Beispiel Leo Fall, Edmund Eysler, Oscar Straus und Emmerich Kálman „jüdischer Herkunft“.105 Robert Stolz (geboren in Graz), der seit 1899 im Wiener Operettengenre tätig war, wanderte nach dem „Anschluss“ 1938 in die USA aus, da er den Nationalsozialismus ablehnte. Von 1933 bis 1938 war er mehreren jüdischen Kollegen bei der Flucht aus NS-Deutschland behilflich. Parallel zum Beginn der „Goldenen“ Operetten-Ära begannen in den 1860er-Jahren die Gebrüder Schrammel das Wienerlied zu erneuern; das legendäre Schrammel-Quartett konstituierte sich 1878. Der Komponist des Fiakerliedes, Gustav Pick, stammte aus Rohoncz (Rechnitz) in Ungarn (heute Burgenland), wo er im jüdischen Ghetto aufgewachsen war.106 Im Kulturleben der Wiener Tschechen hatte die Musik ebenfalls einen hohen Stellenwert. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wirkten die Brüder Drahanek als Pioniere im Genre, das Lanner und Strauß groß machte. Im Jahr 1865 entstand der tschechische Gesangsverein Lumir. Um 1900 war der Prager Komponist Antonín Dvořák, ein Freund von Brahms, eng mit dem Wiener Musikleben verbunden. Hier wirkten (zeitweilig) auch der Komponist Josef Bohuslav Foerster und der Bratschist und Komponist Oskar Nedbal. An der Hofoper brillierten u.a. Maria Jeritza und Leo Slezak.107 Die Instrumente der Musiker wurden teils von ungefähr 1.700 Instrumentenmachern in Wien erzeugt, kamen teils aus anderen Zentren dieses Gewerbes. Zum Beispiel arbeiteten im Handelskammerbezirk Eger im Jahr 1910 rund 4.200 Personen in diesem Metier.108 Vielen Interessierten boten preisgünstige böhmische Instrumente die Chance, mit dem Musizieren zu beginnen. 2.2.8 Museen/Bibliotheken

Die Ringstraßenära war auch die Zeit großer Museumsbauten. So entstanden z. B. zwischen 1857 und 1867 das Heeresmuseum, das Kunsthistorische und Naturhistorische Museum und

105 Beller, Wien und die Juden, 31f. 106 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 425. 107 Glettler, Böhmisches Wien, 18 und 90–96. 108 Österreichische Statistik, Neue Folge, 1. Bd., Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 1. Heft, Die summarischen Ergebnisse der Volkszählung, Wien 1912, Tabelle XIII.

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das Museum für Kunst und Industrie, welches 1871 den Backsteinbau am Stubenring bezog.109 Angesichts dieser starken Entwicklung scheint mit der ausgewiesenen Zahl von 290 Berufstätigen im Bereich „Bibliotheken, wissenschaftliche Institute, Kunstsammlungen und dgl.“ der tatsächliche Beschäftigtenstand womöglich unterrepräsentiert zu sein. Näheren Aufschluss könnten nur Quellen zu den einzelnen Häusern geben. 2.2.9 Gesamtzahlen

Insgesamt erlaubt die Tabelle, bei aller Unschärfe und Unvollständigkeit, einen ungefähren Überblick über die Gesamtentwicklung der Wiener Kulturwirtschaft von 1890 bis 1910. Im zentralen Bereich der Content Origination hat sich die Zahl der Berufstätigen von etwa 18.000 im Jahr 1890 auf ungefähr 36.000 (1910) verdoppelt. Eine noch stärkere Wachstumsdynamik erlebten die verbundenen Handelsberufe, wo sich die Zahl der Erwerbstätigen von 2.300 auf über 10.000 Personen erhöhte. Die Zuordnung von verbundenen Erzeugungsbereichen (Zulieferung und Reproduktion) musste notgedrungen besonders unscharf bleiben. Die Zahl der eindeutig zuordenbaren Berufstätigen stieg von 10.000 auf über 18.000 an. Berücksichtigt man in der Gesamtzahl auch die Bekleidungsbranche (Manufacturing) und Gastronomie (Rahmen für Aufführungen, also Distribution) so kommt man für 1910 auf eine Gesamtzahl von 237.000 Berufstätigen (einschließlich Lehrlinge und mithelfende Familienangehörige).110 Nach der Erläuterung der einzelnen CI-Untergruppen sei auf die zahlenmäßige Gliederung in ethnische und religiöse Gruppen eingegangen. Diese konnten in den Erläuterungen zur Tabelle 8 lediglich impressionistisch angedeutet werden. Differenzierende, quantifizierende Angaben können den Volkszählungstabellen aus 1910 nur auf der Ebene gröber gefasster Berufsgruppen entnommen werden, nicht für die einzelnen Berufsarten. Als Berufsgruppen, die besonders eng mit der Kulturwirtschaft verbunden waren, seien die grafischen Gewerbe, die Verarbeitung von Holz- und Schnitzstoffen, die Bekleidungsgewerbe, der Warenhandel, das Gast- und Schankgewerbe sowie die Berufsgruppe XXVIII (Maler und Bildhauer, Schriftsteller, Journalisten, Redakteure, Privatgelehrte, Schauspieler, Tänzer, Sänger, Musiker, Theaterbedienstete etc.) herausgegriffen. Die letztgenannte Gruppe umfasst relativ trennscharf als „Künstler“ und „Künstlerinnen“ tätige Personen. In der folgenden Tabelle werden die Anzahl der Berufstätigen in diesen Berufsgruppen sowie in Klammer der geschätzte Anteil tatsächlicher CI-Berufe angegeben.

109 Vgl. etwa Maria Dawid/Erich Egger, Der österreichische Museumsführer, Wien 1985. 110 Dabei großteils nicht berücksichtigt sind Erzeugungsberufe in der Verarbeitung von unedlen Metallen und Holz (außer Rahmenmacher), obwohl viele von ihnen auch eine wichtige Rolle bei der Realisierung von hochwertigen Designs und Plänen spielten. Die Volkszählungslisten bieten jedoch keine Grundlage für eine eindeutige Zuordnung.

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

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Tabelle 9: CI-relevante Berufsgruppen 1910 Berufsgruppe Berufstätige XI Polygrafische Gewerbe (100 %) 20.066 XIV Holz- und Schnitzstoffe, Kautschukverarbeitung (?) 46.888 XVI Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe (85 %) 154.185 XVIII Warenhandel (30 %) 109.694 XXIII Gast- und Schankgewerbe (Nachfrager für Musik etc.) 39.007 XXVIII „Künstler“ = Sonstige freie Berufe (ca. 85 % bildende, schreibende u. aufführende Künstler u. Künstlerinnen) 14.970

Davon weiblich 4.101 3.970 82.824 37.763 15.831 3.890

Quelle: Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 2. Heft, Niederösterreich, Wien 1916, Tabelle II.

Dem CI-Kernbereich eigentlicher „Künstlerberufe“ gehörten 1910 beinahe 15.000 Personen (bzw. geschätzt etwa 85 Prozent davon, also knapp 13.000 Personen) an, wobei der Anteil der Frauen bei etwa einem Viertel lag. Zum Vergleich: Von allen Wiener Berufstätigen waren 35 Prozent weiblich. Kunst war somit in einem überdurchschnittlichen Ausmaß eine Männerdomäne. Die grafischen Gewerbe waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders stark gewachsen und beschäftigten 1910 mehr als 20.000 Erwerbstätige. Der Anteil an Berufstätigen im Bereich der Holzverarbeitung, die tatsächlich ausführend für Kreative tätig waren, lässt sich nicht schätzen – es erscheint aber als plausibel, dass diese Berufsgruppe für diverse CI-Bereiche von erheblicher Relevanz war. Von der Berufsgruppe XVI gehörten etwa 15 Prozent den Bereichen Reinigung, Friseurgewerbe und Badeanstalten an, die übrigen 85 Prozent befassten sich mit der Erzeugung von Bekleidung und Schuhen. Diese sind, trotz oben bereits ausgeführter inhaltlicher Vorbehalte, gemäß der „Wiener Definition“ den CI zuzurechnen. Von den beinahe 110.000 Beschäftigten im Warenhandel arbeiteten rund 30 Prozent in Bereichen, die überwiegend mit CI-Produkten handelten, wie etwa Schmuck, Uhren und Juwelen, Bekleidung, Papierwaren und Zeichenrequisiten, Holz-, Spiel-, Drechslerwaren etc., Buch- und Kunsthandel und Trödelhandel. Die Gast- und Schankgewerbe sind vor allem deswegen angeführt, weil sie zahlreichen aufführenden Künstlern und Künstlerinnen Auftrittsmöglichkeiten boten. Für die genannten Berufsgruppen lassen sich aufgrund der Volkszählung 1910 Untergruppen nach Umgangssprache und Staatszugehörigkeit bilden.

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Andreas Resch

Tabelle 10: Tschechen, Ungarn und Staatsfremde insgesamt in CI-relevanten Berufen 1910

XI Polygrafische Gewerbe XIV Holz- und Schnitzstoffe, Kautschukverarbeitung XVI Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe XVIII Warenhandel XXIII Gast- und Schankgewerbe XXVIII Sonstige freie Berufe („Künstler“) Berufstätige gesamt, inkl. Militär

Berufstätige Umgangsspr. Staatsfremde Böhm.aus Länd. d. Mähr.-Slow. ung. Krone 20.066 221 1.105

Andere Staatsfremde Staatsfremde insgesamt 619

1.724

46.888

6.155

2.783

488

3.271

154.185 109.694

17.194 1.544

11.734 13.879

1.855 2.750

13.589 16.629

39.007

552

3.607

436

4.043

14.970

224

1.300

1.065

2.365

1.094.185

56.234

90.224

22.699

112.923

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1913, Wien 1916, Anhang. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, Tabelle C.

Anhand der Tabelle ist zu erkennen, dass in den „Künstlerberufen“ (XXVIII) die slawischen Sprachen deutlich unterrepräsentiert waren. Nur etwa 220 Personen (1,5 Prozent der Berufsgruppe) gaben Böhmisch-Mährisch-Slowakisch als Umgangssprache an, während dieser Wert für alle Berufstätigen insgesamt bei 5,1 Prozent lag (56.234 von 1.094.185). Ausländer hingegen trugen in einem überproportionalen Ausmaß zur Kunstproduktion bei. 8,7 Prozent (1.300) gehörten den Ländern der ungarischen Krone und 7,1 Prozent (1.065) anderen Staaten an. Darunter befanden sich rund 550 Personen aus Preußen, Bayern und Sachsen, 148 aus Russland, 72 aus Italien und zehn aus Bosnien und Herzegowina.111 Ausländer aus Ungarn machten insgesamt 8,2 Prozent aller Wiener Berufstätigen aus, jene aus anderen Staaten 2,1 Prozent. Somit waren ausländische Künstler aus dem nicht-ungarischen (überwiegend deutschsprachigen) Ausland stärker überrepräsentiert als die Magyaren. In den grafischen Gewerben kamen die Tschechen auf einen ähnlich niedrigen Anteil, Ausländer generell waren etwas weniger präsent als bei den „Künstlerberufen“. Staatsfremde exklusive Ungarn erreichten aber in diesem Bereich mit 619 Personen (3,1 Prozent) einen etwas höheren Anteil als bei sämtlichen Berufstätigen. In den Berufsgruppen, die sich mit Be111 Österreichische Statistik, Neue Folge, 2. Bd., Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, 2. Heft, Die Ausländer in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, Wien 1913, Tabelle VII.

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

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kleidung und Holzverarbeitung beschäftigten, waren die Tschechen besonders stark vertreten. Mit 6.155 Berufstätigen stellten sie 13,1 Prozent der Berufsgruppe XIV und mit 17.194 Personen 11,2 Prozent der Gruppe XVI. Ihr Anteil war damit ungefähr drei bzw. zwei Mal so groß wie an allen Berufstätigen. Die Ungarn hingegen betätigten sich in einem überdurchschnittlichen Ausmaß im Handel, was wohl auch damit koinzidierte, dass etwa ein Drittel von ihnen der jüdischen Religion angehörte. Der Anteil der Bürger aus Ländern der ungarischen Krone am Handel war um 4 Prozentpunkte oder 50 Prozent höher als an der Gesamtheit der Berufstätigen. Wie oben gezeigt, machten Juden, gemessen an der Zahl in Wien anwesender Angehöriger ihrer Religionsgruppe, einen überproportionalen Anteil an den Wiener Handelsberufen aus (Berufsklasse C), wenngleich mehr als 80 Prozent auch hier Katholiken waren. Leider liegen für Wien keine Kreuztabellen für Berufsgruppen und Religionsbekenntnisse vor. Jedoch stehen Auszählungen der Anwesenheit von Trägern religiöser und beruflicher Merkmale auf Bezirksebene zur Verfügung, sodass Korrelationen zwischen ihrem räumlichen Auftreten berechnet werden können. Daher seien nunmehr die bezirksweisen Zählergebnisse zu ausgewählten, CI-relevanten Berufsgruppen sowie Konfessionen, Umgangssprache und Ausländern angegeben, ehe danach die entsprechenden Korrelationen dargestellt werden.

1 Innere Stadt 2 Leopoldstadt 3 Landstraße 4 Wieden 5 Margareten 6 Mariahilf 7 Neubau 8 Josefstadt 9 Alsergrund 10 Favoriten 11 Simmering 12 Meidling 13 Hietzing

25.985 88.361 82.183 32.369 59.815 35.067 40.235 30.399 58.980 78.120 22.672 55.286 62.107

148 1.174 2.476 412 1.703 741 926 517 866 996 243 1.250 664

2.184 13.395 9.193 3.635 9.862 6.425 7.475 4.300 6.635 7.911 1.934 7.518 6.822

136 1.096 1.782 618 4.560 1.799 1.138 500 806 4.369 741 6.092 3.432

3.473 16.408 8.935 3.912 6.744 4.942 5.554 3.411 7.721 5.264 1.272 4.335 3.996

4.336 4.574 2.971 1.862 1.957 1.668 1.840 1.533 2.759 1.880 446 1.250 1.595

Sonstige freie Berufe („Künstler“)

Gast- u. Schankgewerbe

Warenhandel

Holz- u. Schnitzstoffe, Kautschuk-verarbeitung

Bekleidungs- u. Reinigungs-gewerbe

Polygraf. Gewerbe

Berufstätige gesamt

Bezirk

Tabelle 11: Berufstätige in CI-Berufen nach Bezirken 1910

643 2.061 1.208 914 1.048 794 823 815 1.119 476 97 567 597

14 Rudolfsheim 53.127 15 Fünfhaus 25.836 16 Ottakring 99.364 17 Hernals 57.236 18 Währing 47.011 19 Döbling 25.072 20 Brigittenau 51.653 21 Floridsdorf 36.748 1.067.626 Zus. Militär 26.559 zus. inkl. Mil 1.094.185

Sonstige freie Berufe („Künstler“)

Gast- u. Schankgewerbe

Warenhandel

Holz- u. Schnitzstoffe, Kautschuk-verarbeitung

Bekleidungs- u. Reinigungs-gewerbe

Polygraf. Gewerbe

Andreas Resch

Berufstätige gesamt

Bezirk

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941 581 2.575 1.621 1.019 227 833 153 20.066

11.131 5.416 21.194 10.994 5.915 2.166 7.626 2.454 154.185

5.040 1.271 6.820 2.385 987 537 1.533 1.246 46.888

4.596 2.766 7.706 4.752 4.346 2.192 5.604 1.765 109.694

1.303 1.050 2.232 1.675 1.461 761 1.077 777 39.007

414 248 1.052 584 775 286 327 122 14.970

20.066

154.185

46.888

109.694

39.007

14.970

Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1913, Wien 1916, Anhang. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, Tabelle B.

Die meisten „Künstler“ wohnten in den Bezirken Leopoldstadt, Landstraße, Alsergrund, Ottakring und Margareten. Den höchsten prozentuellen Anteil hatten sie im vierten Bezirk (2,8 Prozent), gefolgt vom achten mit 2,7 Prozent sowie dem zweiten und sechsten mit je 2,3 Prozent. Außerhalb des Gürtels wies Währing mit 1,6 Prozent den höchsten „Künstler“-Anteil auf. Der Anteil der Bekleidungserzeugung an den Berufstätigen lag in den Bezirken 14–16 bei mehr als 20 Prozent, aber auch in den inneren Bezirken außer der Inneren Stadt bei mehr als 10 Prozent. In der Leopoldstadt arbeiteten mehr als 15 Prozent in dieser Branche. Die Holzverarbeitung kam innerhalb des Gürtels in Margareten noch auf mehr als 7 Prozent, die relativ stärkste Konzentration hatte sich in Meidling herausgebildet, wo mehr als 6.000 Personen (11 Prozent der Berufstätigen im Bezirk) in dieser Berufsgruppe tätig waren. Handelsberufe machten in der Leopoldstadt 18,6 Prozent der Erwerbstätigen aus, in den Bezirken 1, 3–9, 15 und 20 mehr als 10 Prozent. Das Gastgewerbe war besonders in der Inneren Stadt konzentriert, auch die Bezirke zwei und acht wiesen mehr als 5 Prozent der Beschäftigten in dieser Branche auf, der 15. Bezirk 4,1 Prozent. Beschäftigte der Druckereigewerbe hatten im 3., 5., 7., 12. und 15.–17. Bezirk Anteile von mehr als 2 Prozent der Berufstätigen. In absoluten Zahlen wohnten im dritten und 16. Bezirk die meisten Angehörigen dieser Berufsgruppe.

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

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1 Innere Stadt 2 Leopoldstadt 3 Landstraße 4 Wieden 5 Margareten 6 Mariahilf 7 Neubau 8 Josefstadt 9 Alsergrund 10 Favoriten 11 Simmering 12 Meidling 13 Hietzing 14 Rudolfsheim 15 Fünfhaus 16 Ottakring 17 Hernals 18 Währing 19 Döbling 20 Brigittenau 21 Floridsdorf Zus. Militär zus. inkl. Mil.

38.794 103.928 139.006 53.629 95.007 51.543 61.129 45.389 78.272 143.686 45.707 99.867 109.871 89.706 39.947 168.183 96.799 79.903 44.986 84.189 73.429 1.742.970 20.501 1.763.471

10.807 56.778 9.931 3.792 3.688 8.252 8.095 4.702 21.609 3.412 458 1.886 3.244 3.737 2.382 4.525 3.423 4.029 3.808 14.144 1.764 174.466 828 175.294

2.243 4.166 6.083 4.152 4.150 3.303 2.897 2.546 3.726 3.920 925 2.707 4.282 1.886 1.211 3.520 2.314 3.831 1.996 2.030 1.742 63.630 1.079 64.709

419 909 804 525 779 470 383 358 510 737 203 348 495 413 214 702 281 439 220 362 210 9.781 1.341 11.122

7.474 30.433 15.066 7.232 9.406 7.526 7.555 5.471 13.335 11.507 4.212 8.375 8.058 6.109 3.012 10.171 6.934 6.662 4.172 11.225 4.902 188.837 8.291 197.128

Umgangsspr. Böhm.Mähr.-Slowak.**

Ausländer (Heimatberechtigung)*

Evangelisch h. B.*

Evangelisch A. B.*

Israeliten*

Römisch- katholisch*

Bezirk

Tabelle 12: Religiöse und ethnische Gruppen nach Bezirken

1.097 6.329 7.164 1.385 4.761 1.641 2.118 1.662 3.131 18.488 2.606 4.148 2.869 4.945 1.721 10.956 6.263 2.220 632 9.266 2.710 96.112 2.318 98.430

* unter den anwesenden Personen ** unter den anwesenden österreichischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen Quelle: Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1912, Wien 1914, Anhang. Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910, Tabellen 5, 10 und 13.

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Was die räumliche Ansiedelung der Religionsgruppen betrifft, so wohnten Juden und Protestanten in einem überproportionalen Ausmaß in den inneren Bezirken, die Protestanten auch in Währing. Die Zentren jüdischer Besiedelung bildeten bekanntermaßen die Leopoldstadt (33,9 Prozent), Alsergrund (20,5 Prozent) und Innere Stadt (20,4 Prozent).112 Dieses Ansiedelungsmuster stimmt in den Grundzügen mit jenem der Ausländer überein, die im zweiten Bezirk 18 Prozent und in den Bezirken 1, 4–9 und 20 mehr als 10 Prozent ausmachten. Von den Ausländern waren, wie oben gezeigt wurde, mehr als drei Viertel Ungarn, von diesen etwa ein Drittel der Religion nach jüdisch. Der Anteil Slawischsprechender an den Anwesenden war in Favoriten (13,1 Prozent), Brigittenau (10,3 Prozent) sowie Ottakring und Hernals (16,5 Prozent) am höchsten. In Döbling hingegen waren nur 1,9 Prozent der Bewohner mit einer slawischen Umgangssprache registriert. Berechnet man die Korrelation zwischen den bezirksweisen Mustern der Berufe und der Gruppen nach Religion, Staatsangehörigkeit und Umgangssprache, so lässt sich eine je spezifische räumliche „Verbundenheit“ zwischen den entsprechenden Merkmalsausprägungen erschließen. Tabelle 13: Korrelationen zwischen Prozentanteilen CI-naher Berufe und Religions- bzw. Herkunftsgruppen in den Bezirken Röm. Kath. Juden „Künstler“ Handel Gastgewerbe Polygraf. Bekleidung Holz

-0,69 -0,90 -0,59 0,23 0,05 0,59

0,56 0,78 0,53 -0,14 0,06 -0,47

Evangel. A. B. Evangel. h. B. Ausländer Böhm.-Mähr.Slowak. Umgangsspr. 0,69 -0,25 0,02 -0,60 0,27 -0,47 -0,08 -0,49 0,36 -0,17 0,07 -0,43 -0,07 -0,45 -0,50 -0,14 -0,22 -0,55 -0,54 -0,21 -0,40 -0,35 -0,54 0,05

Quelle: Berechnet nach Tabellen 14 und 15 im Anhang.

Die Korrelationen zwischen der räumlichen Ansiedlung und dem Auftreten CI-relevanter Berufe zeigt ein ähnliches Muster von Juden und Protestanten Augsburger Bekenntnisses: Das räumliche Auftreten beider war stark positiv mit der Anwesenheit von Künstlern, Händlern und Gastgewerbe, hingegen deutlich negativ mit Berufen der Holzverarbeitung korreliert. Juden wiesen jedoch mehr räumliche Verbundenheit mit den Bekleidungsgewerben auf als die Protestanten. Evangelische Helvetischen Bekenntnisses machten 5 Prozent der Militärper-

112 Vgl. Rozenblit, Die Juden Wiens, 80ff.

Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910

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sonen aus, hingegen nur 0,5 Prozent aller Berufstätigen, weswegen ihre Anwesenheit wohl mit allen Berufen außerhalb des Militärs negativ korreliert war. Die räumliche Verteilung der römischen Katholiken war deutlich negativ mit einer Ansiedlung von Künstlern, Händlern und Gastgewerbe, jedoch positiv mit grafischen Gewerben und der Holzverarbeitung korreliert. Ausländer generell waren offenbar in den Gebieten der Bekleidungserzeugung und Holzverarbeitung unterrepräsentiert, während die Anwesenheit von Personen mit slawischer Umgangssprache negativ mit den Künstler-, Handels- und Gastgewerbeberufen korreliert war. Die Tabelle belegt vor allem eine überdurchschnittliche Nähe von Juden und Protestanten Augsburger Bekenntnisses zu den Kunstberufen sowie eine Verbundenheit der Katholiken mit dem Grafikgewerbe (trotz plausibler starker jüdischer Positionen im Presse- und Verlagswesen). Die Korrelationen erweisen sich als durchaus instruktiv im Hinblick auf die „Nähe“ von Religions- und Berufsgruppen, wie hoch genau zahlenmäßig der Anteil der religiösen Gruppen an einzelnen Bereichen war, kann damit aber nicht erschlossen werden. Eine Auszählung der Berufstätigen und Berufszugehörigen nach Religionsgruppen liegt nicht für Wien, jedoch für die gesamte Reichshälfte vor.113 Demgemäß gehörten 1910 in Österreich von 95.167 Berufszugehörigen der Gruppe XXVIII („Künstler“) 81,37 Prozent einer katholischen, 5,45 Prozent einer evangelischen, 11,04 Prozent der jüdischen Religion und 2,14 Prozent „anderen“ Bekenntnissen an, wobei insgesamt 25.949.627 Katholiken, 588.686 Evangelische, 1.313.687 Juden und 719.964 andere (Griechisch-orientalische, Konfessionslose etc.) gezählt wurden. Somit waren 0,29 Prozent der Katholiken, 0,88 Prozent der Evangelischen, 0,80 Prozent der Juden und 0,28 Prozent der anderen den Berufszugehörigen in Künstlerberufen zuzurechnen. Des Weiteren liegt eine Auszählung vor, wie hoch der Anteil der einzelnen Berufsgruppen an den Berufstätigen in den Religionsgruppen war. Diese besagt, dass 0,3 Prozent der katholischen, 0,88 Prozent der evangelischen und 0,86 Prozent der jüdischen Berufstätigen in „Künstlerberufen“ aktiv waren. Beide prozentuellen Angaben lassen eine ungefähr 2,8 Mal so hohe „Neigung“ der Protestanten und Juden zu Künstlerberufen als bei den Katholiken erkennen. Diese Relation kann man auf Wien umlegen, indem man die Gleichung 0,3 x (kathol. Berufstätige) + 0,84 x (evangel. Berufstätige) + 0,84 x (jüdische Berufstätige) + 0,28 x (andere Berufstätige) = 14.970

löst, wobei der Wert auf der rechten Seite die Gesamtzahl der Aktiven in der Berufsgruppe

113 Österreichisches statistisches Handbuch für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder 1913, Wien 1914, 30f; Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., Berufsstatistik nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in Österreich, 1. Heft, Hauptübersicht und Besprechung der Ergebnisse, Wien 1916, Übersicht 76.

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XXVIII in der Reichshauptstadt angibt. Das „x“ steht für einen für alle Gruppen als gleich angenommenen Faktor größerer Nähe bzw. besserer Möglichkeiten für Künstlerberufe in Wien. Setzt man die Werte für die Größen der religionsspezifischen Berufsgruppen ein114 und löst man die Gleichung, so kommt man für Wien im Jahr 1910 auf zirka 10.600 katholische, 3.000 jüdische, 1.300 protestantische und 90 „andere“ Künstler. Dazu ist jedoch anzumerken, dass der Überblick über die Berufsklassen in Österreich und Wien gezeigt hat, dass die beruflichen Gliederungen der Religionsgruppen in Wien weniger stark voneinander differierten als auf gesamtstaatlicher Ebene. Das kann als – nicht quantifizierbarer – Hinweis darauf gewertet werden, dass hier auch die Prozentanteile von Künstlern in den Religionsgruppen weniger unterschiedlich gewesen sein mögen, somit obige Berechnung vermutlich die Zahl katholischer Künstler unterschätzt, jene aus den anderen Gruppen deutlich überschätzt. Man kann somit plausibel vermuten, dass 1910 gut 11.000 der rund 15.000 Wiener Künstler und Künstlerinnen katholisch waren, auf die Juden (gemäß Glaubensbekenntnis) weniger als 3.000 und auf die Protestanten ungefähr 1.000 entfielen. 3. Resümee

Der quantitative Überblick über die Wiener Kulturwirtschaft in Anlehnung an eine aktuelle Definition für Creative Industries hat für Wien um 1900 einen hohen Stellenwert für die Struktur und Dynamik der Stadtwirtschaft bestätigt. Im Jahr 1910 arbeiteten etwa 37.000 Personen im Kernbereich inhaltlicher Wertschöpfung durch die Schaffung von Texten, Musik, Designs, Bildern, Skulpturen, Plänen etc. Seit 1890 hatte die Beschäftigung in diesen Berufsfeldern im Durchschnitt um 3,4 Prozent jährlich zugenommen. Zu dieser Dynamik ist anzumerken, dass sie nicht für alle „Künstlerberufe“ in gleichem Ausmaß galt. Einem starken Wachstum bei Schauspielern, Tänzern, Musikern, Theaterbediensteten etc. von etwa 4.800 (1890) auf rund 7.800 (1910) stand eine Stagnation im Bereich der Schriftsteller, Journalisten etc. bei ungefähr 1.700 Personen und eine in der Statistik ausgewiesene Abnahme der Maler und Bildhauer um mehr als die Hälfte auf 1.700 Aktive im Jahr 1910 gegenüber. Dies macht deutlich, dass viele Kulturberufe florierten, sich die neuen Entwicklungen im Bereich der bildenden Kunst jedoch durchaus in einem Marktumfeld sich verschärfender Konkurrenz nach dem Auslaufen der Ringstraßenbautätigkeit abspielten – ein Aspekt der zweifellos auch für kunsthistorische Interpretationen von Interesse ist. Die mit dem Kernbereich der CI verbundene physische Produktion und Reproduktion (exklusive Bekleidung) gehörte durchaus zu den Wachstumssektoren der Stadtökonomie. Die Zahl der einschlägig Berufstätigen erhöhte sich in den beiden Dekaden ab 1890 um 2,7 Pro114 949.653 katholisch, 41.430 evangelisch, 94.838 israelitisch und 8264 andere. Österreichische Statistik, Neue Folge, 3. Bd., 2. Heft, Tabelle VI.

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zent pro Jahr und ihre Zahl belief sich – sehr vorsichtig geschätzt – 1910 auf ungefähr 20.000. Am raschesten wuchsen aber die mit der Kulturwirtschaft verbundenen Dienstleistungen im Bereich Exchange. Die Erwerbstätigen in Handel und Distribution nahmen seit 1890 pro Jahr um etwa 7,7 Prozent auf mehr als 10.000 im Jahr 1910 zu. Rechnet man den gesamten Bekleidungs- und Gastronomiesektor zu den CI, so belief sich die Zahl der Erwerbstätigen 1910 auf beinahe eine Viertelmillion bzw. beinahe ein Viertel aller Wiener Beschäftigten. Diese Gesamtgruppe wies jedoch seit 1890 nur eine geringe Wachstumsdynamik auf, da der große Bekleidungssektor kein Wachstum der Beschäftigtenzahlen mehr generierte. Für die Diskurse über Kunst und Kultur in Wien um 1900 von besonderem Interesse ist die Berufsgruppe XXVIII der Volkszählung 1910, der mehrheitlich „Künstlerberufe“ zugeordnet waren. Wie dargelegt, kann man plausibel annehmen, dass etwa drei Viertel der 15.000 in diesen Bereich Aktiven katholisch waren, ein Fünftel der jüdischen Religion und ein Fünfzehntel den protestantischen Konfessionen angehörte. Während Personen mit „böhmisch-mährisch-slowakischer“ Umgangssprache an allen Wiener Berufstätigen einen Anteil von 5,1 Prozent hatten, entfielen auf sie nur 1,5 Prozent der „Künstler“. Einen überdurchschnittlichen Anteil hatten sie hingegen an den Erzeugungsbranchen, die Bekleidung herstellten (11,2 Prozent) oder Holz verarbeiteten (13,1 Prozent). Diese Zahlen repräsentieren aber nur jenen Anteil der Tschechinnen und Tschechen, die tatsächlich „Böhmisch-Mährisch-Slowakisch“ als Umgangssprache angaben. Am Arbeits-, Kultur- und Vereinsleben partizipierte zweifellos eine erheblich größere Zahl von Personen, die sich selber als „tschechisch“ empfanden oder zumindest dem Tschechentum verbunden waren. Wie erwähnt, wurde die Zahl der Personen, die gemäß Geburtsregion und erster Sprache als „tschechisch“ bezeichnet werden können, auf mindestens 250.000 geschätzt. Die Staatsangehörigen aus Ländern der ungarischen Krone stellten 8,2 Prozent aller Erwerbstätigen in Wien. Sie waren in den „Künstlerberufen“ sowie im Gastgewerbe und Handel etwas überdurchschnittlich aktiv. Die grafischen Gewerbe wurden von nicht-ausländischen, Deutsch sprechenden Personen dominiert, hier kamen Berufstätige mit slawischer Umgangssprache nur auf 1,1 Prozent, nicht-ungarische Ausländer (überwiegend Deutsche) hingegen auf 3,1 Prozent. Offenbar machten die im Text erwähnten Strukturen tschechischer Druckereien in Summe einen geringeren Anteil am Grafikgewerbe aus als die Erwerbstätigen mit tschechischer Umgangssprache an allen Erwerbstätigen. Insgesamt lässt das quantitative Datengerüst erkennen, dass die Wiener Kulturwirtschaft um 1900 ein Abbild und auch ein Resultat der multiethnischen und -religiösen Struktur der Stadt war, die sich durch die Migrationsprozesse der vorangegangenen Jahrzehnte herausgebildet hatte. Der Anteil der Juden lag – wie im Handel – zwar erheblich über ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, jedoch vermochte er die mit großem Abstand bestehende Majorität der Christen in keiner Weise infrage zu stellen. Die Tschechen und Tschechinnen hatten eigene sprachlich bzw. ethnisch definierte Strukturen kultureller Praxis entwickelt, in manchen Pro-

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duktionsbereichen, die für die Kulturwirtschaft essenziell waren, nahmen sie eine starke Position ein, im „Kernbereich“ inhaltlicher Kreationen waren sie vergleichsweise unterrepräsentiert. Es ist weder möglich noch intendiert, auf der Grundlage dieser quantitativen Befunde Aussagen darüber zu generieren, inwiefern die in qualitativer Hinsicht „wichtigsten“ Kreateure und Kreateurinnen in Bereichen wie Literatur, Verlagswesen, Musik, darstellende Kunst, bildende Kunst, Design, Architektur welchen Religions- oder Sprachgruppen angehörten. Zum gesellschaftlichen Umfeld für die Kulturwirtschaft ist anzumerken, dass sich die aggressiv antiliberale, antisemitische und antitschechische Politik der Lueger-Bewegung mit einem Timelag als Reflex auf die hartnäckige Wirtschaftskrise ab 1873 sowie die erhöhte Wanderungsdynamik und soziale Mobilität der 1880er-Jahre formiert hatte. Die tatsächliche Faktenlage begann sich ab den 1890er-Jahren jedoch zu ändern: Die Zuwanderung ging etwas zurück und auch der jüdische Anteil an der Bevölkerung nahm nicht mehr zu. Überdies boten ein Wiederaufleben der wirtschaftlichen Dynamik und moderne industrielle Entwicklungen eigentlich wiederum förderliche reale Grundlagen für liberale Strömungen. Deutet man die kulturellen Leistungen des liberalen Bürgertums im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, so stellt sich Wien um 1900 folglich nicht als Stadtwirtschaft dar, die vor einem Niedergang stand, vielmehr sind erfolgreiche Modernisierung und ökonomischer Aufbruch zu erkennen. Die Nachwehen der Wirtschaftskrise von 1873 schienen im sogenannten Fin de Siècle gerade überwunden zu werden, als aggressive, antimoderne politische Strömungen, die als Reflex darauf entstanden waren, ihre volle Stärke entfalteten. Ebenso befanden sich die sozioökonomischen Rahmenbedingungen für die periphere Kultur der Vorstädte in einem allmählichen Veränderungsprozess. An die Stelle der „pauperisierten Entwurzelten“ mit ihren Formen von „Massenkultur“ und „Widersetzlichkeit“ begann die „ehrbare Arbeiterfamilie“ zu treten, bereit zur Organisation in Gewerkschaft und Sozialdemokratie. Die Mechanismen der sozialen Reproduktion von Armut unter den ländlichen Zugewanderten schwächten sich somit ab, wodurch eine gewisse Konvergenz der Bildungsund Berufsentwicklungen zwischen den Religions- und Sprachgruppen möglich geworden wäre. Während Juden seit den 1860er-Jahren überwiegend in Familien zugewandert waren und ihren Kindern Vorteile im Hinblick auf Erziehung und (Berufsaus-)Bildung vermitteln konnten, begann die Arbeiterfamilie in dieser Hinsicht erst ab den 1890er-Jahren nachzuziehen. Als Komplement dieser Entwicklungen ist eine Nachfrageverschiebung von den „Spektakeln“ und Lumpenbällen der Vororte zur wohl organisierten Arbeiterkultur, wie sie später im „Roten Wien“ ihre volle Ausprägung fand, zu sehen. Diese wurde teils von Funktionären, die dem bürgerlich-liberalen, oft jüdischen, Milieu entstammten, angeführt und angeleitet. Insgesamt ließ der krisenhafte Druck, wie er nach 1873 durch ökonomische Rezession, vermehrte Zuwanderung und soziale Probleme entstanden war, im Lauf der 1890er-Jahre allmählich nach. Antisemitismus und Tschechenhass nahmen hingegen just zu dieser Zeit an Aggressivität zu. Von den sozioökonomisch-faktischen Grundlagen her hätten im späthabs-

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burgischen Wien die Aussichten für eine prosperierende Kulturwirtschaft unter Beteiligung aller Konfessions- und Sprachgruppen durchaus optimistisch beurteilt werden können. Für die Wiener Creative Industries trat dann jedoch ein, was Felix Butschek treffend für die gesamte österreichische Wirtschaft jener Zeit formuliert hat: Die „vergleichsweise ersprießliche Entwicklung fand ihr Ende in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, welchen die Monarchie leichtfertig vom Zaun gebrochen hatte.“115 Anhang

Tabelle 14: Prozentanteile CI-naher Berufsgruppen an den Berufstätigen in einzelnen Bezirken Bezirk Polygraf. Bekleidungs- Holz- u. Warenhandel Gast- u Sonstige Gewerbe u Reinigungs- Schnitzstoffe, Schankge- freie Berufe gewerbe Kautschukwerbe („Künstler“) verarbeitung 1 Innere Stadt 0,6 8,4 0,5 13,4 16,7 2,5 2 Leopoldstadt 1,3 15,2 1,2 18,6 5,2 2,3 3 Landstraße 3,0 11,2 2,2 10,9 3,6 1,5 4 Wieden 1,3 11,2 1,9 12,1 5,8 2,8 5 Margareten 2,8 16,5 7,6 11,3 3,3 1,8 6 Mariahilf 2,1 18,3 5,1 14,1 4,8 2,3 7 Neubau 2,3 18,6 2,8 13,8 4,6 2,0 8 Josefstadt 1,7 14,1 1,6 11,2 5,0 2,7 9 Alsergrund 1,5 11,2 1,4 13,1 4,7 1,9 10 Favoriten 1,3 10,1 5,6 6,7 2,4 0,6 11 Simmering 1,1 8,5 3,3 5,6 2,0 0,4 12 Meidling 2,3 13,6 11,0 7,8 2,3 1,0 13 Hietzing 1,1 11,0 5,5 6,4 2,6 1,0 14 Rudolfsheim 1,8 21,0 9,5 8,7 2,5 0,8 15 Fünfhaus 2,2 21,0 4,9 10,7 4,1 1,0 16 Ottakring 2,6 21,3 6,9 7,8 2,2 1,1 2,9 1,0 17 Hernals 2,8 19,2 4,2 8,3 18 Währing 2,2 12,6 2,1 9,2 3,1 1,6 19 Döbling 0,9 8,6 2,1 8,7 3,0 1,1 20 Brigittenau 1,6 14,8 3,0 10,8 2,1 0,6 21 Floridsdorf 0,4 6,7 3,4 4,8 2,1 0,3 Zus. 1,9 14,4 4,4 10,3 3,7 1,4 Zus. inkl. Militär 1,8 14,1 4,3 10,0 3,6 1,4 Berechnet nach Tabelle 11. 115 Felix Butschek, Österreichische Wirtschaftsgeschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Wien – Köln – Weimar 2011, 517.

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Tabelle 15: Prozentanteile von Zugehörigen ethnischer bzw. religiöser Gruppen an der Bevölkerung in den einzelnen Bezirken Umgangsspr. Ausländer Römisch Evangelisch Evangelisch (Heimatbe- böhm.-mähr.Israeliten* katholisch* A. B.* h. B.* rechtigung)* slowak.** 1 Innere Stadt 73,1 20,4 4,2 0,8 14,1 2,4 2 Leopoldstadt 62,1 33,9 2,5 0,5 18,2 4,6 3 Landstraße 88,4 6,3 3,9 0,5 9,6 5,0 4 Wieden 85,2 6,0 6,6 0,8 11,5 2,5 5 Margareten 91,0 3,5 4,0 0,7 9,0 5,0 6 Mariahilf 80,3 12,8 5,1 0,7 11,7 2,9 7 Neubau 83,6 11,1 4,0 0,5 10,3 3,2 8 Josefstadt 84,4 8,7 4,7 0,7 10,2 3,4 9 Alsergrund 74,2 20,5 3,5 0,5 12,6 3,4 10 Favoriten 94,3 2,2 2,6 0,5 7,6 13,1 11 Simmering 96,4 1,0 1,9 0,4 8,9 6,0 12 Meidling 95,0 1,8 2,6 0,3 8,0 4,3 13 Hietzing 92,7 2,7 3,6 0,4 6,8 2,6 14 Rudolfsheim 93,3 3,9 2,0 0,4 6,4 5,5 15 Fünfhaus 90,9 5,4 2,8 0,5 6,9 4,2 16 Ottakring 94,7 2,5 2,0 0,4 5,7 6,5 17 Hernals 93,8 3,3 2,2 0,3 6,7 6,5 18 Währing 89,9 4,5 4,3 0,5 7,5 2,7 7,4 3,9 0,4 8,1 1,3 19 Döbling 87,6 20 Brigittenau 83,1 14,0 2,0 0,4 11,1 10,3 21 Floridsdorf 95,0 2,3 2,3 0,3 6,3 3,7 Zus. 86,9 8,7 3,2 0,5 9,4 5,3 Militär 77,2 3,1 4,1 5,0 31,2 12,7 Zus. inkl. Mil 86,8 8,6 3,2 0,5 9,7 5,4

Bezirk

* unter den anwesenden Personen ** unter den anwesenden österreichischen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen Berechnet nach Tabelle 12

Sylvia Hahn

Migrantinnen in Wien um 1900

1. Einleitung

Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert stellte ein zeitgenössischer Beobachter über Wien fest, dass „durch das Uibermaß von Uippigkeit“ die Menschen „aus allen Provinzörtern hierher gelockt“ würden. Und er setzte fort: „So kannst Du Dir leicht Wien als einen Magnet vorstellen, der das Gold der Fremden an sich zieht, die Diamanten und das Silberwerk der Damen in ein Nichts umwandelt, und die Tugend samt dem Gewissen der sanften empfindsamen Mädchen und Weiber wie eine Stecknadel ihnen wegraubt.“1 Derartige Beschreibungen von Wien als „Magnet“ der Zuwanderung sollten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts häufen. Sowohl Essayisten als auch Literaten, Statistiker und andere Wissenschaftler befassten sich auf ihre je eigene Art mit dem Phänomen der Migration nach Wien. Tatsächlich war es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits zu einer massiven Zuwanderung in die Haupt- und Residenzstadt gekommen. Ausschlaggebend dafür waren die zahlreichen Bauvorhaben, die Nachfrage nach Luxus- und Konsumgütern durch den Hof und das expandierende Finanz- und Bildungsbürgertum, wodurch sich ein breiter Arbeitsmarkt im gewerblich-industriellen wie auch im Dienstleistungssektor für Erwerbssuchende eröffnet hatte. Pessimistische Zeitgenossen stellten im Hinblick auf die Zuwanderung in den 1860er-Jahren fest, dass „Wien längst nicht mehr den Wienern“ gehöre.2 In den nächsten Jahrzehnten bis zur Jahrhundertwende sollte Wien durch Immigration und Eingemeindungen bevölkerungsmäßig die Millionengrenze erreichen; 1910 stieg die Bevölkerungszahl auf rund zwei Millionen an. Damit zählte Wien neben London, Paris und Berlin zu den bedeutendsten Metropolen in Europa. Bereits in den 1870er-Jahren erwähnten die Statistiker, dass es vor allem die weibliche Migration war, die seit den 1850er-Jahren quantitativ stärker zugenommen hatte als jene der Männer.3 Zehn Jahre später, in den 1880er-Jahren, konstatierte auch E. P. Ravenstein 1 2 3

Johann Friedel, Anekdoten und Bemerkungen über Wien. In Briefen versammelt, Wien 1787, 12. Friedrich Schlögl, Wiener Blut. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau, Wien – Pest – Leipzig o. J., 16. Gustav Adolf Schimmer, Bevölkerung der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. Auf Grundlage der Zählung vom 31. December 1869, in: Bevölkerung und Viehstand der im

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Sylvia Hahn

in seinen „Laws of Migration“ für die Habsburgermonarchie, dass Frauen bei den Kurzstreckenmigranten und -migrantinnen die Mehrheit ausmachten. Siegfried Rosenfeld konnte in einem 1915 erschienenen Artikel über die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den Wanderbewegungen in der Habsburgermonarchie aufzeigen, dass Wien und Vorarlberg im Jahr 1900 zwei Regionen waren, in denen die weibliche Zuwanderung deutlich höher war als die männliche (siehe Tabelle 1)4. Trotz dieser eindeutigen quantitativen Befunde, die zeigten, dass Frauen zu einem hohen Ausmaß mobil waren und in manchen Regionen und Städten sogar die Majorität der Migranten stellten, schenkten die zeitgenössischen Statistiker und Demografen den weib­ lichen Wanderungen nur wenig Augenmerk. Wenn von weiblicher Migration die Rede war, so beschränkten sich die Ausführungen und Darstellungen vorwiegend auf die Wanderungen der Dienstbotinnen und hier wiederum vor allem auf deren Kurzstreckenmigrationen. Neben der statistischen Analyse wurde die Migration der Frauen bzw. Dienstbotinnen von den (männlichen) Wissenschaftlern qualitativ ähnlich negativ beurteilt und beschrieben, wie dies bereits bei den Zeitgenossen im ausgehenden 18. Jahrhundert der Fall gewesen war: Die Migration von Frauen in die (Groß-)Stadt wurde als ein für sie potenziell gefährliches Szenarium dargestellt, wodurch es zu einem „Verlust der Tugend“, und zu einem sozialen Abstieg, zur Prostitution, kommen konnte. Auch die Literaten, Essayisten oder Statistiker, Soziologen und Nationalökonomen der Jahrhundertwende sahen in der weiblichen Migration in die Großstadt eine drohende Gefahr des sittlichen Verfalls der Gesellschaft. Vor allem wurde befürchtet, dass aufgrund der massiven Land-Stadt-Wanderungen der Frauen deren außerhäusliche Erwerbstätigkeiten zunehmen und diese zur Auflösung der Familien beitragen würden. Darüber hinaus machten die (männlichen) Zeitgenossen auf die arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen der weiblichen (Arbeits-)Migrationen aufmerksam und diskutierten die zunehmende Konkurrenzsituation, die sich daraus für die männlichen Arbeitskräfte am Arbeitsmarkt ergab. Diese frühen Ansätze der Erforschung von geschlechtsspezifischen Aspekten und Unterschieden im Migrationsgeschehen fanden im 20. Jahrhundert in Österreich nach einer langen zeitlichen Durststrecke erst ab den 1980er-Jahren eine Fortsetzung.5 In den vergangenen Jahrzehnten sind wichtige Publikationen zur Zuwanderung nach Wien im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie zahlreiche Studien zu Kultur, Gesellschaft und Politik in Wien und

4 5

Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder nach der Zählung vom 31. December 1869, bearbeitet und herausgegeben von der k. k. statistischen Central-Commission, V. Heft.: Erläuterungen zu den Bevölkerungs-Ergebnissen mit vier Karten, Wien 1872, 70. Siegfried Rosenfeld, Die Wanderungen und ihr Einfluss auf die Darstellung der Sterblichkeit nach Altersgruppen in Österreich, in: Statistische Monatsschrift (1915), 199–240, hier: 209. Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2008, 76ff.

Migrantinnen in Wien um 1900

175

zur Wiener Moderne erschienen. Obwohl der Großteil der Studien auf das quantitative und qualitative Zuwandererpotenzial verweist und vor allem die Bedeutung der böhmisch-mährischen und jüdischen Migranten und Migrantinnen für Kultur und Wissenschaft der Wiener Moderne durchleuchtet, wird dem Aspekt der geschlechtsspezifischen Migration bzw. der weiblichen Migration im Besonderen kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Im Großen und Ganzen konzentrieren sich die Ausführungen überwiegend auf den männlichen Teil der Bevölkerung. Ein Großteil der Literatur beschäftigt sich mit dem „Who’s who“ der männlichen Repräsentanten aus Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik. Dies hinterlässt den Eindruck, als wäre Wien im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Stadt von männlichen Intellektuellen, Künstlern, Politikern etc. gewesen. Die wenigen Frauen, die Erwähnung finden, werden meist in Zusammenhang mit ihren Ehemännern, ihren Lebens- oder Künstlerpartnern oder als Repräsentantinnen einer zu Ende gehenden Salonkultur angeführt – und das, obwohl viele von ihnen selbst künstlerisch oder literarisch aktiv und erfolgreich waren. Dazu zählen etwa Alma Mahler-Werfel oder Berta Zuckerkandl-Szeps, um nur zwei Beispiele zu nennen. Als eigenständige Akteurinnen werden meist die Vertreterinnen der bürgerlichen Frauen- oder der Arbeiterbewegung erwähnt, wobei sich die Bandbreite der Genannten in der Regel auf die prominentesten Vertreterinnen wie Auguste Fickert, Marianne Hainisch, Marie Lang, Rosa Mayreder oder Adelheid Popp beschränkt.6 Auf den Aspekt der räumlichen Mobilität, auf etwaige Migrationserfahrungen etc. dieser politisch engagierten Frauen wurde in den bisher erschienenen Studien nicht eingegangen. Fragen nach eventuellen geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Formen der Zuwanderung, Migrations- und Arbeitsmarkterfahrungen etc. wurden bisher ebenfalls kaum diskutiert. Frauen in ihrer Funktion als quasi „Transmissionsriemen“ zwischen den Kulturen der Herkunfts- und der Ankunftsgesellschaft, als Über- und Vermittlerinnen von kulturellem Wissen und Traditionen, als Akteurinnen der Weiter- und Fortentwicklung der mitgebrachten kulturellen und gesellschaftlichen Werte in Verbindung mit den neuen Lebens- und Arbeitsanforderungen, als wichtiges Arbeitskräftepotenzial der neuen gewerblichen und industriellen Sparten etc. sind bisher weitgehend ausgespart geblieben. Auch Fragen nach dem weiblichen Anteil am Migrationsgeschehen, der von der Besorgung und Ausstattung der Unterkünfte bis hin zu finanziellen Beiträgen zum Familieneinkommen als female breadwinner reichte, fanden bisher kaum Beachtung.

6

Auch in den bisher erschienen Sammelbänden, die sich speziell mit den Frauen der Wiener Moderne befassen, wird dem Thema der weiblichen Migration, der Situation der weiblichen Zuwanderinnen oder deren Einfluss auf Alltagsleben und Kultur kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

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Sylvia Hahn

Tabelle 1: Ausgewählte Zuwanderungsregionen von Frauen und Männern 19007 I. Absoluter und prozentueller Anteil der Zuwanderung der Männer < Frauen Absolut

auf 1000 Bew. entfielen Männer

Frauen

Männer

Frauen

Wien

+85.843

+114.460

+102,2

+132,2

Vorarlberg

+1.282

+1.957

+19,2

+30,0

II. Absoluter und prozentueller Anteil der Zuwanderung der Männer > Frauen Absolut Triest & Umgebung

auf 1000 Bew. entfielen Männer

Frauen

Männer

Frauen

+19.658

+16.881

+227,3

+183,2

Salzburg

+3.032

+1.556

+31,5

+16,1

Tirol

+14.969

+4.614

+35,4

+10,7

III. Absoluter und prozentueller Anteil der abwesenden Frauen > Männer (bei gleichzeitiger Zuwanderung von Männern) Absolut Niederösterreich*)

auf 1000 Bew. entfielen Männer

Frauen

Männer

Frauen

-19.885

-21.421

-27,8

-30,1

Kärnten

+1.811

-3.791

+10,0

-20,3

Görz & Gradisca

-579

-3.168

-4,9

-27,5

Istrien

+5.807

-787

+32,6

- 4,7

*) Niederösterreich ohne Wien 1.1 (Arbeits-)Migrantinnen

Die Stadt Wien war zur Jahrhundertwende mehrheitlich eine Stadt der Frauen. Von den insgesamt 1.364.548 Bewohnern der Stadt im Jahr 1890 waren 51,5 Prozent bzw. 702.597 Frauen und 48,5 Prozent bzw. 661.951 Männer. Von den in der Stadt anwesenden Frauen waren weniger als die Hälfte (45 Prozent) in der Stadt geboren. Das heißt, knapp jede zweite im Jahr 1890 in Wien anwesende Frau war eine Immigrantin. 12 Prozent der Frauen waren in einem Ort in Niederösterreich und 33 Prozent in einer Gemeinde der übrigen Länder der Habsburgermonarchie geboren, wobei der Großteil mit etwas mehr als einem Fünftel auf die in Böhmen 7

Rosenfeld, Wanderungen, 209.

Migrantinnen in Wien um 1900

177

und Mähren Geborenen entfiel. Aus den österreichischen Alpenländern stammten nur rund 4 Prozent. Im Ausland (wozu auch Ungarn zählte) waren rund 10 Prozent der 1890 in Wien anwesenden Frauen geboren, wobei fast drei Viertel von ihnen aus Ungarn stammten und hier wiederum vor allem aus westungarischen Komitaten, die an Niederösterreich grenzten. Die zweitgrößte Gruppe machten die im Deutschen Reich geborenen Frauen aus, wobei hier diejenigen mit einem Geburtsort in Bayern und Preußen überwogen. Die drittgrößte Gruppe stellten Frauen mit einem Geburtsort in Westeuropa und der Schweiz dar. Sowohl bei den im Deutschen Reich als auch bei den in der Schweiz oder in einem westeuropäischen Land Geborenen überwogen quantitativ die Frauen: So gab es 1890 in Wien 12.810 im Deutschen Reich geborene Frauen, hingegen nur 10.870 Männer; 954 in der Schweiz geborene Frauen, aber nur 574 Männer; aus westeuropäischen Ländern stammten 2008 Frauen gegenüber 1.606 Männern. An dieser demografischen Zusammensetzung der weiblichen Bevölkerung in Wien sollte sich in den folgenden Jahrzehnten nur wenig ändern. Die in der Stadt Geborenen nahmen um ein bis 2 Prozentpunkte zu; die Zusammensetzung der in anderen Gebieten der Habsburgermonarchie oder dem Ausland Geborenen blieb auch in den Jahren 1900 und 1910 bis auf geringfügigen Schwankungen von einigen Prozentpunkten gleich wie die Ergebnisse von 1890. Betrachtet man die Heimatberechtigung, die das Recht eines dauerhaften Aufenthalts und die kommunale Versorgung bei Armut und im Alter garantierte, so war der Anteil der in Wien heimatberechtigten Frauen deutlich geringer als jener der in der Stadt geborenen: Nur etwas mehr als ein Drittel (36 Prozent) der sich in Wien aufhaltenden Frauen besaß auch das Heimatrecht in der Stadt, fast zwei Drittel waren in eine andere Gemeinde der Habsburgermonarchie zuständig oder hatten überhaupt eine andere Staatsangehörigkeit. Von den nicht in Wien heimatberechtigten Frauen verfügten 12 Prozent über eine Zuständigkeit in Niederösterreich, 41 Prozent in der Gemeinde eines anderen Landes der Monarchie und 11 Prozent waren Ausländerinnen. Zum Ausland zählte auch Ungarn, wohin der Großteil der ausländischen Frauen zuständig war. Die Angaben der Heimatberechtigung von Frauen können jedoch nur bedingt als Analyse­variable für die regionale Herkunft verwendet werden, da Frauen nach der Heirat die Heimatberechtigung ihres Mannes annehmen mussten und ihre eigene verloren. Das heißt konkret, dass eine Frau, die beispielsweise in Wien heimatberechtigt war und einen Mann mit einer Heimatberechtigung in Ungarn ehelichte, nach der Heirat ihre Heimatberechtigung in Wien verlor und die Heimatberechtigung des Ehemannes annehmen musste. Das traf auch für die Kinder zu, die ebenfalls, unabhängig von ihrem Geburts- und Aufenthaltsort, die Heimatberechtigung des Vaters zugewiesen bekamen. Die Übertragung der Heimatberechtigung des Mannes auf Frauen und Kinder konnte insbesondere für verwitwete Frauen massive soziale Konsequenzen nach sich ziehen. So hatten Frauen bei Erwerbs- und/oder

178

Sylvia Hahn

Subsistenzlosigkeit, wenn sie in Wien lebten, aber eine Heimatberechtigung in einem anderen Ort besaßen, keinen Anspruch auf eine städtische Armen- und/oder Altersversorgung. Vom rechtlichen Standpunkt aus konnten diese Frauen – unabhängig von der Dauer ihrer Anwesenheit in Wien – in jene Gemeinden abgeschoben werden, in der sie formell heimatberechtigt waren. Diese Gemeinden waren im Falle von Armut, Erwerbslosigkeit bzw. im Alter für die Versorgung der Frauen und Kinder zuständig. Die in den Städten und Industrieagglomerationen der Habsburgermonarchie zur Jahrhundertwende niedrigen Prozentanteile der – in den jeweiligen Orten tatsächlich – heimatberechtigten Bevölkerung waren eine Folge der seit den 1860er-Jahren sozial äußerst restriktiven Gesetzgebung bezüglich der Heimatrechtsverleihung. Im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten konnte seit den 1860er-Jahren die Heimatberechtigung unabhängig von der sozialen Zugehörigkeit nicht mehr nach zehn Jahren durch ununterbrochenen Aufenthalt erworben (bzw. ersessen) werden. Die Heimatberechtigung wurde nur jenen Zuwanderern gewährt, die über Grundbesitz verfügten oder Staatsbeamte waren. Für den Großteil der Migranten bedeutete dies einen Ausschluss aus dem kommunalen Versorgungssystem und von der eventuellen Wahlberechtigung. Die Schere der heimatberechtigten und nicht-heimatberechtigten Bevölkerung entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in den Städten der Habsburgermonarchie enorm auseinander. Gleichzeitig erhöhte sich der Anteil der in den Städten geborenen Bevölkerung, was ein Zeichen der Sesshaftigkeit eines Teiles der Immigranten und Immigrantinnen war. Bei der weiblichen Bevölkerung von Wien um 1900 war dies der Fall: Nur 36 Prozent der weiblichen Bevölkerung besaßen die Heimatberechtigung in der Stadt, jedoch waren 45 Prozent bereits in der Stadt geboren. Die mit dieser restriktiven Gesetzgebung einhergehenden sozialen Härten für die bereits seit einer, zwei, teilweise sogar schon drei Generationen in Wien ansässigen Bevölkerung führten seit den 1890er-Jahren zu Reformbestrebungen, die von einigen Parlamentariern, vor allem aber von Seiten der Arbeiterbewegung und Wissenschaftlern, insbesondere von Repräsentanten der statistischen Zentralkommission, vorangetrieben wurden. Die sich zunehmend als undurchführbar herausstellenden beabsichtigten Abschiebungen der nichtheimatberechtigten Bevölkerung in ihre tatsächlichen Zuständigkeitsorte führten dazu, dass die Reformbestrebungen zur Jahrhundertwende erfolgreich waren und zigtausenden Frauen, Männern und Kindern das Heimatrecht am Aufenthaltsort zugestanden werden musste. 1.2 Staatsfremde

Insgesamt waren zur Jahrhundertwende rund eine halbe Million „staatsfremder“ Personen, wie die aus dem Ausland (inklusive Ungarn) Zugewanderten von den zeitgenössischen Statistikern bezeichnet wurden, in der Habsburger Monarchie anwesend. Ein Drittel dieser Staatsfremden hielt sich im Jahr 1900 in Wien auf. Eine Erhebung über die Aufenthaltsdauer ergab,

Migrantinnen in Wien um 1900

179

dass etwas mehr als ein Drittel (36 Prozent) bereits über zehn Jahre in der Stadt anwesend war. Erst ein Jahr anwesend waren 12 Prozent, zwischen ein und zwei Jahren weitere 5 Prozent. Weitere 29 Prozent lebten bereits mehr als zwei, aber weniger als zehn Jahre in Wien. Geschlechtsspezifisch gab es nur geringfügige Unterschiede, wie etwa bei den bereits seit mehr als zehn Jahren in Wien Lebenden: Der Prozentanteil dieser Gruppe war bei den Frauen mit 37 Prozent etwas höher als bei den Männern mit 34 Prozent.8 1.3 Erwerbstätigkeit

In welchen Bereichen waren die Frauen zur Jahrhundertwende erwerbstätig? Ging der Großteil tatsächlich einer Erwerbstätigkeit als Dienstbotin nach? Die von Wilhelm Hecke im Jahr 1915 zusammengestellten Statistiken über die Berufsverteilung der Frauen und Männer in Wien von 1890 bis 1910 zeigen, dass 43 Prozent der weiblichen Bevölkerung Wiens im Jahr 1890 und 45 Prozent im Jahr 1910 einer Erwerbstätigkeit nachgingen. 1890 waren mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Frauen im industriell-gewerblichen Bereich tätig.9 Trotz der zahlenmäßig starken Zunahme der weiblichen Erwerbstätigen in diesem Sektor zwischen 1890 und 1910 von rund 109.000 auf 150.000 ging der prozentuelle Anteil der in diesem Bereich tätigen Frauen an allen weiblichen Erwerbstätigen zwischen 1890 und 1910 von 36 Prozent auf 31 Prozent zurück. Im Sektor Industrie und Gewerbe stellten die Frauen knapp 25 Prozent der Erwerbstätigen, das heißt bereits jede(r) vierte Erwerbstätige in diesem Sektor war eine Frau. Zu den Haupterwerbsfeldern zählten die Papier-, Textil- und Bekleidungsbranche, in der Frauen die Hälfte der Erwerbstätigen stellten. In der Nahrungsmittel- und Kautschukproduktion machten Frauen ein Drittel, in der chemischen Produktion ein Viertel, in der Metallverarbeitung, im grafischen Gewerbe und in der Tapeziererei ein Fünftel sowie in der Lederproduktion 10 Prozent aller Erwerbstätigen aus.10 Im Erwerbsbereich Handel und Verkehr waren 1890 rund 16 Prozent aller erwerbstätigen Frauen beschäftigt, 1910 bereits 21 Prozent. Dies bedeutete auch zahlenmäßig eine starke Zunahme von rund 48.000 (1890) auf 98.600 (1910).11 Auch im öffentlichen Dienst war ein leichter Anstieg der beschäftigten Frauen von 10.440 (3,4 Prozent) im Jahr 1890 auf 24.304 (5,1 Prozent) im Jahr 1910 zu verzeichnen. 8

Siehe Sylvia Hahn, Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatrecht im 19. Jahrhundert, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung in Österreich, NF 10, 2005, 23–44. 9 Hecke Wilhelm, Berufsverschiebungen in Niederoesterreich, in: Statistische Monatsschrift (1915), 391–420. 10 Siehe dazu die Statistiken in: Gerhard Meißl, Im Spannungsfeld von Kundenhandwerk, Verlagswesen und Fabrik, in: Renate Banik-Schweitzer, Gerhard Meißl, Industriestadt Wien. Die Durchsetzung der industriellen Marktproduktion in der Habsburgermonarchie, Wien 1983, 164. 11 Hecke, Berufsverschiebungen, 398.

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Bei den Dienstbotinnen erfolgte zwischen 1890 und 1910 ebenfalls ein Zuwachs von 86.000 auf 99.000; der Prozentanteil der Frauen, die in diesem Bereich tätig waren, sank jedoch von 28 auf 20 Prozent. Waren also im Jahr 1890 noch 28 Prozent von allen erwerbstätigen Frauen als Dienstbotinnen beschäftigt, so waren es im Jahr 1910 nur noch 20 Prozent. Hier war eine deutliche Veränderung auszumachen: Ging 1880 fast jede zweite erwerbstätige Frau einer Beschäftigung als Dienstbotin nach, so zur Jahrhundertwende jede dritte und 1910 nur noch jede fünfte.12 2. Intime Nähe, soziale Distanz 2.1 Dienstbotinnen als Arbeitsmigrantinnen: Einzel und Nahwanderinnen

Das „In-Dienst-Gehen“ war über Jahrhunderte hinweg einer der wenigen Erwerbsbereiche, der vor allem jungen, alleinstehenden Frauen offenstand. Der Antritt eines Postens als Dienstbotin in einem städtischen Haushalt war meist mit Arbeitsmigration verbunden. Weibliche Arbeitswanderung wurde daher von den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts überwiegend mit der Migration von Dienstbotinnen vom Land in die Stadt gleichgesetzt. Die im 19. Jahrhundert steigende Zahl an bürgerlichen Haushalten in den expandierenden Städten Europas hatte zu einer wachsenden Nachfrage nach Dienstboten geführt. Dienstbotinnen stellten einen wichtigen Teil der (klein)bürgerlichen Haushalte dar. Ohne Dienstbotinnen ging gar nichts. Tatsächlich zählte dieser Erwerbszweig bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der wenigen außerhäuslichen Erwerbsmöglichkeiten für Frauen. In Wien ging etwa um 1880 jede zweite erwerbstätige Frau einer Beschäftigung als Dienstbotin nach, zur Jahrhundertwende ungefähr jede dritte und 1910 jede fünfte. Obwohl zwischen 1890 und 1910 quantitativ eine Zunahme erfolgt war, sank der Anteil an allen Frauen, die in diesem Bereich tätig waren, von 28 auf 20 Prozent. Der langsame und schleichende Rückgang des Angebots an Dienstbotinnen vom Land bzw. aus den Dörfern und Kleinstädten der Monarchie wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert spürbar. Den – meist jungen und ledigen – Frauen, die ihre Herkunftsorte verließen und auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gingen, stand mittlerweile eine breitere Auswahl an Erwerbsmöglichkeiten zur Verfügung. Vor allem aufgrund der Expansion im gewerblich-industriellen Bereich, angefangen vom Bekleidungsgewerbe bis hin zu dem sich neu etablierenden industriellen Produktionsbereich der Elektro- und Glühlampenindustrie, standen zugewanderten Frauen neue Tätigkeitsfelder offen. Die im Dienst­botenwesen übliche Form der Nichttrennung von Arbeit und Wohnung sowie die – durch die Eingebundenheit in den Arbeitgeberhaushalt gegebene – ständige Verfügbarkeit, veranlasste viele junge Frauen, den Weg in die Fabrik einzuschlagen. 12 Ebd., 398.

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Die Konzentration von adeligen bzw. (groß-)bürgerlichen Haushalten in bestimmten Stadtteilen, wie in der Inneren Stadt, in Erdberg oder am Alsergrund, hatte zur Folge, dass sich die große Anzahl an Dienstboten hier dadurch manifestierte, dass in diesen Stadtgebieten die Frauen einerseits die Mehrheit der Bevölkerung stellten und andererseits von diesen wiederum ein hoher Prozentanteil lediger und zugewanderter Frauen waren. Im Gegensatz dazu machten Männer vor allem in den stark vom Handwerk und Gewerbe geprägten Vorstädten Gumpendorf, Neubau, Schottenfeld mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. In Lebenserinnerungen von bürgerlichen Autoren wird häufig die enge, oft emotional wichtige (Ver-)Bindung zu den Dienstbotinnen in den Kinderjahren beschrieben. Jüdische Autoren, die mit katholisch geprägten Dienstbotinnen aufwuchsen, schildern rückblickend oft die katholischen Geschichten und Gebete sowie die Faszination, die diese auf sie als Kinder ausübten. Vielfach wurden diese städtischen Kinder durch die ländliche Herkunft der Dienstbotinnen mit deren bäuerlichen bzw. dörflichen Gebräuchen und Ansichten konfrontiert. Die unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit spielte meist keine große Rolle. Für jüdische Kinder waren die Geschichten, die die Dienstboten über Engel und katholische Heilige erzählten, vielfach faszinierend und regten ihre Fantasien an. Andererseits standen die Dienstbotinnen den jüdischen Ritualen und religiösen Zeremonien mit Staunen und auch Unverständnis gegenüber. Elias Canetti schildert eine solche Konfrontation der bei seiner Familie tätigen Dienstbotin mit einem jüdischen Brauch, den die Juden des zweiten Wiener Gemeindebezirks am Neujahrstag ausübten: Am Neujahrstag standen fromme Juden am Ufer des Donaukanals und warfen ihre Sünden ins Wasser. Fanny, die mit uns vorüberging, hielt sich darüber auf. Sie dachte sich immer ihren Teil und sagte es geradeheraus. ,Sollen sie lieber Sünden nicht machen‘, meinte sie, ,wegschmeißen kann ich auch.‘ Das Wort ,Sünde‘ war ihr nicht geheuer und große Gesten mochte sie schon gar nicht.13

Die unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit sowie die differente regionale und soziale Herkunft von Dienstboten und Arbeitgebern konnten entweder zu Konflikten und Missverständnissen oder aber auch zu einem kulturellen Austausch führen. Neben den kulinarischen Traditionen, die die Dienstbotinnen aus ihren unterschiedlichen Herkunftsgebieten nach Wien mitbrachten und hier zu festen Institutionen werden ließen, konnten sie auch lebenslange Einflüsse auf die ihnen anvertrauten Kinder ausüben.14 Elias Canetti etwa schildert eine 13 Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, München – Wien 1994, 115. 14 Zum erzieherischen, eventuell auch sozial gesellschaftspolitischen Einfluss der Dienstboten auf Kinder in bürgerlichen Haushalten siehe Wilfried Gottschalch, Sozialisation durch Dienstboten, in: Freibeuter 23 (1985), 45–54.

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derartige Begebenheit mit der Dienstbotin Fanny, der die im Ersten Weltkrieg gesungenen Hassphrasen („Serbien muss sterbien!“ „Jeder Schuss ein Russ’!“ „Jeder Stoß ein Franzos’!“ „Jeder Tritt ein Britt’!“ …) gegen die Kriegsfeinde zuwider waren: Als ich zum ersten und einzigen Mal einen solchen Satz nach Hause brachte und zu Fanny sagte: ,Jeder Schuß ein Russ!‘ beschwerte sie sich darüber bei der Mutter. Vielleicht war es eine tschechische Empfindlichkeit von ihr, sie war keineswegs patriotisch und sang nie mit uns Kindern die Kriegslieder, die ich in der Schule lernte. Vielleicht war sie ein vernünftiger Mensch und empfand die Rohheit des Satzes ,Jeder Schuß ein Russ!‘ im Munde eines neunjährigen Kindes als besonders anstößig. Es traf sie schwer, denn sie verwies es mir nicht direkt, sondern verstummte, sie ging zur Mutter und sagte ihr, daß sie bei uns nicht bleiben könne, wenn sie von uns Kindern solche Sätze zu hören bekomme.15

Aus den Lebenserinnerungen und Autobiografien bürgerlicher Autoren und Autorinnen geht hervor, dass sie kaum über die regionale oder soziale Herkunft der in ihrem Haushalt arbeitenden und mitlebenden Dienstboten informiert waren bzw. sich dafür interessierten. Elias Canetti wusste zumindest, dass Fanny „aus einem mährischen Dorf“ kam und, wie er fortfuhr, „eine kräftige Person [war], alles an ihr war fest, auch ihre Meinungen“.16 Trotz der 24-stündigen Eingebundenheit in den Arbeitgeberhaushalt und der teilweise gegebenen Nähe zur Privat- und Intimsphäre der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen hatten die Dienstbotinnen den Status von Fremden. Selbst wenn sie über Jahrzehnte im selben Haushalt beschäftigt waren, was jedoch eher die Ausnahme war, verringerte sich die soziale Distanz nicht. Aufgrund ihrer untergeordneten Stellung blieben sie für die Dienstgeber fremde Personen, von denen man nicht wusste, woher sie kamen, und schon gar nicht wissen wollte, was sie fühlten oder dachten, für die man sich – außer der Nutznießung ihrer Arbeit – einfach nicht interessierte, die man sah und gleichzeitig nicht sah bzw. durch die man hindurchsah. Die soziale und emotionale Distanz bei gleichzeitiger intimer Nähe, die Eingeschlossenheit im Haushalt und Ausgeschlossenheit vom Leben „draußen“ ließen diese Arbeitsmigrantinnen ein Leben im gesellschaftlichen Niemandsland der Großstadt führen. Dieses Nicht-dahinund Nicht-mehr-dorthin-Gehören konnte zur Folge haben, dass sich diese Frauen sozial und gefühlsmäßig in einem Vakuum bewegten. Die täglich erfahrene Fremdheit konnte in Selbstfremdheit übergehen. Dezső Kosztolányi hat dies etwa in seinem Dienstbotenroman „Anna“17 beschrieben: Anna, das gesunde, kräftige Mädchen vom Land, hinein ver- bzw. gesetzt in einen bürgerlich-städtischen Haushalt, verliert sich zunehmend in den ihr fremden Umgangs15 Canetti, Gerettete Zunge, 115. 16 Ebd., 115. 17 Dezsö Kosztolányi, Anna. Ein Dienstmädchenroman, Nördlingen 1987.

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formen, findet sich nicht mehr zurecht, ist teilweise überfordert damit und entfremdet sich selbst so weit, dass sie eines Tages das Ehepaar, bei dem sie bedienstet ist, ermordet. Wie in Trance begeht sie diesen Mord, der ihr als einziger Ausweg erscheint, um wieder zu sich selbst zu finden, wieder die (frühere) Anna sein zu können. Die prekäre Situation von Dienstbotinnen, die als Arbeitsmigrantinnen nach Wien kamen, haben auch andere Literaten beschrieben, die selbst Migranten waren, wie der slowenische Dichter Ivan Cankar, der einige Jahre in Wien lebte. Cankar skizziert auf unsentimentale und knappe Weise die schwierige Situation, die Problematik von Frauen als Migrantinnen und ihr Leben in der Fremde. Dabei knüpft er vor allem an die weit verbreiteten Darstellungen von Migration und sittlichem Verfall an, indem er die stete Gratwanderung der Frauen im Kampf um ihre Existenz schildert, die sich oft am Rande der Legalität abspielte. Nicht selten konnte das Überleben in der Fremde nur noch mit dem Verkauf des eigenen Körpers, dem Abgleiten in die Prostitution, bewerkstelligt werden. Ein Beispiel dafür war Doliris, die Hauptfigur der Erzählung „Gruß aus der Heimat“18. Doliris hatte „irgendwo in der Nähe von Triest ihren Weg beschritten“ und dabei war, wie Cankar schreibt, ihre Stimme „rauh“ geworden, ähnlich ihrem Äußeren: „Nicht nur den Lippen, auch den Worten, den Augen, den Wangen [waren] die eklen Küsse anzumerken, die Küsse betrunkener, schäumender Lippen.“19 Abschließend läßt Cankar seinen Protagonisten die Frage stellen: „Oh süße Doliris, ist dir denn gar nichts geblieben von jener bescheidenen Zehrung, die du mitgenommen hattest auf deinem entsetzlichen Weg?“20 Auch Arthur Schnitzler hat das Thema Dienstbotinnen und deren regionale wie soziale Mobilitäten in seinem Roman „Therese – Chronik eines Frauenlebens“ aufgegriffen.21 Therese, die Tochter eines Militäroffiziers aus Salzburg erlebt sowohl geografisch-regional – durch ihren Wechsel nach Wien – als auch sozial eine neue, für sie fremde Welt: Durch ihre Tätigkeit zunächst als Gouvernante, später als Dienstmädchen und -magd in den verschiedenen Haushalten, die von großbürgerlichen Häusern bis hin zu proletarisch verarmten Handwerkerhaushalten reichten und mit dem eigenen sozialen Abstieg Thereses einhergehen, war durch die Verquickung von Arbeit und Wohnen stets eine Eingebundenheit in den Haushalt gegeben, die gleichzeitig eine Nichteingebundenheit war.

18 Ivan Cankar, Pavličeks Krone. Literarische Skizzen aus Wien, Klagenfurt 1995, 54–64. 19 Ebd., 62. 20 Ebd. 21 Arthur Schnitzler, Therese. Chronik eines Frauenlebens, Frankfurt am Main 1979.

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2.2 Gouvernanten, Erzieherinnen und Lehrerinnen: Arbeitsmigrantinnen aus dem Ausland

Eine zweite Gruppe von Arbeitsmigrantinnen waren die Gouvernanten, Erzieherinnen und Lehrerinnen in Privathaushalten, die meist aus dem fremdsprachigen Ausland, wie Frankreich, England, Russland oder der Schweiz, kamen. Sie waren, wie die Dienstboten, ebenfalls in den Arbeitgeberhaushalt eingebunden, standen im sozialen Rang jedoch etwas höher als das übrige Dienstpersonal. Diese meist gut ausgebildeten, mehrere Sprachen sprechenden, hoch qualifizierten Frauen zählten im 19. Jahrhundert bereits zu einer überaus mobilen Gruppe von internationalen Arbeitsmigrantinnen. Vielfach waren diese Frauen gemeinsam mit den Familien der Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen aufgrund von beruflichen Migrationen oder Reisen quer über den europäischen Kontinent unterwegs. In der Habsburgermonarchie hatte die Zuwanderung von Frauen aus westeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien seit den 1880er-Jahren deutlich zugenommen. 1910 waren von den insgesamt in der Habsburgermonarchie anwesenden französischen Staatsangehörigen rund zwei Drittel weiblichen Geschlechts. Auch bei den aus Großbritannien zugewanderten Personen machten Frauen im Jahr 1910 bereits 62 Prozent aus. Etwas mehr als die Hälfte dieser Langstreckenmigrantinnen hielt sich in Niederösterreich, und hier vor allem in Wien, auf. Das Engagement der Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung „zum Schutze junger Mädchen“, die das „Vaterhaus verlassen“ mussten, kam vor allem dieser Gruppe von Migrantinnen zugute. Schon in den 1870er-Jahren war es in Genf zur Gründung der „Internationalen Union der Freundinnen junger Mädchen“ gekommen, der im Jahr 1910 bereits über 12.000 Mitglieder aus 46 verschiedenen Ländern angehörten. Hauptziel dieses internationalen Vereines war es, „sich jedes jungen Mädchens ohne Unterschied der Nationalität oder Religion, das die Familie entbehrt oder sein Vaterhaus verlassen muss, fürsorglich anzunehmen und ihm so weit als möglich zu einem ehrlichen Fortkommen behilflich zu sein“.22 Dazu wurden in einzelnen Städten auf „Anregung von Frauen, Lehrerinnen oder Erzieherinnen, die selbst zu einem Leben fern von Familie und Heimat verurteilt“ waren, Heime gegründet, wo die neu in der Stadt ankommenden oder arbeitslosen Frauen für eine gewisse Zeit eine Unterkunft finden konnten. In Wien wurde 1868 im dritten Wiener Gemeindebezirk (Reisnerstraße 3) ein erstes sogenanntes „Schweizer Heim“ (Home suisse) gegründet. Bis 1910 konnte dieses Heim „trotz räumlicher Beschränktheit“ rund 26.000 Frauen beherbergen. Die Gründung dieses Heimes blieb jedoch eine Ausnahme. So wurde auch in einem Artikel in der Zeitschrift Der Bund 1910 beklagt, dass „die Union in Österreich seit der Begründung des Home suisse kaum Fortschritte gemacht“ hätte und dies umso bedauernswerter sei, da „doch nach Österreich nicht nur eine starke Einwanderung von Französinnen, Schweizerin-

22 Der Bund, Jg. 5 (1910) 1, 1–5, hier: 2.

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nen, Engländerinnen und Italienerinnen statt[findet]“, sondern „einzelne seiner Kronländer berüchtigt wegen des dort blühenden Mädchenhandels nach dem Auslande“ seien.23 Neben dem Schweizer Heim existierten noch eine Reihe anderer Einrichtungen für ledige, junge zugewanderte Frauen. Dazu zählten etwa der „Hilfsverein für Lehrmädchen und jugendliche Arbeiterinnen“, der 1912 „17 Pfleglinge“ versorgte und einen „Sonntagshort“ betrieb. Auch Ausflüge wurden organisiert und zu Weihnachten gab es für die Mädchen „eine Bescherung“. Der Verein sah seine Hauptaufgabe in der „unentgeltliche[n] Stellenvermittlung, Unterstützung besonders armer Mädchen, Inspektionsbesuche[n] in den Lehrstellen und daraus hervorgehende[r] Einflussnahme auf eine wünschenswerte Gestaltung des Lehrverhältnisses“. 24 Im zehnten Wiener Gemeindebezirk (Senefeldergasse 8) bestand ebenfalls eine „Heimstätte für dienst- und arbeitsuchende Mädchen und Frauen“. 1912 war dieses Heim für rund 1.000 Frauen eine kurz- oder auch längerfristige Aufenthaltsstätte. „Unter den Insassinnen des Heimes waren“, wie berichtet wird, „alle Kreise und Stände vertreten, Erzieherinnen, Beamtinnen ebenso wohl wie Mädchen der dienenden Klasse“. Und, wie es weiter heißt: Für alle war es eine Wohltat um ein Geringes eine so gute, behagliche, peinlich rein und ordentlich gehaltene Unterkunft und wenn es nottat auch Beistand und Rat zu finden. Sehr oft vermochte das Haus gar nicht die Zahl derer zu fassen, die Aufnahme begehrten. Wien braucht mehrere derartige Heime.25 2.3 Fluktuation und Mädchenhandel

Derartige Appelle zur Gründung von Heimen und Herbergen für zugewanderte Frauen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Zeitschriften der bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegung. Die überwiegend nur kurzfristigen Dienstverhältnisse führten zu einer ungeheuren Fluktuation der Dienstbotinnen in der Stadt. Nicht immer verließen die Dienstbotinnen freiwillig ihre Arbeitsstelle. Zahlreiche Arbeitgeber kündigten den Dienstboten, wenn sie auf Sommerfrische fuhren und nahmen nach ihrer Rückkehr wieder neue Dienstboten auf. Diese kurzfristigen halb- oder einjährigen Dienstverhältnisse hatten zur Folge, dass sich in der Stadt stets ein großes Heer an arbeitsuchenden Dienstbotinnen befand. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, im November 1913, wurde von der Stadt Wien im Rathaus eine Konferenz zur Regelung des Dienstbotenwesens abgehalten. Von den Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung wurde dabei die Gründung eines städtischen Dienstbotenamtes vorgeschlagen. „Dieses Amt müsste“, wie in Der Bund geschildert wird,

23 Ebd., 4. 24 Der Bund, Jg. 8 (1913) 7, 15. 25 Ebd., 14.

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eine gewisse Ordnung des Angebotes schaffen, d. h. diejenigen Mädchen, die noch nicht gedient haben, anderen städtischen Vermittlungen zuweisen als denen, in welchen die bereits im Dienste qualifizierten sich melden, ferner für eine gleichmäßige Beschickung der in den einzelnen Wiener Bezirken derzeit sehr ungleich besuchten Vermittlungsstellen sorgen.26

Es solle auch eine Kommission eingesetzt werden, deren Aufgabe darin bestehen sollte, die Dienstmädchen, „die, neu der Stadt zustrebend, lebens- und gesetzunkundig sind“ über ihre Rechte und Pflichten zu informieren sowie „Schiedsrichterdienste zu leisten in allen strittigen Angelegenheiten zwischen den Hausfrauen und den Dienstmädchen […]“. Darüber hinaus wurde gefordert, dass die „sommerlichen Dienstbotenentlassungen und die herbstlichen Kündigungen“ geregelt werden sollten. Nicht ganz selbstlos wurde von diesen bürgerlichen Vertreterinnen auch der Plan zur Diskussion gestellt, die Ausbildung der Dienstmädchen von „einfachen Frauen des Mittelstandes“ durchführen zu lassen: Die einfachen Frauen des Mittelstandes hätten bei kleiner Lohnbezahlung Anfängerinnen aufzunehmen und sie mit allen Arbeiten der Hauswirtschaft vertraut zu machen. Nach Ablauf eines oder zweier Jahre hätte der weibliche Lehrling ein Zeugnis zu erhalten, das ihn zur Aufnahme eines gut dotierten Dienstpostens qualifizieren würde. Mit den Lehrlingsjahren müsste der stundenweise Besuch von Haushaltungsschulen verbunden sein.27

Dieser Aspekt wie auch der zur Jahrhundertwende zunehmende internationale Mädchenhandel führten zu weiteren Gründungen von Vereinen und zur Abhaltung von internationalen Konferenzen, auf denen das Thema der freiwilligen und unfreiwilligen Mobilität der Frauen im Mittelpunkt der Diskussionen stand. Wie in vielen anderen europäischen Städten kam es auch in Wien zur Gründung eines Vereins zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Im Oktober 1909 war die Stadt Wien Veranstaltungsort der internationalen Konferenz zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Diese hat, wie in einem Artikel in Der Bund berichtet wird, unwiderleglich dargetan: erstens, dass Scharen junger Mädchen und Frauen, die durch die Verhältnisse gezwungen, Vaterhaus und Heimat verlassen, um in fremden Städten und Ländern Erwerb zu suchen, beständig der Gefahr ausgesetzt sind, in unlautere Hände zu fallen und zweitens, dass es unendlich schwer ist, die in die Netze der Mädchenhändler geratenen Opfer zu befreien, und die einmalig Entgleisten wieder dem mühsameren, aber anständigen Leben der Arbeit zurückzugewinnen. Wie notwendig der Kampf gegen den internationalen Mädchenhandel daher auch sein mag, eines erscheint noch ungleich notwendiger, die vorbeugende Fürsorge, die sich

26 Ebd., 9, 10. 27 Ebd., 10.

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der Mädchen annimmt, noch ehe sie der, oft in lockendem Gewande erscheinenden Versuchung erlegen sind, und einen schirmenden Kreis um alle zieht, die auf fremder Erde jeden freundschaftlichen Anhalt entbehren.28

Von diesen Vereinen zur Bekämpfung des Mädchenhandels wurden in den großen Bahnhöfen der Städte sogenannte „Bahnhofsdienste“ ins Leben gerufen, die den ankommenden Frauen bei der Dienst- und Unterkunftssuche behilflich waren. 3. Bildungs- und Karrieremigrantinnen

Nicht nur die Frauen aus der Arbeiterschaft oder die in den bürgerlichen und adeligen Haushalten tätigen Dienstbotinnen waren mobil. Auch zahlreiche Frauen aus dem Bürgertum und dem Adel waren aus den unterschiedlichsten Gründen innerhalb der Habsburgermonarchie, in Europa oder auch darüber hinaus unterwegs. Unter den zur Jahrhundertwende in Wien lebenden Frauen aus diesen gesellschaftlichen Kreisen konnten viele auf eigene Migrationserfahrungen zurückblicken oder stammten aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Ein Beispiel dafür ist die Familie von Berta Zuckerkandl, deren Eltern im Zuge der großen Zuwanderungswelle in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Osten der Monarchie nach Wien gekommen waren. Berta Zuckerkandl selbst wurde 1872 bereits in Wien geboren, wo sie auch aufwuchs und bis zu ihrer Emigration wohnhaft blieb. Die Liste jener Frauen, die als Kinder von Migranten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits in Wien geboren waren und auch zur Jahrhundertwende noch hier lebten, könnte fortgesetzt werden. 3.1 Heiratsmigration

Eine der sehr häufigen Migrationsformen für Frauen war die Heiratsmigration. Das Mit­ ziehen der Ehefrauen mit dem Gatten zählte, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, zur lebenszyklischen Erfahrung eines großen Teils der Frauen. Vom geschlechtsspezifischen ­Aspekt her gab es hier einen wichtigen Unterschied: Im Gegensatz zu den Männern waren verheiratete Frauen im mitteleuropäischen Raum rechtlich verpflichtet ihren Ehemännern zu folgen, wohin auch immer deren berufliche oder sonstigen Wege sie führten. Beispiele dafür lassen sich in den unterschiedlichsten sozialen Milieus finden und zeitlich gesehen bis weit ins Mittel­alter zurückverfolgen. Unabhängig davon, ob es sich um Angehörige des (Hoch-) Adels, des Militärs, des Handels- oder Bildungsbürgertums handelte, um nur einige Beispiele zu nennen, waren es überwiegend die Karrierepfade der Männer, die die Migrationsrouten und -wege vorgaben. 28 Der Bund, Jg. 5 (1910), 1.

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War man einmal verheiratet, und das war ab einer gewissen Altersgrenze in den meisten mitteleuropäischen Gebieten die Mehrheit der erwachsenen Bevölkerung, wurde die Einzelmigration sehr rasch zur Partner- und/oder Familienmigration, von der alle Familienangehörigen ohne Unterschied ihres Geschlechts betroffen waren. Eine genderspezifische Analyse der Migrationsvorgänge ermöglicht das Aufzeigen der Interaktionen, der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten etc. zwischen Frauen und Männern insbesondere bei familiären Wanderungsvorgängen. Dabei blieben vor allem der weibliche Anteil am Migrationsgeschehen – bei der Beschaffung des Familieneinkommens, der Besorgung und Ausstattung der Unterkünfte etc. – sowie generell die in den Migrationsvorgang eingebrachten geschlechtsspezifisch unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Kapitale bisher in den meisten Untersuchungen ausgespart. Regional kürzere oder längere Migrationswege wie auch die im Schatten der Ehemänner geleistete Arbeit zur Aufbesserung des Familieneinkommens waren für einen Großteil der Frauen aus der Mittel- und vor allem der Unterschicht üblich. Ein Beispiel dafür ist Amalie Wehle. Geboren 1836 in Prag, verheiratet mit dem aus Lieben in Böhmen stammenden Albert Eckstein (geb. 1825), kam sie gemeinsam mit ihrem Mann zu Beginn der 1860er-Jahre zunächst nach Perchtoldsdorf. Hier gründete Albert Eckstein die erste Pergamentpapierfabrik in Österreich. Aufgrund zahlreicher Erfindungen konnte er den Betrieb in den folgenden Jahrzehnten erfolgreich ausbauen. Bereits nach einigen Jahren übersiedelte die Familie nach Wien, zunächst nach Gaudenzdorf (heute Meidling) und Mitte der 1860er-Jahre dann in den sechsten Wiener Gemeindebezirk. Zu Beginn der 1870er-Jahre lebten die Ecksteins in der Siebenbrunnengasse im fünften Bezirk. Während dieser Umzugsjahre gebar Amalie zehn Kinder (sechs Töchter und vier Söhne), von denen zwei Söhne im frühen Kindesalter verstarben. 1881 starb Albert Eckstein und die 47-jährige Witwe führte den Betrieb bis zur Jahrhundertwende allein weiter. Amalia Eckstein richtete auch einer der ersten Wiener Schulküchen für die nahe gelegene Volksschule ein, in der ihre Töchter, darunter auch die spätere Politikerin und Schriftstellerin Therese (verheiratete Schlesinger),29 abwechselnd Dienst taten.30 Die Zeitgenossin Marianne Pollak berichtet über Amalie Eckstein: Sie war für die damalige Zeit weit über den Durchschnitt gebildet und freisinnig. Sie wollte Lehrerin werden, aber in Prag, wo sie ihre Kindheit verlebte, stand ihr keine andere Bildungsstätte als eine Klosterschule offen. Sie wurde, obgleich Jüdin, dort aufgenommen und war bald eine

29 Therese heiratet im Sommer 1888 den um 15 Jahre älteren Bankbeamten Viktor Schlesinger. Dieser stirbt nach drei Jahren am 23.2.1891 an Tuberkulose; Therese ist bereits mit 28 Jahren Witwe! 30 Marina Tichy, „Ich hatte immer Angst, unwissend zu sterben.“ Therese Schlesinger: Bürgerin und Sozialistin, in: Edith Prost (Hrsg.), „Die Partei hat mich nie enttäuscht …“ Österreichische Sozialdemokratinnen, Wien 1989, 135–186, hier: 136.

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der besten Schülerinnen der Anstalt. Bis in ihr hohes Alter bewahrte sie sich eine aufgeschlossene Haltung in allen religiösen Fragen und das Interesse für politische Ereignisse und Schulprobleme.31 3.2 Bildungsmigration

Im Gegensatz zur Heiratsmigration, die für einen Großteil der Frauen bereits in früheren Jahrhunderten zur Alltagsrealität gehörte, war und blieb Bildungsmigration bis weit ins 19. Jahrhundert vorwiegend dem männlichen Geschlecht vorbehalten. Erst durch die allmähliche Öffnung des gymnasialen und universitären Bildungsbereichs wurde es auch für Frauen möglich und üblich in einer anderen Stadt oder einem anderen Land eine höhere Schule oder Universität zu besuchen. Einzelne Beispiele von Frauen aus dem (bildungs-)bürgerlichen Milieu hingegen zeigen, dass in intellektuellen Familien bzw. Kreisen die Bildungsmigration für weibliche Familienmitglieder bereits im 18. Jahrhundert vorkam.32 Im 19. Jahrhundert war eine Bildungsmigration zum Zwecke eines Studiums an einer europäischen Universität für junge Frauen aus wohlhabenden europäischen Familien durchaus üblich. Die ersten Absolventinnen der Universität Wien hatten ihr Studium fast durchwegs an einer anderen europäischen Universität absolviert, an der Frauen bereits zum Studium zugelassen waren, wie beispielsweise an den Universitäten Zürich, Genf, Heidelberg oder in Berlin. Zu diesen zählten Gabriele Possanner, Cäcilia Wendt und Gräfin Gabriele von Wartensleben ebenso wie auch zahlreiche Ärztinnen, die noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine eigene Ordination in Wien eröffnet hatten (siehe Tabelle).      

Gabriele Possaner v. Ehrenthal Studium der Medizin in Zürich und Genf 1894 Promotion Gnadengesuch an Kaiser Franz Joseph zur Genehmigung, alle Rigorosen an der Wiener Universität wiederholen zu dürfen. Nach Ablegung von 21 Prüfungen Promotion am 2. April 1897 zur ersten Doktorin der Habsburgermonarchie Dr. Amalie Friedmann, II, Kinder- und Frauenkrankheiten Dr. Mathilde Gstettner, VII, Augenkrankheiten Dr. Margret Hilferding, X, Geburtenhilfe & Frauenkrankheiten Dr. Clara Hönigsberger, XVII, Innere & Frauenkrankheiten Dr. Rosa Kerschbaumer, IX, Augenkrankheiten

31 Marina Tichy, Feminismus und Sozialismus um 1900: Ein empfindliches Gleichgewicht. Zur Biographie von Therese Schlesinger, in: Lisa Fischer/Emil Brix (Hrsg.), Die Frauen der Wiener Moderne, Wien 1997, 83–100, hier: 87. 32 Siehe Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt am Main 2012.

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Dr. Gisela Lion-Meitner, III, Innere Krankheiten Dr. Friederike Lubinger, VII, Frauen- & Kinderkrankheiten Dr. Anna Pölzl, I, Innere- & Frauenkrankheiten Dr. Baronin Gabriele v. Possanner, IX, Kinder- & Frauenkrankheiten Dr. Baronin Potter-Schulze, VIII. Dr. Dora Teleky, IX, Chirurgie- & Frauenkrankheiten Dr. Else Volk-Friedland, I, Männer- & Frauenkrankheiten Dr. Stephanie Weiss-Eder, VII, Frauen- & Kinderkrankheiten

Quelle: Der Bund, März 1910.

Eine weitläufige Bildungs- und Karrieremigration hatte die in Russland geborene und aufgewachsene Rosa Putjata-Kerschbaumer33 aufzuweisen, die 1908 im ersten (Tuchlauben 18) und 1910 im neunten Wiener Gemeindebezirk eine Ordination für Augenheilkunde unterhielt. Ihr Ausbildungsweg hatte sie zunächst von Russland in die Schweiz geführt, wo sie in Zürich studierte; danach kam sie über Salzburg nach Wien und kehrte später nach Russland zurück, bevor sie schließlich in die USA emigrierte, wo sie 1923 verstarb. Ihre berufliche Migration war gleichzeitig auch eine Karrieremigration: Studium in der Schweiz, die erste eigene Ordination in Salzburg, dann Leiterin der Augenheilanstalt in Salzburg, Lehre an der Universität in Russland, um nur einige Stationen ihres Karrierepfades zu nennen. Daneben war Rosa Kerschbaumer aber auch sozial engagiert und setzte sich für die Förderung von Frauen in der medizinischen Ausbildung und im Berufsleben ein. „Frau Dr. med. Rosa Putiatia Kerschhammer [sic], gewesene Leiterin der Augenheilanstalt in Salzburg, em. Direktorin der Augenheilanstalt der Kaiserin Maria in Tiflis, I., Tuchlauben 18, hat sich bereit erklärt, unseren Mitgliedern gegen Vorweisung unserer Legitimation (im Bureau zu beheben) bei Behandlung von Augenkrankheiten möglichstes entgegenkommen, unbemittelten unentgeltlich Ordination zu gewähren. An Wochentagen 8–4 Uhr, Sonntagen von ½ 11–1/2 12 Uhr.“ Quelle: Mitteilungen der Vereinigung der arbeitenden Frauen im Jahr 1908.

33 Siehe dazu im Detail: Sabine Veits-Falk, Rosa Kerschbaumer-Putjata (1851–1923). Erste Ärztin Österreichs und Pionierin der Augenheilkunde. Ein außergewöhnliches Frauenleben in Salzburg, Salzburg 2008.

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Eine Reihe dieser gebildeten Frauen engagierten sich intensiv für die Frauenbildung und das Frauenstudium. Unter ihnen waren auch mehrere Gründerinnen von Mädchenschulen.34 Die meisten dieser Frauen hatten eine Schulausbildung bzw. ein Studium im Ausland absolviert und brachten ihr Wissen und Können nun in Wien im Bereich der Mädchenbildung ein. Die Gründung und Führung dieser Bildungsstätten ging überwiegend auf zugewanderte Frauen bzw. Frauen mit Migrationshintergrund zurück. Olga (Olly) Schwarz, geb. Frankl (1877–1939) war eine von ihnen: Geboren in einer bürgerlich jüdischen Familie in Prag, übersiedelte sie 1898 mit ihren Eltern nach Wien. Hier heiratete sie etwas später den Arzt Emil Schwarz, hatte Kontakt zu Ludo Hartmann und war Ausschussmitglied im Athenäum sowie Vorstandsmitglied im Neuen Wiener Frauenklub. 1907 gründete sie gemeinsam mit Dr. Olga Steindler die Wiener Handelsschule für Mädchen. Steindler wirkte als Direktorin und Schwarz als Kuratorin der Schule. 1921 wurde Olga Schwarz Leiterin der weiblichen Abteilung des Berufsberatungsamtes der Stadt Wien. Ab 1933 engagierte sie sich in der Flüchtlingsfürsorge für die „Liga der Menschenrechte“ und musste dann selbst flüchten; sie ging in die USA. In Chicago trat sie dem Frauenkomitee der Settlement-Bewegung bei und engagierte sich im Bereich der Sozialarbeit. 1954 kehrte Olga Schwarz nach Wien zurück, wo sie 1960 starb.35 Ein anderes Beispiel ist die aus Polen stammende Pädagogin Sophie Halberstam (geb. 1873, nach 1939 verschollen), die 1907 die Lehramtsprüfung für Englisch und Französisch an der Wiener Universität ablegte. Bereits 1906 gründete sie gemeinsam mit Else Buberl das Mädchenlyzeum auf der Wieden. Nach Erhalt des Öffentlichkeitsrechts übersiedelte die Schule 1910 in den sechsten Bezirk. Der „Verein Mariahilfer Mädchenlyzeum“ erhielt staatliche Subventionen und wurde 1923/24 in ein Reform-Realgymnasium, die Mariahilfer Mädchenmittelschule, umgewandelt. 1938 wurde die Schule von den Nationalsozialisten aufgelöst.36 3.3 Neue Berufe

Auch neue berufliche Wege wurden von den jungen Frauen zur Jahrhundertwende beschritten. Die Ausbildung dafür konnte ebenfalls mit einer Bildungs- und Karrieremigration verbunden sein. Nicht selten brachten diese Frauen wichtige neue Entwicklungen und Fortschritte ihrer Branche mit ihrer Rückkehr nach Wien mit. Damit trugen sie wesentlich zur kulturellen Vielfalt der Stadt zur Jahrhundertwende bei. Zu diesen Pionierinnen zählten die 34 Siehe dazu etwa die Autobiografie von Lilian M. Bader, deren Mutter zur Jahrhundertwende in Wien eine Mädchenschule gegründet hatte, die sie nach dem Tod ihrer Mutter bis zu ihrer Emigration 1938 weiterführte. Lilian M. Bader, Ein Leben ist nicht genug. Memoiren einer Wiener Jüdin, Wien 2011. 35 Elke Krasny, Stadt und Frauen. Eine andere Topographie von Wien, Wien 2008, 18. 36 Ebd., 36.

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ersten drei Gründerinnen und Leiterinnen der Fotoateliers Adele, Olga und d’Ora, die, wie es in einem Bericht in der Österreichischen Frauen-Rundschau 1912 hieß, „es zu schönem Ansehen gebracht und festen Boden gewonnen haben“.37 Dora Kallmus, die Besitzerin des Fotoateliers d’Ora, stammte aus einer jüdischen Familie mit Migrationshintergrund. Ihr Vater, Dr. Philipp Kallmus, Hof- und Gerichts-Advokat, stammte aus Prag, die Mutter, Malvine Sonnenberg, aus Krapina in Kroatien. Dora wurde 1881 in Wien geboren und durfte, nachdem sie Fotografin werden wollte, als erste Frau an den Theoriekursen der Wiener Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt teilnehmen. Der Besuch von Praxisseminaren sowie die Absolvierung eines regulären Studiums waren jedoch vor 1908 nicht möglich. Aus diesem Grund ging Dora Kallmus 1906 nach Berlin, wo sie Fotografieund Retuscheunterricht bei bekannten Fotografen nahm. 1907 kehrte sie nach Wien zurück, wo sie den Gewerbeschein für Fotografie erhielt und in der Wipplingerstraße gemeinsam mit Arthur Benda das Fotoatelier d’Ora eröffnet. Dora Kallmus wurde eine der wichtigsten Porträtfotografinnen der Wiener Künstler- und Intellektuellenszene bis in die späten 1920er-­ Jahre.38 Dies sind nur einige Beispiele aus der Vielzahl und Vielfalt der Migrantinnen in Wien zur Jahrhundertwende, die durch ihre Herkunft, ihre Erfahrungen als Migrantinnen, ihre weitgesteckten Ausbildungs- und Berufswege einen wichtigen Beitrag zum Alltagsleben, zur (Frauen-)Bildung, zu Wissenschaft, Kunst und Kultur der Wiener Moderne leisteten.

37 Österreichische Frauen-Rundschau 1912/2. 38 Siehe Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung der Fotografien des Atelier d’Ora; Monika Faber, Madame d’Ora. Porträts aus Kunst und Gesellschaft 1907–1957, Wien 1983.

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The Influence of Jewish Immigration on the Modern Culture of Vienna 1900

1. Introduction

No other group of immigrants had so much influence on the modern culture of Vienna 1900 as did Viennese Jewry. This might at first sight seem an improbable and contentious claim. Jews were never much more than 10 percent of Vienna’s population, and were far outnumbered as immigrants by other ethno-religious groups, such as Czechs and, of course, Austrian Germans. The idea of Jewish “domination” of modern culture in Vienna has also raised in many commentators’ minds the spectre of racist and antisemitic exaggeration and hyperbole, negatively and irrationally concentrating on the contributions of a few (assimilated) Jewish individuals to the larger, general culture, to make Jews scapegoats for the ills of modernity – seen from a reactionary, antisemitic perspective. Even when seen positively, such claims to a Jewish predominance in Viennese modern culture have often been framed as a form of reverse racism, of a Jewish nationalist, Zionist, adoption of the same irrational, essentialist categories and hyperbolizing strategies as the Nazis, but this time for Jewish national ends rather than for German ones.1 As much scholarly research over the last few decades has shown, however, and as the recent politics of restitution has so often confirmed, the individual contributions of famous Jewish individuals such as Sigmund Freud, Arnold Schoenberg, Gustav Mahler, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Otto Neurath, Theodor Herzl, Lise Meitner, and so many others in the pantheon of “Vienna 1900”, were only the tip of the iceberg. No matter how contentious it might appear, the fact is that Jewish immigrants or the children of Jewish immigrants played by far the leading role in shaping and enabling modern culture in Vienna in the decades around 1900. Part of the reason for this predominant Jewish role in the modern culture of Vienna 1900 – or the Wiener Moderne as it is called in German – is that the culture of the Wiener Moderne was neither that widespread nor that popular. The art of the Secession and the music of the Second Viennese School, the poetry, plays and novels of “Young Vienna”, and the psychoanalysis of Sigmund Freud and his circle, together with the other components of the Viennese 1

Cf. Ernst Gombrich, The Visual Arts in Vienna circa 1900, London 1997, 23–24.

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modern culture which is today so prized, were largely a matter of high culture, of a particular cultural and social elite, and developed within a broader cultural context which, though in some aspects modern, was not even remotely modernist, and in many respects conservative – indeed reactionary. The leading architectural style of prewar Vienna was not functionalism or modernism, but neo-Baroque, as exemplified in the new wing of the Hofburg (largely completed in 1913). The most popular musical style was the dance and operetta music of waltzes and polkas, not Schoenberg’s “Gurrelieder”. What later generations have seen as significant in the culture of Vienna around 1900, Wiener Moderne, was not by any means the entire culture of the city at the time, nor even a particularly large part, but the concern of relatively small elite groups, especially in the upper reaches of the educated middle classes. Even if Jews comprised only 10 percent of Vienna’s population, if they happened to be concentrated in the social reservoir of this small “modernist” elite, then it would be much more understandable if Jews provided a large proportion of this group, and that is indeed the case: Jews in Vienna were present in much higher numbers in precisely the educated middle classes of Vienna than they were in the city’s population in general. Narrow though its social base may have been, the Wiener Moderne as viewed from today’s perspective covered not only the plastic arts and architecture, but the whole gamut of cultural, literary and intellectual fields. Were it only about plastic arts and architecture, it might be understandable why an emphasis on the Jewish side to the Wiener Moderne would appear so strange and contentious, because Jews were not all that prominent in these fields as creators – although they were very prominent as patrons and propagandists for the new art. In almost every other cultural and intellectual area Jews were remarkably influential and numerous. 2. A Note on Immigration and Definition by Origins

Quite how large the Jewish presence was in the various intellectual fields and cultural movements depends partly on definition of who was “Jewish”. Framing the question in terms of “Jewish immigration” allows, in some respects, a broader criterion than would others, because, structurally, immigration concerns origins, where immigrants, and their parents, are from, in this case from which ethnic group. Therefore, unlike religious or self-descriptive definitions, the immigration definition of who was a Jew must rely on origins, on descent, for its criterion: What Jewish immigrants to Vienna were coming from, not what they were, or thought they were. Under this viewpoint, all individuals of Jewish descent who immigrated to Vienna, or were the children of Jewish immigrants, count as part of the social phenomenon of “Jewish immigration to Vienna”. Almost all of Viennese Jewry around 1900 is included in this category – it was very rare for any Viennese of Jewish descent to be able to trace the Viennese roots of both sides of their family back even to their grandparents, let alone further. (That is also true, to a somewhat lesser extent, for non-Jews.) Therefore, Jewish descent – not

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contemporary religious or self-ascribed status – becomes the criterion of inclusion under the rubric of “Jewish immigration”. 3. The Jewish Presence

When we look at the various cultural and intellectual movements that comprised what we now know as the Wiener Moderne, the presence of Jews (almost all immigrants or children of immigrants) is very strong.2 It varied between fields, with a greater concentration in word-oriented fields than in image-oriented ones, as anyone with basic knowledge of Jewish cultural traditions might expect. Even in the image-oriented fields of the plastic arts and architecture, it bears repeating, Jews might not have been the most prominent creators, but, as the restitution battles of the last few decades have attested, the extent to which Jews were the patrons and buyers of modern art, and applied art and design, in Vienna was quite remarkable, whether we are talking about, to name but a couple instances, the Lederer family’s support of Klimt and Schiele, or Fritz Waerndorfer’s financing of the Wiener Werkstätte.3 Much the same can be said about the private sponsors of modern architecture. Adolf Loos in particular depended on Jewish clients for many of his projects, including the most famous, the Looshaus on Michaelerplatz, which was commissioned by Leopold Goldman, the Jewish owner of the menswear store, Goldman und Salatsch. Many of the major proponents of modern art in Vienna, such as Ludwig Hevesi and Berta Szeps-Zuckerkandl, were also Jewish. In more word-oriented fields, the Jewish presence was much more prominent. In the central literary group of fin-de-siècle Vienna, “Young Vienna”, a large majority, from Schnitzler to Beer-Hofmann, were Jewish. Whether one includes Hugo von Hofmannsthal as part of the Jewish group or not has been the subject of some debate, but one should consider that the context in which Hofmannsthal functioned, at least as a member of the Young Vienna group, was largely a Jewish one – and the very fact that there has been such debate about Hofmannsthal’s Jewishness suggests that the question on a practical level answers itself. When it comes to the broader literary world outside the confines of Young Vienna, especially the world of the literary coffeehouses, the Jewish presence was also very strong, as far as modern literary approaches were concerned. There were literary circles where few Jews took part, but they have not been included in the canon of the Wiener Moderne – because they tended to be reactionary or traditionalist: anti-modern. It is perhaps inevitable that the greatest critic of the Young Vienna writers, from a modern perspective, was Karl Kraus, himself Jewish (and an immigrant). 2 3

For the following data and statistics, see Steven Beller, Vienna and the Jews, 1867–1938, Cambridge 1989, 14–32. See Sophie Lillie, Was einmal war. Die enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Vienna 2003.

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In the musical world of the Wiener Moderne, Jews were prominent as creators, performers, critics, theorists, and promoters. The two figures of Gustav Mahler and Arnold Schoenberg stand out, but in their penumbra were very many other composers of Jewish descent, such as Alexander Zemlinsky and Franz Schreker. Schoenberg’s two most famous pupils in the Second Vienna School of Music, Alban Berg and Anton von Webern, were not of Jewish descent, but many others in the circle around Schoenberg, such as Hanns Eisler, were. In the somewhat “lower” sphere of light musical culture, of waltzes and operettas, at which Vienna excelled, a similar pattern emerges. The fact that the “Waltz King” himself, Johann Strauss the Younger, was of partial Jewish descent, fits into a pattern where the Jewish presence was an integral and greatly influential part of the Viennese equivalent of the world of “show business”. Some of the most prominent operetta composers, such as Franz Lehár, were not Jewish, but, especially in the Silver Era beginning in the 1900s, they were outnumbered by those who were, such as Emmerich Kalmán, Oscar Straus, Leo Fall, Leo Ascher and Edmund Eysler. The predominance of Jews among librettists was even greater. The theatrical world in general had a very strong Jewish presence, not only on stage, with performers such as Adolf von Sonnenthal, but also backstage, with, for instance, the revolutionary direction of Max Reinhardt. When we move from the cultural to the more intellectual and academic areas of the Wiener Moderne the Jewish presence remains very evident. In philosophy the most prominent group of thinkers was the Vienna Circle of Logical Positivism. This group came to prominence in the interwar period, and at the turn of the century the main philosophical figure of the Wiener Moderne was Ernst Mach, who was not of Jewish descent. Nonetheless, the ideas that later informed the Circle were being developed before 1914 by the Circle’s vanguard: Otto Neurath, Philipp Frank and Hans Hahn, all three of Jewish descent. A majority of the membership of the later Circle, as listed in 1929, was also Jewish by descent, as was its main inspirer, Ludwig Wittgenstein, and its main opponent, Karl Popper. In the natural sciences Jews were particularly prominent in chemistry (half of Vienna’s Chemistry teaching faculty in 1911), but also with a large presence in physics, as attested by Lise Meitner, among many others. A third of the winners of the Lieben Prize, regarded as “Austria’s Nobel Prize”, were Jewish, even though in the early years of the prize, founded in 1862, there were no Jews (by confession) in the hierarchies of the science faculties of Austrian universities. It might be noted that this Austrian Nobel Prize was itself founded by a Jewish family, the Liebens.4 In legal theory, Jews were again very prominent, most notably Hans Kelsen and his theory of Legal Positivism; in political theory (on the left) most of the Austromarxist theoreticians were Jewish; in social theory and the movement for social reform, the major figure was Josef Popper-Lynkeus, a Jew from Bohemia, with a community of reformers that was composed mostly of Jews; in economic theory, even in the Austrian School of Economics, today seen 4

Cf. R. Werner Soukup, Die wissenschaftliche Welt von gestern, Vienna 2004.

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as a bastion of right-wing economics, key figures such as Ludwig von Mises, and a majority of the members of his private seminar, were of Jewish descent, although its most famous, or notorious, member, Friedrich von Hayek, was not. Although its reputation is not what it once was, it is still true that by far the most famous and significant contribution of the Wiener Moderne to our modern world was the “discovery” of the unconscious by Freudian psychoanalysis. As is by now well known, all of the regular members of Sigmund Freud’s initial circle of disciples were Jews. That was why bringing Carl Gustav Jung and the Swiss on board was so important to Freud, because up until that point psychoanalysis really had been a “Jewish science” – in terms of its practitioners (and most of its patients). Then there were various other Viennese offshoots of Freudian psychology, led by former Freudian disciples: Alfred Adler, Otto Rank, Wilhelm Reich, and Siegfried Bernfeld, all Jewish. This brief survey of some of the main cultural and intellectual fields does not give an exhaustive picture of the Jewish presence in the Wiener Moderne, but it does serve to indicate that that presence was very large, and in many fields often a considerable majority. Even where Jews were not a majority, they were often the largest group, the plurality. One has to bear in mind that the other members of, for instance, the natural science community in Vienna, the professors at the legal and medical faculties at the university, or writers, musicians, or philosophers, were not necessarily what we might regard today as “normal” Viennese, or even normal “Austrians”, that is to say of Austro-German Catholic heritage. This is partly explained by the fact that Vienna circa 1900, whose population exploded in the second half of the nineteenth century, as that of many European cities did, was an immigrant community par excellence – even the Austro-German Catholic members of the Wiener Moderne were as likely to be immigrants or from immigrant families as not. Yet it is remarkable how few Austro-German Catholics born within the confines of the current Austria rose to prominence in the cultural and intellectual world of the Wiener Moderne.5 In music there was Anton Bruckner, but he was overshadowed by Johannes Brahms, a Reich German Protestant; in medicine and the natural sciences, if a major figure was not Jewish he was as likely to be from the German Reich (and moreover a Protestant) or of Czech background than he was to be an Austro-German Catholic. In philosophy, the leading figures of the Vienna Circle who were not Jewish, Moritz Schlick and Rudolf Carnap, were both Reich Germans. Freud had to look to Switzerland to find credible non-Jewish allies. When one looks at the Jewish position within Viennese modern culture compared to the other major ethno-religious groups, it appears even stronger than it does in absolute terms.

5

See Steven Beller, What is Austrian about Austrian culture?, in: G. Diem-Wille/L. Nagl/F. Stadler (eds.), Weltanschauungen des Wiener Fin de Siècle 1900/2000, Frankfurt am Main 2002, 25–41.

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All in all, it is hard to see how one can come to a full understanding of the Wiener Moderne without recognizing the immense influence that Jews had on the city’s culture. This was especially so given the fact that the Viennese social context was one in which the “Jewish question” had been at the forefront of political discourse since at least the 1890s, if not before. Those who have claimed that such concern about the Jewish presence in Viennese modern culture was a product of hindsight, a reaction to Hitler and the Holocaust, were either the products of very sheltered upbringings, ideologically blinkered, or themselves traumatized by the destruction of Viennese Jewry – or all of those things. The more accurate sense of how the Jewish presence was received in contemporary Vienna is provided by a passage in an interwar guide to the city, “Was nicht im Baedeker steht”, published in 1927. Meant by its (Jewish) author, Ludwig Hirschfeld, as a humorous complement to the standard guide, this book has a chapter on “Viennese peculiarities”, one of which is a question: “Is he a Jew?”6 Hirschfeld then continued in his laconic manner to claim that all other questions, of whether a composer or writer was talented, or a famous doctor had healed many patients, or the football champion had scored many goals, came afterward. The primary question was always “Is he a Jew?” Only after the answer to this question did one have an opinion on the person’s talent or otherwise. “If you express consternation that our greatest scholar, Professor Sigmund Freud, the creator of psychoanalysis, a man of European reputation, is still not a full professor at Vienna University, the answer is: He is a Jew.” This might be read as a critique of seeing things through this Jew/non-Jew grid, and in a politico-cultural sense it was quite rightly so. The trouble was, in the Viennese context, there did seem to be something to it. As Hirschfeld himself commented, trying to explain this constant stress on someone’s being Jewish or not: “It might stem from the fact that so many interesting and original figures are Jews: Egon Friedell, the refined and clever polymath, philosopher and amateur thespian, Raphael Schermann, the graphologist.” Hirschfeld’s parting advice on how a traveler should behave to avoid this whole problem was cutting, and in hindsight quite profound: “Therefore I shall give you some good advice: Do not be too interesting or original during your Viennese stay, otherwise behind your back you will be a Jew …” Sound advice, but then, as Hirschfeld had already intimated, the assumption behind it was a mirror of Viennese reality. 4. The Prehistory of Jewish Immigration to Vienna

How had Vienna’s Jews got themselves into this situation of such great influence in Viennese modern culture? At the beginning of the nineteenth century Vienna had not been a promi6

For this and the following: Ludwig Hirschfeld, Was nicht im Baedeker steht. Wien und Budapest, Munich 1927, 56–57 (translation by S. B.).

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nent Jewish centre, at least in terms of population. In 1670 Vienna’s Jewish community had been expelled from the Habsburg capital at the height of that dynasty’s Baroque Counter-Reformation zeal. For the next century and more there was only a limited Jewish presence. This could be quite influential, as much of Habsburg financing was performed by Jewish bankers in Vienna such as Samson Wertheimer, and later the Rothschilds.7 However, Vienna officially remained off limits to Jews, with only a small number of “tolerated” individuals, and their households, allowed. This formal exclusion was somewhat deceptive, because informally there were many more Jews in Vienna than the official number of Tolerated (113 families in 1800, 179 families in 1847) would suggest. There were quite a few positions within the households of each tolerated family for secretaries, tutors and “employees”, and this was sometimes liberally interpreted by the chief of household. Rules regarding Jewish residency, formalized under the Judenamt, a bureaucracy set up in 1792 that dealt with Jewish affairs in Vienna until 1848, tended to be laxly and corruptly enforced, especially towards the end of the exclusion in the period of Vormärz (before March 1848). There are tales of Jewish merchants evading restrictions on extended stays in the city by going out one gate of the city and entering by another, accompanied by regular bribery of Judenamt officials.8 It is quite possible, therefore, that Vienna’s actual Jewish population before 1848 was much higher than official records suggest, perhaps in the thousands. The first credible census, from 1857, suggests a Jewish population for Vienna of about 6,000, in a city whose general population was approaching 500,000, which is still barely above 1 percent of the whole.9 There had, nevertheless, been quite a significant Jewish presence in Vienna in Vormärz. Even in the reform era of Maria Theresa and Joseph II individuals of Jewish descent, many converts to Catholicism, had been quite influential. Joseph von Sonnenfels was a leading figure of the Austrian Enlightenment; Raimund Baron Wetzlar von Plankenstern a major patron of music, and godfather to Wolfgang Amadeus Mozart’s first child. Mozart’s librettist for his three greatest Italian operas, “Le Nozze di Figaro”, “Don Giovanni” and “Cosí Fan Tutte”, had been Lorenzo da Ponte, born Emanuele Conegliano, the son of a Jewish leatherworker in Ceneda, in the Venetian Republic. The literary and musical salon was imported to Vienna from Berlin by Fanny von Arnstein (who remained Jewish) in the mid 1780s, and the Jewish Salondame remained a staple of Viennese cultural life from then on.10 Jewish writers such as Moritz Saphir began to play a role in Vienna’s literary world before 1848 as well.

7 8 9

Klaus Lohrmann (ed.), 1000 Jahre österreichisches Judentum, Eisenstadt 1982, 38–45, 330–333. Sigmund Mayer, Ein jüdischer Kaufmann 1831–1911: Lebenserinnerungen, Leipzig 1911, 107–120. Ivar Oxaal, The Jews of Young Hitler’s Vienna: Historical and Sociological Aspects, in: I. Oxaal/M. Pollak/G. Botz (eds.), Jews, Antisemitism and Culture in Vienna, London 1987, 24. 10 Hilde Spiel, Fanny von Arnstein oder Die Emancipation, Frankfurt am Main 1978.

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Perhaps the largest impact of Jews in pre-1848 Vienna was in their role in the development of Vienna’s commercial and financial institutions. The corn and spirit exchanges in Vienna had their origins in the deals struck by Jewish merchants in coffeehouses. Jews were also central to Vienna’s burgeoning textile trade, despite the fact, as mentioned, that Jews were in principle barred from the city.11 Vienna had by 1848 also become a significant centre for Habsburg Jewry. Already in 1793 Vienna had been the site of a Hebrew printing press that played a significant role in the spreading of the works of the Haskalah (Jewish Enlightenment). Vienna had not played the sort of central role that the Berlin of Moses Mendelssohn had in the development of maskilic (Jewish Enlightened) thinking, but Vienna as the seat of the Habsburgs had contributed to the history of the Haskalah, partly through the relatively tolerant and enlightened policies of Joseph II, and the campaign to provide secular education for Jews in the Monarchy. The Viennese Jewish community was forbidden from forming a formal religious community (Kultusgemeinde) until 1848, but it was allowed to have “representatives”, and to build its own house of public worship, the Stadttempel, in 1826. As the residence of many of the Monarchy’s richest Jews (financiers and industrialists sensibly had their seat at the centre of power), and as the centre of the textile and grain trades, Vienna already was a powerful focus for Habsburg Jewry. The presence of a significant number of Jewish students at the University, especially in the medical faculty (students were exempt from the restrictions on residency) also made Vienna intellectually significant for the larger Central European Jewish community (and helps explain the large role of Jewish students and former students in the 1848 revolutions in Vienna).12 5. Jewish Immigration to Vienna: A Complex Phenomenon

The experience of Jews in Vienna before 1848, though significant, was but a prelude to the main story, which began with the March revolution in 1848. The next two decades were, from a Jewish perspective, a story of the struggle for emancipation, that is to say for legal equality for Jews. Although this was officially granted as early as 1849, the imperial edict was not put into force at the time, and the subsequent years saw a ratcheting back of rights Jews thought they had already won in the revolutionary days of 1848 (as indicated by, for instance, the abolition of the Judenamt in that year). Gradually, however, various rights were achieved for Habsburg Jewry, until by 1867, with the triumph of political liberalism, Jewish legal equality, or rather the principle of equal treatment under the law regardless of religious confession, was enshrined in Austrian law. Perhaps most significant for the history of Jews in Vienna, how11 Sigmund Mayer, Die Wiener Juden: Kommerz, Kultur, Politik, 1700–1900, Vienna 1918, 248–272. 12 Lohrmann, 1000 Jahre, 93–111, 139–151.

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ever, was the reform in 1860 of the laws concerning right of residency, allowing freedom of movement to all Habsburg subjects, including Jews.13 It was only then that the flood of Jewish immigration to Vienna began. If Vienna’s Jewish population was just over 6,000 in 1857 (1.3 percent of the total), by 1869 it had risen to over 40,000 (6.6 percent) and it kept on rising. By 1880, it was almost 73,000 (10 percent), by 1890, over 99,000 (12 percent). The inclusion of Vienna’s new, outlying districts that year, somewhat diluted the Jewish presence – over 118,000 Jews representing 8,7 percent of the expanded city’s population – and the Jewish percentage had now reached a plateau, no longer outpacing the growth of the city’s population as a whole as it had done in the 1860s and 1870s especially. Nevertheless the Jewish population continued to grow rapidly in absolute terms, so that by 1910 the city’s Jewish population was at over 175,000 (8,6 percent), making Vienna one of the largest Jewish communities in the world at that time. In 1923, partly as a result of temporary refugee influxes, the Jewish population rose above 201,000 and was almost 11 percent of the population, before settling back to 176,000 (9 percent) in 1934, the last census before the Anschluss and Holocaust obliterated Viennese Jewry.14 The rapidity of the Jewish immigration to Vienna meant, as previously noted, that almost all Jews involved in the Wiener Moderne were either immigrants or the children of immigrants. Those with extensive generational roots in Vienna, such as Hugo von Hofmannsthal or even Arthur Schnitzler (on his mother’s side), were very much the exception. This was true for most Viennese, but it was particularly true for Vienna’s Jews. Jews came in overlapping waves to Vienna. The first major group came from those areas of the Monarchy nearest and best-connected to Vienna, particularly Bohemia and Moravia. Pressburg (Poszony/Bratislava) in Hungary, just downriver from the Habsburg capital, was also an early immigration source. The second wave saw more come from the Bohemian crownlands, and an increase of immigration from western Hungary (whose Jewish population had in large part come from the Bohemian crownlands in the first place). Jewish immigration appears to have followed the expansion of the railway network, with better connections resulting in more Jewish immigrants from the respective region. Immigration from the relatively far-flung province of Galicia, where by far the greatest number of Habsburg Jews lived, was initially low. It was only in the 1880s that Galician Jews started to become a major part of Vienna’s Jewish community. In 1910 estimates suggest that only a quarter of Vienna’s Jewish population were immigrants from Galicia. Contrary to the assumptions of many, there was very little immigration to Vienna of Russian Jews, at any time. As Ivar Oxaal has put it, “about three-quarters of 13 Siegfried Mattl, Die fatale Revolution, Vienna 1998; Wolfgang Häusler, Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus, in: N. Vielmetti et al. (eds.), Das österreichische Judentum, Vienna 1974, 89–104. 14 Beller, Vienna and the Jews, 44; Oxaal, The Jews of Young Hitler’s Vienna, 24.

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the Viennese Jewish population around the turn of the century originated from areas where they could be assumed to have had a primary exposure to western, and mainly German culture”.15 Even many of the Galician Jews who immigrated to Vienna, especially if they came from commercial and educational centres, such as Cracow and Lemberg (Lvov/Lviv), or Joseph Roth’s Brody, would have already undergone a primary modernization, in the earlier period in the German culture so prized by the Haskalah, later in Polish or modern Yiddish.16 The main factor attracting Jews to Vienna was the prospect of economic self-betterment. Many Jews had been in Bohemia, Moravia and Hungary because they had been prohibited from moving to Vienna, or to most of the core Austrian provinces. Once allowed, it seemed only natural to go to where the best prospects appeared to be, and, as we have already seen, Jews had made Vienna a major trading centre in textiles, grain and spirits even before they were generally permitted to reside there. The expansion of the railway network, the development of ever greater commercial networks, and the concentration of capital and financial power in Vienna all encouraged economic immigration among Jews on a large scale. Many successful industrialists and merchants from the provinces ended up moving their headquarters to Vienna, and subsequently their families, partly to enjoy the cultural and intellectual advantages, and urbane sophistication, of a big city. The other major source of attraction was intellectual and cultural (and also a form of economic motivation). If a bright Jew wanted to advance in an intellectual or cultural career, Vienna was a major centre for many such pursuits. Mahler came to Vienna to attend the musical conservatory; Herzl came to study law at the university; Wilhelm Neurath, Otto’s father, to pursue his social and philosophical studies. Moreover, there was a certain snowball effect: the more Jews came to Vienna, the more Vienna’s Jewish community became one of the largest, richest and most prestigious in Europe, certainly in the Monarchy. Hence it was quite understandable that Manès Sperber could state that Jews had thought of Vienna as a “new Jerusalem”, especially from the perspective of a Galician shtetl.17 The various motivations of the immigrants are well summed-up in an article complaining about the immigrant flood – as early as 1862 – in the liberal Jewish journal Neuzeit: Every small capitalist, who played a role in the provinces, thinks he can easily become a banker of the first rank in Vienna; every village school teacher a professor; every barber-surgeon the Aesculapius of the Imperial capital; every petty scribe an attorney-at-law; every scribbler an editor-in-chief of an influential newspaper; every beggar the possessor of a generous stipend.

15 Oxaal, The Jews of Young Hitler’s Vienna, 28. 16 Cf. Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt, Vienna 1994. 17 Manès Sperber, Masks of Loneliness: Alfred Adler in Perspective, New York 1974, x; Manès Sperber, Die Wasserträger Gottes, Munich 1983, 90.

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Viennese reality could not possibly meet these ambitions, and so Vienna now possessed many “genteel beggars, an intelligent proletariat, well-qualified starvelings”.18 But many did find their way in the big city, only for others to come in their wake to start the process all over again. 6. The Education Factor

It might be noted from the list of potential career transformations in this article that almost all involved either finance, commerce, or a professional educational qualification, and these were precisely the fields that Jews came to Vienna to pursue. Making one’s fortune (or escaping dire poverty and lack of opportunity) was clearly the main motivation for immigration, but the chance to gain educational opportunity, if not for oneself at least for one’s children, appears to have been another main goal for Jewish immigrants to Vienna. Jewish emphasis on education is such a well-known phenomenon that it has become a cliché and, rightly, subjected to all sorts of attempts to disprove any cultural content (explaining it all by socio-economic circumstances and strategies). In the case of Viennese Jewry, however, all such efforts have yet to explain away – through social class weighting and the like – the enormous concentration of Jewish families on getting an elite education for their children in Vienna’s secondary schools, especially the elite Gymnasien. The best estimate at judging this effort would suggest that around 1910 over half of Jewish boys in Vienna went on from primary school to either Gymnasium or Realschule. Almost 30 percent of Jewish ten-year-olds were in a Gymnasium at age 13–14. For today’s standards this is nothing special, but the same figures suggest that for the rest of the population this continuing into secondary education was quite rare. Only just over 6 percent of non-Jewish ten-year-olds in the same age cohort were in Gymnasium at age 13–14. Jews were therefore over-represented by a factor of almost 5:1 in Gymnasien, according to these estimates (almost 4:1 for all secondary schools).19 All indications suggest that the disparity between Jews and non-Jews when it came to sending girls for advanced secondary education was even more pronounced.20 The grounds for this huge disparity can partially be explained by differences in social stratification, and in different strategies of social integration (which begs the question of why Jews tended to choose education as the vehicle of social integration), but even the best efforts at social explanation must come short with such figures. A far more sensible explanation is to point to cultural factors, especially the quite different traditions and experience that Jews had 18 Wiener Briefe, in: Die Neuzeit, 21 November 1862, 553–354. 19 Steven Beller, The City as Integrator: Immigration, Education and Popular Culture in Vienna, 1880–1938, in: German Politics and Society 15, 1 (Spring 1997), 137–139. 20 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867–1914: Assimilation and Identity, Albany 1983, 118– 122.

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already acquired before coming to Vienna. Some of this had time-honoured roots in Jewish religious tradition, which was very much word-based and so against image as to be truly iconoclastic, hence quite at variance with the established Counter-Reformation Habsburg tradition. Education in the Torah, the Hebrew Bible, and its interpretation was central to Jewish religion. This stress on education might not have transferred so readily to the secular education provided in Viennese secondary schools had it not been for the fact that, as already mentioned, much of Habsburg Jewry in the western half of the Monarchy had already undergone primary modernization in German culture through the pressure of Austrian authorities and also the efforts of the maskilim, the representatives of the Haskalah, which saw secular education as an integral and necessary part of Jewish education in the modern era. The net result was that by the time Jewish families came to Vienna they were convinced that education, Bildung, was the means by which to gain social integration and success, and to realize their modern Jewish values. The result of this was that, overall, at the turn of the century, Jews represented roughly 30 percent of all Gymnasium students in Vienna, a slightly higher percentage (about 34 percent) of the Maturanten, those who graduated. Jews represented roughly one third of the educated classes in Vienna around 1900, regardless of political, social or cultural tendencies, simply as a result of the quite disproportionate effort of Jewish families to get their sons (and increasingly daughters) a good education. Even if the political and social background to modern culture in Vienna had been entirely neutral, therefore, one should not be surprised to see a large Jewish participation in it. However, as a great deal of literature now attests, this political and social background to the Wiener Moderne was anything but neutral; it was in crisis – and Jews happened to be in the middle of the turmoil. 7. The Crisis of Liberalism as a Jewish Crisis

It was the crisis caused by the failure of (political) liberalism in Austria, and especially Vienna, that has been seen in most of the historiography of Vienna 1900 as the main catalyst for the Wiener Moderne. The leading version of this explanation for Vienna’s particular form of cultural modernism has been what might be termed the “fin-de-siècle Vienna scenario” offered by Carl E. Schorske.21 According to this scenario, Viennese modernism was the cultural response to the political crisis experienced by Vienna’s bourgeois classes as their liberal hegemony over the city was destroyed by the victory of anti-liberal political forces, practicing the “politics in a new key” of the era of the masses. The victory of Karl Lueger’s Christian Socials in the municipal elections of 1895, ejecting the liberal bourgeois class from power, is seen as the decisive event that capped the liberals’ political alienation and impelled their sons 21 Carl E. Schorske, Fin-de-Siècle Vienna: Politics and Culture, London 1980.

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and daughters in Vienna’s educated elite to find solace in the temples of art and the psyche – hence the switch from homo economicus to homo psychologicus that marked the Wiener Moderne. This scenario of liberal political failure leading to modern (liberal) cultural achievement has been very persuasive for many, but it has drawn many critics who have pointed out various flaws in the paradigm.22 Some have contested the centrality of the supposed alienation of liberalism for modernism’s flourishing, either maintaining that liberalism really did not “fail” in the way implied, or that much of Viennese modernism was just as much anti-liberal as it was a product of liberal culture, and found no problem in allying with anti-liberal forces. The various commissions executed by Otto Wagner and his modernist allies for institutions allied with the Christian Socials are instances of this. Perhaps some of Viennese modernism was affected by liberalism’s political failure, but much of it was not, and there would have been modernist culture in Vienna regardless of liberalism’s failure, albeit a different form; the Schorskean connection between “politics and culture” might be partly correct, but it is not strong enough to bear the cultural-historical interpretative burden assigned to it, goes such a critique. Another damaging challenge to the Schorskean scenario has been that of John Boyer, who, among many other things, tried to answer more exactly who was actually alienated from power by liberalism’s defeat in Vienna in 1895, and who brought it about.23 What he found was that the Christian Socials, far from being anti-bourgeois pedlars of irrationalist mass politics, were trying to reunite the Viennese “Bürgertum” and offered rational, interest-driven political solutions under their almost Baroque irrationalist rhetorical façade. Moreover, critically for our purposes, they were elected into office with the votes from the educated middle classes that the liberals had assumed were their core constituency, especially state and local officials, and also school teachers. If the second curia of the franchise, reserved largely for the “intelligentsia”, had not voted for the Christian Socials, they would never have achieved a majority in the city council. It was not the political alienation of the bourgeoisie from power that occurred with liberalism’s defeat, but rather the bourgeoisie’s alienation from liberalism, at least in major sectors of it, that led to anti-Liberal victory. So the question remained as to who was alienated from power by liberalism’s defeat? The real loser from Christian Social victory in terms of social class was the relatively small elite of the high bourgeoisie in finance, commerce and industry, and perhaps in the liberal professions, of law, medicine and the liberal press, the high end of the elite of “Bildung und Besitz”, but hardly anyone else in the middle classes – for the rest went over to the Christian Socials en masse. (The working class and poor did not, as yet, have the vote.) The high bureaucracy, it is true, might have disdained the crudity of Christian Social rhetoric and policy, but its 22 Cf. Steven Beller (ed.), Rethinking Vienna 1900, New York 2001. 23 John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna, Chicago 1981.

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position and raison d’être was not challenged in the way that the high bourgeoisie’s was – and even then much of the bureaucracy provided the votes key to Christian Social success. In ethnic terms, however, it was crystal clear who the losers from Christian Social victory were, for the Christian Social electoral banner had for some time been largely built around one thing: antisemitism. The group most obviously alienated, and traumatized, by Lueger’s success, was Viennese Jewry. The events of 1895 represented not an alienation of the politically liberal bourgeoisie from power, so much as a split within the liberals’ previous constituency, between a (relatively small) liberal branch, and a now anti-liberal bourgeois group quite prepared to vote for antisemites. The Jews found themselves in the former group, at the proverbial sharp end of the stick. The politico-social background provided by Boyer’s researches puts the figures regarding Jewish presence in Vienna’s schools in a much more dramatic context than might at first be apparent. This is because, as one might expect given modern Jewish history, Jews were concentrated in precisely those occupational fields associated with the liberal sector of the bourgeoisie: merchants, financiers, industrialists, physicians, lawyers and journalists. The net effect when combined with Jewish over-representation in Vienna’s Gymnasien was quite striking. If these socio-economic groups associated with the liberal branch of Vienna’s middle classes are viewed apart from the whole, then it turns out that over the period 1870–1910 something of the order of 65 percent of all Gymnasium pupils from the liberal bourgeoisie were Jewish. By the period 1900–1910 this was over 70 percent. It is hardly surprising that so many of the key figures of the Wiener Moderne were Jewish, because these figures suggest that its socio-cultural reservoir, the educated elite of the liberal wing of the bourgeoisie, was something of the order of two-thirds Jewish. It is almost as though one should talk more of a “Jewish bourgeoisie” with some non-Jewish liberal allies, than of a liberal bourgeoisie, many of whom were Jewish.24 Schorske’s scenario does not work very well when applied to Viennese politics and society in general – but it works quite neatly if seen through the perspective of the children of a Jewish bourgeoisie whose path to modernity, to freedom, has been blocked by the political success, yes, of anti-liberalism, but more importantly of antisemitism. Once Schorske’s Vienna is recast as Schnitzler’s Vienna, the world of “Der Weg ins Freie”, with its Jewish figures trying to escape the crisis of the collapse of liberal progress, and creating a “ferment of humanity” as a result, and its main non-Jewish figure, Georg von Wergenthin, looking on uncomprehendingly and with little empathy, it makes much more sense than it did previously.25

24 Beller, Vienna and the Jews, 52–55. 25 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, Frankfurt am Main 1978; also Norbert Abels, Sicherheit ist nirgends: Judentum und Aufklärung bei Arthur Schnitzler, Königstein 1982.

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8. Jews and Modernity

The truth is, whether one likes it or not, that from early on, even before Jews came to Vienna, there was a symbiotic relationship between those Jews and “modernity”. The problem with antisemitic assertions of Jews being in league with “die Moderne” was that it was as often as not true, especially in Vienna. Jews really were predominant in the financial world, and in many branches of industry and commerce. They really were predominant in the liberal press, and among physicians and lawyers (in private practice). They really did predominate in the literary coffeehouses where the new, modern literature was being developed. It was even true that they were the main sponsors of the modern culture that was created by non-Jews, as in the plastic arts and architecture. There was nothing much essentialist about this – rather the combination of the socio-economic position of Jews in Central Europe with their largely culturally determined emphasis on education, filtered through the Haskalah and the ideological assumptions of the struggle for emancipation, almost predestined Jews to be at the vanguard of Central European modernity, and modern culture. Many among the Jewish bourgeoisie and their liberal allies did not want to acknowledge this fact, regarding such confessionalization or even ethnicization of culture as inappropriate, impolite even, but it is clear that everyone realized the close relationship, in Vienna, between Jews and the Moderne. We have seen what Ludwig Hirschfeld wrote in 1927 – but the same assumption was just as strong before 1914, and the subject of subtle and not so subtle humour. In November 1900 the following item appeared in Karl Kraus’s satirical journal, Die Fackel: “Dear Fackel! Prize puzzle: A lady sits on a chair by Olbrich – Darmstadt, Wears a dress by Van de Velde – Brussels, Earrings by Lalique – Paris, A brooch by Ashbee – London, Drinks from a glass by Kolo Moser – Vienna, Reads from a book from the publishing house of ‘Insel’ – Munich, printed with letters by Otto Eckman – Berlin, written by Hofmannsthal – Vienna. To which confession does the lady belong?”26 The answer to the actual question is not at all obvious – the lady could well have been Catholic, Protestant, or even konfessionslos – she even could still have been Jewish by religion. But the answer to the real question was quite clear – the lady was Jewish (ethnically), an expo-

26 Anonymous, in: Die Fackel 59 (Mid-November 1900), 28 (translation by S. B.).

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nent of “le goût juif ” (the Secession and its associated art nouveau). There was a disparaging undertone here, perhaps, but it was simply making fun of a perceived fact, that Jews were extraordinarily prominent in sponsoring the new, modern art – and research has shown that Jewish patrons really were as prominent as assumed.27 This association between Jews and modernity, Jews and the Moderne, was strong at the beginning – Vienna’s main Jewish journal in the 1860s and 1870s was called Die Neuzeit, modern times. And, as much of the rest of Viennese and Austrian society became antagonistic to many of modernity’s effects, especially after the financial Crash of 1873, the association only grew stronger. The antisemitic identification between Jews and all the ills of modern society and culture only reinforced the trend, making it a self-fulfilling prophecy, so that Jews came to see themselves as inherently connected to modernity, in some form or another, and many non-Jews avoided and cast aspersions on modern art, modern music and modern culture, precisely because it was “Jewish”. Hence the power of Hirschfeld’s question in 1927. 9. What was “Jewish” about Jewish Participation in Vienna 1900?

There is therefore not much mystery about why Jewish immigration had the immense influence that it did on the Wiener Moderne: Vienna’s Jewish immigrants were almost fated – by cultural and religious traditions, economic function, the social and cultural dynamics of modernization, and the strange workings of antisemitic prejudice and discrimination, to be at the forefront of modernity and modernism in Vienna. Yet was there anything “Jewish” about this influence on the modern culture that resulted? Or was the “Jewish” aspect of the immigration merely confined to the identity and origin of the immigrants – without any further effect? That they happened to be Jews, with no further impact on the culture they produced from any Jewish heritage or particular experience, attitudes, insights, or values? Many would deny that there was anything particularly Jewish about what Jewish individuals contributed to modern culture in Vienna. These Jewish individuals were, almost by definition, highly assimilated, that is to say both integrated into Austrian society and acculturated into Western culture – otherwise they could not have participated so centrally in the Wiener Moderne. As further proof of this absence of any Jewish element, it is often pointed out that many of the “Jewish” figures of the Wiener Moderne were only Jewish by descent, and then only partially so (for instance Hugo von Hofmannsthal, Otto Neurath), and had either been raised in, or converted to, a Christian confession (a very long list, including Victor Adler,

27 Tobias G. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka: Sammler und Mäzene, Cologne 2003; Steven Beller, What is Austrian about Austrian Modern Art? The Belvedere and the Struggle for Austrian Identity, in: Kräutler/Frodl (eds.), Das Museum: Spiegel und Motor kulturpolitischer Visionen, Vienna 2004, 235–237.

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Karl Kraus, Arnold Schoenberg, Gustav Mahler, and Hans Kelsen). Even those Jews who remained Jewish, such as Freud and Schnitzler (and Otto Bauer), were often estranged from the actual tenets of the Jewish religion – Freud regarding himself, notoriously, as “a godless Jew”. 28 What Jewish content could possibly arise, then, from such an assimilated group with such a weak connection to their Jewish heritage? As in the case of the attempts to deny Jewish cultural influences on Jewish over-representation in schools, or to deny the scale of the presence of Jews in the Wiener Moderne, the attempt to play down the influence of Jewish content, while superficially plausible, is also misguided, for two main reasons. The first is that there is no clear dividing line between social and cultural factors here. Even the “social” factors in the Jewish participation in modern culture in Vienna involved cultural factors. We have already seen how the social factor of the large presence of Jews within Vienna’s educated bourgeois elite had itself cultural roots; similarly, if it was the social and political alienation of Jews within Viennese society that attracted them to the new, emancipatory (or even escapist) culture of modernism, then this context of social crisis had been brought on by antisemitism. Antisemitism was what provided the social context in which Jews sought Schnitzler’s “road to freedom”, but antisemitism itself had multiple cultural origins, whether it be the Christian tradition of Jews as deicides, Romantic notions of the need for social harmony based on national wholeness, exclusive of the (Jewish) Other, or indeed on Jewish traditions of chosenness and separateness (however misinterpreted by antisemites). Within this socio-cultural context, the fact of being Jewish became an existential question involving perceived and actual discrimination and exclusion, perceived and actual threats to individual freedom and existence, and hence added its own cultural content to the modern culture in which people with this background, Jews, participated. That Schnitzler’s “Der Weg ins Freie” is a major part of Wiener Moderne’s canon is evidence in itself of a particular Jewish influence on modern culture in Vienna – in this social-qua-existential sense. The second main reason is that, despite the fact of the high level of assimilation and acculturation of its Jewish participants, there was also a major Jewish influence on the Wiener Moderne that was cultural in a more substantive way, even though this was not obvious in the way in which “national” or “religious” cultural influences have normally been understood. The Jewish cultural influence might not have been immediately clear, precisely because it was rarely immediate, but rather mediated in a dynamic process stretching over many decades, with many stages along the way.

28 Cf. Peter Gay, A Godless Jew: Freud, Atheism, and the Making of Psychoanalysis, New Haven 1989.

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10. Jewish Tradition as a Dynamic Tradition

The explanations of how Jewish cultural and intellectual traditions have influenced the contributions of Jews to modern culture and thought can be roughly divided into two opposing camps.29 On one side a quite influential interpretation, proffered by among others Thorstein Veblen and Isaac Deutscher, has seen the “pre-eminence of the Jewish intellectual” in modern culture and thought as a result of the radical rejection by Jewish individuals of their outdated and inadequate Jewish cultural traditions. Precisely because Judaism was so backward, so “outside of history”, those who rejected its basis, what Deutscher called “non-Jewish Jews”, found themselves free to think more innovatively, without the inhibitions or blinkers that more modern religious traditions still maintained. On the other side, many Jewish historians and philosophers have seen Jewish tradition as one eminently suitable for the modern world – and its modern culture. The abstract character of Jewish religion, its emphasis on the Word rather than the Image, its being the original monotheistic religion – something which Freud found particularly significant as a root for Western intellectuality in general – have all been seen as making Judaism a uniquely suitable basis for modern thought. Its messianism has been interpreted as making Jews prone to be intellectually and morally dissatisfied with the present – the Redeemer not having already appeared – and hence intent on innovation and change to better the future. The lack of aesthetic celebration in the religious tradition and its emphasis on the ethical pursuit of God’s will has been seen as reflected in the radical critiques of the status quo that have marked the Jewish contributions to modern culture. The prophetic tradition within the Jewish religion has been a particularly rich vein for links between ancient Jewish thought and Jewish participation in modern culture. At first sight these two interpretations would appear to be completely irreconcilable, but much of the problem with both interpretations stems from their static, essentialist understanding of “Jewish tradition”. Once this is recognized, we can also accept that both interpretations have something to them, and both can in fact be incorporated into a larger explanation of the Jewish influence on modern culture – including in Vienna. This synthesis has to be based on a dynamic, historical understanding of what was Jewish, and what it meant to be Jewish, in nineteenth and twentieth century Europe, also Habsburg Central Europe, and how developments within the Jewish community, indeed within Jewish tradition, changed Jewish self-understanding and the content of what was Jewish, quite dramatically – while still preserving many of the values and beliefs of the Jewish heritage at the start of the process. Within this context of the encounter between Jews and modernity, the story of the Viennese Jewish experience is just one among many, albeit a most important one. As was touched 29 For the following see Steven Beller, How modern were Vienna’s Jews? Preconditions of ‘Vienna 1900’ in the World-View of Viennese Jewry, 1860–1890, in: Austrian Studies 16 (2008), 19–20.

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on already in discussing Jewish over-representation in Vienna’s schools, much of the transformation of Central European Jewry, its “modernization”, took place before the mass immigration of Jews to Vienna really began. It was until relatively recently a long-established assumption in Western society, and even academia, that Judaism, as a “dead” religion, had experienced little if any development since ancient times. This was not the case. Medieval and early-modern Jewish life and thought were significantly different from their “ancient” antecedents, even though, as is usually the case, their practitioners and proponents claimed them to have been ever so. When early-modern “Baroque Judaism” was then submitted by the members of the Jewish Enlightenment, the Haskalah, to critical study, one of the goals of the maskilim was to restore the Jewish religious tradition to its original character, as well as make it more suitable to the requirements of the modern world (as in having Jews study secular subjects). The inspiration for this reform movement within German Jewry, originating in Berlin, came largely from Sephardic Jewish practice and thought in communities such as Amsterdam. It therefore had endogenous roots, even though it was responding to the general context of the Enlightenment. The development of the Haskalah into the Reform movement and the elaboration of the “ideology of emancipation”, as delineated by David Sorkin, was centred on Berlin’s Jewish community, hence it occurred largely outside of Vienna, or even the Habsburg Monarchy.30 The attempt started under Joseph II to integrate Jews within the Habsburg Monarchy into the general society, especially in the Bohemian crownlands, also took place largely under maskilic auspices, with the aim of integrating Habsburg Jews into German culture, of Bildung, as a vessel of modern, Enlightened thought that was seen, by the ideologues of Jewish emancipation, as completely compatible with the “essence” of Jewish values. Long before many Habsburg Jews came to Vienna, they were already modernized through German culture and an ideology of emancipation that identified Jewish values with liberal ones. The result was what might be termed a “romance of modernity”. 11. Culture Clash and “Jewish Trajectories” in Vienna 1900

In this “romance”, Vienna was seen not so much as the Habsburg residence, but rather as a centre of German liberal culture, a characterization that the Neue Freie Presse was still clinging to in the late 1890s.31 In this context, Judaism, understood as a religious tradition eminently suitable to the modern world, as Vienna’s leading Jewish religious leader, Adolph Jellinek saw it, would thrive; hence Jews could and should participate fully in Vienna’s modern life and society. This image of Vienna among so many Jews was a cultural factor not generally shared 30 Cf. David Sorkin, The Transformation of German Jewry, 1780–1840, Oxford 1987. 31 Beller, Vienna and the Jews, 166.

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by non-Jewish Viennese and non-Jewish immigrants to Vienna: even if many understood Vienna also as a “German” city, it was a different, much less liberal or modern kind of German character that was involved, much more dependent on Vienna’s character as a centre of the Baroque, of the Habsburg dynasty, the aristocracy, and the Counter-Reformation Catholic Church. For some decades the two Viennas – what the Jewish minority and their liberal allies thought the city was, and what the large majority of non-Jews thought it was – co-existed, largely to mutual benefit. Yet the cultural clash between the two was always quite marked, and here Schorske’s bifurcation between a liberal (ethical, Jewish and Protestant) culture of the Word and a Baroque (Habsburg, Catholic aesthetic) culture of the Image makes a great deal of sense, especially from a Jewish perspective. The success of political antisemitism in the 1890s in Vienna was itself partly redolent of this culture clash, but more importantly this success of antisemitism produced the crisis in which this culture clash became the main source of the Wiener Moderne. How the Jewish individuals who participated in the Wiener Moderne responded to the culture clash at its origins is a necessarily complex story that lacks easy elaboration, precisely because, in the spirit of Tolstoy’s unhappy families, each individual negotiated this crisis in his or her own way. Just as the attitudes that Jews brought to Vienna were a complex collection of modernized and not so modernized notions, partly depending on where one had immigrated from, so each individual Jew had his or her own trajectory. Otto Weininger and Stefan Zweig, to cite two figures with reputations at polar opposites, came from different backgrounds and they reached different conclusions about the cultural crisis they both experienced, evidently. On the other hand, even between Weininger and Zweig there were many more commonalities than one might at first suspect – Zweig actually regarded Weininger as a genius, as a short essay of his attests.32 If we look at the leading Jewish personages of the Wiener Moderne, the affinities, whether actual or perceived, multiply: Freud as Schnitzler’s Doppelgänger, Schnitzler seeing Mahler’s Third Symphony as a commentary on the social alienation of both of them;33 Mahler’s looking to Freud for psychiatric help with his marriage; Mahler’s support of Schoenberg; Schoenberg’s alliance with Karl Kraus; there was also the fact that Kraus and Schnitzler detested each other – nobody is perfect – but this itself was partly from a sense that each thought the other should know better, because of their shared backgrounds, and this sense of shared mentality, shared experience, was, one senses, a strong one, one not often shared with non-Jews. The trajectories of these figures into Viennese modern culture might all have been individual ones, but they were also all, in Michael Armstrong’s perceptive expression “Jewish trajectories”: where they ended up was in modern culture, but where they had started was in 32 Stefan Zweig, Vorbeigehen an einemunauffälligen Menschen, in: R. Friedenthal (ed.), Europäisches Erbe, Frankfurt am Main 1981, 237–240. 33 Olga Schnitzler, Spiegelbild der Freundschaft, Salzburg 1962, 113.

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some form of Jewish experience, and they brought the content of that experience with them into Vienna’s modern culture.34 12. Two Sides of the Jewish Response

The most obvious aspect to this Jewish side to the Wiener Moderne was what I once termed “the ethics of outsiders”.35 The result of the political and social alienation Jews felt in the wake of the success of antisemitic mass politics after 1895 was not so much an aestheticist retreat, as the Schorskean scenario would have it, but rather a reframing of strongly ethical concerns, about the responsibility of the individual artist to be true to him or herself, and about him or herself and the social and cultural conditions the artist lived in. The adage ascribed to Schoenberg that “music should not decorate, it should be true” expresses well this ethical, very critical aspect to the Wiener Moderne. Viewed from the perspective of “Jewish trajectories” this critical approach, which resulted in much of the finest cultural and intellectual achievements of the Wiener Moderne, what Allan Janik has named “critical modernism”, has a strong grounding in the Jewish background of most of critical modernism’s adherents. Jewish religious tradition had possessed a very strong ethical aspect (and correspondingly weak aesthetic aspect), and when it was modernized, it was recast as “ethical monotheism”; this ethical aspect then transferred without much problem into a secular search for artistic and moral truth, whether in psychoanalysis, Krausian language criticism, Mahler’s and Schoenberg’s music, the writings of Schnitzler and Joseph Roth, or the philosophy of Wittgenstein and the Vienna Circle. Even though these modern cultural creations might appear to have nothing identifiably Jewish about them, they were informed by an attitude and an experience that stretched back to old Jewish traditions. There were not only affinities between the individuals involved, but also strong continuities between their cultural and intellectual achievements and the Jewish traditions they had come from. In this sense Claudio Magris was quite right, highly perceptive in fact, to talk of the tradition of “Jewish stoicism” within the modern culture of Habsburg Central Europe.36 If this ethical Jewish attitude survived through all the mediations to become a mark of Viennese critical modernism, there was also a way in which the specific Jewish experience of transformation – of modernization, identity change, and immigration – also produced a Jewish aspect to the Wiener Moderne. This also had antecedents in Jewish tradition, in the open, interpretive structures of Jewish religious thought as seen in the Talmud, but the prominence 34 Michael Armstrong, Being Mr. Somebody: Freud and Classical Education, in: Arnold Richards (ed.), The Jewish World of Sigmund Freud: Essays on Cultural Roots and the Problem of Religious Identity, Jefferson, NC, 2010, 40–41. 35 For the following: Beller, Vienna and the Jews, 207–237. 36 Claudio Magris, Weit von wo?, Vienna 1971, 163.

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of inclusive logic and pluralistic openness implicit in such structures was greatly enhanced by the Jewish experience of integration: the process of “Jewish immigration” had an influence all on its own. This Jewish response to the experience of immigration which reflected itself in the Wiener Moderne was the obverse of the “ethics of outsiders”, and might be termed the “aesthetics of outsiders”: using cultural and intellectual forms to overcome conflict by allowing for acceptance of difference. In the ethnically, nationally and religiously diverse Habsburg Monarchy, and in a Habsburg capital where immigrants came from many disparate ethnic and religious groups, it might appear strange to single out Jews for contributing an “aesthetics of outsiders” to the Wiener Moderne, when one could argue everyone in Vienna was in some shape or form an outsider. I am also not arguing that this Jewish contribution was an exclusive one; in many ways it was a response to, and was supported by, the plural nature of the region, and built on older, quasi-pluralist, “Austrian” concepts of the comprehension of diversity through a logic of inclusion.37 Nevertheless, there were other means, also “modern” in their own way, to handle the region’s diversity through the more exclusive logic of ethnonationalism. Much of the region’s modern culture, also in Vienna if not to the same extent, took this nationalist, exclusive path. What is striking is how much of the inclusive side of the Wiener Moderne stemmed from its Jewish participants. 13. Pluralism as a Jewish Tradition

There was already something of a modern tradition within Central European culture of Jews being seen as exemplifiers of pluralism and mediators between the region’s diverse groups. The greatest advocate of religious pluralism in the literature of the German Enlightenment was the protagonist of Gotthold Ephraim Lessing’s “Nathan the Wise”, a Jewish merchant, based squarely and publicly on the founder of the Haskalah, Moses Mendelssohn. Modern Jews were thus seen, and saw themselves, as immediately tied, as subject and advocate, to the cause of tolerance of religious diversity within modern society. Adherents to the ideology of emancipation, such as Leopold Kompert, drew on traditional Jewish ways of thought, which had relied on a method of interpretation rather than theory, to characterize Judaism as a non-dogmatic religion, in which the “orthodoxy” of Christianity was foreign.38 Judaism was thus seen as a religion open to various interpretations, an ideal ally of modern pluralism. This Jewish affinity to pluralism was also seen in cultural and linguistic terms. Within Central European society, as traders, as agents literally of commerce, Jews had also provided much of the communication between regions and between ethnic groups. Hence the fact 37 Cf. Moritz Csaky, Die Ideologie der Operette und Wiener Moderne, Vienna 1996. 38 Beller, How modern were Vienna’s Jews?, 22.

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that so many Jews were bi- or even tri-lingual in mixed language areas such as Bohemia and Moravia. It seemed only natural, then, that so much of the translation of modernist texts between the various Central European language groups, especially between Czechs and Germans, was done by Jews. The language diversity in Central Europe, and the Jews’ position within it, made it also appear almost inevitable that, as Fritz Mauthner claimed, Jews would be at the forefront of the critique of language.39 There was, therefore, already a pluralistic element to Jewish attitudes before Jews immigrated to Vienna. Alongside the tendency to assimilation – the removal of difference – was also the continuation of difference in the continued fact of Jewish identity – whether wished for or not. For many who converted to Catholicism, or even Protestantism, the wish might well have been for total integration, the disappearance of difference – but, as we know, most of non-Jewish society never accepted this, regarding Jewish converts as – Jewish. In any case, most Jews in Vienna did not convert, and while thinking themselves well “assimilated” then built large edifices in the Moorish style (itself conforming to historicist architectural convention), such as the Leopoldstadt synagogue, which attested to a separate identity and tradition. Jewish “assimilation” in Vienna was thus mostly a question, as far as Jews were concerned, of what degree of difference was acceptable, rather than a question of achieving a complete disappearance of difference. Hence it was that many Jews became advocates of both the acceptance of difference and also the need to transgress and overcome the boundaries between differen­ ces, not only regarding their own religious tradition within the larger whole, but also in other cases, and other, cultural forms. Faced with social and political alienation caused by the success of antisemitism, in which the promise of easy integration into modern society through liberalism proved to be false, many Jews responded in the introspective, critical manner of Freud, Schnitzler, or even Kraus, seeking self-understanding as a basis for an ethical critique of social and cultural mores, both of traditional Viennese society, and its modernist successors. Many others, and some of the same individuals, also responded in a different way by trying to overcome the rifts and conflicts that antisemitism had unleashed in society and culture by seeking both to recognize the legitimate existence of difference but also ways in which difference could be reconciled, bound together, and the boundaries and divisions between different groups and entities transgressed and overcome by connection and communication. The result was a very powerful pluralist tradition alongside and complimentary to that of critical modernism. This pluralist tradition was evident in the political realm as well as in culture. Most Viennese Jews stayed true to a political liberal tradition that had a large element of pro-German bias, which did not much change when they shifted allegiance to a socialist movement that retained this pro-German bias. Yet there were also Jewish figures, such as Adolf Fischhof and 39 Fritz Mauthner, Erinnerungen, Munich 1918, 32.

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Joseph Samuel Bloch, who attempted to combine liberal politics with a more pluralist notion of “Austria” as a multi-national, multi-lingual state, whose diversity should be accepted, to the advantage of a small minority such as the Jews.40 In Bloch’s view, as the one group without a national identity, Jews could be the cement of this multi-national polity. In what perhaps might appear an ironic commentary on this, Theodor Herzl’s utopian novel, “Altneuland”, envisaged a Jewish national polity that would be a model of liberal pluralism, especially in ethnic and religious matters.41 It is also true that Austromarxist thought, most of whose exponents were Jewish, was also remarkable for the extent to which it recognized national difference as a valid factor within the socialist future society, as in the system of “cultural autonomy” proposed by Karl Renner (who was not Jewish), and Otto Bauer (who was).42 The more cultural aspect of the “aesthetics of outsiders” was provided in fields such as music. Gustav Mahler’s fascination with “true polyphony” can be seen as a reflection of the wish both to recognize difference, and yet provide aesthetic resolution to it. 43 On a somewhat less ethereal level, Viennese operetta, many of whose composers, and even more of whose librettists, were Jewish, provided a cultural form which in its hybridity and eclecticism, provided a forum in which musical forms such as the waltz, czardas, polka and the like could be combined just as easily as different ethnicities and classes (Czech maids, Hungarian princes, Austro-German officers, and so forth) could mingle – comically and successfully – in a relatively conflict-free version of Habsburg society.44 Freudian psychoanalysis was both a deep critique of the tensions and conflicts of Habsburg society, and at the same time derived much of its intellectual power from adapting very similar, interpretive structures of analysis to that of the Jewish Talmudic tradition that his father had come from. The recognition of multiple meanings and multiple levels of interpretation was something that Freudian psychoanalysis shared not only with Talmudic scholarship but also with the writings of Arthur Schnitzler. When Schnitzler has Heinrich Bermann in “Der Weg ins Freie” speak of the many levels of morality within the human soul, all of which have a certain amount of validity, he is expressing a central theme of the Wiener Moderne, but also of the Jewish response to the Jewish crisis in Vienna.45

40 Ian Reifowitz, Imagining an Austrian nation: Joseph Samuel Bloch and the Search for a Multiethnic Austrian Identity, 1846–1919, Boulder, Colo., East European Monographs, 2003. 41 Steven Beller, Herzl, London 2004, 83–106. 42 T. B. Bottomore/Patrick Goode (eds.), Austro-Marxism, Oxford 1978, 102–135. 43 Natalie Bauer-Lechner, Recollections of Gustav Mahler, London 1980, 155–156. 44 Steven Beller, Is there a Jewish aspect to modern Austrian identity?, in: H. Mittelmann, A. A. Wallas (eds.), Österreich-Konzeptionen und jüdisches Selbstverständnis: Identitäts-Transfigurationen im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen 2001, 47–50; cf. Csaky, Ideologie der Operette. 45 Schnitzler, Der Weg ins Freie, 329–330.

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The recognition of multiplicity resulted in a rejection of the idea that there was one absolute solution, one absolute, knowable truth or true system that would solve all problems. This is where the “aesthetics of outsiders” and the “ethics of outsiders” complimented each other and coalesced, because they both rejected absolutism, whether in traditionalist, nationalist or modernist (or communist) form. Hence a “critical modernism” that accepted plurality and an open structure of thought, while recognizing the limits of that thought. At times this could emphasize the critical concept of limits: Wittgenstein’s early philosophy, or Schoenberg’s “Moses and Aaron”; but at other times it could emphasize the multiplicity of meaning, as in Wittgenstein’s later philosophy, and revel in the criticism of limits and boundaries themselves as false conventions and reifications, as in Karl Kraus’s critique of conventional notions of sexuality, itself partly inspired by, of all people, Otto Weininger’s theories of human bisexuality. 14. From Operetta to Otto Neurath

Kraus’s obsession with French operetta, especially the work of Jacques Offenbach, identified that art form’s ability to make fun of, satirize and criticize, social conventions and hypocrisies, as did his own writing in Die Fackel, in order to break the hold of conventional thinking, of conformism, on the human mind. Viennese operetta also was able, at moments, to achieve the same thing, not only by offering a panoply of ethnic difference, but also by showing how the assumptions that upheld conventional ethnic and social boundaries, apparently the ties that bound society together, were actually irrational, against the all-dissolving, all-natural power of love. It might seem odd to see in the silly romances of operetta a sign of “Jewish influence”, but at times operetta’s embrace of frivolity, of lightheartedness, could have a quite serious, critical modernist agenda. Hence it was the operetta “Bruder Leichtsinn”, with a Jewish composer and lyricist, that could defend operetta’s flouting of “rational” social conventions by openly asserting the validity of inter-racial love, explicitly between an African-American man and the daughter of a Belgian duke, implicitly between Jews and non-Jews.46 In some things, the middle-to-low-brow world of operetta could be better at realizing the carnevalesque potential of modernism than those in higher realms. Perhaps the best exemplifier of the “aesthetics of outsiders”, this combination of critical modernism with pluralism, all aimed toward an open, inclusive acceptance of difference and diversity within a larger whole, was Otto Neurath.47 Neurath’s starting point was the universality of the human experience, as symbolized in “Neurath’s boat”, and much of his work with isotypes, the graphic symbols now ubiquitous in statistical presentations, was to invent 46 Leo Ascher (Libretto: J. Brammer, A. Grünwald), Bruder Leichtsinn, Vienna 1918. 47 See Nancy Cartwright et al. (eds.), Otto Neurath: Philosophy between Science and Politics, Cambridge 1996.

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a pictorial language that could overcome linguistic difference. On the other hand, his whole approach was to reject the idea that there was one absolute, metaphysical truth and instead embrace the plurality of human forms of understanding. The encyclopaedist movement to which he devoted much of his career was designed to provide communication between scientific fields even if there was no overall, unified scientific language. This made Neurath more than merely a figure in Viennese modern culture, but rather in modern culture generally, as was true of the best of the Wiener Moderne. One of the most poignant expressions of the core of the Jewish influence on Viennese modern thought came, ironically, when Neurath was already in British exile, which he enjoyed for its personal freedom and diversity. Complaining to his former Vienna Circle member, Rudolf Carnap, about the way planning was being abused to curtail personal freedom rather than enhance it, Neurath wrote: “The most terrible thing would be if people got power to bully other people”. Carnap too, in Neurath’s view, was too Prussian in his search for “testing and cutter efficiency”. Neurath had another model in mind: “As for myself, I PREFER OUR BRITISH MUDDLE”.48 The influence of Jewish immigration on the Wiener Moderne was, in conclusion, most significant, and it took two main forms: a particularly critical modernism, and a particularly inclusive pluralism. Sometimes these two could be at loggerheads with each other, but at others they could be mutually strengthening, and they were, at base, two sides of the same approach, forms of the logic of the inclusive middle, of “both … and”, rather than the logic of the excluded middle’s “either … or”. Both were united in attacking the partial and exclusivist totality that was integral ethnonationalism, to which, tragically, so many Central and East European Jews fell victim, or from which they had to flee – hence Neurath in Britain (along with Freud and so many others). The emigrants’ story continued in the West, but it effectively ended in Vienna in 1938. 15. Vienna and the Other Narrative

This gives rise to a further consideration: how is the influence on modern culture of the Jewish immigration to Vienna to be properly understood? There is more than one narrative available through which to understand this influence. There is the narrative addressed in this essay, of how the immigration of Jews influenced the Wiener Moderne. No matter how large the Jewish aspect here is, the subject remains Viennocentric: either a Jewish contribution to Viennese modern culture at one end of the scale or, at the other, a Jewish participation in modern culture in Vienna. The former implies a dependent character to the Jewish aspect of a larger, Viennese culture, while the latter suggests a more independent role on a more level playing field of modern culture, but still retains the concept of Vienna as having a particular 48 Quoted in: Cartwright, Neurath, 87.

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genius loci: a local genius under whose auspices Jews could take part in the great achievements in modern culture that took place, and had to take place only there. Within its own parameters there is much to this viewpoint: Vienna was a city with its own character, its own problems and conflicts, its own particular mix of cultures and values, brought together by its being such a strong magnet of immigration. The “ferment of humanity” of Vienna produced its own unique brew, for good and ill. But what of the other “ferment of humanity” that Schnitzler was actually talking about in “Der Weg ins Freie”, which was something concerning “us Jews”,49 a specifically Jewish cultural and spiritual crisis, centered in Vienna perhaps, but not unique to it, rather a crisis caused by the encounter of Central European Jewry, and Eastern European Jewry for that matter, with modernity? The other narrative that we need to recognize is that of the Jewish encounter with modernity, in which the Jewish immigration to Vienna is just part of a larger story of Jewish migration and transformation, the Jewish participation in the Wiener Moderne just a part, albeit an important one, of the larger participation of Jews in so many cultural and intellectual fields that has had such a profound influence in shaping our modern world in general. Vienna, in this narrative, ceases to be the center of attraction, the end station that absorbed “Jewish contributions” to its culture, rather it becomes merely one station along the way, more a transfer point, as so many other Central and Eastern European towns and cities were, to those other, further destinations of European Jewry. Some of those destinations have become symbols of terror: Auschwitz, Treblinka, Theresienstadt. Yet other destinations symbolize the immense promise and success of the “ferment of humanity”, that the Jewish encounter with modernity represented: London, Paris, Tel Aviv, Buenos Aires, Los Angeles, and above all others, New York. Gustav Mahler died in Vienna, it is true, but his career had, almost of professional necessity, ended up in New York; later contributors to and participants in Viennese modern culture, the culture of operetta, literary coffeehouses, intellectual and cultural circles, critical modernists and pluralist positivists, had been forced to flee Vienna for their lives. Yet they had continued to make a massive contribution to, participate in, and generally influence, modern culture wherever they ended up. The Jewish immigration to Vienna was then only part of an ongoing process which continued in the West, especially the New World. Perhaps it is not so odd, but peculiarly fitting that “Adele Bloch-Bauer”, the “golden lady”, reigns supreme in the Neue Galerie in New York, for the American cosmopolis became – and remains – the center of the modern culture that the Jewish immigration to Vienna influenced so much.

49 Schnitzler, Der Weg ins Freie, 205.

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Galizische Juden und Jüdinnen in Wien Einige Gründe für deren Stereotypisierung

Einer der bedeutendsten Intellektuellen in Wien um 1900 war Karl Kraus (1874–1936), der Herausgeber der Zeitschrift Die Fackel. Er entstammte einer jüdischen Familie, trat aus dem Judentum allerdings bereits im Alter von 25 Jahren aus. Bis zum Jahr 1911 blieb er konfessionslos, konvertierte dann zum Katholizismus und sagte sich von diesem 1923 wieder los.1 Sein Verhältnis zum Judentum kann bestenfalls als schwierig und gebrochen bezeichnet werden. Gleichwohl stand er ihm nicht indifferent gegenüber. Seine vielfältigen Kritiken an Juden und Jüdinnen, die zuweilen eine judenfeindliche Spitze hatten und als Äußerung eines „jüdischen Antisemiten“ oder als Ausdruck eines „jüdischen Selbsthasses“ bezeichnet werden,2 weisen auf eine innere Zerrissenheit hin, die Juden oder schlichtweg „das Jüdische“ bisweilen als Kontrastfolie zur eigenen Identitätsfindung benötigte. Kraus hatte auch ein Sensorium für innerjüdische Differenzierungen, wobei er sich u.a. dagegen verwahrte, die Herkunft seiner Eltern aus Böhmen mit jener von Juden aus Galizien gleichzusetzen. Seine Gegenüberstellung zentraleuropäischer mit galizischen Juden und Jüdinnen teilte er im Großen und Ganzen mit vielen Nichtjuden wie auch anderen Juden, die nicht aus den östlichen Gefilden der Habsburgermonarchie stammten.3 Was hatte es mit dieser Unterscheidung auf sich, warum war sie für Kraus und viele seiner Zeitgenossen wichtig? In welchem Maße war sie berechtigt oder fungierte sie ausschließlich zur Stigmatisierung der osteuropäischen Judenschaft? Und welche Auswirkungen hatte sie als Stereotyp? Beeinträchtigte oder förderte sie die Teilhabe der Galizianer an den gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen in Wien? Um diese Fragen angemessen beantworten zu kön-

1 2

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Edward Timms, Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874 bis 1918, Frankfurt am Main 1999, 323. George E. Berkeley, Vienna and Its Jews. The Tragedy of Success, 1880s–1980s, Cambridge/ MA1988, 57; Jacques Le Rider, Modernity and Crises of Identity: Culture and Society in Fin-deSiècle Vienna, New York 1991, 264. Zur Problematik des Begriffs des „jüdisches Selbsthasses“ siehe Allan Janik, Die Wiener jüdische Kultur und die jüdische Selbsthaß-Hypothese. Eine Kritik, in: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, 103–120. Otto Binder, Wien – retour: Bericht an die Nachkommen, Wien 2010, 26.

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nen, werden im Folgenden einige Aspekte der Lebensverhältnisse der Juden und Jüdinnen in Galizien, vor allem ein grobes Profil ihrer religiösen Ausrichtungen skizziert. Die Ausführungen bilden die Grundlage für den weiteren Text, der galizische Juden und Jüdinnen in Wien behandelt. Die zentrale These des Artikels lautet, dass die verbreitete Vorstellung, Galizianer seien aufgrund ihrer religiös-orthodoxen Lebensführung auf eine strenge Abgrenzung gegenüber der in Wien ansässigen Judenschaft und auch den Nichtjuden ausgerichtet gewesen bzw. hätten sich mit ihrer gesellschaftlichen „Integration“ in Wien schwergetan, differenzierter gesehen und teilweise auch hinterfragt werden muss. 1. Juden und Jüdinnen in Galizien

Die innerjüdische Unterscheidung zwischen sogenannten Westjuden und Ostjuden ist jüngeren Datums. Bis zum Beginn der jüdischen Moderne, die in Zentraleuropa üblicherweise mit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert angesetzt wird,4 war diese Kontrastierung unbekannt. Erst mit der Rezeption aufklärerischen Gedankengutes durch Juden, wofür vor allem der Philosoph Moses Mendelssohn steht,5 und der folgenreichen Erschütterung traditionellen jüdischen Bewusstseins setzte unter einem Teil der Judenschaft die Suche nach einer „zeitgemäßen“ jüdischen Identität ein, die auf einem Ausgleich zwischen Judentum und den Herausforderungen der Gesellschaft beruhen sollte.6 Juden wollten weiterhin ihr Judentum leben können, ohne dabei gesellschaftliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Da diese Entwicklung unter den Juden und Jüdinnen in Osteuropa deutlich schwächer und zeitverzögert vor sich ging, grenzte sich ein zunehmender Teil der vor allem in Zentraleuropa ansässigen, „modernen“ Juden von ihren Glaubensgenossen in Galizien, Polen und Russland ab. Dabei übernahm dieser Teil der zentraleuropäischen Juden gesellschaftlich vorherrschende, abwertende Beschreibungen von Juden und projizierte sie auf die sogenannten Ostjuden und Ostjüdinnen.7 Als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die wirtschaftliche Entwicklung in Galizien viele Juden um ihr spärliches Einkommen brachte und sie, wie Joseph Roth die von Armut und 4

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Dazu siehe auch Michael A. Meyer, Judaism within Modernity. Essays on Jewish History and Religion, Detroit 2001, 21–31; David B. Ruderman, Michael A. Meyer’s Periodization of Modern Jewish History: Revisiting a Seminal Essay, in: Lauren B. Strauss/Michael Brenner (Hrsg.), Mediating Modernity: Challenges and Trends in the Jewish Encounter with the Modern World. Essays in Honor of Michael A. Meyer, Detroit 2008, 27–42; Elisheva Carlebach, When Does the Modern Period of the Jewish Calendar Begin?, in: Strauss, Brenner, Modernity, 43–54. Michael A. Meyer, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 81992, 13–32. Siehe Shmuel Feiner, The Jewish Enlightenment, Philadelphia 2004. Sander L. Gilman, Jewish Self-Hatred: Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews, Baltimore 1986, 270.

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Hunger gezeichneten Menschen bezeichnete, zu „Luftmenschen“8 machte und in die Emigration trieb, erschwerten die in der Zwischenzeit gefestigten Vorurteile über „Ostjuden“ deren Lage in ihren neuen Lebensräumen noch zusätzlich. Die Auswanderung der galizischen Juden und Jüdinnen aus ihrer sogenannten Schtetlwelt nach Wien, Berlin, Paris, London oder New York9 stieß nicht nur bei den Nichtjuden in den neuen Niederlassungen auf Unbehagen und provozierte bei ihnen Feindseligkeit gegenüber den Zuwanderern und Zuwanderinnen, sondern auch von den dort sesshaften Juden wurden die Ankommenden zumeist abgelehnt. Es hätte auch kaum anders sein können: Einerseits befürchteten die Wiener Juden, dass sie von der nichtjüdischen Bevölkerung mit den ostjüdischen Migranten und Migrantinnen, die als primitiv, schmutzig und krank galten,10 gleichgesetzt würden und dass eine durch diese ausgelöste Judeophobie sich gegen alle Juden und Jüdinnen richten würde.11 Und andererseits gab es nur wenige Gründe, sich mit den galizischen Juden besonders verbunden zu fühlen. Sie kamen aus einer anderen Lebenswelt, besaßen andere alltagskulturelle Orientierungen und pflegten selbst in der Religionsausübung einen anderen Ritus. Zwar leiteten Wiener Juden eine Reihe von Unterstützungsmaßnahmen für die Galizianer ein – zu den wichtigsten Einrichtungen dafür gehörten die „Israelitische Allianz zu Wien“, die „Baron Hirsch-Stiftung“ und der „Verein zur Beförderung des Handwerks unter den inländischen Israeliten“ –, aber diese Hilfsbereitschaft war weniger von Altruismus denn von Eigeninteresse getragen. Die Hilfe sollte zum einen die Existenzverhältnisse der Juden und Jüdinnen vor Ort in Galizien verbessern und dadurch deren Auswanderung stoppen. Dazu heißt es in der Oesterreichischen Wochenschrift mit entwaffnender Offenheit: In Galizien regt es sich. Was bisher nur vereinzelt geschah, beginnt in Massen vor sich zu gehen. Hunderttausende Juden haben nichts mehr als ihren Wanderstab. […] Sie wollen wenigstens noch ihr nacktes Leben vor dem Hungertode schützen. Wenn wir nicht zu den galizischen Juden gehen, so werden sie zu uns kommen. Helfen wir ihnen nicht jetzt, so werden wir ihnen später Almosen geben müssen. Aber dann züchten wir Bettler und senden sie als internationale Schnorrer in die Welt hinaus.12 8 9

Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, Göttingen 2008. Klaus Hödl, „Vom Shtetl an die Lower East Side.“ Galizische Juden in New York, Wien 1991; Ders., Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien 1994; Moses Rischin, The Promised City. New York’s Jews 1870–914, Cambridge/MA 1977. 10 Siehe George L. Mosse, Jewish Emancipation: Between Bildung and Respectability, in: Jehuda Reinharz/Walter Schatzberg (Hrsg.), The Jewish Response to German Culture. From the Enlightenment to the Second World War, Hanover/New England 1985, 11. 11 Siehe Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, Oxford 1987, 28–29. 12 Oesterreichische Wochenschrift 10 (1899), 185.

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Zum anderen wurde den Galizianern in Wien unter die Arme gegriffen, um dadurch eine Art äußerliche Konformität voranzutreiben.13 Sie sollten ihre leicht erkennbaren Eigenheiten, die sie zu Zielscheiben des Antisemitismus machten, ablegen. Obwohl sie wussten, dass sie unerwünscht und Anfeindungen ausgesetzt sein würden, verließen ab den 1880er-Jahren Tausende Juden und Jüdinnen jährlich ihre galizische Heimat und zogen nach Westen. Der größte Teil von ihnen strebte nach Amerika, in die „goldene medine“.14 Bis 1910 sollten mehr als 200.000 von ihnen den Weg über den Atlantik antreten.15 Zumeist setzten zuerst junge Männer allein diesen Schritt und holten nach einiger Zeit ihre Familien und Verwandten nach. Nicht selten erlagen diese Männer aber den Verlockungen der Neuen Welt, „vergaßen“ ihre Frauen und Kinder, verschwanden spurlos und stießen ihre Familien ohne weitere Unterstützung noch tiefer ins Elend. Diese soziale Vernachlässigung trug wesentlich zur Erosion moralischer Normen unter den Juden in Galizien bei. Da die verlassenen Frauen nach jüdischem Gesetz nicht wieder heiraten durften, solange der Tod ihrer Ehemänner nicht bezeugt war, außereheliche Beziehungen aber verpönt waren, konnten sie sich bei einer Verletzung dieser Regeln der Ächtung durch ihre unmittelbare soziale Umgebung nur entziehen, wenn sie selbst die Enge des Alltags hinter sich ließen. Bisweilen endete ihre von Verzweiflung getragene Flucht in einem der Bordelle Südamerikas oder der Türkei.16 Von den 3.000 Prostituierten in Argentinien sollen 90 Prozent Jüdinnen gewesen sein.17 Dass Rabbiner öffentlich den Frauenhandel verurteilen und vor jüdischen Zuhältern warnen mussten, wäre einige Jahrzehnte zuvor noch undenkbar gewesen, war nunmehr aber ein nicht mehr zu ignorierender Teil der neuen Realität. Dabei war die Verletzung moralischer Prinzipien nur ein später Akt im gesamten Drama der Umgestaltung gewohnter Verhältnisse. Bereits im 18. Jahrhundert wurde die traditionelle religiös-orthodoxe Lebensführung einerseits durch das Erstarken der zwar ebenso streng religiösen, aber stark spirituell ausgerichteten Bewegung des Chassidismus bedroht. Sie sollte im 19. Jahrhundert einen bestimmenden Einfluss auf das Leben eines wesentlichen Teiles der Juden und Jüdinnen in Galizien ausüben.18 Andererseits wurde der traditionelle jüdische Alltag von Regierungsseite, vor allem durch die Reformbestrebungen unter Josef II., und später auch von den Maskilim, den Anhängern der jüdischen Aufklärung (Haskalah), einem Änderungsdruck ausgesetzt. Das am heftigsten umkämpfte Gebiet, an dem die innerjüdischen 13 14 15 16

Hödl, Bettler, 154–160. Martin Pollack, Kaiser von Amerika: Die große Flucht aus Galizien, Wien 2010. Max Rosenfeld, Die polnische Judenfrage. Problem und Lösung, Wien 1918, 82. Edward J. Bristow, Prostitution and Prejudice. The Jewish Fight Against White Slavery 1870–1939, Oxford 1982; Leopold Rosenak, Zur Bekämpfung des Mädchenhandels, Frankfurt am Main 1903. 17 Oesterreichische Wochenschrift 1 (1909), 9. 18 Raphael Mahler, Hasidism and the Jewish Enlightenment. Their Confrontation in Galicia and Poland in the First Half of the Nineteenth Century, New York 1985.

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Spaltungen am deutlichsten zum Ausdruck kamen, war das jüdische Schulwesen. Der Cheder, das ist die jüdische Grundschule, bereitete jüdische Knaben auf eine religiöse Lebensführung vor. Die Vermittlung von allgemein brauchbarem Wissen wurde als Ablenkung vom Ideal religiösen Lernens gesehen und nicht geduldet. Gemäß den Maskilim war diese Ausbildung für die große Armut der Juden und Jüdinnen verantwortlich. Angeblich verhinderte sie, dass Juden am allgemeinen Wirtschaftsleben teilnehmen und produktiv tätig werden konnten. Aus diesem Grund unterstützten die jüdischen Aufklärer alternative Schulprojekte, die sowohl jüdischen Knaben als auch Mädchen verwertbares Wissen vermittelten. Dabei wurden sie in Rechnen, der deutschen Sprache, Naturkunde, Schönschrift und anderen Fächern unterrichtet.19 Diese Initiativen wurden von der jüdischen religiösen Strenggläubigkeit allgemein, und mehr noch von den Chassiden als den Vertretern der traditionellen Orthodoxie, mit Nachdruck bekämpft. Die Rabbiner sahen in den neuen Schulgründungen eine direkte Gefahr für ihre Machtfülle. Juden würde dadurch die Möglichkeit einer nichtreligiösen Lebensführung geboten, womit sie sich auch der rabbinischen Einflusssphäre entziehen könnten.20 Und damit hatten die religiösen Autoritäten durchaus Recht. Eine wesentliche Voraussetzung für die Auswanderung vieler galizischer Juden und Jüdinnen ab dem späten 19. Jahrhundert war, dass sie nicht mehr auf die Rabbiner bzw. die chassidischen Wunderrebbes hörten, die vor der Emigration warnten und sie bekämpften, sondern selbstständig Entscheidungen trafen und sich dabei von wirtschaftlichen Erwartungen leiten ließen.21 Chassidische Juden wanderten zu dieser Zeit nicht aus, sondern blieben in der unmittelbaren Umgebung ihres jeweiligen Rebbe. Erst während des Ersten Weltkriegs, auf der Flucht vor den russischen Truppen, ließen sich einzelne Dynastien mit ihrer Gefolgschaft in Wien nieder. Darunter waren jene aus Czortkow, Kopiczince, Sadagora und Husiatyn.22 Ein illustratives Beispiel für die vergiftete Atmosphäre zwischen den aufgeklärten oder zumindest modernisierungswilligen und den streng religiösen Juden und Jüdinnen stellt die Auseinandersetzung zwischen dem jüdischen Reformer Joseph Perl (1773–1839) und den Chassiden in der galizischen Stadt Tarnopol dar. Perl gründete dort im Jahre 1813 die erste moderne jüdische Schule in Galizien, womit er sich erwartungsgemäß die Gegnerschaft der religiösen Ultraorthodoxie zuzog. Diese Feindschaft wurde noch erbitterter, als die Chassiden 1838 die Synagoge eines neu ernannten, aufgeklärten Rabbiners in der Stadt zerstörten und Perl deswegen mit Wort und Schrift gegen sie vorging. Als er ein Jahr später verstarb, tanzten 19 Über die Unterschiede zwischen traditionell-religiöser Ausbildung und einem reformierten Schulwesen siehe Mordechai Eliav, Jüdische Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation (Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland 2), Münster 2001. 20 Ethel Lithman, The Man Who Wrote Hatikvah, London 1979, 35. 21 Chone Gottesfeld, Tales of the Old World and the New, New York o. J., 100. 22 Jonas Kreppel, Juden und Judentum von heute, Zürich 1925, 589.

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die Chassiden vor Freude auf seinem Grab.23 Die Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppierungen beeinflussten den Ruf der Galizianer in Wien und anderen Städten im Westen und trugen zum Bild des ostjüdischen religiösen Fanatismus bei. In diesem Zusammenhang muss auch der „Fall Kohn“ kurz erwähnt werden. Obwohl sein Ausgang eine Ausnahme unter den innerjüdischen Konflikten darstellte, wurde er dennoch zum Inbegriff blindwütigen religiösen Hasses der galizischen jüdischen Strenggläubigkeit. Abraham Kohn, geboren am 1. Jänner 1807 in einer kleinen böhmischen Gemeinde und Rabbiner in Hohenems ab 1833, nahm zehn Jahre später ein Rabbinat in Lemberg an. Mit seinen Referenzen – er hatte u.a. in Prag beim weithin angesehenen Oberrabbiner Samuel Landau Talmud studiert – und einem beeindruckenden Probevortrag schien er ein idealer Kandidat für das Lemberger Amt zu sein. Seine erste Predigt als Rabbiner begeisterte die Anwesenden, unter den sich u.a. auch Erzherzog Ferdinand I., der Bürgermeister der Stadt und andere (nichtjüdische) Ehrenbürger befanden, so sehr, dass er zum Kreisrabbiner ernannt wurde. Eine seiner Agenden war das jüdische Schulwesen, das er mit Nachdruck zu reformieren versuchte. Zu diesem Zweck gründete er eine moderne Schule, in der im Schuljahr 1846/47 mehr als 700 Schüler und Schülerinnen eingeschrieben waren. Dies war angesichts der Gegnerschaft der Ultraorthoxie gegen diesen Ausbildungstyp eine mehr als beachtliche Zahl. Die radikalen Chassiden in Lemberg fanden im ansässigen traditionell-religiösen ­Rabbiner und anderen einflussreichen orthodoxen Juden willige Verbündete in ihrem Kampf gegen Kohn, weil dieser mit seinen auch politischen Reformwünschen deren Pfründe als Eintreiber jüdischer Steuern bedrohte. Als Reaktion entfachten sie eine Hetze gegen Kohn, die im Laufe der Jahre in Gewalthandlungen gegen ihn und Drohungen gegen seine Kinder und seine Frau mündete. Der Höhepunkt der Spannungen zwischen dem Kreisrabbiner sowie seinen Unterstützern unter den aufgeklärten Juden und Jüdinnen und der jüdischen Strenggläubigkeit war dessen Ermordung im September 1848. Dabei soll ein chassidischer Jude Arsen in den Suppentopf der Familie Kohn geschüttet haben, woran der Rabbiner und eines seiner Kinder starben.24 Es wäre falsch, zu glauben, dass vor dem Giftanschlag ideologisch motivierte Morde unter Juden gänzlich unbekannt gewesen seien. Aber bis zum Jahr 1848 scheinen Tötungshandlungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft nur gegen sogenannte jüdische Informanten ausgeführt worden zu sein, die Juden und Jüdinnen bei den jeweiligen nichtjüdischen Machthabern und Autoritäten denunzierten, um daraus persönlichen Nutzen zu ziehen.25 Vor diesem

23 Larry Wolff, The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford 2010, 90, 125–126. 24 Siehe die detaillierte Beschreibung des Falles durch Michael Stanislawski, A Murder in Lemberg. Politics, Religion, and Violence in Modern Jewish History, Princeton 2007. 25 Ebd., 114–117.

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Hintergrund kann die „Affäre Kohn“ als Wendepunkt in der jüdischen Geschichte aufgefasst werden. Gleichzeitig zeigt sie die Verbissenheit und Radikalität, mit der sich ein Teil der religiös-orthodoxen Judenschaft gegen die Moderne stellte. Galizisches Judentum, so kann daraus gefolgert werden, war in seiner religiösen Ausrichtung keineswegs homogen und reagierte nicht mit einer einzigen Stimme auf die Einflüsse der Außenwelt. Vielmehr war es in verschiedene Gruppierungen unterteilt. Es gab ein breites Spektrum religiöser Ausrichtungen, von wenig gläubigen oder gar säkularen bis zu ultraorthodoxen Juden,26 daneben auch Sozialisten, Anarchisten und Zionisten mit ihren jeweiligen Nuancierungen. Die jüdische Welt in Galizien war fragmentiert und im Umbruch. Und auch die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden waren alles andere als eindeutig und klar beschreibbar. Es gab natürlich einen starken Antisemitismus, der sich in antijüdischem Boykott,27 lokalen Ausschreitungen28 und auch in Pogromen wie jenem von 1898, der erst durch die Verhängung des Ausnahmezustandes durch die Regierung gestoppt werden konnte, entlud. Nichtsdestoweniger gab es auch ein jüdisch-nichtjüdisches Miteinander, das vielleicht nicht immer und überall, zu allen Zeiten und in allen Regionen gleich war. Krakau, das Zentrum im westlichen Teil Galiziens, nahm in vielerlei Hinsicht eine Vorreiterstellung ein. Juden waren dort ganz prominent auch in der Stadtpolitik vertreten und gestalteten deren Entwicklung mit.29 Neueste Untersuchungen der jüdischen Wohnsitzverteilung in Galizien zeigen, dass Juden nicht isoliert, sondern in unmittelbarer Nähe zu Nichtjuden lebten. In der westgalizischen Stadt Lezask beispielsweise stand auf dem Marktplatz eine beeindruckende katholische Kathedrale und das Haus des Rabbiners befand sich ihr gegenüber auf der anderen Seite des Platzes.30 Das weithin sichtbare Symbol des Katholizismus war somit Teil der jüdischen Alltagswelt, und das nicht mangels alternativer Wohnmöglichkeiten. Vielmehr blieben Juden und Jüdinnen freiwillig in diesem Umfeld und verstanden sich als Teil desselben. Wie eine Studie über Juden in einer polnischen Stadt im 18. Jahrhundert darlegt, wurden sie von der nichtjüdischen Bevölkerung als integraler Teil der Gesellschaft gesehen und betrachteten sich auch selbst als solcher.31 Und in späteren Jahren dürfte es kaum anders gewesen sein. Die 26 Ebd., 28–30. 27 Anson G. Rabinbach, The Migration of Galician Jews to Vienna 1857–1880, in: Austrian History Yearbook 9 (1975), 53. 28 Die Welt 18 (1.5.1903), 4. 29 Zu diesem Punkt siehe das herausragende Werk von Nathaniel D. Wood, Becoming Metropolitan: Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow, Chicago 2010. 30 Israel Bartal, Imagined Geography. The Shtetl, Myth, and Reality, in: Steven T. Katz (Hrsg.), The Shtetl. New Evaluations, New York 2007, 184. 31 Gershon David Hundert, The Jews in a Polish Private Town: The Case of Opatów in the Eighteenth Century, Baltimore 1991.

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Vorstellung von weithin getrennten Lebenswelten aufgrund eines durchgängigen Antisemitismus, wie sie die zionistisch geprägte Erzählung, die in den Jüdischen Studien mehrere Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg vorherrschte, zumindest der Tendenz nach nahelegt,32 muss jedenfalls hinterfragt werden. Die täglichen Begegnungen und Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden dürften viel enger gewesen sein, als verbreitet angenommen wird. Eine Perspektive, die Juden aus einer gesonderten Betrachtung herauslöst, hat ganz konkrete Auswirkungen auf die historiografische Auseinandersetzung mit den Galizianern in Wien. Sie dürfen nicht als Zuwanderer behandelt werden, die aus einer allumfassenden jüdischen Lebenswelt gerissen wurden bzw. sich selbst von ihr lossagten und sich erst in Wien an eine nichtjüdische kulturelle Umwelt „anpassten“. Stattdessen hatten sie bereits in Galizien viel mit den polnischen Bauern und Bäuerinnen gemein, die ebenso nach Wien zogen, und wie diese mussten sie mit den Herausforderungen der Moderne fertig werden. In diesem Sinne könnten Juden, zumindest einzelne oder ein Teil von ihnen, zuvorderst als Migranten und Migrantinnen gesehen werden. Ihre Festschreibung als Juden, d. h. als Personen mit einem primär jüdischen Bewusstsein, dürfte bisweilen mehr voraussetzen, als tatsächlich belegt werden kann. Galizische Juden und Jüdinnen in Wien, so lässt sich abschließend festhalten, waren viel weniger religiös als ihre zurückgebliebenen Glaubensgenossen. Sie waren bereits in Galizien mit der Moderne in Berührung gekommen und der Kontakt mit Nichtjuden und -jüdinnen gehörte zu ihrem Alltag. Nichtsdestoweniger eilte ihnen ein Ruf voraus, der vielleicht auf Teile der in Galizien verbliebenen Judenschaft zutraf, aber nur sehr bedingt auf die Migranten. Und dieses Bild von ihnen erschwerte, wie im Folgenden dargestellt wird, ihre gesellschaft­ liche Akzeptanz und damit auch ihre „Integration“ in Wien. 2. Galizische Juden und Jüdinnen in Wien

Der Großteil der galizischen Juden und Jüdinnen kam aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen nach Wien. Anders als in Russland, wo antijüdische Pogrome jüdische Emigrationswellen auslösten, waren es in Galizien Not und Armut, die die dortigen Juden nach neuen Existenzmöglichkeiten suchen ließen.33 Die Donaumetropole war oftmals nicht das erste Ziel der Migranten und Migrantinnen. Zumeist waren sie schon zuvor von kleineren Siedlungen in größere Zentren gewandert und zogen erst dann, wenn sie auch dort keine Existenzmöglichkeit fanden, in die Hauptstadt des Habsburgerreiches weiter. In Wien kamen die meisten am Nordbahnhof an. Viele gingen in der ersten Zeit ähnlichen Berufen nach wie in Galizien, verdienten ihren Lebensunterhalt als Hausierer, die ihre 32 Klaus Hödl, Kultur und Gedächtnis, Paderborn 2012 (Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte; 1). 33 Siehe dazu Gerechtigkeit 1 (1906), 1.

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Waren auf den Straßen oder in Gasthäusern feilboten. Im Jahre 1890 waren 50 Prozent der aus Galizien und der Bukowina stammenden Juden und Jüdinnen sogenannte Kaufleute, zu denen auch die Hausierer und Hauserinnen zählten, 1910 waren es immerhin noch 45 Prozent. Rechnet man zu diesen auch noch die Handelsangestellten, die über 30 Prozent ausmachten, dann kann man aus den Statistiken berechtigterweise eine sehr einseitige Berufsverteilung herauslesen.34 Die galizischen Juden und Jüdinnen hatten nicht nur mit Armut zu kämpfen und lebten in überfüllten, bisweilen fensterlosen Kammern,35 sondern sie sahen sich auch vielfältigen Diskriminierungen durch Nichtjuden wie auch durch Wiener Juden ausgesetzt. Letztere waren beschämt, dass Merkmale des Judentums, die sie zu ignorieren und abzulehnen gelernt hatten, auf einmal offen und bedenkenlos gezeigt wurden. Diese Haltung beschreibt Arthur Schnitzler in seinem Roman „Der Weg ins Freie“, in dem der Protagonist sagt: Aber dass ich den Fehlern der Juden gegenüber besonders empfindlich bin, das will ich gar nicht leugnen. […] Von Jugend auf werden wir darauf hingehetzt, gerade jüdische Eigenschaften als besonders lächerlich oder widerwärtig zu empfinden […]. Ich will es gar nicht verhehlen, – wenn sich ein Jude in meiner Gegenwart ungezogen oder lächerlich benimmt, befällt mich manchmal ein so peinliches Gefühl, dass ich vergehen möchte […].36 2.1 Die „kranken“ Galizianer und Galizianerinnen

Das Gefühl der Abneigung gegenüber den galizischen Zuwanderern wurde nicht nur durch deren alltagskulturelle Eigenheiten hervorgerufen. Es nährte sich auch aus einem Vorurteilsfundus, der sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hatte und zu einem festen Bestandteil der „kollektiven Einstellung“ der Wiener Bevölkerung geworden war. Bereits in den 1780er-Jahren stellte Johann Pezzl (1756–1823), ein Schriftsteller aus Bayern, fest, dass es die einzige Beschäftigung der rund 500 Juden und Jüdinnen in Wien sei, „zu mauscheln und schachern und Geldmäkeln und zu betrügen“, und zwar „Christen, Türken, Heiden, ja sogar sich selbst […] Die indischen Fakire abgerechnet, gibt es wohl keine Gattung von sein sollenden Menschen, welche dem Orang-Utan näher kommt, als einen polnischen Juden“. Er sei „von Fuß bis Hals voll Kot, Schmutz und Lumpen, in einer Art von schwarzem Sack steckend, der 34 Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens: 1867–1914. Assimilation und Identität, Wien 1988, 65. 35 Ruth Beckermann (Hrsg.), Die Mazzesinsel. Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–1938, Wien 1984, 39. 36 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie, Frankfurt am Main 2000, 147, zitiert nach: Michaela Raggam-Blesch, Zwischen Ost und West. Identitätskonstruktionen jüdischer Frauen in Wien, Innsbruck 2008, 100. Die Autorin führt noch eine Reihe von Belegen für die Animositäten in Wien bereits ansässiger Juden gegenüber den zugewanderten Galizianern an.

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um die Mitte mit einem Gürtel gebunden ist“, und sein Haar sei verknotet, als ob er an plica polonica leide.37 Mit dieser Schilderung zeichnet Pezzl ein Bild von osteuropäischen Juden, das sich bis zum 20. Jahrhundert kaum mehr ändern sollte. Sie galten als arm, schmutzig und, eng damit zusammenhängend, als krank. Da Krankheit ansteckend sein kann, wurde die Migration galizischer Juden und Jüdinnen ab dem späten 19. Jahrhundert zunehmend als eine Gefahr für die übrige Bevölkerung gesehen und vor ihr gewarnt. In diesem Sinne meinte ein Wiener Stadtpolitiker über die in der Donaumetropole ankommenden Galizianer, dass sie mit ihrem von Schmutz starrenden Gepäck […] in den Wartesälen [lagern] […]. Die Gefahr der Einschleppung von Seuchen ist dadurch sehr groß. Galizien war und ist das Land der auftretenden Krankheiten, und alle größeren Seuchen, von denen Wien heimgesucht wurde, hatten ihren Ursprung in diesem Lande.38

Für einen Großteil der nichtjüdischen Wiener Bevölkerung waren nicht nur die galizischen Juden kontagiös. Vielmehr galten Juden und Jüdinnen allgemein, unabhängig von ihrer regionalen Herkunft und ihrer religiösen Ausrichtung, als Krankheitsüberträger. In der Donaumetropole kam diese Haltung 1898 in einer Agitation gegen den renommierten jüdischen Arzt Hermann Nothnagel zum Ausdruck, als an seiner Klinik mehrere Menschen an einem Pestbakterium verstarben.39 Nicht wenige Menschen glaubten, dass der Tod der Patienten die Folge eines jüdischen Komplottes sei. Wie bei vielen anderen Vorurteilen, die allgemein gegen Juden und Jüdinnen gerichtet wurden, so projizierten die Wiener Juden auch die Imagination der „kranken Juden“ auf ihre galizischen Glaubensgenossen. Indem sie betonten, dass widrige Lebensumstände in Galizien die Ursache für die Krankheiten bildeten, hofften sie, dass sie selbst von den antijüdischen Zuschreibungen ausgenommen würden. Zur Bekräftigung ihrer Argumentation konnten sie auf Schilderungen der galizischen Existenzverhältnisse verweisen, die entweder im Zuge der Hilfsmaßnahmen der Wiener Juden und Jüdinnen für die galizische Judenschaft oder aus Interesse einzelner Juden für die exotisch anmutenden östlichen Gefilde des Habsburgerreiches angefertigt wurden. In einem dieser Berichte wird die „galizische Schtetlwelt“ als das „jüdische, von verpesteten Miasmen erfüllte Ghetto“ beschrieben.40 In der Zeitschrift Gerechtigkeit heißt es, dass die Menschen an Hunger, Kälte und Ungeziefer litten, die „ganze Teile der jüdischen Menschenmassen der tiefsten menschlichen

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Johann Pezzl, Skizze von Wien, Graz 1923, 170. Reichspost (21.9.1907), 4. Antoinette Stettler, Der ärztliche Pestbegriff in historischer Sicht, in: Gesnerus 1 & 2 (1979), 354. M. Friedländer, Aus Galizien. Reise-Erinnerungen, Wien 1900, 36.

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Degenerierung“ anheimfallen lasse.41 Auf der Suche nach Nahrung für ihre Familien stolperten die Familienväter in „Lappen, Hadern und Fetzen, in welchen haufenweise Ungeziefer wimmelt“, durch die Straßen. Und gelangte einer, so heißt es weiter, in den Besitz eines Stück Brotes und brachte es „den darbenden Angehörigen [heim], da stürzt die ganze Familie auf solches wie die hungrigen Wölfe im Käfig einer herumziehenden Menagerie […]. In diesem haarsträubenden Elende leben 300.000 Juden in den kleineren Orten Galiziens.“42 Unbeschreibliche Armut gepaart mit mangelnder Hygiene waren um die Wende zum 20. Jahrhundert gemäß den Beobachtungen von „Westjuden“ zentrale Merkmale der galizischen Judenschaft. Sie galten als Ursache für Krankheiten und als Auslöser für die Migration nach Wien. Solche Beschreibungen gab es aber nicht erst im späten 19. Jahrhundert, sondern sie standen in einer längeren Traditionslinie. Bereits im Jahr 1804 hatte der in Wien geborene Professor für Statistik, Joseph Rohrer, seine Eindrücke über Juden und Jüdinnen in der Habsburgermonarchie veröffentlicht, denen er im Laufe ausgedehnter Reisen begegnete. Dabei merkte er an, dass „grindige Hautausschläge […] bey ihnen sehr häufig“ seien. „Eine Haupt­ursache des äussern welken Aussehens unter den Juden und ihrer innern baufälligen Natur liegt unstreitig in der so allgemein bey diesem Volke herrschenden Unreinlichkeit; einer gleich bey dem Eintritte in jedes Judenhaus bemerkbaren National-Unart […].“ Eine Folge davon seien epidemische Krankheiten.43 An den Skizzen des galizisch-jüdischen Alltags fällt auf, dass das Vorkommen von Ungeziefer häufig betont wird. Es gilt als Metapher für fehlende Sauberkeit, die die Grenze zwischen sozialem Elend und Krankheit verschwimmen lässt. Es nimmt deswegen nicht wunder, dass es in Wien unterschiedliche Initiativen seitens der ansässigen Judenschaft gab, den galizischen Zuwanderern einen Lebensstil zu vermitteln, in dem Hygiene und Sauberkeit Priorität genießen sollten.44 Die Beschreibungen der Existenzverhältnisse in Galizien dürfen nicht wortwörtlich genommen werden. Sie waren stark vom Motiv geprägt, für die Hilfsmaßnahmen in Galizien genügend Geld zu lukrieren, um die Migration nach Wien eindämmen oder vielleicht gar stoppen zu können. Zudem dürfte der Umstand, dass sich die Schilderungen selbst in den verwendeten Worten stark ähneln,45 als ein Indiz dafür aufzufassen sein, dass es sich dabei 41 Gerechtigkeit 1 (1904), 1. 42 Ebd., 2. 43 Siehe Adolf Gaisbauer, Das antijüdische „Potential“ der Aufklärung und des Josephinismus. Bemerkungen zum Werk Rohrers, in: Aschkenas 6 (1996), 174. 44 Oesterreichische Wochenschrift 10 (1913), 170. 45 Vergleiche auch Ch. N. Reichenberg, Wie kann das Elend eines Teiles der Juden in Galizien und der Bukowina durch die Baron Hirsch’sche Zwölfmillionen-Stiftung gemildert werden? Eine Studie, Wien 1891, 6; P. Berthold (Bertha Pappenheim), Zur Judenfrage in Galizien, Frankfurt am Main 1900, 18–19.

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weniger um akkurate Realitätsbeschreibungen als um diskursive Hervorbringungen handelt. Natürlich hatte das „jüdische Galizienbild“ einen wahren Kern, und eine erschreckende Armut ging bis zu einem gewissen Grad mit einer Indifferenz gegenüber hygienischen Standards oder auch der Unmöglichkeit, diese einzuhalten, einher. Nichtsdestoweniger können die Berichte eine Abneigung ihrer Autoren gegenüber den galizischen Juden und Jüdinnen nicht verhehlen. 2.2 Religiosität als Krankheitsursache

Übertragbare Krankheiten bildeten nur ein Spektrum der Leiden, von denen galizische Juden und Jüdinnen heimgesucht zu werden schienen. Daneben gab es bei ihnen angeblich auch Krankheiten, die unmittelbar auf ihren religiösen Lebensstil zurückgeführt wurden. Von besonderer Bedeutung war hierbei das religiöse Schulsystem, besonders die religiöse Grundschule (Cheder), in die jüdische Knaben bereits im Alter von drei oder vier Jahren gesteckt wurden und wo sie den ganzen Tag verbringen mussten. Viele aufgeklärte, moderne Juden glaubten, dass die Schüler dadurch ihrer Kindheit beraubt und durch das Lernen unnützen Lehrstoffes geistig überfordert würden.46 Der Cheder, so schreibt der aus Galizien stammende Zionist Osias Thon (1870–1836), tue „in hygienischer und pädagogischer Beziehung alles, um seine Zöglinge physisch und geistig zu verkümmern und zu verkrüppeln“.47 Der Zionist und Arzt Max Mandelstamm (1839–1912) meinte auf dem Zweiten Zionistenkongress 1898, dass der Chederunterricht das Gehirn überbürde, zur unterdurchschnittlichen Körpergröße und zum geringen Brustumfang der Juden beitrage.48 Der Cheder gilt nach Mandelstamm als Ursache für eine körperliche Unterscheidbarkeit der strenggläubigen Juden. Er ist verantwortlich für deren vermeintlich unterdurchschnittliche Größe. Nicht nur deren Kleidung und Haartracht machen sie äußerlich erkennbar, sondern auch deren Physis. Osteuropäische Juden seien, wie es in einem Reisebericht in ähnlichem Sinne heißt, „versehnte, krumme Gestalten mit bleichen Wangen und schiefen Rücken“.49 Sie hätten einen „unkonstruktiven“ Körperbau, der ihren körperlichen Verfall anzeige.50 Der angeblich kleine Wuchs von Juden aus Galizien wurde bereits in einer umfassenden Studie über die physischen Merkmale der Bevölkerung in dieser Habsburgerprovinz im Jahre 46 Siehe: Die Welt 18 (1900), 6. 47 Osias Thon, Einiges zur Orientierung in der gegenwärtigen Weltlage des Judentums, Wien o. J., 8. 48 Max Mandelstamm, Die Frage der körperlichen Hebung der osteuropäischen Juden, in: Jüdische Turnzeitung 5 (1900), 63–66. 49 Binjamin Segel, Die Entdeckungsreise des Herrn Dr. Theodor Lessing zu den Ostjuden, Lemberg 1910, 33. 50 Die Zukunft 118 (1922), 8.

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1876 untersucht.51 Die geringe Körpergröße galt zu dieser Zeit aber nicht als eine galizisch-jüdische Eigenheit, sondern als ein allgemein jüdisches, vor allem ostjüdisches Charakteristikum.52 In diesem Zusammenhang stellte der jüdische Anthropologe Arkadius Elkind bei den polnischen Juden ein Größenwachstum von 1610 Millimeter fest, das „nicht nur die allgemein verbreitete Meinung von der Kleinheit der Juden [bestätigt], sondern […] gleichzeitig zu den kleinsten in der anthropologischen Litteratur [sic!] bekannten Bestimmungen der Juden“ gehört.53 Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Folgen der von Mandelstamm angesprochenen Überbürdung des Gehirns, die eine der Voraussetzungen für Nerven- und Geisteskrankheiten sein konnte. Nach verbreiteter Ansicht waren Juden und Jüdinnen ganz allgemein, und nicht nur die galizisch-osteuropäischen, in besonderer Weise für Neurasthenie, Hysterie und Nervosität empfänglich.54 Nach Moritz Benedikt, einem in Wien tätigen jüdischen Arzt, kämen „nervöse Degenerationserscheinungen“ bei Juden sehr häufig vor. Sie könnten sogar als eine „neurotische Nation“ bezeichnet werden.55 Die Lokalisierung der Ursache im religiösen Ausbildungswesen sollte eine Alternative zu einer rassischen Begründung der angeblichen jüdischen Disposition für diese Leiden vorstellen und jene Juden, die sich von der religiösen Orthodoxie losgesagt hatten, von einer besonderen Neigung dafür freisprechen. Neben Mandelstamm meinte der ebenfalls in Wien wirkende Arzt und Zionist Martin Engländer ebenso, dass „die Überanstrengung und Übermüdung des Gehirns“ bei osteuropäischen Juden und Jüdinnen Nerven- und Geisteskrankheiten begünstige.56 Der Chederunterricht wurde aber nicht nur als zentrale Ursache für diese Leiden gesehen, sondern auch für Tuberkulose und Diabetes.57

51 Annegret Kiefer, Das Problem einer „jüdischen Rasse“. Eine Diskussion zwischen Wissenschaft und Ideologie (1870–1930), Frankfurt am Main 1991, 13–14. 52 Siehe Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997, 254–255. 53 Arkadius Elkind, Anthropologische Untersuchungen über die russisch-polnischen Juden und der Wert dieser Untersuchungen für die Anthropologie der Juden im Allgemeinen, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1 (1906), 52. 54 Andrea Adams, „Jüdische Nervosität“: Zur Konstruktion von Geistes- und Nervenkrankheiten bei Juden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, phil. Dipl., Berlin 2002. 55 Moritz Benedikt, The Insane Jew. An Open letter to Dr. C. F. Beadles. In: Journal of Mental Science 47 (1901), 503, 507. 56 Martin Engländer, Die auffallend häufigen Krankheitserscheinungen der jüdischen Rasse, Wien 1902, 12–13. 57 Felix Meyer, Der hygienische Wert des Turnens, in: Jüdische Turnzeitung 4 (1901), 48.

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2.3 Zusammengehörigkeitsbewusstsein der Galizianer und Galizianerinnen

In der Historiografie wird bisweilen die Ansicht vertreten, dass Juden und Jüdinnen in Zentraleuropa, und dabei vor allem jene mit Wurzeln in Osteuropa, weitgehend unter sich gelebt hätten und ihre Kontakte zu Nichtjuden und -jüdinnen beschränkt gewesen seien. Sie hätten sich weitgehend auf das Berufsleben konzentriert. Private Einladungen und intensivere freundschaftliche Beziehungen sollen selten gewesen sein.58 Es ist leider nicht möglich, den galizisch-jüdischen Lebensalltag in Wien genau nachzuzeichnen. Aber einige Indikatoren weisen darauf hin, dass die Ansicht von einer markanten, allgemein akzeptierten jüdisch-nichtjüdischen Trennlinie übertrieben ist und revidiert werden muss. Es gab nämlich auch vielzählige Kontaktzonen, die vor allem im Umfeld der um die Wende zum 20. Jahrhundert aufkommenden Massenkultur entstanden.59 Eine augenfällige Vernachlässigung dieses Themenbereichs in den Jüdischen Studien hat allerdings zur Folge, dass nur wenig Wissen über ein jüdisch-nichtjüdisches Miteinander vorhanden ist.60 Zudem zeichneten die Jüdischen Studien jüdisches Leben bislang sehr stark vor dem Hintergrund von Antisemitismus nach,61 was eine Fokussierung auf jüdisch-nichtjüdische Interaktionen ebenfalls nicht gefördert hat. Solche lassen sich ansatzweise aus der Wohnsitzverteilung der Juden und Jüdinnen in der Leopoldstadt und der Brigittenau herauslesen, wo zwischen 1890 und 1910 ungefähr 40 Prozent aller Juden in Wien lebten.62 Die Verteilung der Wohnsitze weist eher auf eine gelungene Integration als auf Abschottung hin.63 John W. Boyer meint beispielsweise, dass es keine Hinweise darauf gebe, dass um die Wende zum 20. Jahrhundert Juden von Nichtjuden weit58 Marion Kaplan, Konsolidierung eines bürgerlichen Lebens im kaiserlichen Deutschland 1871–1918, in: Dies. (Hrsg.), Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945, München 2003, 323. 59 Klaus Hödl, The Quest for Amusement: Jewish Leisure Activities in Vienna Circa 1900, in: Jewish Culture and History, Vol. 14, Nr. 1 (2013). Über jüdisch-nichtjüdische Begegnungsorte in Berlin siehe Marline Otte, Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890–1933, New York 2006. 60 Eine wegweisende Publikation, die noch immer als unverzichtbares Standardwerk auf dem Gebiet des jüdisch-nichtjüdischen Miteinanders gilt, ist der Sammelband von David Biale, Cultures of the Jews. A New History, New York 2002. Siehe auch Moshe Rosman, How Jewish is Jewish History?, Oxford 2007. Für den deutschen Sprachraum gibt es nichts, was dem auch nur nahekäme. 61 Michael Brenner, Orchideenfach, Modeerscheinung oder ein ganz normales Thema? Zur Vermittlung von jüdischer Geschichte und Kultur an deutschen Universitäten, in: Eli Bar-Chen, Anthony D. Kauders (Hrsg.), Jüdische Geschichte. Alte Herausforderungen, neue Ansätze, München 2003, 17. 62 Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990, 145. 63 Siehe dazu Klaus Hödl, Wiener Juden – jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, Innsbruck 2006, 24–25.

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gehend isoliert, d. h. in eigenen Wohnhäusern oder gar Häuserblocks, gelebt hätten.64 Das sei wegen des Wohnraummangels auch gar nicht möglich gewesen. Die Menschen hätten gemietet, was immer sie bekommen hätten, ohne auf die religiöse oder ethnische Zugehörigkeit ihrer Nachbarn zu achten, auch wenn dies von Antisemiten beklagt worden sei.65 Zwar schreibt Boyer von Juden und Jüdinnen allgemein. Da in der Leopoldstadt viele Galizianer lebten66 und somit zu den von ihm Untersuchten zählen, schließt Boyers Aussage diese natürlich mit ein. Galizische Juden und Jüdinnen setzten sich auch viel weniger von anderen Juden ab, als gewöhnlich behauptet wird. Anhand von Statistiken, die Marsha Rozenblit über das Heiratsverhalten von Juden und Jüdinnen, unterteilt nach ihren Herkunftsländern, für die Jahre 1870 bis 1910 erstellt hat, ist belegbar, dass weniger als die Hälfte der männlichen Heiratenden aus Galizien eine Jüdin aus dieser Provinz zur Frau nahmen.67 Das mag auf den ersten Blick, und vor allem im Vergleich zu den böhmischen oder mährischen Juden, wie eine ausgeprägte Neigung dahingehend aussehen, eine Braut aus der eigenen Herkunftsregion zu wählen. Aber da die Galizianer meist erst nach 1890 nach Wien kamen und es sich bei den von der Statistik erfassten galizischen Zuwanderern weitestgehend um die erste Generation gehandelt haben dürfte, während in den Vergleichsgruppen mit großer Wahrscheinlichkeit bereits die zweite Generation berücksichtigt wurde, zeugt das Heiratsverhalten von keinem ausgeprägten galizischen Gruppenbewusstsein. Wie in ihrer Heimat, so waren die galizischen Juden und Jüdinnen auch in Wien fragmentiert, untereinander bisweilen verfeindet, auf keinen Fall aber als homogenes Kollektiv begreifbar. Eine ganz grobe Unterscheidung gab es nach der religiösen Ausrichtung. Zwar waren die Galizianer in Wien weniger strenggläubig als ihre in der Habsburgerprovinz verbliebenen Glaubensgenossen, aber sie lassen sich trotzdem in mehr und weniger religiöse Juden und Jüdinnen differenzieren. Erstere gründeten in Wien die Organisation „Mahzike Hadath“,68 während die liberaleren Juden sich im „Israelitischen Synagogenverein Beth Israel“69 organisierten. Und daneben gab es natürlich auch viele Galizianer, die keiner der beiden Einrichtungen angehörten. Dieser Umstand lässt die Vorstellung, dass galizische Juden und Jüdinnen ein starkes Gefühl der Verbundenheit miteinander besaßen und selbst zu anderen Juden nur zurückhaltend Kontakt pflegten, jedenfalls fragwürdig erscheinen. 64 Eine gegenteilige Ansicht ist weit verbreitet. Siehe beispielsweise Rozenblit, Juden, 83. 65 John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago 1981, 74. 66 Fast die Hälfte der galizischen Juden und Jüdinnen in Wien wohnte im zweiten Gemeindebezirk. Siehe Rozenblit, Juden, 104. 67 Ebd., 54. 68 Jüdisches Volksblatt 46 (1903), 5. 69 Hödl, Bettler, 136.

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Es gab zwar auch vereinzelte Bemühungen, für die galizischen Juden und Jüdinnen eine zentrale Einrichtung zur Vertretung ihrer Interessen gegenüber der übrigen Judenschaft in Wien zu gründen, aber diese konnten die internen Differenzen nicht wettmachen. Die vielseitigen Diskriminierungen, denen sich die Galizianer von den Wiener Juden ausgesetzt sahen, oder ihre stark empfundene Benachteiligung seitens des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde führten im Juni 1910 zur Etablierung des „Verbandes der östlichen Juden in Wien“.70 Daran ist bestenfalls erkennbar, dass ein „Galizianerbewusstsein“ lediglich eine Identitätsform neben anderen darstellte, nicht aber, dass es dominant oder besonders wichtig gewesen wäre. Es wurde aber durch verbreitete Stereotypen über galizische Juden und Jüdinnen gestärkt. 2.4 Galizische Juden und Jüdinnen als „Opfer“ der Geschichtsschreibung

Diese wenigen Hinweise lassen bereits erkennen, dass die Annahme, galizische Juden und Jüdinnen seien weitgehend unter sich geblieben, nicht richtig ist bzw. differenzierter gesehen werden muss. Ein wesentlicher Grund, dass sie trotzdem als eigenständige, abgeschottet lebende Gemeinschaft gesehen werden, dürfte in der Methodik der Geschichtsschreibung liegen, vor allem in der Verwendung binärer Kategorisierungen. Juden im Wien des Fin de Siècle werden zuvorderst in Ost- und Westjuden unterteilt, wobei mit Ersteren primär die „Galizianer“, bei näherer Betrachtung auch einige ungarische Juden gemeint sind. Damit wird eine Unterscheidung vorgegeben, die im Weiteren auch die Forschungsperspektive beeinflusst. Der historiografische Fokus liegt eher auf dem Auffinden von innerjüdischen Differenzmerkmalen als von Gemeinsamkeiten, eher von Indizien, die die ost- und westjüdische Kluft stärken, als von Hinweisen, die sie erodieren. Während diese Unterteilung vornehmlich die sogenannte jüdische Historiografie bestimmt,71 wirkt sich eine andere Dichotomisierung, die aus der allgemeinen Geschichtsschreibung stammt, ebenfalls auf die Konstruktion eines ost- und westjüdischen Gegensatzes aus. Dazu zählt die Kontrastierung von Zentrum und Vorstadt, von Hochkultur und Massenbzw. Populärkultur.72 Da galizische Juden und Jüdinnen vornehmlich im zweiten und zwanzigsten Gemeindebezirk wohnten, wo der Wohnraum relativ günstig war, werden sie mit der Vorstadt in Verbindung gebracht, die dem mit der bürgerlichen Kultur assoziierten Zentrum, 70 Neue National-Zeitung 714 (1910), 7. 71 Der Begriff der jüdischen Historiografie wird an dieser Stelle nur mit großer Vorsicht verwendet, weil seine Bedeutung nur dann klar ist, wenn auch der Inhalt von jüdisch fassbar ist. Jüdisch ist aber ein ähnlich vager Begriff wie Kultur und Identität. Siehe dazu Michael L. Satlow, Creating Judaism. History, Tradition, Practice, New York 2006. 72 Siehe dazu Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt am Main 1999.

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wo viele sogenannte Westjuden lebten, gegenübergestellt wird. Bürgerliche Kultur im Fin de Siècle, zu deren Trägern viele Juden und Jüdinnen zählten, wird als normativ aufgefasst und die anderen „Subkulturen“ als auf diese ausgerichtet. Die städtische Peripherie strebte nach dieser Sichtweise zum Zentrum, und deren Bewohner, im konkreten Fall galizische Juden und Jüdinnen, bemühten sich um eine bürgerliche Lebensführung. Diese Folgerung stimmt mit dem sogenannten Assimilations- bzw. Akkulturationsnarrativ überein, wonach Juden kulturellen Gepflogenheiten anhingen, die sie durch Anpassung ablegen mussten. Es handelt sich dabei um ein „hydraulisches“ Verständnis von kulturellen Prozessen.73 Die Erforschung etwaiger „interkultureller“ Vernetzungen und interaktionaler Beziehungen der Galizianer mit anderen jüdischen wie auch nichtjüdischen Gruppen, von Kulturtransfers, kultureller Hybridität oder Liminalität74 wird dabei vernachlässigt. Auf der Grundlage von binären Kategorisierungen ist es nicht möglich, galizische Juden und Jüdinnen als festen Bestandteil der Gesellschaft aufzufassen, der deren kulturelle Prozesse mitgestaltet. Stattdessen werden sie als Ankömmlinge gesehen, die von „draußen“ – oder, wie Karl Emil Franzos es nennen würde, aus „Halb-Asien“ – über den Umweg der sogenannten Vorstadt kommen und sich an eine bestimmte normative Kultur in der Gesellschaft erst „akkulturieren“ statt sie mitzuprägen. Und dabei wird die Frage, was das Normative an einer Kultur sei und ob es eine normative Kultur überhaupt gebe, noch gar nicht angeschnitten. Im Folgenden werden anhand einiger Beispiele diese binären Unterscheidungen hinterfragt. Damit werden wesentliche Voraussetzungen für das verbreitete Bild von den abgeschottet lebenden galizischen Juden und Jüdinnen erodiert. Es ist dann leichter, sie nicht mehr als Kontrastfiguren zu den sogenannten Westjuden zu umschreiben. 2.5 Die Öffnung der Synagoge

Ein signifikantes Beispiel, das zur Stützung der neuen Perspektive herangezogen werden kann, ist das kurzzeitige Wirken des Kantors Boruch Schorr in Wien. Er stammte aus Lemberg, wo er seine Funktion als Chazzan mit großer Fertigkeit und zur Begeisterung eines Großteils der dortigen Juden ausführte. Seine gesangliche Virtuosität lässt sich auch daran ablesen, dass er zur Aufbesserung seines Einkommens in den Sommermonaten mit einigen Chorknaben in Galizien umherwanderte und in verschiedenen Synagogen bzw. Bethäusern seine Gesangskünste erfolgreich anbot. Schorr stieß allerdings auf Schwierigkeiten, als er sein musikalisches Können auch außerhalb des religiösen Bereiches einsetzte. Er komponierte eine 73 Jonathan Boyarin, Jewishness and the Human Dimension, New York 2008, 37. 74 Mit Liminalität ist im gegenständlichen Fall eine Art kulturelles „Zwischenstadium“ gemeint, in dem die darin befindlichen Menschen sich auf keine festen kulturellen Zugehörigkeiten beziehen, sondern ihre kulturelle Identität neu ausverhandeln. Das Konzept geht auf den Ethnologen Victor Turner zurück.

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Oper mit dem Titel „Samson“, die in Lemberg aufgeführt wurde. Wie im Fall von Abraham Kohn bereits ausgeführt worden ist, gab es in dieser ostgalizischen Metropole einen sehr radikalen Teil der jüdischen Ultraorthodoxie, der die Überschreitung der Grenze zwischen jüdisch-religiösem und nichtjüdisch-säkularem Bereich als unverzeihlichen Fehltritt ahndete und gegen Schorr zu agitieren begann. Dieser fühlte sich in Lemberg nicht mehr sicher und zeigte mit seiner Flucht in die USA einen größeren Überlebenswillen als der seinerzeitige Lemberger Kreisrabbiner.75 Schorr hielt es nicht lange in Amerika. Mitte des Jahres 1901 trat er in einer gewöhnlich von galizischen Juden und Jüdinnen besuchten Synagoge in der Wiener Leopoldstadt auf. Aber auch diesmal blieb sein Wirken von Kritik nicht verschont. Sie entzündete sich allerdings weniger an seiner Gestaltung des Gottesdienstes als vielmehr an einer Zeitungs­ annonce im Neuen Wiener Tagblatt, die sein Wirken ankündigte. Sie erschien nämlich im Vergnügungsteil des Mediums, dort, wo Unterhaltungsangebote beworben werden. Schorrs Performance war in unmittelbarer Nähe zu einem Hinweis auf „Venedig in Wien“, einen Freizeitpark im Wiener Prater, zu finden.76 Sein Auftritt erschien somit als Event, auf den aufmerksam gemacht wurde. Er war anderen Freizeitereignissen ähnlich, worauf auch der Umstand verweist, dass die Gottesdienstbesucher, die Schorrs Gesängen lauschen wollten, eine Eintrittskarte kaufen mussten. Schorr machte sich mit seinen Darbietungen eine Tendenz zunutze bzw. verstärkte sie, bei der Kantoren sich zunehmend als Künstler sahen und als solche auch aufgefasst wurden. Das zeigte sich nicht zuletzt darin, dass sie in ihrer Freizeit immer wieder in der Öffentlichkeit als Sänger auftraten. Der Kantor am Wiener Stadttempel sang beispielsweise mit Vorliebe Arien von Verdi und Puccini und gewann dadurch an Reputation.77 Oder sie verließen die Synagoge ganz und verdienten ihr tägliches Brot an der Oper, wie es beispielsweise Hermann Jadlowker (1877–1953) machte, der in Riga eine Kantorenausbildung durchlief, bevor er am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien aufgenommen und später als Sänger an verschiedenen Opernhäusern in Wien, Berlin, New York, London und anderen Städten tätig war.78 Mit dem Pendeln des Kantors zwischen Auftritten in der Synagoge und im Konzertsaal verschwammen der religiöse und der säkulare Bereich, die Vorsänger waren in beiden tätig und verbanden sie miteinander. Dies war eine Entwicklung, die sich sowohl bei den galizischen als auch bei den liberalen Wiener Juden zeigte.

75 76 77 78

Die Wahrheit 17 (1904), 11. Die Wahrheit 28 (1901), 6. Die Wahrheit 48 (1906), 7. Oesterreichische Wochenschrift 1 (1909), 8. http://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Jadlowker (zuletzt abgerufen am 16.01.2016).

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Ein weiterer Trend, der in Schorrs performativer Gottesdienstgestaltung zum Ausdruck kam, war die partielle Durchdringung von gleichsam privater (synagogaler) Sphäre und öffentlichem Raum. Die Synagoge öffnete sich zusehends einer nichtjüdischen Öffentlichkeit. Nichtjüdische Besucher des jüdischen Gotteshauses waren aber nichts Neues. In Wien konnte man sie vor allem in den 1840er-Jahren beobachten, als Gottesdienste im Wiener Stadttempel vom berühmten Kantor Salomon Sulzer geleitet wurden. Franz Liszt war einer derjenigen, die wegen Sulzer in den Tempel kamen und ihn mit bleibendem Eindruck verließen. 79 Das jüdisch-nichtjüdische Miteinander beim Gottesdienst ging darüber sogar hinaus. Es zeigte sich beispielsweise auch in der Vertonung des hebräischen Textes „Der 92. Psalm – Lied für den Sabbath“ durch Franz Schubert.80 Der Hinweis auf die Überlappung von privater und öffentlicher Sphäre wird an dieser Stelle deswegen hervorgehoben, weil er mit einem dominanten Narrativ von der Modernisierung der Juden und Jüdinnen in Zentraleuropa kontrastiert. Diese Erzählung fußt auf der Vorstellung, dass es unter diesen im 19. Jahrhundert zu einer starken Trennung zwischen privatem und öffentlichem Bereich gekommen sei. Sie hätten begonnen, ihr Jüdischsein lediglich zu Hause, im privaten Umfeld, zu praktizieren und zu leben, während sie den davon scharf getrennten öffentlichen Raum als Bürger und Bürgerinnen betraten, also ohne Hinweis auf ihr Judesein.81 Der bereits angeführte Hinweis, dass es dadurch kaum jüdisch-nichtjüdische Freundschaften gegeben habe, ergänzt und stärkt diese Erzählung. Aber diese Perspektive scheint ebenfalls einem binären Denken geschuldet zu sein. In Wirklichkeit war die Trennung zwischen beiden Bereichen nie wirklich ausgeprägt, weder im 19. Jahrhundert noch in vormoderner Zeit, wie ein Blick auf die Geschichte der Kunst zeigt. Ein exemplarischer Beleg zur Hinterfragung des dominanten Narrativs einer Kluft zwischen jüdisch-privatem und öffentlichem Raum bildet ein Kupferstich der Berliner Synagoge in der Heidereutergasse, der ältesten Synagoge der Stadt, welche zwischen 1712 und 1714 erbaut wurde. Er zeigt, dass Nichtjuden von Juden in das Innere der Synagoge eingeladen werden.82 Die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre war allem Anschein nach durchlässig. Es gab Begegnungsräume und Kontaktzonen zwischen Juden und Nichtjuden. Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Privatheit und Öffentlichkeit lässt sich auch an anderen Bildern ablesen, die um ungefähr die gleiche Zeit entstanden. Einige zeigen beispielsweise das Leben in Fürth. Die dortige Judenschaft bestand zum größten Teil aus Nachkommen von ehemals Wiener Juden und Jüdinnen, die aus der Donaumetropole 1670 vertrieben 79 Hans Tietze, Die Juden Wiens. Geschichte – Wirtschaft – Kultur, Wien 21987, 157. 80 Nikolaus Vielmetti, 150 Jahre Stadttempel. Bilder und Dokumente, in: Der Wiener Stadttempel 1826–1976 (Studia Judaica Austriaca VI), Eisenstadt 1978, 99. 81 Benjamin Maria Baader, Gender, Judaism, and Bourgeois Culture in Germany, 1800–1870, Bloomington 2006, 75–78. 82 Richard I. Cohen, Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe, Berkeley 1998, 76–77.

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worden waren. Auf einer der Darstellungen ist eine jüdische Hochzeit auf einem öffentlichen Platz erkennbar. Daneben stehen Nichtjuden, die sich miteinander unterhalten. Sie nehmen von der jüdischen Feier kaum Notiz, was darauf hinweist, dass sie dem jüdischen Treiben nicht mit Befremden oder Erstaunen gegenüberstehen, sondern mit ihm vertraut sind. Es löst bei ihnen keine Neugierde aus. Juden und Jüdinnen sind Teil des öffentlichen Raumes und verstecken ihre Zeremonien und religiösen Riten auch nicht.83 An den bisherigen Beispielen wird deutlich, dass die Kontrastierung von säkularer und religiöser Sphäre wie auch von privatem und öffentlichem Bereich, die die jüdische Historiografie prägt, hinterfragt werden muss. Eine Überlappung dieser Felder zeigte sich bereits in Schorrs performativem Wirken. Mit der Unterteilung in Ost- und Westjuden gibt es noch eine dritte Dichotomie, die die Forschung in den Jüdischen Studien leitet, aber nichtsdestoweniger auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden muss. Das ist im Bereich des jiddischen Theaters möglich. Dieses wurde in den ausgehenden 1870er-Jahren in Rumänien von Abraham Goldfaden gegründet. Innerhalb weniger Jahre war es in ganz Osteuropa populär und überall entstanden Schauspielergruppen, die über die Lande zogen und dabei selbst kleinere Ortschaften nicht ausließen.84 Einige von ihnen suchten auch die großen Städte Zentral- und Westeuropas auf. In Wien soll es bereits zu Beginn der 1880er-Jahre jiddische Theateraufführungen gegeben haben. Aber aufgrund zu weniger Zuschauer war dem Theater kein langer Bestand gesichert. Das Desinteresse mag ästhetischen Gründen geschuldet gewesen sein: Jiddisches Theater war zumindest in seinen Anfangsjahren keine hohe Theaterkunst, gründete weithin auf Improvisation und war oftmals ohne klar erkennbare Handlung.85 Dazu hieß es am 12. Dezember 1880 es in der Neuen Freien Presse über eine Aufführung: Die neuesten Gäste […] sollen in Russland und Rumänien große Erfolge erzielt haben. Möglich! Dann aber hätte Herr Horowitz […] auch dort bleiben sollen, denn Wien ist für Produktionen dieser Art kein günstiger Boden, schon deshalb nicht, weil – die kaftanbekleideten Gestalten vom Salzgries etwa ausgenommen – kein Mensch den Jargon versteht, den die Gesellschaft kultiviert. Die Sprache der Kongo-Neger klingt uns nicht unverständlicher als das Kauderwelsch, das wir heute hören mussten.86

Einige Jahre später hielt sich eine Truppe aus Lemberg in der Donaumetropole auf. Allerdings kam es zu keinen Aufführungen, weil sich die Israelitische Kultusgemeinde mit Vehemenz

83 Cohen, Icons, 52–53. 84 Nahma Sandrow, Vagabond Stars. A World History of Yiddish Theater, Syracuse 21996, 40–69. 85 Klaus Hödl, A Space of Cultural Exchange. Reflections on the Yiddish Theatre in the Late Nineteenth Century, in: Pinkas III (2010), 28–31. 86 Brigitte Dalinger, Verloschene Sterne. Geschichte des jüdischen Theaters in Wien, Wien 1998, 40.

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dagegen aussprach.87 Ein Grund für diese Haltung könnte in der Furcht gelegen haben, dass durch die Darbietungen Judenfeindschaft provoziert würden. Mögen die Wiener Juden und Jüdinnen im ausgehenden 19. Jahrhundert nur wenig Begeisterung für diese „ostjüdische Kunstform“ gezeigt haben, so änderte sich deren Zugang zum jiddischen Theater schon bald. Und neben den sogenannten Westjuden zog es sogar Nichtjuden in seinen Bann.88 Ein herausragendes Beispiel für den Besuch der Aufführungen durch einen Wiener Juden ist Otto Kokoschka. Er hält in seinem Tagebuch fest, dass er zusammen mit Karl Kraus und Adolf Loos des Öfteren eine Aufführung besucht habe. Zwar äußert er sich ein wenig ironisch, aber nicht abwertend über die Darbietungen: Die Musik und Tanzeinlagen, die Solonummern und die Duette waren von einer solchen theatralischen Verve, der jüdische Humor so übertrieben, dass man nicht wußte, ob man lachen oder weinen sollte. Jede Nummer rief einen frenetischen Beifall hervor. Eine chassidische Ekstase, ein Sichvergessen, wie ich es nur bei tanzenden Derwischen später wieder erlebt habe.89

Jiddisches Theater, gleichsam ein Inbegriff für ostjüdische Kultur, wurde somit auch von Wiener „Westjuden“ rezipiert. Die Aufführungen boten Kontaktzonen für die verschiedenen jüdischen Gruppierungen in der Donaumetropole. Der Gegensatz von Ost- und Westjuden – wie auch von Juden und Nichtjuden – verlor auf diesem Gebiet seine Relevanz und wich stattdessen einem Miteinander. 3. Fazit

Die galizischen Juden und Jüdinnen in Wien werden in der Geschichtsschreibung gewöhnlich als eine Gruppe dargestellt, die ein eigenes – „rückständiges“ – kulturelles Profil besaß und sich nicht nur gegenüber Nichtjuden abzuschotten neigte, sondern auch zur Wiener Judenschaft auf Distanz ging. Es soll nicht geleugnet werden, dass die Galizianer aus einem kulturellen Umfeld kamen, das sich von dem in Wien vorgefundenen unterschied. Dadurch gab es bei ihnen auch spezifische Identifizierungen, die Kontakte mit anderen Juden und Jüdinnen in Wien erschwerten. Nichtsdestoweniger sind die verbreiteten Skizzen der Galizianer als distinktes Kollektiv übertrieben. Dieser Umstand kann nebst anderen Gründen auf eine Historiografie zurückgeführt werden, die sich an binären Kategorisierungen orientiert. Deren Hinterfragung oder gar Auflösung erleichtert jedenfalls eine neue Darstellung der galizischen Juden und Jüdinnen.

87 Dalinger, Sterne, 38. 88 Zu Nichtjuden im jiddischen Theater siehe ebd., 46. 89 Oskar Kokoschka, Mein Leben, Wien 2008, 88.

Wladimir Fischer-Nebmaier

Difference and the City Migrants from the Predominantly South-Slavic Speaking Regions of Austria-Hungary in Vienna around 1900

1. Introduction

This chapter presents an overview on migrants in Vienna who came from those regions of the Austro-Hungarian Empire where South-Slavic languages were predominantly spoken.1 It deals mainly with migrants from areas that comprise modern day Slovenia, Croatia, Bosnia-Hercegovina, Serbia (Vojvodina), and Italy (Trieste), but also from Serbia proper, Bulgaria, Montenegro, Macedonia, and the former Ottoman Empire. I will also include some discussion of migrants whose native languages were not Serbo-Croat, Slovene, Bulgarian, and Macedonian and who belonged to the Orthodox, Catholic, and Muslim religious communities. In contrast to today, the number of these migrants was not large. However, the precise numbers are rather uncertain, as I will discuss in more detail below. I will begin with a discussion of the relevance of the topic, the state of the field, as well as the difficulty in determining detail on the historical demography of migration. Then, after a description of the political and cultural contexts, I will describe the different networks of migrants from the predominantly South-Slavic speaking parts of the Habsburg Empire, how these communities were organized, and finally their publishing activities. There are several reasons why this chapter will bring together migrants from the Southeastern parts of the Habsburg Empire instead of focusing only on one set of South-Slavic speakers in Vienna. One of the most important reasons involves the contemporary history of Austria, or to be more exact, the history of contemporary labor migration to Austria that began around 1960. Treaties signed between the Federal Republic of Austria and first the Socialist 1

Research for this chapter was funded by the Austrian Science Fund (FWF): P 21493-G15. The research project was called Difference and the City: Minority Migrants in Vienna, ca. 1900. It ran from 2009 to 2013 and was directed by Wladimir Fischer. Project website: http://difference-and-the-city. univie.ac.at/?language=en (accessed 5 December 2015).

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Federal Republic of Yugoslavia, and later in the 1970s with the Republic of Turkey, opened up temporary employment opportunities for millions of workers of mostly rural backgrounds in the post-World War II Austrian economy. The initial plan of both the migrant-sending countries and Austria to have the Gastarbeiter (“guest workers”) return after a short period of time, failed. However, while many indeed did return, many others stayed and established families in Austria.2 During the oil crisis of the early 1970s, functionaries of the Austrian trade unions and the Socialist Party became increasingly uneasy about what they considered a threat to “Austrian jobs” (the unions had agreed to the Gastarbeiter policy after a historic deal with the employers). What followed was the first racist election campaign in the Second Republic.3 Vienna has been one of the main destinations of these labor migrants and it is estimated that well over 10 percent of the population has a Gastarbeiter background today. Nearly 8 percent of the Viennese population said in 2001 they speak a Southeast European language.4 However, there are still relatively few studies on the history of this large segment of the Vienna population. The topic seems all the more pressing as migrants have been the subjects of racist discourse in Austria, and history can be a means of empowering groups who have been underrepresented in public discourse.5 2

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4

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Eva Kreisky, Vom bürokratischen Nutzen ständiger Unsicherheit – Arbeitsmigranten zwischen Anwerbung und Abschiebung, in: Hannes Wimmer (ed.) Ausländische Arbeitskräfte in Österreich, Frankfurt am Main – New York 1986. Wladimir Fischer, Vom ‘Gastarbeiter’ zum ‘Ausländer’: Die Entstehung und Entwicklung des Diskurses über ArbeitsmigrantInnen in Österreich, in: Österreich in Geschichte und Literatur 53, no. 3, 2009, 248–66; Ljubomir Bratić, Diskurs und Ideologie des Rassismus im österreichischen Staat, in: Kurswechsel 17, no. 2, 2003, 37–48; Eveline Wollner, Ausländer/innenbeschäftigungspolitik und Migration. Zur Rolle des österreichischen Gewerkschaftsbundes und zur Bedeutung von Migration aus Weltsystemperspektive, in: Grundrisse 7, 2003, 30–39. When Albanian, Serbo-Croatian (Bosnian/Croatian/Serbian), Greek, Bulgarian, Slovenian, Romani, and Macedonian are counted as South-Eastern European languages, the number was 616,785 or 7.68 percent in 2001; cf. Statistik Austria. Bevölkerung 2001 nach Umgangssprache, Staatsangehörigkeit und Geburtsland, Vienna 2001. Wladimir Fischer, Gute Familien auf Abwegen. Eine unsichtbare Strömung unter den jugoslavischen ArbeitsmigrantInnen der 60er und 70er Jahre?, in: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstandes 28, no. 1–2, 2011, 56–61; idem, Migrant Voices in the Contemporary History of Vienna. The Case of Ex-Yugoslavs, in: Cynthia Brown/Richard G. Rodger (eds.), Constructing Urban Memories: The Role of Oral Testimony, Historical Urban Studies, Aldershot 2007, 231–250; idem, Wege zu einer Geschichte von MigrantInnen aus dem Südosten in Wien um 1900, in: Pro Civitate Austriae, NF 10, no. Themenschwerpunkt “Migration”, 2005, 3–22; idem, An Innovative Historiographic Strategy. Representing Migrants from Southeastern Europe in Vienna, in: Mareike König/Rainer Ohliger (eds.), Enlarging European Memory: Migration Movements in

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However, there is a notorious problem with historicizing labor migration to Austria. Since the 1970s Kolaric campaign, there is a prevailing perception that the Czech labor migrants of the late 19th century were the typological predecessors of the contemporary Yugoslav and Turkish migrants. Yet the situation of migrants from Bohemia was in several decisive ways different from that of today’s migrants.6 The Czechs were Austrian-Hungarian citizens, and had therefore the same rights as other Viennese (with the exception of the communal Heimatrecht, yet this was also true for many German speaking people in Vienna).7 A look at migrants who did originate from roughly the same regions as the labor migrants in the second half of the 20th century reveals that also here there are more differences than similarities. Basically, the historical migrants from Southeast Europe had a completely different profile than the Gastarbeiter (see sections 2. and 4.). These are ample reasons to take an even closer look at migrants from the predominantly South-Slavic speaking regions of Austria-Hungary in Vienna around 1900. 1.1 Who are we talking about? Avoiding Groupism

Historians of ethnic identity have grown very careful about the notion of “groups”. Rogers Brubaker for example suggests not to assume the existence of any group whatsoever but rather to investigate the processes in which identity managers, whom he calls “ethnic entrepreneurs”, try to organize and maintain groups, such as ethnicities, but also other identity projects.8 In the case of South-Slavs in Vienna this caution is especially appropriate.

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Historical Perspective, Stuttgart 2006, 155–62; idem, Prominently Absent. Problems of ‘Ex-Yugoslav’ Migrants’ Representation in Vienna, Paper given at the 8th International Metropolis conference in Vienna, 16 September 2003. Wladimir Fischer, ‘I haaß Vocelka – du haaßt Vocelka’. Der Diskurs über die ‘Gastarbeiter’ in den 1960er bis 1980er Jahren und der unhistorische Vergleich mit der Wiener Arbeitsmigration um 1900, in: Martin Scheutz/Vlasta Valeš (eds.), Wien und seine WienerInnen. Ein historischer Streifzug durch Wien über die Jahrhunderte, Vienna 2008, 327–54. Brigitta Bader-Zaar, Foreigners and the Law in Nineteenth-Century Austria: Juridical Concepts and Legal Rights in the Light of the Development of Citizenship, in: Andreas Fahrmeir/Olivier Faron/Patrick Weil (eds.), Migration Control in the North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United States from the French Revolution to the Inter-War Period, New York – Oxford 2003, 138–52; Sylvia Hahn, Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatrecht im 19. Jahrhundert, in: Pro Civitate Austriae, NF 10, no. Themenschwerpunkt “Migration”, 2005, 23–44; Silvia Hahn, Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa. 16.–20. Jahrhundert, Querschnitte 20, Innsbruck – Vienna et al. 2006. Rogers Brubaker, Ethnicity without groups, Cambridge/MA, et al. 2004.

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First of all, speaking of “South-Slavs” already means to assume that there was such a group and that it consisted of people defined by a common linguistic practice. This is not correct, as will be discussed in more detail below. Therefore, I prefer the expression speakers of South-Slavic languages and migrants from regions where such languages were predominantly spoken, because these two groups — especially the first one — were likely to join in to a “South-Slavic” identity project. Secondly, ethnic identity projects were only developed at the end of the 19th century all around the globe. In Central Europe these processes of “ethnicization” started later than for example in France or England, and more such ethnic projects were interacting in the Austrian-Hungarian Empire than in many of the neighboring states.9 Thirdly, especially South-Slav identity projects were in an unclear state at the time (and maybe still are in case of the Yugoslav one), as will be discussed in more detail below. Several different ethnic projects were competing with each other, as individuals did move between projects and often were undecided on which ethnic project they belonged to. It is impossible to determine from the present perspective how a historical individual situated him- or herself in this situation unless they produced texts about this. It is possible that many of the migrants I am speaking about would have identified themselves as some variety of the Roma, and spoke Romani, but there are no sources to prove this, because this identification has mostly been neglected or ignored.10 Fourthly, the existence of ethnic identity projects is usually hard to prove when concerning minority projects in a remote and large place with other majorities, as in the case of the metropolis Vienna. As I will show, the traces are scarce. On top of this, individuals could always assimilate to a different, if majority identity project. Slovene historians claim that many Slovenes indeed accommodated themselves in the German ethno-national project in Vienna. Finally, ethnicization was not the only identity project that was developing at the time in Vienna. Class and confessional affiliations had a much longer tradition than ethnic ones when we speak of a trans-regional scale. Late 19th century Vienna is well known for the conflict-laden negotiation of trans-difference in the Austrian Social Democracy between working class, Czech, and German options of belonging.11 Furthermore, when studying the history of 9

Ethnicization is sometimes used to denounce the harmful instrumentalization of ethnic categories on certain populations. We are using it however in a more general sense of attributing ethnic categories and of creating and managing an ethnic identity project along the principles that have been lain out in: Christian Giordano, Ethnizität: Prozesse und Diskurse im internationalen Vergleich, in: Robert Hettlage (ed.), Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Region, Nation, Europa, Opladen 1997, 56–72. 10 The fact that the Ottoman census did count “Gypsy” speakers suggests that there were also such migrants in Vienna. 11 The rather recent term transdifference stands for a non-dichotomous view on cultural or social processes and describes the processes in which interdependent social categories transform their

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Vienna 1900 the use of the term ethnicity is ahistorical, because such identifications were discussed as Nationalitäten (“nationalities”) in the late Austro-Hungarian Empire, which is why we must be aware of the anachronistic character of the term. After these caveats, it is time to turn to the migrants themselves. 1.2 Habsburg Subjects

In the category of migrants we are most interested in, those from the Austro-Hungarian Empire itself, one part came from the Austrian part and the other from the Hungarian part, or Transleithania. Migrants from predominantly South-Slavic speaking regions of the Kingdom of Hungary were first of all from Croatia, or from what is today Vojvodina in Serbia, and what were around 1900 roughly the counties of Bács-Bodrog, Torontál, and Szerém. These regions comprised both agricultural areas and cities, from which, as archival material suggests, merchants, officials, students, and professionals came to Vienna. This is true for all cities in question. These cities included Karlowitz/Karlóca/Karlovci, which was the spiritual-political center of the Habsburg Serbs, and Novi Sad, which was of central importance to them in terms of politics, economy, and publishing. This means that there were more than individual family ties between these places and migrants in Vienna, for instance in the shape of regular business links or the exchange of media information. From the same region came also speakers of other languages to Vienna, especially when the cities were multicultural. Migrants from BácsBodrog, Torontál, and Szerém were likely to be speakers of Serbian or variations of Croatian, of Hungarian, German, Romanian, Yiddish, or Ukrainian to name but the most important ones. When focusing on the seven Croatian counties that were part of the Hungarian Kingdom, Zagreb/Agram was the major political, economic, and spiritual center, with similar links to Vienna migrants as from Karlowitz. The port city Fiume/Rijeka was an economic node of migrant networks. From Croatia’s heartland, speakers of Croatian dialects migrated to Vienna, but from the coastal regions also Italian and Serbian speakers came. interdependency. Most importantly, not one category like class is being given analytical preference over others like gender or ethnicity. On transdifference, see Helmbrecht Breinig/Jürgen Gebhardt/ Klaus Lösch (eds.), Multiculturalism in Contemporary Societies: Perspectives on Difference and Transdifference, Erlanger Forschungen Reihe A – Geisteswissenschaften, Erlangen 2002. A classical case of negotiations over interdependent categories was the discussion of the Nationalitätenfrage, among the Austrian Social Democracy. See: Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft f. Geschichte d. Arbeiterbewegung in Österreich 1, Vienna 1963; Zdenek Šolle, Die Sozialdemokratie in der Habsburger Monarchie und die tschechische Frage, in: Archiv für Sozialgeschichte 6/7, 1966/67, 315–90.

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In terms of religious affiliation, migrants were Catholics and, to a lesser extent, Orthodox from Croatia, and Orthodox and Catholics from the three Hungarian counties, as well as Greek Catholics (Uniates). There were Jewish and protestant migrants from all Hungarian counties.12 South-Slav migrants in Vienna that were from the Austrian crown lands, were usually either from the Duchy of Styria or of Carniola (which is now Slovenia) or from one of the crown lands of Dalmatia, the Imperial Free City of Trieste and its suburbs, the Margraviate of Istria, or the Princely County of Gorizia and Gradisca. The latter three were subsumed under the term Austrian Littoral and although they had separate administrations and estate assemblies, they were all subject to a royal-imperial governor at Trieste. From Carniola came mostly Slovene speakers, but also those with German as native language. The mother tongue of migrants from Trieste and Gorizia was mostly either Slovene or Italian, with the exception of the important Serbian colony in Trieste. From Istria and Dalmatia we find mostly Croatian speakers in Vienna at the time, but with a substantial proportion of people who had grown up speaking Italian, or, notably in the case of Dalmatia, Serbian. Thus, from the Austrian lands, there were not only Catholics and Jews in the imperial capital, but also subjects of the Eastern Orthodox denomination. There was a socio-cultural distance between the rural Dalmatian Serbs and the urban Serb speakers who concentrated in Trieste. A relatively new sending region was Bosnia-Herzegovina, from where Catholic, Orthodox, Muslim, and Jewish speakers of Serbo-Croatian migrated to Vienna. The Bosnian Jews were traditionally Sephardic. Because of the newly installed Austro-Hungarian administration in Bosnia-Herzegovina, we find migrants from this annexed land with other native languages in fin-de-siècle Vienna, including German, Czech, and Hungarian, many of whom seem to have been state officials moving on or returning to Vienna. Migrant communities such as the Serbian one in Trieste, which used to be the “Serbian capital” in the 18th century, had considerable exchange with other enclaves like the one in Vienna.13 There is some reason to expect to find similar connections between other port cities (Zadar, Split, Dubrovnik) and the Imperial capital, however these connections might decrease 12 The statements in this and the following sections on Austro-Hungarian sending regions can easily be verified with the maps contained in Helmut Rumpler and Martin Seger, Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen nach dem Zensus von 1910, Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Vienna 2010. Where they are based on the Austrian census, this will be documented in the footnotes. When I am making comments that go beyond such information, these are based on archival research which I have noted in the text. 13 On the role of Trieste for elite Serbs in the Enlightenment period, see Dejan Medaković/Ðordje Milosević/Dimitrije Manolev, Chronik der Serben in Triest, Belgrade 1987. On Greek Trieste see Olga Katsiarde-Hering, La presenza dei Greci a Trieste tra economia e società (metà sec. XVIII–fine sec. XIX) Trieste 2001; Olga Κατσιαρδή-Hering, Η Ελλενηκή παροικία της Τεργέστης (1751–1830), Βιβλιοθηκή Σοφίασ Η. Σαριπόλου, Αθήνα 1986.

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with distance. Archival evidence suggests that the distance factor made a difference for seasonal migrants to Vienna, as we have sources about unqualified workers from Carniola and Western Croatian counties, but we usually find only elite migrants from the more distant regions in Vienna. We can assume that the northernmost of these regions took part in a seasonal migration system to Vienna, while others participated in different systems (and of course all were stops on several short distance intraregional migration routes). For example, many South-Slavs from Dalmatia went to North America as short-term migrants before 1900.14 Vice versa, we find unskilled Istrians who were expelled from Dalmatia in correspondences of the Ministry of the Interior. 1.3 (Former) Ottoman Subjects

Migrants, who came from outside the Austro-Hungarian Empire lived under different conditions in Vienna than Habsburg subjects. They had a different legal status, which had many consequences for both their daily lives and the way they were politically and culturally organized (see 3. Political and Cultural Context). While many migrants from South-Slav regions often came from elite backwards or were career migrants, this was even more the case for those from the Ottoman Empire and its successor states, as an acute novelist described retrospectively in 1951: In Vienna, there had always been Bulgarians and Romanians like this, mostly in the surroundings of the University or the Music Academy. One was used to them: their way of speaking, that was gradually becoming streaked with the Austrian, their thick hair whorls over the forehead, their custom to always live in the best residential areas, as all these young gentlemen from Bucharest or Sofia were wealthy or had wealthy fathers […] Ladies in Vienna, who were intending to sublet one or two rooms of their apartment or their villa were searching to this end for a ‘Bulgarian or Romanian student’ and were recommended by these among each other.15

Those migrants that came from predominantly South-Slav regions outside the Habsburg Empire traditionally originated from the Ottoman Empire. Although around 1900 many of them were already citizens of one of the new nation states established during the 19th century, we can still find a considerable amount of Ottoman subjects in Vienna who fit our criteria. These mostly originated from the vilayets (provinces) of Edirne (Adrianople), Üsküb (Skopje), Manastir (Bitola) and, to a lesser degree, Selânik (Salonica). After the Second Balkan War in 1913, 14 Frances Kraljic, Croatian migration to and from the United States, 1900–1914, Palo Alto, Calif., 1978; Šime Balen (ed.), Rodnoj grudi. Iseljenici Jugoslavije svom “starom kraju”, Zagreb 1951. 15 Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, Munich 1951, 9 (translation by Wladimir Fischer).

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all these provinces became part of one or more of the new nation states, Montenegro, Serbia, Greece, Bulgaria, and Albania. This region, also known at the time as Slavo-Macedonia, was the site of fierce fights over the ethnicization of the population, and especially of the Slavic speaking part of it. Therefore it is hard to find the right term for the linguistic practices they brought with them when they migrated.16 It is safe to say that Serbian was the native dialect of a minority there, but the Southeast-Slavic linguistic varieties mostly spoken in the region were still in a process of codification. As the project of the Bulgarian standard language had made much more progress than the Macedonian one (which was only finalized after World War II), it is hardly surprising that many contemporary statistics speak of a large Bulgarian population. Both speakers of Southeast and Southwest Slavic varieties from this region were either Orthodox, Muslim, or Jewish. In the second half of the 19th century, many members of the Orthodox Church were confronted with choosing whether they wanted to switch to a national church – either Serb or Bulgarian – or remain in the Greek-Orthodox Church. If they stayed for a longer time, they had to make this decision for a Viennese branch of these churches as well.17 Serbia had long had close economic ties with the Habsburg Empire. But while the states had been allies before the period under consideration, the political relations between Serbia and the Habsburg Empire became strained around 1900. This tension escalated to the point that the Habsburg Empire imposed a customs blockade on Serbia from 1906 to 1909, known as the “pig war”. There was a small Serbian trade colony in Vienna, and Serbian citizens were now in the uncomfortable position of being closely monitored by the authorities. This was also true for Montenegrins. The political upheavals in both countries added to the suspiciousness of the Austrian police who even arrested one man for twice plotting to assassinate Tsar Nicholas I.18 Montenegro was not equally dependent on trade with the Austro-Hungarian Empire since it was not as directly connected as Serbia was through trade along the Danube, where regular boat lines serviced the most important cities. The Viennese migrants from Serbia included elite migrants and professionals, among them students, especially at the faculties of medicine and pharmacology. Habsburg Serbs were clearly more numerous in Vienna than citizens of Serbia. 16 For an overview of the ethnic question in the region, see Fikret Adanir, Die Makedonische Frage, Vol. 20, Frankfurter historische Abhandlungen, Frankfurt am Main 1979; idem, The Macedonians in the Ottoman Empire. 1878–1912, in: Andreas Kappeler/Fikret Adanir/Alan O’Day (eds.), The formation of national elites, Comparative studies on governments and non-dominant ethnic groups in Europe. 1850–1940, 6, Dartmouth – Aldershot 1992, 161–91. 17 On the Vienna situation, see Max Demeter Peyfuss, Balkanorthodoxe Kaufleute in Wien, in: Österreichische Osthefte 17 (1975), 258–68. 18 Sava Jovanović, Landesgericht für Strafsachen, folder 3633/1895, Wiener Stadt- u. Landesarchiv, Vienna.

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Bulgarian migrants had easy access to Vienna via the Danube. Most Bulgarian students came from cities that were connected by boat-line. Students were the most prominent migrant group that came from the new nation state Bulgaria. Like the Serbs, they were mainly enrolled in medicine or pharmacology and became famous through the above quoted novel “Strudlhofstiege”. There were several facilities especially for Bulgarian students, established by the Austrian state in order to gain political foothold on the Balkans.19 The police monitored students and other Bulgarians in Vienna, also merchants, because they suspected them to be potential Macedonian separatists. As Romania did not yet include the Banat region, I do not consider it here. However, Romanian speakers in Vienna were often co-opting with South-Slavic speakers, especially as there were many bilinguals who used both Serbian and Aromanian, a Romanian dialect prevalent throughout the Balkans.20 Such multilingualism and ethnic co-option was typical of the “conquering Balkan orthodox merchants”, as an Annales school writer has termed them.21 Such migrants had had a strong tradition in Vienna as a small but well organized minority since, at the latest, the 18th century. Greek language and cultural practices were the most important ones next to Serbian, for a long time in this milieu until Serbian, Romanian, Bulgarian, Albanian, and Aromanian identity projects gained importance during in the 19th century. These elite migrants were often traders or bankers, like the Dumba and Sina families, both members of the aristocracy with Romanian, Aromanian, Albanian, and Serb links.22 Their dwellings and other facilities were concentrated in the 1st and 2nd districts and included palaces on the Ringstrasse, and they left their traces in Vienna’s architectural, art, and music history. Some families that were also important in Balkan history were represented in the Viennese Greek-Orthodox community. Historians who have only described individual Southeastern European migrant groups

19 Peter Bachmaier, Die Bedeutung Wiens für die Bulgarische studierende Jugend 1878–1918, in: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (eds.), Wegenetz europäischen Geistes, Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, Vienna 1987, 350. 20 It is now developing as a minority standard language. See Thede Kahl, Wandlung von ethnischen Identitätsmustern bei den Aromunen (Vlachen) Bulgariens und ihre Folgen, in: Cay Lienau and Ludwig Steindorff (eds.), Ethnizität, Identität und Nationalität in Südosteuropa, Südosteuropa-Studien, Munich 2000, and Max Demeter Peyfuss, Die Aromunische Frage. Ihre Entwicklung von den Ursprüngen bis zum Frieden von Bukarest (1913) und die Haltung Österreich-Ungarns, Vienna – Graz 1974. 21 Traian Stoianovich, The conquering Balkan orthodox merchant, in: The Journal of Economic History 20, no. 2, 1960, 234–313. Stoianovich was member of the so-called second generation of this famed mid-20th-century school of historical writing in France. See Traian Stoianovich, French Historical Method. The Annales Paradigm, (Ithaca; London 1976). 22 Cf. Peyfuss, Balkanorthodoxe Kaufleute in Wien.

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have overlooked the fact that socio-cultural connections were not necessarily being sustained between migrants of the same native language. As the last examples have shown, often it were rather social and confessional links that held migrants together in one project or network, or the links were regional as in Dalmatian Croat catholic students organizing separately from those from Croatia, but also dependent on state boundaries (Ottoman Orthodox vs. Austrian Orthodox). All these are legitimate reasons to be careful about grouping and to give preference to the description of grouping itself. All the named linguistic and confessional belongings are to be understood as potential belongings. They need not be the terms the migrants in question utilized in Vienna to connect to an identity project or other kind of network. The above overview only allows us to estimate which groups could have been organized in Vienna around 1900. It is thus what enables us to look at the actual grouping processes that took part in order to establish the very subject of this chapter. The history of South-Slavic speaking migrants and of migrants from Southeastern Europe in Vienna before World War II has not been the object of a large number of studies. This is understandable, as their numbers were not especially high. Most of the existing literature can be described as traditional historiography that remains within narrow ethno-national or religious confines. The most extensive publication on a single ethnic group is Dejan Medaković’s book on the Serbs.23 It is written in a tradition of ethno-national impression management.24 Considerably smaller in scope but similar in typology is the literature on Croats and Slovenes.25 All ethnic groups received a short treatment in the catalogue of the exhibition Wir in 1996.26 Generally, 23 Dejan Medaković, Srbi u Becu, Novi Sad 1998); there is a German translation: idem, Serben in Wien, Novi Sad 2001. 24 Impression management is a term that describes how social actors try to project a desired image of themselves towards an audience and to control that impression. Erving Goffman, The presentation of self in everyday life, University of Edinburgh. Social Sciences Research Centre Monograph, Edinburgh 1956. It has also been applied to collective identity projects, for instance in Stanford M. Lyman/ William A. Douglass, Ethnicity: Strategies of Collective and Individual Impression Management, in: Social Research 40, no. 2, 1973, 344–65. Scholarly work that is acting in such a way usually highlights the positive, notable and extraordinary traits in a subject, in this case the own ethno-national identity project. 25 Drago Medved, Slowenisches Wien, Klagenfurt/Celovec – Vienna 1995; Josip Sersic, Kroaten in Wien, in: Wir: zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. Ausstellung 19. September bis 29. Dezember 1996, Peter Eppel (ed.), Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Vienna 1996, 217; Auf den Spuren der Kroaten in Österreich: Katalog zur Ausstellung 1996/97. Tragovima Hrvata u Austriji, Vienna 1996. 26 Wir: zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien, paper presented at the Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 19. September bis 29. Dezember 1996, Vienna 1996.

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these publications are based on the assumption of the pre-existence of the described groups and do not critically investigate grouping processes (see below). The most recent and comprehensive study was authored by Wolfgang Rohrbach and is again on Serbs in Vienna, with a socio-historical perspective.27 There is more literature on special topics of migration from Southeastern Europe, especially concerning the Orthodox Church communities (the Greek and Serbian one), and students from the region, including Bulgarians, Croats, and Slovenes.28 Students and their views are also to be found in an important collection of migrant literary engagement with the city of Vienna. These include such illustrious names as Mihai Eminescu, Eugen Kumičić, Milutin Cihler-Nehajev, Teodor Trajanov, and Ivan Cankar.29 It seems that literary scholars have so far given more attention to the diversity of perspectives among non-German migrants to the Austro-Hungarian capital than have historians. The lucky exception seems to be an entry on Croat and Slovene labor migrants in Austria in the long 19th century by Sylvia Hahn.30

27 Wolfgang Rohrbach, Na tragu Srba u Beču, 1 ed., Beograd 2005. 28 On the churches, see Miloš Stanković et al.(eds.), Crkvena opština svetog Save u Beču 1860–2010, Vienna – Beograd 2010. On students, see Heinz Kasparovsky, Ausländer an österreichischen Hochschulen, in: Walter Aichinger (ed.), Fremd in Österreich, Schriftenreihe des Instituts für Politische Grundlagenforschung, Linz 1997; Waltraud Heindl, Ausländische Studentinnen an der Universität Wien vor dem Ersten Weltkrieg. Zum Problem der studentischen Migrationen in Europa, in: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (eds.), Wegenetz europäischen Geistes 2. Universitäten und Studenten. Die Bedeutung studentischer Migrationen in Mittel- und Südosteuropa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (eds.), Wegenetz Europäischen Geistes 2 / Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 12 (Vienna: Verlag für Geschichte und Politik, 1987); Teodora Shek Brnardić, Kroatische Studenten in der Großstadt: Kulturaustausch durch das Studium in Wien im ‘langen’ 19. Jahrhundert, in: Südostdeutsches Archiv 2001–2002([2003]); Wolfgang Petritsch, Die slovenischen Studenten an der Universität Wien (1848–1890), Vienna 1972; Virginia Paskaleva, Bulgarische Studenten und Schüler in Mitteleuropa in den vierziger bis siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (eds.), Wegenetz europäischen Geistes (as above); Bachmaier, Die Bedeutung Wiens für die Bulgarische studierende Jugend 1878–1918; B. B. Pavlović, Studentski rad bečkog medicinara Jovana Andrejevića – prilog anatomiji i histologiji, Srpski arhiv za celokupno lekarstvo 124, no. 11–12 (1996). 29 A fine collection of essays on these authors is Gertraud Marinelli-König, Wien als Magnet? Schriftsteller aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa über die Stadt, Vienna 1996. 30 Sylvia Hahn, Kroatische und slowenische Arbeitswanderer in Österreich im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Klaus J. Bade et al. (eds.), Enzyklopädie Migration in Europa, Paderborn – Vienna 2007.

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2. Numbers?

It is a precarious enterprise to use census data for the description of ethnic belongings or linguistic practices in general and especially in the past. But with a little effort, it is possible to gain a fairly good idea of how many speakers of South-Slavic languages were present in Vienna around 1900. Even more detail is possible. The Austrian census takers did not only record the place of Zuständigkeit, which was more or less equivalent to where one had the Heimatrecht (domicile), but from 1890 onwards also the birthplace, the confession as well as since 1880 the so-called colloquial language (Umgangssprache). When we look at the birthplaces of people counted in Vienna and connect this information to the percentages of languages spoken in the places of birth we can make assumptions on the numbers of persons who came from predominantly South-Slavic speaking regions of Austria. A careful approach is nevertheless necessary, because the fact that people born in Hungary were treated as foreigners leaves us with a great empty space: in the case of migrants from Hungary in Vienna, we do not even know the county of birth or Zuständigkeit. Because the potential area from where the respondents originated is so vast and the Hungarian counties comprise so many with negligible amounts of South-Slavic speakers, the numbers on migrants from Hungary in the Austrian census do not say much about South-Slavs.31 Furthermore and importantly, the Austrian and the Hungarian censuses do not tell us how many persons from a specific region were present in Vienna over the time period since the last census (that is in the ten years before). What the census rather does is report which non-military persons were counted in houses and apartments in Vienna who were present on a specific day during counting time in winter in specific years in decennial intervals. There are several problems with this fact. Firstly, population movements that lasted periods shorter than ten years were likely not recorded. Secondly, especially short-term and seasonal migration is not visible in the census. And thirdly, all this is aggravated by the time of counting in winter: this was exactly the period of time when seasonal migrants were back home. The census is thus an incomplete representation of population movements, and it is focused on settlement rather than migration. Nevertheless, it has the advantage that it recorded persons born in communities other than Vienna or with a Heimatrecht (domicile) in another community. This means 31 There is the possibility to go back to the original census sheets. Unfortunately, except for the 1850 and 1880 censuses, all original records have been destroyed, and the surviving material only comprise the records of some districts (Gumpendorf 1827, Sechshaus 1850, Schottenfeld 1857 and Hernals and Perchtoldsdorf 1880), the latter two of which cannot be counted as Vienna at that time. This information is from the “Family Data Base”, available at http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/famdat/index-gr.html (accessed 5 December 2015). On the records and how they were used for the Familiendatenbank, see http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/famdat/ index-gr.html (accessed 16 January 2016).

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that we know the birthplaces of people present in Vienna during winter in 1880, 1890, 1900, and 1910. This gives us at least a good impression of the approximate relative size of migrant populations in winter and the places they came from. In the late 19th century, Vienna was the second most important destination for migrants from the “Slovene provinces”. In 1880, 4,178 persons who had been born in Carniola, were counted as residents in Vienna and for all “Slovene” counties it was 14,671, that is 1 percent of the Viennese population, including 754 persons from Gorizia and 625 from Istria. It is possible that the bias resulted from incompatibilities within the statistics.32 1,112 persons were counted in Vienna in 1910 who were born in Dalmatia. In the districts of Dalmatia the proportion of declared speakers of Serbo-Croat ranged between 80 and 99.7 percent. Of the 1,112 Dalmatians in Vienna, 99 came from districts with a proportion of Orthodox Church members between 53 and 61 percent (Benkovac, Cattaro/Kotor, Knin). Thus, most Dalmatians counted in Vienna were most probably Croats. Unfortunately, also the Hungarian census does not tell us much about migrants in Vienna, because the numbers about Hungarians abroad are obviously flawed. For instance, the Hungarian 1910 census only counted 184 persons from Croatian-Hungarian counties in all of Austria.33 This cannot be correct, as the Austrian census of 1910 recorded 23,739 of them (4,762 in Vienna).34 From other research we know however that there must have been migrants from predominantly South-Slavic speaking Hungarian districts in Vienna. The only thing we can do is construct a “crutch” in order to get an impression of the numbers in which migrants from Hungarian counties could have flocked in Vienna. Fortunately, the Austrian census did single out migrants from Croatia, which allows us to estimate their numbers better, if we assume that the percentage of Serbo-Croatian speakers from Hungarian Croatia in Vienna was the same as in Hungarian Croatia. The construction about the other Hungarian counties is more hypothetical then, but we can calculate two models, to get a better picture: firstly we can construct a model in which we assume that among immigrants from the Hungarian counties the percentage of Serbo-Croat speakers and Orthodox persons was the same in Vienna as in Hungary (on the basis of the numbers of Hungarians in Vienna); secondly, that among immigrants from the Hungarian counties the percentage of Serbo-Croat speakers and Orthodox persons was the same in Vienna as from Dalmatia (based on the number of Dalmatians 32 Valenčič himself formulated the same caveat as I did above that these counties were far from monoethnic (if such a thing exists at all). Especially in the case of Carinthia this again causes a bias, as in some census years, Valenčič had to count the entire county although it is clear that Slovenes were a minority at that time (1880). Vlado Valenčič, Iseljavanje Slovencev v druge dežele Habsburške Monarhije, in: Zgodovinski časopis 44, no. 1 (1990). The essay has a useful German abstract. 33 A magyar szent korona országainak 1910. évi népszámlálása, Budapest 1914. 34 K.k. statistische Central-Commission, ed. Österreichische Statistik. N.F. 1. Vienna, 1912.

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in Vienna). In the latter model we can expect the result to be lower, because the Dalmatian regions are more remote from Vienna than Hungarian ones and had fewer opportunities of transportation. The overall count of migrants from predominantly South-Slavic speaking regions that comes out is higher than has so far been estimated, and ranges, depending on which model we are using, between 1.5 and 1.9 percent of the Viennese population as opposed to 1 percent. In absolute numbers, the differences are quite significant albeit in relative terms, since we are speaking about only several thousands of individuals. If we add at least 5,000 Serbo-Croatian speakers enrolled in the military, the number is even higher. Most importantly, because of the new historical evidence and documentation, it is now possible to answer the question of how many migrants from predominantly South-Slavic speaking regions lived in Vienna with much greater certainty. To summarize the question of counting migrants from South-Slav regions, it can be said that Slovenian speakers are the only potential group or ethnicity we can make a well-grounded estimation about in numerical terms, because they are the only ones who entirely came only from Austrian lands so that the incompatibility with the Hungarian census is not relevant. In 1869, the census counted 17,780 persons with a Heimatberechtigung in one of the predominantly Slovene speaking areas in Lower Austria and in 1880 it was 31,573. In 1890, when the census singled out Vienna as an entity, the count was 23,015 in Lower Austria and 16,654 in Vienna. For the following years it is possible not only to count those with a Heimatberechtigung in but also those born in “Slovenian Slav” regions, and this number is 26,944.35 University students from South-Slavic speaking areas in Vienna 1900 are better documented, yet again, there is no study on the counties of origin of students from Hungary. The numbers available suggest that the migrants under scrutiny here had the highest increase rate during the 19th century of all national student groups and became the largest non-German group: their number rose from 162 to 688 between 1863 and 1902 and thus surpassed the top number of Czechs which had been 687 in 1871 and would drop to 305 in 1902. Thus, South-Slavic speakers represented an important part of the student segment of the Vienna population, and Bulgarian speakers are not even included here, whose numbers have been estimated to have amounted to one thousand between 1878 and 1918.36 35 The fact that this number is lower hints to the explanation of the decrease from 1880 to 1890 which is most probably due to a new law that now in 1900 allowed Austrian immigrants to acquire a Heimatberechtigung in Lower Austria. 36 Ernst Pliwa, Österreichs Universitäten 1863/4–1902/3. Statistisch-graphische Studie nach amtlichen Quellen, Vienna 1908, 24f. and tables 70–77. For the number of Bulgarian students, see: Bachmaier, Die Bedeutung Wiens für die Bulgarische studierende Jugend 1878–1918. The number is, as Bachmaier points out, a mere estimation, and he included “all higher educational institutions” in it (345f.).

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Conversely, students seem to have been a relatively large part of the numbers of South-Slavic speakers in Vienna, with around 3.5 percent of the migrants from Carniola and Croatia having been enrolled in a university. Migrants from Serbia in Vienna had an eight percent student ratio.37 When we look at the entire Habsburg Empire, an estimated two third of all Slovene students studied in Vienna (especially Carniolans).38 The same was true for students from Hungary, for a shorter or longer period of study, however their number dropped dramatically in the late 19th century.39 Most migrants from predominantly South-Slavic speaking regions of the Austro-Hungarian Empire in Vienna were Slovenes from Styria, Carinthia, and Carniola. Many of them were students, especially the Serbs. All in all they amounted to about 23,800 civilians in Vienna. Around 10,300 can be expected to have come from Carniola, Styria, and Carinthia, 820 from Dalmatia, 4,200 from Croatia in Hungary, between 14,000 and 16,000 from mostly Serb speaking Hungarian counties, 550 from Bosnia-Herzegovina. When we add soldiers from Serbo-Croatian speaking counties in the army barracks, there were additionally around 1,000 from Bosnia and ca. 3,000 from Bjelovar (see below, IV. Networks). This would make roughly 34,000 to 36,000 speakers of Southwest-Slavic languages from Austria-Hungary in Vienna around 1900. When we add foreigners, the number nears 38,000. The 819 citizens of Serbia and Montenegro who were counted in Vienna in 1910 were most probably Serbo-Croatian speakers. We can make no informed assumptions about the 1,200 foreigners counted who came from “European Turkey”, i.e. the provinces of the Ottoman Empire in Europe, most importantly Sanjak and Edirne and what is now known as Kosovo and Macedonia. But as these included territories that are known to have been inhabited by speakers of Southwestern Slavic dialects too, we can be sure that these regions sent enough Southwest-Slavic speakers to talk about at least 36,000 speakers either of Slovenian or Serbo-Croatian in Vienna around 1900 from within and without the Monarchy. The number of South-Slavic speakers in general, i.e. of both Western and Eastern South Slavic dialects, must have been slightly higher as there were 401 Bulgarians counted in Vienna in 1910 and more speakers of similar varieties must have been around those 1,200 from European Turkey and those from Romania (1,313) and Greece (153). When we add the seasonal migrants who were present in summer, we can say that there were over 36,000 speakers of Slovenian and Serbo-Croation present in Vienna on a temporal or more permanent basis, plus several hundred to thousand speakers of Bulgarian and or Macedonian. 37 These relations are based on: Pliwa, Österreichs Universitäten 1863/4–1902/3; K. k. statistische Central-Commission, 1912; Valenčič, Iseljavanje Slovencev v druge dežele Habsburške Monarhije. 38 Vasilj Melik and Peter Vodopivec, Die slowenische Intelligenz und die österreichischen Hochschulen, in: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (eds.), Wegenetz europäischen Geistes, 143. 39 László Szögi, Magyarországi diákok bécsi egyetemeken és akadémiákon: 1849–1867, László Szögi and József Mihály Kiss (eds.), Magyarországi diákok egyetemjárása az újkorban, Budapest 2003, 494.

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3. Political and Cultural Context

These numbers were not unsubstantial. But did they lead to forms of organization or even the formation of a collective political subject in Vienna on the grounds of linguistic commonalities? Certainly, the political and cultural context is important to understand not only which migrant potential there was for such subjectivation but also in which boundaries and contexts these migrants were operating. There are two areas of policy and jurisdiction that are especially important to a migrant. These are the area of the control of movement and residence and the area of citizenship in a broad meaning beyond the mere access to citizen’s rights but including access to resources at a medium level, such as professional organizations, guilds, and public institutions. The modes of belonging in the latter have not yet received comprehensive examination as far as Vienna is concerned, while the control of movement and residence has received some attention in the past years. Generally, the movement of migrants inside the Habsburg Empire was free since the reforms put into force between 1857 and 1867 and thus the South-Slavic migrants who were from an Austrian or Hungarian territory enjoyed the same freedoms as any other Austro-Hungarian citizen. Since 1867 though, new restrictions were tied to the reformed Heimatrecht, which concerned issues of communal welfare. Every citizen was entitled to welfare in his or her home community, so if a person was in need he or she was expected to return to that community, even if born elsewhere. Thus, a Viennese born person could be sent to Cilli/Celje, for instance, if the father had his Heimatberechtigung there. It has been estimated that this happened to five thousand persons per year in Vienna around 1900, which is however a relatively low number in light of the numbers of internal migrants.40 These definitions of belonging were especially consequential for women because they would acquire the husband’s Heimat through marriage. However, due to the introduction in 1901 of a new version of this law that stated new inhabitants were entitled to claim Heimat after ten years of residence and because many South-Slavs in Vienna were either elite or career migrants and were thus either exempt from the legislation because of their status as civil servants, or were unlikely to become needy of support, the Heimatrecht seems to have been less important in this case.41 The aspect of citizenship was more relevant for South-Slav migrants. As far as is known from existing scholarship, internal migrants in the Habsburg Empire had as many – or as few – political rights as non-migrants (voting was done in the home district of course). They would however meet more obstacles once they attempted to claim access to informal networks and/or professional organizations and public institutions, which is a topic which requires further research. 40 Annemarie Steidl and Engelbert Stockhammer, Coming and Leaving. Internal Mobility in Late Imperial Austria, Vienna University of Economics Working Paper Series 107, no. August 2007, 3. 41 On the meaning of Heimatrecht for internal migrants, and its transformations, see Hahn, “Fremd im eigenen Land”, especially 31f. on the new law of 1901.

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The ethno-linguistic and confessional contexts in Southeastern Europe are known to have been and still to be especially complex. The areas controlled by the Dual Monarchy at the time included large parts that had been under Ottoman rule until the 18th century, such as Slavonia. Some of these spaces had entered the Habsburg sphere very recently, like Bosnia-Herzegovina. These areas of the Empire contained populations that adhered to diverse cultural practices, such as languages of the South-Slavic, Eastern Romance, and Indo-Iranian branches and Albanian and Greek, as well as Eastern Orthodox and Muslim religious denominations. And they were able in theory and practice, to move to Vienna and bring their cultural practices with them. These contexts were of specific importance as frameworks for decisions of networking and belonging in Vienna. That is, on one hand, ethnic and confessional clustering was to be expected in the imperial capital. On the other hand, the state was trying to provide politics of recognition for most of these identities (except the Roma ones), and for the respective territorial elites. In Vienna, the result was that small political and community projects, involving churches, newspapers, associations, artists, entrepreneurs, or political dignitaries, were trying to represent South-Eastern European identity projects (see below). The turn of the century was a period of conflicting confessional, ethno-linguistic or national, social, and political identity projects. Some of these were traditional, some new. Traditional projects included Orthodox, Catholic, and regional belongings. Relatively new were national and supra-national identity projects, such as the Slovene, Croat, Serb, Yugoslav, and the Austro-Hungarian projects. Migrants who spoke South-Slavic languages in Vienna at the time, especially students, were potentially followers of the relatively recent Yugoslav or SouthSlav movement. It invited individuals who had formerly been considered members of different other identity projects. These had been more or less distanced from each other. Thus, Croats and Slovenes were of the same Catholic affiliation but organized in different church units that had in the course of the 19th century been involved in the nationalization, first of the elites and subsequently also the broader population. Serbs were members of the Orthodox-Oriental Church in Austria, unless they were from the Ottoman Empire or the young Serbian state, where they were members of the Serbian-Orthodox Church. They were thus a small minority in the Empire in religious terms. Their affiliation made them candidates for Serb nationalist projects. The Serb and Croat ethno-national projects were conflicting in several terms, inter alia in aspirations on the territory of Bosnia and Herzegovina. The dominant political tendencies however, cannot be reduced to Croats on one side and Serbs on the other. After the Napoleonic Wars in Croatia and Dalmatia, the Illyrian movement envisioned overarching South-Slav co-operation. During the revolution of 1848, liberal revolutionary elements in both Southern Hungary and Croatia had supported the Hungarian and Viennese revolutionaries. However, it turned out that the dominant political tendency was a conserv-

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ative one that supported the emperor, also with military means, and was directed against Hungarian domination. Contrary to that, after the revolution, the Serb liberals started a long-standing and successful co-operation with their Hungarian political counterparts against the government of the aristocracy in the Hungarian capital. In Croatia, Croat aristocrats, the so-called magyarones, joined forces with the Hungarian aristocracy’s party of all things, while the Party of the Right followed an expansionist greater Croat course. The development and enlargement of the Serbian state, however much it was an ally of Austria-Hungary, created various political effects. For one, the Serbian identity projects in the Monarchy profited from the factuality of the new nation state, as it demonstrated that national sovereignty was possible. Especially in the early 20th century, there was a rapprochement of Croat and Serb political organizations known as the koalicija. Such activities, as well as the new Yugoslavist project, were closely monitored by Austrian police authorities as they were believed to endanger the political setup of the Dual Monarchy. The activities and discourses of identity managers must not however be confused with the every-day practices at that time. There were numerous fields where the religious or ethno-linguistic affiliation was not the prime criterion of interaction or association. This seems to have been especially true in regions where several South-Slavic speaking communities lived in close contact such as Dalmatia, Southern Hungary, Bosnia-Herzegovina, and the common borders of Carniola and Croatia. Such practices, like interethnic or trans-denominational marriage can also be seen in migrant communities in Vienna or overseas. It even seems (at least in the SouthSlav case) that in the fin-de-siècle period, discourses were so very loaded with nationalist topics precisely because the everyday was not (yet) primarily organized along ethno-linguistic lines. 4. Networks

Elite and career migrants were relatively numerous among the migrants from South-Slavic speaking areas. Of course, there were Croatian-speaking labor migrants from closer regions such as Croatian workers from present day Burgenland who found work particularly in the periphery of Vienna.42 There are traces in the archives that also suggest that seasonal labor migrants came from other Croatian and Slovene speaking regions to Vienna. However, this population remains little known.43 But as the entire number of migrants in question was quite small and the

42 Idem, Kroatische und slowenische Arbeitswanderer. 43 Arbeitsbuchprotokoll 1891 Bd. I. Konskriptionsamt III. Bezirk. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien; Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Transkulturelle Perspektiven, Göttingen 2008.

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educational migration was so strong, we can expect this element to be relatively dominant. Furthermore, we can assume that the labor element among migrants will decrease with the distance of their origin from Vienna. The statistics seem to confirm this expectation. Members of the Orthodox Oriental Church who were in their majority from Southern Hungary, were usually not registered as workers or servants but as merchants, craftsmen, or higher civil servants and students.44 More than two thirds of migrants from Bosnia-Herzegovina in Vienna were self-employed according to the 1910 census (while it was nearly the opposite with those from Hungary). Migrants from Balkan states also had a high self-employment rate of 49 percent.45 This corresponds with the results “qualitative” archival research has yielded, although there is a bias that is converse to statistical data. Archival material is much richer in detail about migrants from Hungary because the Orthodox Oriental Church, Saint Sava, was a place where mostly Serbs from Hungary concentrated. This material and some other sources reveal a broad spectrum of migrants and allow us to reconstruct some of the networks they developed in Vienna and beyond. There were many different modes of living in Vienna, various ways of connecting inside the city and across its limits, reaching from very short-term arrangements to permanent settlement, from more self-determined migration to movements induced by state structures, such as military and administrative personnel and prisoners. There had for a long time been South-Slavic speaking civil servants in Vienna. They were both ordinary Beamte (“civil servants”) and also high officials even of the Austrian government. Humbler servants of the state usually came from the Austrian lands, not from Hungary, with the exception of those who served in joint Austro-Hungarian institutions like Josef Krajtsir vulgo Benkovits, who was employee of the k. k. Generaldion. der Tabakregie, the royal-imperial tobacco monopoly. And there were those who were not Beamte and still worked for Austrian institutions like Amtsdiener (usher) Konrad Ferlinz from Lokoc, Croatia.46 The Mail Service was an important employer of the migrants under scrutiny here, as it was for Anton Hrušovar, kk. Post. Packmeister I. St II. Cl. from Cerovec, Lower Carniola, and many others including mailmen especially from Styria and Carniola, but also from Croatia, such as Mathias Krašna (Dupljah), Peter Perković (Split/Spalato, Dalmatia), Johann Majce (Krasce, Carniola), Ignaz Lesjak, Andreas Verhonig (Podwölling/Podvela, Southern Carinthia). Railways also had employees like Paul Gruić, who was second generation in Vienna 44 Geburts- und Taufmatriken. Matriken-Zweitschriften der Kirche des Hl. Sava. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien. 45 See the table “Berufstätige in Wien, 1910” in: Bureau der k. k. statistischen Zentralkommission, Die Ausländer in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, Vol. 2, Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, Vienna 1913, 46–61. 46 Geburts- und Taufmatriken.

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both as a migrant and as railway man, or Georg Pevac, engineer with the k. k. Südbahn. The Austro-Hungarian state recruited officials from all regions of the empire for its ministries as well, like Sofie Moissi from Trieste, who was Kalkulantin im kk. Handelsministerium in 1906.47 Many migrants from South-Slavic speaking regions worked as accountants for the state in Vienna, like Rechnungsofficial (Bogumil) Gottlieb Koser from Maribor/Marburg. Policemen were also recruited in Styria and Carniola, like Anton Urankar from Gabrovnica, Carniola, or Johann Nič from Markt Gonobiz, Styria. During the 19th century, South-Slav officials and politicians had mainly oriented towards Vienna (or Pest), like for example Hofrat (privy councilor) Georgije Stojaković (1810–1863). In the late 19th century, they also often transcended the state boundaries, such as Southern Hungarian Serb politician Milovan Milovanović (1863–1912), who is most renowned for his role as a foreign politician in several governments in Belgrade, but also for his time in Vienna as an exilé in 1897–99 in which time he formed a family.48 After 1871, Bosnia-Herzegovina brought high officials from the region to Vienna, like Dr. Theodor P. Zurunić, who was Regierungs-Secretär im kuk gem Ministerium für Angelegenheiten Bosniens und Hercegovina. When we think about Southeastern European merchants and industrialists in Vienna, the first that come to mind are the Balkan Orthodox tradesmen and bankers who have left visible traces in Vienna’s first and second districts and whose vaults and warehouses were concentrated in the Fleischmarkt district near the customs and transport facilities. Although these were traditionally predominantly identified with Greek identity projects, South-Slavic speakers played an important role here. Most prominent perhaps was the Demelić family from Orșova/Oršava on the Romanian border. They were merchants and aristocrats and lived in Vienna for several generations. A similar case was the Darvar family from Zemun at the Serbian border. They also owned a manor in Vienna. But there were lower profile bourgeois as well. The Ostoits and von Baich families are good examples of this milieu. The first was engaged in pig trading and the second specialized in the fabrication of paper and related products as well as in the book market. Like the Demelić, they had lived in Vienna for several generations, had contacts and relatives in other European cities and in the Serb speaking regions, and they were closely interlinked with each other and other similar families in Vienna.49 However, these elites had obviously not enough collective impact to achieve a 47 Ibid. 29/1900; Pass- und Heimatschein-Protokolle 1892–1899 folder B 73/1. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Vienna, 408/1897, 812/1897. Pass- und Heimatschein-Protokolle 1903–1906 folder B 73/3. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Vienna, 644/1904, 428/1900, 104/1902, 408/1900, Passund Heimatschein-Protokolle 1903–1906 folder B 73/4. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Vienna, 839/1906. Sterbematriken. Matriken-Zweitschriften der Kirche des Hl. Sava. Vienna: Wiener Stadtund Landesarchiv. 16/1894. 48 His wife Marija gave birth to two sons in Vienna. Geburts- und Taufmatriken. 49 Ibid.

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larger project like the building of the Sava church in 1893 without a large amount of outside support, as the list of donors reveals.50 Less famous than these so-called “Greek merchants” but nevertheless important were entrepreneurs and bankers from predominantly South-Slavic speaking regions who were of the Catholic and Jewish denomination. It seems that SouthSlavs received less attention here, because they appeared, in comparison to the large number of these groups, relatively unimportant, while Serbian tradesmen and women would be perceived as typical representatives of the Fleischmarkt milieu. As discussed, students made up a large part of the South-Slavic speaking migrant population in Vienna. The fields most popular were medicine, including pharmacology, and law. While the relative numbers of declared non-German speaking students in Vienna were decreasing between 1860 and 1900, those of the Slovene and Serbo-Croat speakers were on the rise.51 It would be most apt to characterize these migrants as mid-term career migrants, as there are many biographies of Slovenes, Croats, and Serbs who studied in Vienna, at least for some years, and returned to their region of origin to assume an office or become a cultural worker. The Croat Biographical Lexicon is full of such examples, for instance Ilija Abjanić, a nationalist politician who studied medicine in Vienna from 1888 to 1892, but later worked as a doctor in Croatia.52 The predominant background of Slovene students in Vienna was rural, which suggests that the move to Vienna, at least temporarily, meant a career move in many cases.53 In the cases of students from Bulgaria and Serbia it rather seems to have been elite members who were looking for a prestigious place to study in the neighboring country, as was probably the case with law student Nikolas Germani from Belgrade, who lived in the first district and was a nephew of the already mentioned minister in the Serbian government, Milovan Milovanović.54 If we look at the entirety of our student sample though, such cases were the minority. The fact that the various South-Slav student associations were to a large extent sup50 Mihailo St. Popović, The Golden Book of the Serbian Orthodox Parish in Vienna (c. 1860–1892), Περί Iστoρίας 4 (2003). 51 Gary Cohen, Die Studenten der Universität Wien von 1860 bis 1900. Ein soziales und geographisches Profil, in: Richard Georg Plaschka/Karlheinz Mack (eds.), Wegenetz europäischen Geistes 2, 296; Pliwa, Österreichs Universitäten 1863/4–1902/3, 24f. and tables 70–77. 52 Hrvatski biografski leksikon, Vol. 1, Zagreb 1983, 3f. 53 Melik and Vodopivec, Die slowenische Intelligenz und die österreichischen Hochschulen, 144. Gary Cohen notes that non-German nationality students in general were from humble backgrounds and the Slovenes were striving for social advancement: Cohen, Die Studenten der Universität Wien von 1860 bis 1900, 291, 296. 54 Geburts- und Taufmatriken. Milovanović was in a sort of exile in Vienna in 1898 when his first child was born here. Milovan Milovanović, in: Enciklopedija Jugoslavije (Zagreb: Leksikografski zavod SFRJ, 1962).

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port organizations shows that a precarious status was at least nothing unusual among SouthSlav students. We also know that some students frequently changed their accommodation, like medical student Stefan Živković who, from 1894 to 1897, was registered at at least three different addresses.55 Student life is somewhat easier to describe than the daily life of other migrants. Curiously, although many South-Slav writers had studied in the Austrian capital, there are hardly any literary descriptions of South-Slav student life in the city, and in Croatian literature Vienna barely leaves an impression as a venue of literary plots.56 In Slovene literary writing, Ivan Cankar is famous for his depressing descriptions of bohemian life and alienated individuals in Ottakring. Cankar himself had studied in Vienna and led a life like his fictitious heroes.57 But there are sources that allow for glimpses at individual students. We can find several migrant students in the sources who committed suicide, like medical student Bogdan Musulin (1870– 1895) from Karlovac/Karlstad, Croatia, who shot himself.58 Yet, there was not only alienation but also academic career – and assimilation. The material seems to confirm the assumption that not all South-Slav students returned to their homeland, as in the case of Georg Stojanovits, pharmacy apprentice from Timișoară/ Temesvár in Banat or pharmacist Nikolaus Poljak, while examples like Dr. der gesamten Heilkunde Dimitrije Manojlović are harder to find. In jurisprudence we meet the intern Eugenius Cučkovič from Trieste, the lawyer candidate Dr. Gustav Ritter von Peteani from Vienna, and Dr Žarko Miladinović, advocate from Ruma, Slavonia. Finally, although they came from linguistically different regions, some also worked as teachers in Vienna, a career path also accessible for women, such as Helena Trdenić from Selišče (probably Croatia), Danica Grodčanin, a teacher of second grade, or Markus Smaič, teacher at the k. k. school for the leather industries from Bakar/Buccari.59 Josef Stefan (1835–1893) from St. Peter near Klagenfurt became a well-known physicist and left the Slovene ethnic identity project in the course of his career. He was harshly criticized for this even at the occasion of his death. This text shows both how particular discourse could be about the German-ness of Vienna, and how threatening ethnic assimilation was portrayed:

55 Geburts- und Taufmatriken. 56 Aleksandar Flaker, Das Stadtbild Wiens in der kroatischen Literatur (19. und 20. Jahrhundert), in: Gertraud Marinelli-König (ed.), Wien als Magnet? Schriftsteller aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa über die Stadt, Vienna 1996, 437. 57 Cf. France Bernik, Ivan Cankar in Wien, in: Andreas Brandtner (ed.), Zur Geschichte der österreichisch-slowenischen Literaturbeziehungen, Vienna 1998. 58 Geburts- und Taufmatriken. 59 All above cited cases were retrieved from Arbeitsbuchprotokoll 1891; Geburts- und Taufmatriken; Pass- und Heimatschein-Protokolle 1903–1906.

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In his youth, the deceased Dr. Stefan was an enthusiastically national oriented Slovene, but after he had settled into the way of life at the alien German University, he gradually transformed into a cosmopolitan scholar, especially because he did not know nor did he understand our national issues. As a physicist, the deceased was famous in the entire world […] May the alien earth be light upon him.60

But there are also plenty of cases of well-connected South-Slavic speaking students who remained in their ethnic networks, like the already mentioned Stefan Živković, who was godfather of at least five converts to Eastern Orthodoxy.61 Others again, married “Germans” without leaving their ethnic identity projects, like Radomir Nešić, student of agriculture who married Pauline Karoline Schneider in the Sava church in 1896 and had two sons with her.62 South-Slav students in Vienna were usually short-term migrants with a return plan, and sometimes well connected in student or community networks during their stay but often also needy and without orientation. Serb and Bulgarian students were better off. Those who stayed sometimes opted for assimilation. Apart from the “Greek merchants” described above, there are some other stereotypes about South-Slavic speaking migrants’ professions in Vienna. They have been associated with several occupations that, although they might well have been typical for a certain number of them, seem a bit clichéd: the Croat market-women, the Slovene chestnut roasters, and the Bulgarian gardeners. It is probable that such more visible professions left deeper traces on the collective memory in Vienna than others. In any case, there has not been thorough research into these occupational fields. What seems to be not just a stereotype but outright fiction is the South-Slavic or Magyar speaking prostitute, who frequently appears in literature, but did not do so in reality. Women involved in this métier mostly came from Lower Austria.63 Which facts can be learned about the occupational outlook of migrants from predominantly South-Slavic speaking regions in Vienna? As some examples from the many professionals and artisans we can find in the archives show, the diversity was quite large. Of course, 60 Drago Medved, Slowenisches Wien, Klagenfurt/Vienna 1995, 67. 61 Geburts- und Taufmatriken. 62 Ibid. 63 At least this is true for registered sex workers, according to Schrank. Jacono reports estimations that the actual number of sex workers in Vienna was ten times higher than the number of registrations. However, he also notes that the majority of he prostitutes originated from Vienna and its vicinities and did not reflect the multinationality of the Empire. Josef Schrank, Die Prostitution in Wien in historischer, administrativer und hygienischer Beziehung, Vol. 2: Die Administration und Hygiene der Prostitution in Wien, Vienna 1886. Domenico Jacono, Der Sexmarkt im Wien des Fin de Siècle, in: Kakanien Revisited, 2009, http://www.kakanien.ac.at/beitr/essay/DJacono1.pdf (accessed 5 December 2015).

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there were some ethnic specializations we are able to prove. One of them is a concentration of South-Slavs and their neighbors in the hairdressing business, like Georg Damjanović (1859– 1895), Basil Bošnjak (1843–1894), Demeter Stojanović and Georg Dudić, all from Slavonia, as well as Orestie Unguran and Rada Perits, both from Banat. Many South-Slavic speaking artisans we can find in Vienna were of the humbler sort. We do not find them often however among tailors, the poorest trade. There are cases like Marie Herpfer from Osijek/Esseg, who was a German speaker presumably, and very special ones, like the group of Czechs who had converted to Orthodoxy: they clustered around a group of master tailors and were mostly involved in their business, like Wladimir Man who was aide to Franz Elsnic, master tailor and central figure in the Orthodox Oriental community. At the periphery of the group were also some shoemakers like Josef Havliček Sr. Apart from the hairdressers, the archival material does not suggest clear concentrations in any craft but rather a diversity of trades. Maybe the confectioners and pastry cooks could qualify, such as Milan Ristić, Mladen Markovits, Georg Stojanovits from Vienna, Svetozar Lazarević (1873–1895) from Petrovce, Serbia and journeymen like Milan Dankulović (1870– 1895) from Belgrade. The variety of other crafts includes carpenters like Radivoj Milovanović from Belgrade, a couple of metal craftsmen such as coppersmith Efrem Neschitz (1848–1893) from Likodra in Serbia, Eisendrehergeh. (machinist journeyman) Theodor Petrowič from Belgrade, galvanizer Rudolf Matiasovits from the region of Subotica, locksmith journeyman Anton Hrušovar Jr. from Celje/Cilli in Styria or blacksmith journeyman Ferdinand Lakounig from Wolfsberg in Carinthia. They can also be found in rarer trades like Peter Theofanović in frame trading, Konstantin Eminović (1832–1893) from Pančevo/Pancsova in Hungary, who was in flower production or Paul Marinković who was a master craftsman in a glaziery, and glover’s apprentice Nikolaus Dobrovojević. There were also mechanics from predominantly South-Slavic speaking regions, and the socially more “elevated” engineers and their families, as in the case of mechanic and foreman Vinzenz Mastetschnig from Klagenfurt, machine engineer Spasa Stojković or Dotschina Karakulakoff (1863–1909), an engineer’s wife from Rasgrad in Bulgaria. In the new profession of electrical technicians we can find one presumable pioneer, coming from a bourgeois family already mentioned: Stefan Baich, from Simmering. As prominent as South-Slav migrants were among merchants, we can also find them among ordinary salaried salespeople, like Peter Popović, a salesman from the Kotor region in Dalmatia (today Montenegro) or pastry vendor Vukosava Jovanović. Sometimes it is not clear whether the migrant of study was self-employed or salaried, as in the case of Georgio Stojanowic, Verkäufer from Ohrid (at that time still part of the Ottoman Empire). A special form of state service was the military. More than twenty-six thousand of the population in Vienna counted in 1910 was in the military. 20,564 of them where stationed in barracks, while

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5,995 lived in private households.64 The most conspicuous South-Slav military presence since 1894 in Vienna was the first Bosnian regiment (of four) whose staff and first battalion were stationed in the Erzherzog Albrecht barracks in Vienna’s second district (while the second battalion was in Wiener Neustadt and the third in Sarajevo). A battalion counted around one thousand men and the nationality of the first regiment was 93 percent “Bosniaks”.65 With their red fezes, those two thousand soldiers created a very visible element of difference in the city, however it is hard to treat them as a kind of South-Slav or even Muslim public culture (see below) in Vienna, as they and their representation were strictly controlled by royal imperial strategy and propaganda and they were confined to the controlled space of the barracks. The garrisons in Vienna were quite multicultural, whereby each regiment usually consisted predominantly of recruits from one nationality, with percentages from sixty to over ninety. While the Landwehr was exclusively recruited from the Vienna district, the royal-imperial army units had soldiers from districts in different locations. Of the eleven k. u. k. infantry regiments garrisoned in Vienna, only three had a German speaking majority, and had only six battalions (ca. 6,000 men) versus twenty-three non-German battalions.66 One of these regiments was “97 percent Serbo-Croatian” with recruits from Bjelovar, Croatia, which makes another three-thousand South-Slavic speaking soldiers in the city.67 Less visible, yet more typical were South-Slavic speakers who served in Viennese army units in which they were in a minority position, as in the German, Magyar, Slovak, and Ruthenian regiments. As a rule, higher-ranking officers were of different nationalities than their troops. Thus we find officers like Hauptmann Stefan Edler von Popović or Oberleutnant Emanuel Ostoić in Vienna. Officers had servants, like Marijan Matičić, who worked for captain Herak and who seem to have been South-Slavic speaking more often than the officers.68 Like with other professions, officers who had the advantage over the men of being able to

64 Bureau der k. k. statistischen Zentralkommission, Die Bevölkerung nach der Gebürtigkeit, Religion und Umgangssprache in Verbindung mit dem Geschlecht, nach dem Bildungsgrade und Familienstande; die körperlichen Gebrechen; die soziale Gliederung der Haushaltungen, Vol. 2: Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, Vienna 1914, 91. 65 Werner Schachinger, Die Bosniaken kommen! Elitetruppe in der k. u. k. Armee 1879–1918, Graz 1994. Seidels kleines Armeeschema. Dislocation und Eintheilung des k. u. k. Heeres, der k. u. k. Kriegs-Marine, der k. k. Landwehr und der königlich ungarischen Landwehr, Vienna 1914. 66 Of course, one has to take into account the various other units, including the two German Landwehr regiments and more than a dozen others. All details are taken from Ibid. 67 The “Serbo-Croat” regiment (that was presumably actually predominantly Croatian speaking), was Infanterieregiment Freiherr von Giesl Nr. 16, garrisoned in the fourth district; ibid. 68 K. und K. Infanterie-Cadettenschule in Wien. Nominalkonsignation über die gesamte Mannschaft I. Kriegsarchiv. Militärschulen. Österreichisches Staatsarchiv, Vienna.

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chose their dwelling outside the barracks, often clustered around these military buildings, like the brothers Jellačić von Bužim did around the Schwarzenberg barracks, maybe for familial reasons, or maybe to foster their careers.69 Some of these officers also had families, if they had gotten one of the rare permissions. We also find them in ministerial positions, like Captain Stefan Prica, from Korenica, Croatia, and of a regiment in Zagreb/Agram, who worked for the k. u. k. Reichsmarineministerium. In the military barracks, schools, and hospitals we can also find non-commissioned officers, rank and file soldiers, nurses, cooks, cadets, and priests, the latter including Muslim and Orthodox ones.70 There was a small number of highly privileged migrants from South-Slavic speaking regions in Vienna. One might count the several Privatiers among them, women and men of independent means such as Eva Gregović from Budweis, Anastasia Petrović (1839–1894) from Osijek/Esseg or Johann Jokits (1836–1895) from Zemun/Semlin. There were entrepreneurs as already mentioned like Sofie Drahorad, the wife of a producer of mother-of-pearl goods, but also estate owners like Agnija and Konstantin von Despinits, squires of Komoriste.71 One of the few who had a seat in the House of Lords, which was reserved for bigger land owners, was the Slavic scholar Vatroslav Jagić (1838–1923), on the basis of his role at the University of Vienna.72Not all privileged migrants were longtime dwellers in Vienna: quite the contrary, many of them were highly mobile. Like seasonal labor migrants they are usually not covered by research, but we have better sources about them. Short-term elite migrants could also have played important roles in Vienna. People of the upper classes who dwelt in the city only temporarily, yet in some cases regularly, did not create a collective presence, but could be a factor in many kinds of connection between regions of migration. Thus, a member of parliament, a diplomat, or an aristocrat with several domiciles, could be rather distanced from other migrants, but could also facilitate migration, even if only by influencing the flow of information or money and goods. All Balkan states had embassies in Vienna with personnel like Dr. Milan Schischmanow, legation secretary 69 Militär-Adreßbuch für Wien und Umgebung, 2 vols., Vol. 2, Vienna 1914. According to the statistics, the proportion of German speakers in military personnel in private quarters was twice as high as Germans in barracks. Bureau der k. k. statistischen Zentralkommission, Die Bevölkerung nach der Gebürtigkeit, 90f. 70 Geburts- und Taufmatriken. See also for instance “K. und K. Infanterie-Cadettenschule in Wien. Nominalkonsignation über die gesamte Mannschaft I–III” and “Namen[s]verzeichnis über die Abgangs-Gruppe I [officers].” In Kriegsarchiv. Militärschulen. Karton 847. Wien: Österreichisches Staatsarchiv. 71 Geburts- und Taufmatriken. 72 Edith Heinrich, Der Lehrkörper der Wiener Universität in den öffentlichen Vertretungskörpern Österreichs 1861–1918 mit besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit der Wiener Universitätsprofessoren im Herrenhaus des österreichischen Reichsrates zur Zeit der liberalen Ära 1861–1879, Univ. Diss., Universität Wien, Vienna 1947.

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at the Bulgarian embassy.73 Until 1909, the bishop of Zadar/Zara had a seat in the House of Lords. In the House of Representatives, there were 39 seats reserved for Dalmatia, Croatia and Slavonia, Styria, Istria, Gorizia and Trieste as well as Carinthia and Carniola. For example, there was Georg von Gyurković from Budapest, or one of the five representatives from Dalmatia, Dr. Anton Dulibić from the third Dalmatian constituency.74 The metropolitan of Karlovci used an apartment near Fleischmarkt as a pied à terre. Aristocrats often stayed in hotels for several weeks when they were in Vienna, like the Drašković de Trakostjans who used the Hôtel Erzherzog Carl as their Absteigquartier (pied-à-terre) – their Budapest equivalent was the Hôtel Königin v. England.75 The role of such short-term presence in the city as a form of trans-regional communication and interaction is yet to be acknowledged. Vienna’s working class is known to have been dispersed among many smaller workshops and arranged according to traditional crafts, in its majority.76 Thus, by what I said about artisans above, we know that South-Slav migrants were also part of the proletariat as apprentices and craftsmen in small-scale industries. To these we can add domestic servants like Johanna Růžička from Laibach, Johann Remic from Oberfarnik, Carniola, Stana Radunov and Sidonia Petkovits, again engaged in small scale structures.77 There is no research so far on South-Slavic speaking migrants’ part in larger work places but there is also no doubt that there was no “South-Slav” equivalent to the famous Czech brick workers on the Wienerberg. What we can expect, however, is that unskilled migrants were often also temporary ones. Non-permanent migrants though are scarcely documented in Vienna, which is why we cannot find out much about them. We can retrieve rare examples from the protocols of the work books which the seasonal workers had to bring with them, such as the unskilled laborers Sigmund Zlatarics from Rechnitz (today in Burgenland), Anna Sager from near Celje/Cilli and Alois Kovarovits.78 Many South-Slav seasonal workers from present-day Burgenland were employed in the vicinities of

73 Geburts- und Taufmatriken. 74 Stenographische Protokolle der Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates. XIX. Session, Vienna 1909, 42. As both were not listed in the address book of 1909, we can assume that he lived in his constituency; Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger: nebst Handels- und Gewerbe-Adreßbuch für die k. k. Reichshaupt und Residenzstadt Wien und Umgebung, Vol. 2, Vienna 1909, 192. 75 [Hans] Schreyer, Aristokraten-Almanach. Adressbuch der Mitglieder des Österreichisch-Ungarischen Adels, Vienna 1888, 120. 76 Josef Ehmer, Wiener Arbeitswelten um 1900, in: Hubert Christian Ehalt/Gernot Heiß/Hannes Stekl (eds.), Glücklich ist, wer vergißt …? Das andere Wien um 1900, Kulturstudien bei Böhlau 6, Vienna 1986, 203. 77 Kartei der Fremden. Wiener Stadt- u. Landesarchiv, Wien; Pass- und Heimatschein-Protokolle 1903–1906. 78 Arbeitsbuchprotokoll 1891.

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Vienna, as a study by Sylvia Hahn shows.79 Carniolan laborers also worked on extending the railway system from late April to late September.80 5. Facilities81

The most important facilities of migrants in the late 19th century were pubs, associations, and churches. Except for one Dalmatian wine-house in the 10th district, we have no data on migrant pubs in the late 19th century, but rather on places they were using together with other customers.82 Neither the usual mutual help associations as we know them from other places, are recorded for South-Slav migrants in Vienna, with the prominent exception of student organizations (see below). As for churches, the majority of migrants from South-Slavic speaking regions in Vienna were Catholic, yet there is no Catholic Church known to have been “the Slovene” or “the Croat” parochial church in Vienna, much in contrast to today, and as has been the case with Czechs and Poles around 1900. The only temples that come into consideration as migrant churches here then are those of the orthodox parishes. Since 1766, the Serbs were either under the jurisdiction of the ecumenical patriarchate in Istanbul/Constantinople or of the metropolitanate in Karlovci/Karlowitz, which became a patriarchate in 1848. Thus, from 1787 they used the St. George church near Fleischmarkt if they were Habsburg subjects or the Holy Trinity church directly on Fleischmarkt if they were Ottoman subjects. Both churches are situated very closely to each other in the so-called Greek quarter of the first district. This was the situation for all Orthodox migrants in Vienna from these two empires, until the Orthodox-Oriental Church of Saint Sava was founded in 1893 (there had been plans to do this since 1860). The background of this development had been the nationalization of the Balkan Orthodox populations along ethno-linguistic arguments during the 19th century. It confronted speakers of Albanian, Aromanian, Bulgarian, Romanian, and Serbian with the question of whether they wanted to continue being members of a church that was increasingly Greek nationalized. Greek had been a dominant language in 79 Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht; idem, Kroatische und slowenische Arbeitswanderer. 80 Hahn, Kroatische und slowenische Arbeitswanderer, 753. 81 The term “facility” is used here to refer to a wide range of different social spaces established to have a particular function or to provide a particular service. For example, backrooms of restaurants facilitated the meetings of migrant student societies in Vienna. See Steidl/Fischer/Oberly, forthcoming. 82 There were well-known Kaffeehäuser in the earlier 19th century, which were frequented by Slav and Balkan elite migrants. See e.g. Max Demeter Peyfuss, Eine griechische Kaffeehausrunde in Wien im Jahre 1837, in: Dimensionen griechischer Literatur und Geschichte. Festschrift für Pavlos Tzermias zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1993. We know some places co-used by our migrants in the late 19th century from the addresses of associations and editorial boards, fro instance.

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Orthodoxy and a lingua franca, but for 19th century nationalism this was a problem. Many of the Orthodox migrants were bilingual (Serbian, Aromanian, Albanian or Bulgarian plus Greek) and many of them had been faring well with the older transnational setup. Thus, the Sava church came relatively late and a Romanian church was founded only shortly before World War I.83 The Saint Sava church was, before World War I, a social space for migrants with diverse linguistic practices and ethnic belongings, including German and Romanian speakers as well as Jews and Uniates, and converts from Catholicism, but the main users were Orthodox Serbs from Austria-Hungary and the Ottoman Empire and its successor states. Two priests served at the church before World War I, Eugen Kozak and Mihail Mišić. After his Vienna office the former moved to Bucovina where he sang in a prison choir. The sexton Dionys Malenica might have created a continuity between the two priests.84 The central services St. Sava offered the sacraments of birth, marriage, and death. Some people who had been baptized at Holy Trinity before 1893 now used the new church. Not only clients from Vienna frequented this facility, but also residents of places around Vienna, including Hungary. Sometimes, it was the above-described temporary migrants who had their children baptized at St. Sava, only to move on to a place in Bulgaria or the Russian Empire. It was also the duty of the priest to see after Orthodox prisoners. The multi-religious and multi-lingual character of the place was owed to three complexes. First, the community officially and in practice, served more than just the Serbs, as was already reflected in the name Orthodox-Oriental instead of Serbian-Orthodox. Thus, other non-Greek yet Orthodox parishioners also used the church, often coming from Bucovina. Secondly, a number of converts were confirmed at St. Sava, either for ideological reasons like presumably the already mentioned Czech tailors, or for marriage. Thirdly, a small number of couples with mixed or non-Orthodox partners used the church to have their children baptized, including a Czech-Jewish couple. There were also cases in which the priest expressed his doubts about the rightfulness of such combinations, especially when he had no evidence of the confessional belonging of a person asking for his blessings, as in the case of a Bavarian theater dancer who lived out of wedlock with a Viennese artist.85 Several important Serbian families were connected to the church, who had in some cases also been involved in planning and financing the project. Other networks like the Czech Orthodox Society used the church as one of their bases as well. Among institutions for migrant students from predominantly South-Slavic speaking regions, the most prominent were likely the Jesuit College and dormitories and the Knaffel’sche 83 Peyfuss, Balkanorthodoxe Kaufleute in Wien. 84 Geburts- und Taufmatriken. 85 Ibid.

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Stiftung. The former attracted and catered to many Croat and Slovene students, the latter mostly to Slovenes. The Knaffel Foundation, which is basically a student house at Seilerstätte with fellowships for non-theologians, was administrated by the University of Vienna and had been founded by the Carniolan priest Lukas Knaffl in 1676 (it still exists today).86 In 1810, the Hungarian Serb “Maecenas” Sava Tekelija (Tököly) endowed a foundation for Serb students at the Military Academy near Vienna.87 The Orthodox-Oriental Church also supported a fellowship at the University of Vienna.88 Other students were dependent on informal individual or familial charity, or related forms of support, like the Serb ethnologist and language reformer Vuk Karadžić, who had been promoted by the Slovene linguist and imperial librarian Bartholomäus Kopitar, and supported financially the already mentioned Demelić family earlier in the century. New forms of student facilities were the student organizations that sprang up in the late 19th century. Before 1867, there were two attempts at organizing the Slovene students in Vienna, both under the name Slovenija, but the movement actually gained momentum with the third Slovenija, which grew out of the failed Slovene academic association, Sava, in 1869, which had, without success, attempted a Slovene-Croat co-operation with the conjoint society Jug.89 Such associations supported themselves from the contributions of their student members and more importantly in some cases by benefactors in the sending regions who wanted to further the “enlightenment of the national youth”, as a popular verbalization went. For example the Bulgarian society Napredăk, which was dedicated to supporting teacher training in institutions abroad, had forty-seven “real” and 260 supporting members, including institutions.90 Such clubs also offered libraries, socializing and in some cases public or semi-public lectures. The Slovene associations were the oldest and most important in Vienna. Some of them were of a Yugoslav orientation but still had mainly Slovene members. In 1888, the Verein zur Unterstützung slowenischer Hochschüler in Wien was founded by a Slovene linguist. It offered a monthly support. More successful was Radogoj, an association that had its headquarters in Ljubljana. It was founded by a Triestine wholesale merchant and by the most prominent proponent of Yugoslavism, bishop Josip Juraj Strossmayer in Zagreb. The association was, like the movement in general, liberal leaning. When the political climate in Slovenia grew more aggressive during the 1890s, declared Catholic students founded their own society, the Laibacher Leogesellschaft, which was also active in Vienna. Some former members joined the 86 Medved, Slowenisches Wien, 45–51. 87 Dubravka Friesel-Kopecki, Die serbische Nationalbewegung, in: Norbert Reiter (ed.), Nationalbewegungen auf dem Balkan, Wiesbaden 1983, 234. 88 Stipendienangelegenheiten. Rektoratsakten. Archiv der Universität Wien, Vienna. 89 Melik/Vodopivec, Die slowenische Intelligenz und die österreichischen Hochschulen, 147. 90 Bachmaier, Die Bedeutung Wiens für die Bulgarische studierende Jugend 1878–1918, 348.

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new German-Catholic society Austria.91 After 1900, a national-radical club was constituted in the Vienna Slovenija, which prompted the liberal students to split away and establish the association Sava in 1902.92 As already mentioned, some societies were South-Slav or Yugoslav by declaration but Slovene students dominated them, such as is visible in the name of the Verein südslavischer Hörer der Handelswissenschaften in Wien/Društvo jugoslovanskih dušateljev trgovskih ved na Dunaju (1911), where, according to the statutes, any South-Slav could become a member irrespective of his political and religious affiliation. Forty years before, there had already been a Croatian-Slovene society called Jug. However, plans to incorporate all Slav associations in Vienna into one umbrella organization did not materialize. Nevertheless, there were regular “Slav” meetings where delegates from several of these organizations were present. So far, we do not know much about this kind of co-operation but most sources claim that it was eventually ineffective.93 Although mostly Serb, the Srpsko akademsko društvo “Zora” u Beču also had a strong element of (South-) Slavic co-operation. It was founded in 1863, and was the first example of those student societies that would unite in the nationalist omladina movement, which was active in all South-slavic speaking regions. The Zora actually played a leading role in founding the omladina in Novi Sad in 1866. The movement had a unitarist and irredentist ideological tendency that intensified in the years before World War I.94 Plans for a fusion with the Croat society Velebit in 1868 did not materialize however.95 The activities of the Zora encompassed the usual offerings as well as charity balls intended to better the situation in the “homelands”.96 Croat societies initially comprised Velebit (1865–1880) and Zvonimir, founded in 1880, as well as Verbindung kroatischer Techniker, founded in 1872.97 Similar to Slovene organizations,

91 Melik/Vodopivec, Die slowenische Intelligenz und die österreichischen Hochschulen, 144–147. 92 Ibid., 149. 93 See for instance Vladimir Ćorović, Istorija srpskoga akademskoga društva “Zore” u Beču. Prilog istoriji omladinskog pokreta, Ruma 1905, 28f. 94 The omladina was not one strict organization but went through many transformations and renamings, and several national omladinas were also operating in parallel Holm Sundhaussen, “Omladina,” in; Edgar Hösch/Karl Nehring/Holm Sundhaussen (eds.), Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Vienna –Cologne – Weimar 2004. 95 Ćorović, Istorija srpskoga akademskoga društva “Zore” u Beču, 28f. 96 W. D. Behschnitt, Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830–1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie, Munich 1980, 208f; Ćorović, Istorija srpskoga akademskoga društva “Zore” u Beču, 30f. 97 Shek Brnardić, Kroatische Studenten in der Großstadt: Kulturaustausch durch das Studium in Wien im ‘langen’ 19. Jahrhundert, 65.

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there was an ideological split around 1900 and two Catholic societies appeared, the Slavonisch katholischer academischer Verein “Danica” (1898) and Hrvatska – kroatischer katholischer akademischer Verein in Wien (1902). The latter was a student corps after the German Burschenschaft model with the right to wear Couleur (the symbols of the fraternity). What seems special about the Croat situation is that there were also regionally oriented associations like the just mentioned Slavonian one as well as one offering instruction and socializing to students from Dalmatia, called Jadran. Kroatischer akademischer Verein in Wien (1903). It was connected to the Hrvatsko pripomoćno društvo u Beču.98 Other South-Slav associations comprised two Bulgarian (Bulgarischer volkstümlicher Studentenverein, Napredăk 1869–1893, Bulgarischer akademischer Verein “Balkan”, since 1893), and a Jewish one, the Zionist society Bar Giora – Verein jüdischer Hochschüler aus den südslawischen Ländern, which was founded 1901.99 Institutions of and for students from predominantly South-Slavic speaking regions were on one hand service organizations to be used in Vienna, but on the other hand, their politics was very much directed towards the “homelands”. This seems also to be the reason why they have not been the focus of much research: for those interested in Vienna, they were not involved enough in the city, while for those interested in the history of the “homelands”, they did not seem to be part of the story. 6. Southeast European Public Culture in Vienna

The public culture of migrants from South-Slavic speaking regions in Vienna was not very visible, much less than Czech public culture. Mass communication in South-Slavic languages in Vienna was minor (see below). The public culture at stake was mainly taking place in semi-public spaces, did not have a wide circulation, and was not permanent. This means for example that there were public events like balls, lectures, and concerts, which were advertised in print products with minor circulation. Their media presence lasted almost only as long as the event itself. Permanent manifestations were only very few, such as, for example, the exterior and interior architecture of the St. Sava church and some tombstones dispersed over Vienna’s cemeteries. We can assume that South-Slavic speakers were relatively visible at the universities, taking their numbers into account. Maybe members of the Croatian student corporation could sometimes be seen on the steps of the main entrance of the University with their blue-red-white ribbons with the inscription “CROATIA” but it is more probable that this was rather the case at Croat Church masses. The Bosnian regiment was maybe the most visible presence of South-Slavic distinctness in the city, however, this imagery was, as already 98 Vereine, nicht anerkannt. Akademischer Senat, Sonderreihe. Archiv der Universität Wien, Vienna. 99 Ibid.

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discussed, one of imperial control over the diversity of the nationalities rather than a kind of self-representation of difference. The reason for this low visibility can be either found in the relative smallness of the group or groups, in the fact that, the Yugoslav ideas notwithstanding, their groupness100 was by far not clear at the time, and maybe most importantly in the tendency of migrant organizations to orient towards the homeland as a political entity, rather than Vienna. This being said, it is important to evaluate the different status of migrants from the Austrian lands versus those from the Hungarian part of the empire, the former having had Vienna as their actual political capital. If we take into account that Serbs and Croats always had, in nationalist political terms, to take into account the compatriots in the Hungarian regions, the Slovenes remain as the one group that was almost in its entirety inside the confines of Austria, came from the areas relatively closest to Vienna discussed here, and were – probably due to that – the dominant element of South-Slavic speaking migrants in Vienna. The part of elite migrants among them was, as has been shown, relatively smaller. There is evidence that this situation also played a role in the public culture of the Slovenian speaking elites in the capital. Slovenes were the only South-Slav elites who were publishing periodicals directed at the entire country in Vienna, namely two trade union newspapers, one in Slovenian (Delavec), the other in Slovenian and Italian, because it was meant for Istrian stoneworkers (Kamnarski Delavec).101 It seems obvious that workers’ movement elites had an interest in having their headquarters in the Austrian capital, in proximity to the centers of other important working class organizations, while liberal or conservative elites rather gravitated towards the national capitals Ljubljana, Zagreb and Novi Sad, maybe also Pest. The only exception here is the omladina periodical, Zora, which seems to have had a circulation outside Vienna. Curiously, there had been a Serbian illustrated magazine published in Vienna, the Srpska Zora, that ceased publication in the 1870s. After that, only student papers appeared in Vienna. The Zora student association occasionally published reports about its work in the omladina’s central organ Zastava, published in Novi Sad. Both Croat societies, Velebit and Zvonimir, had newspapers of the same name. Zvon was a monthly dedicated to poetry. The only periodical with more general and political, and less student oriented topics, was Jug. It appeared in Slovenian and had a Socialist, if Christian Social, South-Slav orientation. It remains a conundrum how a relatively lively presence of thousands of migrants with similar linguistic practices produced so little mass media communication and left so few traces for the historian. Not much had been known about migrants from predominantly South-Slavic speaking regions in Vienna before World War I. Comparative analysis of quantitative and archival 100 On groupness, see Rogers Brubaker, Ethnicity without groups. 101 All following information is from the periodicals’ holdings of the national libraries of Austria and of Croatia.

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sources can give us a good impression of how many migrants there were, although we can only guess about seasonal migrants. We know that most of them came from Inner Austria and spoke Slovene and were either labor migrants or students. But we also know that those from the more distant regions in Dalmatia, Croatia and the Serbian speaking counties of Hungary, elite and career migration was dominant. We have a good picture of the variety of social positions and occupational preferences and we know their major facilities and their public culture. All these new answers of course also entail new questions. First of all, why did they not develop a more thriving public culture in Vienna in the late 19th century, although there was growing support for Yugoslavist ideas and there were several thousand potential supporters for such a project present in the city, including professionals, intellectuals and wealthy families? Maybe the answer will lie in the very diversity of these migrants, conflicting identity projects and the diversity modes of mobility they displayed and migration plans they followed. Also the transforming political setup of the Monarchy after the Ausgleich (the Austro-Hungarian compromise of 1867) comes to mind. Only further research can try to give such new answers, hopefully also contributing to a Viennese history of diversity.102

102 I am currently writing a book on a related topic under the working title “Movers of Identity: Mobility, Technology and Communication of Habsburg Serbs in Three Cities, 1789–1923”, to be published in 2017.

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Elitär populär Diversität von Theaterformen im Wien um 1900

Es stellt ein komplexes Unterfangen dar, der Bedeutung von Hoch- und Massenkultur in Wien um 1900 anhand des Theaters in seinen verschiedensten Formen nachzugehen und dabei den Blick auf Migration und Innovation zu richten. Welche Markierungspunkte, Institutionen oder Geschmacksformationen sollen befragt werden? In diesem Beitrag wird versucht, Ansätze eines Distinktionsprozesses aufzuzeigen, einerseits Markierungen und Schlüsselereignisse herauszuarbeiten, um andererseits Leerstellen und Ausgrenzungen festzuhalten. In der Forschungsliteratur zu Wien um 1900 und in Nachschlagewerken findet sich Theater in seiner Vielfalt kaum reflektiert – wenn überhaupt, wird in Einzelstudien auf Burgtheater und Hofoper rekurriert –, vorstädtische Bühnen werden als „volkstümlicher“ Gegenpol zu elitärer Kunst präsentiert. Ausgeklammert wird die Zusammenschau verschiedenster anderer Theaterformen und theatraler Schauereignisse wie Varieté, Zirkus oder Ausstellungen. Einzige Ausnahme bildet der vierte Band der Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte (1937/38).1 Der Herausgeber Eduard Castle versuchte der Vielfalt an Bühnen gerecht zu werden und legte ein eindrucksvolles Zeugnis von Wiener Theateraktivitäten vor. Allerdings erweist sich der Band aufgrund der Datenmengen als schwer lesbar und verwirrend, da das Gros der dokumentierten Namen und Institutionen kaum oder gar nicht mehr bekannt ist und vertiefender Forschung bedürfte. Doch auch diese außerordentliche Zusammenstellung von Organisationsformen und Genres weist eine klaffende Lücke auf: Es finden sich weder Varieté noch Zirkus, weder Singspielhalle noch Spezialitätentheater, keine Kunstreitergesellschaften oder Seiltänzertruppen, Zauberkünstler, Dompteusen oder Affendarsteller. Wien, dessen Selbstverständnis um 1900 sich in der Konstruktion „Theaterstadt“ spiegelt, erfährt eine Neuperspektivierung, wenn diese im Kanon ausgeschlossenen Praxen mitgedacht werden.

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Der vierte Band erschien 1937/38 als letzter Teil eines in den 1890er-Jahren begonnen Monumentalprojekts nationaler Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung. Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Bd. 4. Von 1890 bis 1918, unter Mitw. hervorragender Fachgenossen nach dem Tode von Johann Willibald Nagl und Jakob Zeidler hrsg. von Eduard Castle, Wien u.a. 1937.

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Während sich wandernde Schauspieltruppen Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr zu angesehenen sesshaften Künstlern und Künstlerinnen nobilitierten,2 reisten Kunstreiterinnen und Kunstreiter seit dem späten 18. Jahrhundert als Truppen durch europäische Städte, um in ihren eleganten Produktionen Kühnheit gepaart mit Anmut vorzuführen. Wie aus den Ankündigungszetteln erkennbar, setzte sich ihr Publikum aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten zusammen,3 der sich einfindende Adel wurde von den Prinzipalen publikumswirksam für die Nobilitierung artistischer Künste eingesetzt.4 Kunstreiter waren in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – von Wien und Budapest über Berlin bis nach St. Petersburg – Mode europäischer Stadtkulturen. Darauf folgte eine Mode der Zauberei, die in Wien durch den Salon Johann Nepomuk Hofzinsers, Praterzauberer sowie die 2 3



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Die wandernden Komödianten, die es nicht schafften, für längere Zeit fixe Engagements zu bekommen, wurden als „Schmierendarsteller“ abgewertet. „Mit Hoher Bewilligung wird heute, Montag, den 11. Jänner in der hiesigen ständischen Reitschule, die k. k. priv. Kunstreitergesellschaft de Bach auf Vieles Verlangen die Ehre haben, einem hiesigen hohen Adel und sämmtlichen Gönnern und Liebhabern des wahren Talents ihre großen Produktionen der edlen Reitkunst aufzuführen, wobey jedes Mitglied dieser Gesellschaft durch Abwechslungen sich hervor zu thun bemühen wird. Erste Abtheilung enthält verscheidene Reitkünste und Vorstellungen, wo sich jedes Mitglied dieser Gesellschaft begeistern (?) wird einen günstigen Beyfall einzuärnten. Zweyte Abtheylung in der edlen Reitkunst enthält: ein großes Pferd-Ballet, Caroussel und Turnier. Großes Turnier zu Pferd und zu Fuß. Zweykampf mit Lanzen, Säbeln und Beilen, die vorzeitige Ritterübung im Caroussel im spanischen Turnier und Pferdballet, wo die Ritter zu Pferd und zu Fuß in Mannskraft und Gewandtheit zu Pferd einer den andern zu übertreffen suchen wird, wo das Treffen und Gewinn mit Lanzen, Darden, Tarlots, Degen und Pistolen auf verschiedenen Gegenstände gerichtet, nämlich nach Köpfen und Ringenrennen, Werfen, Stechen, Hauen und Schießen, durch den Schall der Pauken und Trompeten begleitet wird. Preis der Plätze: Erster Platz 48 kr, Zweyter Pl. 24 kr., Dritter Platz 12 kr. Der Anfang ist um 4 Uhr bey Beleuchtung“ Österreichisches Theatermuseum, Theaterzettel- und Programmarchiv, Z3, 1. de Bach (undatiert). So etablierte der 1768 in Kurland geborene Christoph de Bach mit seiner Kunstreitergesellschaft den ersten festen Zirkusbau für 3.000 Personen im Wiener Prater. 1808 eröffnete er diesen an der Stelle der heutigen Zirkuswiese unter dem Namen Circus Gymnasticus. Sein Privilegium als k. k. priv. Kunst- und Schulbereiter zierte in Form des kaiserlichen Adlers das Eingangsportal des Zirkusgebäudes. Alfred Bäuerle lobte dessen Produktionen in der Theaterzeitung als „stets liebenswürdig, graziös, angenehm und gefällig. Bei allen erstaunlichen Wagnissen fehlt nie die Anmut der Bewegung, die französische Leichtigkeit und Rundung der Tournure. Dieser Vorzug ist es, welcher der de Bachschen Schule stets die Aufmerksamkeit und lebendige Teilnahme des feinen Geschmacks erhalten wird.“ Zitiert nach Joseph Halperson, Das Buch vom Zirkus. Beiträge zur Geschichte der Wanderkünstlerwelt, Düsseldorf 1926, 80.

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Experimente Ludwig Döblers5 bestimmt wurde. Die magischen Kunstfertigkeiten dieser Zauberkünstler führten sie zu internationalen Gastspielen ebenso wie an verschiedene Herrscherhöfe; Wien galt denn auch als Stadt der Zauberkunst. In Nestroys frühen Stücken bilden sich jene internationalen Moden und ihre Wiener Spielarten in Figuren wie dem Kunstreiter Comifo und den zahlreichen Zauberern oder durch den Auftrag, für den Affendarsteller Klischnigg ein Stück zu schreiben, ab.6 Komik erzeugte Nestroy durch die Konfrontation von Internationalismus mit Provinzialismus, scheinbar weltgewandte Existenzen erläutern in einer Mischung verschiedener Sprachen Rätsel des modernen Lebens und versetzen ihr Publikum damit in ehrfürchtiges Staunen. Als österreichischer Volksdramatiker gibt Nestroy Ende des 19. Jahrhunderts die Internationalität seines Witzes auf, um wienerisch-österreichische Eigenart als Mikronationalismus zu konstruieren. Diesem Topos widmet sich die historische Darstellung an sogenannten Volkstheatern um 1900 in auffälliger Weise, das Alt-Wiener Volkstheater entsteht als andere Seite elitärer Theaterkultur. Um Burgtheater und Hofoper formieren sich Beschreibungen als höchste Kunst, als ihre aus der Burgtheatergeschichte destillierte „andere Seite“ eines zu formulierenden österreichischen Nationalcharakters wird das sogenanntes Alt-Wiener Volkstheater kreiert. Viele andere Theaterformen bzw. Schauereignisse, wie sie von Nestroy noch „archiviert“ wurden, beispielsweise Affentheater, Zirkus, Seiltänzertruppen, scheinen in Theaterdebatten und kanonisierender Literatur als Leerstelle auf. Der spezifische Kosmopolitismus der Residenzstadt um 1900 fand sich eher in Zirkusvorstellungen des späten 19. Jahrhunderts als im Theater. Denn bei artistischen Künsten handelt es sich um jene Produktionsformen, bei denen Migration und Grenzüberschreitung als Existenzgrundlage aufscheinen. Wenn in einem Werk wie der Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte diese Praxen vollständig ausgeklammert sind, obwohl das enzyklopädische Projekt den Anspruch einer vollständigen, detailreichen Dokumentation und Chronik Wiener Theaterkultur als Teil der Literaturgeschichte formuliert, stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Gründen. In meinem Beitrag wird die Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte als bedeutendes Zeugnis und Markierung für einen Distinktionsprozess um 1900 gedeutet. Diesen zeichnen Wechselwirkungen von kultiviertem Geschmack, zivilisierter Theaterkultur, Tradition und Moderne aus, die mit der Suche nach nationaler kultureller Identität verknüpft sind. Ziel dieses Prozesses wie auch der Enzyklopädie war es, einen kulturellen Beitrag zur Definition

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Robert Kaldy-Karo, Meister der Magie. Sonderausstellung vom 16.2.–19.5.1991 im Österreichischen Circus- und Clownmuseum, Wien 1991; Robert Kaldy-Karo/Ludwig Döbler. Genius des Biedermeier, Horitschon 2001; Magic Christian, Non Plus Ultra. Johann Nepomuk Hofzinser (1806–1875). Der Zauberer des 19. Jahrhunderts, Offenbach am Main 1998. Der konfuse Zauberer oder Treue und Flatterhaftigkeit (1831), Der Affe und der Bräutigam (1836).

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der „neuen“ Nationalidentität des Habsburgerreiches zu schaffen.7 Die Metropolitanisierung Wiens, die auf Traditionen rekurrierte, bildet den Rahmen des distinkten Vorgangs. 1. Theater, Zirkus und andere Vergnügungen

Das Theater- und Vergnügungsangebot in Wien um 1900 entsprach in seiner Vielfalt dem Anspruch einer modernen europäischen Metropole. Der 1888 abgeschlossene Neubau des Burgtheaters am Ring verdichtete sich zum architektonischen Symbol der Metropolitanisierung Wienerischer Prägung. So formulierte Josef Bayer, Professor an der k. k. technischen Hochschule, 1894 die Bedeutung des Burgtheaterbaus wie folgt: „In die neue Inscenierung Wiens trat dieses zuletzt als die überraschendste scenische Verwandlung herein, gleichsam als Schlussdekoration von blendendem Effect.“8 Bayer benannte wesentliche Attribute der Funktion des neuen, modernen Burgtheaters und damit die Intentionen, welche für die Residenzstadt wirksam werden sollten: Repräsentation erfolgt durch Dekoration und Effekt, das Neue zeichnet eine „historische Höflichkeit“ aus, um ein nicht näher bestimmtes „Gewissen gegenüber der oft rücksichtslos behandelten Vergangenheit zu beruhigen“.9 Es ist interessant, dass in ästhetischen und programmatischen Diskussionen um das Burgtheater eine Gleichzeitigkeit der Definition des „Neuen“ und des „Alten“ zu konstatieren ist. Während im Diskurs um das österreichische Nationaltheater, der im Hanswurst kulminiert, immer auf vergangene theatrale Traditionen rekurriert wird, um die Legitimation für eben dieses Nationaltheaterkonzept abzuleiten, wird in der Geschichte des Neubaus auf den Standort als „ein in der Stadtgeschichte geweihter Boden“ verwiesen.10 Denn dort befand sich von 1546 bis 1872 die Loewelbastei, vor der die Türken 1683 zurückgeschlagen wurden. Im neuen Burgtheatergebäude wird dieses historische Ereignis durch einen in der Unterfahrt zu den Logen auf der Seite zum Volksgarten hin als „Reliquie“ eingemauerten Rest der Basteimauer erinnert. Diese Erinnerung soll nach Bayer durch Analogiesetzung folgendermaßen 7

Zur Erfindung dieser „neuen“ Nationalidentität über Literatur und Theater siehe die ersten zwei Bände der Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte. Castles 1937/38 vollendeter 4. Band greift diese Konzeptionen auf, allerdings als Sentiment einer untergegangenen Welt. Vielen Dank an Gerald Tschank, der im Zuge seines Diplomarbeitsprojekts „Theatergeschichtsschreibung innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung am Beispiel der DÖLG und Josef Nadlers Literaturgeschichtsschreibung der deutschen Stämme und Landschaften“ eine beeindruckende Kenntnis über diese enzyklopädischen Arbeiten erworben hat. 8 Josef Bayer, Das neue k. k. Hofburgtheater als Bauwerk mit seinem Sculpturen- und Bilderschmuck, Wien 1894 (Die Theater Wiens, Bd. 3), 1. 9 Ebd., 2. 10 Ebd.

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funktionieren: „Auf demselben Fleck, wo jetzt die unblutigen Bühnenschlachten im historischen Drama von wohlgedrillten Comparsen geschlagen werden, entschied sich damals einer jenen Kämpfe, die eine Peripetie der Weltgeschichte bedeutete.“11 In diesem als Theaterstadt inszenierten Wien fanden sich neben Burgtheater und Oper, die dem Hof unterstellt waren, um 1900 unter der Organisationsform „Volksbühnen“ das Raimundtheater, das Deutsche Volkstheater und das Kaiserjubiläums-Stadttheater. Als Privattheater geführt wurden das Theater in der Josefstadt, das Carltheater, das Theater an der Wien, das Stadttheater und das Pratertheater, welches unter den verschiedenen Namen seiner Direktoren aufschien.12 Als Singspielhallen, „eine Art wienerisches Vaudeville“,13 oder Varietés mit großen Fassungsräumen für ca. 2.000 Personen existierten u.a. Danzers Orpheum,14 Ronachers Spezialitätentheater, Schwenders Kolosseum (ab 1878 Volkstheater in Rudolfsheim), das Wiener Colosseum und Drexlers Singspielhalle im Prater.15 Wien verfügte über drei fest stehende Zirkusgebäude: Zirkus Renz (seit 1854), Zirkus Busch (seit 1892) und Zirkus Schumann (seit 1903), die je an die 3.000 Personen fassten. Dazu kamen Unternehmen wie das Budapester Orpheum, die sich eben etablierenden Kabaretts, sogenannte Volkssängerlokale, Dilettantenvereine, Affentheater, Panoramen, Menagerien und Zaubertheater, Seiltänzergesellschaften, Wanderzirkusse von enormen Ausmaßen, wie die 1900/01 gezeigte „Monstre-Schau“ des amerikanischen Zirkus Barnum and Bailey in der Rotunde vor 10.000 Zuschauern täglich belegt. Hoch- und Massenkultur als Unterscheidungsmerkmal lassen sich nicht auf die einzelnen oben genannten Genres anwenden. Wenn Hochkultur als Repräsentationsform von Eliten 11 Ebd. 12 Otto Wladika, Von Johann Fürst zu Josef Jarno. Die Geschichte des Wiener Pratertheaters, Univ. Diss., Wien 1961. 13 Georg Wacks, Die Budapester Orpheumsgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919, Wien 2002, 13; Mary Gluck, Popular Bohemia: Modernism and Urban Culture in Nineteenth-Century Paris, Cambridge, MA, 2005. 14 Laut Ruth Aspöck stellte Danzers Orpheum einen „Grenzfall zwischen Singspielhalle und Varieté“ dar, das Etablissement sei aus der „sehr berühmten Liebhaberbühne“ der Baronin Pasqualatti hervorgegangen. 1872 wurde es von Eduard Danzer übernommen, es folgten C. W. Pertl und nach dessen Tod seine Witwe. Der letzte Konzessionär war Gabor Steiner, der aus dem Orpheum eine Operettenbühne machte. 1928 wurde das Etablissement geschlossen. Siehe Ruth Aspöck, Beitrag zu einer Theorie der Unterhaltung, dargestellt an Wiener Vergnügen im 19. Jahrhundert, Univ. Diss., Wien 1972, 14. 15 Ruth Aspöcks Dissertation versucht die Vielfalt an nicht unter die Theaterkonzession fallenden Etablissements des 19. Jahrhunderts in Wien zusammenzustellen. Ihre wichtigste Quelle ist das unveröffentlichte Typoskript von Hans Pemmer zu Wiener Vergnügungsstätten. Siehe Hans Pemmer, Alt Wiener Gast- und Vergnügungsstätten, o. O., o. J., 2 Bände, Typoskript, Wiener Stadt- und Landesarchiv; Elfriede Faber/Robert Kaldy-Karo, Wiener Vergnügungsstätten, Erfurt 2009 (Die Reihe Archivbilder).

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definiert wird, zählen neben den direkt dem Kaiser unterstellten Hoftheatern auch Zirkus und Varieté dazu. So eröffnete Kaiser Franz Joseph I. 1888 nicht nur den Neubau des Burg­ theaters am Ring feierlich, sondern beehrte auch den neuen Prunkbau von Ronachers Spezialitätentheater an der Seilerstätte mit einer Inspektion. Der Architekt Ferdinand Fellner der Jüngere – der aus der Brandruine des ehemaligen Stadttheaters ein prunkvolles Vergnügungsetablissement errichtete – baute in diesem Vergnügungsetablissement auch eine Hofloge ein. Vor der Eröffnung am 21. April 1888 inspizierte Kaiser Franz Joseph I. gemeinsam mit Anton Ronacher das neue Theater. In der Presse wurde dieser Besuch genau geschildert und des Monarchen Befund zitiert: „Sie haben da etwas sehr Schönes geschaffen, es ist überraschend schön.“16 Der in Döllach in Kärnten als Sohn armer Forstleute geborene Ronacher nobilitierte sich zum „Mâitre de plaisier von Wien“.17 Seine „Internationalen Künstler-Vorstellungen“ zeigten verschiedenste artistische und musikalische Darbietungen, außerhalb des Varieté-Programms konnte anlässlich der Eröffnung für 50 Kreuzer Julia Pastrama als „Krao, das behaarte Mädchen. Phänomenale Abnormität“ besichtigt werden. Neben dem Theaterraum, der 60 Logen und 1.200 Plätze an Tischen bot, an denen serviert wurde, standen Ballsäle für 600 Personen zur Verfügung. Eine Loge für vier Personen kostete 6 Gulden, die Plätze an den Tischen je 50 Kreuzer. So war das Ronacher ein Vergnügungsort für die Oberschicht und wohlhabende Wien-Reisende. Amüsiert wurden sie von Artisten und Artistinnen, deren Existenz nach nomadischen Prinzipien eingerichtet war. Ein Engagement am ersten Vergnügungsetablissement der Residenzstadt brachte die Möglichkeit, als Sensationsnummer beispielsweise nach Neutitschein zu gehen und so wieder für einige Wochen seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.18 In welchem Ausmaß sich Kaiserin Elisabeth I. für Zirkus interessierte, wird durch die von ihr beauftragten Zirkusmanegen in der Wiener Hofreitschule sowie im ungarischen Schloss Gödöllő manifest. Diese nutzte sie, um mit den berühmtesten Schulreiterinnen ihrer Zeit, 16 „Etablissement Ronacher“, Neue Freie Presse, 21. April 1888, 7. 17 Gerhard Eberstaller, Ronacher. Ein Theater in seiner Zeit, Wien 1993, 10. Zu seinen weiteren Unterhaltungsunternehmen gehörten Ronachers Grand Etablissement auf der Schottenbastei, das Alhambra in der Taborstraße und im Prater das Dritte Kaffeehaus sowie das Konzertcafé. 18 Lebenswege von Artisten und Artistinnen sind kaum dokumentiert. Das hier genannte Beispiel bezieht sich auf den Wiener Artisten Paul Moraw bzw. Franz Moraw (1881–1949), der sein Engagement am Ronacher für seine Selbstreklame beispielsweise in Neutitschein nutzte. Herzlichen Dank an seine Enkelin Alexandra Heim, die mir Plakate ihres Großvaters zeigte. Heim arbeitet zurzeit an einem Diplomarbeitsprojekt zu ihrem Großvater. Zur Vita von Artisten und Artistinnen liegt als einziges Nachschlagewerk Signor Saltarinos Artisten-Lexikon vor. Siehe Signor Saltarino, Artisten-Lexikon. Biographische Notizen über Kunstreiter, Dompteure, Gymnastiker, Clowns, Akrobaten, Spezialitäten etc. aller Länder und Zeiten, Düsseldorf 1895.

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wie Elise Petzold und Clara Rasch, zu trainieren.19 Joseph Halperson beschrieb das Faszinierende und die Eleganz der Reiterinnen als Kennzeichen einer spezifischen Zirkuskultur, die als ästhetisches Vorbild in die Gesellschaft wirkte: Das Anziehendste und Ästhetischste, das der alte Zirkus seinen Besuchern zu bieten hatte, war die untadelige Schulreiterin in ihrer traditionellen Tenue: schwarze Amazone mit Zylinder. Sie war es nicht zuletzt, die dem Zirkus in seiner Blütezeit den Charakter der Distinktion aufgeprägt hat.20

Die Zirkusliebe der Kaiserin war für die Wiener und Wienerinnen ein „außerordentlicher Stimulus“, in den Zirkus zu gehen.21 Der Berliner Zirkusdirektor Ernst Renz wurde vom Wiener Hof beauftragt ein Pferd zu dressieren, das sich anlässlich der Krönung des österreichischen Kaiserpaars zum König und zur Königin von Ungarn vor ihnen hinkniete.22 Auch nach dem Tod der Kaiserin blieb Wien ein wichtiger Standort für Zirkusunternehmen. Sogenannte High-Life-Vorstellungen zeugen von diesem sich am Geschmack der Oberschicht orientierenden bzw. diesen (re)produzierenden Vergnügungsangebot. Auf einem erhalten geblieben Zirkuszettel des Circus Angeli, der im Dezember 1893 im Zirkus-Renz-Gebäude gastierte, findet sich das Programm solch einer High-Life-Vorstellung: Unter der Leitung von Kapellmeister Dominik Ertl konzertierte das Zirkus-Orchester 16 Nummern, die vorwiegend Reitkünste zeigten. Eröffnet wurde mit einem Musketier-Manöver, vorgeführt von vier Damen und Herren; es folgte ein Parforce-Reiter namens Herr Magni; dann trat die Zirkusdirektorin, Marietta Angeli, gemeinsam mit Herrn Juel in einer Szene zu Pferd namens „Jeu de la rose“ oder „Eifersucht und Sieg der Liebe“ auf; anschließend wurde Pirouetten-Reiten geboten; in der nächsten Nummer standen sechs Schimmelhengste und ein türkischer Vollbluthengst namens Mustapha in Mittelpunkt; als Pariser Sensation angekündigt wurde Mademoiselle Fillis, die einen Serpentintanz auf dem Pferd vorführte; einen Jockeyreitakt bot der russisch-kaukasische Herr Wassiliams; die Salto-Mortale-Nummer zu Pferd brachte wieder Herrn Juel in die Manege. Neben diesen equestrischen Darbietungen finden sich zwei Luftakrobatiknummern, ein Ausstattungsballett, eine Hundedressur und der Riesen-Birma-Elephant „Nelli“ in gemeinsamer Aktion mit dem russischen Vollblut-Wallach „Bosco“, vorgeführt von Mr. Charly. Mr. Glasso agierte 19 Halperson, Das Buch vom Zirkus, 151. Eine Sammlung von Fotografien von Artistinnen und Artisten findet sich veröffentlicht in: Sisis Künstleralbum. Private Photographien aus dem Besitz der Kaiserin Elisabeth. Hrsg. von Werner Bokelberg, erläutert und mit einer Einleitung von Brigitte Hamann, Dortmund 1981 (Die bibliophilen Taschenbücher 266: Dokumente der Fotografie). 20 Halperson, Das Buch vom Zirkus, 147. 21 Aspöck, Theorie der Unterhaltung, 25. 22 Herzlichen Dank an Robert Kaldy-Karo für diesen Hinweis.

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als Schlangenmensch und die Clowns Ribo und Chianchi konterkarierten die Nummern durch ihre Späße.23 Diese Aufzählung eines Zirkusprogramms um 1900 steht hier für eine Repräsentation des vornehmen Geschmacks, der, wie oben dargestellt, eine Synthese zwischen Elitärem und Populärem darstellte. Zu dieser Anordnung gehörten die adjektivische Beschreibung der Herkunft der Artisten und Artistinnen sowie die Angabe ihre Namen, die Benennung der Tiere oder die Betitelung der Nummern. Der Sammler von Zirkus-Memorabilia, Schriftsteller und Chronist Joseph Halperson, erinnert nach dem Ersten Weltkrieg melancholisch die transgressiven Momente zwischen Verfeinerung und Einfachheit dieser internationalen Formationen als Kennzeichen des Zirkus um 1900: Man hatte nur nötig zu beobachten, wie die Zuschauerschaft, die eben noch die klobigen Späße eines Clowns in kindlicher Unbekümmertheit belachte, mit einem Ruck sich sozusagen wiederfand und erwartungsvoll des Momentes harrte, da die nächste ‚Nummer‘ angekündigte ‚écuyère de haute école‘ auf figurantem Pferde in stolzem Schwimmtrab ihren Einzug hielt in die von dem Stallmeisterheer eilfertig zurechtgeharkter Bahn.24

Wien war eine Zirkusstadt, so Halperson, ganz analog zur Konzeption von Wien als Theaterstadt. Auch im Zirkusstadt-Konzept stehen die Erinnerung, das Rekurrieren auf Tradition sowie das Erfinden von Tradition im Zentrum. Die größten Unternehmen dieser Zeit ließen in Wien feste Zirkusbauten errichten.25 Hier fanden sich Vertreter der Eliten wie der Mittelschicht und, bei ermäßigten Preisen am Nachmittag, auch die sogenannten einfachen Leute und Kinder ein. Doch handelte es sich dabei nicht um jenes Massenvergnügen, das vorurteilsbeladen mit Rohheit und Derbheit assoziiert wird, sondern um höchst unterschiedliche Produktionen, die eine Poetik dressierter Körper vor Auge führten. Ebenso finden sich im Zirkus emanzipatorische Momente, hervorgerufen durch die gesellschaftliche Randgruppe von Artistinnen und Artisten, die in Fragen der Eleganz vorbildlich in elitäre Kreise wirkten.26 Migration erfährt durch den Ein23 Zirkuszettel Circus Angeli, Samstag, 16.12.1893, 37. Vorstellung, Anfang halb 8. High Life-Vorstellung. Österreichisches Theatermuseum, Theaterzettel- und Programmarchiv, Z3, Circus Angeli. 24 Halperson, Das Buch vom Zirkus, 147. 25 Die drei größten Unternehmen des ausgehenden 19. Jahrhunderts – Busch, Schumann und Renz – erbauten in Wien feste Zirkushäuser. Schumanns Zirkus (errichtet 1903/04) in der Märzstraße hatte ein Fassungsvermögen von 3.200 Personen, die im zweiten Bezirk erbauten Gebäude von Renz (errichtet 1853/54) und Busch (errichtet 1892) waren für 3.559 bzw. 2.600 Zuschauer ausgelegt. Robert Kaldy-Karo, Christoph Enzinger, Circus in Wien, Erfurt 2010 (Die Reihe Archivbilder). 26 Nach dem Ersten Weltkrieg scheint diese Tradition vergessen, denn Joseph Halperson fügte in seinem Buch vom Zirkus eine umfangreiche Fußnote ein, in der er Eheschließungen zwischen „Angehörigen der Zirkuswelt und Trägern altadeliger Namen“ anführte. Siehe Halperson, Das Buch vom Zirkus, 157.

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bezug der „Fahrenden“ den Aspekt einer künstlerischen Überlebensform, die auf dem Vazieren und der Grenzüberschreitung basiert. Wien, so schrieb Walter Rohde als Warnung vor einer sich abzeichnenden Provinzialisierung 1920, höre auf Wien zu sein, „ohne den geistigen Anschub, die Fülle der Gestalten und Provenienzen aus der austroslavischen und austroromanischen Welt, ohne das Völkergesindel im Wurstelprater, ohne die Austrobarbaren […]“.27 In der sich formierenden Moderne des 19. Jahrhunderts nimmt Zirkus den besonderen Platz der melancholischen Erinnerung an höfische Lebensart ein, die sich zum populären Vergnügen metropolitaner Identitäten transformiert. Das Moment „Zirkus“ muss bei einer Analyse kultureller Distinktion mitberücksichtigt werden, da hier spezifische Geschmacksformationen und -transgressionen zu beobachten sind. Um 1900 finden sich diese Unterhaltungsformen noch als Mischung zwischen aristokratischem und populärem Vergnügen, doch werden sie im Unterschied zu einigen Jahrzehnten zuvor als befremdliche Dekadenz gewertet. Als prominente Wiener Schauspielerinnen und Schauspieler im März 1898 zu einer Wohl­ tätigkeitsveranstaltung für invalide Bühnenkünstler, einer „großen equestrische Akademie“, in den Zirkus Renz luden, griffen die Karikaturzeitschriften Der Floh und Die Bombe dies auf, um es als Zeichen für den Untergang von Theaterkultur zu evozieren.28 Das gemeinsame Agieren von Schauspielern und Schauspielerinnen wie Joseph Lewinsky, Helene Odilon, Adolf von Sonnenthal, Hansi Niese oder Adele Sandrock mit den Zirkusleuten Ernst Renz (dem Enkel von Ernst Renz senior) und dessen Frau galt den meisten Rezensenten als unwürdig. 2. Von der Utopie einer Nation in gemeinsamer Schaulust

Für Fragen nach dem vor allem in Erinnerungen apostrophierten Kosmopolitismus Wiens29 bietet die von 7. Mai bis 9. November 1892 anberaumte Internationale Ausstellung für Mu27 Siehe Daniela Strigl, Vorzugsschüler und Austrobarbaren, in: Der Standard, 10.12.2011, Album A 10; Walther Rode, „Wien und die Republik und andere aufmerksame Beobachtungen“, hrsg. von Alfred J. Noll, Wien 2011. 28 Die Bühnenkünstler im Circus. „Faust: Du hast wohl recht, ich finde nicht die Spur/Von einem Geist, und Alles ist Dressur“, Karikatur, in: Der Floh. Politische, humoristische Wochenschrift, 13.3.1898, XXX Jg., Nr. 11, 12.; „Circusleute“, Gedicht, in: Die Bombe, XXVIII Jg., Nr. 11, 2. Eine Beschreibung dieser Veranstaltung findet sich in Gerhard Eberstaller, Zirkus und Varieté in Wien, Wien – München 1974, 42f. 29 Beispiele finden sich u.a. bei: Elise Richter, Summe des Lebens, hrsg. vom Verband der Akademikerinnen Österreichs, Wien 1997, Kapitel 16, 50–55; Max Reinhardt, Autobiographische Notizen (um 1940), State University of New York at Binghampton, Max Reinhardt Archiv, R 5580, zit. nach Edda Fuhrich/Ulrike Dembski/Angela Eder (Hrsg.), Ambivalenzen. Max Reinhardt und Österreich, Wien 2004, 13; Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 2006, 30.

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sik- und Theaterwesen in der Rotunde im Prater wichtiges Analysematerial. Hier finden sich Aspekte zur Bearbeitung der These einer anderen Wiener Moderne, gedacht aus den Paradigmen Migration und Innovation, in verdichteter Form. Großausstellungen boten um die Jahrhundertwende den notwendigen Raum und kreierten einen Ort, an dem sich die vornehme Welt und die Menge der Nichtprivilegierten versammelten, als bildeten sie die Einheit einer Nation. Für die Repräsentation der Residenzstadt Wien des späten 19. Jahrhunderts erweist sich diese Utopie als höchst verführerisch, da einer in Nationalitätenkonflikten, Antisemitismus und Deutschtümelei zerfallenden Gesellschaft solche Spektakel Einheit vorzutäuschen vermochten. Die Präsenz von Ausstellungen, die vor allem seit der Wiener Weltausstellung 1873 die Selbstrepräsentation der kaiserlichen Residenzstadt prägten und bis in die Erste Republik in dieser Funktion nachwirkten,30 verdeutlicht eine kulturelle Konstruktion, in der sich Nationalitätendebatten mit Fragen nach der „richtigen“ Kultur vermengen. Die internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen vereinte in sich kulturelle Werte Wiens bzw. formulierte sie als solche.31 Im gegebenen Zusammenhang interessieren, wie und welche Theaterformen ausgestellt wurden sowie die Gesamtinszenierung des Schauereignisses bzw. Spektakels der Theaterausstellung in und um den modernen Monumentalbau der Rotunde im traditionsreichen Vergnügungsort des Wiener Praters. Die im Kanon kulturgeschichtlicher Forschung angenommen Dichotomie von Hochkultur und Populärkultur wird in diesem Beitrag infrage gestellt. Denn schon bei der Suche nach einem treffenden Gegenbegriff zu Hochkultur finden sich verschiedenste Bezeichnungen, die nicht dasselbe meinen. Niedere Kultur, Massenkultur, Volkskultur und Populärkultur weisen auf die Uneinheitlichkeit der subsumierten mitgemeinten Phänomene hin. Anhand dieser Wiener Schauereignisse um 1900 können transgressive Momente herausgearbeitet werden, die mit den konstruktiven Elementen einheitlicher nationaler Identitäten korrespondieren. Hinter diesen komplexen Vorgängen um Theater und Spektakel verbergen sich Nationalitätendiskurse. In der satirischen Wochenzeitung Die Bombe findet sich anlässlich des kulturellen Großereignisses in Wien des Jahres 1892 ein „Ausstellungs-Vorspiel (frei nach Goethe)“. 32 Die Worte 30 Allein dem Thema Theater widmeten sich 1907 die Wiener Musik und Theaterausstellung in den Gartenbausälen, 1922 „Die Komödie“ in der Hofburg, 1924 die Internationale Theaterausstellung im Rathaus. 31 Wobei in dieser Studie der Musik aufgrund eines eigenen Beitrags im Buch und bereits vorliegender ausgezeichneter Forschung nicht weiter nachgegangen wird. Siehe Martina Nußbaumer, Musikstadt Wien. Die Konstruktion eines Images, Freiburg im Breisgau – Wien 2007 (Edition Parabasen 6). 32 Ausstellungs-Vorspiel (frei nach Goethe), in: Die Bombe, XXII (8. Mai 1892), 19: „Ihr Werthen, denen ich so oft / In meinem Leben beigestanden / Sagt, was Ihr wohl in unseren Landen / Von uns’rem Unternehmen hofft? / Ich wünsch’ so sehr, es möge mir gelingen, / Dereinst in Meyer’s

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sind der Mäzenatin des Schauereignisses, Pauline von Metternich-Winneburg (1836–1921), als „lustiger Fürstin“ in den Mund gelegt. Die satirische Darstellung in der Bombe verweist auf für Wien ebenfalls spezifische Verhandlungsmodi des Parodistischen und der Karikatur, letztere durchgängig antisemitisch. 33 Zur Formulierung einer anderen Moderne scheint der Blick auf populäre Verfahrensweisen notwendig, um abseits kanonisierter Forschungen – etwa zu Karl Kraus – ein Gesellschaftsgefüge in Wien um 1900 sichtbar zu machen, das um Theater und Spektakel die Utopie einer homogenen nationalen Identität konstruierte. Im Zuge dieses Prozesses bzw. als grundlegend erweisen sich Distinktionen zwischen sogenannter hoher und niederer Kultur, der Repräsentation und damit Kreierung von Elitärem wie Populärem. Pauline von Metternich als geschmacksvorgebende, kulturelle Werte formulierende Kraft birgt in sich gesellschaftspolitische Paradigmen der Wiener Moderne. Als Vertreterin der vornehmen Gesellschaft vereint sie durch ihre Herkunft als Enkelin des ehemaligen Staatskanzlers Metternich Erinnerung an die Tradition des Zensors mit einem modernen Verständnis vom Hof, indem sie ihre gesellschaftliche Position als Mäzenatin vor allem von Theater und als Wohltäterin für Arme nutzte. Zugleich galt sie als Autorität in Fragen des Geschmacks und Lebensstils für den österreichischen Adel. Dem Hof eng verbunden, doch in die Gesellschaft zu wirken, Hof und Gesellschaft zusammenzubringen, scheint ihren Aktivitäten zugrunde gelegen zu sein. Die dafür gewählten Mittel wie die Ausrichtung eines theatralen Schauereignisses an Wiens utopischem Ort „des zeitlos Popularen“34 oder das Engagement des berühmtesten Burgschauspielers dieser Ära, Adolf von Sonnenthal, als „Benimmlehrer“ für adelige Kreise, umreißt diese eher unbekannten Aspekte der Wiener Moderne um 1900. Julia Danielczyk weist in einem Artikel zur Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen deren kulturpolitische Ausrichtung und imagebildende Funktion im Kontext eines Metropolenwettkampfs nach.

Lexikon zu steh’n, / Drum möchte auch der Menge ich behagen / Weil, wie ihr wißt, sie lebt und leben läßt, / D’rum hab’ den ,Hohen Markt‘ ich aufgeschlagen / Und plane hier manch’ lust’ges, schönes Fest, / Ich weiß, wie man den Geist des Volks versöhnt, / Doch so verlegen bin ich nie gewesen; / Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt, / Doch ist zu oft schon Ausstellung gewesen. / Wie machens wir’s, daß Alles frisch und neu / Wenn auch im Innern nicht, so doch von außen sei? / O, steht mir diesmal bei, Ihr lieben Musen – / Sehr, wie vor Aufregung mir wallt der Busen!“ 33 In Wien um 1900 erscheinen eine hohe Anzahl an satirischen Periodika wie u.a.: Kikeriki, Der Floh, Die Bombe, Hans-Jörgl von Gumpoldskirchen. 34 Siegfried Mattl/Werner Michael Schwarz, Utopia des „zeitlos Popularen“, in: Siegfried Mattl/Klaus Müller-Richter/Werner Michael Schwarz (Hrsg.), Felix Salten: Wurstelprater. Ein Schlüsseltext zur Wiener Moderne, Wien 2004, 127–146.

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In den 1880er Jahren machte sich die Erkenntnis eines Zurückfallens Wiens hinter die aufstrebende Metropole Berlin breit, und kritische zeitgenössische Auseinandersetzungen mit Berlin verweisen auf eine offensichtliche schwere ‚Imagekrise‘ Wiens in dieser Phase. Angesichts dieser Wahrnehmung sozioökonomischer Rückständigkeit verlagerte sich das Selbstverständnis Wiens zunehmend auf den Topos der traditionsbewussten Theaterstadt.35

Danielczyk siedelt die kulturell-nationalen Hierarchisierungen, die über die Ausstellung erfolgten, auf drei Ebenen an. Zum einen galt es, die Vormachtsstellung der deutschen Nationalität innerhalb der Monarchie zu behaupten, zum zweiten die führende Rolle des Habsburgerstaats im europäischen Kontext herauszustreichen, um drittens Europas Dominanz gegenüber der nicht-europäischen Welt zu erklären. In der Diktion der Ausstellung erlangten dabei die Begriffe „Weltbürgerthum“ und „Völkerfriede“ Geltung. Neben den Ausstellungsexponaten36 dienten das eigens errichtete Internationale Ausstellungstheater, die Hanswurstbühne, ein chinesisches Schattentheater und ein Théâtre tîntamaresque (es beruht auf einem optischen Trick, der die Darsteller extrem verkleinert) als Orte, diese nationalen Ambitionen wirksam werden zu lassen. Im Ausstellungstheater, einem modernen Holzbau der meistbeschäftigten Theaterarchitekten der Monarchie, Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, wurden internationale Gastspiele in Originalsprache gezeigt. Das Deutsche Theater Berlin eröffnete im Mai, es folgten die Wiener Bühnen Deutsches Volkstheater und Carltheater. Nach diesem deutschsprachigen Eröffnungsschwerpunkt gastierten die Comédie Française und das Königliche Böhmische Landes- und Nationaltheater Prag, das L’Odéon Paris und das Hamburger Stadttheater, die venezianische Volksbühne, wieder das Deutsche Volkstheater, das Theater an der Wien, das polnische Theater, die italienische Operngesellschaft und im Oktober 1892 als Abschluss das Ungarische Nationaltheater Budapest.37 Gezeigt wurden zeitgenössische Dramatik, Oper, französische Salonkomödie und italienische Komödie. Das elegante und, wie betont wurde, modernst ausgestattete Ausstellungstheater sollte – in Analogie zum Neu-Wien der Stadterweiterung, das sich ja in den Neubauten von Burgthe35 Julia Danielczyk, Die Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen in Wien 1892 und ihre imagebildende Funktion, in: Stefan Hulfeld, Birgit Peter (Hrsg.), Theater/Wissenschaft im 20. Jahrhundert. Beiträge zur Fachgeschichte, Maske und Kothurn 55, Jg. Heft 1–2 (2009), 27–38, hier: 30. 36 Eine genaue Beschreibung der Exponate findet sich in Danielczyk, Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen, 27–38. 37 Ein aus Theaterzetteln zusammengestellter Spielplan findet sich im Anhang der Diplomarbeit von Katharina Lauterbach, Die Musenburg im Prater. Zur Bedeutung der Gastspiele des Internationalen Ausstellungstheaters im Rahmen der Internationalen Ausstellung für Musik- und Theaterwesen in Wien 1892. Ein Beitrag zur wienspezifischen Theaterhistoriographie, Dipl.-Arb. Univ. Wien, Wien 2010. 

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ater und Hofoper inszenierte – den vornehmen Geschmack europäischer Kultureliten präsentieren. Zur Konstruktion dieses Neu-Wien-Images gehörte als andere Seite, als Tradition, die Konstruktion von Alt-Wien, in der Ausstellung nachgebaut und über die rekonstruierte Hanswurst-Bühne wirksam gemacht. Auf dieser nachgebauten Hanswurst-Bühne am ebenfalls nachgebauten Hohen Markt in einem rekonstruierten illusionären „Alt-Wien“38 agierten 1892 jene, die sich als „Erben“ des Wiener Hanswurst verstanden, um ihn wie auch die Tradition der extemporierten Komödie einem Wiener und internationalen Publikum vor Augen zu führen.39 In diesem rekonstruierten Alt-Wien wurde auf eine Tradition zurückgegriffen, die in der Figur Joseph Anton Stranitzkys auf ihren Kulminationspunkt als „Erfinder des Wiener Hanswurst“ traf. Als ein „Cosmopoli auf Kosten der Societät“ veröffentlichte dieser 1728 unter dem Titel „Olla Potrida“ eine Sammlung komischer Szenen.40 Darin enthalten sind unter anderem Beschreibungen einer Residenzstadt auf dem Mond, ihres Herrscherhauses wie der Untertanen, die als grotesk-komischer Spiegel der kaiserlichen Residenzstadt Wien erscheinen: „Es ist eine schöne Hauptstadt, sauber, wohl gemacht, von einer treflichen Taille, roth und weiß, wie Milch und Blut.“41 Die Häuser der Stadt sind „auswendig“ gebaut, innen befinde sich nichts. In der Maske eines Reisenden namens Fuchsmundi, der sich als Italiener aus dem Prato ohne Stand und Beruf ausgibt, oder eben als Gesandter vom Mond, agierte der Cosmopoli gegen die sich im 18. Jahrhundert formierende gesellschaftliche Konvention der nationalen Selbstversicherung im Prozess bürgerlicher Subjektkonstitution. Diese Tradition wurde für die Hanswurst-Rekonstruktion des Jahres 1892 neu bewertet und für das Image Wiens sowohl national als auch international wirksam gemacht. X. Flock alias Friedrich von Radler,42 Verfasser der neu-alten Hanswurstiaden für die nachgebaute Bühne und Hanswurst-Historiograf der Internationalen Ausstellung für Musik- und 38 Siehe Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Wien Museum (Ausstellung im Künstlerhaus, 25. Nov. 2004–28. März 2005), hrsg. von Wolfgang Kos u.a., Wien 2004 (Sonderausstellung des Wien-Museums, 316). 39 Der populäre Wiener Komiker Ludwig Gottsleben (1836–1911) verkörperte den Hanswurst, in einigen Stücken stand ihm der Schauspieler Kräuser als zweiter Hanswurst zur Seite. 40 Siehe Carl Friedrich Flögel, Geschichte des Groteskekomischen. Ein Beitrag zur Geschichte der Menscheit. Liegnitz und Leipzig bey David Siegert 1788. Flögel besaß jene zweite Olla Potrida aus 1728, die Friedrich Nicolai nicht erwähnt: „Der kurzweilige Satyricus, welcher die Sitten der heutigen Welt auf eine lächerliche Art durch allerhand lustige Gespräche, und curieuse Gedanken in einer angenehmen Olla potrida des durchgetriebenen Fuchsmundi, zur vergnügten Gemüthsergötzlichkeit vor Augen gestellet. An das Licht gebracht von einem lebendigen Menschen. Cosmopoli auf Kosten der Societät. In dem Jahr, da Fuchsmundi feil war.“ 41 Stranitzky nach Flögel, Geschichte des Groteskekomischen, 129. 42 Friedrich Johann Edler von Radler (1847–1924), Wiener Magistratsbediensteter und Begründer des Amtsblattes der Stadt Wien.

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Theaterwesen, sah die innovative Leistung Stranitzkys darin, mit einem deutschsprachigen Hanswurst den mit dem bergamasken Gosso eng verbundenen Arlecchino vertrieben zu haben.43 Der mit der lustigen Person verknüpfte sprachliche Ausdruck geriet in den deutschsprachigen Theaterdebatten des 18. Jahrhunderts zum nationalen Ausdruck, ein deutscher Hanswurst triumphierte über den italienischen Harlekin.44 Innerhalb dieses Diskurses prägte ein sogenannter „Hanswurststreit“ als österreichische Variante über Jahrzehnte die deutsche Nationaltheaterdebatte.45 Radler bediente eben diesen Topos Wiener Theaterdebatten, in denen die Vormachtstellung der deutschsprachigen Gruppen vor anderen Nationen oder Gruppen verhandelt wurde. Anders als in deutschnationalen Debatten gilt es hier den Prozess der Kreation von Deutsch­österreich zu beobachten. Vorwiegend über Wien als Schmelzpunkt dieses nationalen Konstrukts wurden ehemals grenzüberschreitende grotesk-komische Traditionen als genuin wienerische – österreichische – deutsch-österreichische verortet. Radler konnte auf immer wieder in der Theaterpraxis verhandelte theaterhistoriografische Positionen zurückgreifen, die er ins genuin Wienerisch-Österreichische transformierte. Ein Beispiel solch einer historischen, in der Theaterpraxis erörterten Historiografie boten Stücke von Friedrich Kaiser wie „Der letzte Hanswurst. Zeitgemälde mit Gesang in 2 Akten“, 1853 am k. k. priv. Carl­theater „mit Beifall“ uraufgeführt. Rund um die historischen Personen Johann Gottsched, den Theaterreformer und Geschmacksbereiniger, Caroline Neuber, die legendäre Prinzipalin der ebenfalls im Stück präsenten Neuberschen Truppe, die Hanswurste Josef Ferdinand Müller aus Leipzig, Franz Schuh aus Breslau und Gottlieb Prehauser aus Wien, wird vom „Tod“ der alten extemporieren Komödie berichtet, die als Hanswurst-Komödie mit moralischem Anspruch neu ersteht. Schuh: Wir ziehen unsere alte Hanswurstjacke aus und ziehen eine neue an. Glaubst Du, der alte Hanswurst sei todt? O nein, so lange es auf der Welt fröhliche Menschen gibt, die lachen wollen, wird er immer wieder – zwar in anderen Formen, wie der Phönix aus der Asche auferstehen. Das Kleid, den Namen und die extemporierten Komödien können sie begraben, aber die Komik wird ewig leben. Dixi! Die Bürger: Vivat der Hanswurst!46 43 X. Flock, Hanswurst, seine Ahnen und Erben. Internationale Ausstellung für Musik- und Theaterwesen, Wien 1892, 15. 44 Siehe Otto Driesen, Der Ursprung des Harlekin. Ein kulturgeschichtliches Problem, Berlin 1904. 45 Karl von Görner, Der Hans Wurst-Streit in Wien und Joseph von Sonnenfels, Wien 1884. 46 Friedrich Kaiser, Der letzte Hanswurst. Zeitgemälde mit Gesang in 2 Akten. Musik von Kapellmeister Carl Binder. Am 2 Juni 1853 zum ersten male im k. k. priv. Carl-Theater mit Beifall aufgeführt. Manuscript für Bühnen und Eigenthum der Theater-Agentur des Adalbert Prix in Wien (Bibliothek des Österreichischen Theatermuseums).

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Im Schlusssatz seiner Begleitbroschüre zur rekonstruierten Hanswurst-Bühne bedient sich Radler ganz ähnlicher Worte: Der Hanswurst ist todt! Und dennoch lebt er in Tausenden von Exemplaren heute noch, und wird fortleben, – stets ein Zeitgenosse, mitten unter uns, in allen möglichen Formen und Kleidern, wenn er es auch selbst nicht weiss oder wissen will, dass er ein echter und rechter Hanswurst ist.47

In seinen eigens für die neu-alte Hanswurst-Bühne verfassten Hanswurstiaden erzählt Radler/ Flock von der „Geburt“ des Hanswurst aus dem Ei, die sich als Verdrängung seines italienischen „Vaters“ Harlekin entpuppt. Raum bekommen populäre Wiener Hanswurst-Darsteller wie Felix Kurz Bernadon und legendäre Hanswurstiaden wie „Prinzessin Pumphia“. Zudem handelt ein erhalten gebliebenes Stück vom Hanswurst in der Heimat, ein anderes vom Hanswurst in der Fremde.48 Als Heimat der Hanswürste wird in Anspielung auf Stranitzkys Hanswurst-Kreation eines Salzburger Bauern Salzburg genannt. Radler folgt hier den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, in Görners Schrift zum Hans-Wurst-Streit schrieb dieser über Stranitzky: „Er nahm dafür die alte Maske des deutschen Narren, eines dummwitzigen Bauern, dem er speciell die Salzburger Tracht, die kernige Ausdruckweise der Aelpler gab, und nationalisierte auf diese Weise wieder den italienischen Possenreisser.“49 Radlers Hanswurstiade „Die beiden Hanswürste in der Heimat oder Die Unzertrennlichen, öfters feindlichen, doch aber wieder sich vereinigenden lustigen Zwillingsbrüder mit Colombine der listigen Wirthin“ spielt mit der Tradition der Hanswürste, um neue Akzente für die Zuschauer von 1892 zu setzen. Die von ihm gewählte Genrebezeichnung „Possenspiel mit Gesang“ statt extemporierter Komödie stellt den alten Hanswurst neben das zeitgenössische Repertoire sogenannter Vorstadttheater wie des Carltheaters oder des Theaters in der Josefstadt. Durch diesen Vorgang historisiert und nationalisiert Radler die Possenproduktion um 1900, gleichzeitig benutzt er die Rezeptionsgeschichte des alten Hanswurst, um neue Nationalisierungsvorgänge zu betreiben. Aus der historischen komischen Händlerfigur, die meist als Italiener erschien, entwickelt er den „Hendlkrabat“. Krabat bedeutet „Kroate“, der bei Radler ein slowakisch-tschechisch-wienerisch-radebrechendes Sprachgemisch erhält. Slowakisch sprechende Kroaten zählten zu einer der vielen slawischen Sprachgruppen der Monarchie. Die hier erfolgte „Archivierung“ in der Hanswurst-Posse erlaubt einen Einblick in den

47 Flock, Hanswurst, 21 (Hervorhebung im Original). 48 Sammlung von sieben Hanswurstiaden in: Friedrich von Radler, Der Wienerische Hanswurst, Wien 1894. Der Hanswurst-Darsteller Gottsleben berichtet von über 30 Possen; siehe: Ludwig Gottsleben, 50 Jahre Komiker!, Wien 1910. 49 Görner, Der Hans Wurst-Streit, 1.

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gesellschaftlichen Status nicht-deutschsprachiger Österreicher im Wien um 1900 ebenso wie in einen alltäglichen Umgang verschiedener Sprachgruppen der multinationalen Monarchie: Hendlkrabat: Gonze Thaler! Ale potom, pane, – bin ich herbestellt zu Wirthin von Waldteufel. Muß ich Wurth halten, sonst verlier’ ich potom Kundschaft. Aber geht den milost pán da hinten, gleich nebenan in Scheuer, da liegen Landsmann meinige andere Hendlkrabat auf faule Haut, laß’ ich grüßen und sag’n, soll herleihen, was milost pán will; hate auch Mantel und Steig’n, wie ich.50

Arm, unfreiwillig komisch, latent faul, aber gutmütig erscheint der „Krabat“. Seine Sprache setzt sich aus Tschechisch-Slowakisch-Deutsch zusammen, auch wenn er als „Krabat“ ein Kroate sein mag. Die Mischung verschiedener slawischer Sprachen, die nicht eindeutige Herkunft wird den sich in ihrer Heimat Salzburg doppelt verorteten gewitzten deutschsprachigen Hanswursten gegenübergestellt. Auch wenn Radler mit sprachlichen Verbrüderungen arbeitet, dienen diese allein der Komik. Hendlkrabat gibt ihm Mantel, Hut und Steige. Da is G’wand, – da ist steig’n, – pojd sem – pojd sem, milost pane! Thale silberne und vino, vino, vino! To je dobré

Hängt sich an Hanswurst an. Erster Hanswurst: Sauft a gern, der Kerl aus der Krabatei! – Also pojd sem, pojd sem! […]51

Die Hanswürste eignen sich Maske und Sprache des „Krabaten“ an, um die Wirtin zu übertölpeln und zu ihrem Vorteil zu gelangen. Der Krabat selbst taucht im Stück nicht mehr auf. Radler integrierte also einen Vertreter der slawisch-sprachigen Unterschicht in diese Neuerfindung Wiener Komiktradition und zeigte ihren Status als freundliche, aber niedrige Existenz an. Kristin Kopp wies in ihrem Text zu Felix Saltens 1911 erschienenem „Wurstelprater“ auf die Inhärenz von populären Unterhaltungen und dem Sprachgruppen- bzw. Ethnienregime der Monarchie hin: This model of unity in the Empire, however, did not require equality amongst its citizenry, and indeed allowed for a centralization of power in the hands of ethnic Germans. Their desire to 50 X. Flock, Die beiden Hanswürste in der Heimat oder Die Unzertrennlichen, öfters feindlichen, doch aber wieder sich vereinigenden lustigen Zwillingsbrüder mit Colombine der listigen Wirthin. Possenspiel mit Gesang, in: Friedrich von Radler, Der Wienerische Hanswurst, 25. 51 Ebd., 27. Pojd sem (tschechisch) bedeutet „Komm her!“, milost pane (tschechisch und slowakisch) bedeutet „Euer Gnaden“ oder „Gnädiger Herr“; das heißt der „Krabat“ mischt die Stände in seiner Anrede. Vielen Dank an Nicole Kandioler für die Übersetzung und den scharfsinnigen Blick auf die Komik dieser Passagen.

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maintain economic and political dominance made it necessary to place Slavic migrants within a logic of imperial cohesion while also naturalizing an ethno-racial hierarchy in which they could be subordinately positioned.52

Insbesondere um die komische Figur des Hanswurst finden sich Spuren nationaler Identitätskonstruktion, in der Theater und Schau als Verhandlungsort distinkter Prozesse fungieren. Bekanntere Beispiele für die Bedeutung von Theater im Distinktionsprozess der verschiedenen Sprachgruppen, Nationalitäten und Gesellschaftsschichten der Monarchie liefert das Operettengenre, wo Kreationen wie etwa Johann Strauß’ „Der Zigeunerbaron“ (1885) die verschiedensten Subordinierten synthetisierten. 3. Wiener Theater als nationale Kategorie: Ein Beispiel für dessen Außenrepräsentation

Im ersten Jahrgang der in Berlin veröffentlichten Theaterzeitschrift Bühne und Welt (1898/1899) erschien ein Heft zum Wiener Theater.53 Die Beiträge und insbesondere ihre Anordnung geben Aufschluss über die zu erfolgenden Wertungen von Theater sowie Schauspielern und Schauspielerinnen in der Residenzstadt, die als tonangebend für die Bedeutung des Theaters für die österreichisch-ungarische Monarchie positioniert wurden. Der Burgtheater-Historiograf Oskar Teuber eröffnet das Heft mit „Kaiser Franz Joseph I. und das Burgtheater“, danach folgt eine historische Darstellung der Privattheater Wiens­ durch den Theaterkritiker und Schriftsteller Jakob Julius David. Josef Lewinsky, einer der Burgtheaterstars, bringt die Perspektive des Schauspielers ein, an „diesem Tempel der Kunst“ verantwortungsvoll für die Monarchie zu wirken.54 Dem eben errichteten Kaiserjubiläums-Stadttheater widmet sich ein anonym verfasster Beitrag, dem eine Begegnung mit dem wohl berühmtesten Burgschauspieler Adolf Ritter von Sonnenthal folgt. Die weiteren Beiträge befassen sich mit „Wiener Komiker[n]“ (Maximilian Garr) und dem „Walzerkönig“ Johann Strauß (Ilka Horovitz-Barnay). Abschließend wird das Heft durch einen „Budapester Theaterbrief“ von Mavro Spicer der Staatskonstruktion „Österreich-Ungarn“ gerecht. Am ersten, dem Kaiser und dem Burgtheater gewidmeten Beitrag kann die Etablierung Wiens als moderne Theaterstadt unter der Patronanz des Monarchen nachgezeichnet werden. Teubers Beitrag wird durch eine besondere grafische Gestaltung hervorgehoben. Das Foto-Porträt des Monarchen, gerahmt von den zwei Musen Melpomene für die Tragödie und Polyhymnia für die Musik, blickt die Leser an. Diese Ikonografie birgt wesentliche Aspekte 52 Kristin Kopp, The Ethnic Immigrant in the Metropolis or Containing the „Slavic Flood“ in the Viennese Wurstelprater, in: Mattl/Müller-Richter/Schwarz (Hrsg.), Felix Salten, 181–195, hier: 184f. 53 Bühne und Welt, 1. Jg. 1898/99, Heft 6. 54 Josef Lewinsky, Sic transit!, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 265–266, hier: 265.

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der Darstellung von Theater und Kultur in Wien um 1900. Das Bild des Kaisers verbindet Modernität – repräsentiert durch die Fotografie – mit antikem Erbe, die Grafik im Jugendstil suggeriert eine harmonische Verbindung von Gegenwärtigkeit und Geschichtlichkeit. Carl Schorskes resümierender Befund seiner Fin de Siècle-Forschungen „Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne“ von der „Anwendung des Historismus […] auf eine konkrete Aufgabe: die Konstruktion einer modernen Hauptstadt für ein altes Reich“55 trifft auf die Repräsentation von Theater in besonderer Weise zu. Denn diese Kunstform verhandelte den Anspruch zwischen Tradition und Innovation, zwischen Historizität und Modernität, um ihn für die heterogene Gesellschaft der Habsburgermonarchie wirksam zu machen. Der 1888 eröffnete Neubau des Hoftheaters am Ring verkörpert in seiner architektonischen Erscheinung den Anspruch einer historistischen Modernität. Oskar Teuber argumentiert in seinem Artikel zu Franz Joseph I. und dem Burgtheater die nationale Aufgabe der Bühne als monarchische Tradition: Dieser herrliche Palast deutscher Kunst, den kein zweiter an Pracht und Reichtum überbietet, er ist erstanden nach dem Gebote des regierenden Monarchen. Franz Joseph I. ist der zweite Stifter des Wiener Burgtheaters geworden, das sein großer Ahn Joseph II. zum deutschen National- und Hoftheater erklärt […] zu dem ersten Schauspielhause deutscher Zunge erhoben hatte.56

Die engagierten Schauspieler und Schauspielerinnen trugen demzufolge höchste Verantwortung, diese monarchische Kultur Wirklichkeit werden zu lassen. Teuber betont, wie meisterlich dies in der Geschichte der Institution gelungen sei, sodass einige Vertreter zu Rittern geschlagen wurden. Und ähnlich jenem Verfahren hat Franz Joseph dem Schauspieler die Ehren der besten Staatsbürger offen zuerkannt. Wurden seine Hofschauspieler in ihrer materiellen Lage hoch über alle anderen Standesgenossen gestellt, zögerte der Kaiser nie, das hervorragende Talent kaiserlich zu lohnen und auch dadurch das Burgtheater zu einem glanzvollen Anziehungspunkte für die Meister dieses Standes zu machen, so hielt er diese Meister auch solcher Auszeichnungen für wert, welche nur den besten Staatsbürgern zuerkannt wurden […] so wurden La Roche und Sonnenthal die ersten Ritter der Eisernen Krone im Schauspielerstande.57

55 Carl E. Schorske, Mit Geschichte denken. Übergänge in die Moderne. Mit einem Geleitwort von Aleida Assmann. Aus dem Amerikanischen von Georgia Illetschko und Erik M. Vogt (Orig. 1998 Princeton University Press), Wien 2004, 22. 56 Oskar Teuber, Kaiser Franz Joseph I. und das Burgtheater, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 245–257, hier: 245. 57 Ebd., 251.

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Aus der ehemaligen gesellschaftlichen Randgruppe wandernder Komödianten erfolgte über das Nationaltheater eine beispiellose Nobilitierung zu höchster Anerkennung. Die unter solchen Auspizien ideal konnotierte Theaterkunst des Burgtheaters scheint in Teubers Darstellung nicht von Zwängen reeller Art beeinträchtigt gewesen zu sein. In die soziale Wirklichkeit weniger privilegierter Untertanen führt dann J. J. Davids Artikel zu den Privat­ theatern Wiens. Seine Darstellung der letzten 50 Jahre trägt einen resignativen Ton, eigentlich habe sich trotz zweier Stadterweiterungen an der Zahl und am Standort der privaten Bühnen wenig verändert. Als Privatunternehmen, weist David nach, waren Theaterproduktion und vor allem die Schauspieler und Schauspielerinnen den Geschäftsgebaren der Direktoren unterworfen, die sich durch Gier und Spekulation auszeichneten. Schlimme Scenen haben wir miterlebt – Schauspieler, die mitten im Winter brotlos dastanden und sich um den traurigen Erwerb von Schneeschauflern bemühen mußten; wiederholt mußten in der Millionenstadt Wien die öffentliche Mildtätigkeit, und nicht etwa für Mitglieder einer rasch von einem Abenteurer zusammengestellten Truppe, nein für angehörige von Kunstinstituten mit einer ruhmreichen Vergangenheit, angerufen, in der Residenz, der Stätte stolzesten Theatererinnerungen Deutschland überhaupt, auf Teilung gespielt wurde.58

Sogenannte Benefiz-Vorstellungen zum Vorteil eines Schauspielers oder einer Schauspielerin waren insbesondere erfolgreich, wenn dafür Nestroy gewählt wurde.59 Nestroy und Raimund sind denn auch die beiden Theaterschaffenden, die David als „stolzeste Theatererinnerung“ apostrophiert; dazu gehören noch der Komiker Wenzel Scholz und der Dramatiker Friedrich Kaiser, „ein so tüchtiges Talent […] zu unrecht völlig vergessen“.60 David hebt nicht Theaterleiter oder Institution wie Carl Carl und sein legendäres Carltheater hervor, sondern Autoren und Schauspieler als diejenigen, die Kunst produzierten, allerdings am wenigsten von Erfolgen profitierten.61 Dazu kritisiert er das Wiener Publikum als konservativ und jeglicher Innovation abgeneigt, was auch die Theaterkritik beeinflusst habe. Sein Beitrag, der als Rückblick auf die letzten 50 Jahre angelegt ist, scheint in dem Plädoyer dafür, Theater nicht als Geschäft zu organisieren und sich unabhängig von Launen der Finanziers und des Publikums zu machen, ganz Davids Gegenwart verpflichtet zu sein. Die Orientierung der Privattheater an der sich in der Innenstadt formierenden Kapitalisierung von Kultur benennt David als höchst bedenkliche Entwicklung. 58 J. J. David, Die Privat-Theater Wiens, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 259–264, hier: 263. 59 Diese Wohltätigkeitsveranstaltungen ersetzten nicht vorhandene soziale Absicherungen wie Krankenkasse oder Altersvorsorge. 60 David, Die Privat-Theater Wiens, 261. 61 Es existierte keine Tantiemenregelung für Autoren, die Verträge der Schauspieler waren von der Willkür der Theaterdirektoren bestimmt.

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Vordem war sie der Bezirk des Adels, das Reichtums, mit einem Worte der höheren Lebens- und Luxusbedürfnisse. Neuerdings und nach dem Muster anderer Großstädte wird sie mehr und mehr Geschäftsviertel. Damit allein hat sich eine folgenschwere und vielleicht in ihrer ganzen Bedeutung noch nicht erkannte Wandlung vollzogen. Die Bühnenkunst muß sich mehr an die Peripherie begeben. Dort sind weite Schichten des Volkes zu entdecken, die das Theater eigentlich noch kaum kennen, bei denen Werke, die in der Stadt und ihrer nächsten Nähe schon skeptischem Lächeln begegnen, wie neue unerhörte Funde wirken müßten.62

Dieses Plädoyer Davids erinnert an Konzepte einer in erster Linie sozial und nicht national gedachten Volksbühnebewegung, wie sie in Berlin seit 1890 durch die Freie Volksbühne diskutiert wurde.63 In Wien allerdings formierte sich eine Spielart nationaler Volksbühne, jene von Adam Müller-Guttenbrunn, der bereits das Raimundtheater initiiert hatte und nun auch das Kaiserjubliäums-Stadttheater auf Basis einer Publikumsorganisation leitete. Guttenbrunn tat sich in Wiener Theater- und Kulturdebatten hervor, indem er die österreichische Eigenart als Variation deutscher Nationalität definierte.64 Über Ferdinand Raimund als Projektionsfigur erfand er Alt-Wiener Sittlichkeit als Kennzeichen echt-österreichischer „Volkskunst“, die wiederum der deutschen über die Grenzen der Monarchie hinaus zugeordnet wurde bzw. vorbildhaft für die Definition deutscher Kultur wirksam gemacht werden sollte.65 Antisemitismus, Antislawismus und eine Ablehnung nicht-deutschsprachiger „ausländischer“ Einflüsse stellten die Argumentationslinien dar, wogegen sich dieses Echt-Österreichische zu richten habe. Dass Guttenbrunn damit Theater für die Anhänger des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger prolongierte, benennt David zwischen den Zeilen: Für gewisse Kreise wird die Patronnage der Wiener Stadtvertretung eine starke Wirkung üben; ob es ein Adam Müller-Guttenbrunn wolle oder nicht – sein Unternehmen wird immer als ein Parteiunternehmen betrachtet, hüben sicherlich in den Himmel gehoben, drüben höchst wahrscheinlich hinuntergerissen werden.66

Dem eben fertiggestellten Kaiserjubiläums-Stadttheater ist in Bühne und Welt ein eigener, doch anonym verfasster Artikel gewidmet. Die Organisationsform Volksbühne steht im Vor62 David, Die Privat-Theater Wiens, 264. 63 1906 erfolgt in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung der Aufruf zur Gründung einer Wiener Freien Volksbühne. 64 Adam Müller-Guttenbrunn, Das Raimund-Theater. Passionsgeschichte einer deutschen Volksbühne, Wien 1897. 65 Auf diesem Topos bauten NS-Ideologen wie der Literatur- und Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann auf, um Wiener Kultur im Sinne von NS-Geschichtsschreibung zu deuten. 66 David, Die Privat-Theater Wiens, 260.

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dergrund des Beitrags, über die antisemitisch-deutschnationale Ausrichtung wird kein Wort verloren. „Direktor Müller Guttenbrunn, der seinerzeit auch das Raimund-Theater begründete und dasselbe drei Jahre lang auf Grund eines rein deutschen Spielplans führte, will hier neuerlich den Versuch einer deutschen Nationalbühne auf landschaftlich-lokaler Grundlage unternehmen.“67 Wien verfüge bereits über drei Volksbühnen – das Wiener Stadttheater, das Deutsche Volkstheater und das Raimundtheater –, doch keines wurde auf einer so breiten Basis wie das Kaiserjubiläums-Stadttheater errichtet: „Während das Wiener Stadttheater im Jahre 1872 von etwa 100 Bourgeoisfamilien gebaut wurde, das deutsche Volkstheater etwa 400, das Raimundtheater 500 Gründer zählte, stützt sich das jüngste Wiener Schauspielhaus auf 2.000 Wiener Familien.“68 Der anonyme Verfasser betont, der Kaiser selbst unterstütze diese Manifestation Wiener Bürgerlicher durch die Erlaubnis, die neue Volksbühne unter seinem Namen eröffnen zu lassen, ebenso wie durch die Darstellung seines Porträts auf der Fassade und die am Giebel angebrachte goldene Reichskrone. Eigentümerin des Gebäudes ist allerdings die Stadt Wien. Zwischen den Zeilen des in seiner Aufmachung auf Fakten basierenden Artikels ist Irritation über die Verbindung zwischen dem philosemitischen Kaiser und den antisemitischen Bevölkerungsteilen Wiens zu spüren. Dieser Eindruck wird durch den auf diesen Artikel folgenden Beitrag in Bühne und Welt, „Etwas über Sonnenthal“, verfasst von Ludwig Eisenberg, noch verstärkt. Denn nun rückt einer der berühmtesten Burgschauspieler des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Adolf Ritter von Sonnenthal, ins Zentrum, dessen Karriere wie keine andere Theaterkunst als Emanzipation vor Augen führte. (Sonnenthals Foto leitete auch das Wien-Heft von Bühne und Welt ein.) Der Annäherung von katholischem Habsburger und jüdischem Bürger über den Schauspieler bzw. das Ideal von Burgtheaterkunst widmet Ludwig Eisenberg seinen Beitrag. „Etwas über Sonnenthal“ schildert eine Begegnung Eisenbergs mit dem jüngeren Bruder Kaiser Franz Josephs, Erzherzog Carl Ludwig, im Jahr 1895. Dieser galt als extrem-katholisch, aber auch der Kunst zugeneigt; mit Eisenberg plauderte der Erzherzog über Adolf von Sonnenthal.69 Sagen Sie mir doch, ist es wahr, dass Sonnenthal ein so guter Jude ist, oder posiert er dies nur?“ Auf diese etwas delikate Frage antwortete ich reserviert, daß im allgemeinen angenommen wird, Sonnenthal sei in der Tat fromm und gläubig. „Und daß ist recht schön von ihm“ bemerkte der

67 Das Kaiserjubiläums-Stadttheater, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 267–268, hier: 268. 68 Ebd., 267. 69 Eisenberg hatte 1896 eine Monografie zu Sonnenthal veröffentlicht. Siehe Ludwig Eisenberg, Adolf Sonnenthal, Eine Künstlerlaufbahn als Beitrag zur modernen Burgtheater-Geschichte. Mit einem Vorwort von Ludwig Speidel, Dresden – Leipzig – Wien 1896.

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hohe Herr, „denn man soll, in welcher Religion auch immer erzogen, dieselbe heilig halten ]“. „Sonnenthal ist dessen“ gab ich zurück, „auch zu jeder Stunde eingedenk und kann gerade in dieser Beziehung seinen Glaubensgenossen als Beispiel vorgeführt werden.70

Eisenbergs anekdotische Schilderungen seines Gesprächs über Sonnenthal verdeutlichen, wie über Theater eine Beziehung zwischen Katholizismus und Judentum hergestellt wurde. Die Kunst des Schauspielers liegt in der Erzeugung eines Vorbilds für den Untertanen des Habsburgerreiches, der fromm und gläubig zu sein hat. Der kluge Herrscher wiederum nutzt Theater als Mittel, um den Untertanen richtiges Verhalten vor Auge führen zu lassen, wobei auch die eigene Familie eingeschlossen wird: „Sehen Sie […] bei meinem jüngsten Sohn ist wieder eine ganz besondere Lust und Liebe zum Theater vorhanden. Er hat auch schon unter Sonnenthals Leitung, sich als Darsteller versucht, und wahrlich, man konnte ihm Talent nicht absprechen.“71 Als ein guter, höchst begabter Schauspieler habe er sich in den höfischen Theaterspielen erwiesen, wäre er bürgerlich geboren, meint Eisenberg zu Carl Ludwig, stünde einer hervorragenden Karriere à la Sonnenthal nichts im Wege. Theaterkunst sollte für jeden Untertanen wirksam werden, in dieser Mischung aus Bildung und Unterhaltung, die letztlich als Umgangston der so heterogenen österreichischen Gesellschaft in dem Beitrag Eisenbergs vorgeschlagen wurde. Im folgenden Beitrag von Maximilian Garr begibt sich dieser auf die Suche nach „echten Vertretern des Wiener Volkshumors“,72 die er als rare Spezies sieht. „Kaum, daß ich vier Künstler finde, die ich als echte Wiener Komiker bezeichnen kann: Girardi, Blasel, Tewele und Straßmeyer.“73 Garrs Abhandlung setzt es sich zum Ziel, das „Echte“ vom „Falschen“ zu trennen. Den Erfolg Wiener Lokalkomik oder Jargonkomik, in der über Witz verschiedenste Gruppen und Stände verlacht werden, als attraktiven Vergnügungsexport für beispielsweise Berlin74 verleugnet Garr nicht, doch gerade hier konstatiert er den Bruch zur echten Komik. Denn durch die Transformation dieser Praxis in nicht-wienerische Kontexte würden diese Komiker „ihrer schönsten Zierde, ihrer nationalen Eigenart“ verlustig gehen.75 Humor sei nämlich das „Spiegelbild der Volksseele“, so Garr, für Wien festgelegt als „ganz subjektiv, ganz eigen: Gutmütig, etwas oberflächlich, lasciv und träumerisch, mit einer kleinen Beimischung 70 Ludwig Eisenberg, Etwas über Sonnenthal, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 270–272, hier: 271. 71 Ebd. 72 Maximilian Garr, Wiener Komiker, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 274–278. 73 Ebd, 274. 74 Das Konzept der 1889 gegründeten Budapester Orpheumsgesellschaft stellt das Gegenkonzept zu Garrs Thesen echter Wiener Komik dar. Reisende Komiker zwischen Budapest und Wien, die den Transfer als Essenz in ihre Produktionen integrierten, wie Josef Modl und Friedrich Grünecker, waren Protagonisten dieses später von Heinrich Eisenbach in Wien situierten Genres. 75 Maximilian Garr, Wiener Komiker, in: Bühne und Welt, 1. Jg., 274–278, hier: 274.

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von Wehmut“.76 Seine Argumentation stellt sich direkt in eine aufklärerische Tradition der Formulierung nationaler Eigenart über spezifischen kulturellen Ausdruck. Garr scheint auf Carl Friedrich Flögels Studien zum Groteskekomischen zu rekurrieren, die Komik und Nationalität als Menschheitsgeschichtlichen Komplex erläuterten.77 Die in „Wiener Komiker“ behauptete Trennung echter von falscher vis comica zielt auf die Erhebung des so definierten Wienerischen zur nationalen Eigenart ab. Zum Reigen nationaler Eigenart des Heiter-Wehmütig-Leichten gehört als Überfigur der „Walzerkönig“ Johann Strauß, den Ilka Horovitz-Barnay aus der Perspektive einer vertrauten Freundin den Leserinnen und Lesern von Bühne und Welt nun näherbringt. Wie auch bei Lewinsky und Sonnenthal wird ein möglichst subjektiver Gestus der Darstellung gewählt, der den Menschen im „Künstler von Gottes Gnaden“78 zeigen soll. Das Strauß’sche Ingenium überstrahlt jegliche Kategorisierungsversuche, dazu zitiert Horovitz-Barnay das einhellig begeisterte Urteil internationaler Musikergrößen von Richard Wagner über Alfred de Musset, Anton Grigorjewitsch Rubinstein, Carl Goldmark und Johannes Brahms. Seine Persönlichkeit steht mit seiner Musik in engstem Zusammenhange. Es ist erstaunlich, wie sich seine Individualität von den Unarten der Mode frei erhält. Wie als Musiker ist er auch als Mensch eine eigenartige Erscheinung. So oft ich zu ihm komme und mit ihm plaudere, verschwinden plötzlich alle tönenden Schlagworte der Gegenwart. Dekadenz, Sezession, Symbolismus, Materialismus und alle sonstigen Ismusse, das blinkende Rüstzeug des modernen Kampfes, die exotischen Losungsrufe pro und contra: sie verhallen in der Luft.79

Mit Mavro Spicers „Budapester Theaterbrief“ endet das Wien-Heft von Bühne und Welt. Mit diesem Beitrag wird der Staatskonstruktion Österreich-Ungarn Rechnung getragen und Buda­pest taucht als Gegen-Wien auf; doch schon die erste Zeile von Spicer rückt dessen Bedeutung zurecht, denn man könne nur „fast den Anspruch auf das Attribut ‚Theaterstadt‘“80 erheben. Die beiden von der ungarischen Regierung subventionierten Bühnen, das Nationaltheater und die Königliche Oper, erscheinen nach Spicers Darstellung als Spielwiese ­dilettierender und korrupter Theaterleiter, die trotz großer Künstler und Künstlerinnen die Häuser ruinierten. Sein „Budapester Theaterbrief“ dient weniger einer Bestandsaufnahme der ungarischen Theaterstadt als vielmehr der Positionierung Wiens als einzig rechtmäßige Theaterstadt der Donaumonarchie.

76 Ebd. 77 Flögel, Geschiche des Groteskekomischen. 78 Ilka Horovitz-Barnay, Beim Walzerkönig, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 279–284, hier: 284. 79 Ebd., 280. 80 Mavro Spicer, Budapester Theaterbrief, in: Bühne und Welt, 1. Jg., Heft 6, 285–288, hier: 285.

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4. Schlussbetrachtungen

Die Beschäftigung mit den Wiener Theaterkulturen um 1900 eröffnet Forschungsfelder, die um Traditionsbildung als Innovation sowie um Erfindung von Nationalität als Legitimationsinstrument kreisen. Angenommene Dichotomien, wie die von Hochkultur versus Populärkultur oder von Kosmpolitismus versus Nationalismus, erfahren durch die Frage nach Migration eine wesentliche Differenzierung. So lässt sich zum Konstrukt „Internationalität“ über die Integration migrantischer, artistischer Praxis eine Dimension übernationaler Repräsentationskultur erkennen. Denn in Wien um 1900 formierte sich Internationalität auch als Mode einer kosmopolitisch orientierten Elite, die sich allerdings in höfischer Tradition gefiel und sich selbst dieser vergewisserte. Als wesentlich für die Frage nach Migration und Innovation in Theaterproduktionen erweisen sich einerseits eine maximale Erweiterung der Theaterbegrifflichkeit, andererseits die Notwendigkeit, die Dichotomie von Hoch- und Massenkultur aufzubrechen. Zirkus als Sammelbegriff für artistische Praxis und Theater zusammengedacht erlauben es, Randgebiete in einem (theater)historiografischen Kanon auszumachen, die es in dieser Arbeit als Verdrängtes oder Vergessenes einer spezifischen deutschsprachig konnotierten Kulturbegrifflichkeit ins Bewusstsein zu rücken galt. Letztere erweist sich als historische Imagination von Kultur, verknüpft mit einem sich parallel etablierenden Kunstbegriff, der auf nationale Grenzziehung hinausläuft. Der vorliegende Beitrag versuchte diese Struktur aufzuschlüsseln, Fäden wieder zu trennen, um hinter das Geflecht ideal und national gedachter Kultur-Kunst oder Kunst-Kultur blicken zu können.

Wolfgang Müller-Funk

Migration ohne transkulturelles Pathos Literarische Emigration und ihre Spuren in und nach der Jahrhundertwende in Wien Mit zwei ausführlicheren Kommentaren zu Elias Canetti und Joseph Roth

Angesichts der überbordenden Forschungsliteratur (allein die Universitätsbibliothek Wien weist zu dem Stichwort Migration+Österreich 1.212 Buchtitel auf ), wie sie aus den Bereichen der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung,1 aber auch aus der transkulturellen Literatur- und Medienwissenschaft2 vorliegt, ist es naheliegend, dieses politisch brisante Dauerthema zu historisieren. Dies liegt vor allem im Hinblick auf den zentraleuropäischen Kontext besonders nahe, der durch verschiedene historische Migrationsströme charakterisiert ist. Ich denke dabei auch an die Kolonisationsbewegungen durch deutschsprachige Siedler nach Zentral- und Südosteuropa seit dem ausgehenden Mittelalter, die in den Jahren nach 1945 durch die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus beinahe allen post-imperialen Nachbarländern Österreichs eine dramatische Umkehrung erfahren haben. Im Hinblick auf die in Österreich und Westeuropa seit den 1960er-Jahren aus Ländern wie Spanien, Italien, Portugal, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei sowie seit 1989 aus den Nachfolgestaaten und dem wiedervereinigten Deutschland einsetzende Arbeitsimmigration 1

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Heinz Faßmann/Robert Findl/Rainer Münz (Hrsg.), Die Auswirkungen der internationalen Wanderungen auf Österreich, Wien 1991; Heinz Fassmann/Wolfgang Müller-Funk/Heidemarie Uhl (Hrsg.), Kulturen der Differenz. Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989, Göttingen – Wien 2009; Heinz Fassmann/Julia Dahlvik (Hrsg.), Migrations- und Integrationsforschung – multidisziplinäre Perspektiven, Göttingen – Wien 2011. Wolfgang Müller-Funk/Birgit Wagner (Hrsg.), Eigene und andere Fremde. „Postkoloniale“ Konflikte im europäischen Kontext, Wien 2005, 9–27; Hannes Schweiger, Zwischenwelten. Postkoloniale Perspektiven auf Literatur von MigrantInnen, in: Müller-Funk/Wagner (Hrsg.), Eigene und andere Fremde, 216–227; Werner Wintersteiner, Transkulturelle literarische Bildung. Die „Poetik der Verschiedenheit“ in der literaturdidaktischen Praxis, Innsbruck 2006; Sandra Vlasta, Mit Engelszungen und Bilderspuren ein neues Selbstverständnis erzählen. Ein Vergleich deutsch- und englischsprachiger Literatur im Kontext von Migration, Wien 2008; Nicola Mitterer/Werner Wintersteiner (Hrsg.), Und (k)ein Wort Deutsch. Literaturen der Minderheiten und MigrantInnen in Österreich, Innsbruck 2009.

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bietet sich indes der Vergleich mit jenen Wanderungsbewegungen an, die seit der verspäteten Industrialisierung Österreich-Ungarns speziell in der cisleithanischen Reichshälfte zwischen 1867 und 1914 nachzuweisen sind. Diese inner-imperialen Migrationsschübe sind von der Geschichtsforschung wissenschaftlich durchaus exakt erfasst worden. So hat man etwa geschätzt, dass in den letzten vier Jahrzehnten der Monarchie beinahe eine halbe Million Menschen aus Böhmen und Mähren in den urbanen Großraum Wien eingewandert sind.3 Von dieser wirtschaftlich und sozial motivierten Massenimmigration deutlich zu unterscheiden ist eine elitäre Immigration, die sich auf die Bereiche von Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft konzentriert. In erstaunlicher Analogie zu kolonialen Phänomenen lässt sich zeigen, dass eine beträchtliche Anzahl von Menschen, die bei der Elitebildung der nicht-deutschsprachigen Länder und Regionen eine maßgebliche Rolle gespielt haben, in Wien oder auch Graz ihre akademische Sozialisation durchlaufen haben.4 Vergleiche beinhalten stets zwei Elemente: Gemeinsamkeit und Unterschied. Im vorliegenden Fall sind gerade im Hinblick auf die Emigration der intellektuellen Elite die Unterschiede gewaltig. Die gegenwärtige Debatte über die heutige Migration ist, vereinfacht gesprochen, dadurch charakterisiert, dass sie die Spannungslage von Herkunft und Ankunft, von alter und neuer Heimat politisch, sozial und ästhetisch zum Austrag bringt, in gewisser Weise nobilitiert. Seit der Ablösung der multikulturalistischen Parameter, die von dem friedlichen Nebeneinander essenziell gedachter Kulturen ausgegangen sind, hat sich jener Diskurs durchgesetzt, der dem Phänomen der kulturellen Mischung nachgeht. Migranten sind nicht länger die Vertreter einer erratischen fremden Kultur, sondern ihre Position ist dadurch charakterisiert, dass in der migrantischen Konfiguration die Spannungslage zweier oder auch mehrerer Kulturen anzutreffen ist. Diese Disposition wird im Gefolge von Michail Bachtin gern als „hybrid“ bezeichnet.5 Ihr wird mit Homi L. Bhabha oftmals ein „dritter Raum“ zugeordnet, eine Zwischenlage zwischen den Kulturen der Herkunft und der Ankunft, zwischen postkolonialer bzw. postimperialer Peripherie und postkolonialen bzw. postimperialen Zentrum.6

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Vgl. Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, München – Wien 1972; Michael John, Bevölkerung in der Stadt. „Einheimische“ und „Fremde“ in Linz (19. und 20. Jahrhundert), Linz 2000. Wladimir Fischer, Von Einschusslöchern und Gesäßabdrücken. Spuren von Migrantinnen aus der südöstlichen Peripherie in Wiens Großstadttextur um 1900, in: Wladimir Fischer/Waltraud Heindl/Alexandra Millner/Wolfgang Müller-Funk (Hrsg.), Räume und Grenzen in Österreich-Ungarn 1867–1918, Tübingen 2010, 139–172. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Aus dem Russischen von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt am Main 1979. Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London 1994.

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In vielen, allerdings keineswegs allen literarischen Werken von Emigranten und Emigrantinnen kommt diese persönliche transkulturelle Binnenerfahrung zum literarischen Austrag, etwa – um nur pars pro toto drei Autorinnen bzw. Autoren aus einem erstaunlich breiten Ensemble transkultureller Schriftsteller und Schriftstellerinnen herauszugreifen – in Dimitré Dinevs „Engelszungen“,7 in Vladimir Vertlibs literarischem Werk oder in dem Œuvre der japanisch-deutschen Autorin Yoko Tawada. Die Thematisierung des Inter- und Transkulturellen beschränkt sich dabei nicht auf die semantische Ebene und auf den narrativen Plot des Ankommens oder Nicht-Ankommens in der neuen Heimat, sondern bringt auch formale, vor allem sprachliche Aspekte mit sich. So finden sich in nicht wenigen Werken – Alfrun Kliems8 hat das etwa im Falle des Lyrikers Jiří Gruša gezeigt – auch Spuren der anderen, im Ankunftsland fremden Sprache. Vor dem Hintergrund der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion zeichnet sich die kulturelle Positionierung vieler Autoren der klassischen österreichischen Moderne dadurch aus, dass sie in ihrer Mehrzahl die Erfahrung ihrer sprachlichen und ethnischen Heterogenität in ihrem literarischen Werken kaum bzw. gar nicht thematisieren. Das ist auf den ersten Blick umso erstaunlicher, als viele der Autoren und Autorinnen einen kulturellen Lebenshintergrund aufweisen, der symbolisch und ethnisch vielschichtig ist. So spielen in Robert Musils familiärem Umfeld mährisch-tschechische Hintergründe durchaus eine Rolle; immerhin verdanken wir diesen eine Novelle („Tonka“), in der es um die tragisch scheiternde Beziehung zwischen zwei sozial und sprachlich verschiedenen und ungleichen Menschen geht, einer tschechischen Verkäuferin und einem deutschsprachigen Akademiker. Aber auch in „Der Mann ohne Eigenschaften“ werden die Sprachkonflikte in der Stadt Brünn, in der Musil aufwuchs, an prominenter Stelle erwähnt.9 Interessant ist – und das gilt auch für den aus Prag stammenden, dem Kafka-Kreis zugerechneten Autor Ernst Weiß –, dass diese kulturellen und sprachlichen Gegenläufigkeiten nicht expressis verbis im Hinblick auf die Akteure im Roman hinterfragt werden, sondern eher verschwiegen im Text anwesend sind. Der Leser und die Leserin, die diesen Kontext nicht kennen, werden diese transkulturellen Anspielungen kaum verstehen können. Weder die periphere Herkunft der Autoren noch die kulturelle Gemengelage scheinen für Autoren wie Musil, Kraus, Weiß oder Werfel von besonderem Belang zu sein. Es lassen sich noch weitere Beispiele anführen, etwa Felix Salten oder Theodor Herzl, die aus dem jüdischen Bevölkerungssegment Budapests nach Wien kamen; bekanntlich spielen

7 8 9

Dimitré Dinev, Engelszungen, Wien 2003. Alfrun Kliems/Ute Raßloff/Peter Zajac (Hrsg.), Intermedialität. Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa III, Berlin 2007, 101–114. Malcolm Spencer, Kulturelle Differenzierung in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften: Die Stadt B., in: Müller-Funk/Wagner (Hrsg.), Eigene und andere Fremde, 207–215.

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weder bei Freud noch bei Schnitzler ihre mährische bzw. ungarische Herkunft eine nennenswerte Rolle. Stefan Zweig ist die Italianità seiner Mutter allenfalls einen Halbsatz wert. Ungarische Autoren und Intellektuelle wie Károly Mannheim, György Lukács oder Béla Balázs, ein ungarischer Konvertit, leben wie selbstverständlich in zwei Sprachwelten und der spätere, früh verstorbene slowenische Autor Ivan Čankar war ebenso zweisprachig wie viele jener glühenden nationalistischen tschechischen Autoren, die bis 1918 in Wien lebten. Keiner von ihnen, ob er sich nun nationalistisch oder kosmopolitisch positionierte, definierte sich als Bewohner eines kulturellen Zwischenraumes. Dieser erste provisorische Befund provoziert die Frage, warum all diesen Autoren, die heute oftmals unter postimperialen und transkulturellen Perspektiven neu gelesen werden, eine hybride Selbstbeschreibung fremd, ja lästig erschienen ist, warum sie ihr aus dem Weg gegangen sind. Ganz offenkundig deshalb, weil es diese Diskurse, die uns heute so selbstverständlich erscheinen, einfach nicht gegeben hat. Im Zeitalter nationaler Identitätspolitiken ist es dysfunktional, die eigene unklare sprachliche und kulturelle Zugehörigkeit performativ in ein positives Licht zu rücken; viel eher scheint – das gilt insbesondere für die nicht-deutschen Autoren – eine Loyalität gegenüber der imaginären Gemeinschaft der jeweiligen Nationalität eine selbstverständliche Verpflichtung. Sofern und wenn man das national(istisch)e Ticket verschmäht, bleibt nur eine kosmopolitische oder transnationale Positionierung (wie zum Beispiel im Falle Zweigs). Sie kann sich im Hinblick auf die österreichische Gemengelage eventuell darauf berufen, dass, wie posthum vermerkt, der symbolische Großraum der Monarchie selbst hybrid ist. Insofern stellt Hybridität keinen auffälligen Sonderfall dar, sondern ist Teil des imperialen Regelwerkes.10 Die Dramatik der migrantischen Situation hängt zweifelsohne mit der Erfahrung kultureller Fremdheit zusammen, zu der sich im Falle von Wirtschaftsemigration auch eine soziale Schieflage gesellt. Ganz offenkundig wird der urbane Ankunftsraum von jenen Autoren, die aus einer dominant nicht deutsch-sprachig geprägten Peripherie ins Zentrum der Monarchie übersiedelt sind – und das gilt praktisch für alle vorhin erwähnten deutschsprachigen Autoren –, nicht als prinzipiell fremd gedeutet, sondern allenfalls als Fremdes im Eigenen interpretiert. Nicht zuletzt aufgrund der Verlagslandschaft und des Universitätssystems umfasst dieser vom Deutschen dominierte Raum über die Doppelmonarchie hinaus auch das mächtigere preußisch-deutsche Reich und im Falle Canettis und anderer auch die Schweiz. In diesem Feld konzentrischer Kreise, in dem etwa das Zentrum Wien tendenziell schon vor 1918 zur Peripherie eines größeren Ganzen mutiert (weil das ältere österreichische Imperium in nahezu allen Bereichen von dem jüngeren preußisch-deutschen Imperium eingekreist ist), rückt ethnische, sprachliche und religiöse Fremdheit als quantité négligeable in den Hintergrund. Die 10 Wolfgang Müller-Funk, Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur, Wien 2009, 8–17.

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Migration steht nicht unter dem Vorzeichen jenes paradoxen Prozesses, den man als Aneignung durch Enteignung bezeichnet hat.11 Die intellektuellen Migranten und Migrantinnen um 1900 brauchen sich nicht an eine spezifisch österreichische Kultur zu assimilieren, sie begreifen sich als Teil von ihr. Der Zerfall dieses imperialen und postimperialen Raumes erfolgt in zwei Etappen: nach dem Ersten Weltkrieg und im Gefolge der nationalsozialistischen Herrschaft über weite Teile Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber selbst heute ist – das hat nicht nur mit dem Herkunftsland, sondern auch mit dem Generationsabstand zu tun – die Fremdheit eines tschechischen Autors wie Pavel Kohout eine prinzipiell andere als die eines Dimitré Dinev oder eines Vladimir Vertlib. Obschon sich in Kritik an dem gegenwärtigen Transkulturalismus auch behaupten lässt, dass sich der Zustand der Transkulturalität nicht ohne Weiteres erhalten lässt. Irgendwann ist auch das symbolische Kapital der Fremdheit erschöpft, aufgebraucht und ausgereizt. Um auf dem literarischen Markt zu bestehen, lässt sich nicht immer nur die eine Geschichte erzählen, wie man oder frau aus Russland, Bulgarien, Ex-Jugoslawien oder Japan nach Österreich oder Deutschland gekommen ist. Warum also um und nach 1900 kulturelle Heterogenität nicht zu einem durchschlagenden Thema nach Wien migrierender Autoren wird, hat – neben dem fehlenden philosophischen und kulturwissenschaftlichen Differenz-Diskurs – mit der Dominanz des Deutschen als einer selbstverständlichen lingua franca in der Habsburgermonarchie zu tun. Wer aus Budapest, Lemberg, Laibach, Triest oder Prag oder gar aus dem ruralen peripheren Raum Galiziens oder der Bukowina in die Metropole Wien zieht, der bringt das Fremde im Eigenen, das jeweils eigen-gefärbte, tendenziell hybride Deutsch bereits im Reisegepäck mit sich. Für ihn oder sie ist auch ganz klar, dass Deutsch mit sozialen und kulturellen Privilegien und Prestigegewinnen einhergeht, mag man diese als nicht-deutscher Nationalist letztendlich auch bekämpfen. Die Allgegenwart des Deutschen, die selbst in der ungarischen Reichshälfte nicht völlig gebrochen werden kann, ist seit 1866 mit einer doppelten imperialen Konstellation verknüpft. Zum einen ist Deutsch, ungeachtet eines gewissen monarchischen Multikulturalismus, die dominante Sprache des aus den Untiefen der Geschichte in die Moderne katapultierten habsburgischen Imperiums, zum anderen ist es im Unterschied zu allen anderen Sprachen in der k. u. k. Monarchie die unangefochtene Sprache des seit 1870 unangefochtenen kontinentaleuropäischen Hegemons, des Wilhelminischen Reiches. Als weiteren Faktor ist die spezifische Situation jenes Bevölkerungssegments in Rechnung

11 Ryozo Maeda, Aneignung durch Enteignung. Nicht-deutschsprachige Germanistik und transkulturelle Kulturübersetzung. Zum Beispiel die japanische Germanistik. Plenumsvortrag. Fourth Biennial Conference of the German Studies Association of Australia (GSAA), 30. November–2. Dezember, Brisbane 2011.

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zu stellen, das bei der akademisch-intellektuellen Migration eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: das Judentum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die jüdische Minderheit in der Habsburgermonarchie, von Ausnahmen wie zum Beispiel der Besetzung von Professorenstellen an den Universitäten abgesehen, rechtlich gleichgestellt. Es öffnen sich ihr vor allem im Bereich von Wirtschaft und Kultur Möglichkeiten eines bis dahin kaum erwartbaren sozialen und kulturellen Aufstiegs. Zugleich aber ist das Judentum von jenem Antisemitismus betroffen, den man im Sinne eines kollektiv wirksamen Sozialneides begreifen mag, der aber auch strukturell mit den bösartigen kulturalistischen Nationalismen in der Monarchie zu tun hat. In dieser Situation die jüdische Herkunft und die sozialen Kränkungen zu thematisieren, wäre riskant. Der von dem aus Budapest stammenden Theodor Herzl begründete Zionismus hat bekanntlich diesen Weg beschritten, der für die Mehrzahl assimilierter intellektueller Juden bis in die späten 1920er-Jahre als nicht attraktiv erschienen ist. Viel näherliegend, und das wäre der gemeinsame Nenner von Autoren wie Broch, Roth oder Werfel, ist es, sich im Sinne eines humanistischen Anti-Nationalismus zu verstehen, der zwischen (Mittel-)Europäertum und Kosmopolitismus pendelt. Dieser Kosmopolitismus steht strukturell indes in einem unübersehbaren Spannungsverhältnis zu jedwedem Kulturalismus, auch wenn dieser, wie heutzutage, konstruktivistisch konzipiert ist und, wie schon erwähnt, in Kategorien der Differenz denkt. Wenn es in diesem Fremdheit und Unheimlichkeit, gerade im Sinne Freuds, gibt, dann sind diese nicht primär kulturell verursacht. Der Kosmopolitismus lebt vom Pathos, prinzipiell überall zu Hause zu sein, wo seine Ethik respektiert wird.12 Und schlussendlich muss noch ein weiteres Moment in Betracht gezogen werden, das mit den zuvor genannten konvergiert. Für alle Formen von Migration sind zwei Unterscheidungen zentral: ob die Einwanderung individuell oder kollektiv erfolgt und ob es sich bei den einwandernden Menschen um sozial Privilegierte oder um Unterprivilegierte handelt. Es macht einen gravierenden Unterschied aus, ob ich als Angehöriger einer anderen Ethnie an einer Universität studiere, in einer Zeitungsredaktion einen wichtigen Posten einnehme oder ein Wirtschaftsunternehmen leite oder ob ich, getrieben von Armut, Arbeitslosigkeit und unsicheren wirtschaftlichen Erwartungen, aus einer peripheren Randlage in ein wirtschaftliches Zentrum emigriere. Ganz zweifelsohne handelt es sich bei den Autorinnen und Autoren der klassischen österreichischen Moderne, bei denen sich Spuren des Fremden, Nicht-Deutschsprachigen finden lassen, überwiegend um Menschen, die aus einer relativ privilegierten Situation in der Peripherie an einen Ort wandern, von und an dem sie sich einen weiteren sozialen Aufstieg, zumindest aber einen Vorteil im Hinblick auf ihre Karriere

12 Julia Kristeva, Fremde sind wir uns selbst. Aus dem Französischen von Xenia Rajewski, Frankfurt am Main 1988.

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versprechen.13 In Anbetracht eines solchen Lebenskalküls ist Assimilation an die dominanten symbolischen Kräfte einer Gesellschaft selbst unter den heutigen Umständen beinahe unvermeidlich. *** Ich möchte die oben vorgestellten Thesen am Beispiel zweier höchst prominenter Autoren erörtern, die mehr oder weniger zu dem gehören, was ich mehrdeutig den „österreichischen Komplex“ genannt habe.14 Sie sind beide Autoren, die schon vor 1918 nach Wien gekommen sind, im Falle Canettis auf den Spuren der Eltern, die ihre intellektuelle Sozialisation in Wien um 1900 erlebt hatten. Beide Autoren erzählen Migration aus einem narrativen Nachhall, aber ihr literarisches Werk darf im Sinne von Maurice Halbwachs als Teil des sozialen und oralen Gedächtnisses gesehen werden, das Halbwachs zufolge drei Generationen umfasst,15 was Roths erfolgreichster und bekanntester Roman „Radetzkymarsch“, dessen erzählte Zeit sich auf drei Generationen von 1866 bis 1914 erstreckt,16 auch selbst vorführt, indem er die franzisco-josephinische Epoche mit der Genrationstriade Großvater-Sohn-Enkel in eins setzt. Canettis Lebensgeschichte, die zu Lebzeiten in drei Teilen vorlag – „Die gerettete Zunge“, „Die Fackel im Ohr“, „Das Augenspiel“17 –, spielt vornehmlich unmittelbar vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg, enthält aber ebenfalls Bezüge zum symbolischen Kosmos des habsburgischen wie des Osmanischen Reiches, als dessen formeller Untertan Canetti 1905 im türkisch-bulgarischen Rustschuk/Ruse auf die Welt kam. Die Auswahl der Autoren verfolgt eine typologische Absicht. In beiden Werke sind Spuren des Fremden in Gestalt des europäischen Orient eingeschrieben („Halbasien“, „Balkan“), in beiden Werken spielt das osteuropäische Judentum eine nicht unwesentliche Rolle, einmal – bei Roth – in aschkenasischer, das andere Mal – bei Canetti – in sephardischer Gestalt. Anders als bei vielen anderen „heterogenen“ Autoren, die zwischen 1880 und 1910 geboren sind, werden, vor allem im ersten Teil von Canettis Lebensgeschichte („Die gerettete Zunge“), die 13 Vgl. hierzu das Forschungsprojekt von Ana-Maria Palimariu (Univ. Iasi), Bukowiner Kultur und intellektuelle Migration (1880–1940), in der sie unter anderem Eugenie Schwarzwald und Wilhelm Reich behandelt. 14 Müller-Funk, Komplex Österreich. 15 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann, Stuttgart 1967, Neuauflage: Frankfurt am Main 1985, 78–126. 16 Joseph Roth, Romane in zwei Bänden, Köln 1975, 347–661; Magris, Der Habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur, Wien 2000, 303–314. 17 Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Kindheit, München 1977; Ders., Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931, München 1980; Ders., Das Augenspiel, Lebensgeschichte 1921–1937, München 1987.

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Vielfalt der Sprachen und auch die Frage der Religion eigens und im Sinne einer historischen Exotik thematisiert.18 Elias Canettis Familie, die dem sephardischen Judentum in der regionalen Metropole am Unterlauf der Donau angehörte, war seit Jahrhunderten im türkischen Rustschuk ansässig. Sie war eine Handelsfamilie mit großer Vernetzung, die England mit einschloss, weshalb der junge Canetti eine kurze Zeit seiner Jugend in Manchester verbracht hat.19 Aber schon in „Die gerettete Zunge“ wird deutlich, dass die Eltern die Wiener Zeit, die vor der Geburt des Sohnes im Jahr 1905 liegt, nicht vergessen haben, sprechen sie doch im persönlichen Miteinander ein vermutlich wienerisch gefärbtes Deutsch, das das Kind nicht versteht.20 Die Sprachordnung des jungen Elias ist verwirrend vielfältig. Denn die angestammte Sprache der sephardischen Juden im Osmanischen Reich, und so auch in Bulgarien, ist ein mittelalterliches Spanisch, daneben haben – durchaus im Sinne einer imperialen Abstufung – Bulgarisch und Rumänisch, vornehmlich als Dienstbotensprachen, ihren symbolischen Ort (Canetti). Präsent sind zudem Türkisch, Griechisch oder Armenisch und als Sprachen von Welt Englisch, Französisch und Deutsch. Das mulitkulturelle und multilinguale Kolorit kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es eindeutige Präferenzen gibt, die politische und symbolische Macht widerspiegeln. Der Titel des ersten Teils der Autobiografie verdankt sich der „frühesten Erinnerung“, die um die Drohung eines Bediensteten kreist, er werde dem Kind die Zunge abschneiden, wenn es dessen heimliche Liebschaft mit einer anderen weiblichen Bediensteten verrät.21 Aber darüber hinaus bleibt die metaphorische Bedeutung des beredten Titels mehrdeutig. Denn gerettet wird schon im ersten Teil des Werkes vornehmlich die deutsche Sprache der Eltern, die sich der Sohn in einem Akt von Selbst- und Fremddressur aneignen wird, weniger die Sprachen der Herkunft, weder das sephardische Spanisch, das Canetti den eigenen Angaben zufolge vertraut geblieben ist, noch gar das Bulgarische. Wenn etwas von der polyphonen Ausgangssituation gerettet wird, dann ist es die Sprache als solche. Von der polyphonen Herkunft bleibt nämlich in der Selbstinterpretation des Lebens die Sensibilität für die Sprache, die aus der babylonisch-polyphonen Herkunft erwächst. Ungeachtet einiger eindringlicher und anrührender Kindheitserinnerungen dominiert im ersten Teil der Lebensgeschichte das Bild einer rückständigen Stadt und eines altjüdischen Patriarchalismus, dem die Eltern dadurch zu entrinnen trachten, dass sie die Filiale der Firma in Manchester übernehmen. Canettis Migration ist die Geschichte einer klassischen Elitenmigration in den Westen, dessen kulturelle Überlegenheit nirgendwo in Zweifel gezogen 18 19 20 21

Canetti, Die gerettete Zunge, 8, 15. Ebd., 43–92. Ebd., 15f. Ebd., 7f.

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wird. Dem säkularen Modernisten Canetti ist jedwede Religion (und schon gar die eigene) im höchsten Maße suspekt. Der anschließende zweite Teil der Autobiografie darf im Sinne einer Integration in die österreichische und deutschsprachige Kultur gelesen werden. Mithilfe seiner ersten Frau, Veza, die einen ähnlichen Migrationshintergrund hat, wird er integraler Bestandteil der heimischen literarischen Szene, als Anhänger des aus Mähren stammenden Sprachkünstlers Karl Kraus,22 als Freund von Hermann Broch, der den jungen Autor protegiert, und schließlich durch die Bekanntschaft mit Robert Musil, dessen Anerkennung als (österreichischer) Schriftsteller für ihn im Rückblick noch mehr zählt als die zeitweilig enge Beziehung zu Broch.23 So kreuzen sich in Canettis Autografie zwei Fabelkonstruktionen, zwei emplotments: die Geschichte einer literarischen Karriere und die Lebensgeschichte, die unter dem Vorzeichen des Vergessens der Vergangenheit und des restlosen Ankommens in der österreichisch-deutschsprachigen Kultur steht. Überwölbt werden beide gleichsam von der Geschichte der Moderne, die biografisch besehen die Überwindung der patariarchalen jüdisch-orientalischen Herkunftskultur bedeutet. Insofern sind räumliche und zeitliche Aspekte miteinander verschränkt, bilden einen Chronotopos.24 Der Weg nach Westen ist zugleich ein Weg in eine andere Zeit. Canetti präsentiert sich im Rückblick und etwas verdeckt als ein engagierter junger Intellektueller, der die Krisen in Deutschland und Österreich sehr genau wahrnimmt. Weder bei ihm noch bei seiner Frau, ebenfalls einer Autorin, besteht ein Interesse, eine transkulturelle Position einzunehmen, weder im Hinblick auf den jüdischen Aspekt der Herkunft, noch auf den osteuropäischen Kontext, dem er und seine erste Frau entstammen. Es findet sich im Übrigen in der literarisch erzählten Vita kein einziger Hinweis darauf, dass er als Fremder Gegenstand von Xenophobie oder Antisemitismus geworden wäre. Man könnte also davon sprechen, dass es in diesem Chronotopos darauf ankommt, nicht mehr zurückzukehren. Das Vergessen ist die schärfste Ausformung einer solchen Strategie, schließt sie doch selbst die symbolische Rückkehr qua Erinnerung aus. Canettis ablehnende Haltung gegenüber der Psychoanalyse hat damit entscheidend zu tun. Die Autobiografie ist auch intentional gegen die Psychoanalyse geschrieben, widersetzt sich vornehmlich der Freud’schen Interpretation des Herkunftsdramas. Das ist eine Rebellion gegen eine Vaterfigur, die für Canettis gesamtes Œuvre charakteristisch ist. Diese Revolte bedeutet aber zugleich eine Zurückweisung jener ödipalen Familiengeschichte, um die Freuds Zentralnarrativ kreist. Gegen die eigene anti-psychoanalytische Diktion lässt sich füglich behaupten, dass insbesondere „Die gerettete Zunge“ voll von jenen Traumata ist, die im Zentrum von Freuds Konstruktion des Unbewussten, genauer: des Unbewusst-Gewordenen, stehen. Zudem ist Ca22 Canetti, Die Fackel im Ohr, 77–87. 23 Elias Canetti, Das Augenspiel, München 1985, 23–33, 157–164. 24 Bachtin, Ästhetik des Wortes.

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netti jener Determinismus, wie ihn die Psychoanalyse charakterisiert, durchaus nicht fremd, wenn es gleich zu Anfang des ersten Bandes der Lebensgeschichte heißt, dass alles, was er „später erlebt“ hat, „in Rustschuk schon einmal geschehen“ war.25 Ganz vergessen kann also Canetti mitnichten. Spuren seiner Herkunft finden sich nicht nur in den episodischen Familientreffen in der Autobiografie, sondern auch – strukturell tiefer – im Sujet seines gesamten Werkes. So imaginiert es er sich aufgrund seiner „orientalischen“ Herkunft in den „Stimmen von Marrakesch“ als eine Art von Sonderbeobachter des Orients.26 Zwei Herkunftselemente tauchen auch im essayistischen Hauptwerk „Masse und Macht“ auf einem abstrakten theoretischen Niveau immer wieder auf. Das ist zum einen jener antipatriarchale Gestus, der mit der Ablehnung des großväterlichen Patriarchen in der Lebensgeschichte einhergeht,27 und das ist zum anderen der schon erwähnte Orientalismus bei Canetti. Es ist kein Zufall, dass Canetti – neben zeitgenössischen ethnologischen und psychiatrischen Beispielen – vor allem auf symbolisches Material aus dem Islam (der Islam als Kriegsreligion, die Religion der Schiiten, die Grausamkeit des Sultans von Delhi Muhammad Tughlak)28 und dem Judentum (auf Flavius Josephus als den klassischen „Überlebenden“29) zurückgreift, um seine Anatomie der Masse und des Machthabers, der potenziell der Mörder seiner Söhne ist, vorzuführen. Man mag dies wohlwollend im Sinne eines Verfremdungseffekts verstehen; heutzutage erscheint uns ein solches Vorgehen als eine nicht unproblematische Zuschreibung der anderen, orientalisch-islamischen bzw. orthodox-jüdischen Kultur, die wahnwitzige Massen- und Machtphänomene ausschließlich als typische Ausdrucksformen rückständiger vormoderner patriarchalischer Kulturen erscheinen lässt. *** Bei Joseph Roth, dem jüdischen Intellektuellen aus Brody in Galizien, der seine Karriere als linker Journalist bei der Wiener Arbeiter-Zeitung begann, liegen die Dinge entschieden anders. Für ihn, den Vaterlosen, der sich seiner Herkunft schämt, ist, anders als für Canetti, die eigene, persönliche, große, reale und symbolische Reise, der Transfer von der Peripherie ins Zentrum, kein Gegenstand seines literarischen Werkes, das nicht erst seit dem „Radetzkymarsch“ von Figuren aus dem Osten und Südosten Europas bevölkert ist. Da gibt es verschollene österreichische Revolutionäre, arme „Ostjuden“, polnische Adlige, slowenische Bauern 25 Canetti, Die gerettete Zunge, 9. 26 Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise (1967), Frankfurt am Main 1980, 45–63. 27 Canetti, Gerettete Zunge, 25f.; Ders., Fackel im Ohr, 96–103. 28 Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, 166–182. 29 Ebd., 267–327.

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in Wien, böhmische Kapellmeister und Gendarmen, dämonische Ungarn und ruthenische Dienstboten in Galizien. Sie alle repräsentieren zusammen mit dem zum Monument gewordenen Kaiser auf so ironische wie melancholische Weise den imperialen Raum der Donaumonarchie, der vornehmlich durch die Nachbarschaft zu Russland und zum südslawischen Balkan geprägt ist und dadurch selbst orientalisiert wird. Roth hat in seinem Werk wesentliche Momente dessen, was man heute als trans-kulturell versteht, literarisch bearbeitet, die Polyphonie der Habsburgermonarchie oder das Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Anders als bei Canetti ist, wie bereits sein erster Biograf vermerkt hat,30 Roths Verhältnis zur Herkunft überaus ambivalent. Sein Werk lebt ganz und gar von und aus dieser Zweigespaltenheit, ohne je die eigene Person und die „dunkle“ Herkunft ins Spiel zu bringen. Schon mit der Erfindung seines Doppelgängers Tunda in „Die Flucht ohne Ende“ erfindet sich Joseph biografisch neu, mutiert in auffälligem Kontrast zu biografisch nachweislichen Fakten zu einem in Wien heimischen ehemaligen Offizier. Literatur wird, wenn man sie hier, im Kontext einer historischen Fragestellung, aus der Perspektive des Autors betrachtet, zu einem Medium kultureller Normalisierung. Roth legt auch den jüdischen Vornamen Moses ab, den er noch während seiner Wiener Studienzeit trug,31 mit der sein Weggang aus Galizien begann, und geriert sich bereits in der Krisenjahren der Weimarer Republik als österreichischer Katholik und Monarchist. Roth betont zugleich seine periphere Herkunft und versteht sich als eine Stimme, die beinahe im Sinne Spivaks32 für die Menschen aus Galizien spricht. In seiner deutschen Migrationszeit in den 1920er-Jahren identifiziert er sich mit den Menschen seiner Herkunftskultur und nimmt dabei eine Position ein, die man als Moderation zwischen verschiedenen Kulturen deuten könnte. Aber er verschleiert dabei zugleich seine eigene osteuropäisch-jüdische und kulturell heterogene Herkunft, was sein Freund und Wegbegleiter Soma Morgenstern als „Assimilitis“ scharf kritisiert hat.33 Am deutlichsten tritt dies in seiner noch heute sehr lesbaren und in einigen Aspekten politisch überaus scharfsinnigen Analyse über das osteuropäische Judentum in seinem Essay „Juden auf Wanderschaft“ zutage. Dieser Text lässt sich als essayistische Beilage zu seinem Roman „Hiob“ lesen, der die Auswanderung des armen Thora-Lehrers Mendel Singer nach New York ins Blickfeld rückt. Im Essay beschreibt Roth die Migration seiner Landsleute etwa nach Amerika und die soziokulturellen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren, die zum Zusammenbruch des „Ostjudentums“ führten, und zwar lange vor der Shoah. 30 David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, Köln 1974. 31 Ebd., 31. 32 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Deutsch von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, Wien 2007. 33 Soma Morgenstern, Joseph Roths Flucht und Ende, Lüneburg 1994, 31–38; Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth. Eine Monographie. Erweiterte Neuauflage, Wien 2012, 178–196.

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Wie so oft bei Roth kontrastiert ein melancholischer Blick auf ein noch kulturell authentisches Judentum im Osten mit einem hohen Maß an politischer Klarsicht. Der anwachsende und im Nationalsozialismus gipfelnde Antisemitismus, der Zusammenbruch der ruralen Ökonomie, die Implosion der alten Imperien und die anachronistisch gewordene Lebensweise der osteuropäischen Juden sind die entscheidenden Faktoren, warum die osteuropäisch-jüdische Kultur unrettbar verloren ist. Diese Migration ist mit Identitätsverlust bezahlt, mit dem Eintritt in eine moderne, völlig unbekannte Kultur. Dabei bedeutet der Zionismus, den Roth als politischen Notbehelf akzeptiert, als nationalistische Doktrin aber schroff ablehnt, einen noch radikaleren Identitätsverlust als die Migration nach Nordamerika, die immerhin ein Moment jüdischer Selbstkonstruktion festhält, die Diaspora, die zentrale große Erzählung des Judentums. Und überdies würden, warnt Roth, die aus Osteuropa kommenden jüdischen Migranten in Palästina Teil einer kolonialen Strategie, die sich gegen die arabischen Bewohner Palästina richtet. Ihnen gilt Roths Sympathie im gleichen Maße wie den vertriebenen, von den Nazis bedrohten Juden Osteuropas.34 In dem aufschlussreichen Essay spricht Roth von den ostjüdischen Migranten stets in der dritten, niemals in der ersten Person, so, als wäre er nicht ein ganz spezifischer Teil von ihnen. Es handelt sich also um eine höchst verdeckte Form, in der er für sie, die „Subalternen“, das Wort ergreift. Seine Migration aus Brody nach Wien, später nach Berlin und dann nach Paris, wird nicht in diesen Zusammenhang gestellt. Roth imaginiert sich, nicht zuletzt mithilfe seiner exemplarischen literarischen Doppelgänger-Figuren, stets als ein Heimatloser, niemals jedoch als ein Mensch, der von verschiedenen Kulturen geprägt und zwischen ihnen hin und her gerissen ist. Diese Heimatlosigkeit hat mit seinem negativen Befund westlicher Kultur, mit seinem kulturkonservativen Unbehagen an der okzidentalen kapitalistischen Massenkultur zu tun, die an die alte Stelle seiner imperialen Heimat, der habsburgischen Monarchie, getreten ist.35 Ähnlich wie Canetti hat Roth seiner peripheren ostjüdischen Heimat den Rücken gekehrt. Er kompensiert diesen Verlust dadurch, dass er die Stimme für die Verlierer, für die Subalternen im Sinne Gramscis und Spivaks erhebt. Er, der sich, nicht zuletzt im Medium der Literatur und durch dieses, als genuiner Österreicher konstituiert, ist aus der Zeit gefallen, nicht aus dem Raum. In diesen beiden Punkten unterscheiden sich Canetti und Roth, zwei Autoren im Übrigen, wie sie nicht verschiedener sein könnten, obwohl sie eben Teil eines modernen österreichischen Komplexes sind. Wenn sie heute zum Gegenstand postimperialer oder auch postkolonialer Kulturanalyse geworden sind, dann ist das bis zu einem gewissen Grad kon-

34 Joseph Roth, Werke in sechs Bänden, herausgegeben von Friedrich Hackert und Klaus Westermann, Köln 1989–1991, Bd. 2, 836. 35 Müller-Funk, Joseph Roth, 133–142.

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tra-intentional.36 Als Migrationsschriftsteller mit transkulturellem Habitus haben sich beide niemals verstanden, auch wenn sie auf die eine oder andere Weise ihre Herkunftskultur literarisch ins Spiel gebracht haben. Es ist naheliegend, ihre Position als historisch, das heißt als überholt, hinzustellen; aber die Auseinandersetzung mit diesen beiden Autoren ermöglicht es vielleicht auch, einige romantische Sichtweisen von Migration und Transkulturalität zurechtzurücken, wie das etwa Terry Eagleton getan hat.37

36 Vgl. hierzu die Studie von Daniel Bitouh, Ästhetik der Marginalität im Werk Joseph Roths. Zur Verschränkung von Binnen- und Außerkolonialismus. Ein postkolonialer Blick, Univ. Diss., Wien 2013. Eine Publikation bei Francke, Tübingen, ist in Vorbereitung. 37 Terry Eagleton, The Idea of Culture, London 2000.

Hans Petschar

Über die Konstruktion von Identitäten Vergangenheit und Zukunft im Kronprinzenwerk

1. Ethnografie und Geschichte

Am 1. Dezember 1885 erschien in einer Auflage von 90.000 Exemplaren das erste Heft1 des Übersichtsbandes „Naturgeschichte“ der 24-bändigen Enzyklopädie „Die österreichisch- ungarische Monarchie in Wort und Bild“2 (Abb. 1). „Auf Anregung und unter Mitwirkung Sei1

2





Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Übersichtsband. Erstes Heft. Lieferung 1, Wien (Druck und Verlag der kaiserlich-königlichen Staatsdruckerei), erschienen 1. Dezember 1885. Das Bildrecht für die im Folgenden abgedruckten Illustrationen liegt beim Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (1886–1902). Auf Anregung und unter Mitwirkung Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf. Wien: k. k. Hof- und Staatsdruckerei. Das Werk wurde sehr bald als „Kronprinzenwerk“ bezeichnet und zitiert. Die Anordnung der Bände richtete sich nach dem Erscheinungsjahr. Die Aufteilung und Anzahl der Bände stand lange Zeit nicht endgültig fest und ergab sich aus der praktischen Arbeit der beiden Redaktionen. Die ungarische Ausgabe variiert in der Bandzählung durch die Zusammenfassung der Bände Wien und Niederösterreich (1 und 4), der Übersichtsbände 1 und 2 sowie der Bände Küstenland und Dalmatien (10 und 11). Band 1 (1886): Wien und Niederösterreich, 1. Abtheilung: Wien Band 2 (1887): Übersichtsband, 1. Abtheilung: Naturgeschichtlicher Theil Band 3 (1887): Übersichtsband, 2. Abtheilung: Geschichtlicher Theil Band 4 (1888): Wien und Niederösterreich, 2. Abtheilung: Niederösterreich Band 5 (1888): Ungarn, Band 1 Band 6 (1889): Oberösterreich und Salzburg Band 7 (1890): Steiermark Band 8 (1891): Kärnten und Krain Band 9 (1891): Ungarn, Band 2 Band 10 (1891): Das Küstenland (Görz, Gradiska, Triest und Istrien) Band 11 (1892): Dalmatien Band 12 (1893): Ungarn, Band 3 Band 13 (1893): Tirol und Vorarlberg

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Hans Petschar

Band 14 (1894): Böhmen, Band 1 Band 15 (1896): Böhmen, Band 2 Band 16 (1896): Ungarn, Band 4 Band 17 (1897): Mähren und Schlesien Band 18 (1898): Ungarn, Band 5, 1. Abtheilung Band 19 (1898): Galicien Band 20 (1899): Bukowina Band 21 (1900): Ungarn, Band 5, 2. Abtheilung Band 22 (1901): Bosnien und Hercegowina Band 23 (1902): Ungarn, Band 6 Band 24 (1902): Croatien und Slavonien Zum Kronprinzenwerk gibt es seit den Neunzigerjahren im Zuge einer kulturwissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit der Habsburgermonarchie eine Reihe von Einzelarbeiten, die sich mit den kulturwissenschaftlichen und ethnografischen Aspekten des Werkes (Szász 1997; Stagl 2002; Bendix 2003; Hryaban 2005), mit der ästhetischen Grundkonzeption (Schmid 1995) und der Werkgeschichte (Weigand 1998) befassen, jedoch noch keine umfassende eigenständige Arbeit. Einen guten Überblick mit einer Auswahl von Beiträgen bietet der Band von Christiane Zintzen (1999). Die Rezeption des Werkes v. a. in den ehemaligen cisleithanischen Kronländern und in Ungarn behandelt der Sammelband Fikfak und Johler (Hrsg.) (2008). Eine genaue Darstellung zur Genese des Werkes findet sich in der Dissertation von Helene Fritsch (2010). Zoltán Szász, Das ‚Kronprinzenwerk‘ und die hinter ihm stehende Konzeption, in: Endre Kiss/Justin Stagl u.a. (Hrsg.), Nation und Nationalismus in wissenschaftlichen Standardwerken Österreich-Ungarns, ca. 1867–1918 (Ethnologica Austriaca 2), Wien – Köln – Weimar 1997, 65–70; Justin Stagl, Das ‚Kronprinzenwerk‘ – eine Darstellung des Vielvölkerreiches, in: Ákos Moravánzky (Hrsg.), Das entfernte Dorf. Moderne Kunst und ethnischer Artefakt (Ethnologica Austriaca 3), Wien – Köln – Weimar 2002, 169–182; Georg Schmid, Die Reise auf dem Papier, in: Britta Rupp-Eisenreich/Justin Stagl (Hrsg.), Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat. Zur Geschichte der Ethnologie und verwandter Gebiete in Österreich, ca. 1780 bis 1918 (Ethnologica Austriaca 1), Wien – Köln – Weimar 1995, 100–112; Regina Bendix, Ethnology, Cultural Reification, and the Dynamics of Difference in the Kronprinzenwerk, in: Nancy M. Wingfield (Hrsg.), Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, New York – Oxford 2003, 149–166; Viktoriya Hryaban, Der ,Bukowina-Band‘ der österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild, in: kakanienrevisted, http://www.kakanien. ac.at/beitr/fallstudie/VHryaban1.pdf, 2005, 1–11; Katharina Weigand, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, 134. Jahrgang, 1998, 321– 343; Christiane Zintzen (Hrsg.), Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Aus dem „Kronprinzenwerk“ des Erzherzog Rudolf (Literaturgeschichte in Studien und Quellen Bd. 3), Wien – Köln – Weimar 1999; Helene Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text: an ausgewählten Illustrationen von Rudolf Bernt, Hugo Charlemont, Robert Russ, Emil Jakob Schindler und Karl Siegl aus dem Werk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, phil. Diss., 2 Bde., Wien 2010; Jurij Fikfak/Reinhard Johler (Hrsg.), Ethnographie in Serie. Zu Produktion und Rezeption der „österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild“, Institut für Europäische Ethnologie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie 28), Wien 2008.

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ner kaiserlichen und königlichen Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog Rudolf“ steht unter dem Titel eines jeden Bandes und unter dem Gesamttitel der Reihe zu lesen. Im Impressum genannt werden die Druckerei und der Verlag sowie der Generalvertreiber: „Druck und Verlag der k. k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien. Alfred Hölder, k. k. Hof- und Universitätsbuchhändler in Wien“. Auf den Reihentitel folgt eine Widmungsseite, gestaltet vom akademischen Maler Franz Rumpler.3 Die originale Federzeichnung für das Widmungsblatt (Abb. 2) zeigt das mit Palmzweigen geschmückte Brustbild Kaiser Franz Josephs mit der Krone des Kaisertums Österreich und Abb. 1 der Stephanskrone. Etwas darunter befinden sich an den Seiten stehend die allegorischen Figuren der Austria und der Hungaria, die eine Leerstelle für den Widmungstext umrahmen.4 „Seiner kaiserlichen und königlichen Apostolischen Majestät Franz Joseph I. Kaiser von Österreich, König von Böhmen u. s. w. und Apostolischem König von Ungarn u. s. w. ehrfurchtsvoll gewidmet“ lautet die Widmung, die zentriert und mit der Hervorhebung des kaiserlichen Namens in Druck gegeben wurde.5 Der mehrfache Hinweis auf die „Anregung und Mitwirkung“ des Kronprinzen, vor allem aber die zentral gesetzte Widmung an den Kaiser sollten von Anfang an den repräsentativen und staatstragenden Charakter eines Werkes zum Ausdruck bringen, dessen beabsichtigte patriotische Wirkung Bestandteil seiner Programmatik war. 3

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Die Illustrationen Rumplers für die Einleitung sind ein Teil der österreichischen Originalzeichnungen zum Kronprinzenwerk. Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Inv. Nr.: Pk 1131, 1625–1637 (siehe Abb. 1–16). Franz Rumpler: Kopfrandleiste für das Widmungsblatt an Kaiser Franz Joseph im Werk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ (Übersichtsband 1. Abteilung Naturgeschichtlicher Theil, 1887, 3). Federzeichnung in Schwarz. Vor 1887. Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Inv. Nr.: Pk 1131, 1652. ÖUM, Band 2 (1887): Übersichtsband 1, Widmungsblatt.

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Abb. 2

Abb. 3

Kronprinz Rudolf blieb es vorbehalten, die Einleitung zur Enzyklopädie zu verfassen.6 Der Text ist durchgängig mit Randzeichnungen von Franz Rumpler versehen, welche nicht nur den programmatischen Text in Form von Ornamenten und allegorischen Darstellungen erzählend illustrieren, sondern gleichzeitig die Leserinnen und Leser visuell in das Gesamtwerk einstimmen sollen. Ein Genius, zu dessen Füßen ein Erdglobus liegt, hält auf der ersten Seite mit beiden Händen ein Buch mit der Aufschrift „Oesterreich-Ungarn“ in die Höhe (Abb. 3).7 Blumenranken ergänzen den Buchschmuck der ersten Textseite, die am linken Bildrand offen bleibt, um den Text einfließen zu lassen. Die österreichisch-ungarische Monarchie entbehre trotz mancher guter Vorarbeiten noch immer eines ethnografischen Werkes, welches, auf der Höhe der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung stehend, mit Zuhilfenahme der so sehr vervollkommten künstlerischen Reproductionsmittel, anregend und belehrend zugleich, ein umfassendes Gesammtbild unseres Vaterlandes und seiner Volksstämme bietet.8 6 Ebd., 5–17. 7 ÖUM, Band 1 (1887), 5. 8 Ebd.

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Im programmatischen Teil seiner Einleitung folgt der Kronprinz im Wesentlichen dem Wortlaut der Eingabe an Kaiser Franz Joseph I., die er bereits im März 1884 an diesen gerichtet und darin um Genehmigung und kaiserlichen Schutz für die Herausgabe eines großen ethnografischen Werkes über die österreichisch-ungarische Monarchie ersucht hatte.9 Das Studium der innerhalb der Grenzen der Monarchie lebenden Völker wäre nicht nur ein lohnendes Tätigkeitsfeld für die Gelehrten,10 „sondern auch von praktischem Werthe für die Hebung der allgemeinen Vaterlandsliebe“.11 Durch den Einblick in die Besonderheiten „der einzelnen ethnografischen Gruppen und ihre gegenseitige und materielle Abhängigkeit voneinander“12 müsse „das Gefühl der Solidarität, welches alle Völker unseres Vaterlandes verbinden soll, wesentlich gekräftigt werden“.13 Mehr noch: „Jene Volksgruppen, welche durch Sprache, Sitte und theilweise abweichende geschichtliche Entwicklung sich von den übrigen Volksbestandtheilen abgesondert fühlen“,14 würden durch die Würdigung ihrer Individualität in der wissenschaftlichen Literatur der Monarchie „aufgefordert, ihren geistigen Schwerpunkt in Österreich-Ungarn zu suchen“.15 Gerade in Österreich-Ungarn wäre es daher von hoher Wichtigkeit, die Ethnografie und ihre Hilfswissenschaften zu pflegen, da diese das Material sammelten, aus dem alleine die Grundlage für einen objektiven Vergleich der verschiedenen Völker hervorgehe. Zwar gebe es einige wichtige Arbeiten in Fachzeitschriften über einzelne Völkerstämme, jedoch würde die Ethnografie in Österreich-Ungarn weniger gefördert als etwa in Deutschland, England, Frankreich und sogar Russland. Der Kronprinz, der in seiner einleitenden Erklärung abwechselnd von Völkern, Völkerstämmen und Nationen als Volksbestandteilen Österreich-Ungarns spricht, hält ein Plädoyer für das ethnografische Sammeln und Forschen aus Gründen der Vaterlandsliebe und des Staatspatriotismus. Die Schaffung eines großen ethnografischen Werks sollte nicht nur dem „wissenschaftlichen und künstlerischen Selbstgefühl der einzelnen Nationen Rechnung tra-

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Kronprinz Erzherzog Rudolf, Eingabe an Kaiser Franz Joseph I. betreffend „Österreich-Ungarn in Wort und Bild“. März 1884. HHStA Kt 15, Select Kronprinz Rudolf, fol. 235–23, zit. nach Helene Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, 2 Bde., phil. Diss., Bd. 2, Wien 2010, 17. 10 Dieser Beitrag gibt in den referierenden Abschnitten teilweise den Gestus und den Stil des Kronprinzenwerkes wieder, um den heutigen Leserinnen und Lesern auch sprachlich einen historischen Einblick in die Entstehungszeit des Werkes zu vermitteln. Sämtliche Begriffe, insbesondere die verwendeten Kollektivbegriffe sind, wenn nicht eigens anders ausgeführt, geschlechtsneutral gemeint. 11 ÖUM, Band 1 (1887), 5. 12 Ebd. 13 Ebd., 6. 14 Ebd. 15 Ebd.

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gen“,16 sondern würde „der ganzen Monarchie und allen ihren Theilen zur Ehre gereichen“.17 Wo gäbe es einen Staat, der reicher wäre an Gegensätzen, der „naturhistorisch, landschaftlich und klimatisch so herrliche Mannigfaltigkeiten in seinen Grenzen vereinigend, in der ethnografischen Zusammensetzung verschiedener Völkergruppen gleich interessante Bilder zu einem großen Werke liefern könnte“,18 fragt Rudolf, ehe er die Leserinnen und Leser „zu einer Wanderung durch weite, weite Lande, zwischen vielsprachigen Nationen, inmitten stets wechselnder Bilder“19 auffordert.

Abb. 4 und 5

Nach dem jugendlichen Herold, der das Werk ankündigt und preisend in die Höhe hält, rahmen auf sechs Doppelseiten die Illustrationen von Franz Rumpler den Text ein. Die Kopfrandleiste der ersten Doppelseite (Abb. 4 u. 5) zeigt am linken Bildrand das Porträt Kaiser Rudolfs I., des Begründers der Dynastie.20 Darüber stehen aneinandergereiht und den

16 Ebd., 7. 17 Ebd. 18 Ebd., 7–8. 19 Ebd., 8. 20 Ebd., 6–7.

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oberen Bildrand ausfüllend die Wappen von Böhmen, Mähren, Galizien und der Bukowina. Danach folgen die Wappen des Südens mit Kärnten und Triest, schließlich wieder gegen Norden gewandt Schlesien. Seinen Abschluss findet der Überblick über die Wappen aus den unterschiedlichsten Ländern der Monarchie am rechten Bildrand in einer in den Textbereich hineinreichenden Darstellung des kleinen österreichischen Staatswappens mit dem Doppeladler und der Kaiserkrone. Am unteren Bildrand eröffnet die Ansicht einer Donaulandschaft die Reise durch die Landschaften der Monarchie. Sie findet ihre Fortsetzung auf der gegenüberliegenden Text-Bildseite in einer Ansicht von Wien, aus der am rechten Bildrand Weinreben aufsteigen. Sie führen die Betrachterin und den Betrachter hin zur Darstellung einer Heuernte mit einem Pferdewagen in einer flachen, ländlichen Gegend, umgeben von einem großen Gebirgszug im Hintergrund. Das Wappen der Reichshauptstadt Wien beschließt den visuellen Rundgang auf der ersten Doppelseite, von der aus die Bilderreise ihren Ausgang nimmt.

Abb. 6 und 7

Die bildlichen Verzierungen des zweiten Seitenpaares (Abb. 6 und 7) zeigen am oberen Bildrand eine Ansicht der Feste Hohensalzburg mit dem Wappen von Salzburg.21 Am linken 21 Ebd., 8–9.

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unteren Bildrand steht ein Bauer vor einem Hopfenstock, neben ihm in der Mitte befinden sich die Wappen von Tirol, Steiermark und Oberösterreich, abschließend folgt eine ländliche Tanzszene vor dem Hintergrund einer alpinen Seenlandschaft. Die Illustrationen der linken Bildseite eilen dem Text ein wenig voraus, der in der Beschreibung der Landschaften der Monarchie von Wien und Niederösterreich seinen Ausgang nimmt, über die Donauauen, den Wienerwald und den Schneeberg weiterstreift, ehe er die Kalkgebirge Oberösterreichs erreicht, dann über Salzburg nach Tirol bis zu den Gestaden des Bodensees gelangt und in Vorarlberg, dem westlichsten Land der Monarchie, ein erstes Ende findet. Von hier aus wendet sich der imaginäre Blick des Autors den Gebirgszügen folgend zurück zu den schneebedeckten Hohen Tauern bis in die Steiermark, ins südliche Kärnten und noch weiter nach Krain. Die Illustrationen der rechten oberen Bildrandleiste folgen diesem textlichen Parcours mit der Darstellung einer Küstenlandschaft, südlichen Pflanzen, Früchten, Fischen und Möwen, während am linken unteren Bildrand tosende Wellen gegen Felswände schlagen. „Halb nördlich, halb südlich in Vegetation und in Allem“22 seien „Kärnten, das schöne Land, sowie auch Krain“,23 so heißt es im Text, der die geistigen Wanderer weiterführt über den Karst nach

Abb. 8 und 9 22 Ebd., 9–10. 23 Ebd., 9.

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Görz, nach Triest und noch weiter über Dalmatien bis ganz in den Süden, „in die herrliche Bocche di Cattaro, wo als mächtiger Grenzpflock sich das ernst-majestätische Gebirgsmassiv der Schwarzen Berge erhebt“.24 Der imaginäre Blick über die Landschaften der Doppelmonarchie, den der Text beschreibt, schweift von Wien über den Westen nach Süden und wendet sich, am südlichsten Ende angenommen, nach Norden: über Mähren und Böhmen nach Prag, von Schlesien bis nach Galizien und in die Bukowina und von dort in die Länder der Stephanskrone. Die visuelle Gestaltung des zweiten Seitenpaares (Abb. 8 und 9) entspricht formal der ersten Doppelseite.25 Während jedoch auf der Einführungsseite der Doppeladler und die Kaiserkrone als Staatssymbole auf der linken und das Landeswappen von Wien als der Hauptstadt des Reiches auf der rechten Seite den Text begrenzen, fehlen in den motivischen Bildern zu Böhmen, Mähren und Schlesien alle politischen Symbole. Vielmehr sind es eine Stadtansicht von Prag in der Kopfrandleiste oben rechts sowie zwei Genreszenen mit einer ländlichen Prozession und singenden Mädchen und Burschen in verschiedenen Trachten am unteren Bildrand, die die Betrachter in die nördlichen Gegenden führen. Im Gegensatz dazu zeigt der Bildschmuck der rechten Seite ein Porträt des heiligen Stephan am rechten Bildrand, eine Pusztalandschaft am unteren und eine Ansicht von Budapest am oberen Bildrand. Ihren Abschluss findet die visuelle Gestaltung der Seite im oberen Bildrand durch eine Darstellung, die der Ansicht von Prag symmetrisch gegenübersteht: Die Stephanskrone schwebt über dem ungarischen Landeswappen mit Ungarn im Herzschild und darunter liegend Kroatien und Dalmatien, Slawonien und Siebenbürgen.26 Subtil setzte der aus Tachau (Böhmen) stammende Genre- und Landschaftsmaler Franz Rumpler (1848–1922), der 1885 zum Lehrer an der Wiener Akademie der bildenden Künste bestellt worden war und von 1898 bis 1918 die Spezialschule für Historienmalerei an der Akademie leitete, die politische Ausgangssituation der dualen Staatskonstruktion ins Bild, die keinen Platz für eine politische und symbolischen Repräsentanz Böhmens und Mährens und darüber hinausgehend für die slawischen Länder und Völker der Monarchie finden konnte. So blieb es in der imaginären Reise durch die Monarchie, zu der Kronprinz Rudolf in seiner Einleitung die Leserinnen und Leser der Enzyklopädie einlädt, bei einer bildlichen Darstellung der landschaftlichen Vielfalt und deren symbolischer Zusammenführung unter dem einigenden Band der Dynastie. 24 Ebd., 10. 25 Ebd., 10–11. 26 In der Darstellung sind gegenüber dem ungarischen Staatswappen die Länder Kroatien und Dalmatien vertauscht, in der Spitze fehlt das Wappen von Fiume mit Gebiet; vgl. Hugo Gerard Ströhl, Österreichisch-ungarische Wappenrolle, Wien 1900, Tafel 6, Text 5–6. Die Aufnahme Dalmatiens in das ungarische Staatswappen erklärt Ströhl wie folgt: „es ist ein Erinnerungs- vielleicht auch ein Anspruchswappen der ungarischen Krone“, ebd., 9.

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Abb. 10 und 11

Ein Karpatenbär wandert auf der nächsten Doppelseite (Abb. 10 und 11) unter der Beschreibung der Landschaften Siebenbürgens und Galiziens aus dem Bild. 27 Auf der gegenüberliegenden Seite halten am Ende der landschaftlichen Wanderung zwei Putten ein Band mit der Kaiserkrone. Es ist verknüpft mit einer weiblichen allegorischen Figur, an deren Füßen ein Band mit der Stephanskrone hängt, das wiederum von einer nach unten blickenden Putte gehalten wird. Eine Genreszene mit Menschen in einer flachen, östlich anmutenden Landschaft eröffnet den Betrachtern das Bild vom Leben der Menschen in den Ländern der Monarchie. Ebenso mannigfaltig wie all die Landschaften, die „alle Ein Vaterland – das unsrige“28 verschönerten, seien die Menschen „in allen ihren Gebräuchen und abwechslungsreichen Trachten“.29 So leitet der Kronprinz seinen ethnografischen Überblick über die Menschen der Monarchie und ihre Lebensgewohnheiten ein. Auch die Aufzählung der Völker, Nationen und

27 ÖUM, Band 1 (1887), 12–13. 28 Ebd., 13. 29 Ebd.

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Stämme folgt zunächst der Geografie: Die Wiener, die Niederösterreicher des flachen Landes und der Gebirge, die Oberösterreicher und Salzburger aus den Hochalpen, die Tiroler, die Wälschtiroler und Ladiner, die Kärntner und Krainer, die Slowenen, die Istrianer und die Dalmatiner, sie alle werden ebenso wie die Deutschen und Tschechen im Norden, die Polen und Ruthenen im Osten und die in Ungarn lebenden verschiedenen Nationen, Stämme und kleineren Völker zusammenhängend mit dem Territorium, auf dem sie leben, gesehen. „Das Volksleben und die Volkseigenthümlichkeiten, wie sie entstanden sind und wie sie sich erhalten, zusammenhängend mit dem Charakter des Landes, mit dem Klima, der Natur und der Bodengestaltung – sind der eigentliche Stoff dieses Werkes.“30

Abb. 12 und 13

Die Kopfrandleisten zeigen auf der linken Bildseite (Abb. 12) verschiedene Volkstypen und Trachten aus allen Teilen der Monarchie, Putten und eine allegorische weibliche Figur, die die Früchte des Landes verteilt.31 Zwei Putten weisen auf die beiden Kronen und die Wappen von Österreich und Ungarn. Die rechte Kopfrandleiste (Abb. 13) zeigt Genreszenen aus dem 30 Ebd., 15. 31 Ebd., 14–15.

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Abb. 14, 15 und 16

Arbeitsleben, Feste und Bräuche: einen Zug von Wallfahrern, einen Wanderer im Gebirge, einen pflügenden Bauer und abschließend ganz unten rechts im Bild eine Mutter mit ihrem Kind. Die letzte Doppelseite (Abb. 14–16) der Einleitung führt zurück zum eingangs skizzierten Programm, das nun auf den Punkt gebracht wird: „Österreich-Ungarn in Wort und Bild möge in wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung und zugleich als wahres Volksbuch

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ernste patriotische Bedeutung gewinnen.“32 Nicht nur die Gegenwart jedoch sollte zur Hebung der Vaterlandsliebe beschrieben werden, sondern auch das historische Schicksal der Völker und Stämme und deren Zusammenführung und Vereinigung in der österreichisch-ungarischen Monarchie. In einer gemeinsamen Arbeit von Wissenschaftlern und Künstlern aus dem Kreise aller Völker der Monarchie sollte – einmal vollendet – das Werk sich darstellen „als ein Denkmal geistiger Schöpfungskraft der Gegenwart, als ein Monument für alle Zukunft“.33 Ebenso wie der Text führen die Illustrationen zurück zum Anfang der Einleitung. Eine sitzende weibliche Figur hält, gestützt durch ihre Füße, einen Bogen Papier in der rechten Hand, während sie mit der linken in den aufgeschlagenen Seiten eines Buches blättert, das an eine Weltkugel angelehnt ist. Zu ihren Füßen steht ein Tintenfass, aus dem eine bis zu den Textzeilen des aufgeschlagenen Buches reichende Schreibfeder ragt. Rechts neben der Figur der Historie und von der anderen Seite der Weltkugel zugewandt, die sie mit der rechten Hand umfasst, lehnt fast schon liegend eine zweite weibliche Figur, die eine Sanduhr in ihrer linken ausgestreckten Hand in die Höhe hält. Ein geflügelter Genius beugt sich über sie und weist mit seiner rechten Hand auf eine Stelle der Weltkugel direkt neben der rechten Hand der zweiten Frau, die auf die gezeigte Stelle blickt. Mit der linken Hand zieht der Genius einen Schleier vom Kopf der Frau und lüftet so das Geheimnis der Zeit. Ganz rechts im Bildhintergrund überstrahlt die aufgehende Sonne die Silhouette einer Stadt mit der Andeutung eines alles überragenden Domes. Schlachtenszenen am linken Bildrand und am Boden illustrieren von den Römern über die Kriege der Neuzeit, die von einem speienden Drachen entfacht werden, die Rückblicke in die Vergangenheit, die ihre Vollendung in der Gegenwart finden sollten. Anstelle der Putten vergnügen sich kleine Kinder in den Girlanden der letzen Seite der Einleitung und erfreuen sich an den Früchten des österreichisch-ungarischen Geschichtswerkes. Unter dem zentral und fett gesetzten Titel „Österreich-Ungarn in Wort und Bild“ sitzt in einer offenen Landschaft mit einer Feder und einem Bogen Papier in der Hand ein alter bärtiger Greis, der mit einem Zirkel den am Boden liegenden Globus vermisst. Ein den Betrachtern abgewandter Geschichtsschreiber, zeitloser Zeiten- und Weltvermesser in einem, ist der alte patriarchalische Greis das Gegenbild zum jugendlichen Herold der Einleitung, der mit fast trotzigem Blick allen, die ihm in die Augen sehen, das Buch mit der Aufschrift „Oesterreich Ungarn“ und der aufgehenden Sonne entgegen hält. In nahezu perfekter Manier gelingt dem Historienmaler die Visualisierung des einleitenden Textes und seiner Programmatik, indem er in bildlicher Form die Spannungsfelder der österreichisch-ungarischen Gegenwartsgeschichte seiner Zeit verdichtet zum Ausdruck 32 Ebd., 16. 33 Ebd., 17.

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bringt: das Verhältnis von Nationalität und Staat, die staatspatriotische Verknüpfung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft, die politische Bedeutung von Kunst und Wissenschaft. 2. Das „Unternehmen“34

Die sorgsame bildlich-textliche Umsetzung der Programmatik in der Einleitung zur „Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wort und Bild“ sollte ihre Wirkung nicht verfehlen. 90.000 Exemplare des ersten Heftes und 50.000 Illustrationsproben wurden im Dezember 1885 für Abonnenten und zu Werbezwecken an den Universitätsbuchhändler Ritter Alfred von Hölder, der für den Vertrieb der deutschen Ausgabe verantwortlich war, übergeben. Im Dezember 1886 lagen die ersten 25 Lieferungen der landeskundlichen Enzyklopädie „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild (Az Osztrák-Magyar Monarchia írásban és képben)“ vor.35 In der Folge wurden in einem Produktionszeitraum von 17 Jahren bis 1902 alle Kronländer, Völker und Länder der Monarchie in einer 24-bändigen deutschen und einer 21-bändigen ungarischen Ausgabe dem Lesepublikum präsentiert. Zum 1. und 15. eines jeden Monats wurden von Dezember 1885 bis Juni 1902 insgesamt 397 Lieferungen an die Subskribenten ausgeliefert. Sie enthielten insgesamt 587 Beiträge von 432 Autoren auf 12.596 Textseiten sowie 4.529 Illustrationen nach Originalvorlagen von 264 Künstlern.36 Zu einem äußerst günstigen Preis von 30 Kreuzern pro Heft konnten die Subskribenten des Werkes die Lieferungen erwerben und diese bei Vorliegen aller Einzelhefte um einen Gulden zu einer repräsentativen Buchausgabe mit schön gestalteten Einbänden mit schwarz-goldener Prägung auf rotem, dunkelgrünem oder grauem Grund binden lassen.37 Bereits im Dezember 1886 legte die Staatsdruckerei Bilanz über die ersten 20 erschienenen Hefte, die bei einer Gesamtauflage von 860.000 Exemplaren einen Reingewinn von 11.361,59

34 In der Darstellung zur Entstehungsgeschichte folge ich im Wesentlichen den textlichen Erläuterungen zu den originalen Bildquellen des Kronprinzenwerks in meiner anlässlich der Jahresausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek 2011 erschienenen Publikation: Hans Petschar, Altösterreich. Menschen, Länder und Völker in der Habsburgermonarchie, Wien 2011. 35 Die Lieferungen des ersten Produktionsjahres verteilten sich auf drei Bände der Enzyklopädie: die Hefte 1–8 des Übersichtsbandes 1: Naturgeschichtlicher Theil (bestehend aus den Lieferungen 1, 4, 6, 9, 12, 16, 18, 22 des Gesamtwerks), die Hefte 1–11½ des Bandes Wien (bestehend aus den Lieferungen 2, 5, 8, 11, 13, 14, 17, 20, 21, 24, 25) und die Hefte 1–6 des Bandes Ungarn 1 (bestehend aus den Lieferungen 3, 7, 10, 15, 19, 23). 36 Die Angaben stammen aus dem Schlusswort zum Kronprinzenwerk, das als Sonderbeilage der letzten Lieferung vom 1. Juni 1902 beigebunden war. 37 Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 64.

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Gulden nach Absatz aller Vorräte prognostizierten.38 Die Auflage für die Lieferungen der ersten beiden Bände betrug 40.000 Exemplare für anfänglich etwa 30.000 Abonnenten, ging jedoch in den späteren Jahren zurück auf 20.000 und 15.000 Exemplare pro Lieferung. Nach dem Tod des Kronprinzen übernahm seine Witwe, Erzherzogin Stephanie, die selbst einige Illustrationen für das Werk anfertigte, das Patronat über das Unternehmen. Am 1. Mai 1889 nahm Kaiser Franz Joseph die österreichische Ausgabe in sein Eigentum und sicherte ihre Finanzierung. Trotz der hohen Herstellungskosten und eines günstigen Preises für die Subskribenten und Käufer erzielte die deutschsprachige Ausgabe letztendlich einen Gewinn von 257.740 Kronen.39 Den Reinertrag stiftete Kaiser Franz Joseph dem k. k. Konsular-Amt als Beitrag zur Errichtung eines Gebäudes für die k. k. Konsular-Akademie, um für die nunmehr vollendet vorliegende Publikation „auch die dortigen österreichischen und ungarischen Kolonien und Vereine dafür zu interessieren“40 und den Vertrieb im Ausland zu unterstützen. Hinter den nüchternen Zahlen verbirgt sich eines der größten editorischen Unternehmen der Habsburgermonarchie, das von Anfang an als ein staatstragendes, patriotisches Werk konzipiert worden war. Schon im Vorfeld bedachte die liberale Wiener Presse das Vorhaben mit Vorschusslorbeeren. „Erkennet Euch selbst“ lautete der Titel, mit dem Moritz Szeps am 27. März 1884 im Neuen Wiener Tagblatt in einem Leitartikel das Vorhaben ankündigte.41 Die Stellung des Kronprinzen bringe es mit sich, so Szeps, dass zur Verwirklichung die maßgebenden Staatskreise befragt werden mussten und der ungarische Ministerpräsident István Tisza „dem Gedanken des Kronprinzen ohne Zögern und Säumen sofort seinen enthusiastischen Beifall und seine volle Zustimmung entgegengebracht“ habe. 42 Der Journalist und wohl auch der ihm nahestehende Kronprinz hatten angesichts der dualistischen Staatskonstruktion und der ungelösten Nationalitätenkonflikte von Anfang an die politische Sprengkraft eines Werkes erkannt, das es sich zum Ziel setzte, alle Völker der Monarchie mit gleicher Sympathie zu präsentieren und zugleich hochgesteckte staatspolitische Erwartungen zu erfüllen: 38 Ebd., Bd. 1, 50. 39 Ebd., 53. Der Betrag von 257.740 Kronen entspricht einer heutigen Kaufkraft von 1.541.285 Euro. Dem Gewinn zugezählt wurden – zu einem Drittel des Ankaufspreises – über 2.500 an die kaiserliche Fideikomissbibliothek abgegebene Originalzeichnungen der österreichischen Ausgabe. Die über 1.600 Originalzeichnungen der ungarischen Ausgabe wurden verteilt auf das Ungarische Nationalmuseum, die Ungarische Nationalgalerie, das ethnografische Museum und das Museum für Angewandte Kunst in Budapest; vgl. Orsolaya Hessky, The book of the crown-prince. The Austrian-Hungarian Monarchy in word and picture 1885–1902, in: Katalin F. Dósza (Hrsg.), Rudolf, a reményveszett imádo, Gödöllö, Gödöllöi Király Kastély, 2008, 37–45, hier: 41. 40 Zit. nach Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 54. 41 Neues Wiener Tagblatt, 27. März 1884, 1–2, wiedergegeben bei Zintzen, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Aus dem ‚Kronprinzenwerk‘ des Erzherzog Rudolf, 273–276. 42 Ebd.

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Das Werk wird getragen sein von den Sympathien der Völker Österreichs, es wird literarisch und wissenschaftlich fördern und für manche jungen Kräfte die Bahn aufschließen; es wird die Liebe der Völker zum Staate erhöhen und das Selbstvertrauen des Staates kräftigen. Wenn es in seinen geographischen Schilderungen und indem es der Begeisterung und der Liebe für die Natur Ausdruck leiht, als das hohe Lied unseres mit Naturschönheiten so reich ausgestatteten Staatsgebiets erscheinen wird, so wird es andererseits vermöge seiner ethnographischen Schilderungen und vermöge seines politischen Charakters ein Denkmal sein der Solidarität, welche die Völker der Monarchie aneinander bindet, des einigenden Gefühls, welches nach allen Trübungen und Hemmungen wieder siegreich zur Geltung gelangt.43

Der politische Charakter des Werkes und der Wunsch nach einer Verankerung auf allerhöchster Ebene – zum Ausdruck gebracht durch das aktive Mitwirken des Kronprinzen und vor allem durch das Einverständnis und das Schutzpatronat Kaiser Franz Josephs – machte die Zustimmung Ungarns auf höchster politischer Ebene ebenso nötig wie die Änderung im Aufbau und im Inhalt eines Werkes, das ursprünglich als eine ethnografische Enzyklopädie über die Völker der Monarchie konzipiert worden war. Bereits im Februar 1883 hatte der Kronprinz an den Maler Franz Xaver Pausinger, der ihn schon auf seiner Orientreise begleitet hatte, geschrieben, er wolle mit ihm „behufs Schilderung in Wort und Bild von Land und Leuten“44 durch jene Teile der Monarchie wandern, „in denen noch ganz urwüchsiges Volksleben und Kostüme bestehen, die aber zugleich an den östlichen Typus mahnen“.45 Zu Recht hat Helene Fritsch in ihrer Arbeit über die Illustrationen zum Kronprinzenwerk auf diesen Brief des Kronprinzen hingewiesen, der bereits die Intention Rudolfs zu einem ethnografischen Werk über die Monarchie erkennen lässt und an die gleichgearteten Interessen seiner Vorfahren zu Anfang des Jahrhunderts erinnert.46 Erzherzog Johann Salvator (1852–1891), der jüngste Sohn Großherzog Leopolds II. von Toskana (1797–1870), hatte das ursprüngliche Konzept Ende des Jahres 1883 mit Rudolf diskutiert und entworfen. Im Nachlass Rudolfs findet sich ein mit 24. Dezember 1883 datierter Entwurf Johann Salvators zu einer zehnbändigen „Ethnographie Österreich-Ungarns in Wort und Bild“.47 Ein Einleitungsband sollte die Ziele des Werkes und die an das Werk geknüpften Hoffnungen erläutern: „Darstellung wie wir sind; was wir bedeuten uns und der Welt. Beweis dass die Monarchie kein Gebilde des Zufalls, sondern der Nothwendigkeit. Verschiedenheit 43 Ebd. 44 Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 36. 45 Erzherzog Johann Salvator, Ethnographie Oesterreich-Ungarn in Wort und Bild, HHStA Kt 15, Select Kronprinz Rudolf, fol. 229 r/v. 14. 12. 1883, wiedergegeben bei Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text Bd. 2, 14–15. 46 Ebd., 14. 47 Ebd.

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seiner Materie kein Konzept der Schwäche (Schweitz). Lebensfähigkeit und Lebensberuf.“48 In jeweils einzelnen Bänden sollten dann die einzelnen Völker der Monarchie dargestellt werden: Deutsche, Tschechen und Slowaken, Magyaren, Polen und Ruthenen, Slowenen, Kroaten und Serben, Rumänen. Ein eigener Band 8 war für das Okkupationsgebiet Bosnien und Herzegowina vorgesehen, ein weiterer Band 9 für: „Fremde, Juden, Zigeuner“. Als Anmerkung zu diesem Band 9 findet sich die Notiz „/: ad IX vorurtheilsfrei Würdigung des Judenthums als Cultur-Element“.49 Die Schilderung der einzelnen Völker sollte Bezug nehmen auf das Land, die Geschichte, die Religion, die soziale Entwicklung, die Volkswirtschaft, die Wissenschaft und die Bildende Kunst, nationale Musik, nationale Poesie, das Volksleben und ihre Stellung im Staat. Ein Schlussband 10 sollte schließlich die historische Entwicklung, die verfassungsmäßige Organisation und die Wechselwirkung der einzelnen Glieder der Monarchie in kultureller und nationalökonomischer Sicht ebenso darstellen wie die einigenden und trennenden Bestrebungen einst und jetzt. Die politische Botschaft, die es zu vermitteln gelte, wird am Ende noch einmal angesprochen: „Einigende Bande: die Dynastie, das Heer, die gemeinsamen Interessen. Schilderung derselben. Leistungen der Gesamtheit. Stellung der Monarchie in politischer und cultureller Beziehung. Ihre Mission im Dienste der Menschheit.“50 Mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt, wird in diesem Konzept das politische und humanitäre Potenzial verteidigt, das in der Akzeptanz der Vielfalt und der Verschiedenheit der Völker begründet liegt – zu einer Zeit, als der Nationalitätenstreit längst die Politik dominierte. Die Dynastie, das Heer und die gemeinsamen (kulturellen und ökonomischen) Interessen werden als jene einigenden Bande (Abb. 17–19) beschworen, die das Staatsgefüge zusammenhalten und die nationalen Konflikte eindämmen sollten. Am Ende der liberalen Ära in Österreich, als sich im Zuge einer neuen Phase der Globalisierung die politischen Massenbewegungen zu formieren und national zu orientieren begannen, griffen zwei fortschrittlich gesinnte Vertreter des habsburgischen Herrscherhauses zurück auf die alten staatspatriotischen Konzepte zur politischen Gestaltung des Landes. Diese auf der Macht der Dynastie und der historischen Entwicklung der Länder aufbauenden Staatskonzepte suchten sie mit einem durch die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts transformierten Interesse an den Völkern der Monarchie in Einklang zu bringen.51 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Zu Transformation der frühen ethnografischen in nationale Diskurse siehe Hans Petschar, Ansichten des Volkes über die Transformationen von Kollektivvorstellungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Karl Kaser und Karl Stocker (Hrsg.), Clios Rache. Neue Aspekte strukturgeschichtlicher und theoriegeleiteter Geschichtsforschung in Österreich, Wien – Köln – Weimar 1992, 173–199.

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Abb. 17, 18 und 19

Bereits 1857 hatte Karl Freiherr von Czoernig in seiner „Ethnographie der österreichischen Monarchie“ die „Eigenthümlichkeit des Völkerbestandes“ als maßgebend für die Geschichte

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Österreichs angesehen.52 In einem programmatischen Abschnitt über „Österreich’s Neugestaltung“ stellte Czoernig dem durch die Revolution von 1848 verstärkten „Nationalitätenkampf“ die Dynastie, das Heer und die geografische Lage des Reiches als jene drei festen Stützen dar, die über alle Vielfalt hinweg die Einheit des Staates garantieren sollten.53 Beigefügt war seiner Ethnografie die erste auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügende ethnografische Karte der Monarchie, die auf den Daten der Direktion der administrativen Statistik beruhte, deren Leitung Czoernig seit 1841 innehatte. Seine unvollendet gebliebene Arbeit gilt als Grundlagenwerk zu einer historisch-ethnografischen Beschreibung der Völker der Monarchie, das sich noch ganz am Vorbild der Statistik des Vormärz und ihren staatspolitischen Zielen orientierte. 1865 schied Karl Czoernig aus gesundheitlichen Gründen aus seinem Amt als Präsident der neu geschaffenen k. k. Statistischen Zentralkommission aus und zog in den Süden ins dreisprachige Görz/Gorizia/Gorica.54 In den folgenden Jahren widmete er sich historischen Studien, verfasste eine Kulturgeschichte über die Völker Oberitaliens und als eine seiner letzten Arbeiten auch einen Beitrag über die „Vorgeschichte, Geschichte und Culturentwicklung von Görz und Gradiska“ für den Band „Küstenland“ des Kronprinzenwerks. Dem Originalmanuskript zu dieser historischen Arbeit beigefügt ist eine mit einer handschriftlichen Widmung an den Wiener Redakteur des Kronprinzenwerks, Joseph von Weilen, versehene Abhandlung Czoernigs über „Die ethnologischen Verhältnisse des Küstenlandes“, die 1885 in Triest erschienenen war und ebenfalls eine ethnografische Karte enthielt.55 In der Person und im Werk Czoernigs, der in seinen letzten Lebensjahren mit seinen historisch-ethnografischen Arbeiten über die Grafschaft Görz und das Küstenland die österreichische Staatsidee gegenüber national argumentierenden italienischen Autoren verteidigen wollte, ergibt sich eine biografische Brücke vom Kronprinzenwerk zu den Anfängen der Statistik im österreichischen Kaiserstaat zu Beginn des 19. Jahrhunderts.56

52 Carl Freiherr von Czoernig, Ethnographie der oesterreichischen Monarchie. Mit einer ethnographischen Karte in vier Blaettern, 3 Bde., Wien 1857. 53 Ebd., Bd. 1, 235. 54 Zu einer Würdigung Czoernigs siehe Helmut Rumpler, Karl Josef Czoernig Freiherr von Czernhausen (1804–1889) als ‚Vater‘ der österreichischen Verwaltungsstatistik, in: Christian Brünner u.a. (Hrsg.), Mensch – Gruppe – Gesellschaft. Von bunten Wiesen und deren Gärtnerinnen bzw. Gärtnern. Festschrift für Manfred Prisching zum 60. Geburtstag, 2 Bde, Wien – Graz 2010, 833–848. 55 Carl Freiherr von Czoernig (o. J.), Vorgeschichte, Geschichte und Kulturentwicklung von Görz und Gradiska. Handschriftliches Manuskript im Redaktionsarchiv des Kronprinzenwerkes, Band Küstenland, Karton 1; Carl Freiherr von Czoernig, Die ethnologischen Verhältnisse des österreichischen Küstenlandes nach dem richtiggestellten Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1880. Mit einer ethnographischen Karte in 2 Blättern, Triest 1885. 56 Zur frühen Ethnographie und Statistik und den Bezügen zum Kronprinzenwerk siehe Petschar, Altösterreich, 34–55.

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In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Kronprinzenwerk stehen das von Friedrich Umlauft 1879 bis 1889 herausgegebene historisch-geografische Werk „Die Länder Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild“ und die vom Verleger Prochaska herausgegebene ethnografische Reihe „Die Völker Oesterreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen“.57 Einige Autoren dieser Ausgaben sollten sich später auch am Kronprinzenwerk beteiligen. Dennoch sind trotz vieler Gemeinsamkeiten in der Konzeption entscheidende Unterschiede festzustellen, die vor allem in der Ausstattung des Werkes als repräsentative und gleichzeitig kostengünstige Volksausgabe und in seiner staatstragenden politischen Grundkonzeption zu sehen sind.58 Schon im Jänner 1884 hatte Kronprinz Rudolf den Historiker und Präsidenten der Akademie der Wissenschaften Alfred von Arneth (1819–1897), der seit 1870 für den Lehrplan von Rudolfs Geschichtsunterricht verantwortlich war, die Idee zu seinem Vorhaben unterbreitet und ihn ebenso wie den Professor für Deutsche Literatur und Skriptor an der Hofbibliothek Joseph von Weilen (1828–1889) zur Mitarbeit eingeladen. In diesem Kreis, zu dem sich sehr bald auch der ungarische Schriftsteller und Politiker Maurus (Mór) Jókai (1825–1904) gesellte, wurden die inhaltliche Ausrichtung und die offenen organisatorischen Fragen zur Durchführung des Werkes erörtert.59 Der Historiker Arneth war es auch, der in der Folge entscheidend an der Neukonzeption des Werkes mitwirkte und dessen Anordnung nach Ländern und Kronländern bestimmte. Die Darstellung der Länder sollte nach ihrer Beschaffenheit, Geschichte, Kunst, Kultur und Volkswirtschaft sowie der Schilderung der darin wohnenden Völkerstämme erfolgen, diese wiederum hinsichtlich ihrer physischen Beschaffenheit und ihrer Kultur, Sitten, Brauchtum und Literatur beschrieben werden. So wurde aufgrund der intendierten staatstragenden Funktion des Werkes das ursprüngliche Konzept einer ethnografischen Reihe mit Einzeldarstellungen der Völker Österreich-Ungarns durch eine Anordnung der Bände nach Kronländern und Ländern ersetzt, die den politischen Gegebenheiten besser entsprach.60 Sofort nach Einlangen der kaiserlichen Erlaubnis ging Kronprinz Rudolf daran, federführend sein „patriotisches Werk“61 in die Tat umzusetzen und bestimmte am 24. März 1884, dass 57 Friedrich Umlauft (Hrsg.), Die Länder Oesterreich-Ungarns in Wort und Bild, 15 Bde., Wien 1879–1889; Karl Prochaska (Hrsg.), Die Völker Oesterreich-Ungarns. Ethnographische und culturhistorische Schilderungen, 13 Bde., Wien – Teschen 1881–1884. 58 Die Entscheidung zu einer billigen Volksausgabe fiel ganz bewusst und gegen den Rat des Leipziger Verlegers Meyer, der zunächst eine teure Ausgabe vorschlug. Mit einer günstigen und doch repräsentativen Volksausgabe in Teillieferungen sollten möglichst breite Bevölkerungsschichten erreicht werden; vgl. Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1. 47. 59 Erzherzog Johann Salvator zog sich aus der praktischen Umsetzung bald zurück und überließ Kronprinz Rudolf das Feld. 60 Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 41. 61 „Ein patriotisches Werk“ lautete der von Weilen lancierte Artikel in der Neuen Freie Presse vom 30. März 1884, 1; Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 42.

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zwei getrennt voneinander arbeitende Redaktionen – eine österreichische Redaktion unter der Leitung Joseph von Weilens und eine ungarische unter der Leitung von Mór Jókai – für die Realisierung des Unternehmens verantwortlich sein sollten. Um die komplexen organisatorischen, künstlerischen und wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen, wurden zunächst für die österreichische Redaktion verschiedene Komitees gebildet: ein Direktionsrat, der als oberstes Aufsichtsorgan fungieren sollte, ein „Redaktions-Comité“, das für das Programm und alle redaktionellen Belange zuständig war, ein „Künstler-Comité“, dem die Auswahl der Künstler und die Bewertung der eingelangten Entwürfe oblag, sowie ein „Finanz-Comité“, das als Finanzausschuss für das Unternehmen fungierte.62 Dem österreichischen Redaktionskomitee gehörten als Fachreferenten hochrangige Vertreter der Wissenschaft an, u.a. Baron Ferdinand von Andrian-Werburg (Ethnografie), Alfred von Arneth (Landesgeschichte), der Direktor der kaiserlichen Fideikommissbibliothek Moritz Alois Becker (Topografie und landschaftliche Schilderung), Karl von Lützow (Bildende Kunst), Franz von Miklosich (slawische Linguistik), Franz Xaver von Neumann-Spallart (Volkswirtschaft). Nach dem österreichischem Vorbild wurde etwas später auch das ungarische Redaktionskomitee eingerichtet, wobei auf ausdrücklichen Wunsch des Kronprinzen zusätzlich Experten für die verschiedenen Nationalitäten der Länder der Stephanskrone nominiert und herangezogen wurden.63 Um all die unterschiedlichen Standpunkte, die Verschiedenheit in der Darstellung der Länder und der Völker der Monarchie und nicht zuletzt die gravierenden Differenzen in der politischen Ausrichtung der österreichischen und der ungarischen Redaktion zu überbrücken, bedurfte es zweierlei: einer Zusammenarbeit der Redaktionen und eines einheitlichen Erscheinungsbildes für beide Ausgaben der Enzyklopädie. Kronprinz Rudolf engagierte sich persönlich für die Zusammenarbeit, besuchte die ungarische Redaktion, verfasste selbst Bei-

62 Analog zur österreichischen Redaktion wurden mit zeitlicher Verzögerung ein ungarisches Redaktions-, ein Finanz- und ein Künstlerkomitee eingerichtet; vgl. Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 45–46. 63 Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 45. Sitzungsprotokoll vom 16. Juli 1885. Auch in der zwei Wochen nach dem Selbstmord des Kronprinzen erschienenen Denkschrift vom 15. Februar 1889 wird dieser Sachverhalt erwähnt; vgl. „Denkschrift Kronprinz Rudolf“ (1889), ausgegeben am 15. Februar 1889 mit Lieferung 78, beigebunden dem Band „Oberösterreich und Salzburg“, wiedergeben bei Zintzen, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Aus dem ‚Kronprinzenwerk‘ des Erzherzog Rudolf, 277–282, hier: 279. In der Denkschrift fasst die Redaktion – wohl auch mit der Absicht, das durch den Tod des Kronprinzen gefährdete Unternehmen zu retten – für die verunsicherten Leser und Subskribenten noch einmal die ursprüngliche Intention des Werkes zusammen, informiert ausführlich über den organisatorischen Aufbau und die Arbeit der Redaktion und bringt eine Transkription der Eingabe Kronprinz Rudolfs an Kaiser Franz Joseph vom März 1884.

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träge, las eingehende Manuskripte, ließ sich Illustrationen vorlegen und leitete nach Möglichkeit die Sitzungen des Redaktionskomitees und des Künstlerkomitees für die deutschsprachige Ausgabe. Auf Wunsch des Kronprinzen wurden beide Staatsdruckereien in das Unternehmen einbezogen und wurde jeweils ein xylografisches Atelier eingerichtet, um die Illustrationen für das Werk in höchster künstlerischer Qualität herstellen zu können. Die Leitung des Wiener Ateliers erhielt Wilhelm Hecht aus München, für den eigens eine Professur für Holzschnitt an der Kunstgewerbeschule des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie geschaffen wurde. Auch die Staatsdruckerei in Budapest richtete eine xylografische Anstalt ein, die von Professor Gustav Morelli geleitet wurde.64 Die Entscheidung, das Werk einheitlich mit Holzschnitten zu illustrieren, erfolgte aus ästhetischen und organisatorischen Gründen. Durch die einheitliche Reproduktionstechnik konnten die verschiedenartigsten, aus allen Teilen der Monarchie in die Redaktion einlangenden künstlerischen Arbeiten – Aquarelle, Gouachen, Ölskizzen, Feder-, Tusche- und Bleistiftzeichnungen – zu einem einheitlichen, ästhetisch anspruchsvollen Erscheinungsbild geformt werden. Die Druckfähigkeit von Fotografien stand zu Produktionsbeginn der Enzyklopädie erst in den Anfängen und wäre mit einem noch höheren finanziellen Aufwand verbunden gewesen. Zudem wurden den statisch wirkenden und als unvollkommen geltenden Fotografien jene Realitätsnähe und die Möglichkeit zur Erfassung eines historischen Momentums abgesprochen, die wir heute mit ihr verbinden.65 Dennoch wurden Fotografien in vielen Fällen als Studienvorlagen für Künstler und Autoren verwendet und fanden Eingang in das umfangreiche Archiv der Redaktion.66 Die Kosten für die Herstellung der Originalvorlagen und die Studienvorlagen trugen die jeweiligen Redaktionen. Fotografische Studienvorlagen lieferten lokale Ateliers und beauftragte Fotografen, die Originalzeichnungen schufen von der Redaktion beauftragte Hauptillustratoren und loka-

64 Vgl. Petschar, Altösterreich, 158; Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, 45; Zintzen, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Aus dem ‚Kronprinzenwerk‘ des Erzherzog Rudolf, 280. 65 Vgl. Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 101. 66 Das Archiv des Kronprinzenwerkes befindet sich zum Teil in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (Korrespondenzen, Protokoll- und Evidenzbücher) und zum Teil in der Österreichischen Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung. Die Bestände der Nationalbibliothek beinhalten das Redaktionsarchiv mit einem umfangreichen Bestand an Manuskripten, Korrespondenzen und Fotografien, die bislang von der Forschung nicht ausgewertet worden sind (vgl. dazu Petschar, Altösterreich). Ein kleiner Teil der Archivalien wurde in einer Ausstellung des Bildarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek 1969 gezeigt: Hans Pauer, Länder und Menschen vor der Jahrhundertwende. Eine Dokumentation. Alt-Österreich. Erstausstellung von Originalarbeiten zeitgenössischer Künstler, Ausstellung im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 1969.

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le, nach nationalen Gesichtspunkten ausgewählte Künstler. Unabhängig vom Bekanntheitsgrad des Künstlers wurden die Bilder mit 50 bis 60 Gulden für ein Halbbild und mit 100 Gulden für ein Vollbild sowie dem Ersatz der Reisekosten honoriert.67 Da in Österreich die Staatsdruckerei die Entstehungskosten vorfinanzierte, wurde der Direktor der k. k. Hof- u. Staatsdruckerei, Hofrat von Beck, auf Weisung des Finanzministers zu den Sitzungen der Komitees beigezogen und als Mitglied in das Finanzkomitee aufgenommen. Trotz der hohen Kosten, welche die Herstellung der Illustrationen und unter ihnen insbesondere jene der farbigen Trachtenbilder verursachte, führte der Leiter des Finanzkomitees, Nikolaus Dumba (1830–1900), die deutschsprachige Ausgabe unter strengster Beobachtung der Finanzen zu einem kommerziellen Erfolg. Der Industrielle und Kunstmäzen Nikolaus Dumba war von 1870 bis 1896 Mitglied des Niederösterreichischen Landtags und wurde 1885 vom Kaiser auf Lebenszeit zum Mitglied des Herrenhauses ernannt. Dumba entstammte einer aromunischen Familie aus Nordgriechenland. Die Aromunen sind eine balkanromanische Volksgruppe mit Verbreitungsgebiet über weite Teile der Balkanhalbinsel. Die politische Intention des Werkes äußerte sich nicht nur in seiner Ausstattung und Konzeption, sondern insbesondere auch in der Art und Weise seiner Herstellung. Der tiefgreifende Wandel, der, bewirkt durch internationale Kriege, Imperialismus und Kolonialismus, die großen Reiche seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfasste, führte nicht zuletzt dazu, dass sich die Intellektuellen und Publizisten in ihrem Denken, ihrer Sprache und ihrer politischen Praxis mit den Ideen des modernen Nationalismus identifizierten und den Nationalstaat als zukunftsweisendes Staatskonzept propagierten.68 Obwohl diese Bewegung keineswegs auf die europäische Welt beschränkt blieb, bedeutete sie doch für die großen Imperien – das Russische Reich, das Osmanische Reich und vor allem für den österreichischen Vielvölkerstaat – eine tief liegende Gefahr, da sie das übernationale Staatskonzept als solches infrage stellte. Die konservative Antwort eines alten, durch das Band der Dynastie und die gemeinsame Geschichte der Länder genährten Patriotismus hatte angesichts der allgemeinen politischen Entwicklung längst ihre Strahlkraft verloren. Der Anspruch, die besten Kräfte des Staates, Schriftsteller und Wissenschaftler, Künstler und oberste Verwaltungsbeamte an einem gemeinsamen Werk arbeiten zu lassen, muss als Versuch gewertet werden, gerade jene Schichten wieder näher an den Staat zu binden, die an seiner Existenzberechtigung ernsthaft zu zweifeln begonnen hatten. Auf die Auswahl der Autoren und Künstler aus allen Teilen der Monarchie wurde daher besonderer Wert gelegt. Das Redaktionskomitee (Abb. 20–21) beriet eingehend die Vorgangsweise, entwarf ein detailliertes Arbeitsprogramm und bereitete die Erstellung von Beiträger67 Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 69. 68 Zu den globalgeschichtlichen Dimensionen der Thematik siehe: Christopher Bayly, Die Geburt der modernen Welt, Frankfurt am Main – New York 2008, 269.

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Abb. 20 und 21

und Künstlerlisten vor. In einem persönlichen Schreiben lud Kronprinz Rudolf „die renommiertesten literarischen und künstlerischen Kräfte der Monarchie“69 zur Mitarbeit ein. Die Autoren wurden angehalten, in ansprechender und verständlicher Form ihre Beiträge zu einem patriotischen Unternehmen zu leisten, das als wahres Volksbuch „dem wissenschaftlichen und künstlerischen Selbstgefühl der einzelnen Nationen schmeichelnd, der Monarchie als Ganzes und allen ihren Theilen zur Ehre gereichen würde“.70 Namhafte Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler aus allen Kronländern der Monarchie folgten dem Aufruf und unterstützten das Redaktionskomitee und das Künstlerkomitee in ihrer Arbeit.71 Nach einem durch das Redaktionskomitee vorgegebenen Programm wurden alle Kronländer hinsichtlich ihrer Geografie und Geschichte, Volkskunde, Literatur und Musik, Bildenden Kunst und Architektur von Spezialisten dargestellt, ehe ein abschließender volkswirtschaftlicher Teil die Leserinnen und Leser aus ihrer historisch-ethnografischen Reise auf dem Papier zurück in die damalige Gegenwart führte und ihnen eine Perspektive für die Zukunft eröffnete. Die Autoren, unter denen sich prominente Namen wie Peter Rosegger, Ferdinand von Andrian-Werburg, Eduard Hanslick, Josef Alexander Freiherr von Helfert, Maurus (Mór) Jókai, Carl Menger oder Emil Zuckerkandl finden, versuchten auf durchaus unterschiedliche Weise, 69 Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 45. 70 Kronprinz Erzherzog Rudolf, Eingabe an Kaiser Franz Joseph I. betreffend „Österreich-Ungarn in Wort und Bild“, März 1884, zit. nach Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 2, 17. 71 Die Mitglieder der einzelnen Komitees sowie eine vollständige Liste der Künstler und Autoren sowohl der österreichischen als auch der ungarischen Bände finden sich im Schlusswort zur letzten Lieferung vom 1. Juni 1902, wiedergegeben auch bei Zintzen, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Aus dem ‚Kronprinzenwerk‘ des Erzherzog Rudolf, 283–293.

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den Ansprüchen eines populären und gleichzeitig wissenschaftlich fundierten Werkes gerecht zu werden – und nicht allen gelang dies in gleichem Maße und mit der gleichen Souveränität. Zu den umfangreichsten und qualitativ besten Beiträgen der gesamten Enzyklopädie zählen das Kapitel „Landschaftliche Schilderungen“ von Milena Preindlsberger-Mrazović (1863–1927) im Band „Bosnien und Hercegowina“.72 Milena Preindlsberger-Mrazović und Gyarmathy Sigmund, die für den Band „Siebenbürgen“ (= Ungarn VI) einen Beitrag über die „Das Kalotaßeger Volk und die Kalotaßeger Stickerei“ verfasste, waren die einzigen zwei Frauen unter den 432 Autoren.73 Als Künstlerinnen betätigten sich mehrere Erzherzoginnen aus dem Umfeld des Kronprinzen: Stephanie von Belgien, Clothilde von Sachsen-Coburg und Gotha und deren Tochter Maria Dorothea sowie die Schwägerin von Kronprinz Rudolf, Louise von Sachsen-Coburg und Gotha, Prinzessin von Belgien.74 Neben den Erzherzoginnen werden noch drei weitere Künstlerinnen im Künstlerverzeichnis aufgeführt: Salamonné Gajzágó, Nelly Hirsch-Radó und Ivana Kobilca aus Laibach, die vier schöne Illustrationen für den Band „Bosnien und Hercegowina“ über „mohammedanische“ Heiratsbräuche und Frauentrachten verfertigte.75 3. Einbruch der Moderne

Der Einbruch der Moderne, den das Kronprinzenwerk den Leserinnen und Lesern immer wieder vor Augen führt, gewährt nicht nur Einblicke in das Zukunftspotenzial der Monarchie, das die Autoren vermitteln wollten, sondern auch in das Spannungsverhältnis von Tradition und Fortschritt, das sie mit ihren Texten und Bildern zu überbrücken suchten. Nicht nur in der Darstellung des „volkswirtschaftlichen Lebens“ wird dies deutlich, sondern auch in den landeskundlichen und ethnografischen Abschnitten der Enzyklopädie. In welchem Ausmaß aber waren sich die Autoren des Kronprinzenwerkes des demografischen und gesellschaftlichen Wandels bewusst, der gerade im Publikationszeitraum des Werkes nicht nur die Reichshauptstadt Wien, sondern generell die Städte und auch die Länder der Habsburgermonarchie erfasste und wie reagierten sie in ihren Beiträgen darauf? 72 ÖUM, Bd. 22 (1901), 39–152. 73 ÖUM, Bd. 23 (1902), 176–191. 74 Die meisten Illustrationen lieferten Erzherzogin Stephanie (16) und Erzherzogin Clothilde (6), die von den ersten Bänden an Werke für die Redaktion beisteuerten: Erzherzogin Stephanie: Bd. 4 (1888) Niederösterreich, 87, 88, 89; Bd. 10 (1891) Küstenland, 43; Bd. 11 (1892) Dalmatien, 46, 47; Bd. 13 (1893) Tirol und Vorarlberg, 59, 61, 247, 425; Bd. 14 (1894) Böhmen 1, 203, Bd. 15, (1896) Böhmen 2, 677; Bd. 16 (1896) Ungarn 4, 593; Bd. 18 (1898) Ungarn 5,1, 193, 197; Erzherzogin Clothilde: Bd. 5 (1888) Ungarn 1, 465, 467; Bd. 12 (1893) Ungarn 3, 23, 25, 145; Bd. 16 (1896) Ungarn 4, 565. 75 ÖUM, Bd. 22 (1901), 315, 337, 355, 359.

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Ebenso wie die moderne Demografie stützten sich die Autoren des Kronprinzenwerks auf publizierte Tabellen der Volkszählungen 1880, 1890 und 1900, auf die jährlichen Zeitreihen der Bevölkerungsstände sowie der Geburten und Sterbefälle und in starken Abwanderungsgebieten auf die Zeitreihen der Überseewanderung. Heinz Faßmann hat neuerdings die Bevölkerungsentwicklung der Monarchie zwischen 1850 und 1910 zusammengefasst und die regionalen Differenzierungen eines demografischen Übergangs von einer vorindustriellen zu einer „early transitional society“ und zu einer „late transitional society“ in den Ländern der Habsburgermonarchie dargestellt.76 Eine hervorragende kartografische Darstellung der Gesellschaft und der sozio-ökonomischen Strukturen der Habsburgermonarchie, die auf einer Auswertung der Ergebnisse der Volkszählung 1910 beruht, bietet das von Helmut Rumpler, Martin Seger und Walter Liebhart bearbeitete Werk über die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild.77 Ab 1869 liefert die moderne Volkszählung vergleichbare und regional differenzierte Bestandszahlen über die Bevölkerung. In den Volkszählungen 1869–1900 wurde die ortsanwesende Bevölkerung inklusive der Militärangehörigen erfasst. Demnach betrug die Einwohnerzahl der Monarchie 1869 rund 36 Millionen, 1880 rund 38 Millionen, 1890 rund 41 Millionen und 1900, also zwei Jahre vor Abschluss der Enzyklopädie, rund 45 Millionen. Das Bevölkerungswachstum erreichte in den Jahren ab 1880 einen Höhepunkt und steigerte sich bis 1910 auf rund 50 Millionen. Dies ergibt eine Zunahme der Einwohnerzahl innerhalb von 40 Jahren um fast 40 Prozent in beiden Reichshälften, die ausschließlich auf einen hohen Geburtenüberschuss zurückzuführen ist. „Jahr für Jahr stieg die Bevölkerungszahl der Monarchie um fast eine halbe Million Menschen.“78 Eine relativ junge Bevölkerung und ein hohes Fertilitätsniveau führten zu einem hohen Geburtenüberschuss gegenüber den Sterbefällen. Das Wachstum wäre noch höher ausgefallen, hätten nicht die starken Abwanderungsbewegungen aus der Monarchie in andere Teile Europas oder nach Übersee die Zuwanderung übertroffen.

76 Heinz Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, in: Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Soziale Strukturen (Bd. 9), 1. Teilband: Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft (Bd. 9/1), Teilband 1/1: Lebens- und Arbeitswelten in der industriellen Revolution, Wien 2010, 159–184. 77 Helmut Rumpler/Martin Seger (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Soziale Strukturen (Bd. 9), 2. Teilband: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen. Nach dem Zensus von 1910 (Bd. 9/2), Wien 2010. Die folgenden Ausführungen beruhen im Wesentlichen auf der angegebenen Arbeit von Faßmann und den Darstellungen und Analysen des von Helmut Rumpler et. al. herausgeben Bandes 9.2 zu den sozialen Strukturen. 78 Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, 161.

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Sowohl die Bevölkerungsbilanz als auch die Wanderungsbilanz sind in beiden Reichshälften deutlich unterschiedlich. In der ungarischen Reichshälfte übertraf der Geburtenüberschuss von 1880 bis 1910 jenen der österreichischen Reichshälfte deutlich, die Bevölkerungszunahme wurde nur gedämpft durch eine verstärkte Auswanderung. Nach Heinz Faßmann hing der Geburtenüberschuss in Transleithanien mit einem verspäteten demografischen Übergang in den östlichen Landesteilen zusammen und dies entspreche auch „dem geografischen Muster gesellschaftlicher Modernisierung, welche sich von Westeuropa in Richtung Osteuropa ausbreitete und damit in Transleithanien später wirksam wurde als in Cisleithanien“.79 Betrachten wir nun die Bevölkerungsentwicklung hinsichtlich der Geburten, Sterbefälle und Wanderungen nach der für das Kronprinzenwerk entscheidenden regionalen Aufteilung nach Kronländern und Bezirken. Insbesondere in den größeren Städten der Monarchie, die als Hafenstädte, Industriestandorte oder Verwaltungssitze überregionale Bedeutung besaßen, gab es in den Jahren 1890 bis 1910 Einwohnerzuwächse von 45 Prozent oder mehr, während die Abnahme in Abwanderungsgebieten innerhalb von 20 Jahren auf eine Größenordnung von 15 Prozent beschränkt blieb. Bevölkerungsrückgänge sind ausschließlich in der österreichischen Reichshälfte, vornehmlich in Böhmen, Mähren und Krain, zu verzeichnen. Vor allem die junge Bevölkerung war es, die in die neuen urbanen und industriellen Zentren abwanderte.80 Während einzelne Bezirks- und Statutarstädte wie Feldkirch, Monfalcone bei Triest, Pola, Bruck an der Mur, die Bezirke um Prag und Brünn, Lemberg, das Donau-Theißbecken um Budapest und der Kreis Sarajewo sowohl einen hohen Geburtenüberschuss als auch eine hohe Zuwanderung aufwiesen, zeigte sich die städtische Bevölkerung in den großen Städten wie Wien, Prag, Brünn, Triest, Agram, Krakau, Raab, Debrezin und Czernowitz bereits als „Vorreiter des demografischen Überganges“,81 da hier die Reduzierung der Geburtenhäufigkeit für eine Verringerung des Geburtenüberschusses sorgte. Den Zuwanderungsgebieten in den Bezirken und Städten standen die Abwanderungsgebiete Galizien, die Bukowina, Dalmatien, Schlesien, Mähren, Böhmen und Krain gegenüber. Während aber in Galizien, der Bukowina und in Dalmatien ein hoher Geburtenüberschuss durch die starke Abwanderung teilweise kompensiert wurde, gelang dies in jenen Kronländern und Bezirken, wo der demografische Übergang bereits voll im Gang war, nur zu einem geringen Teil; so etwa in der Krain, in einigen Bezirken Niederösterreichs, Böhmens und Mährens. In Ungarn konzentrierte sich das Bevölkerungswachstum viel stärker als in Cisleithanien auf Budapest und den die Hauptstadt umgebenen Zentralraum, während die Abwan79 Ebd., 162. 80 Vgl. Rumpler et. al., Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Soziale Strukturen (Bd. 9), 2. Teilband, 106–107, Karte 6.1. Bevölkerungsentwicklung 1890–1910. 81 Ebd., 163.

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derung „ein Phänomen der ökonomischen und geografischen Peripherie sowie der ländlichen Räume“82 darstellte. In den Jahrzehnten nach 1855 wuchs die Bevölkerung Cisleithaniens kontinuierlich, bedingt durch einen Rückgang der Sterberate und eine konstant hohe Geburtenrate. Spätestens im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts war nach Heinz Faßmann die Phase einer „early transitional society“ in Cisleithanien erreicht.83 Die Lebenserwartung erhöhte sich durch den Rückgang der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit. Nach Peter Findl stieg die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung in den Alpenländern zwischen 1870 und 1910 von 32,7 Jahre auf 43,5 und jene der weiblichen Bevölkerung von 36,2 auf 46,8 Jahre.84 Rund zwei Jahrzehnte nach dem Einsetzen des Sterblichkeitsrückgangs begann ein langsamer Rückgang der Geburtenraten. Die Phase der „frühen Übergangsgesellschaft“ ging langsam über in die Phase der „späten Übergangsgesellschaft“, die gekennzeichnet ist durch das einsetzende Schließen der Bevölkerungsschere, durch nachlassenden Druck abwanderungsbereiter Menschen aus den ländlichen Räumen und die Zunahme von anderen Wanderungsformen (Fernwanderung, Land-Stadt-Wanderung). Generell kann also festgestellt werden, dass das 19. Jahrhundert für die österreichisch-ungarische Monarchie „einen fundamentalen Wandel des generativen Verhaltens und der demografischen Struktur der Bevölkerung“ mit sich brachte.85 Jedoch verlief der demografische Wandel regional und zeitlich differenziert und war geprägt durch einen Ost-West- und einen Zentrum-Peripherie-Gegensatz. Besonders in den ländlichen und peripheren Gebieten der Monarchie führte das Bevölkerungswachstum durch das „Öffnen der Bevölkerungsschere“ zu Migrationsbewegungen, da bedingt durch die landwirtschaftlichen Realteilungen, die über Generationen den bäuerlichen Besitz hatten kleiner und kleiner werden lassen, und durch die Auflösung der protoindustriellen Heimarbeit und deren Ablöse durch industrielle Organisations- und Produktionsformen nicht genügend Arbeitsplätze im ländlichen Raum vorhanden waren, um die Ernährung und Beschäftigung der Bevölkerung zu gewährleisten. Demgegenüber stand der Arbeitskräftebedarf in den Metropolen der Monarchie und in der Neuen Welt. So wurde die 82 Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, 164. 83 Ebd., 167. 84 Peter Findl, Mortalität und Lebenserwartung in den österreichischen Alpenländern im Zeitalter der Hochindustrialisierung (1868 bis 1912), in: Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hrsg.): Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829–1979 (Beiträge zur österreichischen Statistik 550), Wien 1979, 425–452, zit. nach Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910. Als Gründe werden v. a. Verbesserungen der Hygiene, der Trinkwasserversorgung, der öffentlichen Gesundheitspolitik sowie die Anhebung der Wohnversorgung und die Verbesserung der Ernährungslage angeführt. 85 Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, 183.

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Habsburgermonarchie zwischen 1900 und 1910 zu einem wichtigen Auswanderungsland, vor allem nach Übersee. Die bedeutendste Form der räumlichen Mobilität im 19. Jahrhundert aber stellte in der österreichisch-ungarischen Monarchie die Binnenwanderung dar, auch wenn in der zeitgenössischen Wahrnehmung die Auswanderung problematisiert wurde.86 Zum Zeitpunkt der Volkszählung 1910 gab es 9,4 Millionen Binnenwanderer. Die größte Anziehungskraft ging von Wien aus, mit einem Einzugsgebiet aus allen Teilen vor allem der österreichischen Reichshälfte, insbesondere aus Mähren, Schlesien, Galizien sowie abgeschwächt aus Oberösterreich, der Steiermark und den übrigen Alpenländern.87 Da die Arbeitsmigration vor allem jüngere Erwerbstätige betraf, ergab dies in den Metropolen eine Zunahme in der Altersgruppe der 15- bis 40-Jährigen. Generell allerdings war die Bevölkerung Österreich-Ungarns um 1910 „ausgesprochen jung und durch einen geringen Anteil älterer Menschen und einen hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen gekennzeichnet“.88 Als Folge des Altersaufbaus, aber auch aus sozialen Gründen ergibt sich in Cisleithanien ein hoher Ledigenanteil unter der Bevölkerung (fast 60 Prozent bei der Volkszählung 1910).89 Insbesondere in den ländlichen Räumen der westlichen Kronländer mit traditionellen Verhaltensweisen war die Eheschließung davon abhängig, eine Familie ernähren zu können.90 Auch den Autoren des Kronprinzenwerkes war diese Argumentation nicht fremd. So schreibt Franz Zillner in seinem Beitrag zur Volkskunde Salzburgs: Der nothwendig beschränkte Erbgang in den Bauerngütern, die durch Wirthschaftsverhältnisse seit langer Zeit sich vermindernde Zahl selbständiger Besitzer, die Zerschlagung der abgegangenen Güter oder ,Zulehen‘, mangelnde Erwerbsgelegenheiten, die kärgliche Fristung des Kleingewerbes in den Märkten hindert den Nachwuchs der Bevölkerung an dem Eingehen des Ehebandes auf Grund zureichender Erwerbsmittel.91

86 Ebd., 173; vgl. auch Rumpler et. al., Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Soziale Strukturen (Bd. 9), 2.Teilband,124–125, Karte 6.10: Natürliche Bevölkerungsbewegung und Binnenwanderung 1900–1910, und 126–127, Karte 6.11: Binnenwanderung 1900–1910. 87 Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, 173, sowie Rumpler, Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Soziale Strukturen (Bd. 9), 2. Teilband,130–131, Karte 6.13: Herkunft der Zuwanderer nach Wien aus Österreich und nach Budapest aus Ungarn 1910. 88 Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, 177. 89 Ebd., 181. 90 Rumpler et. al., Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Soziale Strukturen (Bd. 9), 2. Teilband, 98–99, Karte 5.4 Familienstand 1910. 91 ÖUM Band 6 (1889): Oberösterreich und Salzburg. Franz Zillner, Volkskunde Salzburgs – Volkscharakter, Trachten, Bräuche, Sitten und Sagen“, 425–460, hier: 428.

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Eine hohe Ledigenquote und ein spätes Heiratsalter zählen zu den Charakteristika dieses nach Richard Gisser „westeuropäischen Heiratsmusters“.92 Demgegenüber dominierte in den östlichen Kronländern Galizien und der Bukowina, aber auch in den südlichen Ländern Dalmatien, Istrien, dem Küstenland und in Transleithanien ein anderes Heiratsmuster mit einer frühen und universellen Eheschließung sowie einer hohen Kinderzahl. So betrug beispielsweise der Anteil der Ledigen in Kärnten bei der Volkszählung 1910 70 Prozent der Gesamtbevölkerung, nur ein Viertel war verheiratet. „Die Hälfte der 30-Jährigen war 1910 noch immer ledig und auch bei den 40–50-Jährigen waren nie mehr als zwei Drittel verheiratet. Im Gegensatz dazu waren in der Bukowina nur 58 Prozent ledig, aber 37 Prozent verheiratet. 5 Prozent gaben abermals an verwitwet, geschieden oder getrennt lebend zu sein. In der Bukowina war bereits die Hälfte der 25-Jährigen verheiratet und bei den 40–50-Jährigen betrug der Anteil der Verheirateten 90 Prozent.“93 Heinz Faßmann plädiert aufgrund dieses Befundes für eine regionale Differenzierung in der Analyse des demografischen Übergangs unter Einbeziehung der unterschiedlichen östlichen und westlichen Familienstandsmuster, die gegen Ende der Monarchie noch immer prägend waren und sowohl die Geburtenzahlen als auch den Altersaufbau der Gesellschaft und in weiterer Folge die Wanderungen beeinflussten. „Dort, wo es im Vergleich zur ökonomischen Grundlage ein ‚Zuviel‘ an Bevölkerung gab, kam es zur Abwanderung, und dort, wo Menschen als Arbeitskraft gebraucht wurden oder wo sie bessere Lebenschancen vorzufinden hofften, zur Zuwanderung: aus den peripheren und ländlichen Gebieten in die großen und wachsenden Metropolen und nach Übersee.“94 Kehren wir nach diesem Überblick über den demografischen Wandel in der Habsburgermonarchie aus heutiger Sicht zum Ausgangspunkt zurück. Nach Lieferung des ersten Heftes vom 1. Dezember 1885 zum naturgeschichtlichen Übersichtsband der Enzyklopädie, das neben der allgemeinen Einleitung von Kronprinz Rudolf und auch den Beginn der geografischen und geologischen Übersicht von Karl von Sonklar „Orographie und Hydrographie“ enthielt, erschienen von Dezember 1885 bis Dezember 1886 parallel die Bände „Wien“ (mit dem Beginn des Bandes „Niederösterreich“), der Übersichtsband Naturgeschichte (Heft 1–8) und der erste Band Ungarn (Heft 3–23). In den Jahren 1887 und 1888 wurden die Übersichtsbände „Naturgeschichtlicher Theil“ und „Geschichtlicher Theil“ sowie die Bände „Niederösterreich“ und „Ungarn 1“ abgeschlossen. Im Produktionszeitraum dieser fünf Bände konsolidierte sich die Arbeit der Redaktion organisatorisch, finanziell und auch hinsichtlich der programmatischen Umsetzung. 92 Richard Gisser, Bevölkerungsentwicklung der Monarchie nach 1880, in: Das Zeitalter Kaiser Franz Joseph 2. Teil 1880–1916: Glanz und Elend (Beiträge). Niederösterreichische Landesausstellung Schloss Grafenegg 9. Mai–26. Oktober 1987 (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, N.F. 186, Wien 1987), 19–25. 93 Faßmann, Die Bevölkerungsentwicklung 1850–1910, 183. 94 Ebd., 184.

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Besonders deutlich wird dies im Band „Wien“, der mit dem naturgeschichtlichen Übersichtsband den Anfang der Reihe bildete. Insbesondere der ethnografische Teil der Enzyklopädie erscheint hier gegenüber den Folgebänden vollständig konzeptlos und beschränkt sich auf eine mit Zitaten und Anekdoten angereicherte Suche nach dem „Original-Wiener“ Typus, der vorzüglich in den äußeren „Urbezirken“, den „enter’n Gründen“ noch aufzufinden sei.95 Den Abschluss dieses literarischen Streifzuges durch die Gasthäuser mit ihren Stammgästen, die Theater und Heurigen, den Prater und die Belustigungen auf einer Landpartie bildet eine Auflistung von „Wiener Typen“, vom Schusterbuben über die Wiener Wäscherin bis zum Fiaker, als ob sich die Welt seit mehr als hundert Jahren nicht geändert hätte. Dennoch ist es gerade der Eindruck einer massiven Änderung des Erscheinungsbildes und der Lebensverhältnisse in Wien, der den Ausgangspunkt des Essays von Friedrich Schlögl über das „Wiener Volksleben“96 bildet. „Wien hat sich gewaltig verändert!“,97 so beginnt der Autor seinen Beitrag und führt weiter aus, dass dieser Spruch sowohl von den achtzigjährigen Alten wie von den vierzigjährigen Jüngeren zu hören sei und seine Berechtigung habe: Denn Wien hat sich thatsächlich ‚gewaltig‘ und nach allen Richtungen verändert. Und nicht nur in baulicher Hinsicht ist die Stadt nach langem Stillstande und steinerner Erstarrung in wenigen Decennien eine andere geworden; es hat auch das Leben und Treiben und haben die Sitten, Gebräuche, Bedürfnisse und Gewohnheiten der riesig angewachsenen und durch die ungeahntesten Ereignisse durcheinander geschüttelten Bevölkerung eine andere, völlig fremdartige Physiognomie angenommen […]98

Es blieb jedoch dem Statistiker und Professor für Volkswirtschaft Franz Xaver von Neumann-Spallart (1837–1888) vorbehalten, in dem von ihm redigierten Kapitel über das „Volkswirthschaftliche Leben in Wien“ auf die aktuelle Situation der Großstadt einzugehen und die demografischen Veränderungen anzusprechen.99 Neumann-Spallart gibt einen Überblick über die Bevölkerungsentwicklung Wiens von 1754 bis 1884 und stellt fest, dass zwar die Bevölkerung von 175.460 auf 1.100.000 Einwohner (inklusive der Vorstädte) gewachsen sei, im Gegensatz zu den anderen Großstädten Berlin, Paris oder London in Wien jedoch mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht zugezogen, sondern in Wien oder den Vorstädten geboren 95 96 97 98

ÖUM, Band 1 (Wien), 1886, 92. Ebd., Friedrich Schlögl, Wiener Volksleben, 91–123. Ebd., 91. Ebd. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung des plurikulturellen Wien vgl. Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien – Köln – Weimar 2010, 222–236. 99 ÖUM, Band 1 (Wien), 1886, „Volkswirthschaftliches Leben in Wien“, redigiert von F(ranz) X(aver) von Neumann-Spallart (u.a.), 277–326.

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sei. Der Schwerpunkt des Beitrags liegt in der Darstellung der Versorgungssituation und der Rolle Wiens als einer modernen Metropole. Auch die beiden Übersichtsbände und der Band „Niederösterreich“ folgten der Programmatik, wie sie bereits in der Einleitung des Kronprinzen formuliert worden war: Eine geografisch-historische Einteilung, die ihrerseits dem dynastischen Gesichtspunkt untergeordnet war, bestimmte die Ordnung der Bände. Die „Ethnographische Einleitung“100 zum geschichtlichen Übersichtsband stammt von Ferdinand Adrian-Werburg (1835–1914) und dem ungarischen Sprachwissenschaftler Paul (Pál) Hunfalvy (1810–1891). Sie ist der Versuch eines ethnohistorischen Überblicks über die Nationalitäten in den Ländern der österreichisch-ungarischen Monarchie, wobei die Gegenwart ganz der Geschichte und der Geografie untergeordnet wird. Der erste Band Ungarn folgt demselben Schema. Nach einer kurzen Einleitung von Kronprinz Rudolf folgt die „Geographische Übersicht des Reiches der ungarischen Krone“101 von Johann (János) Hunfalvy (1820–1888), in der die gegenwärtige geopolitische Ausgangssituation geradezu als naturgegeben dargestellt wird. Die verschiedensten Nationalitäten lebten „untereinander und nebeneinander seit Jahrhunderten, ohne daß sie in einander aufgegangen oder miteinander verschmolzen wären“.102 Den Magyaren freilich wäre es vorbehalten geblieben, ein Staatswesen zu begründen, und sie wären es auch, die „abgesehen von ihren anderen moralischen und materiellen Eigenschaften, schon kraft ihrer Anzahl und ihrer geographischen Lage einzig und allein diejenigen, welche den Staat, den sie begründeten, auch fernerhin aufrecht zu erhalten vermögen“.103 Alle Experimente zu einer Zerstückelung des Landes wären im Lauf der Jahrhunderte gescheitert, da letztlich „die von Leidenschaft hingerissenen Männer sich ernüchterten und auf die Stimme der Natur zu horchen begannen“.104 Die Gebiete im Süden (das Küstenland und das Gebiet um Fiume) hätten zwar auch in politischer Hinsicht eine gewisse politische Selbstständigkeit genossen, „aber das Mutterland konnte die Seehäfen nicht entbehren und mußte daher bestrebt sein, sich den Besitz derselben zu sichern“.105 Dasselbe gelte für das Mittelland zwischen Drau und Save (Slawonien) und für Siebenbürgen, das die Natur selbst zum Bollwerk Ungarns gemacht habe, denn es hatte seine jetzige Gestalt noch nicht erhalten, als die Grenzmauern desselben bereits aufgebaut waren und es an Ungarn knüpften; seine Hauptthäler waren schon im neogenen Zeitalter 100 ÖUM, Band 3 (Übersichtsband 2, Geschichtlicher Theil), 1–32. 101 ÖUM, Band 5 (Ungarn 1), Johann Hunfalvy, „Geographische Übersicht des Reiches der ungarischen heiligen Krone“, 9–20. 102 Ebd., 17. 103 Ebd., 18. 104 Ebd. 105 Ebd.

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Buchten der See, welche das ungarische Alföld bedeckte. Die Natur verweiset Siebenbürgen auf den Verband mit Ungarn umsomehr, weil es selbst keinen geografischen, natürlichen Mittelpunkt hat, wie dies aus seiner Configuration und seiner geschichtlichen Entwicklung sich ergibt.106

Deutlicher als in allen anderen Beiträgen werden in der geografischen Einleitung János Hunfalvys zu diesem Band, welcher der ungarischen Geschichte, dem magyarischen Volk (beschrieben von Maurus [Mór] Jókai) und der Volkswirtschaft gewidmet ist, die dualistische Konstruktion des Werkes und die Betonung des ungarischen Standpunktes, der historisch und naturgeschichtlich legitimiert wird. János Hunfalvy, Professor für Geografie an der Pester Universität und Bruder des Sprachwissenschaftlers Pál Hunfalvy, hatte bereits im Juni 1884 seine Mitarbeit an der Enzyklopädie zugesagt, an seiner ungarischen nationalen Gesinnung jedoch keinen Zweifel gelassen. In einem Brief an Neumann-Spallart mokierte sich Hunfalvy über Mór Jokai, der sich bei einer Besprechung in Wien gegen die Publikation einer ethnografischen Karte ausgesprochen habe, weil diese Anstoß erregen könne.107 Er warf Jókai vor, nur auf Journalisten als Mitarbeiter zu reflektieren, und forderte ein eigenes ungarisches Komitee als Pendant zum Wiener Komitee. Von diesem wiederum verlangte er „die rückhaltlose Anerkennung des rechtlich und faktisch bestehenden Dualismus von Seite der österreichischen Schriftsteller“.108 Dennoch ist festzuhalten, dass die ungarische Redaktion unter der Leitung von Mór Jókai in den folgenden Jahren bestrebt war, die programmatischen Vorgaben des Werkes einzuhalten, um mit der österreichischen Redaktion „im Wettbewerb ehrenvoll stand(zu)halten“.109 Die ungarische Redaktion brauchte in wissenschaftlicher Hinsicht einen Vergleich mit der österreichischen nicht zu scheuen und insbesondere in der Darstellung der Nationalitäten war man bemüht, dem Vorschlag des Kronprinzen gerecht zu werden, den dieser im August 1884 an Jókai geschrieben hatte: „In Anbetracht der Empfindsamkeit der kleineren Nationalitäten liegt es in Ihrem Interesse, einen Teil der Verantwortung auf die Schultern ihrer eigenen Rassenverwandten zu übertragen.“110 Neben etablierten ungarischen Wissenschaftlern wurden in der Folge auch jüngere Wissenschaftler aus dem Umfeld der 1889 gegründeten „Ungarländische(n) ethnographische(n) Gesellschaft“ eingeladen, ebenso wie wissenschaftliche Vertreter 106 Ebd. 107 J. Hunfalvy an Neumann-Spallart, 11. Juni 1884, WStLA, A1, KPW, Kt 9, zit. nach Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 2, 28, Dok. 31. 108 Ebd. 109 Tamás Hofer, Ungarn im Kronprinzenwerk, in: Fikfak/Johler (Hrsg.), Ethnographie in Serie, 130– 171, hier: 131 (Vgl. Anm. 6) Bericht über das Kronprinzenwerk im Vasárnapi Újság (Sonntagsblatt) 1884. 110 Kronprinz Rudolf an Jokai 1.8.1884, zit. nach Hofer, Ungarn im Kronprinzenwerk, 143.

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der einzelnen Nationalitäten. Tamás Hofer hat darauf hingewiesen, dass die Darstellungen der Nationalitäten und Volksgruppen in den ungarischen Bänden im Aufbau den österreichischen entsprechen: Einerseits werden in gesonderten Kapiteln die Sprache, die Literatur und die ethnografischen Verhältnisse der einzelnen Bevölkerungsgruppen behandelt, andererseits wird die Darstellung der einzelnen Bevölkerungsgruppen in all ihren Facetten jeweils auf den sie umgebenen Naturraum und den geografischen Raum bezogen.111 Dies gilt für die Italiener in Tirol, die Slowenen in Kärnten und der Steiermark ebenso wie für die Darstellung der „sprachlichen, literarischen und ethnografischen Charakteristika der Slowaken (Adolf Pechány, Pavel Sochan, Samuel Czambel), der Ruthenen (Anton Hodinka), der Rumänen (Grigore Moldovan), der Sachsen aus Nordungarn und Siebenbürgen, der Schwaben in der Tiefebene, der Deutschen in Westungarn, der Heidebauern und der Hienzen (Adolf Schullerus, Friedrich Jekel, Traugott Teutsch, Anton Hermann), der Slowenen (Bálint Bellosics), Kroaten und Serben (Anton Hadžić )“,112 auf die gesondert eingegangen wird. Mit dem Band „Niederösterreich“, der im April 1888 abgeschlossen wurde, endet die erste Produktionsphase des Kronprinzenwerkes. Auch für diesen Band verfasste Neumann-Spallart das Kapitel über „Volkswirthschaftliches Leben in Niederösterreich“. Der Autor thematisiert erneut die Anziehungskraft der Großstadt: Und endlich der große politische Einfluß, welchen die Entwicklung Wiens als der Hauptstadt eines mächtigen Gesammtstaates auf das umgebende Land ausüben mußte! Er tritt uns allenthalben hier sichtbar entgegen. Zwar hat man die Städte neuerer Zeit in gewissem Sinne als eine Gefahr für das Flachland bezeichnet, weil sie demselben Lebens- und Arbeitskraft häufig im Übermaß entziehen; von Wien gilt dies jedoch Niederösterreich gegenüber nur in sehr beschränktem Sinne, denn die Stadt erneuert und verstärkt ihre Bevölkerung, wie wir an anderer Stelle gezeigt haben, großentheils auf eigenem Boden und sie war besonders in früheren Jahren und ist noch heute ein kräftigerer Anziehungspunkt für die Angehörigen ferner gelegener Kronländer als für diejenigen der unmittelbar vor ihren Thoren ansäßigen Landbevölkerung.113

Die bedeutendste Änderung gegenüber den ersten vier Bänden des Kronprinzenwerkes betrifft den Aufbau und die Gestaltung des Kapitels „Zur Volkskunde Niederösterreichs“,114 das mit einer von Robert Weißenhofer und Karl Langer verfassten Darstellung über die „Charakteristik und physische Beschaffenheit der Bevölkerung“115 beginnt. Erst danach folgen

111 Hofer, Ungarn im Kronprinzenwerk, 142. 112 Ebd. 113 ÖUM, Band 4 (1888): Niederösterreich, 319. 114 Ebd., 183–250. 115 Ebd., 183–188.

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Abb. 22, 23, 24, 25, 26 und 27 volkskundliche Themen über das Jahr, Geburt, Hochzeit und Tod, die Volkstracht, Mythen, Sagen und Legenden und ein von Eduard Hanslick (1825–1904) und Richard von Muth verfasster Beitrag über die Volksmusik. Von nun an sollte diese Aufteilung bestimmend für die weiteren Bände des Werkes bleiben. Auch wenn der im Band „Niederösterreich“ noch stark hervortretende Versuch, die „Charakterzüge“ der Bewohner zu beschreiben, später nicht mehr im Vordergrund steht, bleibt doch die Beschreibung der physischen Beschaffenheit der Bevölkerung ein fixer Bestandteil des ethnografischen Kapitels. Beibehalten wird auch die Methode der Visualisierung: Die nach fotografischen Vorlagen gestalteten Holzschnitte zeigen jeweils im Brustbild den Typus „einer Oberösterreicherin“, „einer Slowenin“, „eines Ruthenen“, „einer Huzulin“

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(Abb. 22–27) etc.116 Die Betonung der Kopfform korrespondiert mit den textlichen Beschreibungen zur physischen Anthropologie, die Darstellungen des Haar- und Kopfschmucks sowie die Trachten und Kleiderelemente, die im Brustbild sichtbar werden, verweisen auf die geografischen und kulturellen Elemente der Volkskultur. So unterscheidet das redaktionelle Programm des Kronprinzenwerks zwar in der Beschreibung zwischen der physischen Beschaffenheit der Bevölkerung und den geistigen oder kulturellen Aspekten der Volkskultur, dennoch wird diese Grenze durch die Visualisierung der „Typen“ teilweise aufgehoben. Die Abschnitte über die physische Beschaffenheit speisen sich aus verschiedenen Quellen: Ergebnisse von statistischen Daten aus den Volkszählungen, Geburten- und Sterberegister, medizinische Untersuchungen der Bevölkerung, statistische Ergebnisse anthrometrischer Messungen von Schulkindern und Rekruten in den einzelnen Kronländern der Monarchie. Die Ergebnisse der zeitgenössischen Untersuchungen und deren Vergleich mit archäologischen Ausgrabungen und prähistorischen Schädelfunden dienen als Ausgangsbasis für historische Hypothesenbildungen. So liefern die statistischen Daten der Gegenwart und deren historische Interpretation die Basis für rassenanthropologische Spekulationen über den Ursprung und den Grad der Vermischung der Bevölkerung und die Zuschreibung stereotyper Charaktereigenschaften, die aus heutiger Sicht jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Zu einem nicht geringen Teil sind die unhaltbaren Vereinfachungen und stereotypen Zuschreibungen wohl auf die redaktionelle Bearbeitung und die Popularisierung der unterschiedlichen empirischen Untersuchungen in einer leicht lesbaren, mit Beispielen und Anekdoten angereicherten Erzählung zurückzuführen. Dieser generelle Befund für das Kronprinzenwerk, der aus heutiger Sicht in einem gewissen Widerspruch zu den intendierten volksbildnerischen Aspekten des Programms steht, wird besonders deutlich in den ethno­ grafischen und ökonomischen Kapiteln, in denen sich der Einbruch der Moderne am stärksten manifestiert. 117 Etwas näher einer heutigen Betrachtungsweise sind die ethnografischen Beschreibungen, die dem Jahreslauf, den Sitten und Gebräuchen, der Literatur und Musik der einzelnen Volksgruppen gewidmet sind. Sowohl die Vertreter der traditionellen Volkskunde als auch die Anhänger einer sich stärker an der Ethnologie orientierenden Kulturwissenschaft können 116 Fotografische Originalvorlagen existieren im Redaktionsarchiv des Kronprinzenwerkes vor allem zu den frühen Bänden Oberösterreich und Salzburg sowie zu Galizien, Bosnien und Herzegowina, Böhmen und Mähren; vgl. Petschar, Altösterreich, 150–229. 117 Die Arbeit der Redaktion bestand u.a. in der Zusammenführung der von verschiedenen Autoren gelieferten Texte, in der Übermittlung von Korrekturen und dem Einbau der Bildvorlagen. Von nahezu allen ethnografischen Beiträgen aus den cisleithanischen Bänden existieren Vorlagen, Redaktionsbögen und Korrespondenzen in der Österreichischen Nationalbibliothek. Zum Archiv der Redaktion vgl. Anm. 66 in diesem Beitrag.

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im Kronprinzenwerk die Anfänge der modernen Kulturwissenschaft in Österreich-Ungarn entdecken.118 Dennoch sind auch in den ethnografischen Beiträgen die Unterschiede im Stil, in der Beschreibung, in den Illustrationen und auch in der Bewertung trotz des vorgegebenen redaktionellen Programms bemerkenswert. Einige wenige Hinweise mögen dieses Zusammenspiel von Ästhetik, Wissenschaft, Kunst und Politik in der Gestaltung von Texten und Bildern verdeutlichen. Mit einer erstaunlichen Ausgewogenheit beschreiben der Seelsorger und Begründer der Kärntner Volkskunde Franz Franzisci (Franziszi) (1825–1920) und der Schriftsteller und Heimatforscher Rudolf Franz Waizer (1842–1897) in ihrem Beitrag über die Volkskunde Kärntens den „Volkscharakter, Trachten, Sitten und Bräuche“ der beiden Nationalitäten, der Deutschen und der Slowenen.119 In ganz ähnlicher Weise werden in den ethnografischen Abschnitten aus den südlichen Kronländern Steiermark, Krain, dem Küstenland und Dalmatien die kulturellen und zivilisatorischen Vorteile des Zusammenlebens verschiedener Nationalitäten hervorgehoben. Im Beitrag von Ludwig von Hörmann (1837–1924) über das „Volksleben der Deutschen in Tirol“ mischt sich das volkskundliche Interesse an den Trachten und Bräuchen mit einer nostalgisch verklärten Beschreibung der Charaktereigenschaften des Tiroler Bergvolkes. Ursprünglich in abgeschlossenen Tälern und Dörfern lebend, drohen die Tiroler nach Meinung des Verfassers durch die wirtschaftliche Entwicklung – den Handel, das Verkehrswesen, die Anziehungskraft der Städte – ihre regionalen Besonderheiten zu verlieren.120 Positiv bewertet werden dagegen die Auswirkungen der Modernisierung in der Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung Wiens, Niederösterreichs und der böhmischen Länder. (Abb. 28–29) Es sind dies jene Länder, die im Kronprinzenwerk als Motoren des Fortschritts in Erscheinung treten, ohne die Tradition und die Eigentümlichkeiten der Bevölkerung zu gefährden. Hinter allen euphorischen Tönen in der Darstellung von wirtschaftlicher Entwicklung, Industrie und Verkehr der einzelnen Kronländer tauchen in den Beschreibungen aber auch die Verlierer der Modernisierung auf: die Hausindustrie, das Kleinhandwerk, das Kleingewerbe und die verarmte Landbevölkerung, die unter der Konkurrenz der Großindustrie litt.121

118 119 120 121

Siehe dazu die Beiträge in Rupp-Eisenreich und Stagl, Kulturwissenschaften im Vielvölkerstaat. ÖUM, Band 8 (1891): Kärnten und Krain, 97–131. ÖUM, Band 13 (1893): Tirol und Vorarlberg, 240–293. Vgl. dazu auch die Einleitung von Christiane Zintzen, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Aus dem „Kronprinzenwerk“ des Erzherzog Rudolf, 12–14.

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Abb. 28, 29

Abb. 30 und 31

Ein besonderes politisches Interesse manifestiert sich in den umfangreichen Bänden über Bosnien und Herzegowina (Abb. 30–31), Galizien und die Bukowina. Der redaktionelle Aufwand, den man in die Herstellung dieser Bände legte, war enorm: Künstler, Fotografen und lokale Autoren bereisten die noch so entlegenen Gebiete und versuchten in besonders einprägsamen Texten und Bildern den Lesern und Leserinnen eine ihnen fremde Welt vor Augen zu führen. Ganz offensichtlich sollte gerade in der Darstellung dieser Länder die „zivilisatorische Mission“122 der Monarchie zum Ausdruck gebracht werden. In Bosnien und der Herzegowina werden die Vorzüge der österreichisch-ungarischen Verwaltung seit der Okkupation von 1878 gerühmt, in Galizien und der Bukowina die „Segnungen des Friedens und 122 Zu Bosnien siehe Zintzen, Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Aus dem „Kronprinzenwerk“ des Erzherzog Rudolf, 16.

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der Cultur“, die die Monarchie und „das glorreiche Haus der Habsburger“ den Bewohnern „ohne Unterschied des Glaubens und der Race“ gebracht haben.123 Den Ansprüchen der Redaktion im Hinblick auf eine gleichwertige Behandlung der einzelnen Völker konnten die Autoren nicht immer genügen. Während der aus Brody stammende Schriftsteller und Publizist Leo Herzberg-Fränkel (1827–1915) einfühlsam und doch mit einer aufgeklärten Haltung das Leben der orthodoxen Juden in Galizien beschreibt, sind die Darstellungen des rumänischen Schriftstellers und Heimatforschers Demeter Dan über „Die Zigeuner“ in der Bukowina von Stereotypen geprägt.124 Aus der Perspektive eines nach Ansicht des Verfassers auf einer höheren Stufe der Kultur stehenden Volkes – dem er selbst angehört – charakterisiert der Autor in einer lockeren Erzählung, die anschaulich sein und amüsieren will, das Leben der Roma. Die Zigeuner hätten eine „Rabenvorliebe für glänzende Gegenstände“.125 Jung und Alt, Mann und Frau, ja sogar die Säuglinge, frönten „der Leidenschaft des Tabakrauches“.126 Die Männer verstünden sich auf die Schmiedekunst, die Landwirtschaft, den Pferdediebstahl, die Musik und das Nichtstun, das Betteln und Wahrsagen dagegen wäre die Beschäftigung der Frauen: Die alten Zigeunerinnen betreiben mit viel Geschick die oft einträgliche Kunst des Wahrsagens aus Karten, Maiskörnern, Bohnen, den Handflächefalten etc. Auch verstehen sie den abergläubischen Bauernweibern den Schrecken und die Krankheiten abzusprechen. Den liebenden, daher leichtgläubigen Bauernmädchen zaubern sie ihre Zukünftigen herbei und bereiten für dieselben und auch für manches liebeskranke Stadtfräulein für Geld oder Eßwaaren unschuldige Liebestränklein. […] Durch ihre Geschicklichkeit im Betteln, Stehlen und Verkaufen der diversen Schmiede- und Holzerzeugnisse ihres Mannes, sowie durch ihre Gewandtheit in der Wahrsagekunst, im Zaubern, Kartenaufschlagen, Absprechen, ernährt das arme Zigeunerweib ihre zahlreichen Kinder und den ‚dada‘, das ist ihren faulen Mann. Wehe der geplagten Zigeunerin, wenn sie abends, ohne Speck und Mehl, die Lieblingseßwaren ihres Herrn und Gebieters, mitzubringen, heimkehrt. Bringt sie aber dergleichen, so äußert sich der Dank ihres gesättigten Mannes in einer tüchtigen Tracht Prügel, welche sie als Beweis seiner Liebe annehmen muß.127

123 ÖUM, Band 20 (1899): Bukowina, 3. 124 ÖUM, Band 19 (1898): Galicien, 575–500; ÖUM, Band 20 (1899): Bukowina, 330–338. 125 Ebd., Bd. 20. 126 Ebd. 127 Ebd., 334–335.

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Abb. 32 und 33

Besonders einprägsam wirken die Stereotype durch die Illustrationen von Julius Zuber (1861– 1910), die sämtlich durch die Bearbeitung von fotografischen Vorlagen entstandenen waren.128 (Abb. 32–33) Die Rolle der Illustratoren, die keineswegs nur eine Wirklichkeit abbilden, sondern im Austausch mit den Autoren eine Botschaft vermitteln sollten, wird hier besonders deutlich. In einem Brief an die Redaktion beschreibt Julius Zuber, einer der Hauptillustratoren für den Band „Bukowina“, seine Arbeitsweise: Ich korrespondiere mit den Herren Verfassern und instruiere mich über charakteristische Details die ich etwa nicht kennen sollte; erlaube mir blos vom künstlerischen Standpunkte die Freiheit Typen und Gebräuche als Bilder zu behandeln, um die Oede der fotografischen Zeichnungen lebhafter und wie es mir scheint interessanter zu gestalten.129

Zuber arbeitete die nüchternen Aufnahmen einer Romafamilie aus Wulewa, die vom Czernowitzer Fotografen Engelbert Richter als Grundlage für die künstlerische Bearbeitung hergestellt worden waren, ganz im Sinne der stereotypen Überzeichnung des Textautors um. Er verändert die Anordnung der Figuren entscheidend, führt einen Pfeife rauchenden Mann im Bild ein, der auf das zentral posierende Ehepaar blickt, und schärft die Gesichtszüge, die Augen und die Blicke aller Figuren. Dabei kommt ihm die durchgängig in der Enzyklopädie 128 Zum Verhältnis von Fotografie, künstlerischer Vorlage und Holzstich vgl. Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, Bd. 1, 99–112. 129 Brief von Julius Zuber an die Redaktion vom 26.9.1895, zit. nach Viktoriya Hryaban, Der ‚Bukowina-Band‘ der österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild, in: kakanienrevisted. http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/VHryaban1.pdf, 2005, 1–11, hier: 10.

Über die Konstruktion von Identitäten

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verwendete Technik des Holzstiches mit der ihr eigenen Ästhetik der Vereinfachung und einer kontrastreichen Betonung von Gegensätzen durchaus entgegen. 4. Resümee

Weder das ethnografische Interesse noch das ästhetische Vergnügen sind so „unschuldig“, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, gleich ob man sich auf die eigene Geschichte und Kultur oder eine als fremd erkannte richtet und bezieht, schreibt Georg Schmid in seiner „Reise auf dem Papier“.130 In den literarischen Beiträgen ebenso wie in den künstlerischen Bearbeitungen, die das gesamte enzyklopädische Werk erfüllen, zeigt sich das Spannungsverhältnis von redaktionellem Programm und individueller Bearbeitung, von dynastisch-zentralistischem Anspruch und peripherer Abweichung an den Grenzen des Reiches. Der einheitliche Aufbau der Bände, der sich nach Erscheinen der ersten fünf Bände nicht mehr grundlegend ändern sollte, beförderte ebenso wie das einheitliche Erscheinungsbild den ästhetischen Eindruck eines Gesamtkunstwerks und vermittelte emotional das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Einheit in der Vielfalt. Die Einbettung der Gegenwart 1900 in einen allgemeinen naturgeschichtlichen und geschichtlichen Rahmen, der durch die gottgewollte Ordnung und das Geschick der Dynastie vorgegeben schien, erfolgte durch die Schilderungen der Landschaft, der Vorgeschichte und der Geschichte. Die Abhandlungen über Architektur, Literatur und Musik passten sich in diesen historisch-politischen Rahmen ebenso ein wie die Ausflüge in die historische Anthropologie in den Kapiteln über die physische Beschaffenheit der Bevölkerung. Die semiotische Funktion der volkskund­lichen und volkswirtschaftlichen Kapitel innerhalb dieses Deutungsraumes war dagegen eine andere: Während in den volkswirtschaftlichen Kapiteln ganz im Sinne des staatstragenden Programms das Zukunftspotenzial der Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie in eindrucksvollen Bildern und Texten beschrieben werden sollte, blieb es den volkskundlichen Kapiteln vorbehalten, durch die einheitliche Darstellungsstruktur aller regionalen und nationalen Verschiedenheiten zum Trotz das zeitlose Bild eines idealtypischen, von der Religion und den Bräuchen bestimmten Jahres- und Lebenslaufes zu zeichnen, der nach Meinung der Autoren von der Geburt über die jugendliche Liebe und die Heirat bis zum Tod das Leben der Menschen bestimmte und bestimmen sollte. Der Einbruch der Moderne, der zwischen den Zeilen in den ethnografischen und volkswirtschaftlichen Kapiteln immer wieder sichtbar wurde, sollte gezähmt, ja ungeschehen gemacht werden durch das Aufgehen in einer Zukunft, die sich ganz an der Vergangenheit orientierte. Nicht die zeitgenössische Gegenwart war es, die das Kronprinzenwerk beschrieb, sondern ein imaginiertes Leben und die Beschwörung einer zukünftigen Vergangenheit, die es zum 130 Schmid, Die Reise auf dem Papier, 111.

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Hans Petschar

Zeitpunkt seiner Entstehung nicht mehr gab und in ihrer idealtypischen Form auch nie gegeben hatte. Postscriptum

Als letzter Band der Reihe und gleichzeitig als „Siebenter Band der Länder der Stephanskrone“ erschien 1902 der Band „Croatien und Slavonien“, für den eine eigene Redaktion in Zagreb eingerichtet worden war.131 Der erste Satz der Einleitung von Isidor Kršnjavi (1845– 1927) zu diesem Band lautet: „Croatien und Slavonien und das staatsrechtlich dazu gehörige Dalmatien bilden in geographischer Hinsicht zwei vollkommen verschiedene Einheiten.“132 Über dem Text befindet sich die durchaus ambivalente Titelillustration von Vlaho Bukovac: Hungaria, eine mächtige weibliche Figur, führt und hält mit beiden Händen die kleinere Figur der Croatia, unter deren Mantel das dreiteilige Wappenschild der kroatisch-slavonisch-dalmatinischen Landesregierung133 zum Vorschein kommt. Über beiden Figuren schwebt die Stephanskrone. Auf bemerkenswerte Art und Weise lässt der Beginn des letzten Bandes eines der ungelösten Probleme der dualistischen Staatskonstruktion augenscheinlich werden: Weit über die „geographische Hinsicht“ hinausgehend, über die der Autor vorgibt zu schreiben, bringt die Kombination von repräsentativen Bildern und national-patriotischen Texten das ganze Spannungsverhältnis zwischen den Landes- und dem Staatsinteressen zum Ausdruck. Gerade dieser Band, dem als Sonderbeilage ein Schlusswort über „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“ beigegeben wurde, verlässt am deutlichsten die dualistische Grundkonzeption des Werkes. Mehr als in allen anderen Bänden steht hinter dem Band „Croatien und Slavonien“ bereits ein nationalstaatliches Konzept des 20. Jahrhunderts. Der ursprünglich geplanten Schlussband über die Verfassung und Verwaltung der Monarchie, der auch einen Abschnitt über die Ethnografie Österreich-Ungarns enthalten hätte sollen, erschien nicht mehr.134

131 Zur kroatischen Redaktion und zum Band Croatien und Slavonien aus kroatischer Perspektive siehe: Vitomir Belaj, Die Darstellung der Kroaten in österreichisch-ungarischen Übersichtswerken, in: Fikfak und Johler (Hrsg.), Ethnographie in Serie, 254–264. 132 ÖUM Band 24 (1902): Croatien und Slavonien, 3. Zu den handelnden Personen siehe Belaj, Die Darstellung der Kroaten in österreichisch-ungarischen Übersichtswerken, 262. 133 Vgl. Ströhl, Österreichisch-ungarische Wappenrolle, Tafel 11, 9–10. 134 Vgl. dazu Fritsch, Schnittstellen von Bild und Text, 59–60.

Christian Glanz

Musikalische Wiener Jahrhundertwende mit Migrationshintergrund Über den problematischen Zusammenhang zwischen Migration, Innovation und kultureller Vielfalt

In dem in den Forschungen der letzten Jahrzehnte in beeindruckender Breite entwickelten kulturellen Panorama von Wien um 1900 erscheint Musik in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Das Spektrum reicht von ihrer bloß symbolischen Repräsentanz, also Musik als literarischer Zeittopos und ästhetisches Argument, bis zu den konkret in Musikwerken sich realisierenden Tendenzen. Auch im Zuge der akzentuierten Spurensuche nach dem „anderen“ Wien um 1900 können musikalische Themen bedeutende Relevanz beanspruchen. Wie die Würdigung der inzwischen umfassend verbreiteten Leistungen der Wiener Moderne im Allgemeinen der Ergänzung durch Fragen relativ jüngeren Datums (etwa die nach Alltagskulturen) bedarf, so würde auch auf musikalischem Gebiet die ausschließliche Konzentration auf die mittlerweile in ihrer Bedeutung unwidersprochenen Leistungen von zu Lebzeiten heftigst umstrittenen Innovatoren wie Gustav Mahler und Arnold Schönberg ein höchst unvollständiges Bild vermitteln. Diese Überlegungen, die zweifellos keinerlei Anspruch auf besondere Originalität erheben können, führen uns dennoch mitten ins Thema: Entwicklungen und Tendenzen in den äußerst unterschiedlichen Existenzformen der Wiener Musik in den Jahrzehnten um 1900 sind nämlich in sehr deutlicher Weise mit Migrationsphänomenen verbunden. Auf welchen Ebenen und mit welchen Folgen die Kultur der Migration im Kontext mit der Entwicklung eines stilistisch sehr breiten, oft auch in sich widersprüchlichen Musiklebens in Erscheinung tritt, soll in der Folge in einigen Aspekten beleuchtet werden, wobei es auch um die Frage gehen soll, wie weit dabei der Wert der kulturellen Vielfalt relevant wird, der für die sich als übernational definierende Donaumonarchie ja als grundlegend verstanden wird. Die musikalischen Phänomene der Wiener Jahrhundertwende spielen sich vor einem historischen Rahmen ab, der hier nur angedeutet werden soll, da er ohnehin in mehreren Beiträgen dieses Bandes kompetent angesprochen wird. Damit ist zunächst das rasante Wachstum der Reichshaupt- und Residenzstadt gemeint, ihr in großer Geschwindigkeit vollzogener Wandel zur Metropole und Millionenstadt, verbunden mit einer Vielzahl sozialer und sich mentalitätsmäßig äußernder Probleme.1 Die Geschichte von Zuzug und Etablierung von Mu1

Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990.

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Christian Glanz

sikern ist natürlich ganz direkt mit dieser Entwicklung verbunden. In der Folge wird zunächst versucht, das Panorama der musikalischen Migration nach Wien auch im historischen Kontext zu skizzieren. Dann wird ein Fallbeispiel die innovatorische Tätigkeit Gustav Mahlers als eines Musikers mit Migrationsbiografie skizzieren, wobei das Hauptaugenmerk auf der Repräsentanz des Phänomens Migration in diesem Zusammenhang liegt. Die hypothetische Frage nach der Relevanz der Kategorie Migration in Kompositionen desselben Musikers schließt sich an. Man könnte das Folgende vielleicht auch mit einer Frage einleiten: Führt erfolgreiche Migration zur Akzeptanz von kultureller Vielfalt? 1. Musikalische Migrantenkarrieren in Wien vor der Wende zum 20. Jahrhundert

Die Anziehungskraft des so schnell wachsenden Zentrums war eine wahrhaft umfassende und sie betraf Musiker schon lange vor der hier in Rede stehenden Wende zum 20. Jahrhundert. Dies ist für das „vorbürgerlich“ strukturierte Wiener Musikleben natürlich in erster Linie der Ausstrahlung des Hofes und der vielfach sehr engagierten aristokratischen Musikpflege zuzuschreiben. Die zunehmende Repräsentanz bürgerlicher Anteile auf allen Ebenen (mit Ausnahme der Hofbühnen) verstärkte jedoch bald diese Anziehungskraft und wirkte als fortdauernd starker Zuzugsmotor.2 Musikalisch tätige „Neu-Wiener“ waren dabei traditionell einerseits „Binnen-Migranten“, also Bürger und Bürgerinnen aus den Ländern und Regionen der Habsburgermonarchie, andererseits handelte es sich um Zuzug aus anderen europäischen Herkunftsorten – der italienische Anteil war dabei bekanntlich ein schon traditionell sehr bedeutender. Schon in der Wiener Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts ist es daher eigentlich kaum mehr möglich, den Migrationshintergrund vor allem zahlreicher bedeutender Komponistenpersönlichkeiten zu übersehen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet wäre beispielsweise auch schon die Wiener Karriere Beethovens3 als die eines Binnenmigranten im späten Heiligen Römischen Reich zu interpretieren: Bonn fungierte dabei als der vom Gravitationszentrum Wien vor allem durch dynastische Verbindungen bereits inspirierte Ausgangsort, in Wien lockten wiederum nicht nur Vorbildfiguren wie Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart – beide übrigens auch Binnenmigranten – sowie der Hof mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, sondern auch ein höchst musikinteressiertes aristokratisches Biotop, das sich 1809 ja auch dazu entschloss, dem Komponisten eine dauernde und praktisch unbedingte Basisunterstützung zu gewähren. Spielte sich die Sozialisation des Binnenmigranten Beethoven bevorzugt in aristokratisch dominierten Strukturen ab, so kann jene von Franz Schubert als ein frühes Beispiel

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Theophil Antonicek, Biedermeierzeit und Vormärz, in: Rudolf Flotzinger/Gernot Gruber (Hrsg.), Musikgeschichte Österreichs, Band 2, Vom Barock zum Vormärz, Wien – Köln – Weimar 1995, 279–352. Hartmut Krones, Ludwig van Beethoven, Sein Werk – sein Leben, Wien 1999 (Musikportraits 4).

Musikalische Wiener Jahrhundertwende mit Migrationshintergrund

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einer bürgerlichen Musikerbiografie, beeinflusst vom Phänomen der Migration, interpretiert werden. Jedoch war der Migrationsakt – in diesem Fall aus dem mährisch-schlesischen Raum – hier bereits von Schuberts Vater vollzogen worden, der 1783 seinem Bruder nach Wien folgte und als Bauernsohn wie jener den Lehrerberuf ergriff.4 Der für die Biografie Franz Schuberts so bedeutende Freundeskreis5 war ebenfalls maßgeblich vom Migrationsaspekt, mehrheitlich bezogen auf die Herkunft der Beteiligten aus der österreichischen und böhmischen „Provinz“, geprägt: Josef von Spaun, Franz von Schober, Franz Xaver Schlechta von Wssehrd, Johann Mayrhofer, Josef Kupelwieser und Johann Chrysostomus Senn, später Johann Baptist Jenger und Anselm Hüttenbrenner seien in diesem Zusammenhang beispielhaft genannt. Die nächste Generation von Musikern mit Migrationshintergrund entfaltete noch um 1900 vielfältige Wirksamkeit im Wiener Musikleben; die Betroffenen gehören bis heute zur absoluten Prominenz: die Migranten Anton Bruckner (geboren 1824 in der oberösterreichischen Provinz), Karl Goldmark (geboren 1830 am Plattensee) und Johannes Brahms (geboren 1833 in Hamburg) stehen beispielhaft für eine auf unterschiedlichem Wege vollzogene Etablierung in dem sich stetig ausdifferenzierenden Wiener Musikleben der franzisko-josephinischen Epoche. Dabei spielte die Herkunft aus marginalisierten gesellschaftlichen Umgebungen zumindest für Bruckner und Goldmark eine besonders deutliche Rolle. Die vollzogene Migration „aus der Provinz“ prägte ihr öffentliches Image wesentlich mit: Bruckner sah sich noch zur Zeit seiner (bekanntlich spät erfolgten) breiteren Akzeptanz als merkwürdiger „Sonderling“ mit provinziellem Gehabe eingeschätzt, mehrfach querstehend zu den Umgangsformen in der Metropole.6 Goldmarks vergleichbar beschwerlicher, vor allem weitestgehend autodidaktisch vollzogener Weg in die Mitte des Wiener Musiklebens war schon zu Lebzeiten ein Topos und kennzeichnete besonders die ihn als „vaterländischen“ Komponisten ehrenden Nachrufe zu seinem Tod 1915.7 Im Unterschied zu Brahms und Bruckner, die jeweils für einander freilich spinnefeind gegenüberstehende Anhängerschaften zu Symbolen der kompositorischen und ästhetischen Innovation werden konnten,8 fand Goldmark während der liberalen Hegemonie der 1860er-Jahre seinen Platz in der Mitte des Wiener Musiklebens,

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Manfred Wagner, Franz Schubert, Sein Werk – sein Leben, Wien 1996 (Musikportraits 2). Ernst Hilmar, Artikel Freunde, in: Ernst Hilmar/Margret Jestremski (Hrsg.), Schubert-Lexikon, Graz 1997, 141–143. Manfred Wagner, Bruckner, Mainz 1983. Christian Glanz, „Schwarzgelb“ gelebt? Carl Goldmark im franzisko-josephinischen Musikleben, in: Musicologia Austriaca 28 (2009), 103–118. Manfred Wagner, Wien – Stadt der Musik? Im Widerstreit zweier Positionen, in: Kristian Sotriffer (Hrsg.), Das größere Österreich, Geistiges und soziales Leben von 1880 bis zur Gegenwart, Wien 1982, 56–60.

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vom viel beredeten „Parteienstreit“9 zwischen den Anhängern der „Neudeutschen“ und den Exponenten einer Formalästhetik kaum tangiert. Auch bei den maßgeblichen Stimmen des Musikschrifttums und der Musikwissenschaft ist der biografische Migrationshintergrund schon vor 1900 mehrfach vertreten. Man denke hier zunächst an Eduard Hanslick, über Jahrzehnte die zentrale Stimme einer „objektiven“ Musikbetrachtung und erster Wiener Universitätsprofessor für „Geschichte und Ästhetik der Tonkunst“ (1825 in Prag geboren, seit 1846 in Wien lebend),10 weiters an den Pionier der kunstgeschichtlich inspirierten Musikgeschichtsforschung August Wilhelm Ambros (1816–1876), wie Hanslick aus Prag stammend, mit diesem auch befreundet und 1871 als Verantwortlicher für die Kunst- und Musikstudien des Kronprinzen nach Wien gekommen11 und schließlich an Guido Adler (1855 in Mähren geboren, Jugendfreund von Gustav Mahler und Begründer der musikwissenschaftlichen Stilforschung), der sich 1882 in Wien habilitierte. Auf dem Gebiet des Instrumentenbaus manifestiert sich die Relevanz des Migrationshintergrunds ebenfalls ganz deutlich: Zuwanderung vor allem aus Bayern hatte schon den Wiener Geigenbau des 18. Jahrhunderts geprägt, dafür exemplarisch stehen prominente Namen wie Georg Thir, Franz Geissenhof oder Franz Joseph Stoß. Das 19. Jahrhundert ist dann von einem intensiven Austausch zwischen Wien, Prag und Budapest gekennzeichnet. Die wichtigsten Wiener Geigenbauer waren in allen drei Städten präsent, ihre Biografien weisen mehrfache Migrationsvorgänge auf. So stammte Gabriel Lemböck (1814–1892), dessen Stradivariund Guarneri-Nachbauten sich großer Beliebtheit erfreuten, aus Ofen und Thomas Zach (1812–1892) war in Prag und Pest tätig gewesen, ehe er nach Wien übersiedelte. Aus Mittenwald stammte Anton Kiendl (1816–1871), der sich in Wien vor allem auf die Herstellung von Zithern spezialisierte.12 Der aus Dresden stammende Oboist Richard Baumgärtel (1858–1941), entscheidender Impulsgeber für die Konstruktion der bis heute den Wiener Klangstil prägenden Wiener Variante des Instruments,13 war 1880 an die Hofoper engagiert worden. Der Klavierbauer Friedrich Ehrbar (1827–1905), der Pionier des Vollgussrahmens, war aus Hildesheim gebürtig, der bedeutende Orgelbauer Karl Buckow (1801–1864) aus Schlesien nach Wien gekommen.

9 Carl Dahlhaus, Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988. 10 Gernot Gruber, Nachmärz und Ringstraßenzeit, in: Rudolf Flotzinger/Gernot Gruber (Hrsg.), Musikgeschichte Österreichs, Band 3, Von der Revolution 1848 bis zur Gegenwart, Wien – Köln – Weimar 1995, 78–82. 11 Volker Kalisch, Artikel Ambros, August Wilhelm, in: Ludwig Finscher (Hrsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil Band 1, Kassel – Basel 1999, Sp. 583–586. 12 Gruber, Nachmärz, 83f. 13 Herta und Kurt Blaukopf, Die Wiener Philharmoniker. Welt des Orchesters – Orchester der Welt, Wien 1992, 158.

Musikalische Wiener Jahrhundertwende mit Migrationshintergrund

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Bisher war lediglich von „kunstmusikalischen“ Zusammenhängen die Rede, aber im popularmusikalischen Bereich hat die rasante Entwicklung Wiens zur Metropole im Verlauf des 19. Jahrhunderts letztlich wohl noch größere Anziehungskraft generiert. Hier wäre in erster Linie auf die sich rasch verbreiternde Angebotslage, nicht zuletzt jene in den besonders schnell wachsenden Vorstädten, hinzuweisen.14 In Reaktion auf die Zuwanderungsströme aus den verschiedensten kulturellen Regionen entstand so in kurzer Zeit eine zunehmend professionalisierte Szene, die bald imstande war, auch sehr spezifische Bedürfnisse zu befriedigen. Man denke in diesem Zusammenhang an die zahlreichen Dialekt- und Jargonbühnen, die, wie etwa die 1889 gegründete „Budapester Orpheumgesellschaft“15 vom Phänomen Migration maßgeblich geprägt waren und ein breites Betätigungsfeld auch für Musiker und Musikerinnen boten. Nur am Rande kann hier erwähnt werden, dass auch die Wiener Volksmusik in wesentlichen ihrer Erscheinungen von Kulturtransfer und Musikmigration beeinflusst wurde, etwa in der Bedeutung der Tradition der Linzer Geiger für die Wiener Tanzmusik oder im Phänomen des jodlerverwandten „Dudelns“ in Ottakring.16 Ebenfalls nur am Rande ist hier darauf hinzuweisen, dass das Phänomen der Migration sich natürlich auch ganz direkt in den Texten des „Wienerlieds“ rezipiert findet.17 Als in besonderem Maße genrekonstituierend erscheint der Migrationshintergrund in der seit Ende der 1850er-Jahre rasch expandierenden Operettenbranche.18 Im kreativen Milieu der Wiener Operettenszene sind Migrationsbiografien fast als Normalfall anzusprechen. Der volle Name eines kompositorischen Pioniers der Szene mag dies exemplarisch veranschaulichen: Francesco Ezechiele Ermenegildo Cavaliere Suppé Demelli. Geboren 1819 im dalmatinischen Spalato, dem heutigen Split, war Franz von Suppés belgisch-italienisch-wienerische Familie geradezu ein Spiegel der multikulturellen Verfasstheit der Monarchie.19 Weitere Wiener Operettenkomponisten der ersten Generation mit Migrationshintergrund waren beispielsweise der aus Fiume (Rijeka) stammende Ivan Zajc (Giovanni von Zaytz), der geborene Grazer Richard Heuberger oder der aus der niederösterreichischen Provinz nach Wien gekommene Carl Zeller. Auch Librettisten wie Richard Genée (aus Danzig) und F. Zell (Pseudonym für 14 Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Wien 1999. 15 Georg Wacks, Die Budapester Orpheumgesellschaft. Ein Varieté in Wien 1889–1919, Wien 2002. 16 Elisabeth Th. Fritz/Helmut Kretschmer (Hrsg.), Volksmusik und Wienerlied, Wien 2006 (Musikgeschichte Wiens 1). 17 Gertraud Pressler, Aus Wiener Lieddrucken der Jahrhundertwende, in: Christian Glanz (Hrsg.), Wien 1897. Kulturgeschichtliches Profil eines Epochenjahres (Musikleben 8), Frankfurt am Main 1999, 237–280, hier: 244–247. 18 Marion Linhardt, Residenzstadt und Metropole. Zu einer kulturellen Topographie des Wiener Unterhaltungstheaters (1858–1918), Tübingen 2006. 19 Hans-Dieter Roser, Franz von Suppé. Werk und Leben (Neue Musikportraits 3), Wien 2007.

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Camillo Walzel, aus Magdeburg), Theaterdirektoren wie Maximilian Steiner (aus Buda) und Marie Geistinger (aus Graz, auch als Interpretin eine Zentralfigur der ersten Operettengeneration in Wien), Interpretenstars wie Josephine Gallmeyer (aus Leipzig) und Alexander Girardi (aus Graz) waren zugezogen. Gerade im Hinblick auf die Wiener Operette wurde auch wiederholt die Frage nach der Repräsentanz des „schwarzgelben“20 Österreichgedankens abgehandelt,21 wobei hier lediglich darauf hingewiesen werden soll, dass die These von der intendierten „Spiegelung“ der übernationalen Staatsidee in Libretti und Musik nach wie vor umstritten ist.22 Dennoch ist freilich auch klar, dass es sich gerade bei den in der Operettenbranche aktiven Personen (Komponisten, Librettisten, Interpreten und Interpretinnen, Impresarios) häufig um exemplarische Ausprägungen jener für die multikulturell geprägte Monarchie typischen „komplexen Identitäten“ handelt, wie sie von Moritz Csáky am Beispiel von Joseph Joachim untersucht wurden.23 Die ganz offensichtliche Durchdringung des Genres Operette mit Migranten und Migrantinnen und deren erfolgreiche und dauernde Etablierung in der Branche muss jedenfalls nicht zwingend oder gar durchgängig zu einer Spiegelung kultureller Vielfalt im affirmativen Sinn einer übernationalen Gesamtstaatsidee in den Elaboraten ebendieser Branche führen. Vielmehr orientierte sich die auf Gewinn ausgerichtete Gattung Operette als Teil des großstädtischen Unterhaltungsangebots begreiflicherweise deutlich an Tendenzen von (nicht zuletzt medial manifestierten) Mentalitäten möglichst breiter Publikumsschichten. Dies zeigt sich sowohl inhaltlich, etwa in der Art der Auseinandersetzung mit den slawischen Kulturen (verbreitete Klischees etwa über die „Balkanesen“ finden sich hier in großer Zahl),24 als auch in der strukturellen Einbindung der Operettenszene in die boomende Erlebniswelt Venedig in Wien im Wiener Prater.25 Ein stilistisch möglichst buntes musikalisches Angebot, das selbstverständlich an prominenter Stelle vor allem Tanztypen aus unterschiedlichsten Regionen der Monarchie – genauso aber auch aktuelle europäische und zum Teil sogar neueste überseeische musikalische Attraktionen wie den Ragtime – präsentierte, entsprach lediglich der Erwartungshaltung dieses breiten Publikums. 20 Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien – Graz 1981. 21 Moritz Csáky, Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur österreichischen Identität, Wien – Köln – Weimar 1996. 22 Christian Glanz, Wiener Operette und österreichische Identität, in: European Journal for Semiotic Studies 13 (2001), 505–521. 23 Moritz Csáky, Komplexe Identitäten in Zentraleuropa, in: Michele Calella/Christian Glanz (Hrsg.), Joseph Joachim (1831–1907): Europäischer Bürger, Komponist, Virtuose (Anklaenge 2008), Wien 2008, 47–68. 24 Christian Glanz, Das Bild Südosteuropas in der Wiener Operette, phil. Diss., Graz 1988. 25 Norbert Rubey/Peter Schoenwald, Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende, Wien 1996, 117–152.

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Als Bestandteil des „auftragsgemäßen“ Selbstverständnisses erscheint das Übernationale jedoch ganz unmissverständlich auf einem anderen Schauplatz der Musikermigration: Die Militärmusik hatte sich als Bestandteil der k. u. k. Armee naheliegenderweise auch inhaltlich mit kultureller Vielfalt auseinanderzusetzen – man bedenke die Streuung der Garnisonsorte über die gesamte Monarchie hinweg – und ihre Strukturen ermöglichten einer großen Zahl von Musikern Ausbildung und Karriere. Migration war dabei sogar eine Art Bedingung sine qua non, da vor allem die Regimentskapellmeister sehr häufig ihre Dienstorte wechselten. Am Beispiel der beim Wiener „Hausregiment“, dem Infanterieregiment der „Hoch und Deutschmeister“ Nr. 4, tätigen Kapellmeister wird dieser Aspekt schlaglichtartig deutlich: Von den zwischen 1841 und 1918 hier tätigen zehn Militärkapellmeistern waren lediglich P ­ hilipp Fahrbach sen. und Carl Michael Ziehrer geborene Wiener.26 Die Laufbahn des innerhalb der Monarchie häufig den Lebensmittelpunkt wechselnden Militärkapellmeisters avancierte gewissermaßen zu einem Erfolg versprechenden Rollenmodell für Musikmigranten und führte nach und neben vielen anderen genau zur Jahrhundertwende bekanntlich auch den Militärkapellmeister der „26er“ Franz Lehár (geboren in Komorn, Komárom) nach Wien, gefolgt von seinem baldigen Wechsel in die Operettenbranche, zunächst als Theaterkapellmeister, dann als Komponist.27 Die Übersiedlung nach Wien erfolgte im musikalischen Bereich schließlich besonders häufig im Zusammenhang mit Bildung und Studium. Die angestrebte Nutzung von großstädtischen Bildungsmöglichkeiten stellte ja überhaupt ein zentrales Motiv, vor allem der jüdischen Migranten und Migrantinnen, dar. Im Hinblick auf Musiker und Musikerinnen heißt das natürlich im engeren Sinn praktische und theoretische Ausbildung in den angesehenen Institutionen der Hauptstadt, an erster Stelle am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde. In Arnold Schönbergs Geburtsjahr 1874 verzeichneten die Matrikelbücher dieses Instituts beispielsweise von insgesamt 646 Studierenden bereits nur noch 185 aus Wien und Niederösterreich, 36 kamen aus Ungarn, 28 aus Böhmen, 26 aus Mähren, zwölf aus Galizien, je sieben aus Siebenbürgen und Oberösterreich, je fünf aus der Steiermark und Kärnten, vier aus Triest und dem dalmatinischen Küstenland und je drei aus Schlesien und Slawonien. Der Rest kam aus anderen europäischen Ländern und vier sogar aus den USA.28 Zu dieser Studierendengeneration gehörten auch Hugo Wolf (geboren 1860 im damals südsteirischen Windischgraetz, heute Slovenj Gradec) und Gustav Mahler (im selben Jahr im böhmischen Kalischt geboren und im mährischen Iglau aufgewachsen).

26 Eugen Brixel/Gunter Martin/Gottfried Pils, Das ist Österreichs Militärmusik, Graz 1982, 326. 27 Stefan Frey, Franz Lehár oder das schlechte Gewissen der leichten Musik, Tübingen 1995, 10–16. 28 Hartmut Krones, Arnold Schönberg. Werk und Leben (Neue Musikportraits), Wien 2005, 27f.

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2. Des Migranten Mahler erste Wiener Jahre

Zu den feststehenden Topoi des Mahler-Bildes gehört jenes von seiner mehrfachen Marginalisierung, basierend auf ebenso mehrfach kolportierten Äußerungen des Komponisten. Mahler war tatsächlich zunächst Angehöriger der jüdischen Minderheit in Böhmen, später in Mähren. Innerhalb der jüdischen Sozietät gehörte sein Vater zu jenen, die zwar noch am tradierten Glauben festhielten, sich jedoch gleichzeitig möglichst nachhaltig in die Mehrheitsgesellschaft integrierten und sowohl am wirtschaftlichen als auch am kulturellen Leben dieser Mehrheitsgesellschaft Anteil nahmen. Während der Kindheit und Jugend in Iglau wurde Mahlers Situation noch wesentlich komplexer: Als Bewohner einer deutschen „Sprach­ insel“ inmitten einer mährischen Umgebung befand er sich nun in einer gleichsam zusätzlichen Variante von Identität. Die Orientierung an der „deutschen“ Kultur (Goethe, Schiller, Beethoven) gehörte dazu ebenso wie das Erleben des bunten multikulturellen Alltags einer mittelgroßen Stadt. Sobald der Berufswunsch Musiker väterliche Billigung gefunden hatte, war klar, dass die diesbezügliche Ausbildung in Wien stattfinden würde und es folgte seine erste Migration nach Wien. Mahlers Vater Bernard, Hersteller von Spirituosen und Gastwirt, hatte geschäftliche Beziehungen in die Hauptstadt und verfügte auch über eine Wohnung im damaligen Vorort Fünfhaus (heute 15. Bezirk), in welcher der Konservatoriumsschüler wohnen konnte.29 Nach dem einleitend Ausgeführten wird es nicht überraschen, dass auch einige seiner Konservatoriumsprofessoren biografischen Migrationshintergrund hatten: Julius Epstein (Klavier) kam aus Agram (Zagreb), Robert Fuchs (Harmonielehre) aus Frauental in der Steiermark und Franz Krenn (Komposition) aus Droß bei Krems. Dasselbe gilt für etliche Studienkollegen wie Hugo Wolf (wie erwähnt aus Windischgraetz), Anton Krisper (aus Laibach/Ljubljana) oder Arnold Rosé (aus Jassy, heute Rumänien). Mahler und Wolf gehörten zu den zahlreichen studentischen Anhängern des damals noch keineswegs breit anerkannten Provinzmigranten Bruckner. Nachhaltige Prägung seiner Persönlichkeit erfuhr der Student Mahler aber auch außerhalb des Konservatoriums, und zwar durch seine Teilnahme an den diskussionsbeflissenen Kreisen, die sich um Victor Adler, Engelbert Pernerstorfer und Siegfried Lipiner gebildet hatten.30 Pernerstorfer war gebürtiger Wiener, Adlers Wiege hingegen stand in Prag, jene von Lipiner in Jaroslaw (heute Polen). Weitere Mitglieder waren unter anderem der vor allem als Musikschriftsteller bedeutende Richard von Kralik (aus dem Böhmerwald), aber auch der später legendäre Polyhistor Friedrich Eckstein (aus Perchtoldsdorf ) und die mit Mahler bis zu dessen Beziehung zu Alma eng befreundete Bratschistin Natalie Bauer-Lechner (aus Wien). 29 Helmut Brenner/Reinhold Kubik, Mahlers Welt. Die Orte seines Lebens, St. Pölten – Salzburg 2011, 21f. 30 Christian Glanz, Gustav Mahlers politisches Umfeld, in: Erich Wolfgang Partsch/Morten Solvik (Hrsg.), Mahler im Kontext. Contextualizing Mahler, Wien – Köln – Weimar 2011, 13–32.

Musikalische Wiener Jahrhundertwende mit Migrationshintergrund

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Mahlers erste Migration nach Wien war also gekennzeichnet vom Willen zu Bildung, und das war nicht nur auf Musik bezogen. Die Begeisterung für Neues, insbesondere in Gestalt der Rezeption Bruckners und Wagners, wurde kombiniert mit einem wachen Interesse für allgemeine Themen der Zeit. Bezeichnenderweise rezipierten die intellektuellen Zirkel um Adler, Pernerstorfer, Lipiner und Mahler Richard Wagner nicht nur als Komponisten, sondern in einem umfassenden Sinne (Mahlers zeitweilige vegetarische Lebensführung leitet sich ebenfalls davon her).31 Die studentische Jugend, ein Großteil davon mit Migrationshintergrund, stellte auch kritische Fragen an den Liberalismus, der gerade im Begriff war, unter dem Eindruck des Börsenkrachs von 1873 seine politische Hegemonie in Wien zu verlieren. Dass sich Mahler nach Abschluss seines Studiums als Theaterkapellmeister aufmachte, seine berufliche „Ochsentour“ zu beginnen, schnitt ihn zwar nicht völlig von dieser Umgebung ab (briefliche Kontakte zu Wiener Freunden blieben aufrecht, auch besuchte er in Urlaubszeiten immer wieder Wien), brachte diese Orientierungsphase seiner ersten Wienjahre jedoch zu einem klaren Ende. 3. Der zugewanderte „Gott der südlichen Zonen“

Mahlers zweite Migration nach Wien, von ihm selbst mit der im Titel verwendeten euphorischen Metapher besetzt, stellt nicht nur den Höhepunkt einer erstaunlichen Interpretenkarriere dar, sondern fällt auch mit wesentlichen Innovationen in Kunst und Gesellschaft zusammen. Der ehemalige Konservatoriumsschüler aus der mährischen Provinz hatte nach einem für alle Beteiligten beschwerlichen Weg durch die österreichische und deutsche Theaterlandschaft sein mit ironischer Emphase charakterisiertes berufliches Lebensziel erreicht. Seine Direktionszeit (1897–1907) gilt in der Geschichte der Wiener Hofoper unbestritten als Phase entscheidender und zukunftsweisender Innovationen.32 Der Hofoperndirektor Mahler beschäftigte natürlich auch die Wiener Zeitgenossen umfassend, wobei das Spektrum von gehässiger, oft offen antisemitisch motivierter Ablehnung bis zu enthusiastischer Anhängerschaft mit vereinzelt schon pseudoreligiöser Charakteristik reichte. Aufschlussreich ist dabei, dass sowohl Gegner als auch Anhänger zuweilen das Bild des eigentlich nicht Dazugehörenden bemühen, wenn es um Mahler ging. Was im Fall der Gegner unmittelbar einzuleuchten vermag, verdient im Hinblick auf die Anhängerschaft nähere Betrachtung: Paul Stefan (geboren 1897 in Brünn, seit 1898 in Wien, nach vielfältigen Studien vor allem als Musikschriftsteller und Kritiker hervorgetreten, bekannt durch seine Tätigkeit als leitender Redakteur der Musikblätter des Anbruch und durch sein konsequentes Engagement für Schönberg und sein Umfeld) 31 Jens Malte Fischer, Leben, in: Bernd Sponheuer/Wolfram Steinbeck (Hrsg.), Mahler Handbuch, Stuttgart – Weimar 2010, 14–61, hier: 16–20. 32 Franz Willnauer, Gustav Mahler und die Wiener Oper, Wien 1993.

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streicht in einem polemischen Rückblick auf die Wiener Moderne33 gerade das „Nichtösterreichische“ heraus, um Mahlers Leistung zu würdigen, freilich auch, um die Ablehnung durch breite Teile des Wiener Publikums zu erklären. Stefan gibt dabei zu bedenken, dass Mahler ja durchaus um das „Österreichische“ wissen müsste, „da er doch in Österreich geboren und erwachsen war“.34 Der Innovator Mahler erscheint bei Stefan als personifizierte Antithese zum „typisch Wienerischen“. Folgerichtig wird hier die Berufung von Josef („Pepi“) Hellmesberger jun. zum Nachfolger Mahlers durch die Philharmoniker 1901 nicht nur als Demütigung der Sonderklasse, sondern auch als eigentlicher Triumph des Wienerischen gewertet: „Hatte doch der Abkömmling einer alten Wiener Familie den unbequemen Juden abgelöst. Daß der Mahler und der andere sein Gegenteil war, was scherte es die Väter? Es war ihre Welt.“35 Stefans Pointierung von Mahler als Außenstehendem und Ausgeschlossenem erfolgte gleichsam aus einer Position des wehmütigen Rückblicks heraus, eine Position, die das „Lueger-Wien“ über das Wien der Moderne triumphieren sah, damit auch ein frühes Dokument der zeitgenössischen Relativierung eines undifferenzierten „Wien um 1900“-Mythos darstellend. Einer allzu affirmativen Erfolgsgeschichte Wiens als Gravitätszentrum der Moderne kann übrigens neben der bekannt problematischen Rezeption von musikalischer Innovation im Allgemeinen auch auf dem Gebiet der Migration das Beispiel Schönbergs entgegengehalten werden: Bereits im Dezember 1901 hatte sich dieser zum ersten Mal für kurze Zeit nach Berlin verabschiedet, um im literarischen Kabarett „Überbrettl“ als Kapellmeister zu arbeiten. Eine erneute Übersiedlung nach Berlin erfolgte kurz nach Mahlers Tod. Dazwischen lagen als Fanale gegenseitiger Wertschätzung Mahlers Akzeptanz der Ehrenpräsidentschaft in dem von Schönberg und Zemlinsky gegründeten „Verein schaffender Tonkünstler“ (1904) und sein legendäres entschiedenes Einschreiten gegen Zischende bei der Uraufführung von Schönbergs erstem Streichquartett am 5. Jänner 1907. Wie steht es aber abseits des Rezeptionsgeschichtlichen und Symbolischen mit den Innovationen des erneut nach Wien immigrierten Mahler? 4. Ein Team mit Migrationshintergrund – Mahlers zur Erneuerung Auserwählte

Die Innovationen der Direktion Mahler betrafen so gut wie alle Bereiche der Hofopernpraxis. Das Spektrum des Offensichtlichen reicht dabei, abgesehen von der erwarteten, traditionell kontrovers diskutierten Präsentation neuer Werke und der Konzentration auf die Opern Wagners und Mozarts, von der Zurückdrängung der Macht der zuvor hausüblichen Claque, die gegen Bezahlung Ovationen und Missfallenskundgebungen absonderte, über die Verdun33 Paul Stefan, Das Grab in Wien. Eine Chronik 1903–1911, Berlin 1913. 34 Stefan, Grab in Wien, 15. 35 Vgl. Anm. 30.

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kelung des Zuschauerraumes schon zur Ouvertüre bis zur viel diskutierten Tieferlegung des Orchestergrabens. Die nach allgemeiner Einschätzung folgenreichsten Neuerungen betrafen jedoch das Verhältnis von Musik und Darstellung auf der Bühne. Unter Mahlers Leitung trat erstmals ein modernes Inszenierungsteam in Erscheinung, was die historische Forschung heute vom eigentlichen Beginn des Regietheaters sprechen lässt.36 Mahler realisierte in diesem Zusammenhang unter dem Einfluss der musikdramatischen Ideen Wagners und den Ideen zeitgenössischer Theaterinnovatoren wie Adolphe Appia einen gänzlich neuen, integrativen Zugang und versicherte sich dafür der Mitwirkung neuer Kräfte. Von Mahler 1903 engagiert wirkte der 1864 in Brünn geborene Alfred Roller37 bis 1909 als „Leiter des Ausstattungswesens, Figurenzeichner und Costumier“.38 Roller kam nicht aus der Opernpraxis, sondern aus der Wiener Kunstgewerbeschule, in deren Lehrkörper er sich seit 1900 befand (und deren Leitung er nach dem Abgang von der Oper übernehmen sollte). Als zeitweiliger Herausgeber des Ver sacrum und Präsident der Secession war er prominenter Mitgestalter der Moderne in der bildenden Kunst Wiens. Schon bei der Bestellung von Rollers Vorgänger Heinrich Lefler, einem Mitglied der Künstlervereinigung „Hagenbund“, hatte Mahler hausinterne Hierarchien und „übliche Vorgänge“ ignoriert. Während sich Lefler aber noch primär als Kostümbildner verstand, verband Roller erstmals die bühnenwirksamen Elemente des Ausstattungswesens zu einem gestalterischen Gesamtkonzept. Die Innovationen Rollers kontrastierten vor allem schroff zur ehrwürdigen Tradition der Wiener Bühnenmalerei, deren Stil sich auf den in Mailand geborenen Giuseppe Brioschi zurückführen lässt, der als Begründer einer Dynastie von Bühnenmalern ab 1838 an den Wiener Hoftheatern tätig gewesen war. Eine erste Einschränkung seiner Befugnisse hatte Brioschis Enkel Anton schon unter Lefler hinnehmen müssen. Unter der Ägide Rollers hatte die Bühnenmalerei nur noch dessen Entwürfen zu folgen. Die Absage an die farbenprächtige und bildungsbefrachtete Stilistik der Tradition des Hauses Brioschi kann wohl auch als Entsprechung zur Distanz der Wiener Moderne und ihrer Interpreten zur Pracht Hans Makarts verstanden werden. Alfred Roller stattete für Mahler insgesamt 16 Opern aus, davon zwölf komplett. Die Innovationen in der szenischen Gestaltung waren es vor allem, die Mahler zur verehrten Symbolfigur verklärten. Das leicht erkennbare Porträt in Klimts Beethovenfries steht in deutlicher Weise für diese Symbolik. Mahlers musikalische Umrahmung der Secessionsausstellung im April 1902 mit Max Klingers Beethoven im Zentrum – er hatte dafür einen 36 Franz Willnauer, Gustav Mahler und Alfred Roller. Die Reform der Opernbühne aus dem Geist des Jugendstils, in: Constantin Floros (Hrsg.), Gustav Mahler und die Oper, Zürich – Hamburg 2005, 81–128. 37 Manfred Wagner, Alfred Roller in seiner Zeit, Salzburg – Wien 1996. 38 Wolfgang Greisenegger, Alfred Roller: Neubedeutung des szenischen Raumes, in: Gustav Mahler und die Oper. Internationales Symposion Budapest 1988, Studia Musicologica Academiae Scientiarium Hungaricae 31 (1989), 271–281, hier: 276.

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Ausschnitt aus dem Finalsatz von Beethovens „Neunter“ für Bläser bearbeitet – unterstreicht die symbolträchtige Verbindung. Im Hinblick auf die während der Direktion Mahler getätigten Engagements ist der Migrationsaspekt natürlich besonders naheliegend. Aus Mahlers Besetzungspolitik resultierte so die Verpflichtung von Sängern und Sängerinnen, die die Wiener Oper zum Teil jahrzehntelang prägten und von denen viele exemplarisch den von Mahler geforderten Typus des „Sänger-Schauspielers“ verkörperten. Aus dem Ausland kamen beispielsweise die in Weimar geborene Marie Gutheil-Schoder (1874–1935), der gebürtige Däne Erik Schmedes (1866–1931), der in Schleswig-Holstein geborene Friedrich Weidemann (1871–1919) und die aus London stammende Theo(dora) Drill-Oridge (1876–1963). Mahlers Kapellmeister für das italienische Fach Francesco Spetrino (1857–1948) stammte aus Palermo und mit dem in Berlin geborenen Bruno Walter (1876–1962) holte er 1901 einen schon in Hamburg bewährten Mitarbeiter als Ersten Kapellmeister an die Hofoper. Ein weiterer, privat bekanntlich nicht unproblematischer Zugang aus Hamburg war natürlich auch Anna von Mildenburg (seit 1909 mit Hermann Bahr verheiratet). Zu den wichtigsten Neuverpflichtungen aus dem Territorium der Monarchie zählten Selma Kurz (1874–1933, aus Brünn), Lucie Weidt (1876–1940, aus Troppau), Leo Slezak (1873–1946, aus Mährisch-Schönberg) und Richard Mayr (1877–1935, aus Salzburg). Mahlers Innovationen waren naturgemäß auch innerhalb der Hofoper nicht unumstritten, bekannt sind die wiederholten Konflikte mit dem Opernballett,39 die De-facto-Beendigung der Tradition der Wiener Bühnenmalerei blieb ebenfalls nicht ohne Widerspruch. Krass äußerten sich Innovation wie Widerspruch aber auch im Verhältnis zum Hofopernorchester. Als gewählter Dirigent hat Mahler die als selbstständiger Verein Wiener Philharmoniker agierenden Musiker wie erwähnt nur kurz geleitet (September 1898 bis Februar 1901), in seiner Eigenschaft als Operndirektor konnte er jedoch massiv in die Berufungspolitik des Orchesters, deren erstes Standbein ja der Operndienst ist, eingreifen und das hat er auch getan. Die erste Ebene von Mahlers Innovation bestand in der konsequenten Forderung nach musikalischer Detailtreue und Genauigkeit. Was heute als Selbstverständlichkeit gilt, fand damals teilweise erbitterte Gegnerschaft. Dennoch errang sich der Dirigent Mahler sehr breite fachliche Achtung. Aber auch die Personalsituation des Orchesters sah sich in der Ära Mahler einschneidenden Änderungen ausgesetzt: Nicht weniger als 80 Musiker wurden von Mahler für das Hofopernorchester neu verpflichtet, „das sind fast dreimal so viele, als es der normalen Erneuerung entsprochen hätte“.40 Im Rahmen der Philharmoniker wurde für diese „überzähligen“ Musiker der Status des „Expectanten“ erfunden, der nur im Bedarfsfall auch bei philharmonischen Konzerten mitzuwirken hatte, dafür aber nicht wie üblich via Ertragsanteil, sondern zu Saisonende aus 39 Clemens Höslinger, „Contra Mahler“. Zeugnisse der Opposition gegen Hofoperndirektor Mahler in Franz Gauls Tagebuch (1899), in: Nachrichten zur Mahler-Forschung 61 (2010), 1–57. 40 Blaukopf, Philharmoniker, 91.

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dem Hoftheaterbudget entschädigt wurde. Die Fluktuation des zu Mahlers Amtsantritt deutlich überalterten Orchesterpersonals steigerte sich jedenfalls in bislang unbekannter Weise. Vorzeitige Pensionierungen (offiziell waren es acht Fälle)41 taten das Ihre und alles zusammen führte zu einer massiven Konfrontation zwischen Operndirektor und Philharmonikern. Vor allem aber die Besetzung begehrter Solostellen und „erster Pulte“ mit Musikern aus dem Ausland sorgte wiederholt für Verstimmung und Proteste seitens des Orchesters. Beispiele für solche Engagements aus der Machtfülle des Direktors wären der Oboist Anton Jandourek aus Prag oder der Kontrabassist Otto Stix, den Mahler aus Hamburg kannte. Den Geiger Julius Stwertka holte Mahler ebenfalls aus Hamburg, aus Prag wurden die Solocellisten Wilhelm Jeral und Friedrich Buxbaum, aus Berlin der Harfenist Alfred Holy verpflichtet. Der aus Deutschland stammende Soloposaunist Franz Dreyer wurde von Mahler nach dessen überzeugender Leistung bei der Uraufführung seiner dritten Symphonie in Krefeld engagiert. Zu den insgesamt 33 von Mahler verpflichteten Bläsern gehörten auch die holländischen Flötisten Ary van Leeuwen und Jacques van Lier. Obwohl diese Eingriffe Mahlers die erwähnten Konflikte hervorriefen, stellten sie doch eine wesentliche Weichenstellung für die qualitative Weiterentwicklung des Orchesters dar und viele der Zugezogenen entfalteten auch jahrzehntelange erfolgreiche Aktivitäten im musikpädagogischen Sektor am Konservatorium bzw. der späteren Staatsakademie für Musik. 5. Migrationsechos in der Musik Mahlers?

Von Gegnern wie Anhängern Mahlers wurde immer wieder unter naturgemäß äußerst konträren Blickwinkeln und Prämissen dessen „Heimatlosigkeit“ als Argument zur Beschreibung der Spezifik seiner Musik ins Treffen geführt. Viele Aspekte sind in diesem Zusammenhang zeittypischen und ästhetisch parteilichen Reflexen geschuldet, etwa die kaum anhand nachvollziehbarer Kategorien reflektierte Postulierung eines Zusammenhangs zwischen Musik und Landschaft oder die Tendenz, Unangepasstes oder Provokantes in einem musikalischen Werk in direkte Beziehung zu Verhalten oder Herkunft von dessen Urheber zu bringen. Die folgenden Überlegungen verstehen sich daher nicht als analytisch bewiesene Tatsachen, sondern als Hypothesen. Es geht also um die Frage, vielleicht auch nur um deren Zulässigkeit, ob es Erscheinungen im kompositorischen Werk Mahlers geben könnte, die sinnvoll mit der biografisch so relevanten mehrfachen Migrationserfahrung in Beziehung gebracht werden sollten. Ein Ausgangspunkt für solche Überlegungen könnte in der in der Literatur ausgiebig erörterten Vielzahl42 von auch regional dechiffrierbaren Charakteristika und Tonfällen zu fin-

41 Clemens Hellsberg, Demokratie der Könige. Die Geschichte der Wiener Philharmoniker, Zürich – Wien – Mainz 1992, 316. 42 Z. B. Vladimir Karbusicky, Gustav Mahler und seine Umwelt, Darmstadt 1978; Carl E. Schorske, Gustav Mahler. Eine österreichische Identität (Wiener Vorlesungen im Rathaus 51), Wien 1996.

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den sein. Damit sind zunächst die das Œuvre so auffällig und in höchst unterschiedlichen Ausprägungen durchziehenden Ländler und Walzer gemeint, aber auch die verschiedenen Erscheinungsformen des Marsches legen eine dementsprechende Deutung zumindest nahe. In jüngster Zeit wurde die Kategorie des „Spaziergangs“ als relevante Figur für die ersten vier Symphonien (zu ergänzen wäre zumindest die erste Nachtmusik der siebenten Symphonie) angeboten.43 Möglicherweise ist es sinnvoll, dies auf die Frage nach Ausdrucksformen im Sinn eines „Echos“ der Migrationserfahrung zu erweitern. Jedenfalls sind viele der in der Literatur als Schock oder Bruch rezipierten Schlüsselstellen in Mahlers Symphonik als unerwartetes Hereinbrechen von Klängen formuliert, die in sehr unterschiedlicher Weise im Hinblick auf den vorangehenden Verlauf unvorbereitet erscheinen.44 Das immer wieder zitierte frühe Beispiel für Mahlers Schockstrategie, das plötzliche Eindringen folkloristischer Blaskapellenmusik in den von Anfang an fragwürdigen Trauermarsch im dritten Satz der ersten Symphonie, kann auch unter diesem Aspekt gehört werden, nämlich als unvermittelte Verpflanzung einer Ausdrucksform, als unvorbereitete Verschiebung in einen gänzlich anderen Kontext. Unter dieser Beleuchtung gewinnt dann auch die Gestaltung des in seiner Ruhe zum gestörten Trauermarsch stark kontrastierenden Trioteils des Satzes verstärktes Profil: Schon in dem dem Trio zugrundeliegenden Lied (dem vierten und letzten aus dem Zyklus der „Lieder eines fahrenden Gesellen“) stellt dessen vermeintlich beruhigender Ausklang ja wie in Schuberts „Lindenbaum“ Resignation und Todeseinverständnis dar. Auch im Lied kontrastiert dieser Abschnitt zu einer vorangegangenen marschartigen Gestaltung, der Trauermarsch ist dabei zumindest unterschwellig präsent. Als „wie ein Volkslied“ vorzutragendes Trio stellt das Liedmaterial in unserer Zugangsweise eine weitere Ebene der Verpflanzung dar, ebenso kontrastierend, wenn auch nicht durch Schock (wie im Fall der lärmenden Blaskapellenklänge), sondern durch Entrücktheit. Der dritte Satz der ersten Symphonie erscheint unter diesem Blickwinkel als Schauplatz mehrfacher Genreverpflanzung. In ihrem jeweiligen Bereich schlüssige und wie selbstverständlich gehandhabte Ausdrucksweisen gewinnen durch diese Verpflanzung schockartige Charakteristik und zwingen dazu, Differenz wahrzunehmen. Die Kategorie der Verpflanzung von Ausdrucksformen und Tonfällen ist unschwer in zahlreichen weiteren Ausprägungen zu finden, und zwar auch schon in Form von unerwarteten Kontrasten in der Aufeinanderfolge von Symphoniesätzen: Dass beispielsweise auf die dramatische Aufgewühltheit des in der Länge einer selbstständigen symphonischen Dichtung45 43 Hartmut Hein, Vierte Symphonie, in: Peter Revers/Oliver Korte (Hrsg.), Gustav Mahler. Interpretationen seiner Werke, Laaber 2011, 355–397. 44 Christian Glanz, Gustav Mahler. Sein Werk – sein Leben (Musikportraits 7), Wien 2001, 44–55, 88–93, 169–190. 45 Bekanntlich hatte Mahler diesen Satz zunächst auch als programmatische Tondichtung mit dem Titel „Todtenfeier“ konzipiert.

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auftretenden ersten Satzes der zweiten Symphonie (nach einer vom Komponisten zwar verordneten, jedoch so gut wie nie eingehaltenen sehr langen Pause) just selbstzufriedene und geradezu ostentative Biedermeiermusik folgt, ist ein solcher Satzkontrast, mithin eine andere Form unerwarteter Verpflanzung. Der Biedermeiersatz an sich, also allein, oder im Rahmen eines Kurkonzerts würde hingegen zweifellos nicht irritieren. Die Altsoli sowohl der zweiten („Urlicht“ aus „Des Knaben Wunderhorn“) als auch der dritten Symphonie (Nietzsches „Mitternachtslied“ des Zarathustra) kontrastieren denkbar stark zu den ihnen jeweils vorangegangenen Scherzosätzen, in denen sich auftrumpfende Banalität recht angeberisch herumtreibt. In der vierten Symphonie folgt ein sarkastischer Danse Macabre mit verfremdender Skordatur der Solovioline auf einen ersten Satz, dessen satte Behaglichkeit und aufgesetzte Heimeligkeit vom Komponisten mehrfach ausdrücklich bestätigte philisterhafte Züge trägt und kurzzeitig sogar „versickert“ (ein kurzes Verstummen mitten im substanzarmen Ornament), ehe er sich gleichsam unbeeindruckt in alter Gemütlichkeit wieder ans Werk macht. Dabei streift er auch anderweitig Populäres, bis hin zum quasi „Rákóczi-Marsch“-Anklang. Innerhalb der Sätze nimmt die Häufigkeit von Substanzverpflanzungen mit Schockpotenzial nach der ersten Symphonie tendenziell ebenfalls zu. Weitere eigene Lieder erscheinen auf diese Weise als Substanz von Symphoniesätzen: „Des Antonius zu Padua Fischpredigt“ als Parabel auf die Vergeblichkeit idealistischer Bemühungen angesichts der abgestumpften Realität des Alltags trägt das Scherzo der zweiten Symphonie, das ebenfalls aus dem „Wunderhorn“ stammende Gleichnis vom toten Entertainer Kuckuck, der zur Freude der Waldbewohner nahtlos von der Frau Nachtigall abgelöst wird, auf dass die Gaudi weitergehen möge, ist das Material des Scherzoreigens der dritten Symphonie. Der in diesem Satz gestaltete Kontrast geschieht nun aber durch die „Posthornepisode“, deren Entrücktheit man auch als klangliche Realisierung einer ins Extrem gesteigerten Einfalt hören könnte, eine höchst unerwartete Verpflanzung jedenfalls auch dies. Im Fall der vierten Symphonie wird in besonders deutlicher Weise auch Material über Satzgrenzen hinweg verpflanzt: Schon gegen Ende des Adagios erscheint im Rahmen eines typischen „Durchbruchs“ triumphal, wenn auch nur kurz jenes Material, welches dann das als Finale auftretende „Wunderhorn“-Lied vom „himmlischen Leben“ bestimmt. Verpflanzungen können auch extrem kurz und kaum merklich auftreten, beispielsweise das unvermittelte, aber nicht krass kontrastierende Erscheinen einer Passage aus den „Kindertotenliedern“ im Adagio der vierten Symphonie. Dieser kunstvolle Variationensatz kann überhaupt als Reihung diesmal sehr behutsam verpflanzter Ausdrucksweisen gesehen werden. Verpflanzung kann bei Mahler nämlich auch Materialbezüge in wesentlich schwerer erkennbarer Form betreffen, vor allem im Hinblick auf die in der Literatur ausgiebig festgestellten Anklänge an „Rückert- und Kindertotenlieder“ in den Instrumentalsymphonien fünf und sechs. Prominentestes Beispiel dafür ist wohl das Adagietto (vierter Satz der fünften Symphonie) mit seiner ohrenfälligen Beziehung zum Rückertlied „Ich bin der Welt abhan-

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den gekommen“. Die Reihung verpflanzter Idiome bestimmt in besonderer Weise die beiden Nachtmusiken der siebenten Symphonie. Im Fall der Nachtmusik I, in der die Charakteristik des „Spaziergangs“ besonders nahegelegt wird, geschieht das auf der Basis eines ruhigen Marschidioms, im Fall der zweiten Nachtmusik im Kontext mit einem liedartigen Refrain. Beide Nachtmusiken umrahmen ein „schattenhaftes“ Scherzo, dessen zu sarkastischer Abgründigkeit und offener Brutalität gelangender Walzer erst in den Binnensätzen der neunten Symphonie übertroffen wird. Hier, in der Neunten, verpflanzt Mahler, der sich von Wien ja als Hofoperndirektor schon geraume Zeit verabschiedet hatte, genuin „wienerisches“ Material in den langsamen ersten Satz: „Freuet Euch des Lebens“, Walzer op. 340 von Johann Strauß.46 Gleichermaßen wahrscheinlich ist die Interpretation als eine ironische Reminiszenz an die eigene Jugend, somit an die erste Migration nach Wien (Strauß’ Walzer war dem 1870 neu eröffneten Musikvereinsgebäude gewidmet worden), wie als ein Hinweis für intensiv Suchende: Das Auftreten des Walzermaterials im zutiefst resignativen Kontext des Satzes lässt an diesbezüglicher Deutlichkeit wohl nichts zu wünschen übrig. Im Gegensatz zu früheren Verpflanzungen springt hier aber nichts sofort ins Ohr, es muss dieser musikalische Ortswechsel vielmehr erst analytisch herausdestilliert werden. Mahlers Reise als Migrant hatte viele Stationen. An der Oberfläche zeigt sich das Bild einer stetig und sehr konsequent verfolgten Karriere, die den Kapellmeister an die Spitze der renommiertesten Musikinstitution der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien brachte. Etwas darunter erscheinen die Zeugnisse der zunehmenden Belastung durch das von ihm früh beklagte „Theater-Höllenleben“47 auf den Stationen der Wanderung, verschärft durch wiederholte und zuweilen drastische Erfahrungen seiner gesellschaftlich mehrfach marginalisierten Position. Der Komponist, vielen zu seinen Lebzeiten als solcher kaum ein Begriff und vor allem in Wien nur wenigen ein auch mit seiner Musik Willkommener, wählt in seinen Werken immer wieder im Kontext ungewohnte Tonfälle und provokante Wendungen, verpflanzt Musiken in andere hinein. Dass sich die dabei verwendeten bekannten und oft „eigentlich“ populären Tonfälle zunehmend radikalisieren, zum Teil sogar brutalisieren, ist eine bewiesene Tatsache. Ob dafür auch die Erfahrung des lebenslangen Migranten ausschlaggebend war, muss freilich offen bleiben.

46 Stephen E. Hefling, „Freuet Euch des Lebens“: Die ängstlich erwartete „Neunte“, in: Reinhold Kubik/Thomas Trabitsch (Hrsg.), „leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener“. Gustav Mahler und Wien, Wien 2010, 185–190. 47 Oskar Pausch (Hrsg.), Die Ära Gustav Mahler. Wiener Hofoperndirektion 1897–1907, Wien 1997, 17.

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6. Waren die Migrationsgeschichten Erfolgsgeschichten?

Die Frage wird man schwer beantworten können. Einerseits sind die biografischen Fakten im Hinblick auf musikalische Karrieren eindrucksvoll: Operette und musikalische Unterhaltungsszene wären ohne den Beitrag der Musikmigranten und -migrantinnen genauso undenkbar wie alle anderen Sparten des Musiklebens der Jahrhundertwende. Wie an prominenten Beispielen dargestellt wurde, handelt es sich hier aber keineswegs um eine jahrhundertwendespezifische Entwicklung, die vielmehr ursächlich mit der rasanten Metropolenwerdung Wiens das 19. Jahrhundert hindurch und ihren kulturellen Begleiterscheinungen zusammenhängt. Freilich kann man um 1900 die Ausdifferenzierung dieses Musiklebens als bereits besonders fortgeschritten bezeichnen, eine Differenzierung, die eine Fülle von Chancen gerade auch für musikalische Migranten und Migrantinnen bot. Dass sich innerhalb dieser Szene auch musikalische Erscheinungsformen der die Monarchie bestimmenden kulturellen Vielfalt festsetzen konnten, darf wohl als selbstverständlich gelten, nicht zuletzt im Hinblick auf die Erwartungshaltung eines zunehmend sich vergrößernden Publikums, in dem Migrationserfahrungen verbreitet waren. Die Existenz einer diese Vielfalt durchgehend positiv im Sinn einer übernationalen Gesamtstaatsidee deutenden Rezeptionshaltung lässt sich zumindest für mich aus diesem Umstand aber nicht ableiten. Am Beispiel des Migranten Gustav Mahler, der in Wien um 1900 in doppelter Weise Innovationen gesetzt hat, kann eindrucksvoll gezeigt werden, wie wichtig der Beitrag von Migranten in der kulturellen Praxis sein konnte (man denke auch an Mahlers Team in der Hofoper). Im Hinblick auf die Innovationen Mahlers auf dem Feld der Komposition ist es immerhin möglich, auffällige Charakteristika auch mit der Migrationskategorie in Beziehung zu bringen. Der hypothetische Charakter dieser Überlegungen muss jedoch betont werden. Erfolg gibt es also häufig, im Hinblick auf ermöglichte und realisierte Karrieren, auf die Etablierung in unterschiedlichsten musikkulturellen Umgebungen. Ein zwiespältiger Befund zeigt sich aber im Hinblick auf die inhaltliche Seite: Aus den Erfolgsbiografien ist letztlich wohl nicht die Entstehung einer allgemein positiv gestimmten Mentalität im Sinn einer Hochschätzung von kultureller Vielfalt im Wien der Jahrhundertwende abzuleiten.

Thomas Olechowski

Von Georg Jellinek zu Hans Kelsen Ein Beitrag zur Geschichte der Staatsrechtslehre an der Universität Wien um 1900

In den Jahren um 1900 waren Wenzel Lustkandl, Edmund Bernatzik und Adolf Menzel als „ordentliche öffentliche Professoren“ die offiziellen Vertreter des Staatsrechts an der Universität Wien.1 Sie sollen in der vorliegenden Skizze nur am Rande Erwähnung finden, denn an Bedeutung wurden sie schon zu ihren Lebzeiten überragt von Georg Jellinek (1851–1911), welcher zumindest im deutschsprachigen Ausland geradezu als „der Vertreter des Staatsrechts aus Österreich“ galt.2 Dennoch hatte er es in Wien „nur“ zum außerordentlichen Professor gebracht, seine Bemühungen um eine ordentliche Professur waren gescheitert, worauf er 1891 nach Heidelberg gegangen war. Jellinek machte die philosophische Schule des Neukantianismus zur Grundlage seiner juristischen Arbeiten und schuf epochemachende Schriften, auf denen nicht zuletzt der junge Hans Kelsen (1881–1973), der zwischen 1907 und 1909 die Seminare Jellineks besucht hatte, aufbauen konnte. Im Todesjahr Jellineks habilitierte sich Kelsen an der Universität Wien und führte dessen Theorien gewissermaßen fort, wenn auch mit noch größerer Schärfe und Brillanz. Von 1919 bis 1930 war er als Nachfolger Bernatziks ordentlicher Professor des Staatsrechts an der Universität Wien und Mittelpunkt der „Wiener rechtstheoretischen Schule“, die unter ihrer zweiten Bezeichnung, der „Reinen Rechtslehre“, Weltruhm erlangte. Letztlich musste aber auch Kelsen angesichts des immer stärker werdenden Antisemitismus und der damit zusam

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Das Manuskript wurde im Mai 2013 abgeschlossen; die danach erschienene Literatur ist bei Thomas Olechowski/Tamara Ehs/Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938, Göttingen 2014, berücksichtigt; siehe dort auch für weitere Details. Einen enzyklopädischen Überblick über alle ordentlichen und außerordentlichen Professoren sowie die Privatdozenten des Staatsrechts bietet Robert Walter, Die Lehre des Verfassungs- und Verwaltungsrechts an der Universität Wien von 1810–1938, Juristische Blätter 10 (1988), 609–624. Die Einbettung in die Staatsrechtslehre des deutschsprachigen Raumes unternimmt Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, bes. 308ff. Das Zitat stammt aus einem Brief Georg Jellineks an seine Frau Camilla vom 7.8.1886, zit. nach Klaus Kempter, Die Jellineks 1820–1955. Eine familienbiographische Studie zum deutschjüdischen Bildungsbürgertum, Düsseldorf 1998, 244. Das Zitat zeugt von nicht geringem Selbstbewusstsein Jellineks, dürfte aber durchaus den Tatsachen entsprochen haben.

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menhängenden Anfeindungen gegen ihn das Handtuch werfen; 1930 verließ er Wien und ging nach Köln. Die erstaunlichen Parallelen in den Biografien von Jellinek und Kelsen sollen ebenso Gegenstand der vorliegenden Darstellung sein wie die Frage, inwieweit die Lehren des einen die des anderen geprägt haben. *** Adolf Jellinek (1820–1893), der aus Drslawitz (Drslavice) in Mähren stammende und als ­Rabbiner in Leipzig und Wien wirkende Vater Georg Jellineks, hatte ursprünglich den Namen Aron getragen, sich jedoch umbenannt, was ebenso als Zeichen seiner Assimilationsbereitschaft gesehen werden kann, wie dass er seinen Kindern durchwegs deutsche Namen – Georg, Emil, Charlotte und Paula – gab. Tief in jüdischer Philosophie und Überlieferung verwurzelt, gehörte Adolf (Aron) Jellinek doch dem liberal orientierten Zweig des Judentums an; zwar hatte er sich von seiner jüdisch-orthodoxen Herkunft emanzipiert, doch lehnte er auch nationaljüdische Bewegungen, wie sie etwa von den „Zionsfreunden“ ausgingen, vehement ab. 1841 ging er nach Leipzig, um dort zu studieren und predigte ab 1845 in der dortigen israelitischen Gemeinde, bis er 1856/57 nach Wien berufen wurde, wo er zunächst im „Leopoldstädter Gemeindetempel“ in der Tempelgasse und ab 1864 bis zu seinem Tod im „Stadttempel“ in der Seitenstettengasse lehrte.3 Georg Jellinek, Adolfs ältester Sohn, war am 16. Juni 1851 in Leipzig zur Welt gekommen, übersiedelte aber schon im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie nach Wien und besuchte dort das Akademische Gymnasium, das er 1867 mit der Matura abschloss. Danach nahm er das Studium der Rechte an der Universität Wien in Angriff.4 „Von diesen jedoch nicht befriedigt und von dem unbezwingbaren Triebe nach umfassenderer […] Bildung ergriffen“, wie Jellinek später schrieb, ging der junge Student in seine Geburtsstadt Leipzig zurück und betrieb dort vor allem philosophische Studien, „welchen letzten ich mit leidenschaftlicher Gluth oblag“.5 Prägend für ihn sollte dabei vor allem seine Begegnung mit dem jungen Privatdozenten Wilhelm Windelband (1848–1915) sein, einem der wichtigsten Vertreter des Neukantianismus, jener philosophischen Schule, die eben in jener Zeit sich anschickte, die Universitäten zu erobern und sie auch bis etwa 1914 beherrschte.6 Wie das Beispiel Jellinek zeigt, war der Neukantianismus aber nicht nur ein Steckenpferd der Fachphilosophen; er

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Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (Anton Gindely Reihe 4), Wien – Köln – Weimar 1999, 96ff.; Kempter, Die Jellineks, 25ff. Kempter, Die Jellineks, 154ff. Georg Jellinek, Curriculum vitae, undatiert (1879), in: AVA, Unterricht/Allgemeines, Karton 611, Personalakt Jellinek, fol. 49r–49v. Vgl. auch Gerhard Oberkofler, Studien zur Geschichte der österreichischen Rechtswissenschaft, Frankfurt u.a. 1984, 427. Manfred Pascher, Einführung in den Neukantianismus (UTB 1962), München 1997, 7.

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entwickelte sich zu einer disziplinenübergreifenden Erkenntnistheorie und wurde so zur Wissenschaftstheorie zahlreicher Fächer, darunter auch der Rechtswissenschaften.7 1872 promovierte Jellinek auf Grundlage seiner Dissertation „Die Weltanschauungen Leibniz’ und Schopenhauers. Eine Studie über Optimismus und Pessimismus“ zum Dr. phil. in Leipzig und kehrte ein Jahr später nach Wien zurück, wo er 1874 sein zweites, juridisches Doktorat (für welches nach der damaligen Studienordnung keine Dissertation erforderlich war) machte. Nach erneuten Studienaufenthalten in Leipzig und auch in Göttingen trat er im Dezember 1874 in den österreichischen Staatsdienst ein und wurde zunächst „Concepts-Practicant“ bei der niederösterreichischen Statthalterei, versuchte aber, daneben weiter wissenschaftlich tätig zu sein. Die Folge war das, was wir heute als „Burn-out“ bezeichnen würden; er selbst sprach von „überhand nehmender Nervosität“,8 die ihn dazu zwang, im Jänner 1876 seine Stellung aufzugeben. Erst nach längerer Rekonvaleszenz konnte er daran gehen, sich an der Universität Wien zu habilitieren und veröffentlichte 1878 eine Monografie über „Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe“.9 Berühmtheit sollte diese Arbeit insbesondere durch die darin enthaltene Ansicht Jellineks erlangen: „Das Recht ist nichts Anderes, als das ethische Minimum“;10 wissenschaftsgeschichtlich ist sie nicht zuletzt deshalb interessant, weil sie sich noch weitgehend im Rahmen des damals an der philosophischen Fakultät vorherrschenden wissenschaftlichen Positivismus bewegte und noch kaum neukantianischen Einfluss zeigte.11 Jellinek selbst war allerdings der Ansicht, dass er sich nicht in der „Tretmühle“ der herkömmlichen Philosophie bewegt, sondern neue Bahnen beschritten habe. Die „unglaubliche Intoleranz“ allerdings, die er bei den Professoren der philosophischen Fakultät gegenüber „jedem der nicht in ihren Bahnen wandelt“ befürchtete, bewog ihn, seine Schrift nicht dort, sondern an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät einzureichen, um sich für das Fach Rechtsphilosophie zu habilitieren. Aber auch dort stieß er auf Widerstand: Die Juristen acceptirten vor einigen Wochen mein ihnen im Manuscripte vorligendes Werkchen, der Tag und Gegenstand der Probevorlesung war bereits bestimmt, als mir mit einemale das gänzlich unmotivierte Ansinnen des Collegiums mitgetheilt wird, auf irgend einem jurischem Gebiete Specialkenntnisse nachzuweisen.12 7

Oliver Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: Stanley L. Paulson/Martin Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, Tübingen 2000, 309–343, hier: 311. 8 Georg Jellinek, Brief an Victor Ehrenberg vom 19. 8. 1875, in: Christian Keller, Victor Ehrenberg und Georg Jellinek. Briefwechsel 1872–1911, Frankfurt am Main 2005, 247f. 9 Georg Jellinek, Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, Wien 1878. 10 Jellinek, Socialethische Bedeutung, 42. 11 Kempter, Die Jellineks, 192. 12 Georg Jellinek, Schreiben an Victor Ehrenberg vom 26.7.1878, in: Keller, Briefwechsel, 278.

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Er selbst schrieb dies v. a. seinem Auftreten vor dem Fakultätskollegium zu, bei dem er namentlich mit dem Strafrechtler Wilhelm Wahlberg zusammengestoßen war. Aber die Vorbehalte der Fakultät können auch rein sachliche gewesen sein: Die Rechtsphilosophie, die das juristische Studium bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ganz beherrscht hatte, war mit der Thunschen Studienreform von 1855 fast zur Gänze eliminiert worden. Unterrichtsminister Leo Graf Thun hatte dem „verseichtigten Kantianismus“, der seiner Ansicht nach an der vormärzlichen Universität gelehrt worden war, einen erheblichen Anteil am Ausbruch der Märzrevolution 1848 zugesprochen und die Rechtsgeschichte anstelle der Rechtsphilosophie an den Beginn des juristischen Studiums geschoben.13 Er hatte damit die aus Deutschland stammende „Historische Rechtsschule“ erfolgreich nach Österreich importiert, eine historistische Strömung, die letztlich auf einem wissenschaftlichen Positivismus basierte und rechtsphilosophischen „Speculationen“ wenig Raum bot.14 Angesichts dessen ist es durchaus nachvollziehbar, dass allein dem Ansinnen Jellineks, sich mit einer rechtsphilosophischen Arbeit an der juristischen Fakultät zu habilitieren, mit Skepsis begegnet wurde. Jellinek war aufgebracht und erwog, Wien den Rücken zu kehren. Sein Freund Windelband, mittlerweile Professor in Freiburg im Breisgau, bot ihm an, ebenfalls in Freiburg – allerdings ohne Bezahlung – zu unterrichten, was Jellinek letztlich ausschlug, stattdessen einen längeren Aufsatz über „Die Klassifikation des Unrechts“ schrieb, diesen als Ergänzung seiner Habilitationsschrift an der Wiener Fakultät einreichte und letztlich, am 1. Juni 1879, für das Fach Rechtsphilosophie habilitiert wurde.15 Es war dies der mühevolle Einstieg in eine akademische Karriere, die auch sonst von Rückschlägen nicht frei war. Und Georg Jellinek wird in seiner Einschätzung, dass (neben sachlichen) auch persönliche Gründe dafür ausschlaggebend waren, durchaus recht gehabt haben; bemerkenswert ist eigentlich nur, dass er nicht schon damals auf die Idee kam, dass dies mit seiner Herkunft zu tun haben könnte. Denn etwa zur selben Zeit, zu der sich Jellinek letztlich erfolgreich an der Universität Wien habilitierte, tauchte ein neues Wort in der deutschen Sprache auf: Antisemitismus. Judenhass war nichts Neues in einer Stadt, die schon 1421 ihre erste jüdische Gemeinde ausgelöscht hatte.16 Aber der mittelalterliche Judenhass war primär 13 Vgl. näher Werner Ogris, Die Universitätsreform des Ministers Leo Graf Thun-Hohenstein, in: Thomas Olechowski (Hrsg.), Werner Ogris, Elemente Europäischer Rechtskultur, Wien – Köln – Weimar 2003, 333–344; Thomas Olechowski, Zweihundert Jahre österreichisches Rechtsstudium, in: Clemens Jabloner et al. (Hrsg.), Vom praktischen Wert der Methode. Festschrift Heinz Mayer zum 65. Geburtstag, Wien 2011, 455–479, hier: 460f. 14 Stolleis, Geschichte II, 330f. 15 AVA, Unterricht/Allgemeines, Karton 611, Personalakt Jellinek, Schreiben des Dekans an das Unterrichtsministerium vom 30.6.1879; Kempter, Die Jellineks, 196f. 16 Vgl. zum Nachfolgenden statt vieler: Hans Tietze, Die Juden Wiens, 1933, hier zit. nach der 2. Auflage des Neudrucks 2008, 34ff.; Wistrich, Die Juden Wiens, 171ff.

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religiös motiviert gewesen: „Taufe – oder Tod!“ hatte damals die Devise geheißen. Aus diesem Grund war der wenigstens formale Übertritt zum Christentum schon seit Jahrhunderten ein probates Mittel gewesen, um den Diskriminierungen zu entgehen und Karriere machen zu können. Für Juristen war die Taufe geradezu ein Muss: Denn nur wer Christ war, konnte zur Prüfung aus Kirchenrecht antreten, und diese war unverzichtbarer Bestandteil der Juristenausbildung. Daher war es eine übliche Praxis unter jüdischen Jusstudenten, sich noch kurz vor Abschluss ihrer Studien taufen zu lassen, eine Praxis, die auch beibehalten wurde, als diese diskriminierende Bestimmung 1872 aufgehoben und nun auch jüdische Studenten zur Kirchenrechtsprüfung zugelassen wurden.17 Gerade diese Praxis aber und letztlich die geringe(re) Bedeutung der Taufe, die aus ihr ersichtlich wurde, bewirkte eine Transformation des Antijudaismus.18 Die religiösen wichen „rassischen“ Argumenten, gipfelten in der Behauptung von einer angeblichen Minderwertigkeit der „jüdischen Rasse“ und führten nun dazu, dass sich der Judenhass rühmen konnte, wissenschaftlich fundiert und objektiv belegbar zu sein.19 Vor allem aber: Die Eigenschaft als Jude wurde als angeboren angesehen; man könne sie auch durch noch so viele Religionswechsel niemals ablegen. Bei Georg Jellinek, dessen akademische Karriere an der Universität Wien gerade in die Anfangsjahre des Antisemitismus fiel,20 war die Sachlage freilich besonders: Als Sohn des stadtbekannten Rabbiners war ihm ein Religionswechsel praktisch unmöglich und hätte wohl auch kaum eine weltliche Wirkung gehabt; bis zum Tod seines Vaters hielt er daher 17 Vgl. dazu Anna L. Staudacher, Zwischen Emanzipation und Assimilation. Jüdische Juristen im Wien des Fin-de-Siècle, in: Robert Walter/Werner Ogris/Thomas Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 32), Wien 2009, 41–53; Olechowski, Rechtsstudium, 465. 18 Vgl. dazu etwa Tietze, Die Juden Wiens 230; Ludger Heid, Wir sind und wollen nur Deutsche sein! Jüdische Emanzipation und Judenfeindlichkeit 1750–1880, in: Christina von Braun/Ludger Heid (Hrsg.), Der ewige Judenhass. Christlicher Antijudaismus. Deutschnationale Judenfeindlichkeit. Rassistischer Antisemitismus, 2. Auflage, Berlin – Wien 2000, 70–109, hier: 77. Eine Parallele zu diesem Phänomen findet sich in der frühen Neuzeit, als im Zusammenhang mit dem Abschluss der Reconquista etwa die Hälfte der spanischen Juden zum christlichen Glauben übertrat und dennoch verfolgt wurde: Christina von Braun, Und der Feind ist Fleisch geworden. Der rassistische Antisemitismus, in: Braun/Heid, Der ewige Judenhass, 149–213, bes. 154f. 19 Besonders fatal wirkte sich hier aus, dass der Antisemitismus schon sehr früh an den Universitäten Platz griff und von hier aus auf die öffentliche Meinung einwirkte. Schon 1876 hatte der berühmte Chirurg Theodor Billroth erklärt, dass ein Jude niemals ein Deutscher werden könne: Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus, dt. Ausgabe Wien 1993, 64ff.; Wistrich, Die Juden Wiens, 179. 20 Als Erfinder des Wortes „Antisemitismus“ gilt der deutsche Journalist Wilhelm Marr, der 1879 in Berlin die „Antisemitenliga“ gründete: Pauley, Antisemitismus 62; Braun, Und der Feind ist Fleisch geworden 176f.

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auch an dessen Religion fest. Seine juridische Promotion 1874 zählte damit zu den allerersten, die an Juden in Wien vorgenommen wurden. Und nun gar die Habilitation! Aber noch hatte es sich um ein Randfach, die Rechtsphilosophie, gehandelt, da wogen die antijüdischen Vorbehalte offenbar noch nicht so schwer. Anders war die Lage jedoch, als Jellinek 1882 erneut an die Fakultät herantrat mit dem Ansuchen, sich auch für Völkerrecht zu habilitieren, ja sogar ein Extraordinariat für Völkerrecht zu erlangen. „Seltsam wäre es doch, wenn das Völkerrecht der christlich europäischen Staatengemeinschaft an der Wiener Universität keinen anderen Interpreten fände als einen israelitischen“, hieß es da in der Zeitung Das Vaterland.21 Grundlage für diesen neuen Karriereschritt sollte Jellineks 1882 veröffentlichte Monografie über „Die Lehre von den Staatenverbindungen“ werden, in der er den verschiedenen Theorien zu Bundesstaat und Staatenbund nachging, die gerade in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie von besonders großer praktischer Bedeutung waren. Kein Geringerer als der Präsident des k. k. Reichsgerichts, Joseph Unger (er selbst hatte seinerzeit noch die Taufe empfangen müssen, um zum Doctor iuris promoviert werden zu können),22 war auf den jungen Dozenten aufmerksam geworden und hatte ihn zu einem Besuch eingeladen, anlässlich dessen er ihm eine große Karriere prophezeite und ihm seine Unterstützung versprach – keine drei Monate später, am 19. Mai 1882, beschloss das Fakultätskollegium die Erweiterung von Jellineks venia legendi um das Völkerrecht.23 Und als wenige Monate später der Völkerrechts­ professor Leopold v. Neumann emeritierte, beantragte die Fakultät die Ernennung Jellineks – ausgerechnet aufgrund eines Referates von Wahlberg – zum außerordentlichen Professor für Völkerrecht.24 Mit Rücksicht auf die oben geschilderte politische Stimmung schreckte das Ministerium aber vor einem solchen Schritt zurück und ernannte Jellinek stattdessen zum außerordentlichen Professor für Staatsrecht, allerdings verbunden mit der Verpflichtung, Lehrveranstaltungen nicht über Staatsrecht, sondern über Völkerrecht abzuhalten.25

21 Das Vaterland, Nr. 127 vom 10.5.1883, 5; vgl. Kempter, Die Jellineks, 238. In bemerkenswerter Offenheit wurde dieser Umstand auch beim Vortrag des Ministers Gautsch vom 22. 8. 1889 anlässlich des Abganges von Jellinek aus Wien thematisiert; vgl. Oberkofler, Studien, 428. 22 Vgl. zu ihm Thomas Olechowski, Die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich, Wien 1999, 103–105. 23 AVA, Unterricht/Allgemeines, Karton 611, Personalakt Jellinek, Schreiben des Dekans an das Unterrichtsministerium vom 22.5.1882; Kempter, Die Jellineks 196f.; Keller, Briefwechsel 49. 24 Oberkofler, Studien, 428; Kempter, Die Jellineks, 238. 25 Allerhöchste Entschließung vom 9.6.1882; vgl. Kempter, Die Jellineks, 238f.

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Mit dieser echt österreichischen Lösung26 war Jellinek an den Gipfel dessen gelangt, was für ihn in Wien erreichbar war. Er machte sich nun zwar mit Energie daran, eine ordentliche Professur an der Universität Wien zu erlangen, und seine Monografie über „Gesetz und Verordnung“ erhielt in der Fachwelt viel Anerkennung, doch es kam für die Ernennung auf ein Ordinariat eben nicht nur auf die fachliche Qualifikation an. Im Fakultätskollegium waren ihm vor allem die Ordinarien Carl Samuel Grünhut und Adolf Exner gewogen und Letzterer brachte im Juni 1887 auch einen offiziellen Antrag auf Jellineks Ernennung ein, der aber im Kollegium „eine sehr gemischte Resonanz“ fand.27 Ferner aktivierte Joseph Unger die Kontakte, die er als ehemaliger Minister besaß, um beim amtierenden Unterrichtsminister Paul Gautsch v. Frankenthurn Jellineks Ernennung zu bewirken, welche dieser auch für das Sommersemester 1888 zusagte, dieses Versprechen aber nicht einhielt, denn von der Gegenseite hatte sich massiver Widerstand formiert. Angeblich hatte die Regierung erklärt, dass „wichtige Lehrstellen nur mit Genehmigung der Bischöfe besetzt werden sollen“. Nun machte sich gerade zu jener Zeit Kronprinz Rudolf für die Ernennung des jüdischen Anatomen Emil Zuckerkandl zum Ordinarius an der medizinischen Fakultät stark – was Georg Jellinek zu der realistischen Einschätzung führte: „Zwei Juden auf einmal, das ist zuviel.“28 Dabei musste Georg Jellinek einmal mehr unter der Prominenz seines Vaters leiden: Adolf Jellinek hatte nämlich energisch gegen die Pläne des katholisch-konservativen Abgeordneten Alois Fürst Liechtenstein zur Rekonfessionalisierung des Schulwesens protestiert, worauf Liechtenstein die Ernennung des jüngeren Jellinek zu verhindern suchte. Das Problem wurde sogar auf dem Zweiten allgemeinen Österreichischen Katholikentag, der von April bis Mai 1889 in Wien stattfand, verhandelt, auf dem man in einer Resolution festhielt, dass das Völkerrecht an den österreichischen Universitäten von christlichen Lehrern vertreten werden müsse!29 Es ist wohl kein Zufall, dass Adolf Jellinek gerade zu jener Zeit in mehreren Zeitschriftenartikeln das Problem thematisierte, dass jüdische Wissenschaftler einer großen „Versuchung“ ausgesetzt seien, sich taufen zu lassen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sein Sohn sich damals ernsthaft mit diesem Gedanken herumtrug; an seinen Vater Adolf schrieb

26 Das Vaterland, Nr. 164 vom 17.6.1883, 5, kommentierte dies wie folgt: „Abermals hat David den Goliath erschlagen.“ 27 Kempter, Die Jellineks, 245. 28 Georg Jellinek, Brief an seine Frau Camilla Jellinek vom 18.6.1888, zit. nach Kempter, Die Jellineks, 246. 29 Das Vaterland, Nr. 119 vom 2.5.1889, 5. Die entsprechende Passage findet sich schon im Antrag des Schulausschusses, der vom Reichsratsabgeordneten Viktor v. Fuchs in der Sitzung vom 1.5. verlesen wurde; sie wurde ohne Diskussion angenommen: Verhandlungen des II. Allgemeinen Österreichischen Katholikentages für die Gesammte Monarchie zu Wien am 29. und 30. April, 1. und 2. Mai 1889, Bd. 2, Wien 1889, 30 und 51.

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er: „Heute regiert Prinz Alois Liechtenstein.“30 Noch gab Georg Jellinek nicht auf, verlangte schriftlich vom Unterrichtsminister, die bereits zugesagte Ernennung zu veranlassen. Aber im Sommer 1889 wurde der Tiroler Heinrich Lammasch zum Professor des Strafrechts und des Völkerrechts ernannt, was Jellinek wie folgt kommentierte: „Damit bin ich ipso iure aus einer Lehrkanzel gedrängt, die ich seit sechs Jahren unter der meinigen versah, ohne ein Wort der Anerkennung, ohne daß mir die geringste Compensation geboten worden wäre. So wollte es der Katholikentag, so hat es der Minister ausgeführt.“31 Georg Jellinek zog die Konsequenzen und reichte am 14. August 1889 sein Abschiedsgesuch beim Minister ein. Ausdrücklich schrieb er, dass seine Position in Wien durch die Ernennung Lammaschs „unhaltbar“ und seine akademische Laufbahn in Wien „aus mir nicht bekannten Gründen aussichtslos“ geworden sei.32 Das Gesuch wurde von Gautsch zwei Wochen später angenommen. Die Vorgänge an der Universität Wien hatten auch in der ausländischen Presse Schlagzeilen gemacht, doch während die liberale Nationalzeitung großes Verständnis für die Situation Jellineks zeigte, reagierte die konservative Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung mit Häme: „Die Wiener alma mater ist ohnehin in geradezu unerhörter Weise von Semiten okkupiert, da nahezu ein Drittheil der Professoren und Dozenten bereits dem auserwählten Volke angehören.“33 Dennoch – oder gerade deshalb – war das Ausland bereit, Jellinek zu helfen: Auf Vorschlag des Nationalökonomen Lujo Brentano reichte Jellinek an der Universität Berlin ein Habilitationsgesuch ein, das in einem „Schnellverfahren“ positiv erledigt wurde; noch im Dezember 1889 nahm er einen Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Basel an.34 1891 folgte die Berufung an die Universität Heidelberg, wo er zwanzig Jahre lang als ordentlicher Professor für Staatsrecht, Völkerrecht und Politik wirkte. Hier erschienen seine beiden bedeutendsten Werke: 1892 das „System der subjektiven öffentlichen Rechte“, 1900 seine „Allgemeine Staatslehre“. 1894 schien es noch einmal, als sei eine Aussöhnung mit der Universität Wien möglich: Die neue Studienordnung für das Studium der Rechtswissenschaften sah eine deutliche Aufwertung des Staatsrechts vor, weshalb zwei neue Lehrkanzeln für dieses Fach geschaffen 30 Georg Jellinek, Brief an seinen Vater Adolf Jellinek vom 20.7.1888, zit. nach Kempter, Die Jellineks, 247. 31 Georg Jellinek, Brief an Victor Ehrenberg vom 9.8.1889, in: Keller, Briefwechsel 352f.; vgl. auch Walter, Lehre 615; Stolleis, Geschichte II, 450. 32 Text bei: Oberkofler, Studien, 427. 33 Zit. nach Kempter, Die Jellineks, 255. Vgl. zum jüdischen Anteil an der Universität Wien Wistrich, Die Juden Wiens, 179; Staudacher, Emanzipation, 45; zur Charakteristik der beiden genannten Zeitungen Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, Köln – Weimar – Wien 2000, 262. 34 Kempter, Die Jellineks, 255.

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wurden.35 Während die eine mit Wenzel Lustkandl besetzt wurde, der schon bisher als außerordentlicher Professor das Staatsrecht in Wien gelesen hatte, sollte die zweite Professur an einen auswärtigen Professor gehen, und hier nominierte die Berufungskommission pari passu Edmund Bernatzik, Georg Jellinek, Hermann Rehm und Joseph Ulbrich. Gegen diesen Vorschlag, und insbesondere gegen die Nennung Jellineks und Rehms, wandte sich nun aber der neue Völkerrechtsprofessor Lammasch: Er behauptete nicht nur, dass Jellineks Hauptleistungen nur das allgemeine, nicht das österreichische Staatsrecht beträfen,36 sondern erinnerte auch daran, dass der Abgang Jellineks 1889 in einer „durch rechtfertigende Gründe nicht motivirten, für die hohe Unterrichtsverwaltung wie für die Wiener Universität verletzenden“ Art und Weise erfolgt war.37 Damit konnte er es letztlich erreichen, dass Jellinek nur an die zweite Stelle des Besetzungsvorschlages gereiht wurde und schließlich der Erstgereihte, Edmund Bernatzik, zum Zug kam. Bernatzik wurde 1854 in Mistelbach in Niederösterreich geboren und hatte in Wien und Graz studiert. Ein Studienaufenthalt in Straßburg brachte ihn mit den beiden bedeutendsten Vertretern des Positivismus im Staats- und Verwaltungsrecht, Paul Laband und Otto Mayer, in Kontakt.38 1886 habilitierte er sich mit einer Monografie über „Rechtsprechung und materielle Rechtskraft“, in der er insbesondere Lehren des Zivilprozessrechts auch auf das Verwaltungsrecht übertrug und so einen wertvollen Beitrag zum Ausbau des österreichischen Rechtsstaats lieferte. 1891 wurde er – als Nachfolger Jellineks – nach Basel berufen; von 1894 bis zu seinem Tod 1919 lehrte er als ordentlicher Professor Staatsrecht an der Universität Wien.39 Wie Kelsen später berichtete, war Bernatzik „im grossen und ganzen ein Liberaler des 19. Jahrhunderts“ und auch kein Antisemit, fürchtete jedoch den Antisemitismus an der Wiener Fakultät.40 Dieser hatte mit den Wiener Gemeinderatswahlen 1895, die Karl Lueger einen sensationellen Sieg beschert hatten, neuen Auftrieb bekommen. Fast zur selben Zeit fanden an der Universität Wien Rektorswahlen statt und nach den bisherigen Usancen hätte Jellineks 35 Stolleis, Geschichte II, 307; Oberkofler, Studien, 429. 36 Die Abschnitte zum österreichischen Staatsrecht, die sich etwa in Jellineks „System der subjektiven öffentlichen Rechte“ befanden, wurden von Lammasch mit wenigen Bemerkungen weggewischt. Die Broschüre „Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich“, auf die weiter unten noch ausführlich einzugehen ist, wurde von ihm völlig ignoriert. 37 Heinrich Lammasch, Separatvotum vom 22.2.1894, abgedruckt bei Oberkofler, Studien, 431–436, hier: 433. 38 Vgl. zu dem von ihnen vertretenen (sog. älteren) Positivismus Stolleis, Geschichte II, 341ff., 403ff. 39 Walter, Lehre, 617; Gernot D. Hasiba, Edmund Bernatzik (1854–1919). Begründer der Theorie des österreichischen Verwaltungsrechtes, in: Helfried Valentinitsch (Hrsg.), Festschrift für Gernot Kocher zum 60. Geburtstag, Graz 2002, 93–109. 40 Hans Kelsen, Autobiographie, in: Matthias Jestaedt, Hans Kelsen Werke 1, Tübingen 2007, 29–91, hier: 40.

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einstiger Gönner, Samuel Grünhut, zum neuen Rektor gewählt werden müssen. Dieser hatte zwar schon vorab beschlossen, eine eventuelle Wahl nicht anzunehmen, um die antisemitische Stimmung in Wien nicht weiter anzuheizen, aber dazu kam es nicht: Anstelle von Grünhut wurde der Zivilprozessualist Anton Menger zum neuen Rektor gewählt. Bernatzik, der mit Jellinek freundschaftlich verbunden war, berichtete diesem brieflich über die Vorgänge an der Fakultät. Er beschrieb die immer stärkere Spannung zwischen den beiden „Elementen“ an der Universität und erklärte, dass die jüdischen Lehrer und Studenten immer weiter in die Isolation gerieten. Bernatzik hatte ganz offensichtlich Angst vor einer Eskalation und ermahnte insbesondere die jüdischen Studenten, keinen Anlass für Auseinandersetzungen mit ihren deutschnationalen Kommilitonen zu geben.41 Georg Jellinek blieb von diesen Ereignissen unberührt; seit der gescheiterten Berufung 1894 waren alle Aussichten auf eine Rückkehr nach Wien chancenlos. Zwar publizierte er noch von Heidelberg aus zu österreichischen Verfassungsproblemen – so etwa 1906 zur bevorstehenden Reform des österreichischen Herrenhauses –, doch Deutschland war ihm zur neuen Heimat geworden. Im März 1910 trat er gemeinsam mit seiner Frau zum Luthertum über, möglicherweise, um gemeinsam mit den Kindern begraben werden zu können, welche die Taufe schon früher empfangen hatten. Es erfolgte dies möglicherweise in Vorahnung seines nahenden Todes: Zehn Monate später, am 12. Jänner 1911, starb Georg Jellinek an einem Schlaganfall.42 *** Adolf Kelsen (1850–1907), der aus Brody in Galizien stammende Vater Hans Kelsens,43 hatte ursprünglich die Vornamen Abraham Litmann getragen. Die Gründe für seine Umbenennung dürften ähnliche wie die bei Adolf Jellinek gewesen sein; und auch er gab seinen Kindern durchwegs deutsche Vornamen: Hans, Ernst, Gertrude und Paul Fritz. Im Gegensatz jedoch zu Adolf Jellinek war Adolf Kelsen kein tiefreligiöser Mensch, sondern Mitglied der Freimaurerloge „Humanitas“, weshalb wohl auch sein Erstgeborener keine besonders religiöse Erziehung genoss. Im Gegensatz zu Georg Jellinek war es daher für Hans Kelsen möglich, dem vorhin erwähnten Brauch unter jüdischen Jusstudenten zu folgen und kurz vor Ablegung der Rigorosen die Taufe zu empfangen.44 41 Kempter, Die Jellineks, 293. 42 Ebd., 381. Camilla Jellinek, geb. Wertheim, war kurz vor der Eheschließung 1883 aus der katholischen Kirche ausgetreten, ohne aber der Israelitischen Kultusgemeinde beizutreten, vgl. ebd., 239. 43 Börries Kuzmany, Juden in Brody. Das soziale, wirtschaftliche und geistige Umfeld der Vorfahren Kelsens, in: Walter/Ogris/Olechowski (Hrsg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, 9–20. 44 Thomas Olechowski, Über die Herkunft Hans Kelsens, in: Tiziana Chiusi/Thomas Gergen/Heike Jung (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70.

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Geboren wurde Hans Kelsen am 11. Oktober 1881 in Prag, wohin seine Eltern schon bald nach ihrer Eheschließung im Leopoldstädter Gemeindetempel gezogen waren. Adolf Kelsen, der im Alter von 14 Jahren nach Wien gekommen war und dort das Gürtlerhandwerk erlernt hatte, plante, in der Goldenen Stadt an der Moldau einen Handel mit Installateurbedarf aufzuziehen. Doch hatte er damit kein Glück; nach einer Reihe wirtschaftlicher Rückschläge und Konflikten mit den Behörden kehrte die Familie 1885 nach Wien zurück, wo Adolf Kelsen eine kleine Bronzelusterfabrik gründete.45 Im Gegensatz zu christlichen Familien, in denen in der Regel der älteste Sohn das Geschäft des Vaters übernahm, war diese Aufgabe im Hause Kelsen dem zweiten Sohn Ernst zugedacht; der älteste sollte hingegen, in Abwandlung einer jüdischen Tradition, Akademiker werden, um den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie fortzusetzen. Trotz bestenfalls mittelmäßiger Leistungen in der Volksschule meldete Adolf Kelsen daher seinen Sohn Hans im Akademischen Gymnasium an, wo schon Joseph Unger, Georg Jellinek und viele andere spätere Gelehrte zur Schule gegangen waren und wo auch Hans Kelsen im Juli 1900 maturierte.46 In seiner Schulzeit lernte Kelsen den nur zwei Jahre älteren Otto Weininger kennen, jenen (nach Aussagen Sigmund Freuds) „hochbegabte[n]“, aber „sexuell gestörte[n] Philosophen“,47 der 1903, im Alter von 23 Jahren, sein einziges Buch „Geschlecht und Charakter“48 veröffentlichte und fast unmittelbar darauf Selbstmord beging. Weiningers Persönlichkeit hat den jungen Kelsen, wie dieser selbst mehrmals betonte, nachhaltig geprägt, wobei freilich nicht davon auszugehen ist, dass Weiningers (auch gegen sich selbst gerichteter) Antisemitismus oder seine Frauenfeindlichkeit von Kelsen übernommen wurden.49 Diese Haltungen, die vielfach Weiningers Buch „Geschlecht und Charakter“ durchziehen und ihm stellenweise geradezu groteske Züge verleihen, verschleiern den Umstand, dass Weininger über messerscharfen Intellekt, umfassende Bildung und erstaunliche Fremdsprachenkompetenz verfügte.50 Wenn

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Geburtstag (Schriften zur Rechtsgeschichte 139), Berlin 2008, 849–863; Petr Kreuz, Zu den Prager Wurzeln Hans Kelsens, in Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 21–40; Staudacher, Emanzipation, 46. Olechowski, Herkunft, 860; Gerhard Murauer, Lebensspuren. Umrisse einer österreichischen Biografie, in: Hans Kelsen und die Bundesverfassung. Katalog Nr. 17 zur Ausstellung im Bezirksmuseum Josefstadt, Wien 2010, 17–25, hier: 19. Robert Winter, Das Akademische Gymnasium in Wien: Vergangenheit und Gegenwart, Wien 1996; Rudolf A. Métall, Hans Kelsen. Leben und Werk, Wien 1969, 4; Murauer, Lebensspuren 21. Sigmund Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, Wien 1909, Neudruck Frankfurt am Main 1980, 68. Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, Wien 1903, Nachdruck München 1980. Vgl. zu den Verbindungen von Antisemitismus und Antifeminismus auch Gudrun Hentges, Der (Einzel-)Fall Otto Weininger?, in: Gudrun Hentges/Guy Kempfert/Reinhard Kühnl (Hrsg.), Antisemitismus. Geschichte – Interessenstruktur – Aktualität, Heilbronn 1995, 91–114. Eine genauere Textanalyse zeigt, dass die antisemitischen und frauenfeindlichen Passagen erst spät

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jedenfalls Kelsen davon schreibt, dass er „[u]nter dem Einfluss eines aelteren Freundes“ noch in der Schulzeit damit begann, zunächst Schopenhauer, dann auch Kant zu lesen,51 so dürfen wir davon ausgehen, dass es sich bei diesem Freund um Weininger handelte. Kelsen hatte ursprünglich vor, so wie Weininger Philosophie zu studieren, kam davon aber vor allem aus praktischen Erwägungen wieder ab: „Wer Philosophie studierte wurde Mittelschullehrer; und diesen Beruf hatte mir meine Gymnasialerfahrung so gruendlich verleidet, dass ich mich entschloss Jura zu studieren mit der wahrscheinlichen Aussicht Rechtsanwalt, aber in der stillen Hoffnung Richter zu werden.“52 Die Begeisterung, an der es ihm schon bei der Wahl des Studiums mangelte, konnte auch von den Professoren, denen er in den ersten Semestern begegnete, nicht geweckt werden. Erst im Sommersemester 1903, also gerade zur Zeit von Weiningers Suizid, hörte Kelsen mit großem Interesse eine Vorlesung aus „Geschichte der Rechtsphilosophie“, die vom Extraordinarius Leo Strisower vorgetragen wurde.53 Kelsen fragte ihn einmal, weshalb er eine Geschichte der Rechtsphilosophie und nicht Rechtsphilosophie schlechthin lese, worauf ihm dieser entgegnete, dass es eine solche nicht gebe54 – eine überspitzte, aber mit Blick auf die damalige Wissenschaftslandschaft nicht jeder Grundlage entbehrende Behauptung. Angeregt durch diese Vorlesung und auch unter dem Eindruck des postumen Erfolges von Weiningers Buch beschloss Kelsen noch als Student, eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben, und zwar über „Die Staatslehre des Dante Alighieri“. Zu Kelsens eigener Überraschung wurde diese Schrift von Edmund Bernatzik zum Druck angenommen und 1905, noch bevor Kelsen das Studium vollendet hatte, in den „Wiener staatswissenschaftlichen Studien“ veröffentlicht.55 Kelsen hat in seiner 1947 verfassten, erst postum veröffentlichten Autobiografie über keinen seiner Lehrer, auch nicht über Bernatzik, viel Gutes berichtet: Letzterer habe seit seiner eigenen Habilitationsschrift kaum noch Bedeutendes geschrieben und verfüge auch über kei-

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in das Gesamtwerk eingebaut wurden; die 1901 abgeschlossene Dissertation „Eros und Psyche“, die den Grundstock für das spätere Buch „Geschlecht und Charakter“ gab, war noch weitgehend frei von ihnen. Vgl. David Luft, Otto Weininger als Figur des Fin de siècle, in: Jacques Le Rider/ Norbert Leser (Hrsg.), Otto Weininger. Werk und Wirkung (Quellen und Studien zur österreichischen Geistesgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert 5), Wien 1984, 71–79, 73; Wistrich, Die Juden Wiens, 425. Kelsen, Autobiographie, 33. Ebd., 34. Vgl. dazu und zum Folgenden: Thomas Olechowski, Hans Kelsen und die Universität Wien, in: Hans Kelsen und die Bundesverfassung, 33–39, hier: 33. Thomas Olechowski, Strisower Leo, in: ÖBL, 62. Lieferung, Wien 2010, 405f. Hans Kelsen, Interview mit Heinz Keinert Anfang Juli 1968, Tonband und Abschrift im Besitz des Hans Kelsen-Instituts. Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri, Wien – Leipzig 1905, Neudruck in: Hans Kelsen Werke 1, 134–300; vgl. auch Métall, Kelsen, 7.

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nerlei Kenntnisse der neueren Literatur. Kelsen attestierte ihm „grossen Scharfsinn“, aber auch „beißende Ironie“; in seinen Seminaren lernte man zwar nicht besonders viel, doch war der Unterhaltungswert groß. Eine Aussage, die man Kelsen nicht leicht abnimmt, wenn er gleich darauf schreibt, dass ihm in ebendiesem Seminar der Entschluss reifte, sich nach Abschluss seines Studiums – Kelsen promovierte am 18. Mai 1906 – an der Universität Wien für Staatsrecht zu habilitieren.56 Eher ist davon auszugehen, dass Kelsen von Bernatzik zunächst begeistert war und in ihm vor allem nach Veröffentlichung seines „Dante“ einen Gönner und Förderer sah, dieser ihn aber dann enttäuschte. Und auch dies wird von Kelsen in seiner Autobiografie recht deutlich gesagt, als er berichtet, dass er 1907/08 ein Stipendium erhielt und beabsichtigte, dieses Geld für eine Studienreise nach Heidelberg zu verwenden, um dort das Seminar von Georg Jellinek zu besuchen: Bernatzik gab „mir ziemlich deutlich zu verstehen, dass ich wenig Aussichten auf eine akademische Karriere hätte, dass es fuer mich besser waere, Rechtsanwalt oder Bankbeamter zu werden“. Kelsen glaubte, dass Bernatzik diese Äußerung kaum wegen der wissenschaftlichen Leistungen seines Seminaristen tätigte. Der Hauptgrund duerfte wohl gewesen sein, dass er bei der nicht sehr judenfreundlichen Haltung der Fakultaet womoeglich vermeiden wollte, fuer einen juedischen Kandidaten Stellung zu nehmen. Dass er selbst Antisemit war, glaube ich nicht. Aber da die Zahl der nichtarischen Professoren und Dozenten der Fakultaet als verhaeltnismaessig gross angesehen wurde, war es in der Tat nicht leicht, sich fuer einen juedischen Kandidaten einzusetzen.57

Kelsen hielt trotz der Enttäuschung, die ihm in seinem Gespräch mit Bernatzik widerfuhr, an seinem Entschluss fest und reiste im Wintersemester 1907/08 nach Heidelberg. Das Seminar, das Jellinek dort zu Themen des Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechts hielt, war weithin berühmt; es zog junge Wissenschaftler aus ganz Deutschland, besonders aber auch aus Österreich an, und Samuel Grünhut schrieb 1907 an Jellinek, „daß man Sie aus Österreich hinausgedrängt habe und jetzt jungen Doktoren Stipendien zahlt, damit sie zu Ihnen nach Heidelberg gehen“, was der Exilösterreicher wohl mit Genugtuung registriert haben wird.58 Kelsen bildete hier keine Ausnahme, aber auch die Begegnung mit dem berühmten 56 Kelsen, Autobiographie, 37; Olechowski, Hans Kelsen und die Universität Wien, 34. Bei Métall, Kelsen, 8 (und aus diesem Grund auch in vielen anderen Werken), ist ein unrichtiges Promotionsdatum angegeben; das richtige Datum ergibt sich aus dem Eintrag im Universitätsarchiv Wien, Promotionsprotokoll 1905/06, Sig. M 32,3 – 32,6, Zahl 762. 57 Kelsen, Autobiographie, 40; Métall, Kelsen, 10. Siehe dazu Thomas Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte? Ein Juristenstreit aus der Zwischenkriegszeit an der Wiener Rechtsfakultät, in: Gerald Kohl/Christian Neschwara/Thomas Simon (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive, Wien 2008, 425–442, hier: 431. 58 Zit. nach Kempter, Die Jellineks, 375, vgl. Anm. 627.

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Gelehrten endete für Kelsen enttäuschend. So schreibt er rückblickend, dass Jellinek zwar „auf historischem und philosophisch-soziologischem Gebiet [...] zur Staatslehre des 19. Jahrhunderts Erhebliches beigetragen“ habe, dass er aber „auf dem Gebiete juristischer Theorie recht schwach und unoriginell war“.59 Ein hartes Urteil, das sicherlich übertrieben ist, aber merkwürdigerweise auch von einigen anderen zu jener Zeit geteilt wurde, daher vielleicht nicht jeglicher Grundlage entbehrt.60 „Ich fand bald heraus, dass Jellinek persoenlich sowohl als sein Seminar fuer meine Arbeit [die von Kelsen bereits begonnene Habilitationsschrift, Anm. T.O.] nicht von grossem Gewinn sein wuerden, und konzentrierte mich ganz auf diese.“61 Sollte es sich wirklich so verhalten haben, so ist nicht leicht erklärlich, weshalb Kelsen ein Jahr später, im Wintersemester 1908/09, aufgrund eines neuen Stipendiums erneut nach Heidelberg reiste und Jellineks Seminar besuchte. Eher ist davon auszugehen, dass Kelsen auch hier wieder persönliche Zurücksetzung erfuhr, und durchaus glaubwürdig ist es, wenn uns Kelsen Jellinek als einen für Lob sehr empfänglichen Mann schildert, wofür Kelsen – im Gegensatz zu vielen anderen Seminaristen Jellineks, „die seiner Eitelkeit in unglaublicher Weise schmeichelten“ – nicht zu haben war.62 Am 6. Februar 1911, wenige Tage nach Jellineks Tod, reichte Kelsen seine Habilitationsschrift bei der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ein. Da das Buch in Lieferungen erschien, konnte Kelsen in seinem Vorwort auf das Ableben seines Lehrers verweisen, berichtete von dem „Glück, zu seinen Schülern zählen zu dürfen“ und äußerte die Hoffnung, „dem Andenken dieses Großen ein Weniges beizutragen“.63 Das mehr als 700 Seiten starke Buch mit dem Titel „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze“, wurde den beiden Ordinarien, Edmund Bernatzik und Adolf Menzel, zur Begutachtung vorgelegt.64 59 Kelsen, Autobiographie, 40. 60 Auch Josef Redlich schreibt rückblickend, dass Jellinek „nie originelle Gedanken gehabt“ hätte: „Er war eine feuilletonistische Begabung mit jenem Hang zu großen Worten einer scheinphilosophischen Betrachtung der Dinge ausgestattet, der in den jüdischen Salons von der Rahel bis zu den Josef Ungers durch ein Jahrhundert liebevoll gepflegt worden ist, jetzt aber nur mehr in schlechten Leitartikeln der ‚Neuen Freien Presse‘ vegetiert. Was Jellinek an Ideen über den Staat vorführt, ist zum größten Teile eine Aus- und Überarbeitung Gerber’scher und Laband’scher Dogmatik“, Tagebucheintrag 14.1.1911, in: Fritz Fellner u.a. (Hrsg.), Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1896–1936, Bd. 2, Wien – Köln – Weimar 2011, 346. 61 Kelsen, Autobiographie, 41. 62 Ebd., 40; Métall, Kelsen, 11. 63 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911, Neudruck in: Hans Kelsen, Werke 2, Tübingen 2008, 21–878, XIII (63) [Anmerkung: Die Seitenangaben beziehen sich hier sowie in den Folgezitaten zunächst auf die Originalpaginierung, dann auf jene in den Hans-Kelsen-Werken]. 64 Olechowski, Hans Kelsen und die Universität Wien, 35.

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Adolf Menzel stammte aus Böhmen, wo er 1857 in Reichenberg geboren worden war und in Prag die Rechte studiert hatte. Sein wissenschaftliches Schaffen war von außerordentlicher Vielfalt geprägt, was sich in seiner akademischen Karriere niederschlug: 1882 habilitierte er sich an der Universität Wien für Zivilrecht und wurde 1889, sechs Jahre nach seinem Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde,65 zum außerordentlichen Professor für dieses Fach ernannt. Dann wandte er sich jedoch dem öffentlichen Recht zu und wurde 1894 zunächst ordentlicher Professor für Verwaltungsrecht, 1903, nach der Emeritierung Lustkandls, übernahm er auch das Staatsrecht.66 Als solcher verfasste er u.a. eine rechtsvergleichende Studie zum Wahlrecht67 und regte auch Kelsen an, zu diesem Themenfeld zu publizieren.68 Aber die Probleme der Rechtstheorie, die den Hauptgegenstand meiner Habilitationsschrift bildeten, waren ihm fremd. Vielleicht hat er gerade darum ein fuer mich sehr guenstiges Gutachten erstattet. Prof. Bernatzik hat meine Habilitationsschrift wahrscheinlich ueberhaupt nicht gelesen. [...] Alle meine Versuche, Bernatzik’s Ansicht ueber die in meinem Buch entwickelten Theorien zu erfahren, blieben vergeblich, da er jeder Diskussion auswich; was mich eben vermuten liess, dass er das Buch gar nicht kannte. Er soll sich in der entscheidenden Sitzung der Fakultaet dahin geaeussert haben, dass er zwar fuer meine Habilitierung sei, dass ich aber fuer eine Professur nicht in Frage komme.69

Mangels aktenmäßiger Unterlagen – die Fakultätsprotokolle jener Zeit sind 1945 verbrannt – können die Aussagen Kelsens weder verifiziert noch falsifiziert werden. Die Verbitterung Kelsens über seinen anfänglichen Mentor ist aber überdeutlich. Am 10. Juli 1911 beschloss das Fakultätskollegium die Habilitation Hans Kelsens. Seine Chancen, auch noch eine Professur zu erhalten, waren zu jenem Zeitpunkt in der Tat gering: 65 Anna L. Staudacher, „... meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“. 18.000 Austritte aus dem Judentum in Wien 1868–1914. Frankfurt u.a. 2009, 407. Unrichtig daher Staudacher, Emanzipation, 45, wo irrtümlich das Jahr 1893 (statt 1883) als Datum der Konversion angegeben wird. 66 Zur Entlastung Menzels wurde ein neuer ao. Professor für Verwaltungsrecht, Max Layer, ernannt, der später nach Graz berufen wurde und 1928, nach Menzels Emeritierung, dessen Nachfolger am Lehrstuhl für Staatsrecht werden sollte. Auch der Besetzung dieser außerordentlichen Professur war eine lange Debatte vorangegangen, bei der insbesondere der hoch qualifizierte Friedrich Tezner das Nachsehen hatte, wobei auch hier wieder antisemitische Gründe eine bedeutende Rolle gespielt haben dürfen. Aufschlussreich dazu: AVA, Unterricht/Allgemeines, Karton 612, Personalakt Menzel, Z 23.384/1903, und dort besonders der Minoritätsantrag von Sigmund Adler zugunsten Tezners. 67 Adolf Menzel, Die Systeme des Wahlrechts, Leipzig – Wien 1906. 68 So insbesondere den Kommentar zur Reichsratswahlordnung 1907. Kelsens eigene Aussagen über Menzel (in Kelsen, Autobiographie, 43) sind auch hier wieder diminuierend, was möglicherweise mit der jüdischen Herkunft Menzels zusammenhängt. 69 Kelsen, Autobiographie, 43.

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In den Jahren davor hatten sich noch vier andere Wissenschaftler für Staatsrecht habilitiert, und einer von ihnen, der fast ebenso alte und ebenfalls aus Prag stammende Baron Rudolf v. Laun, war erst am 24. Mai 1911 zum außerordentlichen Professor des Verwaltungsrechts ernannt worden,70 sodass die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht sehr stark vertreten waren und eine weitere personelle Aufstockung kaum wahrscheinlich erschien. Erst als Kelsen zu Beginn des Ersten Weltkrieges zur Armee eingezogen wurde und 1917 zum „unmittelbaren Referenten“ des k. u. k. Kriegsministers Rudolf Stöger-Steiner avancierte,71 gab dies auch seiner Universitätskarriere neuen Auftrieb. Der Minister, sichtlich zufrieden mit Kelsens Leistungen, bot ihm eine dauernde Stellung in seinem Ministerium an; auch das Sozialministerium stellte ihm einen guten Job in Aussicht. Bevor ich mich in der einen oder anderen Richtung entschied, wollte ich meine Chancen an der Universitaet feststellen. Ich ging zu Bernatzik, teilte ihm meine Aussichten mit und sagte ihm, dass ich keines dieser Angebote anzunehmen beabsichtigte wenn ich eine wirkliche ausserordentliche Professur erhalten wuerde. [...] Wie gross war mein Erstaunen als Bernatzik – als Antwort – mich einfach fragte, fuer welche Faecher ich die Professur haben wollte. [...] meine Stellung im Kriegsministerium [...] hatte auf ihn mehr Eindruck gemacht als alle meine bisherigen Publikationen.72

Kelsen schlug das öffentliche Recht mit besonderer Berücksichtigung des Militärrechts vor, und tatsächlich beantragte Bernatzik in einer der folgenden Fakultätssitzungen die Schaffung einer derartigen Professur, worauf ein fünfköpfiges Komitee gebildet wurde, dem u.a. Bernatzik und Menzel sowie auch der Rechtshistoriker Ernst v. Schwind angehörten. Letzterer war der Einzige, der sich gegen die Ernennung Kelsens wandte und ein umfangreiches Minoritätsgutachten verfasste, in dem er Kelsens Lehren als „destruktiv und zersetzend“, indirekt auch als „nihilistisch“ bezeichnete.73 Es ist wenig wahrscheinlich, dass Schwinds Motive rein sachlicher Natur waren: Elf Jahre zuvor hatte er mit ganz ähnlichen Worten die Ernennung von Armin Ehrenzweig zum Professor des Zivilrechts verhindert,74 wobei Ehrenzweig einen 70 Er trat damit die Nachfolge des in jenem Jahr nach Graz berufenen Max Layer an; vgl. AVA, Unterricht/Allgemeines, Karton 611, Personalakt Laun, Vortrag des Unterrichtsministers Stürgkh vom 12.5.1911 Z 7193 samt ah Entschließung 24.5., sowie oben, vgl. Anm. 66. 71 Jürgen Busch, Hans Kelsen im Ersten Weltkrieg – Achsenzeit einer Weltkarriere, in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 57–80. 72 Kelsen, Autobiographie, 54. 73 Ebd., 43, meint, dass Schwind dieses Gutachten bereits anlässlich seiner Habilitation 1911 verfasst hätte; dies dürfte jedoch auf einem Irrtum beruhen. Vgl. dazu schon Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte, 432. 74 Gerhard Oberkofler, Armin Ehrenzweig, in: Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Juristen in Österreich 1200–1980, Wien 1987, 261–263, hier: 262.

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völlig anderen rechtstheoretischen Standpunkt vertrat als Kelsen. Diesmal allerdings hatte Schwind kein Glück: Mit allerhöchster Entschließung vom 8. Juli 1918 wurde Kelsen zum außerordentlichen Professor ernannt.75 Ein Dreivierteljahr später, am 30. März 1919, verstarb Bernatzik an einem Herzinfarkt. Kelsen, der in der Zwischenzeit Berater des sozialdemokratischen Staatskanzlers Karl Renner geworden war, konnte sich gute Chancen ausrechnen, zu seinem Nachfolger berufen zu werden, doch musste er mit der Konkurrenz von Laun rechnen, der nicht nur sieben Jahre länger als er außerordentlicher Professor in Wien, sondern ebenfalls juristischer Berater eines mächtigen sozialdemokratischen Politikers, des Staatssekretärs für Äußeres, Otto Bauer, war. Auch war Laun, seine adelige Herkunft rasch vergessend, im Gegensatz zu Kelsen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SdAP) beigetreten, und bei einer Professorenversammlung im April 1919 hatte er sich sogar für eine Beteiligung der Universität Wien an den damals stattfindenden Arbeiterratswahlen ausgesprochen, während Kelsen entgegnete, „dass die Verfassung der Arbeiterraete mit dem Grundsatz der Freiheit der Wissenschaft unvereinbar sei“.76 Kelsen glaubte, dass er mit seiner impulsiven Wortmeldung seine Chancen bei der sozialdemokratisch geführten Unterrichtsverwaltung verscherzt hatte; tatsächlich aber hatte die SdAP relativ wenig Interesse an einer Stärkung der Rätebewegung, und in der konservativen Professorenschaft hatte Kelsen jedenfalls gegenüber Laun gewonnen. In der Berufungskommission für die Nachfolge Bernatziks, die am 18. Juni tagte, sprachen sich alle Mitglieder dafür aus, Kelsen an die erste Stelle zu setzen; am 19. Juli 1919 wurde Kelsen vom Staatsoberhaupt Karl Seitz zum ordentlichen Professor ernannt. Das folgende Jahrzehnt war der Höhepunkt in Kelsens Karriere: Als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Staatskanzlei entwarf er zwischen Mai und September 1919 mehrere Entwürfe für eine Bundesverfassung, von denen einer zur Grundlage der weiteren Beratungen wurde. Zu diesen wurde er als „parteiunabhängiger Experte“ hinzugezogen und hatte so maßgeblichen Anteil an der Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920. Oft als „Vater der Verfassung“ bezeichnet, darf dieser Anteil freilich nicht überschätzt werden: Die politischen Grundentscheidungen, auf denen die Verfassung ruhte, wurden nicht von Kelsen, sondern von den politischen Parteien getroffen. Kelsens Aufgabe bestand vielfach darin, diesen – oft mühsam errungenen – Konsens in einem juristisch einwandfreien Text zu formulieren.77 Über die wesentliche Rolle, die er bei der Entstehung des Abschnittes über den 75 Ausführlich Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte, 431f. 76 Kelsen, Autobiographie, 58. Er erwähnt dort Laun nicht mit Namen, doch ergeben sich das Eintreten Launs für die Rätebewegung und sein Konkurrenzverhältnis zu Kelsen aus einem an Karl Renner gerichteten Brief seiner Sekretärin Anna Pölzer, die diesem von der Berufung Kelsens berichtete; vgl. Olechowski, Hans Kelsen und die Universität Wien, 37. 77 Thomas Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 211–230.

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Verfassungsgerichtshof spielte, wird noch weiter unten zu sprechen sein; mehr als zehn Jahre lang gehörte er diesem Gericht auch selbst als Mitglied an und wirkte so auch an der praktischen Umsetzung der neuen Verfassung mit.78 Vor allem aber baute Kelsen an der Universität einen ganzen Kreis von Schülern und Schülerinnen auf und führte 1919 Adolf Merkl,79 1920 Fritz Sander,80 1921 Alfred Verdroß,81 1922 Felix Kaufmann,82 1925 Fritz Schreier83 und 1927 Josef Kunz84 zur Habilitation. Seine Privatseminare, die er in seiner Wohnung in der Wickenburggasse hielt, wurden zum Ausgangspunkt der „Wiener rechtstheoretischen Schule“, die weltweit Berühmtheit erlangte und immer mehr Besucher aus dem Ausland nach Wien lockte.85 Aber mit der Zahl seiner Schüler wurde auch die Zahl der Gegner Kelsens immer größer und entschiedener. Bereits die Habilitation Kunz’ erfolgte erst mit großer Verzögerung und nach zwei gescheiterten Anläufen;86 ab 1926 sah sich auch Kelsen selbst immer stärker 78 Robert Walter, Hans Kelsen als Verfassungsrichter (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 27), Wien 2005 79 Wolf-Dietrich Grussmann, Adolf Julius Merkl. Leben und Werk (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 13), Wien 1989; Thomas Olechowski, Merkl Adolf Julius, in: ÖBL-online http://www. biographien.ac.at/oebl/oebl_M/Merkl_Adolf-Julius_1890_1970.xml (abgerufen am 16.01.2016); Kamila Staudigl-Ciechowicz, Von Adamovich bis Pfeifer, in: Franz Stefan Meissel/Thomas Olechowski/Ilse Reiter-Zatloukal/Stefan Schima (Hrsg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945 (Juridicum Spotlight 2), Wien 2012, 203–232. 80 Christoph Kletzer, Fritz Sander, in: Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hrsg.), Der Kreis um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 30), Wien 2008, 445–470; Axel-Johannes Korb, Sander gegen Kelsen. Geschichte einer Feindschaft, in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 195–208; Thomas Olechowski/ Jürgen Busch, Hans Kelsen als Professor an der Deutschen Universität Prag. Biographische Aspekte der Kelsen-Sander-Kontroverse, in: Karel Malý/Ladislav Soukup (Hrsg.), Československé právo a právní věda v meziválečném období 1918–1938 a jejich místo v Evropě (Praha 2010), 1106–1134. 81 Ignaz Seidl-Hohenveldern, Alfred Verdroß, in: Brauneder, Juristen in Österreich, 304–308; Jürgen Busch/Irmgard Marboe/Gerhard Luf, Alfred Verdroß – Ein Mann des Widerspruchs?, in: Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht, 139–202. 82 Hans Kristoferitsch/Andreas Orator, Felix Kaufmann, in: Der Kreis um Hans Kelsen, 153–174. 83 Meinhard Lukas, Fritz Schreier, in: Der Kreis um Hans Kelsen, 471–485. 84 Jörg Kammerhofer, Josef Laurenz Kunz, in: Der Kreis um Hans Kelsen, 243–259. 85 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland III: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, München 1999, 164ff.; Klaus Zeleny, Die Wickenburggasse 23: Das Zentrum der „Wiener Schule“, in: Hans Kelsen und die Bundesverfassung, 41–47. 86 Axel-Johannes Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (Grundlagen der Rechtswissenschaft 13), Tübingen 2010, 98.

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werdenden Anfeindungen ausgesetzt. Ganze Bücher wurden gegen ihn und seine Lehren geschrieben: 1926 und 1927 richtete der Völkerrechtler Alexander Hold-Ferneck gleich zwei Monografien gegen Kelsen, gefolgt 1928 von einem über 150 Seiten starken Buch des Rechtshistorikers Ernst Schwind, der ja schon 1918 gegen Kelsen aufgetreten war. Kelsen erwiderte die Schriften und meinte auch, dass er insbesondere gegen den rechtstheoretisch ungeübten Schwind „leichtes Spiel“87 gehabt hätte, aber die Stellung Kelsens in der Fakultät war ins Wanken geraten.88 Schwerer noch als diese innerfakultären Anfeindungen wog aber die Gegnerschaft, die Kelsen aus seiner Mitgliedschaft im Verfassungsgerichtshof erwuchs, namentlich nachdem sich dieser auf Antrag Kelsens zu einer Rechtsprechung durchgerungen hatte, die es getrennt lebenden Personen ermöglichte, sich noch zu Lebzeiten des ersten Ehepartners ein weiteres Mal zu verehelichen.89 Das am 5. September 1927 ergangene verfassungsgerichtliche Erkenntnis löste auf christlichsozialer Seite einen Sturm der Empörung aus90 und Kelsen wurde rasch als Urheber desselben erkannt.91 Im Zuge der B-VG-Novelle des Jahres 1929 wurde eine gänzlich neuartige Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes beschlossen (die Bundesregierung sprach euphemistisch von einer „Entpolitisierung des Verfassungsgerichtshofes“),92 und mit 15. Februar 1930 wurde mehr als die Hälfte seiner Mitglieder, darunter auch Kelsen, aus diesem per Verfassungsgesetz entfernt.

87 Kelsen, Autobiographie, 44. 88 Olechowski, Rechtsphilosophie gegen Rechtsgeschichte, 435ff.; Jürgen Busch/Kamila Staudigl-Ciechowicz, „Ein Kampf ums Recht“? Bruchlinien in Recht, Kultur und Tradition in der Kontroverse zwischen Kelsen und Hold-Ferneck an der Wiener Juristenfakultät, in: Szabolcs Hornyák/Botond Juhász/Krisztina Korsósné Delacasse/Zuszsanna Peres (Hrsg.), Turning Points and Breaklines (Jahrbuch Junge Rechtsgeschichte 4), München 2009, 110–138; Korb, Kelsens Kritiker 79ff. 89 Walter, Kelsen als Verfassungsrichter, 57ff.; Christian Neschwara, Hans Kelsen und das Problem der Dispensehen, in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 249–267. 90 So titelte die christlichsoziale Reichspost Nr. 313 vom 9. November 1928, 1: „Der Verfassungsgerichtshof gegen den Rechtsstaat. Eine bisher unübertroffene Groteske. Die Türken haben die Vielweiberei abgeschafft. Der österreichische Verfassungsgerichtshof führt sie wieder ein.“ Vgl. dazu Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918–1938 (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 121), Frankfurt am Main 1999, 403. 91 Der Richter Karl Wahle (der in der NS-Zeit als Jude verfolgt wurde und 1956–1957 Präsident des Obersten Gerichtshofes wurde) schrieb am 22. November 1927 an Ignaz Seipel im Zusammenhang mit dem verfassungsgerichtlichen Erkenntnis: „Das Ideal des Kelsen’schen sozialistischen Polizeistaats, der Staat und Recht identifiziert und das göttliche und Naturrecht, die Grundlage jeder Rechtsordnung negiert, wird so verwirklicht.“ Zit. nach Harmat, Ehe auf Widerruf, 306. 92 Vgl. Adolf Merkl, Der „entpolitisierte“ Verfassungsgerichtshof, in: Der österreichische Volkswirt 1930, 509–511, hier: 510.

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Kelsen zog die Konsequenzen und nahm einen Ruf der Universität Köln an, an der er Völkerrecht lesen sollte; der österreichischen Unterrichtsminister, Heinrich Srbik, unternahm keinen Versuch, Kelsen zum Bleiben zu bewegen. Im November 1930 kehrte Kelsen Wien und Österreich den Rücken. Am Rhein wurde er zwar ehrenvoll empfangen, doch dauerte sein Aufenthalt in Köln nicht einmal drei Jahre: Unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers, am 13. April 1933, wurde Kelsen vom preußischen Unterrichtsministerium „beurlaubt“ und floh unter geradezu abenteuerlichen Umständen nach Wien.93 „Dass die Wiener Universitaet nicht das geringste tat um mir in irgendeiner Form die Fortsetzung meiner akademischen Taetigkeit zu ermoeglichen, versteht sich von selbst“, berichtet Kelsen nicht ohne Bitterkeit.94 Im Sommer 1933 kehrte er Österreich endgültig den Rücken und fuhr zunächst nach Genf, um dort eine befristete Lehrtätigkeit anzunehmen; was folgte, war eine Odyssee, die Kelsen nach einem kurzen Zwischenspiel in Prag in die USA nach Cambridge an die Harvard University und zuletzt an die University of California in Berkeley führen sollte. Hier blieb er bis zu seinem Lebensende am 19. April 1973. *** Hans Kelsen hatte seiner Habilitationsschrift den Titel „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ gegeben. Wer glaubte, hier Antworten auf die drängenden verfassungspolitischen Fragen jener Zeit – etwa zum Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie oder zum österreichisch-ungarischen Ausgleich – zu finden, wurde enttäuscht. Wer dagegen wissen wollte, worin die Aufgabe der Rechtswissenschaft eigentlich bestehe oder wie sich das Recht im subjektiven Sinne zum Recht im objektiven Sinne verhalte, der erhielt hier eine umfassende und tiefschürfende Antwort auf seine Fragen. Kelsen bat im Vorwort seiner Arbeit seine Leser geradezu um Entschuldigung, dass die Arbeit „vornehmlich methodologischen Charakter“ trage, zumal „derartige Erörterungen auf juristischem Gebiete nicht sehr beliebt und darum auch nicht allzu häufig“ seien.95 Diese Analyse war durchaus zutreffend, wie man nicht zuletzt mit Blick auf Jellineks Habilitation 1878/79 und das Scheitern seiner Berufung 1894 feststellen muss. Aber gerade der Umstand, dass sowohl Jellinek als auch Kelsen mehr Interesse für die allgemeinen Fragen der Rechtswissenschaft als für tagesaktuelle Probleme des positiven Rechts zeigten, machte sie zu Klassikern, deren Werke noch hundert Jahre später gelesen werden. Dass sich Kelsen mit seinen methodologischen Überlegungen weitgehend in den Bahnen des Neukantianismus bewegte, war ihm nach eigenen Aussagen zur Zeit der Abfassung seiner

93 Siehe dazu Métall, Kelsen, 62. 94 Kelsen, Autobiographie, 80. 95 Kelsen, Hauptprobleme IV (52).

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Habilitationsschrift noch gar nicht völlig zu Bewusstsein gekommen.96 Erst eine Rezension seiner Arbeit machte ihn auf die auffallenden Parallelen zwischen seiner Arbeit und der „Ethik des reinen Willens“ des Marburger Professors Hermann Cohen aufmerksam, dessen Werke (zu nennen sind hier vor allem noch die „Logik der reinen Erkenntnis“ und die „Ästhetik des reinen Gefühls“) von einem tiefen Bedürfnis nach Methodenreinheit bestimmt waren und daher wohl auch dazu führten, dass Kelsen seine Lehre selbst als „Reine Rechtslehre“ bezeichnete.97 Näher betrachtet aber waren es weniger Cohen und die „Marburger Schule“ als vielmehr Jellineks Freund Wilhelm Windelband und die von ihm geführte „Südwestdeutsche Schule“ des Neukantianismus, die prägend für den jungen Kelsen waren und auf die er sich bei Abfassung seiner „Hauptprobleme“ vor allem stützte. Ihnen entnahm er seine grundlegende Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften (die sich mit dem „Sein“ beschäftigen) und Rechtswissenschaften (deren Gegenstand das „Sollen“ sei). Kelsen fasste Sein und Sollen als zwei „ursprüngliche Kategorien“ menschlichen Denkens auf, „und ebensowenig, wie man beschreiben kann, was das Sein oder das Denken ist, ebensowenig gibt es eine Definition des Sollens“.98 Zwischen Sein und Sollen gebe es keine logische Brücke, man könne nicht von dem einen auf das andere schließen; ein Sein kann immer nur aus einem anderen Sein folgen, ein Sollen immer nur aus einem anderen Sollen. Dieser Gedanke war nicht neu. Er war schon im 18. Jahrhundert von David Hume formuliert worden und findet sich auch bei Jellinek wieder, der ebenfalls den „Unterschied der kausalen Erkenntnisart von der normativen“ hervorgehoben99 und eine „Uebertragung der Methoden für die Erkenntnis der letzteren auf die der ersten“ für unzulässig erklärt hatte.100 Die für Kelsen „prinzipiellste Voraussetzung aller Rechtswissenschaft“, nämlich, „[o]b und inwieweit die Jurisprudenz eine normative Disziplin“ sei, 101 war also von Jellinek ebenso wie von Kelsen bejaht worden. 96 Hans Kelsen, Vorwort zur zweiten Auflage der Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1923, XVII. Vgl. zum Verhältnis Kelsen/Cohen etwa Pascher, Neukantianismus, 151ff., sowie Agostino Carrino, Das Recht zwischen Reinheit und Realität. Hermann Cohen und die philosophischen Grundlagen der Rechtslehre Kelsens (Würzburger Vorträge für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie 42), Baden-Baden 2011. 97 Und zwar erstmals im Untertitel seiner Monografie Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen 1920. 98 Kelsen, Hauptprobleme VII (86). Er stützte sich bei dieser zentralen Aussage v. a. auf den der südwestdeutschen Schule zuzurechnenden Philosophen und Soziologen Georg Simmel. 99 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. Berlin 1914, 19. 100 Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. Tübingen 1905, 17; vgl. Lepsius, Jellineks Methodenlehre, 316. 101 Kelsen, Hauptprobleme VII (55).

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Die Eigenart der Rechtswissenschaft als eine normative Wissenschaft erforderte eine von den Kausalwissenschaften komplett getrennte Methode. Scharf trennte Jellinek daher „die soziale Staatslehre, die den Staat als gesellschaftliches Gebilde in der Totalität seines Wesens betrachtet, [von] der Staatsrechtslehre als dem juristischen Teil der Staatslehre“.102 Jellineks Hauptwerk, die im Maturajahr Kelsens 1900 erstmals erschienene „Allgemeine Staatslehre“, war daher (nach einleitenden, vor allem methodologischen Untersuchungen) strikt in zwei Teile gegliedert, eine „Allgemeine Soziallehre des Staates“ und eine „Allgemeine Staatsrechtslehre“. Aber genau diese „Zwei-Seiten-Theorie“ Jellineks fand in Kelsen einen erbitterten Gegner: Ein und dasselbe Objekt könne nicht Gegenstand zweier verschiedener Wissenschaften sein.103 Hierin folgte er ganz neukantianischen Gedankengängen, wonach nicht aus dem Gegenstand die Methode, sondern aus der Methode der Gegenstand folge. Dieser Umstand war natürlich auch Jellinek nicht entgangen; er hatte aus diesem Grund auch zwei verschiedene Definitionen des Staates – einmal als „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“ und einmal „die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft“104 – geliefert. Aber war es unter diesem Gesichtspunkt überhaupt noch zulässig, beide Erkenntnisobjekte als „Staat“ zu bezeichnen?105 Kelsen hielt es für „unbegreiflich, wie Jellinek, der sein ganzes System auf den Dualismus von Sein und Sollen aufbaut, der das Recht als Norm, als Sollen dem sozialen Sein entgegenstellt ... zugleich einen vom juristischen verschiedenen, sozialen Begriff des Staates für möglich halten“ konnte.106 Daher bemühte er sich – erfolgreich – darum zu zeigen, dass die drei von Jellinek genannten Elemente, die einen Staat konstituierten – Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt107 –, Rechtsbegriffe waren und dass alle Versuche, die drei Elemente anders als mit juristischen Mitteln zu definieren, scheitern mussten. Für Kelsen war das Staatsgebiet der räumliche, das Staatsvolk der personelle Geltungsbereich einer Rechtsordnung, die Staatsgewalt setzte er mit der Effektivität einer Rechtsordnung und diese wieder 102 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 11; vgl. Stolleis, Geschichte II, 451f.; Jens Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 28), Tübingen 2000, 145ff. 103 Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, Tübingen 1922, 117. Vgl. dazu Oliver Lepsius, Die Zwei-Seiten-Lehre des Staates, in: Andreas Anter (Hrsg.), Die normative Kraft des Faktischen. Das Staatsverständnis Georg Jellineks (Staatsverständnisse 6), Baden-Baden 2004, 63–88, hier: 81. 104 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 180f. 105 Jellinek selbst hielt es geradezu für „absurd“, zu glauben, dass es möglich sei, den Staat nur auf eine einzige Art und Weise zu definieren. Vgl. Andreas Anter, Modernität und Ambivalenz in Georg Jellineks Staatsdenken, in: Die normative Kraft des Faktischen, 37–59, hier: 38. 106 Kelsen, Staatsbegriff, 117f. 107 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 394ff.

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mit dem Staat schlechthin gleich: So kam Kelsen zu seiner radikalen Konzeption vom Staat als einer Rechtsordnung und beschäftigte sich in seiner eigenen, 1925 veröffentlichten „Allgemeinen Staatslehre“ ausschließlich mit dieser letzten.108 In vieler anderer Hinsicht hingegen folgte Kelsen ganz den Spuren Jellineks: So waren beide der Ansicht, dass subjektive Rechte, also rechtliche Befugnisse eines Einzelnen, immer nur aus dem objektiven Recht, also der staatlichen Rechtsordnung, erwachsen können und leugneten die Existenz vorstaatlicher Rechte (wie es etwa die Naturrechtslehre hinsichtlich der Menschenrechte tat).109 Auch gingen sie von einer prinzipiellen Einheit der Rechtsordnung aus, insbesondere die traditionelle Einteilung des Rechts in öffentliches und privates Recht entbehre einer rechtstheoretischen Grundlage.110 Zwar kam es auch in vielen anderen Fragen immer wieder zu Auffassungsunterschieden und zu Kritiken Kelsens an seinem Lehrer, aber freimütig bekannte er ein, dass er auch dort, wo er „zu anderen Resultaten gekommen [war], als er gelehrt hat, ... dies zum großen Teil auf Wegen getan, die er eröffnet hat, auf denen er als unerreichter Meister vorangeschritten ist“.111 Fragt man, welches die wichtigste Leistung Kelsens überhaupt war, so wird man meistens seinen Beitrag zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit als Antwort bekommen. Aber auch hier wandelte Kelsen ganz in den Traditionen Jellineks, denn dieser hatte bereits 1885 einen „Verfassungsgerichtshof für Österreich“ gefordert. Die gleichnamige Broschüre112 war ohne (erkennbaren) politischen Auftrag geschrieben worden, nahm aber vielfach auf aktuelle politische Debatten Bezug und kritisierte anhand zahlreicher Beispiele „parlamentarisches Unrecht“. Dass es ein solches überhaupt geben könne, war bereits eine kühne Aussage: Denn wie könne jenes Organ, das überhaupt erst den „Staatswillen“ formuliere, Unrecht schaffen? Jellinek argumentierte, dass ja nicht die „gesetzgebende Gewalt“, sondern der Staat an sich Gesetze gebe.113 Die Verfassung regle, welches der staatlichen Organe für welche Handlung kompetent sei. Daher könne es mitunter zu einem „Kompetenzkonflikt“ zwischen einfachem und Verfassungsgesetzgeber kommen. Und so wie das k. k. Reichsgericht schon seit 1867/69 zur Lösung von Kompetenzkonflikten zwischen Reichs- und Landesbehörden berufen war, so sollte es auch Kompetenzkonflikte zwischen Reichs- und Landesgesetzgeber sowie zwi108 Vgl. dazu ausführlich Hans-Joachim Koch, Die staatsrechtliche Methode im Streite um die Zwei-Seiten-Theorie des Staates, in: Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, 371–389. 109 Jellinek, System, 8; vgl. Lepsius, Jellineks Methodenlehre 317. 110 Jellinek, System, 10f.; Kelsen, Hauptprobleme, 629ff. (790ff.). 111 Kelsen, Hauptprobleme XIII (63). 112 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885. Vgl. dazu Alfred J. Noll, Georg Jellinek’s Forderung nach einem Verfassungsgerichtshof für Österreich, in: Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, 261–276; Thomas Olechowski, Grundrechte und ihr Schutz in der Habsburgermonarchie, in: Richterzeitung 2010, 30–37, hier: 35f. 113 Jellinek, Verfassungsgerichtshof, 4.

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schen einfachem und Verfassungsgesetzgeber lösen. Eine Forderung, die nach Gründung der Republik aufgegriffen wurde, als Hans Kelsen von Renner beauftragt wurde, ein Gesetz vorzubereiten, mit dem die Kompetenzen des ehemaligen Reichsgerichts auf ein neu zu schaffendes Gericht zu übertragen wären. Bereits im Dezember 1918 stellte Kelsen fest, dass „das Bedürfnis nach einem Gerichte, das nach jeder Richtung dem Schutze der Verfassung dient, sehr fühlbar“ sei.114 Unter steter Mitwirkung Kelsens wurden zunächst, mit dem Gesetz vom 25. Jänner 1919,115 die bisherigen Kompetenzen des ehemaligen Reichsgerichts auf den neuen deutschösterreichischen Verfassungsgerichtshof übertragen und dann dessen Befugnisse sukzessive ausgebaut. Dabei hatte man – ganz im Sinne Jellineks – zunächst vor allem Kompetenzkonflikte zwischen Bund und Ländern im Auge, was sich erst allmählich zu einer umfassenden Verfassungskontrolle von Bundesgesetzen und Landesgesetzen auswuchs.116 Diese Verfassungsgerichtsbarkeit wurde weltweit bewundert und machte ihren Schöpfer Kelsen berühmt. Dabei war Österreich nicht der einzige Staat mit einer derartigen Institution: Auch die Tschechoslowakei hatte in ihrer Verfassung vom 29. Februar 1920 ein Verfassungsgericht vorgesehen. Anders als in Österreich besaß das tschechoslowakische Verfassungsgericht aber außer dem Recht der Gesetzesprüfung keine weiteren Kompetenzen und war ganz davon abhängig, dass eines der wenigen dazu berufenen Organe einen Gesetzesantrag stellte.117 Die Verknüpfung der neuartigen Gesetzeskontrolle mit den Kompetenzen des ehemaligen Reichsgerichts war es, die dem österreichischen Verfassungsgerichtshof erst seine praktische Existenz sicherte – eine Überlegung, die schon Jellinek angestellt hatte.118 Und so wurde Kelsen zum späten Erfüller der Jellinek’schen Forderung, das Reichsgericht zu einem Verfassungsgerichtshof auszubauen, was nicht nur „segensreich für die Entwicklung des Verfassungslebens unseres Staates wäre“, sondern auch Österreich die Gelegenheit geben würde, „productiv eine neue Idee in’s Staatsleben einzuführen!“119 114 Hans Kelsen, Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung eines Verfassungsgerichtshofes, 9.12.1918, abgedruckt bei: Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung (Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts 6), Wien 1981, 308–310. 115 Gesetz vom 25.1.1919, Staatsgesetzblatt Nr. 48/1919. 116 Näher Thomas Olechowski, Der Beitrag Hans Kelsens zur österreichischen Bundesverfassung, in: Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, 211–230, hier: 213f. und 227; Clemens Jabloner, Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts im Zuge des Staatsumbaues 1918 bis 1920, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2011, 213–227. 117 Jana Osterkamp, Verfassungshüter ohne politischen Rückhalt. Das tschechoslowakische Verfassungsgericht nach 1920 im Vergleich mit Österreich, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2011, 275–290. 118 Jellinek, Verfassungsgerichtshof, 52ff. 119 Ebd., 66.

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Migrationsziel Wien Die moderne Großstadt als Anziehungspunkt für Kunstschaffende und Mäzene

Lange Zeit stand die Auseinandersetzung mit der Ringstraßenära und der Wiener Moderne nicht im Forschungsinteresse der österreichischen Kulturwissenschaften. Erst ab den 1980er-Jahren setzte ausgehend vom anglo-amerikanischen Raum die Beschäftigung mit diesen Themenfeldern ein, die in Österreich sowohl in Fachkreisen als auch in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stieß. Dass das Wien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als eine der kreativsten Metropolen Europas galt, hat Carl E. Schorske schon in seiner 1980 erschienenen Studie „Fin de siècle Vienna: Politics and Culture“ hervorgehoben.1 Allan Janik, der sich 1986 mit Wiens dynamischer Entwicklung auseinandersetzte, arbeitete verschiedene Faktoren für den Aufstieg der Donaustadt zum kulturellen Zentrum und kreativen Umfeld heraus. Zum einen nennt er die vielschichtigen Funktionen und Rollen der Stadt für die Herausbildung eines kreativen Milieus als bedeutsam. Wien war sowohl Kaiserstadt, Großstadt des Reichs sowie dessen administratives, ökonomisches und politisches Zentrum. Als weitere Vorbedingung dieser Entwicklung nennt Janik die Größe der Stadt und ihrer Einwohnerschaft, die sich aufgrund des Bevölkerungswachstums dieser Jahrzehnte stetig erweiterte. Ebenso spielten die Migrationsbewegungen zwischen der Hauptstadt und den Kronländern in diesem Prozess eine bedeutsame Rolle.2 Die Ausrichtung der Provinzen auf Wien führte zum kontinuierlichen Zuzug in die wachsende Metropole. Somit wurde Wien „zum Sammelpunkt der kulturellen Pluralität der Gesamtmonarchie“.3 Flexibilität und Mobilität zeichneten sowohl österreichische Binnenmigranten als auch Zuwanderer aus, deren Wurzeln außerhalb der Monarchie lagen. Migrationsbewegungen erfassten das gesamte Habsburgerreich und darüber hinaus auch dessen Nachbarländer. Austausch, neue Kontakte und Wettbewerb waren die Begleiterscheinungen dieses Phänomens. Der multikulturelle Kontext begünstigte die Entwicklung von modernen künstlerischen Tendenzen, die zu einem 1 2 3

Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt am Main 1982 (Englische Originalfassung: Ders., Fin-de-siècle Vienna: Politics and Culture, Cambridge 1980). Vgl. Allan Janik, Kreative Milieus. Der Fall Wien, in: Peter Berner/Emil Brix/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien 1986, 47–49. Moritz Csáky, Sozial-kulturelle Wechselwirkung im Wiener Fin de Siècle, in: Peter Berner/Emil Brix/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien 1986, 144.

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nicht unbedeutenden Teil von Neuankömmlingen ausgingen. Ein Grund, warum sich Wien zu einem Ort von großen Kreativleistungen und intellektuellem Aufbruch etablierte, war die ethisch-kulturelle Pluralität der Bevölkerung.4 Laut Manfried Welan „kulminierte die heterogene und widersprüchliche Vielfalt des Habsburgerreiches im Zentrum“.5 Im Wien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstand auf verschiedenen Gebieten der Kunst und Wissenschaft Innovatives. Neben diversen Wiener Schulen gab es Einzel- und Grenzgänger, die gegen Althergebrachtes rebellierten und Neues hervorbrachten. Dass die unterschiedliche Herkunft aus der pluralistischen Staatenföderation ein Merkmal von kunstaffinen Persönlichkeiten war, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Zahlreiche Kunstschaffende, Intellektuelle und deren Förderer, die in den Jahrzehnten vor oder nach 1900 in Wien tätig waren, kamen ursprünglich aus peripheren Gebieten der Monarchie oder aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Mehrfachidentitäten waren keine Seltenheit und beeinflussten die künstlerische Praxis. In der Donaumetropole entstand ein positives Klima für kulturelle Entfaltung, in dem sich einzelne Kunstrichtungen gegenseitig befruchteten. Betrachtet man die Häufigkeit von Migrationsgeschichten von wohlbekannten und vielleicht auch weniger namhaften Persönlichkeiten der Zeit, so kann man den Faktor „Migration“ unbestritten als Ursache für die Steigerung der Kreativität definieren. Ziel dieses Beitrags ist es, Migration im Zusammenhang mit kultureller Innovation in Form ausgewählter Biografien überblickshaft vorzustellen.6 1. Stadt der Chancen, Stadt der Hoffnungen

Als Hauptstadt eines Vielvölkerstaates war Wien während des gesamten 19. Jahrhunderts Ziel­ort der Migration. Auf arbeitssuchende Zuwanderer und Zuwandererinnen wirkte die sich rasch entwickelnde Großstadt der multinationalen Monarchie wie ein Magnet. Die 4

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Vgl. Michael Pollak, Kulturelle Innovation und soziale Identität im Wien des Fin de Siècle, in: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak/Nina Scholz (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, 111. Manfried Welan, Wien – „Eine Welthauptstadt des Geistes“. Realbedingungen als Idealbedingungen?, in: Peter Berner/Emil Brix/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien 1986, 39. Die biografischen Daten der einzelnen Künstler, Auftraggeber und Auftraggeberinnen stammen, sofern nicht anders angegeben, aus der Online-Edition des Österreichischen Bibliographischen Lexikons 1815–1950 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (http://www.biographien. ac.at/oebl?frames=yes), aus dem online Architekturlexikon (Wien 1770–1945) des Architekturzentrum Wien (http://www.architektenlexikon.at), aus der Onlinefassung der Neuen deutschen Biographie (http://www.deutsche-biographie.de/) bzw. aus dem Biographischen Lexikon des Kaiserthums Österreichs von Constantin Wurzbach (Wien 1856–1891) und dem Historischen Lexikon Wien von Felix Czeike (Wien 1992–2004).

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in Wien erhofften neuen Möglichkeiten veranlassten das Gros der Massen, darunter viele geschäftstüchtige Familien und Einzelpersonen, den Weg in die pulsierende Großstadt zu suchen. Menschen unterschiedlichster Herkunft und Erfahrungen wurden von der Reichshaupt- und Residenzstadt angezogen, von der man im Gegensatz zu den oft rückständigen Heimatgemeinden in der Provinz bessere Zukunftschancen erwartete. Während die Stadt 1840, vor der Eingemeindung der Vorstädte und der Vororte, 469.400 Einwohner und Einwohnerinnen zählte, hatte die Bevölkerungszahl bis 1910 die zwei Millionen Grenze bereits längst überschritten.7 Knapp mehr als die Hälfte aller Einwohner und Einwohnerinnen war 1910 nicht in Wien geboren.8 Demnach zählte der Großteil der um die Jahrhundertwende in Wien Ansässigen entweder zu den Zuwanderern und Zuwanderinnen erster oder zweiter Generation: Viele waren selbst aus den Kronländern oder dem Ausland für einen Neuanfang in der Donaumetropole losgezogen, andere gehörten bereits der ersten in Wien geborenen Generation der Familie an. Die Migration nach Wien fand schrittweise statt und ging von verschiedenen Gebieten der Monarchie aus. Während in den 1860er und 1870er-Jahren vor allem Migranten und Migrantinnen aus Böhmen, Mähren und den tschechischen Gebieten den Weg in die Hauptstadt suchten, wanderten gegen Ende des 19. Jahrhunderts große Gruppen aus den östlichen Gebieten der Monarchie ein, etwa aus dem aus Wiener Perspektive als peripher geltenden Galizien. Der 1867 vollzogene Ausgleich mit Ungarn, der die beiden Reichshälften zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum mit einheitlichen Regelungen zusammenschloss, ermöglichte den Aufstieg einer neuen Schicht von Bankiers, Händlern und Unternehmern, die oftmals aus den Kronländern abwanderten, um in Wien neue Möglichkeiten und Geschäftszweige zu suchen. Das im selben Jahr erlassene Staatsgrundgesetz brachte eine weitere wichtige Neuerung: Erstmals in der österreichischen Geschichte wurden Juden als gleichberechtigte österreichische Staatsbürger anerkannt. Besonders groß war daher der Zustrom jüdischer Binnenmigranten und -migrantinnen, denen ein kaiserlicher Erlass ab dem Jahr 1860 den Erwerb von Grundbesitz ermöglichte.9 Wien wurde in dieser Zeit der Globalisierung und Industrialisierung zum Zentrum des Neuanfangs für Aufsteiger und Aufsteigerinnen aus den Kronländern. Vor allem aus ländli7

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Im Jahr 1910 zählte die Hauptstadt 2.083.630 Einwohner. Vgl. Statistik Austria, Statistisches Jahrbuch 2015. Kapitel 2: Bevölkerung, 40. Online unter:  http://www.statistik.at/web_de/services/ stat_jahrbuch/index.html (zuletzt abgerufen am 20.04.2015). 1910 waren 51,2 Prozent der Wiener und Wienerinnen nicht in der Stadt geboren. Bei den Millionären des Jahres 1910 betraf das 63,6 Prozent. Vgl. Roman Sandgruber, Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Wien – Graz – Klagenfurt 2013, 168. Vgl. Georg Gaugusch, Der jüdische Hausbesitz in der Wiener Innenstadt und die Ringstraßenzone bis 1885, in: Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hrsg.), Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard, Wien 2015, 98.

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chen Gegenden zugewanderte, oftmals jüdische Familien zeigten beispielhaft, dass der soziale Aufstieg im Vielvölkerstaat keine Seltenheit darstellte. Typischerweise arbeiteten sich viele Wien-Immigranten, darunter vor allem Männer, von Kleinhändlern in der Provinz zu Besitzern von Großbetrieben oder Bankunternehmen in der Hauptstadt empor. Der Nachfolgegeneration gelang es, sich in liberalen und intellektuellen Berufen zu etablieren und somit die Stellung der Familie in der „Zweiten Gesellschaft“ – jener sozialen Schicht, die hierarchisch zwischen dem Adel und dem niederen Bürgertum einzuordnen war – zu festigen.10 Die Migranten und Migrantinnen der Gründerzeit brachten nicht nur Geschäftssinn, sondern auch eine neue Dynamik nach Wien und arbeiteten sich an die Spitze einer nach Emanzipation und sozialen Anerkennung strebenden Wirtschaftselite empor. Mit dem Aufstieg in eine wohlhabende Unternehmerschicht gingen sowohl Assimilation und Akkulturation einher als auch das Bedürfnis die neu gewonnene Stellung und das neu erworbene Vermögen repräsentativ zur Schau zu stellen. Da diese aufstrebende soziale Gruppe auf keine eigene historische Tradition in der Stadtgeschichte zurückgreifen konnte, galt es diese fehlende Identität anderweitig zu konstruieren. Kunstförderung und die damit verbundene „Verbürgerlichung der Künste“ spielte in diesem Zusammenhang keine unbedeutende Rolle.11 Die Einwanderung wirkte sich demnach nicht nur auf Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern in größtem Maße auch auf den kulturellen Bereich aus. Die transnationale Migration und die damit einhergehende kulturelle Pluralität förderten das kreative Potenzial in der Hauptstadt. Als „arrival city“ profitierte Wien somit von der Innovationskraft seiner neuen Stadtbewohner und Stadtbewohnerinnen. 2. Dynamik der Ringstraßenzeit

Der Ausbau und die Umgestaltung der Residenzstadt, die sowohl für das Stadtzentrum als auch für die Außenbezirke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnend waren, entsprachen einer demografischen Notwendigkeit. Parallel zum Bevölkerungswachstum setzte die städtebauliche Veränderung Wiens und eine damit verbundene Aufbruchsstimmung ein. 1857 hatte Kaiser Franz Joseph I. die Verschönerung und Erweiterung seiner Residenzstadt in Auftrag gegeben. Anstelle der bis dahin die Stadt umschließenden Festungsmauern und dem davor gelagerten Glacis, einem im 17. Jahrhundert angelegten unbebauten Brachland, das vormals Verteidigungszwecken diente, sollte ein Prachtboulevard konzipiert werden. Die Stadterweiterungszone wurde nicht nur Standort öffentlicher Gebäude, sondern auch Bauland für zahlreiche private Investoren. Da sich nur wenige Vertreter und Vertreterinnen 10 Vgl. Pollak, Kulturelle Innovation und soziale Identität im Wien des Fin de Siècle, 104. 11 Vgl. Helmut Konrad, Zeitgeschichte und Moderne, in: Rudolf Haller (Hrsg.), Nach Kakanien. Annäherung an die Moderne, Studien zur Moderne 1, Wien – Köln – Weimar 1996, 35.

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des Adels im neuen Stadtgebiet niederließen, wurde die Ringstraße zum Wohnbezirk einer großbürgerlichen unternehmerischen Führungsschicht, und zum symbolischen Ausdruck des gesellschaftlichen Modernisierungsschubs. Viele Profiteure der Gründerzeit, die sogenannten „neuen Reichen“, waren im Zuge von Migrationsbewegungen erst im 19. Jahrhundert in die Stadt gekommen. Darunter nicht wenige jüdische Familien – fast die Hälfte der an Privatpersonen verkauften Bauparzellen auf den Glacisgründen gelangte in jüdischen Besitz12 – denen seit 1860 nun erstmals das Recht auf Grunderwerb zugestanden wurde. Somit finden sich unter den Auftraggebern der prächtigen Ringstraßenpalais Einzelpersonen oder Familien wie die Ephrussis, die Epsteins, die Todescos, die Gutmanns und die Geschwister Lieben, die allesamt als Neuankömmlinge in Wien galten. Diese Aufsteiger erhoben die Ringstraße zum Ort ihrer Emanzipation und kulturellen Selbstdarstellung und schufen gleichzeitig durch den Erwerb von Grundbesitz die finanzielle Basis für die Errichtung der staatlichen Gebäude.13 Um ihrer neuen gesellschaftlichen Stellung Ausdruck zu verleihen, eiferten sie bei der Gestaltung ihrer Bürgerpaläste historischen Formensprachen nach und imitierten die Architektur adeliger Innenstadtresidenzen.14 Auch die vermögendste unter den bürgerlichen Familien, die Familie Rothschild, war erst seit dem frühen 19. Jahrhundert in Wien ansässig. Der in Frankfurt geborene Stammvater der Wiener Linie, Salomon Mayer Freiherr von Rothschild, war 1816 nach Wien übersiedelt. Ein Jahr später trat er dort mit der neu gegründeten Rothschild-Bank als bedeutender Geldgeber des Staates und Förderer der Industrialisierung Öster12 Vgl. Gaugusch, Der jüdische Hausbesitz in der Wiener Innenstadt und der Ringstraßenzone bis 1885, 103. 13 Der in Wien erfolgreiche Bankier und Kunstsammler Ignaz von Ephrussi war ein russischer Zuwanderer griechischer Herkunft. In seiner Heimatstadt Odessa, wo er 1829 geboren wurde, war er als Gründer verschiedener Bankinstitute bekannt, in Wien etablierte er 1856 das Bankhaus Ephrussi & Co, dem weitere Filialen in Paris und London angehörten. Gustav Ritter Epstein, der Sohn des Textilindustriellen, Großhändlers und Bankiers Lazar Epstein, stammte ursprünglich aus Prag, wo auch der Stammvater der Familie Lieben, Ignatz Lieben, ein renommierter österreichischer Kaufmann, Großhändler und einflussreicher Bankier, geboren wurde. Die ebenso im Bankgeschäft tätigen Unternehmer Moritz und Eduard Todesco zählen zu den Zuwanderern zweiter Generation, sie stammten aus einer rumänisch-jüdischen Familie. Als Repräsentant der zweiten Generation ist auch Nicolaus Dumba zu nennen, ein Bauwollgarn-Exporteur, der sich neben seiner politischen Laufbahn als großer Förderer von Kunst und Musik verdient machte. Der 1826 im mährischen Leipnik geborene Kohlenindustrielle Wilhelm Gutmann war 1850 nach Wien gekommen, wo er mit seinem Bruder David Gutmann die Kohlengroßhandelsfirma Gebrüder Gutmann gründete. Vgl. Sophie Lillie, Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Wien 2003, 339, 439. Hans Morgenstern, Jüdisches Biographisches Lexikon. Eine Sammlung von bedeutenden Persönlichkeiten jüdischer Herkunft ab 1800, Wien – Berlin 2009, 202–203, 808. Nicolaus Dumba, in: Österreichisches Biografisches Lexikon, 1815–1950, Bd. 1, 1956, 203. 14 Vgl. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, 25.

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reichs hervor. Er finanzierte den Bau der ältesten Eisenbahnlinie der Habsburgermonarchie, die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn, und somit eine wichtige Verbindung der Hauptstadt mit den nordöstlichen Gebieten der Monarchie von den mährischen Industriegebieten bis zu den Rohstoffarealen in Galizien. Wohlstand und Reichtum von Salomon Rothschild gründeten auf beachtlichem Grundbesitz und den Witkowitzer Eisenwerken in Mähren, die er zu einem der größten eisenerzeugenden Unternehmen der Monarchie ausbaute.15 Nach zwei Generationen hatten sich die Rothschilds in Wien nicht nur etabliert, sondern waren an die Spitze der Vermögenspyramide und der bürgerlichen Gesellschaft aufgestiegen. Wie viele Aufsteiger ihrer Zeit betätigten sie sich als Kunstsammler, Mäzene und Philanthropen, wohnten jedoch anders als andere Neuankömmlinge in Wien nicht entlang der Ringstraße, sondern in Palaisbauten im noblen vierten Bezirk, wo auch viele Adelige residierten.16 Der gewaltige Ausbau der Innenstadt bedurfte großer Ressourcen an Arbeitskräften und Baumaterialien. Die Modernisierung wäre ohne den Zustrom von Migranten und Migrantinnen aus den Kronländern nicht realisierbar gewesen. Ähnlich wie Arbeiter und Wirtschaftstreibende wurden auch Kulturschaffende von der Sogwirkung der Großstadt, der städtebaulichen Modernisierung und den Verheißungen des Ringstraßenprojekts angezogen. Pragmatische Gründe wie der gesellschaftliche Aufbruch, Arbeitsbedingungen und Absatzsowie Verwertungsmöglichkeiten von Kunst durch die begünstigte Auftragslage galten als Voraussetzungen für die Migration von kreativen Talenten. Über Jahrzehnte fanden Architekten, Maler und Bildhauer mit der Ausführung der architektonischen und künstlerischen Gestaltung der Ringstraßenzone Beschäftigung.17 Nicht wenige der renommierten Architekten der Zeit hatten einen internationalen Hintergrund. Darunter zum Beispiel der 1797 in Ansbach in Mittelfranken geborene Ludwig Ritter von Förster, der nach seinem Studium in München im Jahr 1818 seine Reise nach Wien antrat.18 1836 gründete er die „Allgemeine Bauzeitung“, die führende Fachzeitschrift dieser Zeit, und wandte sich ab 1839 mit mehreren Plänen für die Stadterweiterung an die Öffentlichkeit. Förster war jahrelang die treibende Kraft der Stadterweiterung. Bei dem 1858 ausgeschriebenen Entwurfswettbewerb konnte er neben dem Projekt des Architektenduos Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg sowie dem Entwurf von Friedrich Stache mit seiner eingereichten Idee als Preisträger reüs15 Salomon Mayer Freiherr von Rothschild wurde 1843 zum ersten jüdischen Ehrenbürger Wiens ernannt und konnte daher bereits vor dem Erlass der Realbesitzfähigkeit für Israeliten im Jahr 1860 trotz jüdischer Herkunft Grundbesitz erwerben. Vgl. Fritz Backhaus, Salomon Mayer Freiherr von Rothschild, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), 133. Onlinefassung: http://www.deutsche-biographie.de/ppn116641924.html (zuletzt abgerufen am 20.04.2015). 16 Vgl. Sandgruber, Traumzeit für Millionäre, 26–27. 17 Die kreativen Entwicklungen dieser Zeit wurden vor allem von männlichen Künstlern dominiert. 18 Vgl. Renate Wagner-Rieger/Mara Reissberger/Theophil von Hansen, Die Wiener Ringstraße, Bd. VIII. Die Bauten und ihre Architekten, Wiesbaden 1980, 28.

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sieren.19 Während Förster von 1843 bis 1846 an der Wiener Akademie der bildenden Künste lehrte, holte er den Dänen Theophil Hansen zu sich in sein Wiener Atelier. Försters Mitarbeiter und späterer Schwiegersohn, der 1813 in Kopenhagen geboren wurde, hatte sich davor in Athen mit der griechischen Architektur auseinandergesetzt. Hansen avancierte zum beliebtesten und vielbeschäftigten Architekten des Wiener Bürgertums. Ununterbrochen plante er neue Projekte und nahm rege am großen Aufschwung der Bautätigkeit teil. Unter anderem stammen die Entwürfe der Wohnpaläste der Familien Ephrussi und Epstein sowie die Konzeption des Parlaments, der Wiener Börse, des Musikvereins, der Akademie der bildenden Künste, der Evangelischen Schule und die Inneneinrichtung des von Förster geplanten Palais Todesco aus seiner Feder. Als Designer arbeitete Hansen mit dem Wiener Kunsthandwerk zusammen und zeichnete sich als Verfechter der „Idee des Gesamtkunstwerks“ neben architektonischen Entwürfen auch für Einrichtungen und Ausstattungen seiner Bauwerke verantwortlich. Hansens Bauten prägten nicht nur den architektonischen Charakter der Ringstraße, sondern die Stadtentwicklung als Ganzes. Mit dem Heinrichshof, einem ab 1860 gegenüber der Oper errichteten Zinspalais, das 1945 von einem Bombentreffer stark beschädigt und in Folge abgetragen wurde, schuf Hansen den neuen Typus des repräsentativen palastartigen Wohnhauses der Gründerzeit, der dem Zinshausbau im österreichischen Kernland bis in die 1880er-Jahre als Beispiel galt.20 Aus den deutschen Ländern machten sich der gebürtige Hamburger Gottfried Semper, geboren 1803, und der aus Baden-Württemberg stammende Friedrich Schmidt, 1825 in Frickenhofen geboren, um Prachtbauten der Ringstraße verdient. Semper wurde 1869 als Gutachter für den Bau der Wiener Hofmuseen herangezogen. Er übersiedelte 1871 nach Wien und realisierte dort gemeinsam mit dem gebürtigen Wiener Carl Freiherr von Hasenauer die Gestaltung der Hofmuseen, die Erweiterung der Hofburg und die Konzeption des neuen Burgtheaters. Obwohl Semper nur ein paar Jahre in Wien verweilte, prägte er mit seinen ausgeführten Bauten und Ideen die Wiener Architekturgeschichte. Bahnbrechend war zum Beispiel der mit Hasenauer entwickelte, aber nicht gänzlich realisierte Vorschlag, das Areal der Hofburg, der Hofmuseen und der Hofstallungen zu einem riesigen „Kaiserforum“ auszubauen. Schmidt hatte bereits 1855 im Zuge des Entwurfswettbewerbs für die Votivkirche in Wien auf sich aufmerksam gemacht, den Auftrag konnte jedoch der Wiener Heinrich von Ferstel für sich gewinnen. Dennoch wurde Schmidt, der für seine Projektidee einen Preis erhielt, 1857 im Auftrag des österreichischen Unterrichtsministers an die Mailander Akademie berufen. Zwei Jahre später wurde ihm die Pro-

19 Vgl. Katharina Schoeller, Pioniere der Ringstraße. Eine Architektengeneration für das Monumentale, in: Harald R. Stühlinger (Hrsg.), Vom Werden der Wiener Ringstraße, Wien 2015, 109–110. 20 Vgl. Andreas Nierhaus, Baustelle Ringstraße. Ein Boulevard der großen Ambitionen, in: Wolfgang Kos Eugen Brixel/Gunter Martin/Gottfried Pils Ralph Gleis (Hrsg.), Experiment Metropole. 1873. Wien und die Weltausstellung, Ausst.-Katalog Wien Museum, Wien 2013, 311.

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fessur für mittelalterliche Baukunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien angeboten. In der Donaustadt entwickelte sich Schmidt zu einem der prägendsten Baumeister der Zeit. Die neugotische Formensprache, die er sowohl in seinen Sakral- als auch in seinen Profanbauten forcierte, wurde zu einem wichtigen Charakteristikum der Ringstraßenarchitektur. Beispielhaft für seine intensive Auseinandersetzung mit der Gotik ist auch sein Hauptwerk, das Wiener Rathaus. Von 1859 bis zu seinem Lebensende lehrte Schmidt an der Wiener Akademie. 21 In den 1860er-Jahren unterrichtete gleichzeitig mit Schmidt August Sicard von Sicardsburg an der Wiener Kunstuniversität. Auch er war kein gebürtiger Wiener, sondern wurde 1813 als Sohn eines Beamten der österreichischen Nationalbank in Budapest geboren. August Sicard von Sicardsburg zog das Studium am Polytechnischen Institut nach Wien. Gemeinsam mit seinem Studienkollegen und langjährigen Atelierpartner, Eduard van der Nüll, machte er als Architekt Karriere – das Duo wurde beim Entwurfswettbewerb für die Stadterweiterung 1858 ausgezeichnet und konnte auch die Ausschreibung für die Hofoper, dem ersten realisierten Prunkbau entlang der Ringstraße, für sich gewinnen. August Sicardsburg war Mitbegründer der 1861 etablierten Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens mit Sitz im Künstlerhaus und deren erster Präsident. Gemeinsam mit Eduard van der Nüll prägte er die österreichische Architektur des spätromantischen Historismus. Durch ihre Schüler, darunter Carl von Hasenauer und Heinrich von Ferstl, beeinflussten sie eine ganze Architektengeneration und somit auch den Ringstraßenstil maßgeblich. Ein anderer ihrer Schüler, der 1842 in Pressburg geborene Wilhelm Stiassny, übersiedelte in seiner Kindheit nach Wien, wo sein Vater ein Textilgeschäft betrieb. Zu Beginn seiner Karriere war Stiassny im Atelier von Friedrich Schmidt tätig, bis er sich 1868 als selbstständiger Architekt versuchte. Stiassny gehörte bald zu den meistbeschäftigten Baumeistern Wiens, er errichtete über hundert Wohn- und Geschäftsbauten, Fabriken, Schulen, Spitäler und zahlreiche Synagogen in Wien und in verschiedenen Städten der Monarchie.22 Neben seiner Tätigkeit für die liberale Fraktion im Wiener Gemeinderat, wo er aufgrund seiner jüdischen Herkunft mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert wurde, realisierte er eine Reihe von Wohlfahrtseinrichtungen, großteils für jüdische Auftraggeber, zu denen auch die Familie Rothschild zählte.23 Dem Studentenkreis von Sicardsburg und van der Nüll gehörte ebenso der Prager August Weber an. Er gestaltete mit dem Gebäude der Gartenbaugesellschaft und dem Künstlerhaus zwei frühe Bauwerke der Ringstraßenzone, ehe er seinen Lebensmittelpunkt nach Russland verlagerte.24 21 Vgl. Historisches Museum der Stadt Wien (Hrsg.), Friedrich von Schmidt (1825–1891). Ein gotischer Rationalist, Ausst.-Katalog Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 1991, 74, 81. 22 Vgl. Satoko Tanaka/Wilhlem Stiassny (1842–1910). Synagogenbau, Orientalismus und jüdische Identität, unveröff. Dissertation Universität Wien, Wien 2009, 16–22. 23 Vgl. Sandgruber, Traumzeit für Millionäre, 99. 24 Vgl. Elisabeth Springer, Geschichte und Kulturleben der Wiener Ringstraße, Bd. II. Wiesbaden 1979, 283–284.

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Zu der jüngeren Generation der nach Wien zugewanderten Architekten zählte außerdem Hermann Helmer. Er wurde 1849 bei Hamburg geboren und zog nach seiner Ausbildung in München zur Zusammenarbeit mit Ferdinand Fellner in die Donaumetropole. Von 1873 bis 1914 hatte die Ateliergemeinschaft „Fellner & Helmer“ unbestritten die Führung im Theaterbau in Mittel- und Südosteuropa inne. Neben Theater- und Saalbauten errichtete das Duo Villen und Zinshäuser, Banken und Kaufhäuser sowie Hotels und Fabriken. Der Zusammenarbeit mit diesem erfolgreichen Architektenbüro der Gründerzeit verdankte auch der junge Gustav Klimt erste Ausstattungsaufträge, die er gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Ernst und seinem Studienfreund Franz Matsch ausführte. 1904 gründete Hermann Helmer mit dem in Schlesien geborenen Ludwig Baumann die Zentralvereinigung der Architekten, die Standesorganisation freischaffender Architekten.25 Baumann avancierte nach dem Studium in Zürich bei Gottfried Semper zum beliebten Architekten des Großbürgertums – zu seinen wichtigsten Bauaufträgen zählt die Realisierung der Berndorfer Arbeitersiedlung im Auftrag des Industriellen Arthur Krupp. Ab 1907 leitete der von Erzherzog Ferdinand protegierte Architekt den Bau der Neuen Hofburg und folgte damit dem aus Lemberg stammenden Friedrich Ohmann (geboren 1858), an dessen Wirken heute noch die Wienflussregulierung und das Palmenhaus im Burggarten erinnern, in diese Position nach. Als Ludwig Baumanns Hauptwerk gilt das zwischen 1913 und 1918 im neobarocken Stil realisierte Kriegsministerium am Stubenring. Während Baumann den noch unbebauten Abschnitt der Ringstraße mit späthistoristischer Monumentalarchitektur vollendete, hatte Otto Wagner, der sich ebenso als Architekt für das Kriegsministerium beworben hatte, ein paar Jahre zuvor mit dem gegenüber dem Ministerium gelegenen Bau der Postsparkasse (1904–1912) bereits eine moderne architektonische Formensprache erprobt.26 Exemplarisch stehen sich hier im Stubenviertel ein letzter Prachtbau des Historismus und der Beginn der Moderne gegenüber. Unter den Bildhauern und Malern finden sich ebenso prominente Beispiele von Künstlern mit Migrationshintergrund. Die Heldendenkmäler von Erzherzog Karl und Prinz Eugen, die dem Platz vor der Hofburg ihren Namen gaben, wurden zum Beispiel vom 1813 in Erfurt geborenen Bildhauer Anton Dominik Fernkorn entworfen, der ab 1850 in Wien tätig war. Das vor der Albertina platzierte Heldenmonument für Erzherzog Albrecht ist ebenfalls aus Fernkorns Werkstatt. Der Schöpfer des Maria-Theresien-Denkmals zwischen den Wiener Hofmuseen, der 1830 geborene Caspar Zumbusch, stammte ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen. Von 1873 bis 1901 leitete er die Meisterklasse für höhere Bildhauerei an der Wiener Akademie der bildenden Künste. Seine Monumentalplastiken, darunter das Beethoven-Denkmal und 25 Vgl. Rudolf Kolowrath, Ludwig Baumann. 1853–1936. Architektur zwischen Barock und Jugendstil, Wien 1985, 12. 26 Vgl. Renata Kassal-Mikula, Architektur, in: Robert Waissenberger (Hrsg.), Wien 1890–1920, Ausst.-Katalog Historisches Museum der Stadt Wien, Wien – Heidelberg 1984, 180, 208.

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das kolossale Reiterstandbild für Feldmarschall Radetzky, zählen wie die Werke Fernkorns zu den wichtigsten Statuen der Wiener Gründerzeit. Auch Viktor Tilgner, ein Bildhauer den Kaiser Franz Joseph I. aufgrund seiner neobarocken Formensprache präferierte, wurde 1844 in Pressburg geboren. Bereits als Kind übersiedelte er mit seiner Familie nach Wien, wo er an der Akademie der bildenden Künste studierte. Tilgner schuf Bauplastiken für die Neue Burg, die Hofmuseen, das Künstlerhaus und das Burgtheater, aber auch monumentale Werke im öffentlichen Raum wie Denkmäler oder Brunnenanlagen. Als eines seiner Hauptwerke gilt das Mozartdenkmal im Wiener Burggarten. Etliche Ringstraßenbauten wurden mit Statuen des von Hansen protegierten Vincenz Pils ausgestattet. Den 1816 in Warnsdorf im nördlichen Tschechien geborenen Bildhauer hatte wie viele andere Künstlertalente aus den Provinzen das Studium an der Wiener Akademie der bildenden Künste in die Hauptstadt geführt.27 Der Maler, der die Ringstraßenzeit ganz wesentlich bestimmen sollte, war der Salzburger Hans Makart (geboren 1840). Auch er war 1858 zum Studium an der Kunstuniversität nach Wien gekommen, wechselte aber kurz darauf an die Münchner Akademie. Seine Rückkehr nach Wien im Jahr 1869 erfolgte durch die Berufung von Kaiser Franz Joseph I., der ihn als wichtigen Ausstattungsmaler an den Aufgaben der Ringstraßenzeit beteiligen wollte. In der Donaustadt entwickelte sich der „Malerfürst“ Makart bereits nach kurzer Zeit zu dem begehrtesten Porträtmaler der dortigen Gesellschaft. Mit seiner Dekorationskunst beeinflusste er nicht nur die Wohnkultur, sondern auch Theater, Kunst und Mode. 1879 erlangte Makart schließlich eine Professur für Historienmalerei an der Akademie der bildenden Künste. Nach seinem frühen Tod im Jahr 1884 übernahm die Künstlergemeinschaft der Brüder Klimt gemeinsam mit dem Historienmaler Franz Matsch zahlreiche seiner Aufträge für Wand- und Deckendekorationen. Als bedeutsamer Porträt- und Ausstattungsmaler der Zeit und wesentlicher Konkurrent Makarts ist der 1829 in Wien geborene Johann Strašiřipka zu nennen, der seinen Zeitgenossen besser unter dem Künstlernamen Hans Canon bekannt war. 28 Er repräsentierte die zweite Generation von Zuwandererfamilien in Wien – sein Vater war ein aus Prag stammender Landvermesser. Nach seiner Ausbildung in Wien und zahlreichen Studienreisen lebte er einige Jahre in Karlsruhe und Stuttgart und kehrte erst 1874 in seine Heimatstadt zurück. Neben der Dekorations-, Landschafts- und Porträtmalerei erfreute sich die Auseinandersetzung mit fernen Kulturen und exotischen Sujets in Form der Orientmalerei sowohl in Künstlerkreisen als auch beim Publikum großer Beliebtheit. Als wichtigster Vertreter dieser Gattung in Österreich ist der Dresdner Leopold Carl Müller zu nennen, der bereits in jungen Jahren mit seinen Eltern nach Wien übersiedelte und sich im Zuge zahlreicher Reisen nach Ägypten mit orientalischen Motiven vertraut machte. 1877 erhielt er eine Professur 27 Vgl. Springer, Geschichte und Kulturleben der Wiener Ringstraße, 390. 28 Vgl. Werner Kitlitschka, Die Malerei der Wiener Ringstraße, Renate Wagner-Rieger (Hrsg.), Die Wiener Ringstraße, Bd. X., Wiesebaden 1981, 137.

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an der Wiener Akademie der bildenden Künste, der er 1890/91 als Rektor vorstand. Auch der aus dem Rheinland stammende Wilhelm Gause, ein bekannter Illustrator für nationale und internationale Medien der Zeit, zählt zu jenen Künstlern, die sich erst im Laufe ihrer Karriere in Wien niederließen. Dort widmete er sich Motiven aus dem Volksleben und gesellschaftlichen Ereignissen wie Festen und Bällen und schuf betont realistische Dokumentationen des Wiener Alltagslebens des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts.29 Angesichts der vorgestellten Künstler sowie deren unterschiedlichen Herkunftsorten kann die architektonische Realisierung der Ringstraßenzone und ihre künstlerische Ausstattung demnach nicht allein als Wiener Leistung gelten, sondern muss im Zusammenhang mit Migration als internationales Projekt der Gründerzeit gesehen werden.30 Der ab den 1860er-Jahren einsetzende dynamische Aufschwung der Hauptstadt war eng mit Einflüssen aus den habsburgischen Provinzen und dem näheren Ausland verbunden, die bis zum Ersten Weltkrieg nicht abrissen, sondern wesentliche Entwicklungen des berühmten Wiener Fin de Siècle bestimmen sollten. 3. Aufbruch in die Moderne

Wien um 1900 steht zum einen für eine Zeit von sozialen und politischen Konflikten, zum anderen für eine Blütezeit der Kreativität und intensive Phase der Erneuerung der Künste. Die Sogwirkung der Stadt auf Künstler war ungebrochen. Nicht wenige Exponenten der prägenden Entwicklungen waren erst im Laufe ihrer Studien nach Wien zugewandert. Die langwierige Realisierung der Ringstraßenzone führte dazu, dass sich das Konzept schließlich selbst überholte und neue stilistische Vorstellungen in den Vordergrund traten. Dem Zeitalter des Historismus und seiner Repräsentationskunst folgte eine neue ästhetische Kultur, die von bereits etablierten und jungen Künstlertalenten getragen wurde, die einer modernen Formensprache verschrieben waren und mit althergebrachten Traditionen brechen wollten. Als Schlüsselfigur der Wiener Architekturgeschichte und als Pionier eines neuen künstlerischen Ausdrucks gilt Otto Wagner, der 1841 in Wien geboren wurde, jedoch wie viele seiner Künstlerkollegen aus einer Familie stammte, die aus der Provinz zugewandert war. Sein Vater, Simeon Wagner, Notar der ungarischen Hofkanzlei, war ein gebürtiger Pressburger.31 Otto 29 Vgl. Harry Kühnel, Der Illustrator und Maler Wilhelm Gause, in: Harry Kühnel (Hrsg.), Wilhelm Gause. Ölbilder – Aquarelle – Gouachen – Zeichnungen, Ausstellungskatalog Moderne Galerie Dominikanerkloster Krems, Krems 1979, 1–3. 30 Der Kommission, die im Auftrag von Kaiser Franz Joseph I. an der Erarbeitung eines Grundplans für die Stadterweiterung feilte, gehörten neben Vertretern des Militärs und Ministerialbeamten auch Architekten wie Ludwig Förster, Theophil Hansen und August Sicard von Sicardsburg an. Vgl. Schoeller, Pioniere der Ringstraße. Eine Architektengeneration für das Monumentale, 109. 31 Vgl. Christian M. Nebehay, Wien speziell. Architektur und Malerei um 1900, Wien 2000, 82.

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Wagner gehörte einer jüngeren Generation von Ringstraßenarchitekten und dem Schülerkreis von Sicardsburg und van der Nüll an. Erste praktische Erfahrungen sammelte er im Atelier von Ludwig Förster. Während seiner Tätigkeit als selbstständiger Architekt kehrte er den Traditionen des Historismus den Rücken und bemühte sich um eine zweckbestimmte, fortschrittliche Architektur, in der Funktionalität und Ästhetik gleichermaßen im Mittelpunkt stehen sollten. Die Verwendung von modernen Materialen wie Aluminium und Stahlbeton, Innovation und Nützlichkeit bestimmten fortan seine Bauten. Er postulierte die Idee des Gesamtkunstwerks und verstand die Architektur als Ausdruck ihrer Zeit. Im Zuge seiner Lehrtätigkeit an der Wiener Akademie der bildenden Künste zwischen 1894 und 1912 prägte er mit seiner Absage an den Historismus und den Forderungen nach einem „Zweckstil“ eine Vielzahl an Talenten. Für die Planung und Realisierung der Stadtbahn gründete er ein großes Atelier, in das seine Schüler, darunter namhafte Architekten wie Joseph Maria Olbrich, Max Fabiani, Josef Plecnik, Jan Kotěra, Leopold Bauer, Hubert Gessner und Josef Hoffmann, ihre kreativen Ideen einbrachten. Die Biografien all jener hier genannten um 1900 aktiven Baumeister zeugen von provinzieller Herkunft und dem Wissen um die Notwendigkeit der Mobilität.32 Der Wunsch nach einer professionellen Ausbildung führte zum Aufbruch von der Provinz in die Metropole und schließlich in vielen Fällen zum Erfolg in der Großstadt. Ein Viertel der Wagner-Schüler kam aus dem heutigen Tschechien.33 Ebenso reisten Studenten aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus dem heutigen Deutschland, der Ukraine, Ungarn und Rumänien sowie aus Bulgarien und der Schweiz zum Studium in Wagners Meisterklasse nach Wien an.34 Der in 1867 im mährisch-schlesischen Troppau geborene Joseph Maria Olbrich arbeitete nach seiner Studienzeit jahrelang eng mit Otto Wagner zusammen, ehe er 1899 vom Großherzog von Hessen zum Bauleiter der Darmstädter Künstlerkolonie berufen wurde. Seine moderne Ästhetik stellte er beim Vereinsgebäude der Secession, dem Pionierbau des Wiener Jugendstils, unter Beweis.35 Durch Vermittlung von Olbrich kam der aus dem istrischen Küstenland stammende Max Fabini (geboren 1865) nach seiner Ausbildung in Laibach und an der Technischen Hochschule in Wien ins Atelier Otto Wagners. Fabini sollte seinen funktionalen Stil in der Hauptstadt unter anderem im Volksbildungshaus der Wiener Urania ver32 Vgl. Manfred Wagner, Zum kulturellen Umfeld Alexander Zemlinskys im Wien der Jahrhundertwende, in: Manfred Wagner, Europäische Kulturgeschichte: gelebt, gedacht, vermittelt (Studien zu Politik und Verwaltung Bd. 79), Wien – Köln – Weimar 2009, 623. 33 Vgl. Jindřich Vybíral, Junge Meister. Architekten aus der Schule Otto Wagners in Mähren und Schlesien, Wien – Köln – Weimar 2007, 8. 34 Vgl. Richard Kurdiovsky, Die Wagner-Schule, in: Christian Brandstätter (Hrsg.), Wien 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne, Wien 2011, 265. 35 Vgl. Richard Kurdiovsky, Joseph Maria Olbrich, in: Christian Brandstätter (Hrsg.), Wien 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne, Wien 2011, 271.

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ewigen. Von seinem Verständnis der Moderne, das er während seiner langjährigen Lehrtätigkeit an der Wiener Technischen Hochschule an seine Schüler weitergab, zeugen sowohl ein umfangreiches architektonischen Oeuvre als auch bedeutende publizistische Beiträge. Der ausgebildete Tischler Josef Plecnik (geboren 1872 in Laibach) zählte ebenso zum Kreis der Wagner-Schüler. Ursprünglich hatte Wagner ihn sogar als seinen Nachfolger an der Wiener Akademie der bildenden Künste vorgeschlagen, allerdings wusste Thronfolger Franz Ferdinand Plecniks Berufung aufgrund seiner slowenischen Nationalität zu verhindern. Er brachte die in Wien gewonnenen Erfahrungen an seinen späteren Wirkstätten in Prag und Laibach ein, wo er sich mit seiner neuen Architektursprache als ein wesentlicher Lehrer und Baumeister der Moderne etablierte. Mit dem Brünner Jan Kotěra (geboren 1871) verband Plecnik eine enge Freundschaft. Das Studium bei Wagner hatte Kotěra, der nach seiner Ausbildung in Wien eine Professur an der Prager Kunstgewerbeschule innehatte, zum Verfechter moderner Materialien und zweckmäßiger Formen gemacht. Er prägte die tschechische moderne Architektur maßgeblich und beeinflusste eine nachfolgende Generation von jungen Architekten. Wagners Ideal von der Zweckmäßigkeit der Architektur war auch sein aus Schlesien stammender Schüler und späterer Mitarbeiter Leopold Bauer (geboren 1872) verpflichtet. Er beschäftigte sich publizistisch mit den Baustilen der Moderne und untermauerte sein architektonisches Wirken mit theoretischen Reflexionen. Bauer hatte vor seiner Ausbildung in Wien die Realschule in Brünn besucht, gemeinsam mit Hubert Gessner und Wagners wohl prominentesten Schüler, Josef Hoffmann. Ersterer entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einem der gefragtesten Architekten der Wohnbauprojekte des Roten Wien. Zahlreiche seiner Werke entstanden in Zusammenarbeit mit seinem jüngeren Bruder Franz Gessner, der ebenso nach der Schulzeit in Tschechien, Wagners Meisterklasse in Wien besuchte.36 Der 1870 im mährischen Pirnitz geborene Josef Hoffmann gilt in mehrfacher Weise als Pionier der Moderne. Er entwickelte sich im Laufe seiner Karriere zum Wiener Modearchitekten revolutionärer Bauten und Inneneinrichtungen. Während seiner Studienjahre knüpfte er enge Freundschaften mit Joseph Maria Olbrich und dem Maler Koloman Moser, mit denen er gemeinsam mit Jan Kotěra, dem Architekten Friedrich Pilz, dem mährischen Maler Max Kurzweil, dem Kärntner Maler Leo Kainradl und dem galizischen Maler Adolf Karpellus 1892 den sogenannten „Siebener Club“ gründete.37 Dieser Stammtisch und mit ihm eine zweite ab den späten 1870er-Jahren regelmäßig zusammentreffende Künstlergruppe, die „Haagenge-

36 Vgl. Markus Kristan/Gabriela Gantenbein (Hrsg.), Hubert Gessner. Architekt zwischen Kaiser und Sozialdemokratie. 1871–1943, Wien 2011, 85f. 37 Die genannten Künstler zählten zu den ständigen Mitgliedern der Stammtischrunde, der abwechselnd auch andere Kunstschaffende angehörten. Vgl. Horst-Herbert Kossatz, Josef Hoffmann, Adolf Loos und die Wiener Kunst der Jahrhundertwende in: Alte und moderne Kunst, Jg. 15., Nr. 113, Nov./Dez. 1970, 2–3.

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sellschaft“,38 deren Mitglieder teilweise ebenso aus den österreichischen Provinzen stammen, gelten als die Keimzelle der secessionistischen Ideen und der Wiener Moderne.39 Der Großteil der Mitglieder der beiden Gruppierungen und andere Gleichgesinnte traten 1897 aus der im Künstlerhaus ansässigen Genossenschaft der bildenden Künstler aus. Unter der Präsidentschaft von Gustav Klimt bildeten sie die Vereinigung der bildenden Künstler Österreichs – Wiener Secession, die sich gegen den konservativen Kunstbegriff der Genossenschaft und gegen die üppige Stilvielfalt des Historismus wandte und gemäß der Maxime „Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit“40 einen Bruch mit vorangegangenen Traditionen und dem opulenten Ringstraßenstil postulierte.41 Die Gründung der Secession war einer der wichtigsten Marksteine der österreichischen Kunst- und Kulturgeschichte. Das Streben nach einem neuen klaren künstlerischen Ausdruck, die Vernetzung mit internationalen Kunstzentren der Zeit, die Demokratisierung des Ausstellungswesens sowie die Idee angewandte und bildende Künste im Sinne des Gesamtkunstwerks zu vereinen, standen im Zentrum der organisierten Bewegung. Die Secession regte die Zusammenarbeit von Bildhauern, Grafikern, Malern und Architekten an und vermittelte durch eine Vereinszeitschrift und durch ausgewählte Ausstellungen, unter Beteiligung ausländischer Künstler, moderne künstlerische Tendenzen.42 Als sich die Secession im Jahr 1905 aufgrund unterschiedlicher Kunstauffassungen in die „Stilisten“, die Gruppe um Klimt, und die „Naturalisten“, einer Gruppe von Künstlern um den Wiener Maler Josef Engelhart, spaltete, beendete Josef Hoffmann gemeinsam mit der „Klimt-Gruppe“ sein Engagement für die Künstlervereinigung. Zeitgleich war Hoffmann bereits in ein neues Projekt involviert, das ebenso wie die Secession eine tiefgreifende Wirkung auf das Wiener Kunstleben haben sollte. 1903 gründete er mit Koloman Moser und der finanziellen Unterstützung des Industriellen 38 Die „Haagengesellschaft“ wurde vermutlich nach Joseph Haagen, dem Gastwirt des Lokals „Zum blauen Freihaus“ in der Gumpendorferstraße eines Treffpunkts der Gruppe benannt. Vgl. Arbeitsgemeinschaft des Mariahilfer Heimatmuseums, Das Wiener Heimatbuch – Mariahilf, Wien 1963, S. 228 f. 39 Vgl. Hans Bisanz, Bildende Kunst und Kunsthandwerk, in: Robert Waissenberger (Hrsg.), Wien. 1890–1920, Wien – Heidelberg 1984, 120. Barbara Sternthal, Diesen Kuss der ganzen Welt. Leben und Kunst des Gustav Klimt, Wien 2005, 58. 40 Das Motto der modernen Kunstbewegung, das bis heute die Hauptfassade des Vereinsgebäudes ziert, wurde vom aus Ungarn stammenden Ludvig Hevesi geprägt, einem der bedeutendsten Publizisten und Kunstkritiker der Zeit. 41 Jene Künstler der Haagengesellschaft, die sich nicht der Secession anschlossen, formierten sich 1900 zum sogenannten Hagenbund, einer Untergruppierung der Genossenschaft im Künstlerhaus. Vgl. Matthias Boeckl/Agnes Husslein-Arco/Harald Krejci (Hrsg.), Hagenbund. Ein europäisches Netzwerk der Moderne (1900–1938), Ausst.-Katalog Österreichische Galerie Belvedere Wien, München 2014. 42 Vgl. Bisanz, Bildende Kunst und Kunsthandwerk, 120–123.

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und Kunstliebhabers Fritz Wärndorfer die Wiener Werkstätte.43 Diese Produktivgenossenschaft von Kunsthandwerkern stellte sich die Aufgabe, in Abkehr zu althergebrachten Stilen der neuen Zeit entsprechende Formen zu finden. Anstelle von industrieller Massenproduktion sollte große handwerkliche Qualität mit der Zielsetzung vereint werden, die gesamten Lebensbereiche des menschlichen Daseins im Sinne eines Gesamtkunstwerks gestalterisch zu vereinen. 1912 engagierte sich Josef Hoffmann für die Gründung des Österreichischen Werkbunds, ein Zusammenschluss von Künstlern, Industriellen und Handwerkern, der sich auf die Förderung der handwerklichen Qualitätsarbeit und deren Anwendung in der industriellen Produktion konzentrierte.44 Neben Otto Wagner und seinem prominentesten Schüler Josef Hoffmann gilt Adolf Loos als weiterer Wegbereiter der Wiener Moderne. Waren Wagner und Hoffmann dank ihrer Kontakte zu zahlreichen Künstlern im städtischen Kulturleben stark verankert, so tat sich Loos als Einzelgänger hervor. Loos wurde wie Hoffmann 1870 in Mähren geboren, beide hatten die Brünner Realschule besucht. Nach einem kurzen Studienaufenthalt in Dresden verbrachte Loos prägende Jahre in Amerika, ehe er sich 1896 in Wien niederließ. Loos wandte sich sowohl gegen den Prunk der Ringstraßenarchitektur und die Ornamentik der Secession als auch gegen die von der Wiener Werkstätte propagierte künstlerische Gestaltung von Alltagsgegenständen. Als Verfechter des Purismus präferierte er eine schlichte Ingenieurs- und Handwerkskunst. In Wien machte er sich als (Innen-)Architekt, Kunstkritiker und Designer einen Namen. Mit der puristischen Fassade des Herrenmodengeschäft Goldman & Salatsch am Michaelerplatz evozierte er einen Kunstskandal von ungeahnter Größe und schuf gleichzeitig ein Manifest für die Bauweise der Moderne.45 Von drei der gefragtesten Malern der Wiener Jahrhundertwende war nur Gustav Klimt, der bereits als historistischer Dekorationsmaler ab den 1880er-Jahren große Bedeutung erlangte und um 1900 als teuerster zeitgenössischer Maler der Stadt galt, ein gebürtiger Wiener. Sein Vater war im Alter von acht Jahren mit seiner Familie aus dem nördlichen Böhmen nach Wien eingewandert.46 Der Niederösterreicher Egon Schiele (1890 in Tulln an der Do43 Der Fabrikant und Kaufmann Fritz Wärndorfer (geboren 1868 in Wien) galt als großer Förderer der Avantgarde. Er unterstützte die Wiener Werkstätte bis zu seinem finanziellen Scheitern im Jahr 1914 großzügig. Vgl. Herta Neiß, Wiener Werkstätte. Zwischen Mythos und wirtschaftlicher Realität, Wien u.a. 2004, 83. 44 Vgl. Wilfried Posch. Köln – Paris – Wien. Der Österreichische Werkbund und seine Ausstellungen, in: Andreas Nierhaus/Eva-Maria Orosz (Hrsg.), Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des Neuen Wohnens, Ausst.-Katalog Wien Museum, Wien 2012, 18–27, hier 19. 45 Vgl. Richard Kurdiovsky, Adolf Loos, in: Wien 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne, Wien 2011, 303–305. 46 Vgl. Christian Michael Nebehay, Gustav Klimt. Sein Leben nach zeitgenössischen Berichten und Quellen, München 1976, 15.

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nau geboren) kam erst zu Studienzwecken in die Hauptstadt. Während sein Vater bereits in Wien geboren wurde, kamen die Vorfahren väterlicherseits ursprünglich aus Norddeutschland. Seine Mutter, die gebürtige Marie Soukop, stammte aus dem böhmischen Krumau.47 In einer Reihe mit vielen kreativen Köpfen seiner Zeit stand ebenso Oskar Kokoschka, neben Schiele ein Hauptvertreter des österreichischen Expressionismus. Der Künstler, der vor allem in Adolf Loos einen großen Unterstützer fand, war kurz nach seiner Geburt im Jahr 1886 vom niederösterreichischen Pöchlarn mit seiner Familie nach Wien übersiedelt. Seine Vorfahren väterlicherseits stammten aus einer Prager Goldschmiedefamilie, sein Vater Gustav Kokoschka war selbst noch in Prag aufgewachsen.48 Neben den drei Hauptakteuren der Wiener Malerei der Moderne entstammt ein weiterer Vertreter des Expressionismus, der 1883 in Wien geborene Richard Gerstl, einer Zuwandererfamilie. Er ist einer der wenigen künstlerischen Impulsgeber der Moderne, der von jüdischer Herkunft war. Sein Vater Emil Gerstl, ein jüdischer Händler, war aus dem in der ungarischen Reichshälfte gelegenen Komitat Neutra nach Wien eingewandert. Auch einer der wichtigsten Bildhauer des frühen 20. Jahrhunderts, der 1875 in Brünn geborene Anton Hanak, zählte zu jenen kreativen Köpfen, die es zu Studienzwecken in die Hauptstadt zog. Hanak, der mehrfach mit Hoffmann zusammenarbeitete, kam 1898 in die Residenzstadt, wo er sich der Wiener Secession anschloss und ab 1908 eine Professur an der Wiener Kunstgewerbeschule innehatte.49 Aus dem Kreis seiner Schüler ging unter anderem der in Wien geborene Bildhauer Fritz Wotruba (geboren 1907) hervor, der einer tschechisch-ungarischen Familie entstammte.50 Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand im wachsenden Wien auch eine Auseinandersetzung mit dem modernen Medium Fotografie statt. Ähnlich wie andere Künstler wurden auch damals namhafte Fotografen von der sich entwickelnden Großstadt angezogen. Zum Beispiel das Brüderpaar, Ludwig Angerer (geboren 1827) und Victor Angerer (geboren 1839), das zu den gefragten Wiener Lichtbildnern der Ära Franz Josephs zählte, stammte aus dem ungarischen Malaczka.51 1858 gründete Ludwig Angerer in Wien ein Atelier, ab 1860 47 Vgl. Rudolf Leopold, Der Lyriker Egon Schiele. Briefe und Gedichte 1910–1912 aus der Sammlung Leopold, München 2008, 12. 48 Vgl. Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien –Köln –Weimar. 1990, 426. 49 Vgl. Manfred Wagner, Zur Migration aus Böhmischen Landen nach Wien: Anton Hanak und seine Generation, in: Manfred Wagner, Europäische Kulturgeschichte: gelebt, gedacht, vermittelt (Studien zu Politik und Verwaltung Bd. 79, Wien – Köln – Weimar 2009, 145. 50 Vgl. John/ Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 426. 51 Der deutsche Vater der beiden war als Forstbeamter des Fürsten Pálffy tätig, die Mutter stammte aus der nahe bei Budapest gelegenen Stadt Totis. Vgl. Laura Tomicek, Victor Angerer – Momentfotografie in Österreich, ungedr. Diplomarbeit, Universität Wien, 2009, 12.

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durfte er als erster Fotograf der k. u. k. Monarchie den Titel eines Hofphotographen führen.52 Er galt in Österreich-Ungarn als bedeutendster Fotograf im Porträtsektor. Weiters zählte er zu den Gründungsmitgliedern der 1861 ins Leben gerufenen Photographischen Gesellschaft. Dieser Vereinigung gehörte ebenso sein um zwölf Jahre jüngere Bruder Victor an. Ab 1862 führte Victor Angerer ein Wiener Atelier, zwischenzeitlich Zweigstellen in Budapest und in Bad Ischl, ehe die Brüder ab 1873/1874 eine Ateliergemeinschaft gründeten. Victor Angerer machte sich vorerst als Porträtist einen Namen. Im Laufe seiner Karriere widmete er sich Landschafts-, Stadt-, Industrie- und Interieuraufnahmen sowie der Ereignisfotografie und der Reproduktion von Kunstwerken. Ab den 1880er-Jahren prägte er einen in der Kaiserstadt bisher unbekannten fotografischen Stil: die Momentfotografie. Ein anderer aufstrebender Atelierfotograf Wiens war der 1834 in Pressburg geborene Josef Löwy. Er ließ sich 1848 in Wien nieder und eröffnete 1856 sein erstes Atelier, dem weitere folgten. Auch er war ein Mitglied der Photographischen Gesellschaft und spezialisierte sich vorerst auf Industriefotografien. 1873 partizipierte er mit der Photographen-Association, einem Zusammenschluss mehrerer Ateliers, an der Wiener Weltausstellung, wofür ihm der Titel eines k. u. k. Hofphotographen verliehen wurde. Der Leiter einer international bekannten Reproduktionsanstalt mit Fotoverlag gilt als einer der führenden österreichischen Fotografen seiner Zeit.53 Die Veränderung des Stadtbilds und das Verschwinden alter Bausubstanzen war das fotografische Motiv von August Stauda, dem 1861 im böhmischen Königinhof geborenen Stadtchronisten. 1886, vier Jahre nachdem er nach Wien übersiedelt war, eröffnete er sein eigenes Atelier, in dem er sich vor allem der Architektur- und Dokumentarfotografie widmete.54 Auch die bekanntesten Fotografen der Jahrhundertwende, Hugo Henneberg, Hans Watzek und Heinrich Kühn, die sich zur Arbeitsgemeinschaft „Wiener Trifolium“ beziehungsweise „Wiener Kleeblatt“ zusammenschlossen,55 weisen in ihren Biografien Migrationsgeschichten auf. Hugo Hennebergs Vater, Bruno Henneberg, stammte aus Thüringen. Nach seiner Immigration nach Wien machte er als Direktor der k. k. privileg. Pottendorfer-Baum-

52 Vgl. Timm Starl, Fotografen, Druckanstalten, Kunsthandel, Verlage, in: Susanne Winkler (Hrsg.), Blickfänge einer Reise nach Wien. Fotografien 1860–1910 aus den Sammlungen des Wien Museums, 3. überarb. Aufl., Wien 2006, 187. 53 Vgl. Otto Hochreiter/Timm Starl, Lexikon zur österreichischen Fotografie, in: Otto Hochreiter/ Timm Starl (Hrsg.), Geschichte der Fotografie in Österreich, Bd. 2, Ausstellungskatalog, Bad Ischl 1983, 149. 54 Vgl. Susanne Winkler, August Stauda. „Spezialist in Aufnahmen von Architekturen, Häusern, Villen, Schlössern und Interieurs …“, in: Susanne Winkler (Hrsg.), August Stauda. Ein Dokumentarist des alten Wien, Wien 2004, 9. 55 Vgl. Monika Faber, Photographie in Wien. 1890 bis 1920, in: Maria Marchetti (Hrsg.), Wien um 1900. Kunst und Kultur, Wien 1985, 289.

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woll-Spinnerei Karriere.56 Hugo Henneberg (geboren 1863), der das Vermögen seines Vaters erbte, war Physiker, begeisterter Kunstfotograf und Vorstandsmitglied des „Wiener Camera-Clubs“, einer Vereinigung von Fotografen, die bereits 1887 als „Club der Amateurphotographen in Wien“ gegründet wurde. Er verkehrte in den Kreisen der Secession und pflegte Kontakte zu Künstlerpersönlichkeiten wie Josef Hoffmann oder Gustav Klimt. Hans Watzek, mit dem Hugo Henneberg eng zusammenarbeitete, stammte aus einem deutschsprachigen Elternhaus und wurde im Jahr 1848 im böhmischen Bilin geboren. Er immigrierte 1875 nach Wien, wo er sich vorerst als Zeichenlehrer betätigte. In der Reichshaupt- und Residenzstadt fand er zur Kunstfotografie und brachte sich in den „Wiener Camera Club“ ein, dem er als Vorstandsmitglied angehörte. Zu den Mitgliedern der Einrichtung gehörte ferner der gebürtige Dresdner Heinrich Kühn (geboren 1866). Kühn studierte ursprünglich Medizin in Leipzig, Berlin und Freiburg. 1888 übersiedelte er nach Innsbruck, wo er den Arztberuf aufgab, um sich der Fotografie zu widmen. In Wien experimentierte der Fotopionier gemeinsam mit Henneberg und Watzek mit der Technik des Gummidrucks. Die Künstlergemeinschaft stellte zwischen 1897 und 1903 unter der Bezeichnung „Trifolium“ aus und publizierte zahlreiche Beiträge zur Fotografie-Technik und zu künstlerischen Darstellungsmöglichkeiten.57 4. Sammellust und Repräsentation

Die moderne Kunst in Wien, vor allem die Innovationen rund um die Jahrhundertwende, aber auch andere künstlerische Tendenzen ab den 1870er-Jahren, entwickelten sich gemäß dem Geschmack des Bürgertums. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts engagierte sich die eingangs skizzierte wirtschaftlich erfolgreiche Elite im Bereich der Kunstförderung und übernahm somit eine Rolle, die traditionellerweise der Adel innehatte. Kunstsammlungen sowie die Unterstützung der Avantgarde wurden Teil des kultivierten Lebensstils und fortan prägendes Element der bürgerlichen Identität. Bezeichnend ist die Pluralität der regionalen und ethnisch-kulturellen Herkunft zahlreicher Förderer und Förderinnen. Der Großteil hatte sich erst während der wirtschaftlichen Aufbruchsjahre in Wien niedergelassen und versuchte anhand von kulturellem Engagement den neu gewonnen gesellschaftlichen Platz zu unterstreichen. Vor allem jüdische Kunstliebhaber und Kunstliebhaberinnen, die sich als Händler, Bankiers oder Industrielle einen Namen gemacht und kraft eigner wirtschaftlicher Kompetenz großen Reichtum errungen hatten, legten bedeutende Sammlungen an und förderten Talente. Mit dem Erwerb von Kunst drückte die gebildete wohlhabende Bourgeoisie einer-

56 Vgl. Genealogisches Taschenbuch der adeligen Häuser, Bd. 9, Brünn 1884, 155. 57 Vgl. Uwe Schögl, Heinrich Kühn und die Farbfotografie, in: Ders., Im Blickpunkt. Die Fotosammlung der österreichischen Nationalbibliothek, Ausst.-Katalog Österreichische Nationalbibliothek Wien, Innsbruck 2002, 114–135, hier 115.

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seits ihr neu gewonnenes Selbstbewusstsein aus, versuchte andererseits aber auch auf diesem Wege den Mangel an ererbtem Status zu kompensieren. Zugezogene und aufstiegsorientierte Bildungsmigranten und Bildungsmigrantinnen versuchten sich durch Kunstförderung innerhalb der Gesellschaft zu positionieren und in der Öffentlichkeit Sichtbarkeit zu erreichen. Kunstsammlungen und mit Kunst ausgestattete Räume dienten demnach zur Demonstration von wirtschaftlichem Erfolg und kultureller Kompetenz.58 An das bürgerliche Repräsentationsbedürfnis und das Selbstbewusstsein der finanzstarken Auftraggeber und Auftraggeberinnen erinnern heute zahlreiche berühmte Porträts. Aufgrund der engen Verbindungen, zwischen den Wiener Künstlern, Sammlern und Sammlerinnen erfuhr das Genre der Porträtmalerei in Wien eine Blütezeit. Kein geringerer als Gustav Klimt begründete mit seiner Tätigkeit als Porträtmaler seinen Ruhm innerhalb des kunstaffinen Bildungsbürgertums. Seine Unterstützer und Unterstützerinnen, die die Identifikation mit der Avantgarde suchten und an modernen Entwicklungen teilhaben, – ja diese sogar mitprägen wollten – zählten zu der finanzstarken Wiener Oberschicht, die sich nicht selten aus Zuwandererfamilien rekrutierte. Eines von Klimts frühesten Damenporträts zeigt die in 1873 im galizischen Lemberg geborene Sonja Knips. Sie war mit dem aus Sachsen stammenden Anton Knips, einem erfolgreichen Eisen- und Metallindustriellen verheiratet und anders als andere Auftraggeberinnen von adeliger Herkunft.59 Das wohl bekannteste von Klimts Damenporträts zeigt die 1881 in Wien geborene Adele Bloch-Bauer. In ihrer Biografie finden sich wie bei vielen von Klimts Modellen Migrationsgeschichten. Ihr Vater Moritz Bauer kam aus Bayern in die Donaumetropole, wo er als Generaldirektor des Wiener Bankvereins Karriere in der Finanzwelt machte. 1907, zum Zeitpunkt als das erste Klimt-Porträt von Adele entstand, war sie bereits mit dem österreichisch-tschechischen Zuckerfabrikanten Ferdinand Bloch verheiratet, der ursprünglich aus Prag stammte. Das Ehepaar Bloch-Bauer wurde zu wichtigen Förderern des Künstlers und unterhielt in der Elisabethstraße, unweit vom Opernring, einen Salon, in dem sich die Wiener Künstlerszene regelmäßig zum Gedankenaustausch traf.60 Die größte Klimt-Sammlung in Privatbesitz trug der Spiritusindustrielle August Lederer gemeinsam mit seiner Frau Serena zusammen. Serena Lederer, die Klimt mehrmals Modell stand, wurde 1867 in Budapest als Kind der vermögenden ungarisch-jüdischen Familie Pulitzer geboren. Der zehn Jahre ältere August Lederer, ein typischer wirtschaftlicher Aufsteiger seiner Zeit, stammte aus Böhmen.61 Das Paar pflegte ein enges Verhältnis zu Klimt, der regelmäßig im Hause Lederer zu Gast war und neben 58 Vgl. Lisa Fischer, Irgendwo. Wien, Theresienstadt und die Welt. Die Sammlung Heinrich Rieger, Wien 2008, 32. 59 Vgl. Tobias G. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka. Sammler und Mäzene, Köln 2003, 28. 60 Vgl. Lillie, Was einmal war, 203. 61 Vgl. ebd., 656.

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Serena auch deren Tochter Elisabeth Bachofen-Echt und deren Nichte, Ria Munk, im Bild verewigte.62 Das Ehepaar Gallia, frühe Förderer der Secession, war mit Klimt ebenso freundschaftlich verbunden wie die Lederers. Die 1870 geborene Hermine Hamburger, Tochter des wohlhabenden Industriellen Nathan Hamburger aus der kleinen schlesischen Stadt Freudenthal, hatte 1893 in Wien ihren Onkel, den 1858 im mährischen Bisenz geborenen Moriz Gallia, geheiratet.63 Wie viele andere hatte Moriz als Geschäftsmann – er war ab 1892 Direktor der Österreichischen Gasglühlichtgesellschaft in Wien – großen Wohlstand erwirtschaftet. Kunstsinn und Wertschätzung für die Avantgarde waren auch bei den Gallias sehr ausgeprägt. Hermine demonstrierte ihre Bewunderung für Klimt, anderen Damen gleich, indem auch sie sich von ihm im Porträt verewigen ließ.64 Ihr Bildnis wurde gemeinsam mit dem Porträt der 1883 in Wien geborenen Gertrude Loew im Jahre 1903 in der Secession ausgestellt.65 Wie viele von Klimts Modellen stammte Gertrude aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Ihr Vater, der Arzt Anton Loew, Besitzer des ältesten und exklusivsten Wiener Sanatoriums, war gebürtiger Pressburger und hatte als großer Klimt-Verehrer und Anhänger der Secession das Porträt seiner damals neunzehnjährigen Tochter in Auftrag gegeben.66 Weiters ließ sich die Salzburgerin Marie Henneberg, die Gattin des bekannten Kunstfotografen Hugo Henneberg, von Klimt ins Bild setzen. Nicht nur Klimt, sondern auch die Künstlervereinigungen der Wiener Secession und der Wiener Werkstätte wurden von einer kunstsinnigen, großbürgerlichen Elite unterstützt. Als wesentlicher Gönner der erstgenannten Bewegung gilt der 1847 in Leipzig geborene Wirtschaftsmagnat Karl Wittgenstein, Vater des berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein. Seine Familie immigrierte 1850 nach Österreich und ließ sich 1860 in Wien nieder. Durch die Vereinigung der Teplitzer Walzwerke in Böhmen mit der Prager Eisenindustriegesellschaft führte Karl Wittgenstein sein Unternehmen an die Spitze der österreichischen Eisen- und Stahlindustrie.67 Er trug mit einer hohen Geldspende maßgeblich zur Finanzierung des Vereinsgebäudes der Secession bei. Vermutlich durch seine Tochter Hermine, eine begeisterte Klimt-Anhängerin, angeregt, unterstützte Karl Wittgenstein die Vereinigung jährlich mit großen Zuwendungen.68 1904 gab er bei Klimt ein Porträt seiner jüngeren Tochter Margarethe in 62 Vgl. ebd., 114. 63 Vgl. Tim Bonyhady, Wohllebengasse. Die Geschichte meiner Wiener Familie. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Wien 2013 (Englische Originalfassung: Ders., Good Living Street. The Fortunes of My Viennese Family, New York 2011), 55. 64 Vgl. ebd., 36. 65 Vgl. ebd., 46–47. 66 Vgl. Tobias G. Natter, Gustav Klimt. Frauenbildnisse, in: Tobias G. Natter/Gerbert Frodl (Hrsg.), Klimt und die Frauen, Ausstellungskatalog Österreichische Galerie Belvedere, Wien 2000, 98. 67 Vgl. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka, 42. 68 Vgl. Hannes Stekl, Wiener Mäzene im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka/Manuel Frey (Hrsg.),

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Auftrag. Ein eifriger Protektor der Avantgarde war der aus Olmütz stammende Bankier Otto Primavesi, der sowohl seine Frau Eugenia als auch seine Tochter Mäda von Klimt porträtieren ließ.69 Gemeinsam mit seiner Frau galt er als wichtiger Anhänger der Moderne, was sich im Besonderen in seinem finanziellen Engagement für die Wiener Werkstätte widerspiegelte, deren Fortbestand er nach dem Ausscheiden des bisherigen Sponsors Fritz Wärndorfer, maßgeblich unterstützte.70 Als große Befürworterin beider Institutionen ist die Familie Zuckerkandl, allen voran die berühmte Salonière Bertha Zuckerkandl-Szeps, zu erwähnen. Die Tochter des galizischen Publizisten Moriz Szeps war mit dem im ungarischen Györ geborenen Mediziner Emil Zuckerkandl verheiratet. Das Haus des Paares war ein beliebter Treffpunkt für die Wiener Avantgarde und deren Förderer und Fördererinnen. In Zuckerkandls Salon wurden nicht nur kulturelle Netzwerke geformt und Kreativität sowie Innovation dank des künstlerischen Austausches gefördert, sondern auch junge Talente durch bereits renommierte Künstler empfohlen.71 Emils Brüder Otto und Viktor Zuckerkandl betätigten sich ebenso als Kunstmäzene. Letzterer, der Besitzer des Sanatoriums Purkersdorf, galt als eigentlicher Klimt-Sammler der Familie Zuckerkandl.72 Während Klimt zahlreiche Porträts dieser modernen Aufsteiger beziehungsweise ihrer Gattinnen hinterließ, richtete Hoffmann mit der Wiener Werkstätte deren Villen und Wohnungen ein. Sein und der Kundenkreis der Wiener Werkstätte rekrutierte sich zum größten Teil aus seinem künstlerischen Umfeld und dem aufgeschlossenen sowie finanzkräftigen zumeist jüdischen Großbürgertum der Monarchie. Unter anderem adaptierte Hoffmann die Wiener Wohnung von Sonja Knips, die zu den kaufkräftigsten Kundinnen der Wiener Werkstätte zählte.73 Ebenso konzipierte er das Landhaus der Familie Primavesi in Winkelsdorf bei Mährisch Schönberg,74 und baute die Wiener Wohnung der Familie Lederer um. Auch das Wohnhaus im Ensemble der Spirituosenfabrik in Györ ließ August Lederer von Josef Hoffmann entwerfen und von der Wiener Werkstätte ausstatten.75 Auf der Hohen Warte, wo sich ebenso die Maler Kolomann Moser und Carl Moll häuslich einrichteten, baute Hoffmann ein Haus für das Ehepaar Henneberg.76 Die Gestaltung des familiären Landhauses der Wittgensteins sowie das dortige Forsthaus stammen ebenso aus seiner Feder sowie Viktor Zuckerkandls

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Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert (Bürgerlichkeit. Wertewandel. Mäzenatentum, Bd. 2), Berlin 1998, 178. Vgl. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka, 74. Vgl. Stekl, Wiener Mäzene im 19. Jahrhundert, 179. Vgl. ebd., 177. Vgl. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka, 102. Vgl. ebd., 216. Vgl. ebd., 80. Vgl. Natter, Gustav Klimt. Frauenbildnisse, 90. Vgl. ebd., 96.

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S­ anatorium in Purkersdorf, der erste große Auftrag der Wiener Werkstätte, der über Vermittlung von Bertha Zuckerkandl zustande kam. Weiters wurde der Architekt mit der Ausstattung der Wohnung des Ehepaars Gallia betraut, mit dem ihn auch eine wirtschaftliche Zusammenarbeit verband. Nach der 1914 vollzogenen Umstrukturierung der Wiener Werkstätte hielten die Gallias Geschäftsanteile an dem Unternehmen. Trotz negativer Bilanzen trugen die Gallias gemeinsam mit Josef Hoffmann und anderen Künstlern und Gönnern zur Refinanzierung der Künstlervereinigung bei, um das kreative Potenzial der Institution zu erhalten. Auch unter den großen Schiele-Sammlern finden sich, abgesehen von einem seiner größten Förderer und Agenten, dem Kunstkritiker Arthur Rössler, nur selten alteingesessene Wiener. Der Industrielle Carl Reininghaus war ein gebürtiger Grazer.77 Der österreichische Staatsbeamte, Zentralinspektor der k. k. Südbahn Heinrich Benesch, der wie sein Sohn Otto zu den wichtigsten Schiele-Sammlern zählte, stammte aus dem Banat.78 Die Wurzeln des Rechtsanwalts Alfred Spitzer, der Schiele nicht nur in juristischen Angelegenheiten vertrat, sondern den Künstler außerdem als Förderer und Sammler unterstützte, führen nach Österreichisch-Schlesien zurück.79 Die Cousins Hans und Heinrich Böhler, weitere Unterstützer des jungen Expressionisten, waren zwar gebürtige Wiener, kamen aber väterlicherseits aus einer Frankfurter Handelsfamilie, die sich mit der Gründung der Böhler-Stahlwerke mit Hauptsitz in Wien etabliert hatte.80 Ein weiterer wichtiger Sammler zeitgenössischer Kunst, Obermedizinalrat Heinrich Rieger, zählt ebenso zu den Einwanderern in die Reichshauptund Residenzstadt. Er wurde 1868 in Szered im Verwaltungsbezirk Pressburg geboren und verließ die ungarische Reichshälfte 1885 für seine Ausbildung in Wien.81 Seine Kunstsammlung legte der praktizierende Zahnarzt um 1900 an, teilweise übernahm er Kunstwerke als Bezahlung für eine Zahnbehandlung. So lernte er Künstler wie Egon Schiele und Oskar Kokoschka kennen und begann sie und ihre neue Ästhetik zu fördern.82 Auch Erich Lederer, ein Spross der bekannten Klimt-Förderer, war einer von Schieles wichtigen Mäzenen.83 Das Engagement der Sammler war für die Entwicklung der modernen Künste wesentlich. Tobias Natter definiert das bürgerliche Mäzenatentum als strukturelle Eigenheit der Wiener 77 78 79 80

Vgl. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka, 165. Vgl. ebd., 208. Vgl. ebd., 225. Vgl. Sonja Niederacher, Leopold Museum Privatstiftung, Provenienzbericht zu Egon Schiele Mutter mit zwei Kindern II, LM Inv. Nr. 457, 3. Online: http://www.kunstkultur.bka.gv.at/Docs/ kuku/medienpool/21696/dossier_schiele20111030_01.pdf (zuletzt abgerufen am 20.04.2015). 81 Vgl. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka, 216; Lillie, Was einmal war, 969. 82 Vgl. Michael Wladika, Dossier Dr. Heinrich Rieger, Provenienzforschung bm:ukk – LMP, Dezember 2009, 6. Siehe: http://www.kunstkultur.bka.gv.at/Docs/kuku/medienpool/18950/dossier_rieger.pdf, (zuletzt abgerufen am 20.4.2015). 83 Vgl. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka, 154.

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Kunstblüte. Vor allem in jüdischen Sammlerkreisen bezog sich die Kunstpatronage nicht allein auf die Finanzierung und den Erwerb von Kunstwerken, sondern auch auf einen freundschaftlichen Austausch mit den Kunstschaffenden. Teilweise wurden Künstler von Mäzenen abseits von Aufträgen mit finanziellen Zuwendungen unterstützt oder im Rahmen von exklusiven Empfängen und Veranstaltungen einem ebenso kunstinteressierten Publikum und einer potenziellen Auftraggeberschaft vorgestellt. Nicht selten bildeten die Sammler und Sammlerinnen ausgewählte, zahlenmäßig kleine, untereinander eng vernetzte Kreise. Ihre Unterstützung machte es möglich, sich als kunstsinnige Elite zu etablieren und gleichzeitig Einfluss auf die Tendenzen der modernen Kunst zu nehmen. Anders als in anderen Metropolen spielte die Vermittlung durch Kunsthändler in der Donaustadt eine marginale Rolle. 84 Vielmehr prägte der direkte Austausch zwischen „Kunstschaffenden“ und „Genießenden“, als die Klimt Künstler und Sammler in einer Ansprache anlässlich der Wiener Kunstschau 1908 definierte, die dynamische Entwicklung des Wiener Kunstgeschehens.85 5. Mobilität und Kreativität

Wirtschaftliches und soziales Wachstum prägten das Wien des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts gleichermaßen. Durch die Zuwanderung wurde nicht nur die ethnische Diversität, sondern auch das schöpferische Potenzial in der traditionsverhafteten Kaiserstadt enorm gesteigert. Im Prozess der Modernisierung spielten Zuwanderer und Zuwandererinnen eine bahnbrechende Rolle, denkt man allein an die Dynamik der Ringstraßenzeit sowie 84 Auch die wichtigsten Kunsthandlungen der Wiener Jahrhundertwende gehen zum Teil auf die Gründung von Zuwanderern zurück. Eine der bekanntesten Adressen für zeitgenössische Kunst war die Galerie Miethke. Sie wurde 1861 vom aus Potsdam stammenden Hugo Othmar Mietke gemeinsam mit dem Wiener Josef Carl Wawra als Buch und Antiquariat „Miethke & Wawra“ gegründet. Nach der Wirtschaftskrise in den 1870er-Jahren machte sich Miethke mit seiner am Am Hof gelegenen Galerie selbstständig. 1895 bezog er ein Geschäftslokal im Palais Eskeles in der Dorotheergasse 11. Trotz eines Inhaberwechsels im Jahr 1901 wurde der sich über die Jahre in Kunstkreisen etablierte Geschäftsname des Potsdamer Galeriegründers beibehalten. Von 1912 bis zu seiner Emigration 1938 leitete der aus Galizien stammende Hugo Haberfeld (geboren 1875) die Niederlassung. Neben der Galerie Miethke war der 1895 am Parkring 2 eingerichtete und 1906 in die Lothringerstraße 14 verlegte „Salon Pisko“ die wichtigste Wiener Adresse für moderne Kunst. Der Kunstsalon, indem 1909 erstmals Werke von Schiele und der Neukunstgruppe präsentiert wurden, war ursprünglich 1866 von dem im ungarischen Malaczka geboren Gustav Pisko gegründet worden. Vgl. Tobias Natter, Die Galerie Miethke. Eine Kunsthandlung im Zentrum der Moderne, Ausst.-Kat. Jüdisches Museum Wien, Wien 2003. Markus Kristan, Kunst zum Anschauen. Ein Überblick über die Kunstausstellungen in Wien 1908, in: Ders., Kunst-Schauen Wien 1908, Wien 2008, 8. 85 Vgl. Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka, 295.

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die Bautätigkeit und Kunstförderung des assimilierten (jüdischen) Bürgertums. Erstmals etablierte sich ein Mäzenatentum, das nicht vom Adel getragen wurde. Kulturelle Innovationen wurden von Vertretern und Vertreterinnen dieser neuen Gesellschaft forciert und ideell sowie finanziell unterstützt. Einer der Gründe, warum Wien zu einem künstlerischen und geistigen Produktionszentrum wurde, ist seine Wirkung auf Ehrgeizige und Talente. Seit der Aufbruchsstimmung, die das Ringstraßenprojekt verbreitete, entwickelte sich die Donaumetropole zur Wirkstätte von nationalen und internationalen Künstlern. Für viele wurde Wien zum Ort ihrer Ausbildung und zum Mittelpunkt von Leben und Werk. Zuwanderer und Zuwandererinnen aus der Peripherie brachten neue Impulse ins Zentrum, Anregungen aus der Provinz beeinflussten die Entwicklung der Metropole, die um 1900 einen Kulminationspunkt erreichte. Der Wunsch sich hierorts zu etablieren, Vorbildern gerecht zu werden und sich gegen Konkurrenten zu behaupten, machte die Stadt zu einem kreativen Nährboden und herausfordernden Umfeld, das zu Wettbewerb und Leistung anregte.86 Die freiwillige Mobilität vieler Künstler wirkte sich positiv auf die Entwicklung ihrer schöpferischen Tätigkeit aus. Die Vielfalt von Begabungen, die den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert mit Vor- und Nachlauf von einigen Jahrzehnten bestimmte, gründet demnach auf der ständigen Spannung zwischen den Chancen, die sich in der Großstadt boten und dem immerwährenden Nachschub an Talenten aus den Provinzen.87 Orte der Moderne wie die Wiener Secession oder die Wiener Werkstätte wurden zum großen Teil von enthusiastischen und gegenüber modernen Tendenzen aufgeschlossenen „Wahl-Wienern“ und „Wahl-Wienerinnen“ geprägt. Hier fanden die Präsentationen zeitgenössischer Ideen und der Austausch mit internationalen Kunstströmungen statt, die wiederum positiv auf die Innovationskraft der Wiener Kunstszene zurückwirkten. Die Dynamik dieser Zeit ist, wie anhand ausgewählter Beispiele hervorgehoben, eng mit den Migrationsströmen des 19. Jahrhunderts verknüpft – zahlreiche Zuwanderer und Zuwandererinnen sowohl erster, zweiter als auch dritter Generation etablierten sich als Träger einer kulturellen Blütezeit.88 Die vorgestellten Biografien einzelner Künstler, Mäzene und Sammlerinnen verdeutlichen die Anziehungskraft Wiens als Arbeits- und Studienort und zeigen, wie die Stadt von den verschiedenen Einflüssen profitierte. Bislang wurde dem Phänomen Migration als Motor von Innovation in diesem Zusammenhang zu wenig Bedeutung zugewiesen.89 Hätte es aber die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende „Künstler86 Vgl. Welan, Wien – „Eine Welthauptstadt des Geistes“. Realbedingungen als Idealbedingungen?, 42. 87 Vgl. Wagner, Zum kulturellen Umfeld Alexander Zemlinskys im Wien der Jahrhundertwende, 624. 88 Vgl. Peter Eppel (Hrsg.), Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien, Ausst.-Katalog Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 1996, 183. 89 Vgl. Wagner, Zur Migration aus Böhmischen Landen nach Wien: Anton Hanak und seine Generation, 139.

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wanderung“ nicht gegeben, so hätten die glanzvolle Ringstraßenzeit und das berühmte Fin de Siècle samt den damit verbundenen künstlerischen Höchstleistungen womöglich nicht in dieser Form stattgefunden.90 Die Beiträge der vorgestellten Kunstschaffenden sind konstitutiv für den heute touristisch allgegenwärtig vermarkteten Mythos von Wiens Entwicklung zur Weltstadt und zur Keimzelle der Moderne. Durchwandert man die Wiener Ringstraßenzone oder betrachtet man die österreichische Kunstentwicklung des 19. Jahrhunderts im Detail, so wird man unumgänglich auf den Namen der ein oder anderen hier erwähnten Persönlichkeit stoßen. Auch wenn Migration nicht der einzige Faktor ist, auf den die künstlerischen Entwicklungen jener Jahrzehnte basieren, gilt es herauszustreichen, wie viele der prominenten Exponenten und Exponentinnen dieser dynamischen Phase einen Migrationshintergrund aufweisen.91

90 Vgl. ebd., 139. 91 Neben den genannten Künstlern und Mäzenen wären noch eine Reihe von bedeutenden Intellektuellen anzuführen, die keine Wiener Wurzeln haben, aber in der Residenzstadt reüssierten und das Kulturleben hierorts nachhaltig prägten. Victor Adler (1852 in Prag geboren), Sigmund Freud (1856 im mährischen Freiberg geboren), Theodor Herzl (1860 im ungarischen Pest geboren), Karl Kraus (1874 im böhmischen Jičín geboren) und Bertha von Suttner (1843 in Prag geboren), um nur einige zu nennen, beeinflussten alle auf ihre Weise Politik, Wissenschaft und Gesellschaft.

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Viribus unitis? Networking im Vielvölkerstaat am Beispiel der Verlegerfamilie Hölzel

Die Wanderung von Künstlern zu kulturellen Zentren, der damit verbundene Kulturaustausch sowie die besondere Stellung von Künstlern in der Gesellschaft lassen sich in der gesamten Kunstgeschichte beobachten. Aufgrund des historischen, politischen und kulturellen Gefüges erhält diese Tatsache in der k. k. Monarchie eine eigene Dynamik in Bezug auf die künstlerische Ausrichtung und Gewichtung. Im Folgenden wird daher die Binnenmigration von Künstlern in der k. k. Monarchie in ihren Besonderheiten und Zusammenhängen untersucht. Ausgangspunkt bildet dabei die Sprachenproblematik im ausgehenden 19. Jahrhundert mit ihren Auswirkungen auf die künstlerischen Vereinigungen in Wien. Das Künstlerhaus, 1861 gegründet, ist die älteste der drei Wiener Vereinigungen, auf die in unserer Betrachtung eingegangen wird. Mit der Fertigstellung eines eigenen Gebäudes aus Spendenmitteln 1868 änderten sich die Ausstellungsmöglichkeiten der Künstler in Wien. Nun bestand die Möglichkeit, zeitgenössische Wiener Kunst nach außen zu präsentieren. Vom Künstlerhaus spaltete sich 1897 eine jüngere, gegen die ältere Künstlergeneration opponierende Gruppe von Künstlern, die Secession, ab. Deren Intention unterschied sich vom Künstlerhaus und seiner Orientierung insofern, als sie fortschrittliche, internationale Kunst in Wien zeigen wollten. Diese sollte der Maßstab sein, an dem sie die eigene Produktion messen wollten. Der Hagenbund, die dritte in die Betrachtung einbezogene Wiener Künstlergruppe, besaß kein eigenes Ausstellungsgebäude wie die Secession und das Künstlerhaus, sondern stellte lange Zeit als Teil des Künstlerhauses aus. Erst 1900 kam es zum Bruch, dem der Austritt aus der Genossenschaft folgte. Der Hagenbund öffnete sich in der Folge den jüngeren Kunstbestrebungen in der k. k. Monarchie, sodass bei ihm Künstler wie Egon Schiele oder Oskar Kokoschka zu sehen waren.1

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Der nachfolgende Artikel wurde erstmals in den Wiener Geschichtsblättern, Jg. 69, Heft 4, 2014, 305–335 mit dem Titel „Viribus unitis? Networking im Vielvölkerstaat am Beispiel der Verlegerfamilie Hölzel“ veröffentlicht. Tobias Natter, Der Hagenbund. Zur Stellung einer Wiener Künstlervereinigung, in: Die verlorene Moderne: der Künstlerbund Hagen 1900–1938, Aus­stellungskatalog Österreichische Galerie Belvedere im Schloss Halbturn, Burgenland 1993, Wechselausstellung der Österreichischen Galerie Wien Nr. 172, 9–27.

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Am Beispiel des Verlages von Eduard Hölzel sowie seines Sohnes, dem Künstler Adolf Hölzel, lassen sich die besonderen Bedingungen und das Ineinanderspielen von Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft verdeutlichen. Die Bedeutung der Herbart’schen Pädagogik wird beleuchtet, weil diese gerade für das Bürgertum in der Zeit nach der Revolution von 1848/49 ein besonderes Gewicht hatte und Eingang in Lehrpläne, auch von Kunstschulen, fand.2 Vor allem in Prag sowie in Böhmen und Mähren fanden sich viele Vertreter dieser verspäteten Aufklärung und des neuen Rationalismus, wie Bernard Bolzano, Robert Zimmermann, Eduard Hanslick, Franz Exner sowie der damit einhergehenden Pädagogik, vertreten durch Gustav Adolf Lindner, Anton Anděl und nicht zuletzt Eduard Hölzel, die auf die Gesellschaft der k. k. Monarchie einwirkten. Auch der Rationalismus der modernen Naturwissenschaft forcierte diese Entwicklungen, wie die Rezeption beispielsweise von Ernst Mach zeigt. Die Verbindungen von Adolf Hölzel als Sohn des bedeutenden Verlegers und Mitglied der Secession in Wien (sowie der Münchner Secession und des Werkbundes) sowie seine Dachauer Kunstschule erschließen Aspekte des künstlerischen Netzwerkes, aber auch die Besonderheiten künstlerischer Intentionen im Wien der Jahrhundertwende. Wiens lebendige Atmosphäre zu Ende des 19. Jahrhunderts fasziniert bis heute mit ihrer Verflechtung von Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft sowie über alle gesellschaftlichen Ebenen hinweg. Sich gegenseitig überschneidend und durchdringend wird diese schöpferisch fruchtbare Kultur vielfach als „Fin de Siècle“ oder positiver als Aufbruch ins industrialisierte 20. Jahrhundert als dem „Jahrhundert der Moderne“ gedeutet.3 So zeigte sich Wien im 19. Jahrhundert und zu Anfang des 20. Jahrhunderts als eine vitale Metropole, in der die Vielfalt der Kulturen im Habsburgerreich erkennbar wurde. Auf der anderen Seite werden die Brüche in der Gesellschaft der Monarchie sichtbar. Aus diesen sozialen Rissen entwickelte sich jedoch nicht eine neue Form von Gemeinschaft, ein neues nationalstaatliches Selbstverständnis, wie z. B. in dem im politischen Freiheitsstreben geeinigten Frankreich.4 Auch ein bundesstaatlicher Pluralismus, vergleichbar der mehrsprachigen Schweiz, etablierte sich nicht.5 Im Unter2

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Vgl. Alexander Klee, Koinzidenz oder Tradition? – Das Wienerische und das Berlinische in der Kunst, in: Agnes Husslein-Arco/Thomas Köhler/Ralf Burmeister/Alexander Klee/Annelie Lütgens (Hrsg.), Ausstellungskatalog Wien – Berlin. Kunst zweier Metropolen, Berlinische Galerie Berlin, Belvedere Wien, München 2013/14, 81–85. Vgl. hierzu Helmut Konrad, Zeitgeschichte und Moderne, in: Rudolf Haller (Hrsg.), Nach Kakanien – Annäherung an die Moderne, Wien 1996, 23–57, sowie die umfangreiche Literatur in: Wolfgang Mantl, Modernisierung und Dekadenz, in: Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp, Die Wiener Jahrhundertwende, Wien – Köln – Graz ²1996, 85. Hartmut Lehmann/Silke Lehmann, Die Rolle des Nationalen in der Habsburgermonarchie, in: Das Zeitalter Kaiser Frans Josephs – Von der Revolution zur Gründerzeit, Ausstellungskatalog Schloss Grafenegg, Wien 1984, 67. Miroslav Hroch, Sprache, Literatur und nationale Identität, in: Nautz/Vahrenkamp, Wiener Jahrhundertwende, 377ff., bes. 378.

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schied zur Schweiz, die mit Deutsch, Französisch und Italienisch (eine Ausnahme bildete das Rätoromanische) an den jeweiligen Hochsprachen der Nachbarländern partizipierte, fand die Wiederbelebung einer nationalen Hochsprache beispielsweise in Tschechien6 und Ungarn7 erst im 19. Jahrhundert statt. Die Folge war jedoch nicht eine innenpolitische Befriedung durch den Versuch eines Ausgleichs zwischen den Sprachgruppen, sondern letztlich eine Verschärfung des Konflikts mit der Ausbildung eines ethnisch begründeten Nationalismus.8 Die Dominanz des Deutschen als schon ausgeprägte Hochsprache und „lingua franca“, d. h. Verwaltungssprache der Habsburgermonarchie9 wurde zum Streitpunkt in der Nationalitätenfrage. Vor allem nach der Bildung eines deutschen Nationalstaates – der Kleindeutschen Lösung – unter der Hegemonie Preußens und dem Ausschluss der k. k. Monarchie traten die Brüche in der vielsprachigen und kulturell vielfältigen k. k. österreichischen Monarchie verstärkt zutage.10 Das Modell eines pluralistisch interagierenden deutschsprachigen Staatenbundes wich 1866 bzw. 1871 mit der Proklamation des Deutschen Reiches endgültig einem ganzheitlichen Nationalstaat, dem die k. k. Monarchie als Vielvölkerstaat mit annähernd gleich starken Sprachgruppen gegenüberstand. Die Errichtung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn 1867 forcierte den Wunsch der anderen Völkerschaften, beispielsweise der Böhmen, nach Autonomie. Dies zeichnete sich in dem Bestreben nach der rechtlichen Anerkennung und Gleichstellung ihrer sprachlichen Identität gegenüber der Verwaltungssprache Deutsch und dem Wunsch nach politischer Mitsprache ab. 1. Sprachliche Präferenzen und ihre Folgen

Mit der zunehmenden Etablierung des Tschechischen im böhmisch-mährischen Gebiet im Verlauf des 19. Jahrhunderts verstärkte sich die Inselbildung der deutschen Sprachräume.11 Diese Vereinzelung führte zu einer Abwanderung der deutschsprachigen Künstler und Künstlerinnen in größere, urbane deutschsprachige Metropolen, beispielsweise nach Berlin 6

Peter Demetz, Bernard Bolzano – Sprachtheorie und Nationalitätenkonflikt, in: Ders., Böhmen bömisch, Wien 2006, 32ff. 7 Hroch, Sprache, Literatur und nationale Identität, 378f. 8 Ebd., 386. 9 Mit Ausnahme von Ungarn, den Niederlanden und den italienischen Besitzungen; vgl. Demetz, Bernard Bolzano, 30. 10 Hroch, Sprache, Literatur und nationale Identität; Hartmut Lehmann/Silke Lehmann, Die Rolle des Nationalen in der Habsburgermonarchie, 66. 11 Hroch, Sprache, Literatur und nationale Identität, 384; Moritz Csáky, Österreich-Ungarn – Eine kulturhistorische Annäherung, in: Wilfried Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs – Budapest und Wien zwischen Historismus und Avantgarde, Ausstellungskatalog Kunsthistorisches Museum Wien 2003, 56ff.

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und München12 oder nach Wien.13 Hingegen zog es die Generation der etwa ab 1880 geborenen Künstler, die als tschechische Muttersprachler schon gleichberechtigt in Schule und Ausbildung mit den deutschen Muttersprachlern waren, nach München und vor allem nach Paris, wie beispielsweise die tschechischen Kubisten.14 Die Hinwendung der jüdischen Bevölkerungsteile zur deutschen Sprache und Kultur in dem Bestreben, sich zu assimilieren,15 schwächte sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab, als die Ausbildung im Vergleich zu Deutsch nun vermehrt auf Tschechisch erfolgte. Dies ist sicherlich auch in der Zuwanderung der Landbevölkerung in die Städte begründet,16 die Tschechisch präferierte, während das etablierte, städtische Bürgertum Deutsch bevorzugte.17 Die Tatsache, dass Deutsch die Verwaltungs- und kulturelle Hochsprache war, bevorzugte die wirtschaftlich etablierte Schicht, welche die Möglichkeit hatte, eine Ausbildung zu bezahlen bzw. ohnehin schon am deutschsprachigen Kulturleben der Doppelmonarchie teilnahm.18 Der Wunsch nach der Teilhabe an der breiten deutschsprachigen Kulturszene zählte zu den Beweggründen, nach Wien zu ziehen. Hier waren die Möglichkeiten der künstlerischen Weiterentwicklung eher gegeben als beispielsweise in Böhmen oder Mähren.19 Die deutsche Sprache und die deutsche Literatur galten dabei als ein Gradmesser höherer Bildung.20 Sie war somit nicht allein ein Instrument des zentralistischen Staates, sondern ein Grund der Zuwanderung für deutschsprachige Künstler aus allen Teilen der Doppelmonarchie.21 12 Z. B. Hugo Steiner-Prag nach Leipzig, Walter Klemm nach Dachau bzw. Weimar, Carl Thiemann nach Dachau, Adolf Hölzel nach Dachau bzw. Stuttgart, Fritz Hegenbarth und Richard Müller nach Dresden und Wenzel Hablik nach Itzehoe. Emil Orlik hält die Verbindung zwischen Prag, Wien und Berlin, Jan Kotěra wählt Wien als Ausbildungsort, wo er Schüler Otto Wagners und Mitglied im „Siebener-Club“ wird, in dem sich spätere Mitglieder der Secession treffen. 13 Hroch, Sprache, Literatur und nationale Identität, 387. 14 Z. B. Otto Gutfreund, Emil Filla, Josef Čapek, die vor allem vom Erlebnis des Kubismus in Paris geprägt werden, weniger von der Secession bzw. der Wiener Kunstszene. 15 Peter Demetz, Spekulationen über Prager Jiddisch, in: Ders., Böhmen bömisch, Wien 2006, 14f. 16 Hroch, Sprache, Literatur und nationale Identität, 379. 17 Arno Pařík, Zwischen den Tschechen und den Deutschen, in: Lücken in der Geschichte 1890– 1938 – Polemischer Geist Mitteleuropas – Deutsche Juden Tschechen, Ausstellungskatalog Metská knihova v Praze, Museum der Österreichischen Kultur Eisenstadt 1994, Museum Ostdeutsche Galerie Regensburg 1994/95, Prag 1994, 23. 18 Hroch, Sprache, Literatur und nationale Identität, 386. 19 Rudolf Jaworski, Bildende Kunst und nationale Identifikation im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Tschechen und ihre Nachbarn, Dietrich Geyer zum 75. Geburtstag, in: Österreichische Osthefte 45 (2003), Nr. 3/4, 436. 20 Deutsch als Sprache des gebildeten, aufgeklärten Bürgertums wurde in Böhmen und Mähren auch im jüdischen Milieu gepflegt; vgl. Steven Beller, Wien und die Juden, Wien – Köln – Weimar 1993, 165. 21 Aus dem tschechischen Sprachraum kommen Richard Teschner, Emil Orlik, Antonin Trčka, An-

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Der Anteil der Wiener bei der Gründung der Wiener Secession betrug gerade einmal etwa die Hälfte der Mitglieder. Ein Großteil stammte aus allen Teilen der k. k. Monarchie, so z. B. Juljan Falat aus Tuliglow in Galizien, Ludwig Marold aus Prag, Joseph Maria Olbrich aus Troppau, Alfred Roller aus Brünn, Alois Delug aus Bozen oder Josef Hoffmann aus Pirnitz. Das Aufbegehren einer jungen, sich etablierenden Künstlerschaft in der Secession dokumentierte die Aufnahme von jungen Dozenten aus den Akademien in Warschau, Prag und Krakau,22 die die Grundlage für ein Netzwerk der Secession bildeten. Hierzu trugen auch Mitglieder wie Adolf Hölzel, Alfons Mucha, Robert Poetzelberger oder Beneš Knüpfer bei, die zwar in der k. k. Monarchie geboren waren, jedoch im Ausland lebten. Die Vermutung liegt nahe, dass vor allem deutschsprachige Künstler aus der k. k. Monarchie von der Secession als Mitglieder gewonnen wurden. So ist der Anteil ungarischer Künstler bei der Gründung der Secession gering. Ausnahmen waren das Gründungsmitglied Otto Friedrich sowie die österreichisch-ungarische Bildhauerin Elza Kövesházi Kalmár, die in Wien geboren war und hier auch studiert hatte. Sie wurde zwar als Frau kein reguläres Mitglied der Secession, nahm aber an deren Ausstellungen teil.23 Sowohl die Secession als auch der Hagenbund und das Künstlerhaus schlossen Frauen als Mitglieder nicht gänzlich aus, nahmen aber eine ablehnende Haltung gegenüber weiblichen Mitgliedern ein.24 Wiederholt stellte Kalmár zwischen 1899 und 1905 in der Secession aus. Der Mangel an Interesse von Seiten der ungarischen Künstler in der Secession auszustellen, lässt sich aus der Konkurrenz mit der Secession erklären, während die Secession ihrerseits trotz des einflussreichen ungarischen Propagandisten und Sprachrohres Ludwig Hevesi kein Interesse an den Entwicklungen der Kunst in Ungarn zeigte. Die Secession suchte vorwiegend nach internationalen Partnern und Vorbildern, die auch ihr internationales Renommee unterstützten. Sie bündelte Kunstrichtungen und versuchte ein pluralistisches Gesamtbild ton Kolig, Alfred Kubin, Franz Barwig, Adolf Loos, Josef Hoffmann, Josef Maria Olbrich, Anton Hanak, Hugo Charlemont, Franz Metzner, Rudolf Jettmar nach Wien. 22 Schon 1897 sind als Mitglieder der Secession geführt: Juljan Falat (Direktor an der Kunstakademie Krakau), Józef Mehofer (Professor an der Kunstschule in Krakau und Mitbegründer der polnischen Künstlervereinigung „Sztuka“), Josef Václav Myslbek (Professor an der Kunstgewerbeschule in Prag), Maximilian Pirner (Professor an der Kunstakademie in Prag), Hans Schwaiger (Professor an der Kunstakademie in Prag), Jan Grzegorz Stanislawski (Professor an der Kunstakademie in Krakau), Wlodzimierz Tetmajer-Przerwa (Krakau, Mitglied der polnischen Künstlervereinigung „Sztuka“), Leon Wyczólkowski (Krakau), Stanislaw Wyspiański (Lehrer an der Kunstschule in Krakau); vgl. Robert Waissenberger, Die Wiener Secession, Wien – München 1971. 23 Sabine Plakolm-Forsthuber, Elza Kövesházi Kalmár (1876–1956) Eine österreichisch-ungarische Bildhauerin, in: Frauke Severit (Hrsg.), Das war alles ich – Politikerinnen, Künstlerinnen, Exzentrikerinnen der Wiener Moderne, Wien 1998, 120f. 24 Sabine Plakolm-Forsthuber, Künstlerinnen in Österreich, Malerei – Plastik – Architektur, Wien 1994, 64.

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internationaler Kunstströmungen zu vermitteln. Dem Sendungsbewusstsein der Secession entsprach ihr Versuch, mit der Beethoven-Ausstellung von 1902 einen neuen sakralen Kunsttempel zu schaffen und dem universalistischen Anspruch eine neue, nicht dem Historismus verpflichtete künstlerische Hülle zu geben.25 2. Wechselwirkungen

Die Wechselwirkungen zwischen Ausstellendem und Gastgeber entwickelten sich nicht ausschließlich aufgrund von künstlerischen Konzepten und Programmen, sondern dienten auch der Profilierung der ausstellenden Institution. Das Künstlerhaus vertrat zwar vornehmlich die Interessen der Wiener Künstler, beispielsweise mit Ausstellungen im mährischen Liberec, in Brno oder Olomouc, erklärte sich aber auch bereit, die Konkurrenz, den bömischen „Mánes“, das Prager Pendant zu den Wiener Künstlervereinigungen, in seinen Räumen auszustellen.26 Der Grund war die erneute Abspaltung von Mitgliedern des Künstlerhauses, genauer des „Hagenbundes“. Dies führte im Jahr 1900 zu einer neuerlichen Schwächung des Künstlerhauses. Somit bot sich mit der Ausstellung des „Mánes“ die Möglichkeit einer Profilierung gegen über dem „Hagenbund“ und der „Secession“. Das Erscheinen jung­tschechischer Politiker bei der Eröffnung rückte die künstlerischen Aspekte jedoch in den Hintergrund. 27 Verstand sich die Secession als Vorbild und beispielgebend für künstlerische Innovation, bot der Hagenbund pragmatisch jungen Künstlergruppen eine Plattform. Hier war junge Wiener Kunst ebenso zu sehen wie junge Kunst aus Ungarn, Polen, Böhmen und Mähren. Trotz solcher Möglichkeiten richtete sich der Blick der ungarischen Künstler und Künstlerinnen zu diesem Zeitpunkt eher nach Paris oder näher liegend nach München, wo Simon Hollósy 1886 eine Malschule gegründet hatte. Er kann auch als der Gründer und die zentrale Figur der ungarischen Künstlerkolonie „Nagybánya“ gelten.28 Hierhin zog es auch den von der akademischen Lehre in Wien frustrierten Richard Gerstl.29 Dennoch galt Wien den unga25 Obgleich dem Reliquienkult um Künstler – beispielsweise die Verehrung durch die Abnahme einer Totenmaske oder der Fetischcharakter des Künstlerateliers – und damit der Kunst als „neuer Religion“ im 19. Jahrhundert der Weg bereitet wurde. 26 Roman Prahl, Die tschechischen Secessionisten und ihre Aufnahme in Wien um 1900, in: Uměni – The Art, Ročník Volume XLI, Nr. 1, Prag (1993), 6 (Časopis Ústavu dějin umění Akademie věd České republiky/Bimonthly of the Institute of the History of Art of Academy of Sciences of Czech Republic). 27 Ebd., 7. 28 Edit Plesznivy, Wiener Kontakte einer ungarischen Künstlervereinigung – Die Kéve, in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 439. 29 Franz Smola, Neukunst und Klimtgruppe – Wiens Avantgarde in Budapest 1912/13, in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 2003, 530.

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rischen Künstlern als wichtige Referenz. Erst eine erfolgreiche Ausstellung in Wien eröffnete den ungarischen Künstlern die Anerkennung in Budapest.30 Dieses Desinteresse der Wiener Künstlervereinigungen an ungarischer Kunst31 änderte sich erst mit der Ausstellung der 1907 gegründeten ungarischen Künstlervereinigung „Kéve“ im Hagenbund 1910 in Wien. „Kéve“ war eine Gruppe von Künstlern, die sich um Ferenc Szablya Frischauf gesammelt hatte. „Kéve“ (Garbe) war eine Metapher für den Zusammenschluss junger Talente mit unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen; ein pluralistisches Konzept, welches dem der Wiener Secession glich. Im Nachgang zu der Ausstellung wurden Ferenc Szablya Frischauf, Ernesztin Lohwag und Ágost Benkhardt zu Ehrenmitgliedern des Hagenbundes gewählt. Imre Simay war seit 1905 Mitglied der Leitung des Hagenbundes, was die Kontaktaufnahme zur „Kéve“ sicherlich erleichterte.32 Er leitete gemeinsam mit Irma von Duczynska eine Malschule in Wien, die von 1909 bis 1914 bestand. An dieser Schule unterrichtete ab etwa 1910 auch Elza Kövesházi Kalmár, ein Gründungsmitglied der „Kéve“.33 Wiener Kontakte bestanden zudem durch Ernesztin Lohwag, eine geborene Wienerin, die Ehefrau von Ferenc Szablya Frischauf.34 Umgekehrt stellt die „Neukunstgruppe“ zu deren Mitgliedern unter anderen Egon Schiele, Anton Faistauer und Franz Wiegele zählten,35 1912 im Budapester Künstlerhaus, dem Művészház, aus, wobei die Kontakte von Felix Albrecht Harta, einem gebürtigen Ungarn und Mitglied der „Neukunstgruppe“, nützlich waren.36 Die in einer Kampfabstimmung der Secession unterlegene Klimt-Gruppe, benannt nach ihrem bekanntesten Mitglied, trat 1905 geschlossen aus der Secession aus. Sie setzte sich vorwiegend aus den Form-Künstlern der Secession zusammen, wie Josef Hoffmann, Kolomann Moser, Emil Orlik, Alfred Roller, Otto Wagner, Adolf Hölzel, Carl Moll u.a. Mit der Klimt-Gruppe verlor die Secession wichtige Netzwerker und Fürsprecher wie Carl Moll, aber auch die Publizistin Amalie Zuckerkandl oder Adolf Hölzel. Es entstand eine Lücke im Kulturleben Wiens. Der „Hagenbund“ sprang in die Bresche und zeigte die Künstler der polni30 Éva Bajkay, Gemäßigte Moderne: ungarische Künstler im Hagenbund, in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 450. 31 Ilona Sármány-Parsons, Der Aufbruch zur Moderne. Die ungarische Kunst und Wien 1890–1914, in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 391. 32 Bajkay, Gemäßigte Moderne: ungarische Künstler im Hagenbund, in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 448. 33 Werner J. Schweiger, Malschulen von und für Frauen, http://www.onb.ac.at/ariadne/vfb/bt_fk_ malschulen.htm (zuletzt abgerufen am 16.01.2016). 34 Plesznivy, Wiener Kontakte einer ungarischen Künstlervereinigung, 441f. 35 Tobias Natter/Thomas Trummer, Die Tafelrunde – Egon Schiele und sein Kreis, Ausst. Kat. Österreichische Galerie Belvedere 2006, 92ff. 36 Franz Smola, Neukunst und Klimtgruppe – Wiens Avantgarde in Budapest 1912/13, in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 530.

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schen Gruppe „Sztuka“, die ursprünglich der Secession verbunden waren. Offen gegenüber den jungen Kunstbewegungen, nutzte „Mánes“ gerne die Möglichkeiten des Hagenbundes, um hier gemeinsam mit diesem und „Sztuka“ zum Thronjubiläum 1908 auszustellen. 3. Nationalkunst?

Auffällig zeigt sich, dass es den Künstlern und Künstlerinnen schwer fiel, einen „nationalen Stil“37 zu entwickeln. Der Rückbezug auf die Volkskunst bzw. die sogenannte ursprüngliche Kunst kann bei der Entwicklung neuer künstlerischer Formen anregend sein.38 Anleihen aus der tschechischen Volkskunst sind bei vielen Künstlern, z. B. Antonín Trčka, Richard Teschner, Emil Orlik oder Egon Schiele, zu erkennen, ohne dass diese ihre Kunst als eine nationale verstanden hätten. Denn ausschließlich auf der Basis von Volkskunst lassen sich keine zeitgemäßen, adäquaten künstlerischen Lösungen finden. Die Kunstströmungen in der Neuzeit bedingen einen internationalen Austausch, um eine internationale Kommunikationsfähigkeit zu ermöglichen. Insellösungen bleiben in ihren Möglichkeiten eben nur auf kleine Räume beschränkt, d. h. provinziell. Der unlösbare Widerspruch zwischen dem Anliegen einer international vergleichbaren Kunst und einer nationalen Unverwechselbarkeit kann dabei schnell in folkloristische Einmaligkeit abgleiten und steht deren Anerkennung entgegen.39 Die internationale Orientierung vertrat die 1906 in Prag gegründete Gruppe „Osma“ (Die Acht). Von Paul Gauguin, Vincent van Gogh und Edvard Munch fasziniert, entwickelte sie eine eigene Spielart des Expressionismus. Ihre internationale Ausrichtung verdeutlicht ihr zweisprachiger Katalog, in dem die kosmopolitische Haltung der jungen Künstler betont wird. Max Brod stellt den Zusammenschluss der deutschen und tschechischen Künstler besonders heraus, die für ihn nicht zwei Nationalitäten, sondern vor allem Prager sind.40 Aus Mitgliedern von „Osma“ bildete sich 1912 die Gruppe „Skupina výtvarných umělců“, die sich vorzugswei-

37 Zum Problem des Begriff des Stils vgl. Jaworski, Bildende Kunst und nationale Identifikation im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 439. 38 Plesznivy, Wiener Kontakte einer ungarischen Künstlervereinigung, 440. 39 Jaworski, Bildende Kunst und nationale Identifikation im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 442. 40 Max Brod, Frühling in Prag, in: Peter Demetz/Jiří Gruša/Peter Kosta/Eckhard Thiele/Hans Dieter Zimmermann, Frühling in Prag – Wege des Kubismus, München 2005, 32. „Man möchte uns zu lebenden Abzeichen und Knopflochschleifchen züchten, unsere Ansichten zu Parteicommuniqués … dem gegenüber lobe ich den Muth und die bessere Einsicht der Acht. Demgegenüber wandelt mich die Lust an, zu beweisen, auf die Gefahr hin, einige Patrioten beiderseits zu verstimmen, … zu beweisen, daß in Prag kaum mehr von einer reinen deutschen und einer reinen tschechischen Nation die Rede ist; sondern nur noch von Pragern, Bewohnern dieser herrlichen und geheimnißvollen Stadt …“.

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se am Kubismus orientierte. Nicht die Fragen des Nationalen standen bei den Diskussionen innerhalb der Gruppe und nach ihrer Spaltung im Vordergrund, sondern welche Form des Kubismus die richtige sei. Der Blick wandte sich dabei nach Frankreich.41 Die künstlerischen Entwicklungen in Wien, insbesondere in der Secession, gehörten zu dieser Zeit aus Sicht der jungen Prager Künstler der vorangegangenen Generation des „Mánes“-Bundes an. Unter dem Eindruck der „Fauves“ formierte sich 1908/09 in Budapest die Gruppe „Nyolcak“ (Die Acht). Die zufällige Namensgleichheit war jedoch nicht die einzige Gemeinsamkeit mit den tschechischen Kollegen. Auch das Interesse an der französischen Kunst und ein kosmopolitisches Selbstverständnis42 teilten die Künstler mit den Pragern. Die Intention des künstlerischen Forschens und des Experiments teilen sie mit der Wiener Secession,43 doch hat sich die Orientierung spürbar stärker Paris zu- und von Wien abgewandt.44 Die zeitgemäße Orientierung der Künstler entsprang der Konkurrenz der Ideen und Werke, aber auch der Kongruenz der Interessen. So war der französische Bildhauer Auguste Rodin in der Wiener Secession 1901 mit zentralen Werken vertreten und 1902 in Prag mit einer großen Ausstellung zu sehen. Die Künstler der Prager „Skupina“ und ihre zum „Mánes“ zurückgekehrten ehemaligen Gefährten kennzeichnete im Vergleich zu ihren Wiener Kollegen die intensive Auseinandersetzung mit dem Kubismus, der in ungewöhnlicher Breite in Prag schon 1914 zu sehen war, mit Werken u.a. von Alexander Archipenko, Constantin Brâncuşi, Robert Delaunay, Raymond Duchamp-Villon, Raoul Dufy, Albert Gleizes, Piet Mondrian, Diego Rivera und Jacques Villon sowie in einer weiteren Ausstellung von Georges Braque, André Derain, Edvard Munch, Max Pechstein, Pablo Picasso u.a.45 Zwar stellte die Wiener „Neukunstgruppe“ im „Klub deutscher Künstlerinnen“ in Prag schon 1910 aus, doch die Ausstellung kam zu früh, sodass eine Auseinandersetzung der tschechischen Avantgarde in Prag mit den Wienern unterblieb.

41 Vojtěch Lahoda, Bohumil Kubišta – Emil Filla – Antonín Procházka – Josef Čapek – Václav Špála – Otakar Kubín – Jan Zrzavý, Kubismus, Prag und die Ismen, in: Ryszard Stanislawski/Christoph Brockhaus (Hrsg.), Europa, Europa. Das Jahrhundert der Avantgarde in Mittel- und Osteuropa, Ausstellungskatalog Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 129ff.; Hana Rousová, Abenteuer einer Ausstellung, in: Lücken in der Geschichte 1890–1938, 8. 42 Sármány-Parsons, Der Aufbruch zur Moderne, 404f. 43 Im Begleittext der Secession zur Beethoven-Ausstellung von 1902 ist zu lesen: „Wir wollten den Segen einer Arbeit, die Zweck und Bestimmung hat, an uns erfahren. Wir wollten lernen. Das sollte nun in einer Ausstellung verwirklicht werden in den engen Grenzen des Hauses, in dem nichts Bleibendes geschaffen werden kann, da eine Ausstellung notgedrungen das Werk der vorhergehenden verschlingen muß.“ Ernst Stöhr, Unsere XIV. Ausstellung, in: Katalog der 14. Ausstellung Secession, Wien 1902. 44 Sármány-Parsons, Der Aufbruch zur Moderne, 406. 45 Lahoda, Bohumil Kubišta u.a., Bd. I, 132.

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4. Sprachenvielfalt als wirtschaftliche Nische

So theoretisch sich die Zusammenhänge oder verpassten Möglichkeiten künstlerischer Verbindungen ausnehmen, erhalten sie mit Adolf Hölzel und dessen familiärem Hintergrund als Immigranten aus Mähren nach Wien ein Gesicht. Die Verflechtungen der Sprachenproblematik mit den Fragestellungen eines Verlages in Mähren, deren Lösungen, Ansätze und Entwicklungen, lassen sich an den Überschneidungen von Kunst, pädagogischen Absichten und wirtschaftlichen Überlegungen bei Adolf Hölzel und dem väterlichen Verlag Eduard Hölzel verfolgen. Der Künstler Adolf Hölzel (1853 Olomouc/Olmütz–1934 Stuttgart), Gründungsmitglied der Wiener Secession und Mitglied der sogenannten Klimt-Gruppe, entstammte einer im verlegerischen Bereich äußerst regen Familie. Der Verlag Ed. Hölzel ist heute noch in Österreich und auch darüber hinaus ein fester Begriff, vor allem durch die vom ihm herausgegebenen Schulatlanten. Weniger bekannt ist dagegen die enge Verknüpfung der Familie Hölzel mit dem Kulturleben Wiens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Mit der Eröffnung einer Buch-, Kunst-, Musikalien- und Papierhandlung im mährischen Olmütz stieß der junge Buchhändler Eduard Hölzel (1817 Prag–1885 Salzburg) in eine Marktlücke, die zu einer Anzahl von Zweigstellen in den Nachbarstädten wie Schönberg, Ostrau, Neutitschein, Prerau, Kremsier, Sternberg und Ungarisch Hradisch führte.46 Häufig schlossen sich diesen Zweigstellen Leihbüchereien an, womit Hölzel den geringer Vermögenden neue Bildungsmöglichkeiten eröffnete. Diese wurden in den meisten Fällen nach dem Tod des Verlagsgründers von den dortigen Mitarbeitern übernommen und weitergeführt. Mit der Herausgabe der Zeitung Die Neue Zeit – Olmütz – Blätter für nationale Interessen, die Ende März 1848 erstmals erschien, wagte Eduard Hölzel die erste politische Tageszeitung in Olmütz. Die Zeitung überstand nicht nur die Wirren der Revolutionsjahre, sondern auch jenen Monat im Jahre 1848, in dem der Hof während der Unruhen aus Wien nach Olmütz floh; die Zeitung überlebte den Tod ihres Begründers und existierte noch bis zur Jahrhundertwende.47 46 Ed. Hölzel 1844–1969, Zum 125jährigen Bestand des Hauses am 15. Oktober 1969, Wien 1969. 47 Nach dem Tod des Verlagsgründers 1885 übernehmen der Sohn Hugo Hölzel und sein Schwager Emil Kosmack die Verlagsgeschäfte. Zudem besitzt Hugo Hölzel mit seinem zweiten Schwager, Carl Graeser, in Budapest von 1891–1895 den ungarisch-geografischen Verlag „Hölzel & Co.“. Obwohl Hugo Hölzel und Emil Kosmack buchhändlerische und verlegerische Erfahrung besitzen, können sie an den geschäftlichen Erfolg Eduard Hölzels nicht anknüpfen. Hinzu kommt der frühe Tod von Hugo Hölzel und der beiden Schwäger: Emil Kosmack stirbt 1893, der zeitlebens kränkliche Hugo Hölzel 1895 und Carl Graeser 1899. Die Schwestern und die Witwe von Hugo Hölzel sind dadurch gezwungen, die Geschäfte, Verlag und Druckerei in Wien sowie das Stammhaus in Olmütz, entweder zu verkaufen, sie selbst weiterzuführen oder einen Geschäftsführer einzusetzen. Emma Graeser (geb. Hölzel) gelingt es, den Verlag ihres Mannes, „Carl Graeser & Kie“, in Wien weiterzuführen, um ihn schließlich 1909 an ihren Sohn Fritz Graeser zu übergeben. Das Olmützer

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In Zusammenarbeit mit Blasius Kozenn (1821 Hotunje/Slowenien–1871 Wien), den Hölzel 1858 in Olmütz kennenlernte, entwickelte er sein neues Konzept eines geografischen Schulatlanten, der 1861 erschien und in der Folge – immer wieder überarbeitet und modernisiert – bis heute als Lehrmittel an österreichischen Schulen eingesetzt wird. Der Absatz entwickelte sich im k. k. Österreich sehr gut, nicht nur aufgrund des mit der Schlacht bei Königgrätz 1866 und dem Ausscheiden aus dem deutschen Bund einsetzenden Patriotismus.48 Die Gründe liegen vor allem in den noch 1861 erscheinenden Ausgaben mit Erläuterungen in tschechischer, ungarischer und polnischer Sprache.49 Die besondere Bedeutung der sprachlichen Vielfalt wird auch in einer von Kozenn erstellten Karte mit Sprachgrenzen deutlich. Hölzels ursprünglicher Verlagsort, das mährische Olmütz, dürfte den Verleger für die Sprachproblematik sensibilisiert haben, wie auch die slowenische Abstammung von Blasius Kozenn, der in einer Karte die Sprachgrenzen in Südkärnten und Slowenien einzeichnet und sie mit einer dazugehörigen Konkordanzliste der unterschiedlichen Schreibweisen der Ortsnamen versieht.50 Hölzel verlegte zwar den überwiegenden Teil seines Verlagsprogramms auf Deutsch, doch schon 1846 erschienen bei ihm Franz Trebowskys „Bajky“ (Fabeln) in böhmischer Sprache. Immer wieder verlegte er kleine Erzählungen, aber auch Schullektüre, wie ein lateinisches Übungsbuch für die erste Gymnasialklasse,51 „Ein Bild des böhmischen Vaterlandes“,52 eine „Kurze Vaterlandskunde von Mähren und Schlesien“53 auf Tschechisch sowie Lehrbücher für die deutsche Sprache. Hölzel bewies damit Geschäftssinn, wollte er sich doch einen Großteil seiner zukünftigen Leser und Leserinnen nicht entgehen lassen. Die Herausgabe eines Lehrbuches zum Erlernen der deutschen Sprache für Böhmen entsprach der damaligen poliStammhaus, die Sortimentsbuchhandlung „Ed. Hölzel“, führt sie noch bis zu dessen Verkauf 1897 zusammen mit ihrem Bruder Adolf Hölzel weiter, der sich zugunsten seiner künstlerischen Arbeit vollkommen aus dem Geschäft zurückzieht. Der Wiener Verlag wird nach dem Tod Hugo Hölzels vom Prokuristen Ernst Schuster und von Wilhelm Zwierzina für die Witwe und deren minderjährige Kinder weitergeführt und 1899 in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt, deren persönlich haftender Gesellschafter Zwierzina ist; Hugo Hölzels Frau ist Kommanditistin und letzte Besitzerin aus der Familie Hölzel. 48 Wolfgang Sitte, Eduard Hölzel und die Anfänge seines Verlages, in: GW-Unterricht: eine Zeitschrift des Vereins „Forum Wirtschaftserziehung“ für Geographie und Wirtschaftskunde, Nr. 84, 2001, 93. 49 Lukas Birsak, Kozenn-Atlas, Eine kurze Geschichte zum 150. Geburtstag eines Meilensteins der österreichischen Schulkartographie, Wien 2011, 6. 50 Ebd. 51 Alois Vanicek, Latinska cvicebni kniha pro 1. Tridu Ceskoslovankych gymnasii, Hölzel Olmütz 1868 52 Matej Radoslav Kojar, Obraz viasti ceske zeme a dejepisne vypravovani mladezi skol narodnich, Hölzel Olmütz 1870. 53 František Eduard Vanek, Strucna vlastiveda Moravy a Slezka, Hölzel Olmütz 1863.

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tischen Lage. Dieses so anzulegen und zu präsentieren, dass es ebenso für Deutsche geeignet war, die die böhmische Sprache erlernen wollten, bewies nicht nur Liberalität, sondern auch die Wahrnehmung einer sich zusehends wandelnden Gesellschaft in Mähren und Böhmen.54 Dass Eduard Hölzels Buchhandlung schon bald nach ihrer Gründung 1844 zum Mittelpunkt der Literaturfreunde wurde, muss bei der Aufgeschlossenheit des 27-jährigen Pragers nicht verwundern. Zu den Freunden und Besuchern der Hölzel’schen Verlagsbuchhandlung zählte z. B. der Bankier und Mäzen Karl Anton Primavesi.55 Ein Briefwechsel Eduard Hölzels mit Božena Němcová 1854 über die Möglichkeit, im Verlag tschechische Jugendbücher herauszugeben, überrascht bei seinem Programm mit tschechischer Literatur daher nicht.56 5. Kunst und Schulwandbild

Mit der Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunktes 1861 nach Wien, der Gründung der ersten geografischen Anstalt in Wien sowie dem Kauf eines Hauses in der heutigen Mommsengasse 5 im 4. Bezirk, in dem der anwachsende Verlagsbuchhandel sowie eine lithografische und kartografische Anstalt mit angeschlossener Druckerei Platz fanden, wurde der angestrebten Expansion des Verlages und den besseren wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten in der Kapitale der Monarchie Rechnung getragen.57 Dem folgte schließlich 1871 der Umzug der Familie von Olmütz in die Hauptstadt der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Mit den geschäftlichen Aktivitäten verlagerte sich auch das kulturelle Engagement der Familie nach Wien. So taucht der Name des Bruders Heinrich Hölzel in den Listen der „Künstlergesellschaft zum Blauen Strauß – Albrecht Dürer Verein“ als Mitglied auf,58 und der Verlagsgründer Eduard Hölzel zählt zu den frühen Gründern des Wiener Künstlerhauses, dessen Bau er mit einer Geldspende unterstützte.59

54 Franz Martinak, Citaci a cvicebna kniha jazyka nemeckeho a cesko pro nizsi tridy skol strednich – Lese- und Übungsbuch der deutschen und böhmischen Sprache für die unteren Klassen der Mittelschulen, 2. Ausgabe, Hölzel, Wien – Olmütz 1876; Karl Ouředníček Charvát, Lehrgang der böhmischen Sprache für deutsche Mittelschulen. 1. Theil, Eduard Hölzel, Olmütz 1891. 55 V. M. Ein mährischer Kulturpionier, in: Mährisch-Schlesische Landeszeitung, 6. April 1944. 56 Život Boženy Němcové IV, 203, 209–210, 217, 222–223, 224–226; Jan Skutil, Božena Němcová a Olomuc, in: Zprávy Vlastivědného ústavu v Olomouci, Nr. 115, 1963. 57 Ed. Hölzel 1844–1969, Zum 125jährigen Bestand des Hauses am 15. Oktober 1969, Wien 1969. 58 Wladimir Aichelburg, Das Wiener Künstlerhaus 1861–2001, Die Künstlergenossenschaft in ihrer Entwicklung und ihren Rivalen Secession und Hagenbund, Bd. I/1, Wien 2003, 20. Vermutlich geht seine Mitgliedschaft mit dem Ankauf der Druckerei 1861 einher. 59 Ebd., 61.

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Eduard Hölzel selbst suchte auch den Kontakt zu Künstlern und gab 1879 bei Emil Jakob Schindler60 sowie Franz Defregger61 und Leopold Carl Müller62 Gemälde in Auftrag. Letzteren unterstützte Hölzel während seines Kairo-Aufenthaltes 1875 finanziell63 und erteilte ihm einen neuerlichen Auftrag, diesmal für historisierende Bilder Venedigs, die im Öldruck reproduzierbar waren, eine Technik, die Hölzel früh angewandt, wenn nicht gar in Österreich eingeführt hat.64 Erst 1877 stellte Müller eines der bestellten Bilder fertig, das dann 1878 auf der Weltausstellung in Paris gezeigt wurde.65 Neueste technische Innovationen des an Dynamik gewinnenden Industriezeitalters wusste Hölzel mit traditionell handwerklich-künstlerischen Schöpfungen zu verbinden. Dies markierte nicht nur den Aufbruch in die Moderne, sondern zeigte auch, wie diese Verbindung zur Popularisierung von Kultur eingesetzt werden konnte, denn der Bekanntheitsgrad des Gemäldes durch die Weltausstellung sicherte Hölzel wiederum den Absatz der Reproduktionen und damit den händlerischen Erfolg. Eduard Hölzel wusste oftmals sich bietende Möglichkeiten zu nutzen und wirtschaftliche mit kulturellen Interessen zu verbinden. So trug er mit der Publikation der Veduten Rudolf von Alts zur Wiener Weltausstellung von 1873 zu dessen künstlerischem Durchbruch bei, wobei sich das Werk gleichzeitig erfolgreich vermarkten ließ.66 Das erwachte Selbstbewusstsein des wirtschaftlich erstarkenden Bürgertums belegt die Gründung des Vereins der österreichischen Buchhändler 1859, zu dessen Gründungsmitgliedern Hölzel zählte. Als dessen Vorsitzender von 1868 bis 1875 kämpfte er erfolgreich gegen die Protektionierung des staatlichen Schulbuchverlages.67 Des Weiteren verschaffte er den österreichischen Verlagen eine internationale Plattform, indem er für die große Ausstellung des Buchhandels auf der Weltausstellung 1873 in Wien mitverantwortlich zeichnete. Anlässlich der silbernen Hochzeit des Kaiserpaares 1879 vertrat er die Vereinigung gesellschaftlich exponiert auf dem berühmten, von Hans ­Makart inszenierten Festzug.68

60 Elisabeth Kamenicek, Emil Jakob Schindler, Sein schriftliches Werk im Kontext von Kunsthandel, Mäzenatentum und Kunstkritik seiner Zeit, Salzburg 2002, Bd. 2, 94. 61 Defreggers Gemälde „Das letzte Aufgebot“ verkaufte er 1874 an den Baumagnaten Anton Oelzelt behielt aber die Vervielfältigungsrechte an dem populären Werk. 62 Freundlicher Hinweis von Sabine Grabner. 63 Herbert Zemen, Leopold Carl Müller 1834–1892, Ein Künstlerbildnis nach Briefen und Dokumenten, Wien 2001, 195 und 197. 64 Sitte, Eduard Hölzel und die Anfänge seines Verlages, 91. 65 Zemen, Leopold Carl Müller 1834–1892, 216. 66 Album von Wien, Nach Aquarellen von Franz und Rudolf Alt, Eduard Hölzel Wien 1879. 67 Sitte, Eduard Hölzel und die Anfänge seines Verlages, 94. 68 Hans Makart, Malerfürst (1840–1884), Ausstellungskatalog Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 2000, 310.

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Hölzels Erfahrungen mit dem Sprachunterricht flossen in die ab 188569 erscheinenden Schulwandtafeln ein, die sich zu einem internationalen Verkaufsschlager entwickelten, der noch lange nach 1900 zur fremdsprachlichen Ausbildung herangezogen wurde.70 In England, Frankreich, Deutschland, der Schweiz, Russland, Schweden, den Niederlanden, Belgien, den USA, Australien und selbst noch in Japan – d. h. im heutigen Verständnis global – fanden die Wandtafeln Einsatz im Schulunterricht.71 Gemeinsam mit dem Wiener Lehrerverein „Die Volksschule“ entwickelte Hölzel die Tafeln, da Schulwandbilder wie die von Winkelmann unbefriedigend waren.72 In der Praxis beweisen die Hölzel’schen Tafeln eine Prägnanz, die sie nicht nur für die Elementarschule, sondern für die Volks- und die Bürgerschule geeignet machte. Sie ließen sich für den Sprach- und Aufsatzunterricht einsetzen 73 und wurden schließlich auch für den Unterricht in Fremdsprachen verwendet, nicht nur von der Muttersprache Deutsch ausgehend, sondern als Unterrichtsmittel in europäischen und nichteuropäischen Ländern.74 Das Bild Europas im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde mit diesen Bildtafeln in die Welt getragen und selbst japanische Schüler erhielten anhand dieser Bilder einen ersten Eindruck von Europa.75 Die Tafeln vermittelten ein Bild der europäischen Hauptstädte Paris, Berlin, London, aber auch von Wien,76 der technische Fortschritt wird im Gegensatz zu Landschaftsdarstellungen gezeigt, bukolische Bergszenen kontrastieren mit den Viadukten und dem Verlauf der Semmeringbahn, in Hafenszenen werden Dreadnoughts altertümlich wirkenden Segelschiffen gegenübergestellt. Die Idee hierzu hatte Eduard Hölzel seinem Sohn Adolf schon 1877 in einem Brief mitgeteilt. Er bat ihn darin um die Unterstützung eines neuen Verlagsprojektes, „bei welchem eine künstlerische Durchführung ebenfalls nötig ist und wozu ich deine Bei69 Marcus Reinfried, Das Bild im Fremdsprachenunterricht – Eine Geschichte der visuellen Medien am Beispiel des Französischunterrichts, Tübingen 1992, 106f. Die Tafeln wurden von Marie und Sophie Görlich (Herbst, Bauernhof, Gebirge) sowie A. Kunzfeld (Wohnung), H. Otto (Berlin) u.a. gezeichnet. 70 Auf diesen Aspekt hat mich Kiyoshi Matsuda hingewiesen; vgl. Kiyoshi Matsuda/Mawo Masumitsu (Hrsg.), Catalogue of Modern Printed Teaching Wallcharts, 1855–1944, Kanazawa University Collection, Graduate School of Human and Environmental Studies, Kyoto University 2008. 71 Sitte, Eduard Hölzel und die Anfänge seines Verlages, 92. 72 Adalbert Winter, Hölzels Wandbilder für den Anschauungsunterricht in ihrer praktischen Verwendung beim Sprachunterrichte, Wien – Olmütz 1887, 5. 73 Ebd. 74 Reinfried, Das Bild im Fremdsprachenunterricht, 96ff. 75 Matsuda/Masumitsu (Hrsg.), Catalogue of Modern Printed Teaching Wallcharts, Kyoto University 2008. 76 Den Prototyp einer Stadt bildet jedoch Wien, dessen Architektur sich statt an der Ringstraße am Donaukanal entlangzieht. Markante Gebäude wie das Volkstheater, die Karlskirche, das Rathaus, die Votivkirche sowie der charakteristische Budapester Westbahnhof werden wiedergegeben.

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hilfe nun sehr bald benötigen werde, da ich selbst nicht mehr die nötige Spannkraft für diese wichtigen und umfassenden Aufgaben besitze“.77 6. Herbartianismus und seine Wirkung

Das Projekt der Wandbilder beruht pädagogisch auf den Überlegungen der Herbart-Schule,78 die vor allem in Prag und der k. k. Monarchie prägend war.79 Johann Friedrich Herbart (1776 Oldenburg–1841 Göttingen) gilt heute als einer der Begründer der modernen wissenschaftlichen Pädagogik sowie der Psychologie auf wissenschaftlicher Grundlage.80 In Begleitheften, die Hölzel verlegte,81 wurde nach der „Formalstufen Pädagogik“ der Herbartianer das jeweilige Wandbild analysiert.82 Zu Hölzels Lehrtafeln entstand 1887, vom in die Schweiz emigrierten liberalen Sines Alge83 verfasst, ein Leitfaden für den französischen Sprachunterricht.84 Des77 Wolfgang Venzmer, Adolf Hölzel – Monografie und Werkverzeichnis, Stuttgart 1982, 13. 78 Reinfried, Das Bild im Fremdsprachenunterricht, 92; Ina Katharina Uphoff, Der künstlerische Schulwandschmuck im Spannungsfeld von Kunst und Pädagogik, Diss., Würzburg 2002, 77 und 153f. 79 Erik Adam/Gerald Grimm, Die Pädagogik des Herbartianismus in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Wien 2009. 80 Helene Skladny, Ästhetische Bildung und Erziehung in der Schule, Eine Ideengeschichtliche Untersuchung von Pestalozzi bis zur Kunsterziehungsbewegung, München 2009, 112. 81 Ed. Jordan, Materialien für den Anschauungsunterricht in den Elementarschulen. Mit Rücksicht auf die Hölzel’schen Anschauungsbilder, Ed. Hölzel Wien, 5. Auflage, 1901 (erste Auflage 1886). 82 Vgl. G. Fröhlich, Die wissenschaftliche Pädagogik Herbart Ziller Stoys, in ihren Grundlehren gemeinschaftlich dargestellt und an Beispielen erläutert, Wien – Leipzig 1896, 123–127; Skladny, Ästhetische Bildung, 131. Die weltweite Verbreitung des Herbartianismus gleicht der Verbreitung der Hölzel’schen Lehrtafeln, sodass sich die Frage nach den Wechselwirkung stellt, die zu dieser Verbreitung geführt hat. Die verlegerische Betreuung der Pädagogik und das besondere Interesse an Herbart zeigen sich auch am Erscheinen eines Handbuches zur Geschichte der Pädagogik (Ferdinand Maria Wendt, Repetitorium zur Pädagogik, mit besonderer Berücksichtigung Oesterreich-Ungarns, Carl Graeser Verlag, Wien 1879) bei Eduard Hölzels Schwiegersohn Carl Graeser und die Herausgabe von Herbarts Schrift der Allgemeinen Pädagogik (Johann Friedrich Herbart, Allgemeine Pädagogik und Umriß pädagogischer Vorlesungen, bearb. v. Karl Richter, Carl Graeser Verlag Wien 1880). 83 Wolfgang Scheffknecht, Modernisierung und Verbürgerlichung: Lustenau 1860 bis 1914, 15f. http://stadtarchiv.dornbirn.at/fileadmin/user_upload/Fotos_Stadtarchiv/Bilder/Geschichtstage_ Stadt_u._Buergertum/Scheffknecht-1.pdf (zuletzt abgerufen am 15.02.2016). 84 Sines Alge (1847 Lustenau–1909 St. Gallen), Leçon de Français: Leitfaden für den ersten Unterricht im Französischen. Unter Benützung von Hölzel’s Wandbildern für den Anschauungs- und Sprachunterricht und mit Angaben zum Selbstkonstruieren durch die Schüler, St. Gallen 1887. Von Alge bzw. mit dessen Methode wurden auch (von S. Hamburger) Sprachbücher nach Hölzels Wandbildern für die italienische und englische Sprache konzipiert.

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sen neue, den Sprachunterricht ganz im Sinne von Herbart revolutionierende Pädagogik fand rasche Verbreitung. Innerhalb weniger Jahre entstanden nach diesem Vorbild französische und englische Sprachbücher, deren Anzahl der Verlag Hölzel in einem Werbetext mit 40 verschiedenen Grammatiken und Sprachbüchern angibt,85 die häufig in den jeweiligen Ländern gedruckt werden, in denen sie Anwendung finden, d. h. nicht nur in der k. k. Monarchie, Frankreich und Großbritannien, sondern es lohnte sich z. B. auch in Deutschland und der deutschen Schweiz eigene Ausgaben herzustellen und nicht die deutschen Ausgaben des Hölzel Verlages zu verwenden. Die Wandtafeln hatten sich damit als pädagogisches Instrument verselbstständigt. Die Erziehung durch Kunst zum „ästhetischen“, „guten“ Menschen zählt zu Kernpunkten des pädagogischen Ansatzes Herbarts86 und der Herbartianer. Die Philosophie Kants, die unter der Restauration Metternichs als subversiv verfolgt wurde, setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch und damit einhergehend die der Aufklärung entspringenden Ansätze von Bernhard Bolzano und vor allem Johann Friedrich Herbarts.87 Der Prager Robert Zimmermann vermittelte als maßgeblicher Dozent zuerst in Olmütz 1849–1852, ab 1852 in Prag und von 1861 an der Universität Wien Herbarts Philosophie88 und übte damit bis 1896 über 30 Jahre einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Wissenschaft in Wien und der k. k. Monarchie aus.89 Seine philosophische Grundlagenschrift „Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft“, die 1865 erschien, legt programmatisch seine philosophischen Ansichten dar.90 Daher kann der von Eduard Hanslick, einem engen Freund aus seiner Prager Zeit, geprägte Begriff der Musik als „tönend bewegte Formen“ nicht verwundern.91 Zimmermanns 85 Ed. Jordan, Materialien für den Anschauungsunterricht in den Elementarschulen, Mit Rücksicht auf die Hölzel’schen Anschauungsbilder, Ed. Hölzel Wien, 5. Auflage, 1901 (erste Auflage 1886). Reinfried weist in seiner Dissertation schon mindestens 31 verschiedenen Grammatiken nach, die in bis zu acht Auflagen erscheinen. Bis Anfang der 1920er-Jahre behauptet der Ed. Hölzel Verlag seine führende Position bei Wandtafeln. Reinfried, Das Bild im Fremdsprachenunterricht, 108, vgl. Anm. 118. 86 Skladny, Ästhetische Bildung, 122f. 87 Helmut Konrad, Zeitgeschichte und Moderne, in: Rudolf Haller (Hrsg.), nach kakanien – Annäherung an die Moderne, Wien – Köln – Weimar 1996, 17. 88 Ferdinand Maria Wendt, Repetitorium zur Pädagogik, 114. Vgl. William M. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte – Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938, Graz 1974, 291ff. 89 Georg Wolfgang Cernoch, Zimmermanns Grundlegung der Herbartschen Ästhetik: Eine Brücke zwischen Bolzano und Brentano, in: Michael Benedikt/Reinhold Knoll/Cornelius Zehetner (Hrsg.), Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Bildung und Einbildung. Vom verfehlten Bürgerlichen zum Liberalismus; Philosophie in Österreich 1820–1880, Wien 1995, 681. 90 Robert Zimmermann, Allgemeine Aesthetik als Formwissenschaft, Wien 1865. 91 Eduard Hanslick, Vom Musikalisch Schönen, Wiesbaden 1966, 160; Ernst Mach, Analyse der Empfindung, Jena 1922, 299.

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Philosophie der Formen wirkte beispielsweise prägend auf seinen Schüler Alois Riegel und dessen kunsthistorische Analysen und damit auf die Kunstgeschichte der Wiener Schule.92 Die Formkunst der Secession, bei Gustav Klimt und vor allem Josef Hoffmann, Adolf Hölzel und selbst noch dem jungen Schiele,93 hat ihren philosophischen Hintergrund in der Philosophie Herbarts und Zimmermanns, vor allen dessen „Ästhetik als Formwissenschaft“.94 Doch nicht nur in Wien, auch in anderen Teilen der k. k. Monarchie setzen sich die Ideen Herbarts durch, wobei die Prager Universität eine Hochburg und ein Ausgangspunkt Herbart’schen Denkens war.95 Der Prager Professor für Philosophie Franz Exner bereitete als Mitglied des nach der Revolution von 1848/49 geschaffenen „Ministeriums für Cultus und Unterricht“ die Wege für die Schul- und Unterrichtsreformen.96 Gleichzeitig war er es, der die Herbart’sche Philosophie und Pädagogik in der k. k. Monarchie bekannt machte. Den empirisch-psychologischen Ansatz Herbarts vertraten jedoch ebenso die Prager Professoren František Čupr, Wilhelm Fridolin Volkmann sowie Otto Willmann, der Pädagogik ganz im Sinne Herbarts als eine wissenschaftlichen Disziplin an den Universitätsseminaren in Österreich etablierte,97 und Gustav Adolf Lindner98 an der tschechischen Universität in Prag, dessen Schriften große Verbreitung in der k. k. Monarchie und weit über deren Landesgrenzen hinaus fanden.99 92 Dieter Bogner, Empirie und Spekulation – Alois Riegl und die Wiener Schule der Kunstgeschichte, in: Wien um 1900 – Kunst und Kultur, Wien – München 1985, 442; Horst Pfeiffle, Johann Friedrich Herbart – Ernst Feuchtersleben – Robert Zimmermann und das Österreichische Bildungswesen, in: Michael Benedikt/Reinhold Knoll/Cornelius Zeheter (Hrsg.), Verdrängter Humanismus, 327; Edwin Lachnit, Ästhetik und Kunstbegriff bei Riegl und Dvorak, in: ebd., 736. 93 Vgl. Alexander Klee, Adolf Hölzel und die Wiener Secession, München 2006, 20, 76, 79. 94 „Über diese hat Georg Jäger in seinem Aufsatz ‚Die Herbartianische Ästhetik ein österreichischer Weg in die Moderne‘ schließlich zu Recht feststellen können, daß unter den zeitgenössischen Schulen der philosophischen Ästhetik keine so gut geeignet sei Kriterien für die moderne gegenstandslose Kunst zu geben, wie die Ästhetik Zimmermans.“ – Wolfgang Cernoch, Der Auszug aus dem Akademismus, in: Benedikt/Knoll/Zehetner (Hrsg.), Verdrängter Humanismus, 91. 95 Erik Adam/Gerald Grimm, Einleitung. Der Herbartianismus in der Habsburgermonarchie – ein Desiderat der historisch-pädagogischen Forschung, in: Erik Adam/Gerald Grimm (Hrsg.), Die Pädagogik des Herbartianismus in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Wien 2009, 1ff. 96 Werner Sauer, Die verhinderte Kanttradition. Über eine Eigenheit der österreichischen Philosophie, in: Benedikt/Knoll/Zehetner (Hrsg.), Verdrängter Humanismus, 312; Wolfgang Cernoch, Zimmermanns Grundlegung der Herbartschen Ästhetik, 683. 97 Ferdinand Maria Wendt, Repetitorium zur Pädagogik, 146. 98 Ebd., 114 und 145. 99 Gerald Grimm, Gustav Adolf Lindner als Wegbereiter der Pädagogik des Herbartianismus in der Habsburgermonarchie. Eine Studie zu Leben, Werk und Wirken Lindners mit spezieller Fokussierung auf sein „Encyklopädisches Handbuch der Erziehungskunde“, in: Adam/Grimm (Hrsg.),

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Herbarts empirisch-psychologischer Ansatz schlägt sich auch in seiner Lehre des Zeichenunterrichts nieder. Seine Grundlage ist dabei die geometrische Trigonometrie, welche die elementare Fähigkeit des Sehens, des Geordnet-Seins der Welt erleichtern soll.100 Dem bildenden Künstler kommt dabei die Aufgabe zu, Form und Einzelheiten des Gegenstandes so zu zeigen, dass der Betrachter diese erfassen und sich an diese erinnern kann.101 Herbarts Zerlegung von Flächen in die Form von komplexen Dreiecken ist der Versuch der Darlegung der Formen. Umgekehrt bleibt die künstlerische Arbeit durch die geometrische Auffassung kontrolliert und überlässt den Schaffensprozess nicht der Emotion.102 Die Dominanz der Emotion beim Schaffensdrang wie bei den Expressionisten oder den Fauves wird unterbunden. Herbart entwirft jedoch auch keinen Unterricht der perspektivischen Konstruktionen, sondern bleibt der Fläche verbunden, die sich aus den Dreiecksformen entwickelt.103 „Herbarts Ästhetik setzt sich aus rein strukturalen Form und Verhältnisbestimmungen zusammen. Auch hier liegt die Mathematik dem gleichbleibenden Formschönen als wichtiges Element zugrunde.“104 Die von Herbart geprägten Lehransichten und Methoden finden in der k. k. Monarchie starken Anklang, sichtbar an Anton Anděls105 Schrift „Das geometrische Ornament“, welche 1877, vom k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht unterstützt, erstmals und bis 1893 in mindestens vier Auflagen erschien.106 Seine Lehre wurde von den Zeitgenossen dahingehend gelobt, dass sie „besonders für einen rationellen, den Schlendrian gedankenloser Nachbildung beseitigenden Zeichenunterricht [geeignet war] mit gehöriger Berücksichtigung des FlachorDie Pädagogik des Herbartianismus, 21–36; Erik Adam, Die Pädagogik des Herbartianismus in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, in: Adam/Grimm (Hrsg.), Die Pädagogik des Herbartianismus, 10. 100 Skladny, Ästhetische Bildung, 112f. 101 Ebd., 117. 102 Ebd., 119. 103 Ebd., 120. 104 Ebd., 124. 105 Antonín (Anton) Anděl (1844 Velké Meziříčí/Groß Meseritsch/Mähren–1935 Graz), Professor in Jihlava/Iglau und Graz, Schulrat, Hochschuldozent für „Grundzüge der Ornamentenkunde“ an der Grazer technischen Hochschule, reformierte den Zeichenunterricht und wirkte als k. k. Fachinspektor des Zeichenunterrichts an den Mittelschulen und Pädagogien Mährens und Österreichisch-Schlesiens (Thieme-Becker). Der rationale Ansatz Anděls wird beispielsweise an seinem ausdrücklichen Verweis auf die Schrift von Ernst Brücke, „Physiologie der Farben“, deutlich, den er an den Anfang seiner Schrift „Grundzüge der Farbenlehre“ (Wien 1885) stellt. 106 Anton Anděl, Das geometrische Ornament. Ein Lehrmittel für den elementaren Zeichenunterricht an Real- und Gewerbeschulen, entworfen und mit Unterstützung des k. k. Ministeriums für Cultus und Unterricht, Verlag von R. Waldheim Wien 1893, vierte verbesserte und vermehrte Auflage.

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namentes und Benutzung der Farbe“.107 Inwieweit sich Antonín Anděls Tätigkeit als k. k. Fachinspektor des Zeichenunterrichts an den Mittelschulen und Pädagogien in Mähren und Österreichisch-Schlesien auf den Kunstunterricht und letztlich die Schüler ausgewirkt hat bzw. was dessen Lehrbücher bewirkten, lässt sich nur mutmaßen. Bemerkenswert ist jedoch deren Erscheinen nicht nur in deutscher, sondern auch in tschechischer Sprache.108 Die Sensibilisierung für geometrische Formen durch die Herbart’sche Lehre scheint im böhmisch-mährischen Raum auf besonders fruchtbaren Boden gefallen zu sein, wie die Häufung der ungegenständlich-geometrischen Ansätze bei Künstlern wie Adolf Hölzel, František Kupka,109 Josef Hoffmann und Wenzel Hablik zeigen. Die der Formkunst aufgeschlossene Secession ist diesem flächig geometrischen Kunstverständnis ebenso verbunden wie der tschechische Kubismus. Nicht nur Hölzels malerische Kompositionen oder die Architekturen Hoffmanns und dessen kunsthandwerkliche Entwürfe, auch das Porträt von „Adele Bloch-Bauer“ und der „Kuss“ Gustav Klimts wirken ornamental, flächig. Dies gilt ebenso für die tschechischen Kubisten wie Josef Čapek, Emil Filla und Otakar Kubín. Die Zerlegung in geometrische Dreiecksformen lässt sich im Kunsthandwerk und in der Architektur der tschechischen Kubisten beobachten, wie bei Pavel Janák, Jan Kotěra, Vlastislav Hofmann, die hierin den „Formkünstlern“ der Secession ähnlich erscheinen. Und in einem weiteren Punkt gleichen sich die Intentionen der Secession und jene der tschechischen Kubisten: Wie die Secession streben auch sie eine universale Kunst an, die alle Lebensbereiche umfasst und damit einhergehend, ganz im Sinne Herbarts, zu einem neuen, ästhetisch guten Menschen führt. Die Bedeutung von Herbart darf nicht unterschätzt werden: Ernst Mach, dessen Lehre und Schriften über Psychophysik außerordentlich einflussreich auf die Wiener Kunst und Literatur wirkten, bezieht sich explizit auf Herbart und vor allem dessen sinnespsychologische Schriften, die ihn nachhaltig beeindruckten.110 Folgt man den neueren Forschungen und Erkenntnissen zur Entwicklung des Kubismus und dessen direkte Bezugnahme auf die Psychophysik von Hermann von Helmholtz und nicht zuletzt auf Ernst Mach,111 wird die Affinität 107 Ferdinand Maria Wendt, Repetitorium zur Pädagogik, 155. 108 Antonín Anděl, Moderní vyučování kreslení na obecných a měšt’anských školách: pruvodce k umělecké výchově mládeže/pro učitelstvo sepsal Antonín Anděl, Nakladatelství Fr. Řivnáče v Praze 1885. 109 Mehrfach hat Meda Mladek in Texten auf die Kenntnis von Anděls Schriften durch Kupka hingewiesen. Meda Mladek, mitteleuropäische Einflüsse, in: Zwei Wegbereiter der Moderne I. – František Kupka aus der Sammlung Jan und Meda Mladek, Ausstellungskatalog, Tschechisches Museum der bildenden Künste Prag, Albertina Wien, Haus der Kunst München 1996/97, Prag 1996, 21. 110 Ernst Mach, Analyse der Empfindung, Jena 1922, 299. 111 Marianne L. Teuber, Formvorstellungen und Kubismus oder Pablo Picasso und William James, in: Siegfried Gohr (Hrsg.), Kubismus, Künstler – Themen – Werke, Ausstellungskatalog, Josef-Hau-

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der tschechischen Kubisten zu ihren französischen Kollegen und deren Kunst nicht nur aus dem Blickwinkel der politischen Abwendung und Konkurrenz zu Wien, sondern als Bestätigung der eigenen künstlerischen Position verständlich. Sie basiert auf den gleichen Einsichten über die Bedeutung der Formen und die Auffassung von Raum. Ernst Machs Erkenntnisse weiterführend, verfasste 1890 der Psychologe Christian Ehrenfels den Aufsatz „Gestaltqualitäten“, der zur Grundlage der Gestaltpsychologie wurde. Hierin arbeitet er Machs These aus, dass „wir Raumgestalten und selbst ‚Tongestalten‘ oder Melodien unmittelbar zu ‚empfinden‘ vermögen“.112 Er untermauert Machs These: Wenn wir zwei Tonfolgen von zwei verschiedenen Tönen ausgehen und nach denselben Schwingungszahlenverhältnissen fortschreiten lassen, so erkennen wir in beiden dieselbe Melodie ebenso unmittelbar durch die Empfindung, als wir an zwei geometrisch ähnlichen, ähnlich liegenden Gebilden die gleiche Gestalt erkennen.113

Mach und Ehrenfels treffen sich hierin mit Ansichten Adolf Hölzels. Während Mach musikalisch die Melodie als einen Zusammenhang hört, sieht Hölzel variierende Formen im Bilde als eine „Form-Melodie“. Hölzel schreibt: Für die malerische Wiedergabe werden sich der Gleichmässigkeit wegen die regelmässigen oder geometrischen ebenen Figuren (Quadrat, Rechteck, Dreieck, Kreis etc.) in der Regel weniger eignen. Es werden hierfür die unregelmässig geformten mehr in Betracht kommen müssen. Da diese zur Ausschmückung der Fläche besonders geeignet erscheinen, so bezeichnet man sie auch mit dem Ausdrucke »ornamentale Formen«. Schon eine kleinere Abweichung von der regelmässigen wird eine unregelmässige Form ergeben, und die Verwertung von der einfachen unregelmässigen bis zur complicierter ausgestalteten ergibt eine ausserordentliche Vielseitigkeit und einen grossen Reichthum von Formenabwechslung, durch deren Kenntnis für jede Persönlichkeit und Zeitanschauung genügend Gelegenheit geboten ist, Eigenartiges zu erfassen oder dieses herauszubilden.114

brich-Kunsthalle Köln, Köln 1982, 26. Kritisch dazu: Bernd Schäfer, Geometrische Struktur und kubistischer Bildraum, in: http://www.complang.tuwien.ac.at/ulrich/prolog_misc/picasso_struktur.html (zuletzt abgerufen am 15.02.2016). 112 Christian v. Ehrenfels, Über „Gestaltqualitäten“, in: Philosophische Schriften, hrsg. v. Reinhard Fabian, Bd. 3, München – Wien 1988, 128. 113 Ernst Mach, Analyse der Empfindungen, Jena 1922, 232. 114 Adolf Hölzel, Über Formen und Massenverteilung im Bilde, in: Ver Sacrum, 1901, Jg. IV, Heft 15, 253.

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Ehrenfels war hierin zu gleichen Schlüssen wie Hölzel gekommen, wenn er ausführt: „Und zwar lehrt das erste der beiden angeführten Beispiele, daß nicht die einfachsten Tongestalten am leichtesten im Gedächtnisse zu fixieren sind, sondern vielmehr solche von einer Gliederung, welche den einfachen Tonschritten gegenüber als mannigfaltig bezeichnet werden kann.“115 Bedenkt man Herbarts empirisch-psychologischen Ansatz und seine Intention, Formen und Einzelheiten des Gegenstandes so zu zeigen, dass der Betrachter diese erfassen und sich an diese erinnern kann,116 werden die Verbindungen zum Formverständnis Hölzels, wie zu Machs und Ehrenfels’ Gestaltqualitäten deutlich. So gilt dem Verständnis der Form in der Bildfläche Adolf Hölzels Interesse, das er in seinem Aufsatz „Über Formen und Massenvertheilung“ in Ver Sacrum, der Zeitschrift der Wiener Secession, erläutert.117 Hölzel legt mit dieser Schrift die Grundlage für ein Verständnis der Formkunst der Secession, die den Weg zur gegenstandslosen Kunst weist.118 Dies zeigt die Rezeption von Hölzels Schrift durch Wassily Kandinsky,119 aber auch den breiten Eingang der Formkunst in die Kultur der k. k. Monarchie durch die Schrift „Der Moderne Zeichenunterricht an Volks und Bürgerschulen“120 des schon erwähnten Pädagogen Antonín Anděl, die in vier aufeinanderfolgenden Mappen zwischen 1903–1906 erschien und auch ins Tschechische121 übersetzt wurde. Anděl übernimmt lange Passagen von Hölzels Text sowie dessen erläuternde Zeichnungen. Diese, die Formkunst erläuternden beispielhaften Skizzen sowie die Inhalte von Hölzels Aufsatz in Ver Sacrum stellt Anděl an den Anfang der vierten Mappe. Damit wird Hölzels programmatische Schrift zur Formkunst zum Lehrstoff an Schulen in Österreich. Die Kunst der Secession wird zum künstlerischen Leitbild in Österreich, zum anderen wirkt Hölzels Formkunst auf diese Weise tiefgreifend in seine Heimat zurück. Neben den erläuternden Skizzen verwendet Anděl beispielhafte Tafeln, ein Hilfsmittel, dessen sich Hölzel auch 115 Christian v. Ehrenfels, Über „Gestaltqualitäten“, 136. 116 Skladny, Ästhetische Bildung, 117. 117 Hölzel, Über Formen und Massenverteilung im Bilde, 243–254. Wiederabgedruckt in: Agnes Husslein-Arco/Alexander Klee (Hrsg.), Ausstellungskatalog Formalisierung der Landschaft. Hölzel, Mediz, Moll u.a., Belvedere, Wien 2013, München 2013, 24–37. 118 Alexander Klee, Formen der Landschaft – geformte Landschaft. Adolf Hölzels Aufsatz „Über Formen und Massenvertheilung im Bilde“ und die Entwicklung einer ornamentalen Landschaftsmalerei, in: Husslein-Arco/Klee (Hrsg.), Formalisierung der Landschaft, 9–23. 119 Peg Weiss, Kandinsky und München: Begegnungen und Wandlungen, in: Armin Zweite (Hrsg.), Kandinsky und München. Begegnungen und Wandlungen 1896–1914, München 1982, 54f. 120 Anton Anděl, Der Moderne Zeichenunterricht an Volks und Bürgerschulen. Ein Führer auf dem Wege zur künstlerischen Erziehung der Jugend. Für die Lehrerschaft verfasst von Ant. Anděl, R. v. Waldheim Wien, Mappe I 1903 / Mappe II 1904 / Mappe III 1905 / Mappe IV 1906. 121 Antonin Anděl, Moderni vyučováni kresleni na obecných a měšt’anských školách: průvodce k umělecké výchově´mládeže, R. v. Waldheim Wien / Fr. Řivnáče Praze, Mappe I 1903 / Mappe II 1904 / Mappe III 1905 / Mappe IV 1906.

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in seiner Malschule in Dachau bedient. In Dachau, wie auch später als Professor an der Akademie in Stuttgart, hielt er Vorträge, bei denen er auf solche Skizzen oder Tafeln zurückgriff, die von seinen Schülern übernommen werden konnten. Er vermittelt auf diese Weise seine kunsttheoretischen Ansichten ohne die Individualität des Schülers zu beugen. Jeder Schüler kann sich hierbei das herausnehmen, was ihm nützt. Hölzel gibt ihm die Möglichkeit, Ansichten zu notieren und mit beispielhaften Zeichnungen zu versehen, letztlich, sich selbst ein Bild zu machen – und dies im wörtlichen und übertragenen Sinn. Hölzel entspricht somit in der Methodik, der Bedeutung der Form oder der besonderen Bedeutung, die er der mathematisch begründeten Proportion beimisst,122 den Intentionen Herbarts.123 Resümiert man die Formkunst der Wiener Secession, der tschechischen Kubisten und selbst der französischen Kubisten, erklären sich die formalen Ähnlichkeiten bzw. Affinitäten mit den Intentionen und Grundlagen aus den sinnespsychologischen Ansätzen, die sich u.a. auf Mach und letztlich auch auf Herbart zurückführen lassen. 7. Künstlerkolonien und Malerschulen – eine Form der Netzwerkbildung

Hölzel, der bis 1882 an der Akademie in München studiert hatte, reiste 1887 gemeinsam mit zwei Studienkollegen, dem Sachsen Arthur Langhammer und dem Budapester Frigyes (Fritz) Strobentz, nach Paris. Das Erlebnis des Impressionismus veranlasste ihn, dem städtischen Getriebe den Rücken zu kehren und im ländlichen Dachau, fernab von den „wohlmeinenden“ Ratschlägen der Kollegen, neue künstlerische Wege zu erkunden.124 Damit einher ging die Gründung einer Malschule 1887,125 die auch dazu beitrug, sein Auskommen zu verbessern. Zu den österreichischen Schülern und Schülerinnen von Hölzel zählten die Oberösterreicherin Emilie Mediz-Pelikan, die 1887–1890 bei Hölzel studierte,126 wie auch die Innsbruckerin Bertha von Tarnóczy-Sprinzenberg und Franz Wilhelm Jäger aus dem böhmischen Ringenhain, die um 1896 bei Hölzel studierten.127 Hölzels Wiener Freunde Alfred Schrötter von Kristelli und Robert Poetzelberger unterstützten ihn bei seinem Unterricht,128 sodass es nicht verwundert, dass Poetzelberger seinen Stiefbruder Leo Putz in Hölzels Malschule schickte. Selbst 122 Skladny, Ästhetische Bildung, 116; Hölzel, Über Formen und Massenverteilung im Bilde, 243–254; Adalbert Goeringer, Der goldene Schnitt, hrsg. von Adolf Hölzel, München 1911. 123 Skladny, Ästhetische Bildung, 111–134. 124 Venzmer, Adolf Hölzel, 16ff. 125 Da Emilie Mediz am 18. Januar 1888 von einer Malschule berichtet, kann davon ausgegangen werden, dass diese damals schon bestand; vgl. Therese Backhausen, Emilie Mediz-Pelikan – Karl Mediz – Ein Leben für die Kunst, Salzburg 2008, 60. 126 Ebd., 16. 127 Daniel Studer, Martha Cunz – Eine Schweizer Jugenstilkünstlerin München, St. Gallen 1993, 304. 128 Therese Backhausen, Emilie Mediz-Pelikan – Karl Mediz, 73.

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nachdem Putz eine eigene Malschule gegründet hatte, hielt er den Kontakt zu Hölzel. Poetzelberger unterrichtete ab 1903 an der Akademie in Stuttgart, wohin ihm Hölzel nach einem Ruf an die Akademie 1905 folgte. Der Wiener Secessions-Präsident Gustav Klimt,129 wie auch der wesentlich ältere Wiener Kollege Rudolf Ribarz,130 der Grazer mit irischen Wurzeln, Carl O’Lynch of Town,131 und der Tiroler Theodor von Hörmann statteten Hölzel in Dachau Besuche ab. Letzterer suchte ihn 1892 während einer Schaffenskrise auf und bat ihn um Rat und Hilfe.132 Hölzels Schule in Dachau hatte schon vor 1900 große Bedeutung erlangt und daher Zuspruch aus dem gesamten deutschsprachigen Gebiet und weit darüber hinaus. Hier trafen einander junge angehende Künstler und Künstlerinnen aus Schweden, Deutschland, Russland, dem Baltikum, der Schweiz, selbst den USA, aber auch aus der gesamten k. k. Monarchie, ein buntes Gemisch mit einem hohen Frauenanteil. Unter den Schülern und Schülerinnen in Dachau befanden sich Emil Hansen, der unter dem Namen Emil Nolde bekannt wurde, Ida Kerkovius aus Riga, wie auch Lily Uhlmann aus Fürth, die spätere Frau des Kunsthistorikers Hans Hildebrandt aus dem badischen Staufen. Elena Makowsky aus St. Petersburg133 und ihr späterer Mann Richard Luksch pflegten 1900 ebenfalls den Kontakt zu Hölzel in Dachau.134 Sie zogen nach ihrer Heirat nach Wien und stellten häufig in der Secession aus. Doch ab 1905 zeigten das Ehepaar Luksch ebenso wie Hölzel und die Klimt-Gruppe ihre Werke nicht mehr in der Secession. Die Wege der Künstler und Künstlerinnen überschnitten sich vielfach, demzufolge fand die Kommunikation über Generationen, Nationen, Stile und Gruppen hinweg statt. Die in Wien geborene Ungarin Elza Kövesházi Kalmár135 besuchte Hölzel um 1896 in Dachau. Sie sollte später in der Wiener Secession und dem Hagenbund ausstellen sowie an der Gründung des ungarischen Künstlerbundes „Kéve“ beteiligt sein. Ebenso zu Hölzels Schülern zählten Alfred Graf Wickenburg aus der Steiermark und der aus Budapest stammende Felix Albrecht Harta. Während Wickenburg dem an die Akademie berufenen Hölzel 1905 nach Stuttgart folgte,136 129 Agnes Husslein-Arco/Alfred Weidinger (Hrsg.), Ausstellungskatalog 150 Jahre Gustav Klimt Belvedere Wien 2012, Wien 2012, 289. 130 Nachlass Arthur Roessler, Notiz auf einer Zeichnung vom Juli 1898, Wien Museum. 131 Nachlass Arthur Roessler, Notiz ca. 1900, Wien Museum. 132 Hörmann hielt sich vermutlich von Sommer 1892 bis in den Winter in Dachau bei Hölzel auf; vgl. Theo Braunegger/Magdalena Hörmann-Weingartner, Theodor von Hörmann, Wien 1979, 52ff. und 100ff. 133 Joachim Heusinger von Waldegg und Helmut Leppien, Richard Luksch/Elena Luksch-Makowsky, Hamburger Künstlermonographien Nr. 10, Hamburg 1979, 14. 134 Abschrift aus dem Tagebuch von Adolf Hölzel 12.11.1900, Hölzel Archiv – Alexander Klee. 135 Sabine Plakolm-Forsthuber, Elza Kövesházi Kalmár (1876–1956), 122. 136 Elisabeth Enzinger, Die frühen Jahre 1904–1923, in: Johannes Wickenburg (Hrsg.), Alfred Wickenburg 1885–1978, Wien 1996, 30ff.

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blieb Hölzels Malschule in Dachau für Harta nur eine kurze Episode. Er nahm später in Wien ebenfalls eine Mittlerrolle ein. Sowohl mit Schiele als auch mit Kokoschka befreundet, war er für die Mitglieder der „Neukunstgruppe“ in Wien ein künstlerisches Vorbild.137 8. Netzwerker für die Wiener Moderne

1897 konstituierte sich die Wiener Secession, der Hölzel – wie auch Robert Poetzelberger – als Gründungsmitglieder beitraten. Die Secession trug zu Hölzels weiterer Entwicklung entscheidend bei. Zu seinen engen Freunden dort zählte der Organisator der Secession Carl Moll, dem Hölzel 1905 Arthur Roessler als Mitarbeiter für die Galerie Miethke vermittelte. Moll war nicht nur der Organisator der „Wiener Secession“, sondern seit 1904 auch Leiter der Galerie Miethke. 1904 war diese bedeutende Wiener Galerie und Kunsthandlung von Hugo Othmar Miethke an Paul Bacher, einen engen Freund Gustav Klimts, verkauft worden.138 Der von Hölzel empfohlene Roessler wurde zu einem der spannendsten Momente in der Geschichte der Galerie Miethke angestellt. Das Jahr 1905 bedeutete für die Wiener Secession und ihre Freunde einen tiefen Einschnitt, denn im Juni folgte auf die schon länger schwelenden Streitigkeiten die Spaltung der Wiener Secession. Im Zentrum des Streits standen Molls Tätigkeit für die Galerie Miethke und deren besonderes Engagement für die Künstler um Gustav Klimt. Diese kommerzielle Verflechtung ging den meisten Secessionisten zu weit, war dies doch gerade der Grund gewesen, weshalb sie sich als Gruppe gegenüber dem traditionellen Künstlerhaus formiert hatten. In einer hieraus resultierenden Kampfabstimmung unterlag die Klimt-Gruppe und trat deshalb im Juni 1905 aus der Secession aus.139 Hölzel hatte noch zu Jahresanfang in der Wiener Secession ausgestellt und dafür die Präsentation in der Wiener Galerie Pisko abgesagt. Als sich der Konflikt innerhalb der Secession zuspitzte, trat er mit der Klimt-Gruppe aus. Den Verlust ihrer Ausstellungsmöglichkeiten glich die Klimt-Gruppe durch vermehrte Präsentationen in der Galerie Miethke aus. Dort war Hölzel 1905 auch gleich zweimal zu sehen: zuerst ab 23. Juni in der Ausstellung „Moderne Wiener Künstler“ zusammen mit Gustav Klimt, Carl Moll, Ferdinand Andri, Maximilian Kurzweil, Wilhelm List sowie Emil Orlik, Karl Fahringer und Franz Wilhelm Jäger, dem 137 Franz Smola, Neukunst und Klimtgruppe – Wiens Avantgarde in Budapest 1912/13, in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 530. 138 Werner J. Schweiger, Kunsthandel zwischen Secession und erstem Weltkrieg, in: Belvedere, Jg. 4, Heft 2, 1998, 64–85; Tobias G. Natter, Die Galerie Miethke – Eine Kunsthandlung im Zentrum der Moderne, Ausstellungskatalog Jüdisches Museum Wien, Wien 2004, 62. 139 Robert Waissenberger, Die Wiener Secession, Wien – München 1971, 114; Stephan Koja, Biographie Gustav Klimts, in: Gustav Klimt – Landschaften, Ausstellungskatalog Österreichische Galerie Belvedere Wien 23.10.2002–23.2.2003, München 2002, 202; Brief von Hölzel an Roessler, 21.6.1905, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 150.386.

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Dachauer Schüler Hölzels, und ein weiteres Mal mit einer größeren Kollektion eigener Werke von November bis Dezember.140 Auch für Hölzel bedeutete das Jahr 1905 einen Umbruch, denn im November erhielt er einen Ruf an die Königlich-Württembergische Kunstakademie in Stuttgart. Erst 1908 trat die Klimt-Gruppe mit der Veranstaltung der Kunstschau erneut in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Hölzel war hier wiederum mit neueren Werken vertreten, darunter das Gemälde „Skizze zu einer Grablegung“. Den Briefkontakt zu Arthur Roessler und seiner eigenen Familie behielt Hölzel jedoch stets bei. Aus den häufigen Kontakten Arthur Roesslers mit der Familie Hölzel entwickelten sich eine Freundschaft mit Hölzels Neffen Eduard Kosmack und eine rege verlegerische Zusammenarbeit mit seinem anderen Neffen Fritz Graeser, der 1909 den Verlag Karl Graeser & Kie. von seiner Mutter Emma Graeser (geb. Hölzel) übernahm. Der freundschaftliche Umgang Arthur Roesslers mit Hölzels Neffen führte zu gemeinsamen Ausstellungsbesuchen in der Galerie Pisko,141 die nur ein paar Schritte entfernt von Kosmacks Verlag in der Hegelgasse 19 im 1. Wiener Gemeindebezirk lag.142 Kosmack und Roessler lernten in der Galerie Pisko den jungen Egon Schiele kennen, der dort 1909 eine Einzelausstellung bekommen hatte. Die daraus entstehende Freundschaft zwischen den drei Männern führte zu dem von Schiele 1910 gemalten bekannten Porträt Eduard Kosmacks,143 welches sich heute als eines der bedeutendsten Werke Schieles in der Sammlung des Belvedere befindet, sowie zu dem Porträt Arthur Roesslers,144 heute in der Sammlung des Wien Museum. Kosmack und vor allem Roessler begleiteten die Aktivitäten Egon Schieles und der „Neukunstgruppe“ mit Artikeln in der Zeitschrift Interieur, die von Kosmack verlegt wurde und deren Redaktion Arthur Roessler besorgte.145 Dieses Engagement wurde besonders deutlich während der „Kollektiv-Ausstellung des Bundes Österreichischer Künstler und Gustav 140 141 142 143

Natter, Die Galerie Miethke, 198 und 200. Die Galerie Pisko lag 1909 am Schwarzenbergplatz, Ecke Lothringerstraße 14. Christian M. Nebehay, Egon Schiele – Leben Briefe Gedichte, Salzburg – Wien 1979, Nr. 183. Egon Schiele, Bildnis Eduard Kosmack, Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm, bezeichnet und datiert Mitte links: 10, Österreichische Galerie Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 4702. 144 Egon Schiele, Bildnis Arthur Roessler, Öl auf Leinwand, 99,6 x 99,8 cm, bezeichnet und datiert Mitte links: 10, Wien Museum, Nachlass Arthur Roessler, Inv.-Nr. 78.951. 145 Kosmack verlegte von 1909 an die Zeitschrift Das Interieur bis 1912, als diese in der Zeitschrift Der Architekt aufging. Beide Zeitschriften hatte er vom Verlag Anton Schroll & Co. Wien 1909 übernommen. Die Zeitschrift Der Architekt wird von ihm bis zum 20. Jahrgang verlegt und dann 1914/15 von Anton Schroll & Co. zurückerworben; Maria Rennhofer, Kunstzeitschriften der Jahrhundertwende in Deutschland und Österreich 1895–1914, Wien – München 1987, 186 und 189. Kosmack verlegte Bücher zur Architektur; u.a. Otto Schönthal (Hrsg.), Das Ehrenjahr Otto Wagners an der K. u. K. Akademie der bildenden Künste in Wien, 1912, für das auch Arthur Roessler einen Beitrag schrieb.

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Klimt“ im März 1913 im Budapester Künstlerhaus, dem Művészház. Die Zeitschrift Interieur widmete der Ausstellung mehrere lobende Artikel, in denen sie die meisten Bilder der Ausstellung reproduzierte, wobei das Interesse besonders Klimt und der „Neukunstgruppe“ galt.146 Vornehmlich widmete sich die Zeitschrift jedoch der Kunst der „Wiener Werkstätte“ und erklärt die freundschaftliche Verbindung Kosmacks zu Josef Hoffmann. 147 Bedenkt man die intensiven Kontakte, die nach Budapest geknüpft wurden, darf es nicht verwundern, dass Roessler für Hölzel anschließend an die im November 1913 in der Galerie Miethke in Wien stattfindende Ausstellung als weitere Station eine Einzelausstellung im Művészház vorschlug.148 Gleichzeitig setzte sich Hölzel auf Roesslers Bitte für Egon Schiele ein, denn durch den Kriegsausbruch im Juli/August 1914 verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation der Künstler dramatisch.149 Die Verbindung Roesslers zum Stuttgarter Kunsthistoriker Hans Hildebrandt wurde vermutlich ebenfalls durch Hölzel hergestellt. Beide waren enge Freunde Hölzels und verstanden sich als Anwälte junger Kunst. Hildebrandt setzte sich vehement für die jungen Studenten Hölzels ein, beispielsweise Oskar Schlemmer, Willi Baumeister und Hermann Stenner, ähnlich wie Roessler für die jungen Wiener Künstler der gleichen Generation: Egon Schiele, Max Oppenheimer und Anton Faistauer. Für Hölzel initiierte Hildebrandt die Wanderausstellung „Adolf Hölzel als Zeichner“, die in den Jahren 1913–1914 bei Cassirer in Berlin begann und dann weiter nach Dresden zur Galerie Arnold, nach München zu Thannhauser, nach Wien zu Miethke und nach Budapest ins Művészház wandern sollte.150 Die im November 1913 eröffnete Einzelausstellung Hölzels in der Galerie Miethke führte Hölzel wieder nach Wien, wo er einen Eröffnungsvortrag mit dem Titel „Einiges über künstlerische Mittel“ hielt. Er kam hier mit dem jungen Künstlerkreis um Arthur Roessler und dem interessierten Sammler Oskar Reichel zusammen.151 Alte Freundschaften und Kontak146 András Zwickl, Das siegreiche Vordringen der modernen Bestrebungen Kunst aus Österreich im Művészház [Künstlerhaus], in: Seipel (Hrsg.), Zeit des Aufbruchs, 513–523. 147 Christian M. Nebehay, Egon Schiele, 538. 148 In Absprache mit Hans Hildebrandt organisiert Rössler die Ausstellungen im Művészház in Budapest und bei Miethke in Wien; vgl. Hans Hildebrandt an Arthur Rössler in einem Brief vom 28.3.1913, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 151.624; Hans Hildebrandt an Arthur Rössler in einem Brief vom 6.10.1913, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 151.538, Adolf Hölzel an Arthur Rössler in einem Brief vom 1.5.13; Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 153.594. 149 Postkarte von Hölzel an Rössler, 5.11.1914, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 150.873. 150 Brief von Hildebrandt an Rössler, 22.2.1913, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 151.622. 151 Postkarte von Hölzel an Rössler, 10.12.1913, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 150.876.

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te wurden wieder aufgenommen, auch zu seinem ehemaligen Schüler Felix Albrecht Harta, der noch 1905 Hölzels Unterricht in Dachau besucht hatte.152 Er schenkte Hölzel bei dieser Gelegenheit eine Karikatur von Grete Wolf,153 die er bei Miethke auf das Katalogfaltblatt der Hölzel-Ausstellung zeichnete. Sie dokumentiert humorvoll diese erneute Begegnung 1913. Die aus dieser Zeit stammende Bekanntschaft mit Hölzel führt Grete Wolf gemeinsam mit Agathe Mark 1916 nach Stuttgart, wo sie von Hölzel an den Schweizer Johannes Itten empfohlen werden, der sie in Hölzels Vorkurs einführen sollte.154 Die Freundschaft, vor allem zwischen Agathe Mark und Johannes Itten, führte Itten im September 1916 nach Wien.155 Hölzel versuchte auch hier für einen seiner Schüler Türen zu öffnen, indem er Itten in einem Brief im April 1917 Roessler empfahl.156 Die enge Freundschaft Hölzels mit Carl Moll legte eine ähnliche Empfehlung Ittens nahe, der Carl Moll im Januar 1918 traf.157 Hölzel war hier sicher eine gute Referenz, die auch in das Haus von Alma Mahler, der Stieftochter Molls, führte, hatte diese doch schon 1905 in Dachau ein Gemälde Hölzels erworben.158 Ihr Haus war einer der Treffpunkte der Künstler und Künstlerinnen in Wien. Hier wurden Kontakte geknüpft und auch für Itten ergaben sich Verbindungen, die seine Zukunft entscheidend beeinflussten; so die Bekanntschaft mit Alma Mahlers damaligem Mann Walter Gropius, der ihn später ans Bauhaus nach Weimar holen sollte. An diesen Beispielen wird deutlich, dass persönliche Bekanntschaften, Freundschaften und Beziehungen, ihre Pflege und die Schaffung eines Grundkonsenses entschieden, wie effizient die Netzwerke arbeiteten.159 Die Offenheit dieser Netzwerke, die sich unvoreingenommen 152 Brief von Hildebrandt an Rössler, 17.12.1913, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 148.157. 153 Grete Krakauer-Wolf (1890 Vítkovice/Witkowitz/Mähren–1970 Jerusalem) war mit dem Architekten Leopold Krakauer verheiratet. 154 Johannes Itten, Tagebücher Stuttgart 1913–1916, Wien 1916–1919, hrsg. von Eva Badura Triska, Bd. 2, Wien 1990, 14. 155 Johannes Itten, Aus meinem Leben, in: Johannes Itten, Werke und Schriften, hrsg. von Willy Rotzler, Zürich 1972, 28f. 156 Brief von Hölzel an Rössler, 19.04.1917, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 150.403. 157 Itten, Tagebücher, Wien 1990. Bd. 1, 246. 158 Das Bild wurde anlässlich eines Besuches von Carl Moll in München von Alma Mahler-Werfel erworben. Vgl. Anm. 14, Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 147.381. Auszug aus der Liste von 1948 der für die Ausfuhr freigegebenen Kunstgegenstände Alma Mahler-Werfels ab Wien XIX, Steinfeldgasse 2, Sammlung Alma Mahler-Werfel. Hierin ist das Ölbild Hölzels noch verzeichnet: Adolf Hölzel, Dachau 1904, Fluß und Mühle; vgl. Sophie Lillie, Was einmal war – Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Wien 2003, 740. 159 Die besondere Charakteristik der „Wiener Kreise“ waren die „Schnittmengen“. Ein Salon bzw. ein Kaffeehaus war einem stetigen Wandel unterworfen und nicht dogmatisch als elitäres Ab- und

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gegenüber Stand, Landsmannschaft, Beruf, Konfession verflochten und neue Lösungsansätze aufgriffen, zeigt sich an den Freundschaften, den gesellschaftlichen Verbindungen der Familie Hölzel sowie den Schülern und Kollegen von Adolf Hölzel. 9. Kommunikationsknoten Kaffeehaus

Neben den Salons und künstlerischen Netzwerken etablierten sich in Wien vor allen die Kaffeehäuser als Orte der Kommunikation. Dies lässt sich nicht nur aus der Tradition des frühen Kaffeegenusses in Wien ableiten. Nicht zuletzt die scharfe Zensur und das Spitzelwesen förderten in den Wiener Kaffeehäusern eine ganz eigene Tradition.160 Am Anfang standen dabei Kaffeehäuser im vormärzlichen Wien, wie das Neuner oder das Katzmair, in denen die um Redefreiheit ringenden Besucher Methoden entwickelten, sich des offensichtlichen Spitzelwesens im Kaffeehaus zu erwehren. Mit dem von Mund zu Mund geflüsterten „Naderer [Vernaderer = Denunziant] da!“ oder mit dem in die Runde gerufenen „neuen Marsch“ „Nadrda – nadrda – nadrdadada!“ wurden die Spitzel bloßgestellt und mussten, als solche enttarnt, das Lokal verlassen.161 Die Kaffeehausbesitzer versuchten dem – für sie auch geschäftsschädigenden – Spitzelwesen durch musikalische Untermalung entgegenzuwirken.162 Erst nach 1848 gab es in Wien auch wieder die Möglichkeit der politischen Lektüre und der Zeitungen in Kaffeehäusern, deren Auslage unter Maria Theresia verboten und dieses Verbot unter Franz I. noch verschärft worden war. Zwar waren die Zensurgesetze nach 1848 gelockert worden, doch war der Erwerb einer Zeitung für einen Einzelnen finanziell kaum zu bewerkstelligen und der Aufbau eines Vertriebsnetzes wurde durch die dafür notwendigen Lizenzen erschwert.163 Umso wichtiger wurde daher das Informationsangebot im Kaffeehaus. Dies führte schließlich um die Jahrhundertwende, als sich die Zensur schon weitgehend gelockert hatte und eine breite Zeitungskultur entstanden war, dazu, dass in den Kaffeehäusern teilweise weit über hundert internationale Zeitungen auslagen.164 Daher muss Eduards Hölzels eingangs erwähnte Herausgabe der politischen Zeitung Die Neue Zeit 1848 in der Garnisonsstadt Olmütz umso mehr bewundert werden. Ausgrenzungsystem gedacht oder auf bestimmte Interessen eingeschränkt. Einen Einblick in die Komplexität dieser Netzwerke vermittelt Edward Timms, Die Wiener Kreise – Schöpferische Interaktionen in der Wiener Moderne, in: Nautz/Vahrenkamp, Die Wiener Jahrhundertwende, 128–143. 160 Gerhard H. Oberzill, Ins Kaffeehaus, Geschichte einer Wiener Institution, München 1983, 51ff. 161 Ebd., 62f. 162 Ebd., 63f. 163 Carina Trapper, Stätte des Schreibens oder Inszenierung? Das literarische Kaffeehaus zwischen Sein und Schein, Wien 2009, 14. 164 Oberzill, Ins Kaffeehaus, 69.

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Mit dem Kaffeehaus, in dem Nachrichten und Meinungen verbreitet und ausgetauscht wurden, verbindet sich somit auch die Tradition eines bürgerlichen Liberalismus. Das breite internationale Zeitungsangebot veranschaulicht die kosmopolitische Sichtweise bzw. den Universalismus, den die Bürgerschicht pflegte. Eine nationale oder nationalistische Weltsicht entsprach nicht den Erwartungen, die politische Freiheit mit wirtschaftlicher Liberalität verband. Diese kosmopolitische Sichtweise erlaubte ein unbegrenztes Denken, eine Offenheit gegenüber den Wissenschaften, was zu einem ganzheitlichen Streben, zu einem Ineinandergreifen der Disziplinen führte. Die Beschränkung durch nationale, politische oder religiöse Verbindungen wurde zugunsten liberaler Prinzipien verworfen und ermöglichte eine Verflechtung von Kultur und Wissenschaft, die ihr kreatives Potenzial einsetzte und damit gleichzeitig die weitgehende politische Schwäche des Bürgertums sublimierte.165 10. Die Verknüpfung von Kunst, Industrie und Wissenschaft

Das Mäzenatentum,166 wie auch die Verknüpfungen der Interessengruppen, werden markant am Beispiel der Familie Wittgenstein sichtbar. Carl Wittgenstein zählt als Mäzen zu den maßgeblichen Förderern der Wiener Secession, während sein Sohn als Philosoph ebenso künstlerisch tätig war. Das maßgeblich von Ludwig Wittgenstein mitkonzipierte Haus seiner Schwester wurde wiederum zum Treffpunkt in der Kulturszene Wiens. Wie kurz die Wege zwischen den Interessengruppen waren, zeigt sich beispielhaft daran, dass Hermann Bahr, der literarische Fürsprecher und Begleiter der Secession, die Philosophie Machs in den Mittelpunkt seines Artikels „Das unrettbare Ich“167 stellte. Er war unter den Kulturschaffenden nicht der Einzige, der Bezug auf Mach nahm. Auch die Literaten Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch besuchten Machs populäre Vorlesungen, Arthur Schnitzler war mit Mach befreundet und Robert Musil promovierte über dessen Lehren. Wie stark neue Wis-

165 Um nur ein Beispiel zu nennen, war der Wirtschaftskapitän Karl Wittgenstein der bedeutendste Mäzen der „Wiener Secession“, ohne dessen Unterstützungsgarantie die öffentlichen Stellen vermutlich den Bauplatz kaum überlassen hätten (vgl. Tobias Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka – Sammler und Mäzene, Köln 2003, 40). Auch war einer der Förderer Klimts. Sein Sohn, der Philosoph Ludwig Wittgenstein, betätigte sich gleichzeitig als Architekt, beeinflusst von Adolf Loos, mit dem er befreundet war. 166 Zum Mäzenatentum in Wien vgl. Tobias Natter, Die Welt von Klimt, Schiele und Kokoschka – Sammler und Mäzene, Köln 2003. 167 Hermann Bahr, Das unrettbare Ich, in: Hermann Bahr – Zur Überwindung des Naturalismus, Theoretische Schriften 1887–1904, hrsg. von Gotthart Wunberg, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1968, 183–192. Der Satz „Das Ich ist unrettbar“ ist inzwischen zum Sinnbild des Wiener Rationalismus geworden und entstammt Machs Schrift „Analyse der Empfindungen“, die 1885 in Prag erschien und seither immer wieder neu aufgelegt wird.

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senschaften selbst in die Kunstgeschichte hineinwirkten, machen die Schriften des Kunsthistorikers Alois Riegl deutlich, aus denen sich ablesen lässt, dass er sich beispielsweise mit Psychophysik beschäftigte,168 zu deren herausragenden Vertretern eben Mach und der von Adolf Hölzel so sehr geschätzte Hermann von Helmholtz zählten. Die Weichenstellung für diese Entwicklungen zeichnete sich jedoch schon früher unter anderem durch die Berufung von Karl Ludwig und Ernst von Brücke an die Wiener Universität ab.169 Zusammen mit Emil du Bois Reymond und Hermann von Helmholtz hatten Ernst von Brücke und Karl Ludwig bei dem Physiologen Johannes Müller in Berlin studiert.170 Die vier Studenten verband ihr gemeinsames Forschungsinteresse, welches alle Lebensphänomene auf mechanische und physiochemische Prozesse zurückführte,171 womit letztlich Herbart rezipiert wurde.172 Im nachmärzlichen Wien entfaltete der seit 1849 als Inhaber des Lehrstuhls für Physiologie an der Universität lehrende Professor Brücke großen wissenschaftlichen Einfluss. Seine Bedeutung wird allein schon an seinen Studenten deutlich, zu denen u.a. Ernst Haeckel, Ernst Mach und Sigmund Freud zählten, die das Geistesleben im Wien der Zeit um 1900 entscheidend prägen sollten. Mit Ernst von Brücke173 berief Rudolf von Eitelberger 1864 einen den Fortschritt verkörpernden Wissenschaftler174 ins Kuratorium des neu geschaffenen Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (dem heutigen MAK). In dessen Schriftenreihe, den „Mittheilungen des k. k. Oesterreichischen Museums für Kunst und Industrie“ wurden auch Schriften von Brücke publiziert.175 Das Museum, in dem die neuesten internationalen Strömungen, wie die Arts and Crafts-Bewegung aus Großbritannien, zu sehen waren, hatte sich unter der Leitung Eitelbergers und seiner Nachfolger, vor allem Arthur von Scala, zu einem Impulsgeber für die Modernisierung des Kunsthandwerks entwickelt.176 Die Offenheit Scalas gegenüber den 168 Alois Riegl, Die Stimmung als Inhalt in der modernen Kunst, in: Aufsätze, Berlin 1995, 39; hierzu auch Ursula Baatz, Der Traum der Sehnerven, in: Début eines Jahrhunderts – Essays zur Wiener Moderne, Wien 1985, 101 169 Wolfgang Cernoch, Der Auszug aus dem Akademismus, 87. 170 Wolfgang Krauss, Das Organ der Seele, in: Jean Clair/Cathrin Pichler/Wolfgang Pircher, Wunderblock – Eine Geschichte der modernen Seele, Wien 1989, 214. 171 Michael Sonntag, Lebenskraft – Die Biologie vor 1859, in: Clair/Pichler/Pircher, Wunderblock, 549. 172 Wolfgang Cernoch, Der Auszug aus dem Akademismus, 87. 173 Ernst Wilhelm von Brücke (1819 Berlin – 1892 Wien). 174 Rudolf von Eitelberger (1817 Olomouc/Olmütz – 1885 Wien). 175 Ernst Wilhelm von Brücke, Die Goldfäden mittelalterlicher Brokatweber und Bildsticker, in: Mittheilungen des k. k. österreichischen Museums für Kunst und Industrie 1866, 1/5, 68–71. 176 Elisabeth Schmuttermeier, Arts and Crafts Movement, in: Ausstellungskatalog Kunst und Industrie, Die Anfänge des Museum für Angewandte Kunst in Wien, MAK 31.5.–17.9.2000, Wien – Stuttgart 2000, 248f.

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Bestrebungen der aktuellen Kunst dokumentierte sich in der Berufung der Secessions-Mitglieder Josef Hoffmann, Kolo Moser, Alfred Roller und Arthur Strasser 1899 bzw. 1900 an die dem Museum damals noch angeschlossene Kunstgewerbeschule.177 1900 vollzog der Secessionist Felician Freiherr von Myrbach als neuer Direktor der Kunstgewerbeschule schließlich die administrative Trennung vom Museum. Neue Techniken fanden Eingang in die Kunst der Secession und deren moderne Ansätze umgekehrt in die Kunstgewerbeschule. Prominent zeigte sich dies 1902 in der berühmten Beethoven-Ausstellung der Secession. Viele der ausstellenden Künstler waren auch an der Kunstgewerbeschule tätig und Freunde Hölzels aus Dachau waren ebenfalls unter ihnen zu finden. Im ersten Seitenraum, der mit dem Beethovenfries von Gustav Klimt geschmückt wurde, war die Absicht der Secessionisten umgesetzt, Architektur, Malerei und Plastik wieder miteinander zu verbinden und dabei neue Techniken anzuwenden.178 Die „künstlerischen Mittel“ erhalten im Beethovenfries eine neue Wertigkeit. Die Materialien, und seien es nur einfache Knöpfe, bleiben für einen aufmerksamen Betrachter erkennbar. Unauffällig, aber umso bedeutender, ist die beibehaltene Sichtbarkeit des Verputzes, die ein neues Verhältnis zum Material aufzeigt.179 Erst der Kontrast zwischen dem Glanz der vergoldeten Flächen und der strengen Nüchternheit machen den Umbruch offensichtlich. Eine Belebung der Handwerkstechniken lässt sich nicht nur am Beethovenfries von Klimt ablesen, sondern auch an den darunter liegenden Kassettenfeldern. Sie sind beispielsweise mit figuralen Holzreliefen von Ferdinand Andri gestaltet, als Mosaiken aus geschnittenen und glasierten Kacheln nach Entwürfen von Felician Freiherr von Myrbach und Richard Luksch ausgeführt oder Goldlackarbeiten von Emil Orlik. Neue Techniken kommen zum Einsatz, wie im Relief von Leopold Stolba, das durch gefärbten Zement mit Metall-, Perlmutt- und geschliffenen Glasintarsien bereichert wird. Im gegenüberliegenden Seitenraum arbeitete Elena Luksch-Makowsky mit Silicatfarben und Intarsien aus Kupfer auf Weißkalkmörtel.180 So war die Beethoven-Ausstellung der Secession das Versuchsfeld zur Erprobung der neuen künstlerisch-handwerklichen Ansätze, zu denen sich die beteiligten Künstler bekannten, und sie zeigt ein neues Materialverständnis.181 Dem entspricht auch die weiße Nüchternheit 177 Kathrin Pokorny-Nagel, Zur Gründungsgeschichte des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, in: Ausstellungskatalog Kunst und Industrie, 88. 178 Alfred Weidinger (Hrsg.), Gustav Klimt, Werkverzeichnis, München 2007, 271, Nr. 153. 179 Der Putz wird in seinen Qualitäten im Fries differenziert, indem er gröber und feiner, glatt und offen strukturiert die Intentionen der Malerei unterstützt; Ivo Hammer, 110 Jahre Beethovenfries von Gustav Klimt, in: Agnes Husslein-Arco/Alfred Weidinger, Gustav Klimt – Josef Hoffmann – Pioniere der Moderne, Ausstellungskatalog Belvedere, Wien 25.10.2011–4.3.2012, 141f. 180 Abbildungen und die genauen technischen Beschreibungen sind im Katalog zu Gustav Klimt und Josef Hoffmann zu finden. Agnes Husslein-Arco/Alfred Weidinger, Gustav Klimt – Josef Hoffmann – Pioniere der Moderne, 74ff. 181 „Die Beschränktheit der verfügbaren Mittel und die selbstverständliche Pflicht, durchwegs echtes

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von Josef Hoffmanns berühmter geometrischer Supraporte. Im Katalog der Ausstellung wird diese Arbeit als Mörtelschnitt bezeichnet. Unbemalt, sozusagen kalkweiß wäre damit ganz puristisch bzw. materialgerecht das Relief bearbeitet worden.182 Im Vergleich zum Prunk des Historismus, bei dem der dem Mörtel vergleichbare Stuck als billiges Materialsurrogat immer bemalt z. B. als Marmorimitat eingesetzt wird, ein radikaler Schnitt. Im Sinne dieses neuen Materialverständnisses arbeitete Adolf Hölzel. Geradezu ein künstlerisches Credo waren für Hölzel seine Bewunderung und sein Respekt vor den künstlerischen Mitteln, die durch ihn zum Schlagwort in der Kunst des 20. Jahrhunderts wurden. Für Hölzel sind die Mittel, die Farben und Formen, der alleinige Gegenstand des Bildes. „Absolute Kunst“ erhebt nach Hölzel für sich den Anspruch der vollkommenen Autonomie. Sie dient nicht mehr, sondern ist Selbstzweck. Hölzels Kunst ist, analog zur absoluten Musik, nur ihren eigenen Formprinzipien verpflichtet. Sie will demnach nicht programmatisch oder erzählerisch sein, denn die Kunst ist nur „der autochtonen Kraft der künstlerischen Mittel“ verpflichtet, „die das psychologische Gesetz ihres Wirkens in sich und die wir in unserer Seele tragen“,183 wie es Adolf Bayersdorfer formuliert und von Hölzel gerne zitiert wurde. Dem Verständnis von „absoluter Musik“ folgend, entwickelte Hölzel die Formensprache weiter, die für die „Wiener Secession“ bzw. die Klimt-Gruppe typisch ist. Seine Bilder, besonders seit 1916, prägen freie, gegenstandslose Formen. Seine Kompositionen sind frei von Affekten, sind kein Mittel zur Darstellung von Gefühlen und Gedanken oder gar thematischen Inhalten. Nur die künstlerischen Mittel sind Inhalt und Gegenstand der Bildkomposition. Entsprechend den „tönend bewegte[n] Formen“, die „einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“184 sind, wie Hanslick äußert, möchte Hölzel in seinen Kompositionen autonome Form- und Farbschöpfungen erzeugen. Weder der emotionale Ausdruck der Expressionisten noch die mystische Weltschau der Abstrakten führen Hölzel zum ungegenständlichen „absoluten Kunstwerk“. Es sind vielmehr die Voraussetzungen der Formkunst, die ihm die Möglichkeit geben, Kunst auf elementare Formen zurückzuführen und sie aus der unendlichen Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten der künstlerischen Mittel in einem musikalisch-harmonischen Sinne neu entstehen zu lassen. Solcherlei Kunst lässt sich nicht für ideologische oder nationalistische Belange instrumentalisieren. Wenn der in der Monarchie sich mehr und mehr abzeichnende Nationalismus Material zur Anwendung zu bringen, den Schein und die Lüge energisch zu vermeiden, geboten gleicherweise an der größten Einfachheit in Material und Formensprache festzuhalten.“ Josef Hoffman, in: Katalog der 14. Ausstellung Secession, Wien 1902. 182 Hammer, 110 Jahre Beethovenfries von Gustav Klimt, 141. 183 Zit. nach Die Gesellschaft, Jg. XVII, Bd. II , 1901, 48. 184 Zit. nach Karl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik – Instrumentalmusik und Kunstreligion, Laaber 2003, 93.

Viribus unitis?

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einzelner Sprachgruppen häufig als Ersatzreligion gedeutet werden kann, könnte im dialektischen Schluss die Beethoven-Ausstellung der Secession von 1902 als „Sakralraum“ des bürgerlichen Universalismus gedeutet werden. Diesem kosmopolitischen Bestreben entspricht die programmatische Erklärung der Secession von 1898: Wir wollen eine Kunst ohne Fremdendienerei, aber auch ohne Fremdenfurcht und ohne Fremdenhass. Die ausländische Kunst soll uns anregen, uns auf uns selbst zu besinnen; wir wollen sie anerkennen, bewundern, wenn sie es wert ist; nur machen wollen wir sie nicht. Wir wollen ausländische Kunst nach Wien ziehen, nicht um Künstler, Gelehrte und Sammler allein, um die grosse Masse kunstempfänglicher Menschen zu bilden, damit der schlummernde Trieb geweckt werde, der in jede Menschenbrust gelegt ist, nach Schönheit und Freiheit des Denkens und Fühlens.185

Es zeigt sich, dass die Offenheit vieler einander überschneidender Netzwerke das aufgeschlossene Wien um 1900 ergibt. Die Rezeption Herbarts, vor allem vertreten durch Robert Zimmermann, den Lehrer Alois Riegls186 und Franz Wickhoffs,187 findet in Wien gleichzeitig statt mit der Durchsetzung der modernen naturwissenschaftliche Methodik, vertreten z. B. durch Ernst von Brücke, den Lehrer von Ernst Mach, Ernst Haeckel oder Sigmund Freud.188 Den Verflechtungen entsprechend strebt das liberale, wirtschaftlich orientierte Bürgertum eine konsonante Identität der Gesamtheit der k. k. Monarchie als Gegenmodell zur Nationenbildung an. Dem wirtschaftlichen Erfolg der Monarchie bis 1914 steht der politische und wirtschaftliche Zerfall in nationalstaatliche Gebiete nach 1918 gegenüber. Vor allem für die Hauptstadt Wien bedeutete dies in erster Linie einen enormen Machtverlust und daraus resultierend die Schwächung des Macht- und Wirtschaftszentrums, dem die zusammenströmenden Kräfte des Wirtschaftsraumes der ehemaligen k. k. Monarchie fehlten. Die politisch kleine, wirtschaftlich geschwächte Republik Österreich mit ihrer Hauptstadt Wien bot keinen Anreiz und keine wirtschaftliche Grundlage für Zuwanderung aus den ehemaligen Gebieten der Monarchie. Wien hatte den Zuzug politischer, wirtschaftlicher und letztlich auch kultureller Kräfte verloren. Dementsprechend durchlief der Verlag Ed. Hölzel eine der

185 Ver Sacrum, Jg. I, 1898, 5–7, zit. nach Marian Bisanz-Prakken, Heiliger Frühling – Gustav Klimt und die Anfänge der Wiener Secession 1895–1905, Wien – München 1999, 210. 186 Zugleich war Zimmermann auch der Lehrer Rudolf Steiners; vgl. Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte, 292f. 187 Wolfgang Cernoch, Der Auszug aus dem Akademismus, 94. 188 Alexander Klee, Genie oder Parvenu – Ernst Brückes Kritik und die Folgen für die Makart-Rezeption, in: Agnes Husslein-Arco/Alexander Klee (Hrsg.), Ausstellungskatalog Makart – Maler der Sinne, Belvedere, Wien 2011, 126.

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wirtschaftlich schwierigsten Phasen seiner Geschichte,189 da die jungen Nationalstaaten Unabhängigkeit in jeder Hinsicht anstrebten und Aufträge an österreichische Unternehmen vermieden. An den Folgen dieses Zerfalls wird die Bedeutung der Binnenmigration und deren Einfluss auf die Entwicklungen in der k. k. Monarchie und für Wien im Besonderen deutlich wie auch der Wahrheitsgehalt des Wahlspruches von Kaiser Franz Joseph I. – „Viribus unitis“ – für die k. k. Monarchie.

189 Ed. Hölzel 1844–1969, Zum 125jährigen Bestand des Hauses am 15. Oktober 1969, Wien 1969.

Isabella Lehner

Migration, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Wiener ­Gemeinderat (1892–1912)

Das slavische Element dringt, Dank seiner Rührigkeit und Aggression immer weiter vor, während der deutsche Stamm gegen dieses Vordringen zumeist noch sich gleichgültig verhält und die Abwehr dagegen vom Staate abwartet in dem Glauben, dass der Staat nicht anders als deutsch sein könne.1

Xenophobe Äußerungen wie diese standen im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Gemeinderat auf der Tagesordnung. Als Folge der Eingemeindung der Vororte im Jahr 1890 und durch die Massenmigration nach Wien erhöhte sich die Bevölkerungszahl der Hauptstadt der Habsburgermonarchie stark.2 „Die Fremden“ waren sichtbar, denn sie benötigten Arbeitsplätze, Unterkünfte und Ausbildungsmöglichkeiten und waren sehr oft der deutschen Sprache nicht mächtig. Im Jahr 1892 beschrieb der vormals liberale und nun christlichsoziale Wiener Gemeinderat Emmerich Klotzberg, Arzt und Hausbesitzer, die Situation wie folgt: Die Bezirksämter, die Armenämter sind von arbeitslosen hungernden Männern und Weibern belagert, welche dortselbst um Arbeit, Brot oder Geldunterstützung bitten; von Tag zu Tag wird diese Schaar größer. Unter diesen Hungernden und Arbeitslosen, welche um Unterstützung bitten, befinden sich aber mindestens 70 Prozent aus Böhmen und Mähren, welche dahin auch zuständig sind. [...] Sind schon jetzt viel zu viel überflüssige Arbeitskräfte vorhanden, so wird dieser

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Das Zitat stammt aus einem Antrag, welchen Gemeinderat Michael Gruber im Jahr 1897 im Wiener Gemeinderat einbrachte. Nach der Formierung des christlichsozialen Bürgerklubs unter Karl Lueger kam es zu einem Bruch zwischen einigen Gemeinderatsfraktionen. Gemeinsam mit zehn anderen Gemeinderäten bildete Gruber im Oktober 1896 die antisemitische und deutschnational konnotierte Fraktion „Deutschnationale Vereinigung“. Antrag Gruber, Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien (AB), Nr. 23 (19.3.1897), 598–599. Vor dem Ersten Weltkrieg erreichte Wien die 2-Millionen-Einwohner-Grenze. Ich verweise hierzu auf den Beitrag von Andreas Weigl in diesem Band. Für einen vergleichenden Ansatz hinsichtlich Migration und Urbanisierung in Wien und Chicago um 1900 siehe Marcus Gräsers Beitrag in diesem Sammelband.

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Übelstand [...] noch größer durch den Zuzug von neuen Arbeitskräften aus Böhmen, Mähren und den übrigen Provinzen.3

Das Thema Zuwanderung beherrschte wie kaum ein anderes den Wiener Gemeinderat und wurde besonders von christlichsozial und deutschnational gesinnten Politikern heftig diskutiert. Die Debatte kumulierte während der Amtszeit von Bürgermeister Karl Lueger (1897– 1910).4 In diesen Zeitraum fällt auch einer der Höhepunkte des Nationalitätenkonflikts in der Habsburgermonarchie, die Badeni-Krise.5 Lueger, vor seiner politischen Kariere als Rechtsanwalt tätig, gründete 1893 die Christlichsoziale Partei in ihrer Form als moderne Massenpartei und erlangte durch seine populistische und antisemitische Rhetorik breite Popularität. Er ist nicht nur für die während seiner Amtszeit verwirklichten kommunalen Großprojekte wie etwa die Zweite Wiener Hochquellenwasserleitung bekannt, sondern auch durch seine Vorbildwirkung auf Adolf Hitler.

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Antrag Klotzberger, AB, Nr. 18 (8.3.1892), 422. John W. Boyer, Karl Lueger (1844–1910). Christlichsoziale Politik als Beruf, Wien – Köln – Weimar 2010, 203; Rudolf Spitzer, Des Bürgermeisters Lueger Lumpen und Steuerträger, Wien 1988; Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. u. k. Monarchie, Wien – Köln – Weimar 2005, 281; Anna Ehrlich, Karl Lueger. Die zwei Gesichter der Macht, Wien 2010; Harald D. Gröller, Die Rezeption des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger in unterschiedlichen Begegnungsräumen, in: Szabolcs János-Szatmári/Noémi Kordics/Eszter Szábo (Hrsg.), Begegnungsräume von Sprachen und Literaten. Studien aus dem Bereich der Germanistik, Band 1, Klausenburg – Großwardein 2010; Andreas Pittler, Karl Lueger 1844 – 1910, Wien 2012; Peter Berger, Exiles of Eden: Vienna and the Viennese during and after World War I, in: Günter Bischof/Ferdinand Karlhofer/Samuel R. Williamson, Jr. (Hrsg.), 1914: Austria-Hungary, the Origins, and the First Year of World War I (Contemporary Austrian Studies, Volume 23), New Orleans 2014, 167–185. Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. Band I: Das Reich und die Völker, Graz – Köln 1964; Berthold Sutter, Die Badenische Sprachenverordnungen von 1897. Ihre Genesis und Ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer. Bd. I, Graz – Köln 1960/Bd. II, Graz – Köln 1965; Adam Wandruszka/ Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. III: Die Völker des Reiches, 1. und 2. Teilband, Wien 1980; Helmut Rumpler/Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, 1. und 2. Teilband, Wien 2000; Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Österreichische Geschichte 1804–1914, Bd. 6, hrsg. v. Herwig Wolfram, Wien 2005, 510–516; Adéla Hall, Deutsch und Tschechisch im sprachenpolitischen Konflikt. Eine vergleichende diskursanalytische Untersuchung zu den Sprachenverordnungen Badenis von 1897, Frankfurt am Main – Wien 2008; Mark Twain, Turbulente Tage in Österreich, Wien 2012.

Migration, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Wiener Gemeinderat (1892–1912)

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Im folgenden Beitrag soll die Auseinandersetzung des Wiener Gemeinderates mit dem Thema Migration in den Jahren 1892 bis 1912 skizziert werden. Dieser Zeitraum wurde gewählt, um die Debatten sowohl vor als auch nach der Ära Lueger greifbar zu machen und anhand der zeitgenössischen Diskussionen Trends herauszuarbeiten. Als Quellen dienen die Anträge und Interpellationen der Gemeinderäte.6 Verzeichnet sind diese in den Sitzungsprotokollen des Wiener Gemeinde- und Stadtrates, welche im Amtsblatt der k .k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien abgedruckt sind.7 1. Der Wiener Gemeinderat

Die Wiener Kommunalvertretung wurde erstmals nach der Revolution 1848 gebildet.8 Als rechtliche Grundlage wurde 1850 die provisorische Gemeindeverordnung erlassen, 1861 wurde diese grundlegend reformiert und damit die Vorbedingung für eine kommunale Selbstverwaltung geschaffen. In den darauf folgenden Jahrzehnten prägte die liberale Partei die Ge6

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Bis dato gibt es keine umfassenden biografischen Studien über die Gemeinderäte in Wien um 1900. Die im vorliegenden Artikel verwendeten Informationen, wie etwa Vornamen, Parteizugehörigkeit und Beruf, stammen aus: Verzeichnis der Gemeinderäte, Stadträte und Bezirksräte der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien der gemeindrätlichen Ausschüsse, Kommissionen, Komitees, Delegierungen und der Gemeindevermittlungsämter, Wien 1908, 1909, 1911, 1912; Verzeichnis der Herren Gemeinderäthe, Wien 1889, 1891, 1895, 1897; Oswald Knauer, Der Wiener Gemeinderat 1861–1918. Gliederung nach Parteien, in: Wiener Geschichtsblätter 19 (1964) 4, 366–377; Die Gemeinde-Verwaltung der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien im Jahre 1898. Bericht des Bürgermeisters Dr. Karl Lueger, Wien 1901; Barbara Steininger, Vom Stadtrat zum Stadtsenat – Die Wiener Stadtregierung 1890/91 bis 1920, in: Karl Fischer (Hrsg.), Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Band 66, Wien 2010, 285–308, 294f. Die Schaffung des Amtsblattes der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien wurde in der Gemeinderatssitzung am 26. Oktober 1891 beschlossen. Die erste Nummer erschien am 8. Jänner 1892. Oswald Knauer, Gemeinde Wien 1861–1961, Wien 1962 (unveröffentlichtes Manuskript), Wienbibliothek, B 169070. Rudolf Till, Geschichte der Wiener Stadtverwaltung in den letzten zweihundert Jahren, Wien 1957; Felix Czeike, Liberale, christlichsoziale und sozialdemokratische Kommunalpolitik (1861– 1934). Dargestellt am Beispiel der Gemeinde Wien, Wien 1962, 14f; Maren Selinger/Karl Ucakar (Hrsg.), Wien. Politische Geschichte 1740–1934. Entwicklungen und Bestimmungskräfte großstädtischer Politik, Teil 1: 1740–1895, Wien – München 1985, 281f, 289f, 293; Barbara Steininger, Der Wiener Gemeinderat und der Wiener Landtag. Eine Zeitreise 1848–2013, Ausstellungskatalog des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Wien 2013. Walter Öhlinger, Kommunale Oligarchie. Der Wiener Gemeinderat in der liberalen Ära, in: Wolfgang Kos/Ralph Gleis (Hrsg.), Experiment Metropole. 1873: Wien und die Weltausstellung, Wien 2014, 74–83; Michael Wladika, Ende der liberalen Ära und Anfänge der Massenparteien. Deutschnationale und Christlichsoziale, in: Kos/ Gleis (Hrsg.), Experiment Metropole, 272–281.

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meindeverwaltung maßgeblich. Es kam jedoch zu keiner Veränderung des damals geltenden Privilegienwahlrechts, bei dem die Wähler je nach Steuerleistung, Bildungsgrad und Beruf auf drei Kurien aufgeteilt waren. Nach dem Börsenkrach 1873 leiteten zahlreiche Skandale, Intrigen und Misswirtschaft den allmählichen Machtverlust und die Auflösung der liberalen Mittelpartei ein. Deren Vorherrschaft wurde von der 1891 gebildeten losen Gruppe der Vereinigten Christen unter der Führung Luegers angegriffen. Aufgrund des rasch eintretenden politischen Erfolgs und des Bewusstseins, vom Mittelstand unterstützt zu werden, gründete Lueger 1893 die Christlich­ soziale Partei. Dem politischen Spektrum entsprechend waren ab Anfang der 1890er-Jahre Abgeordnete der Liberalen Partei, der Christlichsozialen Partei, der Antisemitischen Partei,9 der Deutschnationalen Partei, der Demokratischen Partei, der Sozialdemokraten (ab 1899), aber auch Abgeordnete ohne Parteizugehörigkeit im Gemeinderat vertreten.10 Der Wechsel der Parteizugehörigkeit war nicht unüblich; so sind einige Übertritte von Angehörigen der Liberalen und der Antisemitischen Partei zur Christlichsozialen Partei verzeichnet.11 Ab den 1880er-Jahren kam es wiederholt zu Wahlrechtserweiterungen. So genehmigte der Landtag etwa 1885 die Ausdehnung des Wahlrechts auf alle in Wien wohnenden österreichischen Staatsbürger männlichen Geschlechts, die eine direkte Steuer von wenigstens 5 Gulden (fl.) entrichteten.12 Der Erweiterung des Wahlrechts um die sogenannten Fünf-Gulden-Männer lagen jahrelange Forderungen Karl Luegers zugrunde, welcher 1875 in den Gemeinderat eingetreten war.13 1890 wurde das Gemeindestatut erneuert und damit auch die Befugnisse des Bürgermeisters erweitert, die Gemeindeverwaltung umgestaltet und das Gemeindegebiet im Zuge der Eingemeindung der Vororte wesentlich vergrößert.14 Die Veränderungen waren im Interesse 9

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Über die Antisemitische Partei gibt es abweichende Angaben. Unklar bleibt, ob es sich tatsächlich um eine Partei, eine Fraktion, ein Wahlbündnis oder um eine lose Gruppierung von Politikern gehandelt hat. Es finden sich unter anderem die Bezeichnungen „Antisemitische Partei“, „Central-Wahlcomité der Vereinigten Antisemiten“ und „Antisemitische Wahlgemeinschaft“. Ich verwende den in der Literatur – siehe Boyer, Selinger/Ucakar, Glettler und Steffal – gängigen Begriff „Antisemitische Partei“. Martha Steffal, Die Tätigkeit des Wiener Gemeinderates von 1889–1892, phil. Diss., Wien 1974 [1975], 44–55, 101, 269. Oswald Knauer, Der Wiener Gemeinderat 1861–1918. Gliederung nach Parteien, 366–377. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 1, 570. Lueger war ab 1875 Gemeinderat in Wien, ab 1885 Abgeordneter zum Reichsrat und ab 1890 Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtag. Er war in allen Gremien gegen den österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 aufgetreten. Spitzer, Des Bürgermeisters Lueger Lumpen und Steuerträger, 21; Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 1, 604; Czeike, Kommunalpolitik, 19; Till, Geschichte der Wiener Stadtverwaltung, 100f. Till regt an bei der Beurteilung der kommunalen Tätigkeit Luegers mitzubedenken, dass dieser

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der Liberalen geschehen. Diese hatten gehofft, ihre Macht durch die Beibehaltung des Kurienwahlrechts und die Verlängerung der Wahlperiode auf sechs Jahre längerfristig zu stärken. Zu diesem Zweck wurde auch der Stadtrat geschaffen, welcher von der herrschenden Majorität des Gemeinderates gewählt wurde.15 In seiner Funktion als beschließendes Organ wurden dem Stadtrat zahlreiche wichtige Kompetenzen des Gemeinderates übertragen. Zu den heftigsten Gegnern des Stadtrates und des Kurienwahlrechts gehörte die Christlichsoziale Partei. Nach dem sukzessiven Aufstieg der Partei und ihrem Wahlerfolg im Frühjahr 1895 war von der Abschaffung des Stadtrates allerdings keine Rede mehr, die Angst vor einem etwaigen Machtverlust war zu groß.16 Obgleich Kaiser Franz Joseph I. zwischen 1895 und 1897 viermal die Vereidigung Luegers zum Bürgermeister verweigerte und Josef Strobach für knapp ein Jahr diesen Posten übernahm, konsolidierte sich schließlich die Herrschaft der Christlichsozialen. Der Kaiser, welcher der antisemitischen Agitation Luegers kritisch gegenüberstand, wurde bei seiner Entscheidung, diesen nicht zu vereidigen, von Ministerpräsident Kasimir Badeni beeinflusst. Dieser fürchtete angesichts des Zuwachses der Christlichsozialen um die notwendige Unterstützung der Liberalen bei seinen legislativen Reformen. Abgesehen davon hatte sich der ungarische Ministerpräsident Dezső Bánffy bei Kaiser Franz Joseph I. wiederholt über die anti-ungarischen Äußerungen von Mitgliedern der Christlichsozialen Partei beschwert, eine Tatsache, die der Kaiser kurz vor den Verhandlungen eines etwaigen neuen österreichisch-ungarischen Ausgleichs nicht außer Acht lassen konnte.17 Die kaiserliche Ablehnung war für Lueger überraschend gekommen, aber trotz des persönlichen Affronts konnte er in der Folge einen Zuwachs an Unterstützern verzeichnen.18 Nachdem Anhänger Luegers sogar bei Papst Leo XIII. interveniert hatten, lenkten Ministerpräsident und Kaiser ein.19 Bei einem geheimen Treffen im Februar 1896 einigten sich

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während seiner Zeit als Bürgermeister durch seine Rolle als Anführer der stärksten Partei im Gemeinderat eine Art Vertrauensstellung innehatte und die Opposition praktisch keinen Einfluss nehmen konnte. Till, Geschichte der Wiener Stadtverwaltung, 92f, 105. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 1, 390–411. Ebd., 417; Maren Selinger/Karl Ucakar (Hrsg.), Wien. Politische Geschichte 1740–1934. Entwicklungen und Bestimmungskräfte großstädtischer Politik, Teil 2: 1896–1934, Wien – München 1985, 739; Steininger, Vom Stadtrat zum Stadtsenat, in: Fischer (Hrsg.), Studien zur Wiener Geschichte, 285f. John W. Boyer, Culture and Political Crisis. Christian Socialism in Power, 1897–1918, Chicago – London 1995, 3; Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 2, 740. John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna. Origins of the Christian Social Movement, 1848–1897, Chicago – London 1995, 374–375. Ebd., 377–379. Laut Spitzer war Lueger angeblich ein „persönlicher Freund“ von Papst Leo XIII. Spitzer, Des Bürgermeisters Lueger Lumpen und Steuerträger, 20.

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Badeni und Lueger auf drei Punkte, welche nach dem erneuten Wahlsieg Luegers im April umgesetzt wurden.20 Erstens bestand Lueger darauf, für eine nicht länger als einjährige Dauer das Amt als Vizebürgermeister anzunehmen. Zweitens sollte in der Zwischenzeit Josef Strobach, ein Lebensmittelhändler und Hausbesitzer, als Strohmann das Amt des Bürgermeisters übernehmen. Und drittens forderte Lueger eine öffentlich verlautbarte Einladung zu einer Privataudienz beim Kaiser, in welcher dieser Lueger darum bitten sollte, vorübergehend das Amt des Vizebürgermeisters anzunehmen. Obwohl es für Badeni nicht einfach war, Kaiser Franz Joseph I. davon zu überzeugen, willigte der Monarch ein. Luegers Plan ging auf. Am 6. Mai 1896 wurden Strobach zum Bürgermeister und Lueger zum Vizebürgermeister gewählt, ein Jahr später, im April 1897, wurde Lueger schließlich selbst Bürgermeister. Laut John W. Boyer handelt es sich bei der mit dem Amtsantritt Luegers im Jahr 1897 beginnenden Konsolidierungsphase um einen dreifachen Prozess.21 Erstens sollten durch Kommunalisierungsmaßnahmen die Wirkungsbereiche der kommunalen Dienste erweitert, effizienter und vor allem gewinnbringender gestaltet werden. Zweitens sollte die Machtstellung der Christlichsozialen durch die Neugestaltung des Gemeindestatuts und der Veränderung des Wahlrechts gesichert werden. Und drittens sollte die kommunale Bürokratie Sanktionen unterworfen werden, welche der Partei dienlich sein, aber keine Beeinträchtigungen der Verwaltung oder Interventionen des Ministeriums mit sich bringen würden.22 Ganz im Sinne der von den Christlichsozialen angestrebten Kommunalisierungsmaßnahmen kam es im Jahr 1900 zu bedeutenden Veränderungen der Gemeindewahlordnung und der Stadtverfassung.23 Die Wahlkörper wurden um eine vierte Kurie erweitert, in der männliche österreichische Staatsbürger nach Vollendung des 24. Lebensjahres wahlberechtigt waren, wenn sie drei Jahre lang ununterbrochen ihren ordentlichen Wohnsitz in Wien hatten. Aufgrund des Pluralwahlrechts konnten die Wahlberechtigten der ersten drei Wahlkörper auch im vierten Wahlkörper wählen, was eine klare Bevorzugung einzelner Bevölkerungsschichten bedeutete. Von den Christlichsozialen wurde die Reform als Demokratisierung des Wahlrechts verstanden, die Arbeiterschaft blieb vom politischen Einfluss allerdings weiterhin ausgeschlossen, da viele Arbeiter oft monatelang außerhalb von Wien tätig und somit nicht ununterbrochen in Wien gemeldet waren.24 Insgesamt wurden bei den Gemeinderatswahlen statt der bisherigen 138 Mandate – nach der Ergänzung des vierten Wahlkörpers ab 1900 – 20 Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna, 380–381. 21 Boyer, Culture and Political Crisis, 5–6. 22 Ebd. 23 Landesgesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Österreich unter der Enns, 28.3.1900, LGBl. 17/1900. 24 Die Sesshaftigkeitsklausel von drei Jahren galt nur für Wien, für das Reichswahlrecht galt ab 1896 eine Anwesenheit von sechs Monaten. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 2, 764–766, 779.

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nun 158 Mandate vergeben. Durch die Eingliederung von Floridsdorf erhöhte sich die Zahl 1904 auf 165 Mandate.25 In Hinblick auf die Themen Migration und Fremdenfeindlichkeit ist die Erneuerung des Gemeindestatuts interessant. Im Statut wurde rechtlich verankert, dass jeder Bürger und jede Bürgerin bei der Bürgerrechtserwerbung eidlich geloben müsse, „den deutschen Charakter der Stadt nach Kräften aufrecht halten [zu] wolle[n]“.26 Im Alltagsleben bedeutete dieser Schwur beispielsweise, dass ein Wiener mit böhmischer Abstammung keinem tschechischen Verein angehören und ebenso wenig einen gründen durfte. Die Zuschreibung „deutsch“ ist in ihrer Bedeutung und Häufigkeit der Verwendung natürlich im zeitlichen Kontext zu verstehen. Es scheint aber, als wäre es Lueger ein besonderes Anliegen gewesen, den „deutschen Charakter“ in der Gemeindeverordnung zu verankern. Bereits nachdem Lueger 1895 das erste Mal zum Bürgermeister gewählt worden war, bekannte er sich in seiner etwas voreiligen Dankesrede – er konnte das Amt erst 1897 antreten – zum „deutschen Charakter“ von Wien: Das Volk von Wien will, dass Wien eine deutsche Stadt bleibe. (Bravo! Bravo!) – Ferne von aller Gehässigkeit gegen unsere slavischen und romanischen Mitbürger, haben wir Deutsche ein historisches, unzweifelbares Recht, dass diese Stadt eine deutsche bleibe, und wir haben die Pflicht, dieses unser Recht unverkürzt unseren Nachkommen zu hinterlassen. (Beifall.) Deutsche haben die Stadt gegründet. In ihr residierten die machtvollen Herrscher aus dem deutschen Geschlechte der Babenberger, welche mit der Kraft des deutschen Schwertes die Ostmark muthvoll gegen die anstürmenden Horden vertheidigten.27

Aufgrund der Wahlrechtsbestimmungen bestand der Gemeinderat jahrzehntelang ausnahmslos aus Mitgliedern des Besitz- und Bildungsbürgertums.28 Erst durch die schrittweisen Wahlrechtsreformen und die Erweiterung des Wahlrechts auf die sogenannten Fünf-Gulden-Männer fanden sich vermehrt Repräsentanten des Mittelstands, vor allem des Kleingewerbes, im Gemeinderat.29 Durch die neue Wahlordnung von 1900 und die Erhöhung der Zahl der Gemeinderäte kam es zu einer leichten Modifizierung was die soziale Verankerung der Gemeinderäte betraf.30 Für die Jahre 1895 bis 1912 ist bemerkbar, dass tendenziell immer weniger Gemeinderäte selbstständige Handel- und Gewerbetreibende sowie Angehörige freier Berufe waren. Stattdessen finden sich mehr Vertreter der Kleinhandels- und Kleingewerbetreibenden 25 26 27 28 29 30

Ebd., 918. § 10. Angelobung der Bürgerpflichten, LGBl. 17/1900, 23–24. Bürgermeisterwahl Oktober 1985, Kommentar Lueger, AB, Nr. 87 (29.10.1895), 1901. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 1, 603. Ebd., 604. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 2, 964–966; Oswald Knauer, Der Wiener Gemeinderat 1861– 1918. Zusammensetzung nach Berufen, in: Wiener Geschichtsblätter 18 (1963) 1, 171–174.

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sowie unselbstständige Erwerbstätige.31 Trotz fallender Tendenz nahm der Anteil der Hausbesitzer kaum ab, was sicherlich mit der stark an den Interessen der Hausbesitzer orientierten Politik der christlichsozialen Stadtverwaltung zusammenhängt.32 Bis zur Abschaffung des Privilegienwahlrechts nach dem Ersten Weltkrieg hob sich der Wiener Gemeinderat in seiner sozialen Zusammensetzung also sehr stark von der Bevölkerung ab.33 Das Aktionsfeld der Opposition beschränkte sich auf das Gemeinderatsplenum, wobei man gerade bei Abstimmungen von einer Statistenrolle sprechen kann. Die Christlichsozialen setzten ihre Mehrheit gekonnt ein, um die Geschäftsordnung nach ihren Wünschen zu handhaben. So wurden politisch unangenehme Debatten unterbrochen oder abgekürzt und Redner der Opposition unter Androhung des Disziplinarausschusses von den Sitzungen ausgeschlossen.34 2. Die Debatten im Wiener Gemeinderat 2.1. Sprache als Konfliktfeld des Nationalitätenproblems

Das Thema Sprache wurde im Wiener Gemeinderat vielfach diskutiert. Dies hängt vor allem mit der Debatte um die Sprachenverordnung von Ministerpräsident Kasimir Badeni und die darauf folgende Krise im Jahr 1897 zusammen. Schon 1880 hatten sich Ministerpräsident Eduard Taaffe und sein deutschliberaler Justizminister Karl von Stremayr um eine Lösung der „Böhmischen Frage“ bemüht.35 In einer Verordnung wurde die Zweisprachigkeit für den äußeren Dienstverkehr zwischen Behörden und Parteien festgelegt, während die innere Amtssprache – entgegen den tschechischen Forderungen – weiterhin Deutsch blieb. Unter Stremayers Nachfolger Alois Pražák wurde im Jahr 1886 Tschechisch schließlich auch als innere Amtssprache eingeführt. Der aufkeimende Nationalitätenkonflikt wurde damit keineswegs gelöst. Die Errichtung eines tschechischen Staates im Rahmen einer föderalistischen Monarchie mit Kaiser Franz Joseph I. als König von Böhmen blieb eine lang gehegte Forderung. Nach dem Wahlerfolg der radikalen Jungtschechen-Partei bei den Reichsratswahlen von 1891 kam es zu einem Abbruch der Ausgleichsverhandlungen. Zahlreiche Straßenkrawalle, Schlägereien und Plünderungen waren die Folge. Dem böhmischen Beispiel nacheifernd begehrten auch die Slowenen mehr Rechte.36 Sie erhoben Anspruch auf ein eigenes slowenisches 31 32 33 34 35 36

Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 2, 964–966. Ebd., 964. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 1, 605. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 2, 970. Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa, 505. Andreas Moritsch, Nationale Differenzierungsprozesse bis in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Harald Krahwinkler, Staat – Land – Nation – Region. Gesellschaftliches Bewusstsein in

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Verwaltungsgebiet und forderten unter anderem die Errichtung slowenischer Schulen. In der Hoffnung, den nationalistisch aufgeladenen Konflikt zu lösen, erließ Ministerpräsident Badeni am 5. April 1897 für Böhmen und am 22. April 1897 für Mähren die nach ihm benannten Sprachenverordnungen.37 Demnach wurde Zweisprachigkeit im äußeren und auch im inneren Amtsverkehr verpflichtend. Dies brachte eine Benachteiligung für die Beamtenschaft in den deutschsprachigen Gebieten Böhmens und Mährens, da diese des Tschechischen nicht mächtig waren, während viele Tschechen hingegen über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügten. Diese Konfliktlösungsstrategie Badenis scheiterte, er wurde vom Kaiser im November 1897 entlassen und die Sprachenverordnungen schrittweise zurückgenommen.38 Die wiederholten Auseinandersetzungen des Gemeinderates mit dem Thema Sprache sind demnach vor dem Hintergrund des Nationalitätenkonflikts zu betrachten. Besonders in der Zeit nach Badenis Sprachenverordnungen waren die Gemeinderatsdebatten vorrangig anti-tschechisch konnotiert, was sich auch in zahlreichen Anträgen und Interpellationen von Gemeinderäten spiegelte.39 Gerade in Bezug auf das Gemeindestatut von 1900 spielte auch die Frage „Deutsch als Mutter- bzw. Umgangssprache“ eine große Rolle in den Auseinandersetzungen, vor allem in Zusammenhang mit dem Thema Schule. Einige Jahre vor der Veränderung des Gemeindestatuts beschwerte sich der liberale Gemeinderat Johann Herrdegen im Herbst 1894 über die Verwendung von „fremdsprachlichen Ausdrücken“ in Veröffentlichungen der städtischen Ämter.40 Seiner Meinung nach sollte es in Zukunft zur „Vermeidung überflüssiger Fremdwörter“ kommen und sollten diese durch „deutsche Ausdrücke“ ersetzt werden.41 Im Zuge der Diskussionen um den Inhalt des geplanten Gemeindestatuts äußerte sich der deutschnationale Gemeinderat Friedrich Förster, Rechtsanwalt, im Frühjahr 1899 ähnlich.42 Er schlug vor, dass sich die Gemeinde Wien und das Magistrat künftig bei allen Postsendungen „nach Ländern der ungarischen Krone“ der „deutschen Ortsbezeichnung bediene“.43 In den österreichischen Ländern Kärnten, Krain, Steiermark und Küstenland 1740 bis 1918, Klagenfurt – Ljubljana – Wien 2002, 315–332; Arnold Suppan, Sprachenstreit. Nationalitätenkampf und nationale Ausgrenzung in Innerösterreich 1895 bis 1918, in: Krahwinkler, Staat – Land – Nation – Region, 333–362. 37 Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa, 512. 38 Ebd., 510–514. 39 Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, München – Wien 1972, 289; Regina Wonisch (Hrsg.), Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010. 40 Antrag Herrdegen, AB, Nr. 14 (14.9.1894), 1984. 41 Ebd. 42 Antrag Förster, AB, Nr. 18 (3.3.1899), 552. 43 Antrag Förster, AB, Nr. 23 (21.3.1899), 698.

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einem weiteren Antrag bekundete Förster den Wunsch, dass bei Anfragen, Anträgen und Verhandlungen im Gemeinderat ausschließlich die deutsche Sprache verwendet werden dürfe. Ansonsten sollte „dem Redner das Wort entzogen beziehungsweise überhaupt nicht ertheilt“ und sollten nichtdeutsche Anträge „von der geschäftsordnungsmäßigen Behandlung von vornherein ausgeschlossen“ werden.44 Förster wollte mit seinem Antrag erreichen, dass diese Bestimmungen in das neue Gemeindestatut aufgenommen würden. Hierzu ist anzumerken, dass die für den vorliegenden Aufsatz gesichteten Gemeinderatsprotokolle in den Amtsblättern der Jahre 1892 bis 1912 ausschließlich in deutscher Sprache verfasst sind, es finden sich auch keine eingebürgerten tschechischen Begriffe. Inwiefern Försters Antrag rein theoretischer Natur war, ist also offen. Die Kritik an Fremdsprachen bezog sich auch auf deren Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Franz Kreisel, für die Antisemitische Partei im Gemeinderat, forderte im Sommer 1898, dass „Kundmachungen und Bezeichnungen der österreichischen Bahngesellschaften nur in der deutschen oder eventuell in zweiter Reihe in der zweiten landesüblichen Sprache angebracht werden dürfen“.45 Mehrfach wurden auch Anträge gegen die Verwendung von Fremdsprachen bei den Texten der sogenannten Armen-Lotterie-Lose eingebracht. So kritisierte der Gemeindrat Förster, dass der Wortlaut des Textes nur auf der Vorderseite in Deutsch, auf der Rückseite aber in „magyarischer, tschechischer, italienischer und polnischer Sprache“ abgedruckt sei.46 Im Vergleich zu den hetzerischen Aussagen einiger Gemeinderäte fällt Luegers Kommentar zur Sprachendebatte – wie das folgende Beispiel zeigt – verhältnismäßig milde aus. Nach einer lebhaften Diskussion eines Antrags des christlichsozialen Gemeinderats Adolf Gussenbauer meldete sich Lueger zu Wort: Sie dürfen sich nicht fürchten, wenn der eine oder andere gerade der deutschen Sprache nicht übermäßig mächtig ist. Das kommt leider sehr häufig vor. Bei jeder Gelegenheit ermahne ich die Lehrer, sie mögen speziell auf das Studium der deutschen Sprache Rücksicht nehmen. (Rufe: Sehr gut!) Das ist, könnte ich sagen, die Hauptpflicht der ganzen Lehrerschaft. [...] Wenn Sie den Kindern die Liebe zur deutschen Sprache einprägen, so werden alle, die nach Wien kommen, auch gute Deutsche werden. (Lebhafter Beifall).47

Lueger stellte in seinem Kommentar die Situation so dar, als hätten Zuwanderer, deren Muttersprache nicht Deutsch war, sehr wohl Chancen nach dem Erwerb der notwendigen

44 45 46 47

Antrag Förster, AB, Nr. 18 (3.3.1899), 552. Interpellation Kreisel, AB, Nr. 58 (22.7.1898), 1951. Antrag Förster, AB, Nr. 12 (10.2.1899), 349; Antrag Förster, AB, Nr. 18 (3.3.1899), 552. Kommentar Lueger zu Antrag Gussenbauer, AB, Nr. 88 (3.11.1908), 2555.

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Sprachkenntnisse „gute Deutsche“ – seinen Vorstellungen entsprechend – zu werden. Ob sich dies jedoch mit der Realität und den alltäglichen Erfahrungen der Migranten und Migrantinnen deckte, ist eher fraglich. Denn wendet man den Blick von Luegers polemischer Aussage auf die Ausführungen einiger Gemeinderäte, wird die damals herrschende xenophobe und antisemitische Stimmung deutlich. 2.2. Antisemitismus als Mechanismus der sozialen Ausgrenzung

Karl Luegers parteipolitischer Antisemitismus – ihm wird die Aussage „Wer ein Jud’ ist, bestimme ich!“ zugeschrieben – wurde bisher vielfach erörtert.48 Ebenso der einschneidende und ideologisierende Einfluss des populistischen Bürgermeisters auf den jungen Adolf Hitler.49 Eine umfassende Analyse der Debatten im Wiener Gemeinderat hinsichtlich antisemitischer Aussagen steht jedoch bislang noch aus. Bei näherer Betrachtung ausgewählter Gemeinderatsprotokolle lässt sich feststellen, dass sich sowohl der Bürgermeister als auch die ihm politisch nahestehenden Gemeinderäte – von einzelnen Ausnahmen abgesehen – mit antisemitischen Aussagen zurückhielten. Ressentiments gegen Juden bzw. Jüdinnen kamen zwar zahlreiche Male in Anträgen und Interpellationen zum Ausdruck, sind jedoch im Vergleich zum anti-tschechischen Populismus weniger häufig. Im Milieu der Wiener Kleinbürger war Antisemitismus stark wirtschaftlich konnotiert und des Weiteren vom traditionellen katholischen Antijudaismus und von rassistisch motiviertem Hass beeinflusst.50 Für viele Gemeinderäte, und dies trifft wohl ebenfalls auf Lueger zu, diente vorrangig politischer Opportunismus als Grundlage für ihren Antisemitismus. Für Juden und Jüdinnen machte es jedoch keinen Unterschied, um welche Art von Antisemitismus es sich handelte, sie mussten damit umgehen, dass ihnen ein Teil der Gesellschaft feindlich gesinnt war. So waren jüdische Wiener und Wienerinnen wiederholten Diskriminierungen im Berufsleben ausgesetzt, welche unter anderem von der Zentralkommission deutscher Arbeitneh48 Laut Lichtblau wurde „Der Jud“ zu einer „beliebigen Chiffre für alles Negative innerhalb der Gesellschaft“. Albert Lichtblau, Im Visier der antisemitischen Populisten. Jüdische Reiche und Wiener Ringstraße, in: Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hrsg.), Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard, Wien 2015, 269–284, 280; Robert S. Wistrich, Karl Lueger and the Ambiguities of Viennese Antisemitism, in: Jewish Social Studies, Vol. 45 (1983) 3/4, 251–262; Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna; Boyer, Culture and Political Crisis; Boyer, Karl Lueger; Albert Lichtblau, Integration, Vernichtungsversuche und Neubeginn. Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, in: Eveline Brugger/Martha Keil/Albert Lichtblau/Christoph Lind/Barbara Staudinger (Hrsg.), Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2013, 461f. 49 Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, 8. Auflage, München 2000, 393; Ian Kershaw, Hitler. 1889–1945, Rheda-Wiedenbrück 2010, 58. 50 Boyer, Karl Lueger, 39; Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa, 497–504.

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merverbände, vom Arbeitsvermittlungsamt der Stadt Wien, vom Magistrat und auch von einigen deutschen Tageszeitungen (Reichspost, Deutsches Volksblatt, Alldeutsches Tagblatt) gefördert wurden.51 Die Zahl der Juden – definiert über religiöse Zugehörigkeit –, welche in der Stadtverwaltung angestellt waren, war bereits 1896/97 relativ gering. John W. Boyer schätzt, dass ungefähr zwei Dutzend Juden im Magistrat beschäftigt waren.52 Nach ihrer Amtsübernahme begannen die Christlichsozialen sogar die religiöse Herkunft aller Gemeindebeamten zu überprüfen, welche sich für eine Beförderung bewarben oder dafür in Erwägung gezogen wurden.53 Schlussendlich wurde jüdischen Gemeindebeamten jeglicher berufliche Aufstieg verwehrt.54 Dem versuchte der liberale Gemeinderat Alfred Mittler im Herbst 1900 auf den Grund zu gehen.55 In seinem Antrag stellt er fest: Es ist nun eine Thatsache, dass Socialdemokraten, Schönerianer und selbstverständlich Juden von der Beförderung consequent ausgeschlossen bleiben und wurde der Herr Bürgermeister speciell über die Präterierung der jüdischen Beamten, die nur wegen ihres Glaubens verfolgt werden, wiederholt interpelliert. Hierbei hat der Herr Bürgermeister sich stets auf den Standpunkt gestellt, dass die Ernennung nicht er, sondern der Stadtrat vollzieht [...], und dass er nicht berechtigt und in der Lage sei, auf die Beschlüsse des Stadtrates Einfluss zu nehmen. [...] Es dürfe nun dem Herrn Bürgermeister nicht unbekannt sein, dass seit dem Beginne der Herrschaft der gegenwärtigen Majorität Beamte jüdischen Religionsbekenntnisses nicht befördert werden [...].56

In seiner Stellungnahme zu Mittlers Antrag gibt Lueger zwar implizit die Diskriminierung der Juden – sowie auch der Sozialdemokraten und Schönerianer – zu, behauptete aber, die Angelegenheiten lägen nicht in seinem, sondern im Kompetenzbereich des Stadtrates.57 Boyer verweist darauf, dass christlichsoziale Politiker einige der liberalen Stadtratsmitglieder entweder gezwungen oder aufgefordert haben müssen, Juden bei Beförderungen auszuschließen.58 Anscheinend wurden gelegentlich auch die Namen von jüdischen Kandidaten von Listen gestrichen, bevor dem Stadtrat die endgültigen Empfehlungen vorgelegt wurden.59

51 Monika Glettler, Urbanisierung und Nationalitätenproblem, in: Peter Berner/Emil Brix/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien 1986, 185–196, 186. 52 Boyer, Culture and Political Crisis, 29. 53 Ebd., 478–479. 54 Ebd., 29. 55 Antrag Mittler, AB, Nr. 47 (11.6.1901), 1099–1100. 56 Ebd. 57 Ebd.; Antrag Mittler, AB, Nr. 50 (21.6.1901), 1199. 58 Boyer, Culture and Political Crisis, 30. 59 Ebd.

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Antisemitische Ressentiments betrafen auch die Berufsgruppe der Richter. Im Herbst 1897 echauffierte sich etwa der damalige Vizebürgermeister von Wien, Josef Neumayer, ein Rechtsanwalt, über jüdische Richter. Er war empört darüber, dass „Juden über Christen zu Gericht sitzen und Recht sprechen sollen“, da seiner Meinung nach „dem Juden das Verständnis, das Gefühl für sittlich-religiöse und nationale Bedürfnisse und Anschauungen der arischen Nationen fast vollständig fehlt“.60 Auch alltäglicher Antisemitismus beschäftigte die Wiener Gemeinderäte. So interpellierte der liberale Gemeinderat Karl Tagleicht, kaiserlich-königlicher Hofschlosser und Hausbesitzer, im Herbst 1899 und forderte den Bürgermeister auf, die Kündigungen jüdischer Mieter in einem im Besitz der Stadt Wien befindlichen Zinshaus im II. Bezirk rückgängig zu machen.61 Lueger verwies darauf, dass beim zuständigen Department VI62 des Magistrats mehrere Klagen über „Gehässigkeit, Unverträglichkeit [...] und Unreinlichkeit“ der jüdischen Mieter eingegangen waren, welche schließlich zur Kündigung selbiger geführt hatten.63 Das Argument hinsichtlich „Unreinlichkeit“ findet sich auch in einer Anfrage des christlichsozialen Gemeinderats Franz Schwarz im Sommer 1900.64 So berichtet er, dass „massenhaft“ Juden aus Rumänien über Wien in die USA auswanderten. Mit seinem Antrag hoffte Schwarz die Ausweisung der Emigranten aus Wien bewirken zu können. Er berichtete: So wird zum Beispiel heute gemeldet, dass sich ein größerer Trupp jüdischer Emigranten von Galaty65 nach Wien begeben habe. Bei der notorischen Unreinlichkeit dieser meist mit infectiösen Krankheiten behafteten Auswanderer besteht im Hinblick auf die heiße Jahreszeit die Gefahr der Einschleppung einer Seuche.66

Dabei handelte es sich eindeutig nicht um parteipolitisch oder katholisch geprägten Antisemitismus, sondern um rassistisch motivierten Antisemitismus.67 Die Anfrage von Schwarz

60 Antrag Neumayer, AB, Nr. 80 (5.10.1897), 2690. 61 Antrag Tagleicht , AB, Nr. 87 (31.10.1899), 2544. 62 Das Department VI. war die Verwaltung der Stiftungs- und städtischen Bauten. Bis zu einer Umstrukturierung und Umbenennung in Magistratsabteilungen im Jahr 1902 gab es 19 Departments. Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 2, 775–777. 63 Antrag Tagleicht, AB, Nr. 87 (31.10.1899), 2544. 64 Antrag Schwarz , AB, Nr. 55 (10.7.1900), 1337. 65 Hierbei handelt es sich um die rumänische Stadt Galați. 66 Antrag Schwarz, AB, Nr. 55 (10.7.1900), 1337. 67 Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1897–1914. Assimilation und Identität, Wien – Köln – Graz 1989. Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938, Wien 1993; Steven Beller (Hrsg.), Rethinking Vienna 1900, New York 2001; Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollack/Nina Scholz (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert,

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regte eine hitzige Gemeinderatsdebatte an. Lueger hielt sich wie gewohnt zurück, verwies auf die Zuständigkeit der Polizei und merkte an: Ich verstehe es nicht, wie geduldet werden kann – ich sage es ganz aufrichtig – dass diejengen, welche aus Rumänien hierher wandern, auf öffentlichen Straßen, wie ich in den Zeitungen gelesen habe, unter den Bögen von Brücken übernachten und dort förmlich campieren. Das ist eine neue Einrichtung in Wien. Wenn Christen das machen möchten, so würden gewiss in anderer Weise mit ihnen umgesprungen werden (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.).68

Während das Plenum mit Beifall reagierte, bezeichnete der liberale Gemeinderat Moritz Eltbogen den Antrag und Luegers Reaktion darauf in einem Zwischenruf als „Skandal“ und rief „Pfui Teufel“, was von Lueger als Beleidigung aufgefasst wurde.69 Einen ebenso unverkennbar antisemitisch konnotierten Antrag brachte Johann Pichler im November 1899 ein.70 Er schlug vor, „im Interesse des absolut deutschen und christlichen Charakters unserer lieben Vaterstadt Wien“ den Judenplatz im I. Bezirk in Luegerplatz umzubenennen. Im Gemeinderat löste dies Heiterkeit aus und der Kommentar des Bürgermeisters war schlicht: „Könnte mir einfallen.“71 2.3. Schule im Fokus der Sprach- und Religionsdebatten

In den Debatten über Bildung und Schulalltag waren Antisemitismus und Xenophobie ebenso wiederkehrende Motive wie die Themen Sprache und Religion.72 In Zusammenhang mit dem Nationalitätenkonflikt und der deutsch-tschechischen Krise 1897 sind die Auseinandersetzungen des Gemeinderates mit dem tschechischen Schulverein Komenský hervorzuheben.73 Monika Glettler, welche die Gemeinderatsdebatte hinsichtlich des KoWien 2002; Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914, Göttingen 2004; Frank Stern/Barbara Eichinger (Hrsg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien 2009; Brugger/Keil/Lichtblau/Lind/Staudinger (Hrsg.), Geschichte der Juden in Österreich. 68 Antrag Schwarz, AB, Nr. 55 (10.7.1900), 1337. 69 Ebd. 70 Antrag Pichler, AB, Nr. 98 (21.11.1899), 2690. 71 Ebd. 72 Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterreicht auf dem Boden Österreichs. Band 4. Von 1848 bis zum Ende der Monarchie, Wien 1986, 295–319; Hannelore Burger, Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867–1918, Wien 1995. 73 Monika Glettler, Böhmisches Wien, Wien 1985, 22–26; Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, 305; Margita Jonas, Geschichte des Schulvereines Komenský, in: Wonisch (Hrsg.), Tschechen in

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menský-Schulvereins ausführlich aufgearbeitet hat, meint sogar, dass der Komenský-Verein „für alle nationalen Erschütterungen des Wiener Tschechentums [...] der empfindlichste Seismograph“ war.74 Im Jahr 1896 wurde im Niederösterreichischen Landtag das Gesetz „Lex Kolisko“ sanktioniert, welches Deutsch als „ausschließliche Unterrichtssprache für alle öffentlichen Volks- und Bürgerschulen“ gesetzlich festlegte.75 Das „Lex Kolisko“ wurde jedoch nie rechtswirksam, denn die kaiserliche Zustimmung wurde dem Gesetz – trotz zwölfmaligen Einbringens in den Landtag – versagt.76 Bis zu einer Gesetzesänderung im Jahr 1908 mussten die Schüler und Schülerinnen des Komenský-Schulvereins von Wien nach Břeclav reisen, um dort ihre Abschlussprüfungen auf Tschechisch ablegen und staatsgültige Zeugnisse bekommen zu können. Für Lueger und viele seiner politischen Mitstreiter war die christliche Ausrichtung des Unterrichts von enormer Wichtigkeit. In einer euphorischen Dankesrede im Anschluss an seine erste Bürgermeisterwahl im Oktober 1985 äußerte er sich diesbezüglich folgendermaßen: Das Volk von Wien will, dass in den Schulen christlicher und nationaler Geist walte, dass die Kinder von Männern ihres Stammes und Glaubens unterrichtet (Lebhafter Beifall), dass den Kindern in den Schulen die Liebe zu ihrer Nation, zu ihrem Glauben und zu ihrem Vaterlande Österreich eingeprägt werde. (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)77

Die Trennung der Schüler an Volks- und Bürgerschulen nach Konfessionen wurde mehrmals diskutiert. Ein diesbezüglicher Antrag des christlichsozialen Gemeinderats Leopold Steiner im Jahr 1982 wurde aber abgelehnt.78 Steiner hatte argumentiert, dass durch die Rücksichtnahme auf jüdische Schüler am Sabbat ein „didaktischer Nachtheil für die Schüler christlicher Confessionen“ bestehen würde. Vier Jahre später brachte der christlichsoziale Gemeinderat Wenzel Oppenberger einen ähnlichen Antrag ein, der jedoch etwas drastischer formuliert war.79 Er führte die „Verrohung der Jugend“ auf mangelnde Disziplin und schlechten Einfluss von außen zurück. Er kritisierte: Wie zahlreiche Gerichtsverhandlungen, in denen schulpflichtige Kinder schwerer Verbrechen angeklagt und überführt werden, beweisen, nimmt die Religions- und Sittenlosigkeit der Jugend in erschreckender Weise überhand. Sehr häufig stellt sich bei solchen Verhandlungen heraus,

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Wien, 61–92; Burger, Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit, 114f. Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, 307. Ebd., 299–300; Burger, Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit, 167f. Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Band 4, 309. Bürgermeisterwahl Oktober 1985, Kommentar Lueger, AB, Nr. 87 (29.19.1895), 1901. Antrag Steiner, AB, Nr. 20 (15.3.1892), 200. Antrag Oppenberger, AB, Nr. 78 (29.09.1896), 1307–1308.

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dass solche Kinder auch in der Schule sich durch besondere Wildheit und Unbotmäßigkeit den Worten des Lehrers gegenüber auszeichnen und dass deren Gehirn noch durch die Lectüre von 5 fl.-Romanen [Groschen-Romanen] und der berüchtigten Indianerbüchel erhitzt, auch direct auf die Idee des Verbrechens geleitet wurde.80

Im Jahr 1898 erlebte die Debatte um die Trennung der Schüler nach Konfessionen einen erneuten Aufschwung. Der Wiener Bezirksschulrat hatte im September einen Erlass ausgegeben, dass künftig „bei der Vertheilung der Kinder in die Classen und Abtheilungen“ darauf Rücksicht genommen werden sollte, ob die Kinder „einer christlichen oder mosaischen Confession angehören“.81 In einem gemeinsamen Antrag versuchten die liberalen Gemeinderäte Ludwig Vogler, Rechtsanwalt, August Nechansky, Rechtsanwalt, Alfred Mittler, Josef Schlechter, Buchbinder und Hausbesitzer, und Josef Winker auf die Unrechtmäßigkeit des Erlasses aufmerksam zu machen.82 Sie befürchteten, dass der Erlass in der Bevölkerung „unzweifelhafte Reibungen“ hervorrufen würde, da „bei Durchführung dieser Anordnung statt Frieden und Liebe Hass und Zwietracht in der Volksschule gesät werden wird“.83 In einer der darauffolgenden Gemeinderatssitzungen kritisierten die liberalen Gemeinderäte Alfred Mittler und Donat Zifferer, Architekt/Stadtbaumeister und Hausbesitzer, die vom christlichsozialen Gemeinderat Josef Gregorig in einer früheren Debatte aufgestellte Behauptung der angeblichen „Schädigung“ von Schulkindern in einer Schule im I. Bezirk. Gregorig wurde vorgeworfen, er habe vom „Auftreten eines epidemischen Rülpsens (Glucksen) gesprochen und diese Erscheinung auf die Ausdünstung seitens jüdischer Mitschüler zurückgeführt. Dieser thatsächliche Zusammenhang soll von einem Professor behauptet worden sein“.84 Mittler und Zifferer wünschten sich diesbezüglich eine Stellungnahme des Bürgermeisters, welcher jedoch in der entsprechenden Sitzung nicht anwesend war. In einer etliche Tage darauf folgenden Debatte bezog Lueger schließlich Position. Er wies den Antrag zurück und meinte, es wäre nicht notwendig, „darüber weitere Erhebungen zu pflegen“.85 Im Frühjahr 1897 brachten die beiden liberalen Gemeinderäte Ludwig Vogler und Alfred Stern, Rechtsanwalt und Hausbesitzer, Anträge bezüglich der Abweisung von jüdischen Kindern bei der Schulgeldbefreiung ein.86 Vogler kritisierte, dass die Ansuchen jüdischer Schüler trotz nachweisbarer Mittellosigkeit „ausnahmslos“ abgewiesen wurden, während „dem glei-

80 Ebd. 81 Antrag Vogler, Nechansky, Mittler, Schlechter, Winker, AB, Nr. 77 (29.09.1898), 2424. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Antrag Mittler, Zifferer, AB, Nr. 79 (4.10.1898), 2502. 85 Kommentar zum Antrag Mittler, Zifferer, AB, Nr. 81 (11.10.1898), 2567. 86 Antrag Vogler, AB, Nr. 39 (14.5.1897), 961; Antrag Stern, AB, Nr. 39 (14.5.1897), 962.

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chen Begehren christlicher Schüler stattgegeben wurde“.87 Luegers Reaktion auf diese Anträge fiel zurückhaltend aus, wiederholt verwies er auf die Zuständigkeit und Entscheidungsgewalt des Stadtrates. Auch die Lehrer standen immer wieder im Brennpunkt der Debatte. Im Sommer 1897 forderte der Gemeinderat Michael Gruber, dass in Wien und Niederösterreich ausschließlich Personen deutscher Nationalität bei der Besetzung von städtischen Dienst- und Lehrerstellen berücksichtigt werden sollten.88 Ein Jahr danach kritisierte der der Antisemitischen Partei zugehörige Gemeinderat Lorenz Manner, dass „zwei provisorische Aushilfslehrer an Wiener Schulen in Verwendung stehen“, welche ihre Reifeprüfungen an einer polnischen beziehungsweise tschechischen Lehrerbildungsanstalt abgelegt hatten.89 Manner forderte, dass in Wien künftig nur Deutsche als Beamte und Lehrer angestellt werden sollten. Lueger war die Anfrage unangenehm, war er doch durch sein Amt als Bürgermeister auch gleichzeitig Vorsitzender des Wiener Bezirksschulrates und hätte somit – laut Manner – über die Angelegenheit informiert sein müssen. Er versprach aber, sich der Angelegenheit anzunehmen, und meinte, „wenn das wahr sein sollte [...] werde ich auch wissen, was ich zu tun habe, aber im Gemeinderat lasse ich es nicht vordringen“.90 Diese Aussage kann als exemplarisch für Luegers zurückhaltende Ausdrucksweise im Wiener Gemeinderat gesehen werden. In zahlreichen Debatten zeichnete sich der sonst so populistische Rhetoriker Lueger eher durch seine Reserviertheit aus und versuchte, bei ihm unangenehmen Anfragen die Zuständigkeit von sich zu weisen. Seine Macht war schließlich durch seine Bestätigung als Bürgermeister im Jahr 1897 gefestigt worden und daher erschienen polemische Reden nicht mehr zwingend notwendig, vor allem auch da Lueger die Mehrheit der Gemeinderäte ohnehin auf seiner Seite hatte. 91 Diese Beobachtung wird von Maren Selinger und Karl Ucakar bekräftigt, wobei sie meinen, dass „die ideologisch gefärbten Klischeevorstellungen über politische Gegner“ in Wahlkampfzeiten wieder auflebten.92

87 Antrag Vogler, AB, Nr. 39 (14.5.1897), 961. 88 Antrag Gruber, AB, Nr. 47 (11.6.1897), 1196. 89 Antrag Manner, AB, Nr. 56 (15.7.1898), 1843. 90 Ebd. 91 Lueger hielt sich in seinen Reden insbesondere bei anti-tschechischen oder anti-slawischen Aussagen zurück. Ein möglicher Erklärungsansatz hierfür ist, dass die Slawen für Lueger ein nicht unbedeutendes Wählerpotenzial darstellten. 92 Selinger/Ucakar (Hrsg.), Wien, Teil 2, 91.

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2.4. „Feindbild“ Hausierhändler

Ein wiederkehrendes Thema im Wiener Gemeinderat war der sogenannte „Hausierhandel“.93 Die Debatten darüber waren einerseits von Fremdenfeindlichkeit, andererseits aber auch von den drohenden Existenzängsten der christlichen bzw. nicht-jüdischen Kleingewerbe- und Kleinhandeltreibenden dominiert. Besonders der Mittelstand betrachtete das „jüdische Kapital“ als seinen Hauptfeind und die jüdischen Hausierer als Hauptkonkurrenz.94 Die Aufrufe nur bei „den eigenen Leuten“ einzukaufen, weil die in jüdischen Geschäften angebotenen Waren „überteuert und minderwertig seien“, gehörten zum „Standardrepertoire“ der Antisemiten.95 Sowohl liberale als auch christlichsoziale Gemeinderäte traten wiederholt für ein Verbot des Hausierhandels ein. Vor allem die Christlichsozialen thematisierten die vermeintliche Bedrohung des Kleingewerbes, da dessen Vertreter eine wichtige Wählerklientel darstellten. Durch eine Verordnung des Handelsministeriums wurde der Hausierhandel im Gemeindegebiet von Wien mit 1. Jänner 1911 verboten.96 Einen äußerst umfangreichen Antrag gegen den Hausierhandel brachte Johann Jedlička, Gemeinderatsmitglied der Antisemitischen Partei, Anfang 1895 ein. Durch seinen Beruf als Tischler konnte er die Situation aus eigener Erfahrung beschreiben. Er hob aber hervor, dass nicht nur das Tischlergewerbe, sondern unter anderem auch das Spenglergewerbe, das Wirtsgewerbe, das Gewerbe der Optiker, der Pfaidler,97 der Zuckerbäcker und der Papierhändler unter der hausierenden Konkurrenz litten. Jedlička forderte ein generelles Verbot des Hausierhandels in Wien, denn seiner Meinung nach würde sich die Lage des Handels- und Gewerbestandes konstant verschlechtern. Die Situation beschrieb er folgendermaßen: Die sesshaften Gewerbetreibenden und reellen Kaufleute zahlen enorme Mietzinse und Steuern, müssen warten, bis die Kunden in ihre Gewölbe der Geschäfte kommen, und die Hausierer überschwemmen die ganze Stadt und dringen mit ihren Hausierwaren bis in die höchsten Stockwerke der Häuser und ruinieren die an eine feste Betriebsstätte gebundenen Geschäftsleute.98

Der Hausierhandel wurde als Bedrohung „von außen“ wahrgenommen. Denn bei den meis-

93 Hierzu finden sich für den gesamten Untersuchungszeitraum Anträge und Interpellationen. 94 Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa, 501. 95 Lichtblau, Integration, Vernichtungsversuche und Neubeginn, in: Brugger/Keil/Lichtblau/Lind/ Staudinger (Hrsg.), Geschichte der Juden in Österreich, 469. 96 Verordnung des Handelsministeriums im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern und dem Finanzministerium, betreffend das Verbot des Hausierhandels im Gemeindegebiete der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, 9. 7. 1910, RGBl. 128/1910. 97 Beim „Pfaidler“ handelt es sich um einen Hemdenmacher. 98 Antrag Jedlička, AB, Nr. 39 (29.1.1895), 230.

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ten Hausierern handelte es sich um „Fremde“, die zumeist aus Mähren und Ungarn nach Wien gekommen waren. Zudem spielte auch der Faktor Antisemitismus eine nicht unbedeutende Rolle. Der christlichsoziale Gemeinderat Josef Hawranek beanstandete etwa, dass jüdische Hausierer ihre Waren auch an Sonntagen verkauften, während die sesshaften Gewerbetreibenden an diesem Tag geschlossen halten mussten.99 Die Gemeinderäte Thomas Urban und Franz Seitz sprachen sich für ein Verbot des Hausierhandels im populären Wiener Erholungsgebiet, dem Prater, aus. Denn – so ihr Argument – besonders die „polnisch-jüdische[n] Hausierer, oft mit ekelhaften Krankheiten behaftet, entfalten eine riesige Zudringlichkeit und verleiden so manchem die Lust zu einem Praterbesuche“.100 Ein Antrag, dessen Inhalt sich besonders durch seine pro-deutsche und anti-slawische Agitation auszeichnete, wurde im Herbst 1908 vom christlichsozialen Gemeinderat Adolf Gussenbauer eingebracht.101 Vordergründig ging es ihm darum, die Ausstellung von Hausier- und Gewerbescheinen an Tschechen zu verhindern.102 Die Wiener Bevölkerung wünscht entweder die Beseitigung des Hausierhandels überhaupt oder mindestens die Beseitigung dieser slavischen Elemente und deren Ersatz durch Deutsche und heimische Bewerber oder Unternehmer. Die wirksamste Abwehr ist und bleibt wohl auch in diesem Fall die Selbsthilfe, das heißt: Wiener: Kauft nicht beim ‚Limonie-Kroaten‘, nicht beim ‚tschechischen Maronibrater‘ oder beim ‚slovenischen Süßwarenhändler‘, nicht beim tschechischen Schuster und Schneider, [...] sondern deckt euren Bedarf beim Wiener Geschäftsmanne, beim deutschen Schuster und Schneider.103

Sowohl dem Gemeinderat als auch dem Magistrat der Stadt Wien waren aber allem Anschein nach die Hände gebunden. Die Hausierbewilligungen wurden nämlich von den Heimatgemeinden der Hausierer ausgestellt und die „tschechischen Maronibrater“ konnten bei der Gewerbebehörde völlig legal einen Gewerbeschein beantragen. Der in der Sitzung anwesende Bürgermeister Lueger ließ es sich nicht nehmen, den Antrag von Gussenbauer zu kommentieren: Wollen Sie nicht die Güte haben, diese Nationalitätenangelegenheit mir zu überlassen? (Beifall.) Ich sage Ihnen warum. Bis jetzt ist es Ihrem Bürgermeister gelungen, jede Nationalitätenhetze in Wien hintanzuhalten (Beifall), jede, und der deutsche Charakter Wiens ist nicht im geringsten tangiert worden.104 99 Antrag Hawranek AB, Nr. 102 (21.12.1897), 2583. 100 Antrag Urban und Seitz, AB, Nr. 38 (10.5.1901), 867. 101 Antrag Gussenbauer, AB, Nr. 88 (3.11.1908), 2555. 102 Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900, 235. 103 Antrag Gussenbauer, AB, Nr. 88 (3.11.1908), 2555. 104 Kommentar Lueger zu Antrag Gussenbauer, AB, Nr. 88 (3.11.1908), 2555.

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Die Ressentiments der Gemeinderatsmitglieder beschränkten sich jedoch nicht auf ihre slawischen Mitbürger. Im Mai 1905 interpellierte der christlichsoziale Gemeinderat Karl Schreiner, Ziergärtner und Hausbesitzer, und fragte bei seinen Kollegen bezüglich des „Auftretens“ von Chinesen in Wien nach. Denn laut Schreiner seien „fünf chinesische Hausierer eingetroffen, welche in Kaffeehäusern, Gasthäusern u. im Umherziehen ihre Waren feilbieten“.105 In seiner Anfrage an den Bürgermeister wollte Schreiner erfahren, wie „einheimische Geschäftsleute gegen diese ausländischen Hausierer geschützt werden“ könnten. Lueger konterte, dass diese Angelegenheit nicht in seinem Kompetenzbereich läge und merkte an: Ich bemerke hierzu, daß ich kein Freund dieser Chinesen bin – das werden sich die Herren beiläufig vorstellen. Wir verhindern möglichst das Hausieren seitens der Einheimischen. Aber wir tun das nicht deswegen, damit die Chinesen hierher kommen und hier hausieren. (Beifall – Gem.-Rat. Bielohlawek:106 Wir brauchen überhaupt keine Asiaten!).107

Die Fremdenfeindlichkeit gegenüber Chinesen nahm in den Folgejahren konstant zu und auch die Presse, vor allem die christlichsoziale Tageszeitung Reichspost, wetterte gegen die „Gelbe Gefahr“ und die „gelbe[n] Söhne der Mitte“. Kritisiert wurde vor allem, dass sich die chinesischen Hausierer weder an Steuervorschriften noch an Hausiergesetze hielten und in Massenquartieren logierten.108 Im April 1914 kam es sogar zur Abschiebung von 24 Chinesen, wobei die chinesische Gesandtschaft die nicht unbeachtlichen Rückreisekosten von rund 200 Kronen pro Person übernahm.109 Die seitens der Polizei angedrohten Zwangsmaßnahmen 105 Interpellation Schreiner, AB, Nr. 36 (5.5.1905), 873. 106 Der christlichsoziale Gemeinderat Hermann Bielohlawek, welcher auch Abgeordneter im Reichsrat war, ist für seine markanten Aussprüche bekannt. Bei einer Reichsratsdebatte am 6. Mai 1898 antwortete er mit zahlreichen Zwischenrufen auf die Literaturempfehlungen des sozialdemokratischen Abgeordneten Leo Verkauf: „Schon wieder ein Buch – das habe ich gefressen!“, „Lesen kann ja jeder! Aber sie können nur lesen, sonst gar nichts!“ und „Die Bücher schreibt ein Jud vom andern ab.“ Weiters wird Bielohlawek zugeschrieben, dass er den russischen Schriftsteller Lew Tolstoi als „alten Teppen“ bezeichnete. Karl Kraus griff die Aussagen Bielohlaweks auf und verarbeitete diese in seiner satirischen Zeitschrift Die Fackel. Karl Kraus, Der Hanswurst, Die Fackel, Nr. 245, 28.2.1908, 1–4; Ders., Der alte Tepp, Die Fackel, Nr. 250, 14.4.1908, 1–10; Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrathes, XIV. Session, 20. Sitzung, 6.5.1898, 1177; Christian Pech, Nur was sich ändert, bleibt! Die österreichische Parlamentsbibliothek im Wandel der Zeit, 1869–2002, Wien 2002, 46–47. 107 Interpellation Schreiner, AB, Nr. 36 (5.5.1905), 873. 108 Chineseninvasion in Wien, Reichspost, 19.2.1913, 6; Die Zustände im Wiener Chinesenviertel, Reichspost, 21.12.1913, 7. 109 Glettler, Urbanisierung und Nationalitätenproblem, 190; Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung von Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990, 61f.

Migration, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus im Wiener Gemeinderat (1892–1912)

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hatten allerdings keine dauerhafte Wirkung. Die chinesische Kolonie in Breitensee (XIV. Wiener Gemeindebezirk) vergrößerte sich von etwa 50 Personen um 1900 auf zirka 600 in der Ersten Republik.110 3. Schlussgedanken

Im kollektiven Gedächtnis sind vor allem zwei Rezeptionen der Amtszeit Karl Luegers auszumachen.111 Einerseits liegt der Fokus auf den zahlreichen Großprojekten, die während seiner Amtszeit durchgeführt wurden. Exemplarisch zu nennen sind hier u.a. der Bau der Zweiten Wiener Hochquellenwasserleitung, die Kommunalisierung der Straßenbahnen, der Gas- und Elektrizitätswerke sowie die Errichtung des Krankenhaus Hietzing und der psychiatrischen Krankenanstalt am Steinhof. Andererseits ist Luegers antisemitische Haltung und seine feindselige Rhetorik bekannt. Damit in Zusammenhang steht der oftmals als prägend bezeichnete Einfluss des Bürgermeisters auf Adolf Hitler, der 1910 sogar an Luegers Begräbnis teilgenommen hat. Der zuletzt genannte Blickpunkt prägt die heutige Rezeption Luegers maßgeblich und nachhaltig. Sichtbar wurde dies anhand der langjährigen Diskussionen über die (Um)Benennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in Wien. Besonders seitens der Universität Wien, deren Hauptgebäude sich an dem besagten Abschnitt des Rings befindet, wurde wiederholt der Wunsch nach einer Umbenennung des Straßenabschnitts geäußert.112 Die Namensänderung in Universitätsring wurde schließlich am 19. April 2012 bekannt gegeben und am 9. Juli desselben Jahres folgte der Austausch der Straßenschilder.113 Auch über eine mögliche Umgestaltung des vom Bildhauer Josef Müllner geschaffenen Lueger-Denkmals am Dr.-KarlLueger-Platz in ein „Mahnmal gegen Antisemitismus und Rassismus in Österreich“ wird seit 110 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 61. 111 Als Beitrag zur Debatte über Wien um 1900 als Gedächtnisort siehe: Heidemarie Uhl, „Wien um 1900“ – das making of eines Gedächtnisortes, in: Monika Sommer/Marcus Gräser/Ursula Prutsch (Hrsg.), Imaging Vienna. Innenansichten, Außenansichten, Stadterzählungen, Wien 2006, 47–70. 112 Neben Ruth Klüger, Robert Schindel und anderen Persönlichkeiten hatte sich auch der aus Wien stammende Neurowissenschaftler und Medizinnobelpreisträger Eric Kandel jahrelang für die Umbenennung des Lueger-Rings eingesetzt. Stefan Riecher, Eric Kandel: „Die Österreicher waren nicht ehrlich“, Die Presse, 2.8.2009, http://diepresse.com/home/science/499766/Eric-Kandel_ Die-Oesterreicher-waren-nicht-ehrlich (zuletzt abgerufen am 16.01.2016). 113 Der für die Umbenennung notwendige Gemeinderatsbeschluss wurde von den Oppositionsparteien ÖVP (Österreichische Volkspartei), welche in der Tradition der Christlichsozialen Partei steht, und FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) nicht unterstützt. Siehe: http://derstandard. at/1334795565355/Wien-Dr-Karl-Lueger-Ring-wird-in-Universitaetsring-umbenannt, http://diepresse.com/home/panorama/wien/1262176/Wiener-LuegerRing-heisst-jetzt-Universitaetsring; http://wien.orf.at/news/stories/2534583/ (zuletzt abgerufen am 16.01.2016).

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mehreren Jahren immer wieder diskutiert.114 Es ist jedoch an der Zeit, den Blick darüber hinaus auch auf Luegers weiteres politisches Umfeld auszudehnen. Der vorliegende Aufsatz rückt daher die Tätigkeiten von Luegers politischen Mitstreitern und Gegnern, im konkreten Fall der Wiener Gemeinderäte, in den Vordergrund. Diese waren ebenso an der Gestaltung der politischen Entscheidungen beteiligt und standen dem populistischen Bürgermeister in ihrer polemischen Rhetorik um nichts nach. Aus den damaligen Debatten wird heute überwiegend das Thema Antisemitismus herausgegriffen und zitiert. Es ist jedoch hervorzuheben, dass die Diskussionen damals viel breiter angelegt waren. So umfassten die vorrangigen zeitgenössischen Hauptthemen der Debatten im Wiener Gemeinderat die Bereiche Sprache, Wirtschaft und Religion. Der Nationalitätenkonflikt in der Habsburgermonarchie prägte die Diskussionen maßgeblich. In Anbetracht der zeithistorischen Konsequenzen in den auf Lueger folgenden Jahrzehnten und in Hinblick auf die aggressive politische Agitation so mancher Politiker und Politikerinnen können die Aussagen und Ansichten der Gemeinderäte im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts im heutigen politischen Kontext als mahnendes Beispiel dienen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Integration von Migranten und Migrantinnen, der Sensibilisierung im Umgang mit Fremdsprachen und betrifft auch den Abbau von Vorurteilen sowie die Überwindung von alltäglichem Rassismus.

114 Ein an der Universität für angewandte Kunst Wien angesiedelter Arbeitskreis rief 2010 in einer offenen Ausschreibung zur Einreichung von Umgestaltungsvorschlägen des Lueger-Denkmals auf. Aus über 150 Vorschlägen wählte eine Jury die Idee des Künstlers Klemens Wihlidal aus, welcher anregte, die Statue und einen Teil des Sockels um 3,5 Grad nach rechts zu neigen. Der Vorschlag wurde der Stadt Wien übergeben, die Umsetzung aber bisher nicht angedacht. Siehe: http:// luegerplatz.com/, http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20100512_OTS0126/lueger-denkmal-soll-gekippt-werden, http://diepresse.com/home/panorama/wien/564737/Kippt-das-LuegerDenkmal-nach-rechts (zuletzt abgerufen am 16.01.2016).

Marcus Gräser

„Gallert-Demokratien“? Migration, Parteibildung und kommunale Politik in Wien und Chicago 1890–1938

Die Frage nach dem Zusammenspiel von Migration und kommunaler Politik scheint eine gegenwärtige Aufgabe anzusprechen1 und markiert zugleich doch auch ein historisches Problem2 – denn schon das Wachstum der europäischen und der nordamerikanischen Städte im 19. Jahrhundert war nicht das Ergebnis einer ,Reproduktion‘ der eingesessenen Bevölkerung, sondern die Folge einer Zuwanderung aus dem ländlichen Raum.3 Während die Zuwanderung in den nordamerikanischen Städten zu einem erheblichen Teil auch eine Einwanderung in den Nationalstaat gewesen ist, war der Bevölkerungszuwachs in den zentraleuropäischen Städten überwiegend das Ergebnis einer Binnenmigration von Staatsbürgern. Die übliche Gegenüberstellung der ethnisch inhomogenen amerikanischen Großstadt und der ethnisch homogenen europäischen Großstadt übersieht freilich zweierlei: Die nordamerikanischen Städte wuchsen im 19. Jahrhundert nicht ausschließlich durch Einwanderung aus Europa, sondern auch durch Zuwanderung aus dem ländlichen, ethnisch relativ homogenen Umfeld der Großstädte oder – im Falle der Städte des Mittleren Westens – durch die Westwanderung der an der Ostküste ansässigen Bevölkerung. Vor allem aber sind nicht wenige der europäischen Großstädte schon im 19. Jahrhundert ethnisch inhomogen, wenn auch nicht im selben Maß wie die amerikanischen Städte. Zuwanderung als Einwanderung über Staatsgrenzen hinweg mag im 19. Jahrhundert in Europa kein den USA ähnliches Ausmaß angenommen haben, die Binnenmigration erfolgte aber immerhin aus Staatsgebilden, die nicht in jeder Ecke aus einem ethnisch homogenen Staatsvolk bestanden. Ein erheblicher Teil der West1

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Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Teilveröffentlichung aus einem größeren Forschungsvorhaben zur vergleichenden Geschichte von Wien und Chicago, vgl. auch Marcus Gräser, Mass Migration and Local Politics in Chicago and Vienna, 1850–1938: Some Questions, Some Hypotheses, in: Bulletin of the German Historical Institute (Washington) 40 (2007), 99–104. Vgl. als Überblick Adelheid von Saldern, Integration und Fragmentierung in europäischen Städten. Zur Geschichte eines aktuellen Themas, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), 3–60. Vgl. Dieter Langewiesche, Wanderungsbewegungen in der Hochindustrialisierungsperiode. Regionale, interstädtische und innerstädtische Mobilität in Deutschland 1880–1914, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 64 (1977), 1–40; Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt am Main 1985.

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wanderung in Deutschland erfolgte aus den ethnisch ausfransenden preußischen Ostprovinzen; die Polen im Ruhrgebiet boten hierfür das zentrale, auch von der Forschung recht früh beachtete Beispiel.4 Noch gravierender aber war die multiethnische und multilinguale Binnenmigration in der Habsburgermonarchie, und betraf hier vor allem die Städte der cisleithanischen Reichshälfte. Wien nahm eine Ausnahmestellung unter den zentraleuropäischen Großstädten ein, weil es in hohem Maße eine ethnisch plurale Stadtgesellschaft aufwies, deren Ursache in der Massenzuwanderung aus den Kronländern der multinationalen Habsburgermonarchie lag und Wien aus amerikanischer Sicht zum Etikett „melting pot“5 verhalf. 1880 waren 65 Prozent der Stadtbevölkerung nicht in Wien geboren.6 Wien wurde zum ,Amerika‘ der Kronländer: „Im Jahr 1890 wurden lediglich 241.377 Staatsbürger Altösterreichs in den USA gezählt und 1900 491.295. Im selben Jahr hielten sich in Wien 900.852 Zuwanderer auf.“7 In Wien und anderen Städten der Habsburgermonarchie8 bedeutete Urbanisierung als 4

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Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918, in: Ders., Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 1979², 220–237 und 486–496; Christoph Kleßmann, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945. Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, sowie Susanne Peters-Schildgen, „Schmelztiegel Ruhrgebiet“. Die Geschichte der Zuwanderung am Beispiel Herne bis 1945, Essen 1997. Oscar Jaszi, Why Austria Perished, in: Social Research: An International Quarterly of Political and Social Science 5 (1938), 304–327, hier: 306. Generell zur Situation in der Habsburgermonarchie vgl. Catherine Horvel, Multi- und Plurikulturalismus in urbaner Umwelt. Nationale und soziale Vielfalt in den Städten der Habsburger-Monarchie 1867–1914, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 113 (2005), 349–361. Vgl. Walter Öhlinger, Wien im Aufbruch zur Moderne (Geschichte Wiens, Bd. 5), Wien 1999, 155–162. Michael John, Migration, Ethnizität und Urbanität. Zur Haltung der österreichischen Arbeiterbewegung in der Habsburgermonarchie, in: Erich Fröschl et al. (Hrsg.), Die Bewegung. Hundert Jahre Sozialdemokratie in Österreich, Wien 1990, 165–185, hier: 167. Die Wanderung nach Wien war natürlich aufgrund der relativen räumlichen Nähe zur Herkunftsregion weniger von Dauer als die Auswanderung in die USA: „Von drei USA-Migranten aus Alt-Österreich kehrte einer zurück, von sechs Wien-Migranten blieb einer.“ (ebd.). Vgl. zu den Folgen für Wien auch Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien 2010, 133ff. Vgl. auch ganz grundsätzlich das Pionierwerk von Michael John und Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990. Neben Wien ist vor allem Linz durch die wichtige Arbeit von Michael John, Bevölkerung in der Stadt. „Einheimische“ und „Fremde“ in Linz (19. und 20. Jahrhundert), Linz 2000, für die Migrationsforschung erschlossen worden; vgl. auch Ders., Migration, Integration, Ethnizität und Stadttypus in der Habsburgermonarchie: Wien – Linz – Czernowitz (unveröffentlichtes Manuskript,

„Gallert-Demokratien“?

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Habitusformation (als „way of life“9) daher nicht nur eine Anpassung der – meist aus agrarischen oder kleinstädtischen Lebenswelten stammenden – Migranten an den Betrieb der Großstadt,10 sondern auch eine Assimilation an Sprache und ,Kultur‘ der Mehrheitsbevölkerung (wobei die ,Mehrheit‘ gelegentlich natürlich auch eine nur imaginierte sein konnte). Freilich war die Assimilation – ganz ähnlich wie die erstrebte ,Amerikanisierung‘ der Einwanderer in den Städten der USA11 – keineswegs eine korrekte Anpassung, die von „oben“ zu steuern und von ,unten‘ nur auszuführen gewesen wäre. Viel eher wird man jene Vorgänge, die zeitgenössisch mit dem Begriff der ,Assimilation‘ postuliert oder verstanden werden wollten, als wechselseitigen, wenn auch asymmetrischen ,Transfer‘ erklären können – der den ethnischen Minderheiten in der Großstadt eben nicht nur Spielraum in der individuellen (oder kollektiven) Aneignung (oder auch Abwehr) der Mehrheitskultur ließ, sondern auch Gelegenheit zur selbstbewussten Einflussnahme auf diese Mehrheitskultur gab. Tatsächlich bildeten nicht wenige Bewohner der ethnisch inhomo genen Großstädte (je nach dem Maß ihrer Inhomogenität) aufgrund des permanenten Transfers (und des politischen Aushandelns über die – rechtlichen, alltäglichen – Spielräume dieses Transfers) hybride, transnationale Identitäten aus,12 die quer zum nationalstaatlichen ,Überbau‘ standen. Im Falle multinationaWorkshop „Mass Migration and Urban Governance: Central European Cities in the 19th and 20th Centuries in Comparative Perspective“, German Historical Institute Washington, DC, Mai 2007, Kopie im Besitz des Verfassers) sowie Ders., „Schmelztiegel“ – „Mosaik“ – „regionales Zentrum“ 1880–1914. Stadttypus im Vergleich (Migration, Integration und Ethnizität), in: Lukas Fasora/Jiri Hanus/Jiri Malir (Hrsg.), Brünn – Wien, Wien – Brünn. Landesmetropolen und Zentren des Reiches im 19. Jahrhundert, Brno 2008, 221–242. Zur prinzipiellen Problematik der Staatsangehörigkeit in der Habsburgermonarchie vgl. Benno Gammerl, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918, Göttingen 2010. 9 Louis Wirth, Urbanism as a Way of Life, in: American Journal of Sociology, 44 (1938), 1–24. 10 Nicht in jedem Fall war der ,Betrieb‘ der Großstadt an der fortgeschrittenen Form großbetrieblicher (,fordistischer‘) Massenproduktion orientiert: Die Wirtschaft in Wien blieb bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eher ,kleinbetrieblich‘ organisiert, vgl. Gerhard Meißl, Ökonomie und Urbanität. Zur wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll (Hrsg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien 2006, 651–737, insbesondere: 651–666. Zur Beharrungskraft der kleinbetrieblicher Ökonomie vgl. auch Detlef Lehnert, Der politische Mythos des „kleinen Mannes von Wien“ und die soziale Realität einer saturierten Mittelstandsklientel, in: Gerhard Melinz/Susan Zimmermann (Hrsg.), Wien – Prag – Budapest, Blütezeit der Habsburgermetropolen. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867–1918), Wien 1996, 93–107. 11 Vgl. Dietrich Herrmann, „Be an American!“ Amerikanisierungsbewegung und Theorien zur Einwandererintegration, Frankfurt am Main 1996. 12 Vgl. exemplarisch und unter Hinweis auf die allgemeine Literatur Ioanna Laliotou, Transatlantic

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ler Staaten mag eine großstädtische Identität sogar quer zum (Minderheiten)Nationalismus gestanden haben – insofern, als es einfacher und konsensualer war, sich als Bürger einer Stadt denn als Bürger eines Staates zu verstehen. Diese latente Gemeinsamkeit der Großstädte in den USA und in der Habsburgermonarchie lässt es nicht abwegig erscheinen, einige Fragen aus dem Komplex Migration und Politik am Beispiel von Wien und – als exemplarischer amerikanischer Einwanderungsstadt – Chicago zu untersuchen. Vor allem die Zusammenhänge zwischen Migration und kommunalpolitischem Regime, zwischen (partieller) Demokratisierung und einer Repräsentanz der ethnischen Gruppen im Parteienwesen sowie im Kommunalparlament haben in der Forschung noch nicht hinreichend Berücksichtigung gefunden: Wie hat multiethnische, multinationale Zuwanderung, die beide Städte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rasant wachsen ließ, die kommunale Politik verändert? Auf welche Weisen ermöglichten Parteibildungsprozesse und erreichter Grad der Demokratisierung des Kommunalwahlrechts die Inklusion der ethnischen Minderheiten (bzw. ihre Selbstorganisation in der politischen Arena) einerseits, die Exklusion bestimmter ethnisch (oder rassisch oder sozial) klassifizierter Gruppen der Bevölkerung andererseits? Kommunale Politik soll dabei nicht als „a conventional mode of providing for and legitimating local administration“13 und auch nicht als Segment von Politik (im Sinne einer „kommunalen Migrationspolitik“) verstanden werden. Kommunale Politik ist vielmehr Ausdrucksgestalt eines kommunalpolitischen Regimes, das sich aus den institutionellen Bedingungen des politischen Handelns in der Stadt und der Interaktion der politisch handelnden Akteure herstellt. Unterstellt wird dabei, dass die politische Bearbeitung der multiethnischen Migration in der Stadt als politisches (und alltägliches) Ereignis zentral genug ist, um ebenjenes Regime im Augenblick dieser Bearbeitung analytisch festmachen zu können. Tatsächlich handelt es sich also darum, nicht nur Aufschluss zu gewinnen über Zuwanderung und (Partei)Politik, sondern auf diesem Wege auch das kommunalpolitische Regime in beiden Städten von der Hoch-Zeit der Massenzuwanderung zwischen den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise der Jahre nach 1929 fassen zu können. Dabei kann auch die aus den aktuellen Debatten herrührende These von der „ethnischen Parallelgesellschaft“14 als Hemmnis der Demokratie überprüft werden. Zudem bietet es sich Subjects. Acts of Migration and Cultures of Transnationalism Between Greece and America, Chicago 2004, 1–17. 13 John W. Boyer, Political Radicalism in Late Imperial Vienna: Origins of the Christian Social Movement 1848–1897, Chicago 1981, IX. 14 Mit dem Begriff der „Parallelgesellschaft“ wird der Versuch einer ethnischen Gruppe beschrieben, „einen beträchtlichen Teil ihrer sozialen, ökonomischen und kulturellen Infrastruktur“ selbst herzustellen und aufrechtzuerhalten, wobei dies mit „relativ geschlossenen Kommunikations- und Versorgungssystemen“ und einer sozialräumlichen Segregation einhergeht (vgl. Saldern, Integration und Fragmentierung, 5).

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an, die in der Debatte über gegenwärtige Migrationspolitik virulente These von der „chancenlosen Transnationalität“15 vieler Migranten mit historischer Information zu konfrontieren: Ist die viel beschworene Parallelgesellschaft ein Hemmnis für die Demokratie oder ist sie, als ein Sicherheit gebendes Milieu, nicht vielmehr – gerade im Blick auf das Beispiel der USA – eine Voraussetzung für die politische Partizipation der Migranten, Raum für das Ausprobieren ,eigener‘ Politik und Trainingsboden für die Herausbildung von ethnic politicians, die dann erst recht für die Koppelung von Migranten an (kommunal)politische Regime sorgen konnten? 1. Wien und Chicago. Es mag auf den ersten Blick vermessen erscheinen, Chicago und Wien in die Versuchsanordnung des Vergleichs zu zwingen. Sind unterschiedlichere, unähnlichere Städte vorstellbar als diese beiden? Auf der einen Seite die neue Stadt im Mittleren Westen der USA, die erst 1833/37 rechtlich überhaupt als Stadt verfasst wurde und die der Philosoph John Dewey am Ende des 19. Jahrhunderts mit den Worten „sheer matter with no standards at all“ kennzeichnete16 – und auf der anderen Seite die alte Kaiserstadt, die ein Bollwerk der kulturellen Tradition und das politische Zentrum einer Großmacht bildete und darum als Ausdruck von „sheer standard“ gelten mag. Gewiss: Der Vergleich als Methode der Geschichtswissenschaft setzt nicht notwendigerweise Untersuchungsgegenstände voraus, die im umgangssprachlichen Sinne ,vergleichbar‘ – also ,ähnlich‘ – sind. Der historische Vergleich zielt ab auf die Herausarbeitung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten, gleichwohl muss aber eben jene erkenntnisfördernde Spannung aus Differenz und Ähnlichkeit zunächst auch gegeben sein. Wo aber findet sich das Grundmaß an Ähnlichkeit in beiden Städten, von dem aus die Erschließung der Verschiedenheit (und einer Gemeinsamkeiten wie Unterschiede generierenden Struktur) erst präzise bewerkstelligt werden kann? Tatsächlich findet sich dieses Grundmaß an Ähnlichkeit zwischen beiden Städten nicht nur in der Bedeutung der multiethnischen Massenzuwanderung,17 sondern umfassender noch in der Physiognomie städtischer Politik: Der Zerfall der Hegemonie des klassischen liberalen Honoratiorenregimes in Wien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der Aufstieg Karl Luegers zum Bürgermeister (Amtszeit 1897–1910) und die 15 Klaus Peter Strohmeier (Universität Bochum), hier zit. nach: Laboratorium einer alternden Gesellschaft? Das Ruhrgebiet vor den Herausforderungen von Demographie und Migration, in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), 25.6.2004, 12. Ganz anders in der Einschätzung ist Susanne-Sophia Spiliotis, Das Konzept der Transterritorialität oder: Wo findet Gesellschaft statt?, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 480–488. 16 Zit. nach Robert B. Westbrook, John Dewey and American Democracy, Ithaca 1991, 83. 17 Vgl. für Chicago grundsätzlich John M. Allswang, A House for all Peoples: Ethnic Politics in Chicago, 1890–1936, Lexington 1971; Melvin G. Holli/Peter d’A. Jones (Hrsg.), Ethnic Chicago: A Multicultural Portrait, Grand Rapids 1995, sowie die Artikel zu den einzelnen ethnic minorities in: James R. Grossman et al. (Hrsg.), The Encyclopedia of Chicago, Chicago 2004.

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Herrschaft seiner Christlichsozialen Partei am Ende des 19. Jahrhunderts ähneln in vielem der klientelistischen Praxis des bossism und der Herrschaft der party machine, die in Chicago seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beispielhafte Ausprägung erfahren haben.18 Wien und Chicago sind Beispiele für das Phänomen, das Max Weber um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erstmals theoretisch zu fassen versucht hat: das Zusammenspiel von Massenpolitik und charismatischer Führerschaft, das Weber vor allem an amerikanischen Beispielen verdeutlichen konnte.19 Diese auf den ersten Blick verblüffende Übereinstimmung zwischen Chicago und Wien ist ohne die durchaus ähnliche Verschränkung von Urbanisierung, Bevölkerungswachstum (durch Migration) und Demokratisierung nicht recht zu erklären; sie ließ Wien auf einen ersten Blick als „Gallert-Demokratie“20 und ,amerikanischer‘ erscheinen als etwa Berlin. Denn im Gegensatz zur deutschen Hauptstadt, in der bis 1918 ein Honoratiorenregime auf der Basis des Klassenwahlrechts aufrechterhalten blieb, wurde das Zensuswahlrecht (Kurienwahlrecht) in Wien seit der provisorischen Gemeindeordnung von 1850 sukzessive modifiziert. Wenn damit auch nicht, wie in den amerikanischen Städten, eine Demokratisierung (im Sinne eines allgemeinen Männerwahlrechts) erreicht wurde, so sorgten die Wahlrechtsreformen von 1885 und 1900 für Ausweitungen des Wahlrechts in Richtung Kleinbürgertum (1885) und – deutlich restriktiver – in Richtung Arbeiterschaft (1900).21 Eine weitere Ge18 Vgl. John W. Boyer, Culture and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power, 1897– 1918, Chicago 1995, 13 und 239–244, sowie Ders., Fin de Siècle in Chicago und in Wien. Anmerkungen zu einer Biographie Karl Luegers aus amerikanischer Sicht, in: Helmut Wohnout (Hrsg.), Demokratie und Geschichte 2009/10. Jahrbuch des Karl von Vogelsang Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, Wien 2011, 17–32. Boyer weist natürlich zu Recht auch auf eine Reihe unübersehbarer Unterschiede zwischen Lueger und dem amerikanischen bossism hin. Grundlegend zur Geschichte Wiens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bleibt: Carl Schorske, Fin-de-Siècle Vienna: Politics and Culture, New York 1981; den besten Überblick zur allgemeinen Geschichte Wiens in der Lueger-Zeit bietet Wolfgang Maderthaner, Von der Zeit um 1860 bis zum Jahr 1945, in: Csendes/Opll, Wien, 175–544, insbesondere: 175–316. Zur Ausprägung von machine politics in Chicago vgl. die beiden klassischen Studien: Charles E. Merriam, Chicago: A More Intimate View of Urban Politics, New York 1929, und Harold F. Gosnell, Machine Politics: Chicago Model, Chicago 1937. 19 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972 (5. Aufl.), 669. 20 Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit, Frankfurt am Main 2001 (1955), 75. 21 Zu den Wahlrechtsbestimmungen in Wien vgl. Maren Seliger/Karl Ucakar, Wien. Politische Geschichte 1740–1934. Entwicklung und Bestimmungskräfte großstädtischer Politik, Teil 1: 1740–1895, Wien 1985, 570–582. Zur Reform von 1900 vgl. ebd., Teil 2: 1896–1934, Wien 1985, 918–923. Zum Kleinbürgertum vgl. Hans-Ulrich Wehler, Die Geburtsstunde des deutschen Kleinbürgertums, in: Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.), Bürger in der Geschichte der Neuzeit, Göttingen 1991, 199–209.

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meinsamkeit der beiden Städte in ihrer staatlichen Situierung bestand darin, dass der Durchgriff der Migration auf die (kommunale) Politik durch die schnelle Naturalisierungspraxis in den USA und die Staatsbürgergemeinschaft der cisleithanischen Hälfte der Habsburgermonarchie gegeben war. Bei aller Gemeinsamkeit in manchen Facetten einer Physiognomie der kommunalpolitischen Regime in beiden Städten dürfen die Unterschiede aber nicht außer Acht gelassen werden. Einer dieser Unterschiede kann thesenhaft so formuliert werden: Ungeachtet der generell ,rauen‘, marktförmigen, administrativ wenig mediatisierten, gering traditionellen, latent gewalthaften Form der Entwicklung Chicagos als Großstadt und politische Arena22 verliefen die Transformationen des politischen Regimes ,sanft‘ und stellten eher Variationen innerhalb eines stabil bleibenden politischen Rahmens dar. Der Wechsel von der ,Honoratiorenherrschaft‘ in der überschaubaren Stadt der Jahre bis etwa zum Bürgerkrieg (1861–1865) zur Herausbildung der dezentralen machine politics (mit den Wechseln zwischen Demokraten und Republikanern im Amt des Mayor) in den folgenden Jahrzehnten und schließlich der Übergang zur stärker zentralisierten political machine der Demokratischen Partei in den Jahren nach dem Wahlsieg Anton Cermaks 193123 blieben mit Blick auf Klientelismus, Patronage und das spoils system (den Zugriff des Wahlsiegers auf die Verteilung der kommunalen jobs) nicht ohne Folgen für jene, die auf ,Leistungen‘ der jeweils herrschenden Partei angewiesen waren. Aber es ist fraglich, ob diese Übergänge und Parteiwechsel im Erleben der Stadt je als ,Bruch‘ spürbar gewesen sind, zumal die kommunale Demokratie, das allgemeine Wahlrecht (seit 1913 auch für Frauen), nie infrage stand. Schon der Umstand, dass außer den beiden Traditionsparteien der Demokraten und Republikaner keine andere Partei je Chancen auf einen relevanten Teil der politischen Macht geltend machen konnte, sorgte für ein hohes Maß an Stabilität, ungeachtet der Veränderungen innerhalb der Parteien und ihrer factions. Gravierende Wechsel in der Politik – verstanden als policy – waren von beiden Parteien nicht zu erwarten gewesen: Das Ideologem der „private city“,24 die Zurückhaltung im Ausbau der Interventionskompetenz der Stadtverwaltung, bildete einen Konsens der Parteien, der erst im New Deal der Jahre nach 1933 zerfiel. In Wien hingegen vollzogen sich Transformationen des kommunalpolitischen Regimes deutlich stärker als Bruch, nicht zuletzt deshalb, weil hier – anders als in den USA – Parteien agierten, die Repräsentanten klar abgegrenzter sozialmoralischer Milieus waren. Die 22 Vgl. grundsätzlich zur Geschichte Chicagos Marcus Gräser, Urbanisierung ohne administrative Kompetenz: Chicago 1880–1940, in: Wolfgang Schwentker (Hrsg.), Megastädte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, 27–55. 23 Vgl. Robin L. Einhorn, Property Rules: Political Economy in Chicago, 1833–1872, Chicago 1991, 22ff. 24 Vgl. Sam Bass Warner, The Private City: Philadelphia in Three Periods of Its Growth, Philadelphia 1991³.

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Ablösung des traditionellen Honoratiorenliberalismus durch die Christlichsoziale Partei Karl Luegers 1895/97 war insofern schon mehr als ein Elitenwechsel innerhalb einer ,politischen Klasse‘ und kam (in Tateinheit mit einer Ausweitung des Wahlrechts) einer Ablösung des ,alten‘ Bürgertums durch ein breiter verstandenes Bürgertum (unter Einschluss des Kleinbürgertums) gleich. Vollends deutlich wurde dieser Mechanismus der Ablösung von Milieus in den Veränderungen, die der Zerfall des Habsburgerreiches 1918 auslöste: Die volle Demokratisierung des Wahlrechts brachte bei den Gemeinderatswahlen 1919 die Sozialdemokratische Partei in die Mehrheit. Die Hegemonie der Partei im „Roten Wien“ wurde jedoch 1933/34 mit der Zerstörung der Demokratie und der Etablierung des autoritären „Ständestaats“ gewaltsam aufgelöst. Die derart erfolgte erneute Einsetzung der alten christlichsozialen Kommunalpolitiker (im neuen Gewand der „Vaterländischen Front“) wurde vier Jahre darauf mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich und die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Wien gleichfalls gewaltsam beendet. In beiden Städten produzierten diese Transformationen des kommunalpolitischen Regimes politische Verlierer vor allem im Bildungsbürgertum/in der educated middle class: Dieses Segment des Bürgertums, das in deutschen Städten aufgrund des Klassenwahlrechts (bis 1918/19) und der Besetzung der bürokratischen Ränge eine ganz besondere Machtstellung innehatte, spielte in der City Hall von Chicago aufgrund des allgemeinen (Männer)Wahlrechts und des geringen Bedarfs der Kommunalverwaltung an fachgeschulten Spezialisten keine Rolle; in Wien markierte der unwiderrufliche Machtverlust des Liberalismus durch den Aufstieg Luegers auch den Machtverlust weiter Teile des ,alten‘ Bürgertums (wenngleich sich ein josephinisches Amtsverständnis und ein bürgerliches Residuum in der kommunalen Bürokratie behaupten konnten). Die Reaktion dieser ,politischen Verlierer‘ fiel in beiden Städten unterschiedlich aus: Während – in der berühmten Deutung durch Carl Schorske – die jüngere Generation des Wiener Bürgertums auf den Machtverlust der liberalen Väter mit einer Sublimierung im Feld der modernen Kultur antwortete, entstand in Chicago (wie in den USA überhaupt) der progressivism25 als politische Reformoffensive und Sammlungsbewegung der machtfernen Teile des amerikanischen Bürgertums. 2. Inklusion/Exklusion. Eine Gemeinsamkeit der beiden Städte liegt darin, dass die Aushandlung der Frage, ob und wie Zuwanderung in Partizipation und politische Rechte übersetzt werden kann, ein zentrales Feld nicht nur der politischen Debatte, sondern des kommunalpolitischen Regimes insgesamt bildete. Ganz entscheidend für eine Einschätzung der Bedeutung der Zuwanderung für die Transformation des kommunalpolitischen Regimes ist die Analyse der Instrumente, mit denen Zugehörigkeit und politische wie soziale Rechte 25 Vgl. aus der zahlreichen Literatur etwa Alan Dawley, Struggles for Justice: Social Responsibility and the Liberal State, Cambridge ²1994, 99–171.

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gegeben oder verweigert werden konnten. Die Verschränkung von Gemeindestatut (Wer ist Gemeindemitglied und wer ist Auswärtiger?), Gemeindewahlordnung (Festlegung der Wählbarkeit) und Heimatsberechtigung (als staatliches Gesetz, das den Anspruch auf Armenversorgung im Fall der Bedürftigkeit regelte) ließ in Wien wenig Raum für Transparenz und schuf Gelegenheit für bürokratische Willkür sowie eine Politik des divide et impera. Vor allem am Beispiel der Regelung der Sesshaftigkeit, die für die in der Gemeindewahlordnung festgelegte Wahlberechtigung notwendig war, demonstrierte Lueger, wer in seinen Augen ,dazugehörte‘ und wer nicht; und es ist nicht erstaunlich, dass ein Politiker, der schon kein Honoratior mit extrem eingeschränkter Wählerbasis mehr war und sein wollte, sondern mit ,Massen‘ rechnete, die Spaltungslinie in den Debatten um den Aufenthaltsstatus nicht sozial, sondern ethnisch zog: Ich habe zu beobachten Gelegenheit gehabt, wie viele fluctuierende Elemente sich speciell unter den Arbeitern befinden; nicht unter den industriellen – dort steht es nicht so arg, das ist nicht wahr – sondern unter den anderen Arbeitern sind fluctuierende Elemente. Es trifft zum Beispiel die tirolischen Italiener, die nach Wien kommen und in Partien arbeiten; die Slovaken, die nach Wien kommen und hier arbeiten, insofern sie österreichische Unterthanen sind; die Gottscheer. Die sollen doch nicht maßgebend sein für die Geschicke der Stadt Wien. [...] Das wäre geradeso, als wenn ich einmal bei irgendjemand eingeladen bin, zu einem Mittagessen zu kommen, und ich möchte den Leuten den Speisezettel für das ganze Jahr machen. [...] Oder sagen wir, eine Familie nimmt eine Näherin auf ein paar Monate. Wird die Näherin das Recht haben, in Familienangelegenheiten zu sprechen? Gewiß nicht! Die Familie wird sagen: Du verdienst dir bei mir dein Brot, aber in meine Sachen dareinreden darfst du nicht, dazu hast du kein Recht!26

Ganz anders stand es um die amerikanische Stadt, die solche rechtlichen Instrumente aus sich selbst heraus nicht schaffen konnte, weil die Stadt hier nie ein Rechtsverband mit eigenem Bürgerrecht gewesen ist und auch die Frage nach der Inanspruchnahme der Armenversorgung im Angesicht des ohnehin nur rudimentär entfalteten öffentlichen Wohlfahrtswesens keine besondere Wirksamkeit entfalten konnte. Was in Wien verrechtlicht erschien, blieb in der amerikanischen Stadt – von der staatsbürgerlichen Naturalisierung durch Gerichte abgesehen – im Feld der private city und ihren Instanzen aus Parteien und privater Fürsorge. (Mit Blick auf die Volkswahl der Richter und die Unterwerfung der unteren Gerichtsinstanzen unter die Spielregeln von machine politics kann allerdings auch die Naturalisierungspraxis mindestens in den großen Städten dem Feld der private city zugerechnet werden.) Die Willkür war in diesem System nicht ausgeschlossen, aber letztlich ,berechenbarer‘, da die erwünschte 26 Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderathes vom 16. März 1899, in: Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 8 (1899), 753–788, hier: 782f.

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Gegenleistung für (schnelle) Naturalisierung und Leistungen der Stadtverwaltung manchmal in Geld, in jedem Fall aber in politischer Loyalität (Stimmabgabe!) bestand. Mit Blick darauf kann die These formuliert werden, dass in den amerikanischen Städten der Zugang der Migranten zu staatsbürgerlichen Rechten (Naturalisierung) und zur politischen Partizipation in den existierenden Parteien leichter zu bewerkstelligen war; durch das nur rudimentär entwickelte staatliche oder kommunale System der Wohlfahrtspolitik aber blieben die Migranten im Streben nach sozialer Sicherheit auf den Markt oder die „Parallelgesellschaft“ der ethnischen Selbsthilfeorganisationen angewiesen. Selbst dort wo die Naturalisierung eher verzögert wurde, weil ganz bestimmte Immigrantengruppen, vor allem aus Südund Osteuropa, in der zunehmend verschärften Debatte über erwünschte und unerwünschte Einwanderung stigmatisiert worden waren,27 blieb das Maß der De-facto-Inklusion im Sinne eines Verzichts auf ostentative Diskriminierung am Arbeitsplatz oder Behinderung der ethnischen Selbstorganisation hoch. In der österreichischen Reichshälfte (wie auch in Deutschland) hingegen war die Inklusion der Migranten in die Netze der Wohlfahrtspolitik (und des Rechtsstaates) leichter zu arrangieren als ihre Partizipation im politischen System und in den existierenden Parteien. Die Staatsbürgerschaft an sich war, wie das Beispiel der Tschechen in Wien (und der Polen im Ruhrgebiet, die zumeist aus den preußischen Ostprovinzen zugewandert und folglich im Besitz der preußischen Staatsbürgerschaft waren) zeigte, nicht ausreichend genug, um eine politisch gewollte Diskriminierung einer ethnischen Schulpolitik oder politischen Vereinsbildung zu verhindern.28 Nicht die Staatsbürgerschaft allein, sondern das (kommunal)politische Regime entschied hier über das Maß an Exklusion/Inklusion. 3. Parteibildung. Ein elementarer Teil des kommunalpolitischen Regimes sind die Parteien. Die Koppelung von allgemeinem (Männer)Wahlrecht und ethnisch prinzipiell offenen, inklusiven Parteien verhinderte in den USA die Herausbildung von ethnischen Parteien auf kommunaler Ebene. Die Herausbildung ethnischer Parteien in Wien (Tschechen und Jüdischnationale) war durch den eher exklusiven Gestus des politischen Regimes vorbereitet worden, gelang aber erst mit der vollen Demokratisierung des Wahlrechts 1919 – und stieß damit sogleich an signifikante Grenzen. Denn der große Wählermarkt, der nun entstanden war, erhöhte den Druck auf den neuen Hegemon, die Sozialdemokratie, um des eigenen Machterhalts willen inklusiv zu agieren, zumal die beiden ethnischen Parteien mit der Sozialdemokratie um Wähler aus der Arbeiterschaft konkurrierten und die tschechische Partei ausdrücklich

27 Vgl. Matthew Frye Jacobson, Barbarian Virtues: The United States Encounters Foreign Peoples at Home and Abroad, 1876–1917, New York 2000. 28 Vgl. Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt, München 1972, 338–365.

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eine sozialistische Partei sein wollte.29 Die Absicherung von zwei tschechischen Politikern auf der Liste der Sozialdemokraten und die ohnehin vorhandene Sympathie für die Sozialdemokratie in der jüdischen Wählerschaft (da der große und, bis zum Aufstieg der Nationalsozialisten, einzige30 Gegner der Sozialdemokratie, die Christlichsoziale Partei, programmatisch antisemitisch orientiert war) führten bei den Gemeinderatswahlen 1923 zu entscheidenden Wahlniederlagen der beiden ethnischen Parteien. Fortan sind Tschechen und Juden Teil der Wählerkoalition und des Erfolges des „Roten Wien“. ,Klasse‘ behielt die Oberhand über ,Ethnizität‘ – auch darin unterschied sich das „Rote Wien“ vom Regime Luegers.31 Dass es in den amerikanischen Städten – anders als in Wien – nicht zur Herausbildung von Parteien der ethnischen Gruppen kam, hängt freilich auch mit der ganz unterschiedlichen Organisationsform der amerikanischen Parteien zusammen, die – aber auch das ist natürlich nur im Zusammenhang des gesamten politischen Systems zu verstehen – nichts von Klassen, sozialmoralischen Milieus und Weltanschauungen wissen wollten, sondern reine Zweckbündnisse zur Erlangung und Verteidigung von politischer Macht darstellten. Es gehört zum Mysterium der amerikanischen Parteien, dass sie ,funktionierten‘, ohne über eine wirklich zentrale Organisation abseits der ,Macht‘ im Rathaus zu verfügen.32 Eben deshalb 29 Vgl. die Ausführungen des tschechischen Gemeinderats Machat in der Sitzung des Gemeinderats vom 22. Mai 1919: „Als Sozialisten sind wir stets an der Seite der wirtschaftlich Schwachen und Bedrückten. Wir werden alle Anträge, die auf die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage der arbeitenden Schichten der Wiener Bevölkerung abzielen, unterstützen und sind bereit, überall dort Hand anzulegen und mitzuwirken, wo es das Interesse des kleinen Mannes erheischt.“ (Stenographischer Bericht über die Sitzung des Gemeinderats vom 22. Mai 1919, in: Amtsblatt der Stadt Wien 27 (1919), 1193–1201, 1200.) Allgemein zu den beiden ethnischen Parteien vgl. Seliger/ Ucakar, 1163–1166. 30 Die Kommunistische Partei Österreichs war schwach, sodass von einer Spaltung der Arbeiterbewegung, wie etwa in Deutschland, nicht gesprochen werden konnte. Vgl. aus der Literatur zur KPÖ zuletzt Barry McLoughlin/Hannes Leidinger/Verena Moritz, Kommunismus in Österreich 1918–1938, Innsbruck 2002. 31 In vielerlei Hinsicht war die Organisation der Sozialdemokratischen Partei in Wien ein noch viel stärkeres funktionales Äquivalent zur amerikanischen Partei-machine als es Lueger und die Christlichsoziale Partei je sein konnten: Nicht nur vor dem Hintergrund der steten Wahlerfolge in den Jahren zwischen 1919 und 1934, sondern vor allem mit Blick auf den hohen Organisationsgrad (400.000 Mitglieder bei 1,9 Millionen Einwohnern im Jahr 1932) stand die Partei in Wien so perfekt da wie kaum eine andere lokale Partei in demokratischen Städten Europas. Deutsche Sozialdemokraten jedenfalls konnten von der Stärke der Wiener Partei nur träumen. Zur Organisation der Wiener Sozialdemokratie 1932 vgl. Bericht des Wiener Vorstandes an die Jahreskonferenz der Organisation Wien der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei am 28. Mai 1933, Wien o. J. (1933). 32 Auch die Christlichsoziale Partei in Wien funktionierte ohne ausgebaute Parteiorganisation, zumal man auf die Zuarbeit der städtischen Beamten setzen konnte: „Die Beamten ersetzten und kompensierten … parteiinterne Organisationsstrukturen. … Lueger selbst stand einem Ausbau

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aber waren sie – mussten sie – inklusiv sein und jeden Hauch einer möglichen separaten, ethnischen Parteibildung durch prinzipielle Kooptation zunichte machen. Dabei kann nicht davon gesprochen werden, dass die beiden Traditionsparteien, die Demokratische und die Republikanische Partei, die Ethnien als Ethnien ignorierten. Die schüttere Form der Parteiorganisation ließ keine separaten ethnischen Sektionen zu. Dennoch suchten beide Parteien natürlich das Netz der ethnischen Organisationen, vor allem über die viel gelesenen nicht-englischsprachigen Zeitungen, zu instrumentalisieren und boten den dort politisch sozialisierten Einwanderern, vor allem aber der second generation, alle Chancen zur politischen Mitarbeit. Damit wurden die gut aufgestellten ethnischen Organisationen und ihre Medien zu idealen Transmissionsriemen für die beiden Parteien. Sicherlich: Auch die Politik in Chicago kam nicht ohne exklusive Rhetorik und das Spiel auf der Klaviatur der ethnischen Spannungen aus, aber als These kann formuliert werden, dass der Zwang zur beständigen Aushandlung der Balance zwischen den rivalisierenden Parteien in der Zeit der dezentralisierten machine politics und der Balance zwischen den verschiedenen factions der stärker zentralisierten political machine (der Demokratischen Partei ab 1931) eine verfestigt rassistische oder definitiv ethnische Konstruktion des politischen (oder sozialen) Gegners nicht zuließ – der Preis hierfür wäre Unbeweglichkeit und Machtverlust gewesen.33 Das beste Beispiel für diesen Zwang zur Wachsamkeit und zur Bewahrung einer fragilen Balance bot der tapfere Kampf des City Council – der ansonsten aufgrund vieler korrupter aldermen (Stadträte) in keinem guten Ruf stand – gegen den Ku-Klux-Klan und seine Organisationserfolge auch unter städtischem Personal im Jahr 1921.34 Auf den ersten Blick mag Luegers Regime in Wien im Vergleich unähnlich anmuten, vor allem aufgrund seines ostentativen Antisemitismus und der Betonung des „deutschen Charakters“ der Stadt – beides fürwahr keine Zeichen einer inklusiven politischen Praxis. Gleichwohl hing Lueger „in his use of ... rhetoric“ von ihrer „marketability with the electorate“ ab.35 Sein Erfolg bestand darin, in einer Stadt mit einem zumindest teildemokratisierten politischen Regime und einer ethnisch inhomogenen Bevölkerung auf jene Gesinnung zu verzichten, die nur in einem sozialmoralischen Milieu Erfolg versprochen hätte. Der sozialdemokratische Publizist Friedrich Austerlitz hatte Lueger 1904 als Politiker charakterisiert, „der des Parteiapparates immer mißtrauisch gegenüber. Getrieben von der Befürchtung, dass seine persönliche Macht durch einen solchen Parteikader eingeschränkt werden könnte, betonte er nicht nur einmal: ‚Die Organisation bin ich.‘“ (Markus Benesch, Die Wiener Christlichsoziale Partei 1910–1934. Eine Geschichte der Zerrissenheit in Zeiten des Umbruchs, Wien 2014, 24.) 33 Vgl. die emphatische Betonung der „democratic openness“ der machine bei Jacobson, 190. 34 Vgl. Kenneth T. Jackson, The Ku Klux Klan in the City, 1915–1930, New York 1967, 108–111, und Jon C. Teaford, The Twentieth-Century American City, Baltimore ²1993, 61f. 35 Boyer, Radicalism, 194. In dieser Einschätzung Luegers spielt natürlich auch sein politischer Start auf Seiten der linken Demokratie eine Rolle.

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keine Gesinnung hat und also jede annehmen kann“.36 Es war ein offensiver Opportunismus, mit dem Lueger tatsächlich herrschaftstechnisch eher dem Typ des broker in der amerikanischen Großstadtpolitik gleichkam als dem Typ des Honoratioren-Politikers oder des Experten-Bürgermeisters, der in den deutschen Städten den politischen Ton angab. Austerlitz ahnte diesen Unterschied, den er in die Frage fasste (und sie verneinte): „Ist ein Lueger in Berlin denkbar?“37 Gleichwohl sah er die Wurzeln des Unterschieds eher in einem „Volks“- oder „Stadtcharakter“ – Lueger als der „wahre Wiener in der Politik“.38 Entscheidend aber war der Mix aus Demokratisierung und ethnischer Diversifizierung (real und als Imagination), der opportunity structures schuf, die in Wien von einem broker genutzt wurden und etwa in Berlin gar nicht vorhanden waren. 4. Die Machtposition der Bürgermeister. In Chicago – und in der amerikanischen Stadt allgemein – war der Typ des „gesinnungslosen“39 Mayor der Normalfall, dessen „politics of forceful inconsistencies“40 auch deshalb funktionierte, weil die Stadt aus fragmentierten (ethnischen) Milieus bestand, die untereinander nicht kommunizierten und nur in geringem Maß Anteil an einer, etwa über Zeitungen hergestellten, stadtweiten Öffentlichkeit nahmen: Die großen Tageszeitungen in englischer Sprache, die Chicago Tribune ebenso wie die Chicago Daily News, waren prononciert bürgerliche Blätter, die überwiegend im Milieu der white anglo-saxon protestant middle und upper class gelesen wurden,41 die Masse der Wählerschaft aber nicht erreichten. Nur in einer städtischen Gesellschaft mit segregierter Kommunikation (natürlich auch vor dem Hintergrund der Sprachenvielfalt in den ethnischen Milieus) war eine Politikerfigur denkbar, die bewusst Widersprüche und Inkonsistenzen in der politischen Aussage entfalten konnte, ohne dafür von den Wählern bestraft und von einer kritischen Öffentlichkeit lächerlich gemacht zu werden. Für Wien kann eine solch scharfe Segregation der Kommunikationsmilieus kaum vermutet werden, vor allem deshalb nicht, weil – anders als in der amerikanischen Einwanderungsstadt – die Mehrheitsbevölkerung einen stärkeren Block bildete, der gewiss eine Klassengesellschaft darstellte, aber dennoch durch gemeinsame Sprache und die mögliche Anrufung einer gemeinsamen Tradition (Geschichte, Religion etc.) eine latente Verbundenheit aufwies. Jedoch führte in Wien die Separierung der Wahlbevölkerung durch das Kurienwahlrecht 36 Friedrich Austerlitz, Lueger und die Arbeiter (1904), in: Austerlitz spricht. Aufsätze und Reden, Wien 1931, 219–222, hier: 219f. 37 Ders., Luegers Tod (1910), in: ebd., 222–229, hier: 224. 38 Ebd., 223. 39 Zur Kennzeichnung der amerikanischen Parteien als gesinnungslos vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 847. 40 Douglas Bukowski, Big Bill Thompson, Chicago, and the Politics of Image, Urbana 1998, 5. 41 Vgl. ebd., 45.

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und die damit einhergehende strukturelle Benachteiligung großer Bevölkerungsgruppen zu einer Situation, die der segregierten Kommunikation in amerikanischen Großstädten nicht unähnlich war – und sie markierte den Spielraum für den Massenpolitiker Lueger. Josef Redlich, liberaler Wiener Politiker mit Amerika-Erfahrung, sah in den Protagonisten der Christlichsozialen in Wien „,politicians‘ im amerikanischen Sinne“42 – und er hatte in der Kennzeichnung eines bestimmten politischen Regimes und des zugehörigen Politikertyps gar nicht Unrecht, zumal es auch in der Kommunalverfassung durchaus Übereinstimmung gab. Albert Shaw, einer der Kommunalexperten des progressive movement, verwies auf ein hohes Maß an Ähnlichkeiten zwischen dem Wiener und dem amerikanischen kommunalpolitischen Regime: Vor allem Wahl und Stellung des Wiener Bürgermeisters schienen, im Kontrast zum deutschen Muster des professional civil servant und analog zum machtvollen Mayor amerikanischer Städte, ein relatives Maß an Unabhängigkeit und somit einen Cäsarismus-Spielraum zu ermöglichen – der schließlich von Lueger auf eine Weise genutzt wurde, die Shaws 1895 erschienene Deutung nur bestätigte.43 Deutsche Oberbürgermeister vor 1918 (und oft auch darüber hinaus) waren Beamte, die sich nolens volens im politischen Raum bewegen mussten; die amerikanischen Mayors – waren Politiker, die sich nolens volens im administrativen Raum zu bewegen hatten.44 Im Gegensatz zu den amerikanischen Städten aber, die administrativ schwach kompetent waren, hatte Lueger von den Liberalen eine städtische Bürokratie übernommen und sie durch munizipalsozialistische Politik noch ausgeweitet. Er hatte sich – im Gegensatz zu den deutschen Oberbürgermeistern und den amerikanischen Mayors – wirklich in zwei Feldern gleichermaßen zu bewegen und konnte sie zur Spannung bringen: „In Luegers regime one found a fascinating example of the rationalization of politics by administrative force merged with the manipulation and control of administration by political power.“45 Dem Massenpolitiker Lueger war dabei eine Demagogie des Als-ob eigen: Der rassistische Diskurs hatte die Funktion eines Codes,46 er leitete aber keine eliminatorische Politik ein, ja war – im Falle von Lueger – noch nicht einmal darauf ausgerichtet, eine Bevölkerungsgruppe

42 Josef Redlich, Schicksalsjahre Österreichs 1908–1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs. Bd. 1: 1908–1914, Wien 1953, 8. (Den Gegensatz zu „politicians“ bildeten für Redlich die „statesmen“; Ausgangspunkt für seine Einschätzung war die Transformation der Christlichsozialen Partei von einer Partei Wiens hin zu einer Reichspartei und das allmähliche Hineinwachsen der christlichsozialen Politiker aus Wien in die Verantwortung für die nationale Politik.) 43 Albert Shaw, Municipal Government in Continental Europe, New York 1895, 416f. 44 Vgl. Boyer, Radicalism, 197. 45 Ebd. 46 Vgl. Shulamit Volkov, Antisemitismus als kultureller Code, in: Dies., Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, 13–36.

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in ihrem Verhältnis zur Stadt definitiv zu benachteiligen.47 Zum Muster des ,Als-ob‘ gehört zudem, dass die in der politischen Rhetorik aufscheinenden Zerrbilder in der Fantasie des Zuhörers bequem die Rolle seines Wunschgegners annehmen können. Je größer das Elektorat, desto deutlicher repräsentierten die Zerrbilder ein gesellschaftliches ,Oben‘: In diesem Sinne unterschieden sich Luegers Attacken gegen Juden funktional nicht von den ständigen Angriffen gegen den englischen König, mit denen der Chicagoer Bürgermeister William Hale Thompson (Amtszeit 1915–1923 u. 1927–1931) unter den aus Irland und Deutschland zugewanderten Wählern in Chicago in den Jahren zwischen 1915 und 1917 Furore machen konnte und das Fundament seiner Wählerkoalition legte.48 Das Muster des ,Als-ob‘ ersparte der Politik die Präzision: Von einer Substanz – etwa im Sinne einer auf Teilmilieus ausgerichteten Wohlfahrtspolitik – konnte in Chicago nicht die Rede sein, „it was only the appearance of concern that mattered to him. Publicity and the manipulation of issues came first“.49 Unterfüttert wurde diese Demagogie ,bestenfalls‘ durch ein System aus Klientelismus und Patronage, das freilich stärker nach politischer Loyalität und weniger nach ethnischen und ,rassischen‘ Zugehörigkeiten fragte. Auch aus diesem Grund konnte der Antisemitismus in Wien zu einer Art ,Integrationsangebot‘ werden, zum zentralen ,Assimilationsbeweis‘, den nicht wenige Tschechen in den antisemitisch getönten Fraktionen der Gewerbegenossenschaften praktizierten.50 Ein ähnliches Angebot machte Lueger auch den Sozialdemokraten und hier zielte sein Rassismus der Zuschreibungen auf eine Spaltung der Partei in Juden und ,Deutsche‘ ab. Generös rief er dem sozialdemokratischen Gemeinderat Jakob Reumann (er sollte in den Jahren 1919 bis 1923 ein Nachfolger Luegers im Amt des 47 Zur Charakteristik des Antisemitismus der Christlichsozialen Partei und Luegers vgl. auch Steven Beller, Wien und die Juden 1867–1938, Wien 1993, 211–216. Es bleibt freilich festzuhalten, dass ein einmal etablierter ,selbstverständlicher‘ Antisemitismus einen Eigensinn entfalten konnte und denjenigen in die Hände spielte, die mehr im Sinn hatten als nur ein Spiel auf der Klaviatur der populären Stereotype. 48 Vgl. Bukowski, Big Bill, 184f.: „To the literal-minded, talk about George V (or III, Thompson was not always clear which one he meant) and the threat of ,handing the king one on the snoot‘ were nonsense. But observers were too far removed from the lives of ordinary Chicagoans to understand: Thompson offered his audiences a double dose of emotional release. His ,king‘ could just as well be their ,boss‘, ,millionaire,‘ or ,newspaper publisher,‘ along with ,czar,‘ ,emperor,‘ or ,kaiser.‘ Dissatisfied workers also may once have been unhappy subjects. People at a Thompson rally were perfectly willing to take an entertaining primer on isolationism and add their own meaning. Thompson, no doubt, knew they would.“ 49 Ebd., 93. 50 Vgl. John, Migration (Ms.), 9 (unter Verweis auf Albert Lichtblau, Antisemitismus und soziale Spannung in Berlin und Wien 1867–1914, Berlin 1994, 116ff.). Zu antitschechischen Handlungen der Christlichsozialen Mehrheitspartei und der von ihr getragenen Verwaltung, etwa in der Personalpolitik, vgl. Glettler, Wiener Tschechen, 232–239 und 494–507.

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Bürgermeisters werden) 1900 in einer Debatte zu: „Sie sind ja kein jüdischer Führer“ – und holte sich von Reumann eine Abfuhr, die zeigte, dass sich dieser auf ein solches Angebot nicht einlassen wollte: Aber ich bitte Sie, Herr Bürgermeister, Sie wissen ganz gut, daß ich zu den jüdischen Führern der Socialdemokratie gerechnet werde, und wenn Sie heute hier die Erklärung abgeben, ich bin kein jüdischer Führer, so ist das mir ganz gleichgiltig, wie nur etwas. Mir ist ganz gleichgiltig, ob Sie mich für einen jüdischen oder arischen Führer halten.51

Der Antisemitismus Luegers war Teil eines Denkens in katholischer Hegemonie, welche die Gesellschaft nur nicht-pluralistisch sehen konnte. Aus der Perspektive einer Demagogie des ,Als-ob‘ war der Antisemitismus herrschaftspolitisch zuerst ein Antiliberalismus und dann auch ein Antimarxismus, gerichtet gegen den Liberalismus als politische und kulturelle Ausdrucksgestalt der traditionellen städtischen Oberschicht und die aufstrebende Arbeiterschaft; wirtschaftspolitisch war der Antisemitismus Luegers ein mittelständischer Antikapitalismus. Auch eine solche Deutung des Antisemitismus in der Herrschaftstechnik Luegers mag ihm – im Gegensatz zur Deutung von Austerlitz – eine Strategie unterstellen, die gleichwohl – und das steht wieder im Einklang mit Austerlitz – eher eine Strategie der Unterlassung und weniger eine solche der Aktion gewesen war. Otto Bauer, der führende Theoretiker des Austromarxismus, hatte gerade das im Sinn, als er nach dem Tod von Lueger festhielt: In den Worten Luegers: ,Laßt mir meine Böhm’ in Ruh’!‘ lag tiefe Weisheit, wollen die Deutschnationalen die Assimilation der Wiener Tschechen fördern, Wien den deutschen Charakter erhalten, dann müßten sie alles unterlassen, was die Scheidewand des Hasses zwischen Deutschen und Tschechen aufzurichten, den Verkehr zwischen ihnen zu erschweren vermag.52

Es mag im Blick auf einen Vergleich zwischen Wien und Chicago schon fast als Ausdruck historischer Ironie anmuten, dass der Mayor, mit dessen Wahlsieg 1931 die Hegemonie der Demokratischen Partei in Chicago begann, ein Zuwanderer aus Böhmen gewesen ist: Anton Cermak gilt als der große coalition builder, dessen Aufstieg nicht nur dem Zerfall der Republikanischen Partei während der Großen Depression zu verdanken war, sondern auch seinem Geschick in der Vernetzung der unterschiedlichen ethnischen Milieus. Während die Demokratische Partei vor Cermak eine dezentralisierte, in rivalisierende factions gespaltene Partei 51 Stenographischer Bericht über die öffentliche Sitzung des Gemeinderathes vom 26. Oktober 1900, in: Amtsblatt der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien 9 (1900), 2037–2077, hier: 2071. 52 Otto Bauer, Die Bedingungen der nationalen Assimilation (1912), in: Werkausgabe, Band 8, Wien 1980, 596–624, hier: 616 (Glettler, Wiener Tschechen, 331, weist darauf hin, dass das Zitat „Laßt mir meine Böhm’ in Ruh’“ nicht verifizierbar ist.).

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gewesen war, die – wie gespalten auch immer – von Iren dominiert wurde, ,entmachtete‘ Cermak diese bislang herrschende ethnische Gruppe, ohne jedoch eine andere an ihre Stelle zu setzen. Cermaks allmähliche Zentralisierung der Partei, der Wechsel von machine politics zur political machine,53 war zweifellos auch ein Ergebnis des großen Wahlsieges, der der Demokratischen Partei 1931 auf einen Schlag nahezu alle Wahlämter in die Hände gab. Der Ausbau der Herrschaft der Partei, der nach der Ermordung Cermaks 1933 seinem Nachfolger Edward Kelly (Amtszeit 1933–1947) gelang, war auch eine Folge der New-Deal-Politik Franklin D. Roosevelts, der den Not leidenden Städten federal money zur Verfügung stellte und damit vor allem Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanzierte, die wiederum ‚perfekt‘ in das hergebrachte System aus Klientelismus und Patronage eingespeist werden konnten. Die Zentralisierung der Partei und ihr politischer Erfolg aber ruhten nicht auf der Dominanz einer ethnischen Gruppe, sondern gelangen über die zentrale Stellung einer Figur, deren Aufgabe in der Wahrung der Balance bestand. Cermaks Erfolg in dieser Stellung hatte bereits 1915 begonnen, als er das Amt eines secretary der United Societies übernahm, einer ethnisch heterogenen Föderation von Vereinen, die gegen jedwede Form der Einschränkung des Alkoholkonsums auftrat. 1922 wurde Cermak president des Cook County Board of Commissioners (der ,Regierung‘ des counties, dem Chicago angehörte) und schuf sich durch solide Verwaltungsarbeit auch einen guten Ruf unter den bürgerlichen Reformern des progressive movement, deren Anspruch an good government durch machine politics sonst kaum zu erfüllen war. Cermaks Wirkung in der breiten Wählerschaft beruhte auf seiner Funktion als broker – und die wiederum wurde offenbar durch seine eigene ethnische Prägung erleichtert: Cermak’s ethnicity and cultural background made possible his political independence. Historically, Bohemia was Protestant and one of the most modern regions in Austria-Hungary. Raised in that environment, Cermak was less influenced by Catholicism and tradition than were the Irish. Also, as a product of Central Europe, Cermak was accustomed to heterogenous populations; there were always Moravian, Polish, and Slovakian neighbors living down the road. In contrast, their experience with the English tended to give the Irish an us-versus-them view of politics. While too proud a Bohemian to admit it, Cermak survived with the political instincts of a Hapsburg – he knew how to organize and build political coalitions.54

Freilich kann keine Rede davon sein, dass Cermak tatsächlich eine ,Lehrzeit‘ in der Politik der Habsburgermonarchie absolviert hätte – er kam schon im Alter von einem Jahr in die USA. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass er tatsächlich familiär tradiert mit 53 Vgl. Einhorn, 22ff. 54 Bukowski, Big Bill, 233.

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der Situation einer religiösen/ethnischen Minderheit im Herkunftsland vertraut war und von daher nicht auf die ,us-versus-them‘-Dominanz einer ethnischen Gruppe in Chicago setzte, sondern eher auf das sorgfältig orchestrierte Zusammenspiel unterschiedlicher Ethnien. Man kann das durchaus mit Ironie als „political instinct of a Hapsburg“ kennzeichnen – und sollte mit Blick auf die bis heute ungebrochene Hegemonie der Demokratischen Partei in Chicago hinzufügen, dass Cermak dann unbedingt zu den wenigen wirklich erfolgreichen ,Habsburgern‘ zu zählen wäre. Gleichwohl gilt auch für Cermak, dass er seiner Zeit ähnlicher sah als seinen Großvätern55 – zuallererst war es ein Chicago-Instinkt, der ihm Anlass zu seiner Politik der ethnischen Balance gab. 5. Gallert-Demokratien? Der Unterschied in der Demokratisierung der beiden Städte markiert einen ,Unterschied ums Ganze‘: Gerade durch die Abstufung des Wahlrechts sind die beiden großen sozialmoralisch(-politischen) Milieus, welche die Geschichte Wiens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bestimmt haben, erst konstituiert worden. Die Christlichsoziale Partei organisierte – grosso modo – das Kleinbürgertum, das sich mit dem erweiterten Wahlrecht über jene erheben konnte, die vom Wahlrecht nach wie vor benachteiligt blieben: die Arbeiterschaft, die durch die Sozialdemokratie repräsentiert wurde. Diese zog aus eben jener Abgrenzung einen nicht geringen Teil ihrer agitatorischen Energie und der Glaubwürdigkeit ihrer politischen Überzeugung; zugleich war mit dieser unvollkommenen Demokratisierung auch die politische Freund-Feind-Linie gegeben.56 Gerade durch den intrikaten Zusammenhang zwischen Wahlrecht, politischer Organisation und der klaren Abgrenzung gegenüber dem weltanschaulichen Gegner sind die beiden großen ,Klassen‘ der Politik in Wien – das christlichsoziale Kleinbürgertum und die sozialdemokratische Arbeiterschaft – immer auch etwas artifiziell ausgefallen, sie waren eben tatsächlich nicht mehr amorphe Klassen ,an sich‘ (wie dies vielleicht für die diffusere, weil politisch weniger eindeutig sortierte soziale Schichtung von Chicago gelten mag), sondern Klassen ,für sich‘, deren Bewusstheit weniger das Ergebnis sozialer Kämpfe als ein Resultat politischer Organisation gewesen ist. Vorsichtig lässt sich also von zwei Varianten der Massen-Politik sprechen: In Wien ,erzog‘ die Politik die ,Klasse‘ und wies einem Teil der städtischen Gesellschaft damit zugleich die Aufgabe zu, Avantgarde oder gar ,allgemeiner Stand‘ und Träger des gesellschaftlichen Fort55 Vgl. Marc Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 1994, 32. 56 Die Konsequenzen der Wahlrechtsreform von 1907, die in der cisleithanischen Reichshälfte das allgemeine Männerwahlrecht für den Reichsrat einführte, für das kommunalpolitische Regime in Wien sind ein Desiderat der Forschung. Zur Bedeutung der Reform für die weitere Entwicklung der Demokratie in Österreich vgl. John W. Boyer, Power, Partisanship, and the Grid of Democratic Politics: 1907 as the Pivot Point of Modern Austrian History, in: Austrian History Yearbook 44 (2013), 148–174.

„Gallert-Demokratien“?

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schritts zu sein. In Chicago verhielt es sich insofern umgekehrt, als der Weg von der Klasse an sich zur Klasse für sich kaum je beschritten wurde: Eine Lagerbildung oder gar die Segmentierung sozialmoralischer Milieus entlang der Grenzen des gewährten/verweigerten Wahlrechts blieb aus, die Heraushebung einer Gruppe als Avantgarde, die zwangsläufig alle anderen ins Abseits gestellt hätte, war nicht möglich. Entsprechend fehlt in der politischen Sprache der amerikanischen Stadt jede Andeutung separater Klassen; selbst ein Begriff wie working class ist viel inklusiver als die deutsche Übersetzung ,Arbeiterklasse‘. Beiden Varianten gemein aber war der Cäsarismus-Spielraum – und der wiederum war nicht denkbar ohne das Phänomen der dynamischen Großstadt, deren Entwicklung zahlreiche Bruchlinien aufwies, aus denen in Wien die unvollkommene Versöhnung einer ethnisch pluralen Gesellschaft mit einem teildemokratisierten kommunalpolitischen Regime hervorstach. Hermann Broch hat in seiner im amerikanischen Exil 1947/48 entstandenen Studie über Hugo von Hofmannsthal Wien (und Österreich) als „Gallert-Demokratie“ beschrieben: Das Sozialgebilde hier hatte mit politischer Demokratie überhaupt nichts zu tun: als Produkt der österreichischen Substanzlosigkeit, in der keiner keinen ernst zu nehmen vermochte, weil außer der Staatssubstanz der Krone nichts ernst zu nehmen war, wurde auch das Sozialgebilde substanzlos, wurde zu einer Art Gallert-Demokratie, in der, wenn’s drauf ankam, die Grafen die Allüren von Fiakern und die Fiaker die Allüren von Grafen annahmen; es war ein sozialer Schwebezustand ... und er konnte es sein, weil die herrschende Blüteperiode alles in Schwebe hielt. Wenn irgendwo, so war hier eine staatenlose Gesellschaft zustanden gekommen, nicht nur weil sie ... stets über die Staatsgrenzen hinaus ins Internationale schielte, sondern noch viel mehr, weil innerhalb dieser Grenzen statt eines Staates ein Abstraktum sich befand.57

Brochs Begriff der „Gallert-Demokratie“ ist schillernd und kann die Spannung zwischen gesellschaftlicher Kohäsion und gesellschaftlicher ,Formlosigkeit‘ (einer gewissen Flexibilität der sozialen An-Ordnung) kennzeichnen und zugleich das Augenmerk auf den Kitt – den Gallert – richten, der trotz oder wegen der Spannung vorhanden ist und eine ,populäre‘ Komponente aufweist. Auch wenn Broch die Schwächen Österreichs (der österreichischen Hälfte des Habsburgerreiches) im Blick hatte (und nicht primär Wien) und ihn vor allem das Dilemma der Aristokratie beschäftigte, verspricht der Begriff der „Gallert-Demokratie“ doch genug heuristische Flexibilität, um allgemeine Erscheinungen im politischen Regime von Städten, deren Urbanisierungsprozess durch Demokratisierung und Massenzuwanderung geprägt ist, kennzeichnen zu können. Sind Wien und Chicago auf ihre Weisen „Gallert-Demokratien“, „staatenlose Gesellschaften“ im „sozialen Schwebezustand“?

57 Broch, Hofmannsthal, 75.

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Tatsächlich wurde in beiden Städten – und eben als Charakteristikum einer wenn nicht ,staatenlosen‘, so doch ethnisch pluralen Gesellschaft – das vorhandene Maß an politischer Demokratie (das Broch für Österreich etwas unterschätzt) durch Patronage, Klientelismus und Korruption ,ergänzt‘. Ohne Zweifel waren dies urbane Adaptionen einer sozialen Praxis, die eher aus dem ländlichen Raum und aus (halb)feudalen Zuständen herrührte; und insofern handelte es sich dabei auch um ein ,Anschmiegen‘ der kommunalen Politik an Herkunft und Lebenswelt der meisten der Zugewanderten. Nicht zu unterschätzen ist daher, dass gerade Patronage, Klientelismus und Korruption wesentliche Bindemittel – „Gallert“ – einer städtischen Gesellschaft darstellten, in der ethnische Gemeinschaften gewissermaßen en bloc an die kommunale Politik und ihre Versorgungsleistungen (Jobs, Naturalisierung, lokale Justiz) angebunden werden mussten. Das Phänomen der „Parallelgesellschaft“ erweist sich vor solchem Hintergrund weder als unbedingter Ausdruck eines Nationalitätenkampfes (in Wien) noch als demokratiegefährdendes Faktum in der amerikanischen Großstadt; vielmehr stellt es eine den Bedürfnissen der Zuwanderer entsprechende Anpassungsleistung dar, einen Übergang von der ,negativen Integration‘ einer ethnischen community en bloc hin zur Integration durch eine zusehends individuelle Adaption an die bestehenden Verhältnisse.58 Exemplarisch kam dies am Interesse der Wiener Tschechen an tschechischen Schulen in der Stadt zum Ausdruck: Was die Hüter des „deutschen Charakters“ der Stadt nur als Affront und Irredentismus werten wollten, war in den Augen eines Bildungsexperten aus Prag nichts anderes als Ausdruck eines Wunsches nach Assimilation: „Die Kinder gehen in die tschechischen Schulen nur deshalb, weil die Eltern der Meinung sind, daß sie dort leichter Deutsch lernen.“59 Brochs Beobachtung einer äußerlichen Nivellierung der Verhaltensformen, die im Fiaker-Beispiel exakt auf Wien zugeschnitten ist, mag auf die Verhältnisse der Imitation einer höfischen Gesellschaft im großstädtischen Rahmen zutreffen; funktionale Äquivalente, die ebenfalls jene äußerliche Nivellierung zur Folge haben, finden sich in Chicago aber durchaus: etwa die demokratische Massenkultur der politischen Spektakel und der ethnic parades.60 58 Vgl. Rolf Lindner, Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Frankfurt am Main 1990, 207: „Der Rückzug in die kulturelle Nische ... ist eine Möglichkeit der behutsamen Akklimatisierung an ein fremdes Kulturmilieu, mit dem ungeschützt konfrontiert zu sein ansonsten zur Desorientierung führen würde.“ Die Parallelgesellschaft ist letztlich auch nur ein Ausdruck jener Tendenz, die in der Soziologie der Chicago School, bei Robert Ezra Park, in das Bild des „marginal man“ gepackt wurde: „ein Mensch am Rande zweier Kulturen und zweier Gesellschaften, die einander nie völlig durchdrangen und nie völlig miteinander verschmolzen.“ (Robert E. Park, hier zit. nach ebd., 203.). 59 Frantisek Belehrádek (1910), hier zit. nach Glettler, Wiener Tschechen, 101 (vgl. zur Interpretation auch ebd., 90–93). 60 Vgl. Kathleen Neils Conzen, Ethnicity as Festive Culture: German-Americans on Parade, in: Werner Sollors, The Invention of Ethnicity, Oxford 1989, 144–176.

„Gallert-Demokratien“?

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All das darf über einen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Städten nicht hinwegtäuschen: Während die machines der Demokraten und Republikaner – und sei es auch nur wegen der Konkurrenz der beiden Parteien, der Existenz interner, rivalisierender factions, der Schwäche der Sozialistischen Partei und der obwaltenden Korruption – nach dem Muster der Inklusion funktionierten und unter den Bedingungen eines allgemeinen (Männer)Wahlrechts keine potentiellen Wähler, auch nicht die African-Americans, ausschließen konnten, beharrte Lueger auf dem Instrument der Exklusion, nicht so sehr durch die Politik des ,Alsob‘ als vielmehr durch die handfeste Praxis des fortbestehenden Kurienwahlrechts, dessen Demokratisierung ihm nur in Tateinheit mit restriktiven Sesshaftigkeitsklauseln wünschenswert erschien.61 Darin lag die Grenze seiner Befähigung zum broker. Bis 1918 lässt sich das kommunalpolitische Regime in Wien als ,Plateau‘ typisieren: Auf dem Plateau befanden sich all jene, die dem „deutschen Charakter“ der Stadt in keiner Weise widersprachen, ,unterhalb‘ des Plateaus befanden sich nicht nur jene, die im Kurienwahlrecht benachteiligt blieben, sondern vor allem die, denen, wie der tschechischen Minderheit, ungeachtet ihrer tatsächlichen Adaptionsanstrengungen die Anerkennung als gleichberechtigte politische Akteure verweigert wurde. Im Gegensatz hierzu lässt sich das kommunalpolitische Regime in Chicago als ,Pyramide‘ typisieren, die eine klare Unterscheidung zwischen ,oben‘ und ,unten‘ zulässt und dennoch ein Gesamtgefüge darstellt, in dem kein Teil ohne anerkannte Funktion ist und insofern Anerkennung als Akteur findet.62 In dieser Hinsicht kann Chicago als „Gallert-Demokratie“ angesehen werden, denn die frühe Herausbildung eines politischen Massenmarkts förderte die inklusive Tendenz, während Wien bestenfalls eine vorgetäuschte „Gallert-Demokratie“ genannt werden kann.

61 Vgl. Detlef Lehnert, Kommunale Institutionen zwischen Honoratiorenverwaltung und Massendemokratie. Partizipationschancen, Autonomieprobleme und Stadtinterventionismus in Berlin, London, Paris und Wien 1888–1914, Baden-Baden 1994, 187–196. 62 Zur Unterscheidung von „Plateau“ und „Pyramide“ (ohne Rekurs auf Chicago) vgl. Glettler, Wiener Tschechen, 286.

Andreas Weigl

Wien um 1900 – ein Sonderfall in der Wiener Migrationsgeschichte? Der „Schmelztiegel“ in der kollektiven Erinnerung

In der retrospektiven Wahrnehmung erscheint die Geschichte des demografischen Wachstums Wiens im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert als eine Geschichte von Zuwanderung im exzeptionellen, zuvor und danach nie erreichten Ausmaß. Der Kulminationspunkt wird dabei zumeist in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges gesetzt, als Wien bekanntlich zur 2-Millionen-Metropole wuchs. Diese nach 1918 nicht mehr erreichte Einwohnerzahl wird mit einer in ihrer Dimension anschwellenden Zuwanderungswelle direkt in Verbindung gebracht. Ein diese Sichtweise charakterisierendes Zitat findet sich etwa im Katalog der Mitte der 1980er-Jahre viel beachteten Wiener Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“: Vor allem seit der Aufhebung der Grundherrschaft hatte aus den nordöstlichen Gebieten der Monarchie, speziell aus Böhmen und Mähren, eine gewaltige Zuwanderungswelle eingesetzt, die bis 1890 die Bevölkerungszahl inklusive der nun eingemeindeten Vororte auf über 1,3 Millionen hinaufschnellen ließ.1

Aber war diese Zuwanderungswelle wirklich so einmalig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag? Schon in den späten 1970er-Jahren hat Peter Feldbauer in seiner klassischen Studie über „Stadtwachstum und Wohnungsnot“ darauf hingewiesen, dass der Einfluss der Wanderung auf das Stadtwachstum im Vormärz bedeutend höher war als um die Jahrhundertwende, wenn er auch nach den Stadterweiterungen von 1890/92 und 1904/05 Wanderungsgipfel konstatierte.2 Die 1990 erschienene kommentierte Quellensammlung „Schmelztiegel Wien“ von Michael John und Albert Lichtblau lieferte dazu vor allem für die tschechische und jüdische Migration eindrucksvolle Belege.3 Massenmigration spielte also für das demografische 1

2 3

Gerhard Meißl, Vom Januskopf zum Wasserkopf. Einige Überlegungen zum sozioökonomischen Entwicklungsniveau Wiens um die Jahrhundertwende, in: Traum und Wirklichkeit – Wien 1870–1930 (93. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien), Wien 1985, 218–220, hier: 219. Peter Feldbauer, Stadtwachstum und Wohnungsnot. Determinanten unzureichender Wohnungsversorgung in Wien 1848 bis 1914 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 9), Wien 1977, 41. Michael John/Albert Lichtblau, Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung von Minderheiten, Wien – Köln – Weimar 1990, 150–151, 155–156.

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Wachstum Wiens nicht erst seit dem Fin de Siècle eine zentrale Rolle. Schon ein erster Blick auf die Zeitreihe der natürlichen Bevölkerungsbewegung lässt erkennen, dass sich die Wiener Bevölkerung, wie die vieler anderer Großstädte, über weite Phasen ihrer Geschichte nicht selbst reproduzierte. Das Bevölkerungswachstum beruhte vielmehr über lange Phasen der Stadtgeschichte auf einer fast durchgängig positiven Wanderungsbilanz. Wohl fiel die Geburtenbilanz in Wien in Jahren nach großen Seuchenausbrüchen – gut dokumentiert nach den Pestwellen von 1679 und 1713 – kurzfristig positiv aus,4 doch war auch dies wahrscheinlich primär auf den Zuzug und die Erleichterung von Eheschließungen von Zuwanderern und nur in zweiter Linie auf eine erhöhte Fertilität der ansässigen Bevölkerung zurückzuführen. Selbst die von etwa 1856 bis 1914 lang anhaltende Phase von Geburtenüberschüssen5 stand zumindest teilweise mit der Altersstruktur und der damit verbundenen überdurchschnittlichen Fertilität der Migranten und Migrantinnen in Verbindung. Es fehlt allerdings sowohl im Fall Wiens als auch im Fall anderer Großstädte nach wie vor an Studien, die das generative Verhalten von Zuwanderern und der Geburtsbevölkerung in ihrer Auswirkung auf das demografische Wachstum für das 18. und 19. Jahrhundert hinlänglich detailliert untersucht hätten. Sieht man also von der banalen Feststellung ab, dass die Metropole Wien zum Zeitpunkt ihres höchsten Bevölkerungsstands in absoluten Zahlen auch den höchsten Stand an Zuwanderern beherbergte – und das bekanntlich mehr schlecht als recht6 –, ist die Zuspitzung der historischen Migrationsbewegungen nach und von Wien im Hinblick auf das Fin de Siècle zu hinterfragen. Ein bloßer Blick auf die vom vormaligen Österreichischen Statistischen Zentralamt auf Basis der Ergebnisse der zeitgenössischen Volkszählungen und der Geburten- und Sterbestatistiken errechneten Geburten- und Wanderungsbilanzen der österreichischen Bundesländer nach dem ungefähren heutigen Gebietsstand genügt, um zu zeigen, dass in den Jahrzehnten von 1890 bis 1900 und von 1900 bis 1910 Wanderungs- und Geburtenbilanz etwa zu gleichen Teilen zum demografischen Wachstum Wiens beigetragen haben, während in den Jahrzehnten davor der positive Wanderungssaldo den weitaus größeren Anteil am Bevölkerungswachstum hatte.7 Dieser Befund wird auch durch weiter in die Migrationsgeschichte zurückgreifende Studien nachdrücklich bestätigt. Vor allem Arbeiten zur Sozialgeschichte des Wiener Handwerks in der frühen Neuzeit und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben beeindruckende 4

5 6 7

Andreas Weigl, Frühneuzeitliches Bevölkerungswachstum, in: Peter Csendes/Ferdinand Opll, Wien. Geschichte einer Stadt 2: Die frühneuzeitliche Residenz, hrsg. Karl Vocelka/Anita Traninger, Wien – Köln –Weimar 2003, 109–131, hier: 120–121, 128. Andreas Weigl, Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien (Kommentare zum Historischen Atlas von Wien 1), Wien 2000, 365–366. Michael John, Hausherrenmacht und Mieterelend. Wohnverhältnisse und Wohnerfahrung der Unterschichten in Wien 1890–1923 (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 14), Wien 1982. Statistik Austria, Statistisches Jahrbuch Österreichs 2008, Wien 2007, 41.

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Belege für die hohe Mobilität in der vor- und frühindustriellen Periode der Stadtgeschichte erbracht und damit die explizit und implizit im Raum stehende These von der Einzigartigkeit der letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie in der Wiener Migrationsgeschichte einigermaßen erschüttert.8 Ihre Begründung findet sie nunmehr in erster Linie aus dem Wandel der Herkunftsregionen der Mehrheit der Migranten und Migrantinnen und ihrer sprachlichen und religiösen Zugehörigkeit. Aber auch diese „kulturelle“ Argumentation kam neuerdings vonseiten der historischen Kulturwissenschaften ins Wanken. In seiner Monographie „Das Gedächtnis der Städte“ hat Moritz Csáky auf die in das 18. Jahrhundert zurückreichenden Wurzeln des „Schmelztiegels“ hingewiesen. In der Wahrnehmung Einheimischer und Fremder zählte der „orientalische Charakter“ (Frances Trollope) der Stadt schon weit vor dem Fin de Siècle zu den einschlägigen Signés der Donaumetropole.9 Was war aber nun die Geschichte der Wanderungen nach und von Wien im Fin de Siècle? War sie Endpunkt eines an seine Grenzen stoßenden Wachstumsprozesses oder einer durch den Ersten Weltkrieg und den Kollaps der Habsburgermonarchie exogen gestoppten „primate city“10-Dynamik? Oder hält der „Schmelztiegel“-Topos ebenso wenig wie jener von „Alt-­ Wien“ – einer Stadt, die so, wie sie im Diskurs konstruiert und verklärte wurde, niemals existiert hat?11 Um sich der Beantwortung dieser Fragen zu nähern, erscheint es zunächst einmal notwendig, die historisch-demografischen Makrobefunde in Erinnerung zu rufen, denn diskursive Konstrukte sagen zwar einiges über öffentliche Befindlichkeiten, über Innen- und Außensichten aus, sie werfen aber allzu oft ein Zerrbild auf sozioökonomische Veränderungen, wie manche rezente Debatten über Migration deutlich machen. Es geht also darum, den Platz der Jahrhundertwende in der Migrationsgeschichte Wiens zu bestimmen. Besonderes Interesse kann in diesem Zusammenhang die Zuwanderung von tschechischen und jüdischen Migranten und Migrantinnen beanspruchen, weil es sich dabei nicht zuletzt um jene Hauptgruppen der Wien tangierenden Migration handelte, mit denen die scheinbar oder tatsächlich außergewöhnliche Situation um die Jahrhundertwende assoziiert wird. Die Geschichte dieser beiden Migrantengruppen gibt jedoch auch Hinweise auf den im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts erkennbaren Wandel, der die populare Wahrnehmung eines als Ausnahmefall 8

Josef Ehmer, Worlds of Mobility: Migration Patterns of Viennese Artisans in the Eighteenth Century, in: Geoffrey Crossick (Hrsg.), The Artisan and the European Town, 1500–1900, Aldershot 1997, 172–199. 9 Moritz Csáky, Das Gedächtnis der Städte. Kulturelle Verflechtungen – Wien und die urbanen Milieus in Zentraleuropa, Wien – Köln – Weimar 2010, 213–234. 10 Unter „primate city“ ist eine alle anderen Städte eines Landes politisch, demografisch und ökonomisch deutlich dominierende Großstadt zu verstehen. 11 Wolfgang Kos/Christian Rapp (Hrsg.), Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war (316. Sonderausstellung des Wien Museums), Wien 2004.

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betrachteten stadtgeschichtlichen Zuwanderungszeitalters stützt. Abschließend sollen die Folgen dieser selektiven Tradierung der Jahrhundertwende für die spätere Migrationsgeschichte thesenhaft skizziert werden. 1. Quantitative Indikatoren zur Wiener Migrationsgeschichte

Es liegt auf der Hand, dass Zeitreihen, die auf dem Einwohnerstand des jeweiligen Stadtgebiets beruhen, für die Bestimmung des Einflusses der Wanderungsbewegungen auf das demografische Wachstum nur bedingt geeignet sind. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, für das heutige Stadtgebiet, eine räumlich und zeitlich voll vergleichbare Einheit, den Verlauf und den Einfluss des Wanderungsgeschehens auf das Bevölkerungswachstum abzuschätzen. Für eine langfristige Betrachtung der quantitativen Veränderungen der Wanderungsbewegungen nach und aus Wien in den letzten drei Jahrhunderten stehen vor allem drei Indikatoren zur Verfügung: der Wanderungssaldo, die Nettomigrationsrate und der nach Herkunftsgebieten aufgeschlüsselte Anteil der Bevölkerung (oder der Verstorbenen) nach Geburtsort bzw. Geburtsland; Letzterer allerdings im Wesentlichen vor der zweiten Stadterweiterung von 1890/92 nur für Stadt und Vorstädte bzw. das jeweilige Stadtgebiet. Jährliche Ein- und Auswanderungsraten lassen sich für den gesamten betrachteten Zeitraum mangels fehlender Daten nicht berechnen. Die diskutierten demografischen Indikatoren belegen daher im Wesentlichen nur das langfristige Resultat von Wanderungsbewegungen, nicht jedoch saisonale und konjunkturelle Komponenten. Immerhin sind auch Anhaltspunkte zum Verhältnis von Zu- und Abwanderung für einzelne Migrantengruppen und für die letzten Jahrzehnte der Donaumonarchie vorhanden. Beispielsweise bei den Wiener Tischlergesellen bestand in den 1760er-Jahren zwischen jährlich Zugewanderten und den tatsächlich im Gewerbe Beschäftigung Findenden ein Verhältnis von etwa drei zu eins, bei den Schneidergesellen im Jahr 1837 eines von sieben zu eins. Nach einer Schätzung wanderten nicht weniger als zumindest 140.000 Gesellen aller Gewerbezweige pro Jahr im Vormärz nach Wien zu.12 Zum Vergleich: Nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 31.12.1910 lebten fast 300.000 der zwei Millionen Einwohner Wiens erst seit weniger als zwei Jahren in der Stadt.13 Für die in der österreichischen Reichhälfte geborene 12 Josef Ehmer, Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 20), Frankfurt am Main – New York 1994, 106; Ehmer, Worlds of mobility, 187. 13 Eigene Berechnungen nach: Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. Dezember 1910 in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern. Heft 3: Die Alters- und Familienstandsgliederung und Aufenthaltsdauer, hrsg. K. k. statistische Zentralkommission (Österreichische Statistik NF 1), Wien 1914, 100–101.

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Bevölkerung liegen für den Zeitraum 1880–1910 auch zeitgenössische statistische Auswertungen der Gesamtzahl der Zu- und Abwanderer vor, die das Verhältnis dieser beiden Größen wohl insgesamt zutreffend beschreiben. Demnach wanderten in den letzten Jahrzehnten der Donaumonarchie rund fünfmal so viele Binnenmigranten in einem Jahrzehnt zu als ab. Beispielsweise 1890–1900 standen einer Dreiviertelmillion Zuwanderer 150.000 Abwanderer gegenüber.14 Es erscheint angesichts der zuvor erwähnten Befunde aus einzelnen Gewerbszweigen durchaus plausibel, eine ähnliche Relation zwischen Zu- und Abwanderern auch für die Zeit vor 1880 anzunehmen. Mit dem Wanderungssaldo, der Bilanz der Zu- und Abwanderungen zwischen den Zählungszeitpunkten, steht ein Indikator von passabler Aussagekraft für den mittelfristigen Einfluss des Wanderungsgeschehens auf die demografische Entwicklung zur Verfügung. Die seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert geschlossen vorliegenden Reihen der Lebendgeborenen und der Sterbefälle für die Stadt und die Vorstädte erlauben es, den Wanderungssaldo als Restgröße zu ermitteln, sofern der Bevölkerungsstand bekannt ist. Dies ist allerdings erst ab 1754, dem Jahr der ersten Volkszählung, der Fall. Für die Zeit davor liegen lediglich einige grobe Schätzungen vor, die den Nachteil haben, im Wesentlichen aus der Zahl der Taufen und Sterbefälle abgeleitet zu sein. Die für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts errechneten Wanderungssalden sind demnach, weil bis zu einem gewissen Grad tautologisch gewonnen, mit Vorsicht zu interpretieren. Um ein langfristig vergleichbares Bild für das gesamte Gebiet des modernen heutigen Wien zu gewinnen, sind auch noch die Vororte zu berücksichtigen, über die allerdings vor 1869 nur Bevölkerungsstände nach den diversen Militärkonskriptionen, aber nur wenige, nicht weiter als 1850 zurückreichende Auszählungen der Taufen und Sterbefälle vorliegen. Aufgrund der temporär hohen Mortalität (Blattern-, Fleckfieber-, Typhus- und Choleraepidemien) sind zumindest für die Zeit der Napoleonischen Kriegs und die 1830er- und 1840er-Jahre größere Geburtenüberschüsse auch in den Vororten, einschließlich der erst im Lauf des 20. Jahrhunderts zu Wien gekommenen jenseits der Donau gelegenen Gebieten („Transdanubien“), die beispielsweise von den ersten Cholera-Epidemien ebenso wie Stadt und Vorstädte betroffen waren,15 wenig wahrscheinlich. Die Bevölkerungszahl der Vororte 14 K. k. Statistische Zentralkommission, Die Ergebnisse der Volkszählung vom 31. December 1900, in: Österreichische Statistik 63 (1903) Heft 2, xxvi; Annemarie Steidl, Ein attraktiver Anziehungspunkt für Zuwanderer aus ganz Europa. Wanderungsmuster nach Wien, 1740–2010, in: Andreas Weigl/Peter Eigner/Ernst Gerhard Eder (Hrsg.), Sozialgeschichte Wiens 1740–2010. Soziale und ökonomische Ungleichheiten, Wanderungsbewegungen, Hof, Bürokratie, Schule, Theater, Innsbruck – Wien – Bozen 2015, 375–434, hier: 383. 15 Darstellung der Brechruhr=Epidemie in der k. k. Haupt= und Residenzstadt Wien, wie auch auf dem flachen Lande in Oesterreich unter der enns, in den Jahren 1831 und 1832, nebst den dagegen getroffenen sanität=polizeylichen Vorkehrungen, hrsg. Joseph Johann Knolz, Wien 1834.

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nahm allerdings trotz dieser Epidemien schon seit den 1830er- und 1840er-Jahren rasant zu16 und das Wachstum setzte sich in den folgenden Jahrzehnten ungebrochen fort.17 Hauptverantwortlich dafür war der positive Wanderungssaldo. In den Jahrzehnten vor ihrer Eingemeindung 1850–1890 betrug der Anteil der Wanderungen am gesamten demographischen Wachstum der heutigen Außenbezirke rund 85 Prozent. Aus den zuvor genannten Gründen dürften in der zweiten Hälfte des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse ganz ähnlich gelegen haben. In vorsichtiger Schätzung wird in der Folge daher davon ausgegangen, dass das Wachstum der Vororte im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu etwa drei Viertel vom positiven Wanderungssaldo und zu einem Viertel von der positiven Geburtenbilanz bestimmt wurde. Selbst wenn der Anteil der Geburtenbilanz vor der Mitte des 19. Jahrhunderts höher gewesen sein sollte, was angesichts des durchgängig hohen Fertilitätsniveaus der Vorstädte im Zeitraum von ca. 1780 bis 186018 und späterer zeitgenössischer Beobachtungen überdurchschnittlicher Geburtenraten und Kinderanteile in den Vororten19 nicht völlig auszuschließen ist, ändert dies an der Bilanz für das gesamte heutige Stadtgebiet kaum etwas, da die Vororte im Zeitraum 1750–1850 erst einen vergleichsweise sehr bescheidenen Anteil zum demographischen Wachstum beigetragen haben. Für die Zeit ab 1850 kann auf Rückrechnungen der Bevölkerungsstände und der Geburten- und Wanderungsbilanzen für das gesamte heutige Stadtgebiet zurückgegriffen werden, die für den Zeitraum 1851–1869 auf eigenen,20 ab 1869 auf Berechnungen des vormaligen Österreichischen Statistischen Zentralamtes (heute Statistik Austria) beruhen. In langfristiger Betrachtung ergeben die Schätzungen bzw. Berechnungen für den Wanderungssaldo des ungefähren heutigen Stadtgebietes folgendes Bild: In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei durchwegs negativer Geburtenbilanz könnte bei einer gesamten Bevölkerungszunahme von rund 70.000 der Wanderungsgewinn insgesamt vielleicht 120.000 betragen haben. Von etwa 1750 bis 1800 bei einem neuerlichen Zuwachs um etwa 70.000 Einwohner lässt sich der Wanderungssaldo nunmehr präziser, weil auf Volkszählungsdaten aufbauend, auf rund 160.000 bestimmen. Im Zeitraum zwischen etwa 1800 und 1850 kletterte er weiter auf ungefähr 290.000. Im Vergleich zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts 16 Feldbauer, Stadtwachstum, 37. 17 Eigene Berechnungen nach Kurt Klein, Historisches Ortslexikon Wien. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Demographie: http://www.oeaw.ac.at/vid/research/histortslexikon.shtml (zuletzt abgerufen am 27.05.2015). 18 Weigl, Demographischer Wandel, 394. 19 Denkschrift der Vororte Wiens über die Folgen einer eventuellen Hinausrückung der Verzehrsteuer-Linie. Wien 1884, 42. 20 Andreas Weigl, Auf dem Weg zur Millionenmetropole. Eine Stadt platzt aus allen Nähten, in: Ralph Gleis (Hrsg.), Experiment Metropole. 1873: Wien und die Weltausstellung, Wien 2014, 52–63, hier: 53.

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hatte sich der Wanderungssaldo demnach in einem Jahrhundert mehr als verdoppelt. Den absoluten Höhepunkt erreichte der Wanderungssaldo in der zweiten Hälfte des 19. und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Von etwa 1850 bis 1910 wanderten rund 930.000 mehr Menschen zu als ab. Der positive Wanderungssaldo im Zeitraum zwischen 1870 und 1910 betrug pro Jahrzehnt rund 150.000 bis 170.000 und schwankte nur wenig. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war dann durch deutlich geringere Wanderungsüberschüsse geprägt. Durch Wanderungsverluste im Zuge der beiden Weltkriege entsteht sogar der Eindruck eines temporären Überwiegens der Abwanderung. Zwar riss auch nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die massive Zuwanderung nach Wien zunächst keineswegs ab, da ein Strom von Flüchtlingen von der Ostfront für hohe temporäre Wanderungsgewinne sorgte, schließlich blieben jedoch nur rund 30.000 Flüchtlinge auch nach Ende des Krieges in Wien.21 Schon 1918, im letzten Kriegsjahr, fiel die Wanderungsbilanz bereits negativ aus,22 weil gegen Kriegsende eine Rückwanderungswelle in die Nachfolgestaaten einsetzte. Im Zeitraum zwischen 1910 und 1923 verlor Wien rund 60.000 Einwohner durch die Wanderungsbewegung. Ab den frühen 1920er-Jahren entstanden jedoch erneut Wanderungsüberschüsse, die in ihrer Dimension mit den letzten Vorkriegsjahren allerdings nicht mehr vergleichbar waren.23 Nach den Zwangswanderungswellen der Jahre 1934, 1938/39 und 1945/47 reihte sich die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dann wieder in die Serie höherer positiver Wanderungssalden ein. Die Dimensionen der Franz-Joseph-Ära wurden jedoch bei Weitem nicht mehr erreicht.24

21 Andreas Weigl, Demographic Transitions Accelerated: Abortion, Body Politics, and the End of Supra-Regional Labor Immigration in Post War Austria, in: Günter Bischof/Fritz Plasser/Peter Berger (Hrsg.), From Empire to Republic: Post-World War I Austria, Louisiana – Innsbruck 2010, 142–170, hier: 145. 22 Beatrix Hoffmann-Holter, „Abreisendmachung“. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923, Wien – Köln – Weimar 1995, 36, 283. 23 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1930–35, Wien o. J., 17. 24 Statistik Austria, Statistisches Jahrbuch 2008, 41.

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1700 1750 1800 1850 1900 1950 2000

120 190 260 550 1770 1620 1550

124 160 289 776 95 340

1910 3) 1923 3) 2010 3)

2080 1920 1700

150 -60 145

120 153 227 160

4 7 62 616

Netto­migrationsrate pro Jahr (in 1000)

Anteil der Migration am Bevölkerungswachstum in %

Wanderungs­saldo Vororte/ heutige Außen­bezirke 2)

Wanderungssaldo Stadt und Vorstädte/heutige Innenbezirke 1)

Wanderungs­saldo gesamt (in 1000)

Bevölkerung im heutigen Stadtgebiet (in 1000)

Jahr

Tabelle 1: Migration und Bevölkerungswachstum in der Stadtregion Wien (heutiges Stadtgebiet) 1700– 201025

177 229 100 64

16,0 14,2 14,3 13,4 1,1 4,3

48

7,8 -2,3 8,9

97

1) Geburtenbilanz 1704: Schätzung auf der Basis des Durchschnitts 1700–1703, 1705–1706. 1891–1900: berechnet aus der Zahl der Lebendgeborenen und Sterbefälle (exkl. Ortsfremde) der Innenbezirke, Lebendgeborene der Gebäranstalt wurden aliquot aufgeteilt. 2) 1700–1850: Schätzung auf Basis der Annahme: 75% des Bevölkerungswachstums. 3) Wanderungssaldo 1900– 1910, 1910–1923, 2000–2010.

25 Pfarre St. Stephan, Prot. Mort. 17a-b: Extract Oder Kurtzer Außzug auß dem ... jährigen Todten=Buch ...; Weigl, Demographischer Wandel, 55, 60, 67, 82–83, 364–65; Weigl, Millionenmetropole; Franz Baltzarek, Das territoriale und bevölkerungsmäßige Wachstum der Großstadt Wien im 17., 18. und 19. Jahrhundert. Mit Betrachtungen zur Entwicklung der Wiener Vorstädte und Vororte, in: Wiener Geschichtsblätter 35 (1980), 1–30, hier: 13–14; Statistik Austria (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch Österreichs 2008, Wien 2007, 41; eigene Berechnungen.

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In der bisherigen Betrachtung der longue durée der Wiener Migrationsgeschichte wurde allerdings ausschließlich mit absoluten Größen argumentiert. Ein anderes Bild liefern jene Indikatoren, welche die relative Bedeutung der Migration für das städtische Wachstum messen. Geht man nach der Nettomigrationsrate, dem Wanderungssaldo bezogen auf 1.000 der Ausgangsbevölkerung, dann sank der Einfluss der Wanderungsbewegungen auf das urbane Bevölkerungswachstum im Zeitraum von 1700 bis 1900 kontinuierlich. Dieser Rückgang setzte sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fort. Die Zwischenkriegszeit war dann mit Ausnahme der unmittelbaren Nachkriegsjahre durch einen ganz massiven Rückgang der Nettomigrationsrate gekennzeichnet. Nach Dezennien wurden im langfristigen Vergleich die höchsten Nettomigrationsraten in einigen Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts erreicht. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war es auch, in welcher der Einfluss der Migration auf das demografische Wachstum am stärksten ausfiel, während gerade die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem merklichen Rückgang dieses Effekts gekennzeichnet war.26 Dieser Befund für das ungefähre heutige Stadtgebiet deckt sich bedingt mit den Berechnungen Peter Feldbauers für Stadt und Vorstädte. Dieser legt den Höhepunkt des Einflusses der Wanderung auf das Bevölkerungswachstum in den Vormärz, klammert den Zeitraum vor 1820 in seinen Berechnungen jedoch aus.27 Nun sagen weder Wanderungssalden noch Nettomigrationsraten etwas über die langfristigen Effekte von Migrationsbewegungen aus. Ein brauchbarer Indikator für diese Effekte ist zweifelsohne die Aufschlüsselung der gesamten Bevölkerung oder von Teilpopulationen nach dem Geburtsort. So stammten im Durchschnitt der Jahre 1684 bis 1720 in der Vorstadt St. Ulrich lediglich 21,6 Prozent der Brautleute aus dem ungefähren heutigen Stadtgebiet.28 Ebenso erbrachte eine Zählung unter den Handwerksmeistern aus dem Jahr 1742 nur einen Anteil von rund einem Viertel von in Wien Gebürtigen.29 Nun handelt es sich in beiden Fällen unzweifelhaft um Teilpopulationen mit überdurchschnittlich hohen Migrantenanteilen, doch war die Bezeichnung Wiens in zeitgenössischen Führern des späten 18. Jahrhunderts als „Wandermekka“ wohl kaum übertrieben.30 Für die Volkszählungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird für Stadt und Vorstädte um 1830 ein Anteil von 73 Prozent, um 1850 von

26 Weigl, Demographischer Wandel, 111. 27 Feldbauer, Stadtwachstum, 41. 28 Eigene Berechnungen nach Wilhelmine Griehbaum, Beiträge zur Geschichte der Vorstädte St. Ulrich – Neubau – Schottenfeld 1620–1820, phil. Diss., Wien 1958, 85–87. 29 Viktor Thiel, Gewerbe und Industrie, in: Alterthumsverein zu Wien (Hrsg.), Geschichte der Stadt Wien 4, Wien 1914, 411–523, hier: 430. 30 Annemarie Steidl, Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 30), Wien – München 2003.

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60 Prozent der in Wien geborenen Bevölkerung ausgewiesen.31 Der in diesen Zählungen verwendete Terminus „Fremde“ bleibt jedoch einigermaßen unscharf.32 Das ändert sich mit der Zählung von 1856, in der nun erstmals der Geburtsort bzw. das Geburtsland für die gesamte Bevölkerung erhoben wurde. Demnach waren in Stadt und Vorstädten 1856 rund 44 Prozent, 1880 gar nur 38,5 Prozent der Wiener Bevölkerung auch in Wien geboren. Die Aufschlüsselung der Bevölkerung nach dem Geburtsland, wenn auch unter Ausklammerung der Vororte, bestätigt demnach ebenfalls das Bild einer ganz erheblichen Zuwanderung im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sich gegen Ende des Jahrhunderts etwas abschwächte. Unter Einbeziehung der Vororte und des transdanubischen Gebiets lag der Anteil der im nunmehr vergrößerten Wien Geborenen im Jahr 1910 bei 49 Prozent. Nach dem Ersten Weltkrieg stieg er auf 54 Prozent, um in der Folge weiter zuzunehmen.33 Wien stand in dieser Beziehung allerdings keineswegs allein da. In der Habsburgermonarchie waren beispielsweise vom Vormärz bis zum Ende der Monarchie mehr als die Hälfte nicht nur der Wiener und Wienerinnen, sondern auch der Bevölkerung der überwiegenden Mehrzahl aller größeren Städte nicht am Aufenthaltsort geboren.34 Die Analyse der quantitativen Indikatoren lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Die Bedeutung der Mobilität vorindustrieller Bevölkerungen bestätigt sich auch am Beispiel Wiens eindrucksvoll.35 Nur in absoluten Größen gerechnet entsprach das späte 19. Jahrhundert einem nicht mehr erreichten Zuwanderungsgipfel. Relativ trug die Wanderung im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr zum Bevölkerungswachstum bei als um 1900. Nach 1918 kann jedoch auch in der Wiener Migrationsgeschichte von einer Migrationstransition hin zu einem säkularen Wandel des Wanderungsverhaltens,36 wie er in allen 31 G[ustav] Otruba/L. S. Rutschka, Die Herkunft der Wiener Bevölkerung in den letzten hundertfünfzig Jahren, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 13 (1957/58), 227–274, hier: 230. 32 Anton Tantner, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 4), Innsbruck – Wien – Bozen 2007; Birgit Bolgnese-Leuchtenmüller, Bevölkerungsentwicklung und Berufsstruktur, Gesundheits- und Fürsorgewesen in Österreich 1750–1918 (Materialien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1), Wien 1978. 33 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 14f. 34 Sylvia Hahn, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Transkulturelle Perspektiven 5), Göttingen 2008, 151; Michael John, Zuwanderung in Österreich 1848–1914, in: Archiv. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 4 (1988), 102–132, 223–224, hier: 103. 35 Steve Hochstadt, Migration in Preindustrial Germany, in: Central European History 16 (1983), 195–224. 36 Steve Hochstadt, Mobility and Modernity. Migration in Germany, 1820–1989, Ann Arbor 1999, 275–277.

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Industrieländern beobachtet wurde, gesprochen werden. Ein Vergleich der Aufenthaltsdauer der Wiener Bevölkerung in den Jahren 1910 und 2008 bestätigt einen erheblichen Rückgang kurz- und mittelfristiger Migrationsbewegungen. Während sich im Jahr 1910 23,2 Prozent der Wiener Bevölkerung erst seit weniger als fünf Jahren dauerhaft in der Stadt aufhielten, waren es 2008 14 Prozent. Hingegen hielten sich etwa 60 Prozent der Bevölkerung des Jahres 1910 schon zehn Jahre und länger in Wien auf, aber mehr als 80 Prozent im Jahr 2008 sieben Jahre und länger.37 2. Die tschechische und jüdische Migration: Kontinuität und Wandel

Warum also diese Fokussierung im kollektiven Gedächtnis auf das späte 19. Jahrhundert und die Jahrhundertwende? Neben den exponentiell steigenden absoluten Dimensionen der Zuwanderung nach Wien im 19. Jahrhundert gab es dafür Gründe, die sich aus dem sozialen und ethnischen Strukturwandel innerhalb der Zuwandererpopulation erklären. Folgt man den Ergebnissen der historischen Migrationsforschung, war es vor allem das späte 19. Jahrhundert, in dem zu den einwanderungsimmanenten Ressourcenkonflikten auch schichtspezifische Identitätsbedrohungen traten, die durch den Nationalitätenkonflikt in der Habsburgermonarchie und den Aufstieg des politischen Antisemitismus erheblich verschärft wurden. Im Mittelpunkt xenophober Aufladungen und Hysterien standen zwei Gruppen von Zuwanderern, die in der Migrationsgeschichte der Stadt schon zuvor eine gewisse Rolle gespielt hatten: die Tschechen und die Juden. Die Zuwanderung aus den böhmischen Ländern bildete seit ihrer Zugehörigkeit zum habsburgischen Territorialkomplex eine fixe, wenn auch noch nicht bedeutende Größe. Im 18. Jahrhundert dürfte ein Anteil dieser Zuwanderergruppe von rund fünf bis zehn Prozent bestanden haben.38 Angesichts des Gewichts der Handwerksmigration, für die – zumindest im Teilsegment des zünftischen Handwerks – „nichtdeutsche Herkunft“ einen Ausschließungsgrund darstellen konnte, dominierten wohl unter den Zuwanderern noch Deutschböhmen. Nach Ende der napoleonischen Kriege trat jedoch ein erheblicher Wandel ein. Vor dem Hintergrund der allmählichen Etablierung eines innerstaatlichen Arbeitsmarktes und der Abschottung von den übrigen Staaten des Deutschen Bundes gelangten immer mehr tschechischsprachige Handwerker, Taglöhner und Dienstmädchen, um nur die wichtigsten Berufsgruppen zu nennen, nach Wien. Um 1830 dürfte die Zahl der Zuwanderer aus den böhmischen Ländern in Wien bereits auf 40.000 bis 45.000 angewachsen sein. 39 Welchen 37 K. k. Statistische Zentralkommission, Ergebnisse der Volkszählung 1910, in: Österreichische Statistik NF 1 (1914) 3, 100–119; Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes am 1.1.2010; eigene Berechnungen. 38 Andreas Weigl, Frühneuzeitliches Bevölkerungswachstum, 124f. 39 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 18.

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Anteil tschechischsprachige Zuwanderer an diesem Zustrom hatten, ist jedoch nur punktuell zu fassen. Die Präsenz böhmischer Dienstmädchen und Mägde auf dem Dienstbotenmarkt40 und die Kolonie tschechischer Ziegelarbeiter am Wienerberg geben jedoch einen gewissen Einblick in typische Formen der Arbeitsmigration unter den frühen tschechischsprachigen Migranten und Migrantinnen.41 Es fehlt auch nicht an einzelnen Hinweisen, dass der Zustrom tschechischer Migranten schon vor 1848 erheblich zunahm, etwa unter den häufig tschechischsprachigen Schneiderlehrlingen.42 Nach 1848 setzte sich dieser Trend verstärkt fort.43 Überhaupt bildete das Jahrzehnt nach dem Revolutionsjahr eine Phase ausgesprochen hohen, später nicht mehr erreichten demografischen Wachstums. Was bedeutete das für die „Tschechisierung“ Wiens? Wir besitzen dazu eine aufschlussreiche Schätzung eines informierten Zeitgenossen, des Direktors der administrativen Statistik, Karl Freiherr von Czoernig (1804–1889).44 Czoernig hatte es im Jahr 1857 unternommen, vornehmlich auf Basis der Ergebnisse der Volkszählung von 1851 eine Ethnografie der österreichischen Monarchie zu entwerfen. In einer auf amtlichen Zählungsergebnissen des Jahres 1856, aber auch auf eigenen Schätzungen beruhenden Sprachenstatistik, die er missverständlich als „Nationalitätenstatistik“ bezeichnete, kam der Autor zu dem Schluss, dass rund 83.000 „Čechen, Mährer und Slovaken“ zur Wiener Bevölkerung zählten.45 Nach Czoernig hätten demnach rund 17 Prozent der Bevölkerung tschechisch oder slowakisch gesprochen. Diese Zahl überrascht angesichts einer Gesamtzahl von in den böhmischen Ländern Geborenen von rund 105.000. Wohl ist zu berücksichtigen, dass Czoernig die slowakisch sprechende Bevölkerung in seine Schätzung mit einbezog, deren Zahl jedoch, wie das Ergebnis für „Ungarn, serbische Wojwodschaft und Temeser Banat“ zeigt, deutlich unter der tschechischen und mährischen gelegen haben muss, denn insgesamt stammten nur rund 22.000 Personen der Wiener Bevölkerung, davon wohl nur ein Teil Slowaken und Slowakinnen, aus diesem Teil der Monarchie.46 40 Weigl, Demographischer Wandel, 137. 41 Wolfgang Häusler, Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848, Wien – München 1979, 54. 42 Sylvia Erna Kokoulik, Studien zur Geschichte der Wiener aus den Ländern der böhmischen Krone in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, phil. Diss., Wien 1971, 28. 43 Monika Glettler, Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 28), München – Wien 1972, 32. 44 Rosa Lebmann/Heimold Helczmanovski, Auf dem Gebiete der Bevölkerungsstatistik und Bevölkerungswissenschaft tätige Österreicher. Eine Biographie und Bibliographie, Wien 1986, 29–33. 45 Karl Freiherr von Czoernig, Ethnographie der Oesterreichischen Monarchie 1, 1. Abt., Wien 1857, 675. 46 Präsidium des Gemeinderathes und Magistrats der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt (Hrsg.), Statistik der Stadt Wien, Wien 1857, Probeheft, 46.

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Ein Motiv für die maßlose Überschätzung der tschechischen und slowakischen Bevölkerung Wiens wird man Czoernig allerdings kaum unterstellen können, da er etwa für das Kronland Niederösterreich außerhalb Wiens von sehr geringen tschechischen und slowakischen Minderheiten ausgeht47 und zudem seine amtliche Stellung eine antitschechische Polemik kaum zuließ. Ist aber Czoernigs Schätzung einigermaßen korrekt, dann hätte sich das Verhältnis der tschechisch- zu den deutschsprachigen Zuwanderern aus den böhmischen Ländern bereits um 1855 bei zwei Drittel zu einem Drittel bewegt, ein Verhältnis, welches auch für die Jahre 1890 bis 1910 als plausibel anzusehen ist.48 Angesichts eines nahezu konstanten Anteils der „böhmischen“ Geburts- an der Wiener Gesamtbevölkerung hätte sich nur aus einer gravierenden Veränderung des Verhältnisses zu Ungunsten der deutschsprachigen Zuwanderer aus den böhmischen Ländern ein sachlicher Grund für eine verschärfte Abwehrhaltung der Einheimischen gegenüber den tschechischen Migranten und Migrantinnen ergeben. Eine solche fand jedoch im Zeitraum von ca. 1850 bis 1910 nicht wirklich statt. Es lohnt sich also, die bedeutende frühe tschechische Zuwanderung etwas näher anzuschauen. Wie bereits einschlägige Studien zur Handwerks- und Dienstbotenmigration vermuten ließen, war es eine Zuwanderung, die sich vor allem auf diese beiden Segmente des Arbeitsmarktes konzentrierte. Das bestätigt auch eine im Wiener Stadt- und Landesarchiv verwahrte Quelle, die bisher in der Forschung zur Wiener Migration wenig Beachtung gefunden hat: die sogenannte „Kartei der Fremden“. Diese Kartei dokumentiert die nichtheimatberechtigte Bevölkerung vornehmlich zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1880. Geht man in Form einer Klumpenstichprobe tschechischen Migranten in dieser Kartei nach, so lässt sich die Massenzuwanderung dieser Migrantengruppe auf der Mikro- und Mesoebene beispielhaft untersuchen. So finden sich in der genannten Kartei insgesamt fast 400 Familienbögen für Familienoberhäupter oder Einzelpersonen mit dem in Wien häufigen tschechischen Namen We(s)sely(i) (Ves(s)ely).49 Mehr als 80 Prozent dieser Personen waren tatsächlich auch in Böhmen und Mähren, vereinzelt auch in Schlesien geboren. Von diesen „böhmischen“ Migranten und Migrantinnen und ihren in Böhmen und Mähren geborenen Familienmitgliedern, rund 460 Personen, war mehr als ein Viertel vor 1840 geboren.50 Das deutet auf eine nicht geringe Zahl von Zuwanderern hin, denen auch nach längerem Aufenthalt das Heimatrecht verwehrt wurde, was insbesondere bei tschechischen Migranten gängige Praxis 47 Czoernig, Ethnographie, 661. 48 Glettler, Wiener Tschechen, 33–34; Michael John/Albert Lichtblau, Česká Víden: Von der tschechischen Großstadt zum tschechischen Dorf, in: Archiv 1987. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, 34–55, hier: 51. 49 Johann Neumann (Bearb.), Tschechische Familiennamen in Wien: Eine namenskundliche Dokumentation, Wien 1972, 233. 50 Eigene Berechnungen nach Wiener Stadt und Landesarchiv, Konskriptionsamt, Kartei der Fremden, A 17: 424–425.

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war.51 Für die Jahrhundertwende gehen tschechische Schätzungen von etwa 300.000 Tschechen und Tschechinnen in Wien aus.52 Das entspricht annähernd jenen 17 bis 18 Prozent der Wiener Gesamtbevölkerung, die bereits für 1856 geschätzt wurden. Die genannten Zahlen erfahren eine indirekte Bestätigung durch die Wanderungsbewegungen nach Kriegsende. Nun verließen offiziell etwa 105.000, tatsächlich wohl etwa 150.000 Tschechen Wien in Richtung der neu gegründeten Tschechoslowakei53 und weitere 80.000 in Wien verbliebene Personen bekannten sich bei der ersten Nachkriegsvolkszählung zur tschechischen Umgangssprache. 54 Zählt man dazu noch eine namhafte Zahl von „Kryptotschechen“, die ihre Zugehörigkeit zur tschechischen Minderheit unter dem Druck des vorherrschenden antitschechischen Klimas verheimlichten, erscheint eine Zahl von 250.000 bis 300.000 durchaus plausibel. Aufgrund des massiven Drucks, der bei den Volkszählungen der späten Monarchie auf die nichtdeutschsprachige Wiener Bevölkerung ausgeübt wurde, „Deutsch“ als Muttersprache anzugeben, bekannten sich vor Ende der Donaumonarchie allerdings nur etwa die Hälfte der Wiener Tschechen und Tschechinnen offiziell, zumindest im Zuge der Zählungen, zu dieser Minderheit. Die Ergebnisse der Umgangssprachenerhebungen belegen daher allenfalls den „harten Kern“ nationalbewusster Tschechen und Slowaken, wahrscheinlich aber nicht einmal das, weil die Zählorgane des Wiener Magistrats manchmal auch selbstherrlich Zuordnungen trafen und Ausfüllungen der Zählpapiere zugunsten der Umgangssprache „Deutsch“ manipulierten.55 Die „tschechischen“ Zuwanderungsjahrzehnte in der Wiener Migrationsgeschichte erstreckten sich also eigentlich über 60 bis 70 Jahre, berücksichtigt man die vormärzliche Vorgeschichte sogar fast über ein Jahrhundert. Dies lässt sich keineswegs nur statistisch festmachen. Vielmehr begleiteten die Geschichte der tschechischen Zuwanderung Ressentiments, Alltagsxenophobie, Ab- und Ausgrenzungen schon lange vor dem eskalierenden Nationalitätenstreit im ausgehenden 19. Jahrhundert. „Im Falle von Diskursen über die Tschechen werden allgemeine fremdenfeindliche Vorstellungen und Voreingenommenheiten sichtbar, die schon im 18. Jahrhundert in Wien hervorgetreten waren.“56 51 Sylvia Hahn, Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatrecht im 19. Jahrhundert, in: Pro civitate Austriae NF 10 (2005), 23–44, 40. 52 Martin Sekera, Wie waren die Tschechen in Wien bis 1918? In: Doma v cizině. Češi ve Vídni ve 20. století. Vlasta Valeš (Hrsg.), Zu Hause in der Fremde. Tschechen in Wien im 20. Jahrhundert, Praha 2002, 114–124, hier: 115. 53 Karl M. Brousek, Wien und seine Tschechen (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 7), München 1980, 34. 54 Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Statistische Nachrichten 1925, 156–158, hier: 156. 55 Emil Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation: die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 72), Wien – Köln – Graz 1982, 118–143. 56 Csáky, Gedächtnis, 171.

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Im Gegensatz zu den Deutschböhmen hatten die tschechischsprachigen Zuwanderer in Bezug auf ihre Sprachfähigkeit eindeutige Handicaps auf dem Arbeitsmarkt. Unterschichtungsphänomene waren daher nicht selten, wenngleich die insgesamt miserablen Arbeitsund Lebensbedingungen weiter Teile des Wiener Proletariats nicht viel Platz „nach unten“ zuließen. Außerdem milderte die kleingewerblich-handwerkliche Tradition eines Teils der tschechischsprachigen Zuwanderer eine ausgeprägtere Unterschichtung. Dies könnte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass sich xenophobe Abwehrhaltungen gegenüber tschechischsprachigen Migranten und Migrantinnen zunächst in gelassener Arroganz57 und im Spott über die „Bem“, vor allem im Volkslied und in der Karikatur,58 äußerten. So schilderte der tschechische Sozialdemokrat und spätere tschechoslowakische Minister Gustav Habermann einen Besuch in einem Wiener Wirtshaus im späten 19. Jahrhundert folgendermaßen: Den größten Erfolg hatten die Volkssänger mit Liedern und Witzen auf die Tschechen. ‚Der Wenzel kommt von der Taborlina‘ oder ‚Der Wenzel kommt, der Wenzel kommt, der Wenzel ist schon da!‘ und hundert andere ähnliche Lieder und Pamphlete auf die Tschechen erweckten stürmischen Beifall und riefen die ausgelassenste Stimmung hervor.59

Moritz Csáky fasst zusammen: Die Tschechen wurden [...] zum Surrogat für alles Fremde und die spöttischen, xenophoben Attitüden, mit denen das Tschechische im Alltag bedacht wurde, unterstützten jene offizielle anti­ tschechische deutschnationale Einstellung, die die Tschechen Wiens politisch zu marginalisieren, zu verdrängen suchte [...].60

Schon früh wurde von der deutschsprachigen Mehrheit vehement der deutsche Charakter Wiens betont und die Gefahr einer „Tschechisierung“ der Stadt an die Wand gemalt. Mit einer gewissen Larmoyanz beklagte beispielsweise bereits 1870 der bekannte Schriftsteller Daniel Spitzer in einem anlässlich des Deutsch-Französischen Krieges erschienenen Feuilletons mit dem Titel „Nix Deutsch“ die angeblich in der Monarchie stattfindende Marginalisierung

57 Sekera, Tschechen, 116–117. 58 Vlasta Valeš (Hrsg.), Zu Hause in der Fremde, 70–72; Gertraud Pressler, „Wie Böhmen noch bei Öst’reich war“. Zum Topos des Tschechischen im Wienerlied des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Valeš (Hrsg.), Zu Hause in der Fremde, 125–134. 59 Gustav Habermann, Aus meinem Leben. Erinnerungen aus den Jahren 1876–1877–1884–1896, Wien 1919, 56; Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt am Main – New York 1999, 48. 60 Csáky, Gedächtnis, 170.

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der Deutschen, für die er „Wenzel den Deutschenfresser“ verantwortlich machte.61 Als besonders in seiner „nationalen“ Identität bedroht erschien den Deutschnationalen die Haupt- und Residenzstadt. In einem zeitgenössischen Wienerlied hieß es: Die Böhm’ behaupten steif und fest, dass unser Stephansturm a Landsmann is ... Sie möchten a die Wienerstadt Gern haben in ihrer Hand [...]62

Auf ältere Traditionen konnten auch antisemitische Ressentiments aufbauen, die sich nach einer kontinuierlichen und starken Zunahme der jüdischen Zuwanderung ab etwa 1860 ebenso verdichteten wie antitschechische Ausbrüche. So war die entschiedene Ablehnung gegenüber der jüdischen Zuwanderung, insbesondere jener der galizischen orthodoxen Juden, keineswegs neu. Sie findet sich schon im ausgehenden 18. Jahrhundert bei dem „Statistiker“ Johann Pezzl, der in seinen Stadtbeschreibungen ausgiebig das wirkungsmächtige Negativstereotyp der „Ostjuden“bediente.63 Im Gegensatz zur tschechischen Zuwanderung, die bereits in den 1850er-Jahren einen erheblichen Anteil an der gesamten Zuwanderung hatte, der in etwa konstant blieb, nahm der jüdische Anteil bis zur Jahrhundertwende allerdings kontinuierlich zu.64 Während sich die jüdische Gemeinde Wiens vor 1848 mehr oder minder auf den Kreis einer kleinen privilegierten Minderheit beschränkte,65 sorgten die 1848 gewährte Niederlassungsfreiheit und das Emanzipationsgesetz von 1867 für eine weitgehende Liberalisierung der Zuwanderung. Nach 1900 sank der jüdische Bevölkerungsanteil ein wenig. Das lag einerseits an den nun häufigeren Konversionen,66 andererseits an der Massenauswanderung aus Galizien und der Bukowina nach Übersee, die das Zuwanderungspotenzial nach Wien beschränkte.67 Der steigende jüdische Bevölkerungsanteil konstituierte einen nicht unwesentlichen Unterschied zur tschechischen Zuwanderung. Nachdem in den 1850er- und 1860er-Jahren vor 61 Daniel Spitzer, Wiener Spaziergänge. Bd. 2, hrsg. von Gustav Brenner, Wien o. J., 134–137. 62 Harald Leupold-Löwenthal, Wien und die Fremden (Wiener Vorlesungen im Rathaus 17), Wien 1992, 23. 63 Csáky, Gedächtnis, 261. 64 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 36–37. 65 Akos Löw, Die soziale Zusammensetzung der Wiener Juden nach den Trauungs- und Geburtsmatrikeln 1784–1848, phil. Diss., Wien 1951. 66 Peter Honigmann, Die Austritte aus dem Judentum in Wien 1868–1944, in: zeitgeschichte 15 (1987/88), 452–464. 67 Vgl. dazu etwa Annemarie Steidl, „There are no cats in America ...“ Zur Teilnahme von Juden und Jüdinnen an transatlantischen Wanderungen aus den österreichischen Ländern der Habsburgermonarchie, in: Aschkenas 17 (2007), Heft 1, 13–34.

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allem Juden aus den böhmischen Ländern zugewandert waren, waren es nach der Gleichstellung verstärkt Migranten und Migrantinnen aus der ungarischen Reichshälfte. Es war aber offensichtlich nicht diese Verschiebung innerhalb der Herkunftsgebiete, sondern die Gründung von Massenparteien, die den politischen Antisemitismus in den 1880er-Jahren zur „most dramatic new issue on the political horizon“68 machte. Zunächst propagiert durch deutschnationale Rassisten wie Georg von Schönerer, war es schließlich der ungleich erfolgreichere christlichsoziale Populist Karl Lueger, der den Antisemitismus als integrativen Kitt benutzte, um mithilfe unzufriedener kleinbürgerlicher Handwerkerschichten, des niederen Klerus und temporär auch neuer Mittelschichten eine Massenpartei zu kreieren. Durch Luegers Aufstieg drang der Antisemitismus in die tagespolitischen Geplänkel der Massenparteien ein, dem sich weder die Christlichsozialen noch die Sozialdemokraten entziehen konnten und wollten.69 Seine besondere Virulenz resultierte aus dem Aufeinanderprallen der in eine fremde, gleichwohl dynamisch transformierte Welt geworfenen jüdischen Zuwanderer mit einer wesentlich noch christlich-traditionell geprägten Mehrheitsgesellschaft. Dieser moderne Antisemitismus vermengte religiöse und ökonomische mit biologistischen Elementen.70 Eine Folge war xenophob motivierte Gewalt gegen Juden und Jüdinnen in Schulen, auf der Straße, in den Läden verbal und auch physisch.71 Schon ging die „Abwehr“ der Migranten bis zu den Schlägern des Pöbels,72 die durch staatliche Polizeigewalt allerdings noch in die Schranken gewiesen wurden. 3. Jüdische Endogamie versus tschechische Exogamie?

Zu den spezifischen Merkmalen der jüdischen Migration zählte, wie immer wieder betont wurde, nicht erst seit der Jahrhundertwende das hohe Ausmaß an Segregation. Die Segregationsindizes auf Bezirksebene zeigen ein konstant hohes Niveau, sodass geradezu von einem

68 John W. Boyer, Political radicalism in late imperial Wien. Origins of the Christian Social movement, 1848–1897, Chicago – London 1995, 41. 69 Peter Pulzer, Spezifische Momente und Spielarten des österreichischen und des Wiener Antisemitismus, in: Gerhard Botz/Ivar Oxaal/Michael Pollak (Hrsg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, 134; Ilse Barea, Wien. Legend and Reality, London 1992, 305. 70 Egon Schwarz, Schmelztiegel oder Hexenkessel? Juden und Antisemiten im Wien der Jahrhundertwende, in: derselbe, Wien und die Juden. Essays zum Fin de siècle, München 2014, 7–32, hier: 19f. 71 Pulzer, Spezifische Momente, 121–139, hier: 134. 72 Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Kaiser Franz Josephs (Anton Gindely Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas 4), Wien – Köln – Weimar 1999, 183; Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, Frankfurt am Main 21982, 126.

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Bestandteil der Lebensweise jüdischer Migranten gesprochen werden kann.73 Die überwiegende Mehrzahl der jüdischen Migranten und Migrantinnen lebte in den Bezirken 1, 2, 9 und 20.74 Dies stand im klaren Gegensatz zur tschechischen Migration, die sich wohl auf die Arbeiterbezirke konzentrierte, jedoch insgesamt weniger segregativ war. Ein Vergleich der Segregationsindizes der jüdischen Bevölkerung mit jenem Teil der Bevölkerung, der bei der Volkszählung von 1910 als Umgangssprache „tschechisch“ oder „slowakisch“ angegeben hatte, zeigt eine mehr als doppelt so hohe Segregation auf Bezirksebene. 75 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Segregation unter jenen Migranten und Migrantinnen, die sich zur tschechischen (und slowakischen) Umgangssprache bekannten, ohnehin deutlich höher ausgeprägt war als bei den in Böhmen und Mähren Heimatberechtigten, unter denen sich neben Deutschböhmen auch scheinbar oder tatsächlich Assimilierte befanden.76 Auch die kleinräumige Konzentration auf bestimmte Häuser und Stadtviertel war unter tschechischsprachigen Migranten weniger ausgeprägt. Von diesen lebten im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts etwa ein Viertel in Häusern, in denen sie auch die Mehrheit stellten, unter jüdischen Migranten in der Leopoldstadt waren es jedoch 60 Prozent.77 Implizit und explizit wird dieser Unterschied auch als Argument für jene xenophoben Abstufungen – Spott einerseits, Hass andererseits – angeführt, welche die Reaktion vieler Einheimischer auf Tschechen und Juden kennzeichnete. Bei näherem Hinsehen erweist sich die in der kollektiven Erinnerung vorgenommene populare Trennung in bedingt „integrierte“ Tschechen und kaum „integrierte“ orthodoxe Juden aus Galizien und der Bukowina jedoch als wenig haltbar, wie ein Blick auf die Heiratskreise der beiden Migrantengruppen zeigt. Wohl bestand eine hohe Endogamie der jüdischen Bevölkerung, die jedoch in der Rechtslage ihre Begründung findet. Für Mischehen war eine Konversion notwendig. Dementsprechend lag ihr Anteil im Jahr 1895 im Durchschnitt gerade einmal bei 4 Prozent, 1910 immerhin schon bei 8 Prozent. 78 Insgesamt war die Endogamie nach Geburtsland über lange Perioden der Wiener Migrationsgeschichte unter Zuwanderern aus Galizien und der Bukowina aber nicht größer, sondern 73 Wistrich, Juden Wiens, 54. 74 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 145–146, 155–157. 75 Andreas Weigl, „Unbegrenzte Großstadt“ oder „Stadt ohne Nachwuchs“? Zur demographischen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert, in: Franz X. Eder/Peter Eigner/Andreas Resch/Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum (Querschnitte 12), Innsbruck – Wien – München – Bozen 2003, 141–200, hier: 200. 76 Michael John, Der lange Atem der Migration – die tschechische Zuwanderung nach Wien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Regina Wonisch (Hrsg.), Tschechen in Wien. Zwischen nationaler Selbstbehauptung und Assimilation, Wien 2010, 31–60, hier: 33. 77 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 148. 78 Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867–1914: Assimilation and Identity, Albany 1983, 129.

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geringer als unter den Zuwanderern aus den böhmischen Ländern. Ein Vergleich für die Zeit um 1890 belegt, dass lediglich ein Viertel der aus Galizien und der Bukowina stammenden Bräute auch Bräutigame aus ihren Geburtsländern fanden, während das bei fast 60 Prozent der Böhminnen und Mährerinnen der Fall war. Umgekehrt waren Heiraten von Böhmen und Mährern mit Wienerinnen selten, von Galiziern und Bukowinern häufiger, wenngleich sie auch unter dieser Gruppe nur jede vierte Eheschließung betrafen. Tabelle 2: Geburtsangehörigkeit der in Wien Getrauten aus den böhmischen Ländern und Galizien/ Bukowina im alten und neuen Stadtgebiet 1889/90, 1891/9279 1889/90 Braut Bräutigam Böhmen Mähren Schlesien BL Böhmen Mähren Schlesien Gal/Buk

1.220 494 47

435 528 55

42 49 44

Gal/ Wien Buk 1.697 401 1.071 356 146 84 107 106

1891/92 Braut Bräutigam Böhmen Mähren Schlesien BL Böhmen Mähren Schlesien Gal/Buk

2.396 867 119

858 966 98

85 70 49

3.339 1.903 266

Gal/ Wien Buk 836 688 133 179 137

übrige Gesamt Endogamie 825 2.923 58,1 462 1.889 56,7 108 338 43,2 291 397 27,0

übrige Gesamt Endogamie 1.278 5.453 61,2 805 3.396 56,0 131 530 50,2 450 587 30,5

Wien 13,7 18,8 24,9 26,7

Wien 15,3 20,3 25,1 23,3

BL = Böhmische Länder; Gal/Buk = Galizien und Bukowina

Das Leben im vom Donaukanal umgebenen Gebiet der Leopoldstadt und der Brigittenau, auf der „Mazzesinsel“, oder in anderen von der jüdischen Bevölkerung bevorzugten Wohnbezirken bewirkte auch keineswegs ein überproportional häufiges Heiraten im engeren Wohnmilieu. Während im Jahr 1900 86 Prozent der Favoritener Bräutigame und 72 Prozent der Ottakringer eine Braut aus demselben Haus heirateten, war das in der Leopoldstadt „nur“ bei 46 Prozent der Eheschließungen der Fall. Heiratsbeziehungen über die engeren Bezirksgrenzen hinaus waren unter jüdischen Migranten und Migrantinnen offensichtlich wesentlich häufiger als unter Tschechen und Tschechinnen. 79 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 7 (1889), 29; 8 (1890), 43; 9 (1891), 51; 10 (1892), 89, Wien 1890–1894; eigene Berechnungen.

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Generell waren Hochzeiten von im selben Haus lebenden Brautpaaren in den proletarischen Außenbezirken signifikant häufiger als im übrigen Wien. Die Gründe dafür lagen in den verbreiteten Konkubinaten, der Kleinräumigkeit proletarischer Nachbarschaft und im Nachholen und Nachziehen von potenziellen Bräuten und Bräutigamen aus den Herkunftsgebieten von Zuwanderern. Nach der Jahrhundertwende erweiterten sich die Heiratskreise allerdings nach und nach. Tabelle 3: Wohnort der Eheschließenden in ausgewählten Bezirken 190080 Wohnort der Braut Wohnbezirk des im selben Bräutigams Haus Bezirk abs. in % abs. 1 71 20,4 163 2 570 46,3 884 9 257 37,5 419 10 1171 86,1 1214 16 1146 71,7 1386 Wien 8784 53,5 11458

anderen Bezirk in % 46,8 71,9 61,2 89,3 86,7 69,8

abs. 166 313 245 140 203 4072

in % 47,7 25,4 35,8 10,3 12,7 24,8

außerhalb Wiens Gesamt abs. 19 33 21 6 10 891

in % 5,5 2,7 3,1 0,4 0,6 5,4

abs. 348 1230 685 1360 1599 16421

Insgesamt bestand also sowohl bei tschechischen als auch bei jüdischen Zuwanderern eine sehr ausgeprägte Endogamie. Diese äußerte sich bei der jüdischen Bevölkerung in sehr häufiger Heirat innerhalb der religiösen Gemeinschaft, bei der tschechischen Bevölkerung in der Praxis, Bräute oder Bräutigame aus dem Geburtsland zu heiraten und/oder Ehepartner im engsten Wiener Wohnumfeld zu suchen. Dieses Wohnumfeld kennzeichnete eine sehr hohe kleinräumige Konzentration von tschechischen Zuwanderern. Familiennetzwerke spielten bei beiden Migrantengruppen eine wichtige Rolle, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Während jüdische Familien häufig in einem Wanderungsvorgang zuzogen, holten tschechische Einzelwanderer Familienmitglieder nach.81 Auch auf das bereits erwähnte „Wessely“-Sample aus der „Kartei der Fremden“ traf das zu. Unter den in den böhmischen Ländern Geborenen kamen um 1880 rund 46 Prozent als Einzelwanderer.82

80 Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 18 (1900), Wien 1902, 40; eigene Berechnungen. 81 John/Lichtblau, Schmelztiegel Wien, 169. 82 Eigene Berechnungen nach Wiener Stadt und Landesarchiv, Konskriptionsamt, Kartei der Fremden, A 17: 424–425.

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4. Die langfristigen Folgen des „Jahrhunderts der Zuwanderung“

Wie am Beispiel der tschechischen und jüdischen Zuwanderung nach Wien gezeigt wurde, erscheint eine einseitige Fokussierung auf die Jahrhundertwende als „migrationshistorische Ausnahmesituation“ zumindest fragwürdig. Die Geschichte der Zuwanderung der mit Abstand größten Migrantengruppen, der Tschechen und Juden, hatte ebenso wie die massiven Abwehrhaltungen gegen diese Gruppen historische Wurzeln, die weit in das 19., ja zum Teil in das 18. Jahrhundert zurückreichen. Wie auch Andreas Resch in seinem Beitrag zum vorliegenden Band betont, stand das Wien der Jahrhundertwende keineswegs vor jenem „Integrationsdebakel“, welches der nationalistisch und antisemitisch aufgeladene zeitgenössische Diskurs suggerierte. Dem „cultural clash“ zwischen der einheimischen Bevölkerung, einschließlich ihrer „assimilierten“ Teile, und ihrem orthodox-jüdischen oder aber auch nationalbewusst tschechischen Gegenüber standen durchaus zahlreiche Erfolgsgeschichten von Zuwanderern gegenüber, die durch die ökonomische Überwindung der Krise von 1873 befördert wurden. Der antisemitische und antitschechische Populismus luegerscher Prägung stellte für diese „Chancenwanderer“ allenfalls eine Behinderung dar.83 Gleichwohl, die späten Jahre der Donaumonarchie blieben im kollektiven Gedächtnis Wiens bis in die Gegenwart als außergewöhnlicher Migrationsgipfel haften. Wenn in diesem Zusammenhang Bilder vom „Schmelztiegel“ oder vom „Glanz und Elend der Kaiserzeit“ bedient werden, dann schwingt für den kleinen Kreis der noch lebenden Augenzeugen ebenso wie für manche Nachgeborenen jene skeptische Haltung gegenüber Zuwanderern von außerhalb der heutigen Landesgrenzen mit, die sich durch die späteren Migrationsgeschichten und -politiken der Ersten und Zweiten Republik in Österreich wie ein roter Faden verfolgen lässt.84 Die Hervorhebung der außergewöhnlichen demografischen Situation der ausgehenden Habsburgermonarchie, die, wie gezeigt wurde, so einmalig nicht war, diente und dient daher offensichtlich nicht zuletzt als ein offenes oder verstecktes Vehikel zur Legiti83 Vgl. dazu Andreas Resch, Die Wiener Kulturwirtschaft um 1910 und der Stellenwert von Juden, Tschechen und „Staatsfremden“. Eine quantitative Darstellung unter Einbeziehung zeitgenössischer sozioökonomischer Entwicklungen und aktueller Diskurse zur Wiener Kultur im sogenannten Fin de Siècle in diesem Band. 84 Eugene Sensenig, Reichsfremde, Staatsfremde und Drittausländer, in: Eugene Sensenig/Michael John/Sylvia Hahn, Das Ausland im Inland. Zur Geschichte der Ausländerbeschäftigung und Ausländerintegration in Österreich: Fremde, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter und Flüchtlinge. Projektbericht, Linz 1998, 1–699; Andreas Weigl, Migration und Integration eine widersprüchliche Geschichte, Innsbruck – Wien – Bozen 2009; Heinz Fassmann/Rainer Münz, Einwanderungsland Österreich? Historische Migrationsmuster, aktuelle Trends und politische Maßnahmen, Wien 1995; Rainer Bauböck/Bernhard Perchinig, Migrations- und Integrationspolitik, in: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Herbert Gottweis/Helmut Kramer/Volkmar Lauter/Wolfgang C. Müller/ Emmerich Tálos (Hrsg.), Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien 2006, 726–743.

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mierung restriktiver Einwanderungspolitiken und xenophober Grundhaltungen. Die in eine Identitätskrise verstrickte junge Erste Republik verschrieb sich zunächst unter dem Druck der Straße und der allgegenwärtigen Ressourcenkonflikte bald einem in allen Nachfolgestaaten zu beobachtenden Trend einer ethnischen Homogenisierungspolitik. Während das 1925 noch als Reaktion auf gewerkschaftliches Drängen zustande gekommene Inländerarbeiterschutzgesetz am Arbeitsmarkt zunächst mehr theoretisch als praktisch Wirkung zeitigte, verfestigte sich eine bis in die Gegenwart tradierte Haltung, Österreich im Allgemeinen und Wien im Besonderen allenfalls noch als Transit-, aber jedenfalls nicht als „Einwanderungsland bzw. -stadt“ zu definieren. Das sollte sich auch im Umgang mit Flüchtlingen zeigen. Trotz der in der Geschichte der Zweiten Republik phasenweise geübten liberalen Asylpraxis blieb Österreich bis zu einem gewissen Grad auch auf diesem Feld der Migrationspolitik ein „Asylland wider Willen“.85 Dieser Grundhaltung stand freilich die migrationshistorische Realität, besonders der Jahre 1945ff., 1956, 1968, 1981/82 und während der Bürgerkriege in Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten 1991/99, gegenüber. Erst die neuerliche Zugehörigkeit zu einer übernationalen politischen und ökonomischen Union hat durch die Kraft des Faktischen neue Gegebenheiten geschaffen, die zum offiziellen Bekenntnis Wiens als „Einwanderungsstadt“86 führten. An der abgestuften Abwehrhaltung änderte dies freilich nur bedingt etwas. Vereinfacht formuliert übernehmen die Rolle der deutschsprachigen Böhmen, Mährer und Schlesier nunmehr die in Wien lebenden EU-Bürger und -Bürgerinnen, die der „Tschechen“ um 1900 südosteuropäische Migranten und Migrantinnen und die der galizischen Juden vor allem die türkische und türkischstämmige Minorität. Damit einher geht eine Exotisierung der „Fremden“, eine Imprägnierung mit einer differenten Genealogie, was schon den Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts eigentümlich gewesen war.87 Das Ziehen einfacher Vergleiche hat allerdings auch seine Grenzen. Die absoluten und relativen Dimensionen der Zuwanderung haben sich nach 1918 mit Ausnahme einiger weniger Krisenjahre nicht mehr wiederholt. Ressourcenkonflikte treten vermittelter, Unterschichtungsphänomene hingegen in größerem Ausmaß auf. Kein Zweifel kann jedoch bestehen, dass sich das späte 19. Jahrhundert ebenso in die bis in das Hochmittelalter zurückreichende Geschichte der „Zuwanderungsstadt“ Wien einfügt wie das 18. oder das ausgehende 20. Jahrhundert.

85 Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hrsg.), Asylland wider Willen. Flüchtlinge in Österreich im europäischen Kontext seit 1914 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 25), Wien 1995. 86 Magistrat der Stadt Wien (Hrsg.), MigrantInnen in Wien 2007. Daten, Fakten, Recht, Wien 2007, 3. 87 Csáky, Gedächtnis, 172.

Autoren und Autorinnen

Steven Beller, Dr., freischaffender Historiker in Washington, DC. Autor mehrerer Bücher, darunter (auf Deutsch) Wien und die Juden 1867–1938 (Wien – Köln – Weimar 2015) und Geschichte Österreichs (Wien – Köln – Weimar 2007). Moritz Csáky, Dr. phil., em. Univ.-Prof., Historiker und Kulturwissenschaftler; Wirkliches Mitglied der Österreichischen, auswärtiges Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien. Wladimir Fischer-Nebmaier, Dr. phil., Univ.-Lektor am Institut für Wirtschafts- und Sozial­ geschichte der Universität Wien. Historiker. Forscher am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften. Christian Glanz, Dr., ao. Univ.-Prof. am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Publikationen zu den Themen Musik und Politik, historische Aspekte österreichischer Popularmusik, Gustav Mahler (Monographie 2001), Hanns Eisler (Monographie 2008). Seit November 2012 Leitung des FWF-geförderten Projekts „Eine politische Geschichte der Oper in Wien 1869 bis 1955“. Marcus Gräser, Dr. phil., Univ.-Prof. für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz. Arbeitsschwerpunkt nordamerikanische und zentraleuropäische Geschichte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, auch in vergleichender Perspektive. Zuletzt erschienen: Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland 1880–1940 (Göttingen 2009). Sylvia Hahn, Dr., ao. Univ.-Prof. am Fachbereich Geschichte und dzt. Vizerektorin für Internationale Beziehungen und Kommunikation der Universität Salzburg; Forschungsschwerpunkte: Migrations-, Stadt,- und Geschlechtergeschichte, Geschichte der Arbeit. Elisabeth Heimann, Mag. phil., Master of Arts, Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Österreichische Geschichte 19. und frühes 20. Jahrhundert an der Universität Wien sowie an der Università degli Studi di Siena.

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Autoren und Autorinnen

Klaus Hödl, Dr., Univ.-Doz., Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz; Affiliated Professor an der University of Haifa; Forschungsschwerpunkte: Osteuropäisches Judentum, Methoden der jüdischen Geschichtsschreibung und jüdische Kulturgeschichte. Zuletzt erschienen: Kultur und Gedächtnis (Paderborn 2012). Michael John, Dr. phil., ao. Univ.-Prof. am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz; Forschungsschwerpunkte: Städtische Sozialgeschichte, regionale Wirtschaftsgeschichte, Populärkultur, Heim- und Fürsorgeerziehung, Migration und Minderheiten; Kurator diverser Ausstellungen, darunter zur Migration in Österreich ebenso wie im gesamteuropäischen Raum. Alexander, Klee, Dr. phil., Kurator für die Sammlung 19. & 20. Jahrhunderts am Belvedere in Wien; 2016 Ausstellung „Kubismus – Konstruktivismus – Formkunst“. Isabella Lehner, Mag. phil., Studium der Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte an der Universität Wien sowie an der Swansea University in Großbritannien. Jacques Le Rider, Dipl. Polit., Dr. phil., Univ-Prof. an der École pratique des hautes études, Section des sciences historiques et philologiques. Mitglied der Forschungsgruppe UMR 8131 EHESS-CNRS „Centre Georg Simmel. Recherches franco-allemandes en sciences sociales“. 2000 Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung. 2009 Guizot Preis der Académie française. Oktober 2012 bis Januar 2013 Stadt Wien-Fellow des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK). Seit April 2015 Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse im Ausland). Wolfgang Müller-Funk, Dr. phil. habil., Univ.-Prof., lehrt u.a. am Institut für Europäische und Vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Kulturanalyse, Theorie des Narrativen, österreichische Literatur und zentraleuropäische Studien, Essay und Essayismus, Literatur und Philosophie der Romantik und der  ‚klassischen‘ Moderne. Zuletzt erschienen: The Architecture of Modern Culture (Berlin 2012), Die Dichter der Philosophen (Paderborn 2013). Thomas Olechowski, Dr. iur., ao. Univ.-Prof. am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien; wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Geschäftsführer des Hans Kelsen-Instituts (Bundesstiftung). Leiter eines FWF-geförderten Projekts zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 1918–1938 sowie eines FWF-geförderten Projekts zu Leben und Werk von Hans Kelsen.

Autoren und Autorinnen

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Birgit Peter, Mag. Dr., Priv.-Doz., Leitung des Archivs und der theaterhistorischen Sammlung des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Fachgeschichte, Theatergeschichte, Zirkusgeschichte. Zuletzt erschienen: Zweigs Theater. Der Dramatiker Stefan Zweig im Kontext europäischer Kultur- und Theatergeschichte (gemeinsam mit Klemens Renoldner, Würzburg 2013) sowie Artistenleben auf vergessenen Wegen. Eine Spurensuche in Wien (gemeinsam mit Robert Kaldy-Karo, Wien 2013). Hans Petschar, Dr. phil., Direktor Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Vertreter der Österreichischen Nationalbibliothek in der Conference of European National Librarians CENL, Mitglied der Kommission für die Neuere Geschichte Österreichs. Andreas Resch, MMag. Dr., Studium der Geschichtswissenschaften und Germanistik sowie der Volkswirtschaftslehre an der Universität Wien, ao. Univ.-Prof. am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien, Leiter des WWTF-geförderten Projektes „Creative Industries in Vienna: Development, Dynamics, and Potentials“, zahlreiche Veröffentlichungen zur österreichischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, u.a. auch zur Geschichte der Wiener Kulturwirtschaft. Andreas Weigl, Mag. phil., Mag. Dr. rer. soc. oec., Univ.-Doz., Studium der Wirtschaftsinformatik und Geschichte an der Universität Wien, Mitarbeiter des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Leiter wissenschaftlicher Projekte und Kooperationen, Vorsitzender des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, seit 2001 Privatdozent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien mit Schwerpunkt historische Demographie. Publikationen: Bevölkerungsgeschichte Europas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (Wien – Köln – Weimar 2012), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg (hrsg. mit Alfred Pfoser, Wien 2013).

Herausgeberinnen

Elisabeth Röhrlich, Dr. phil., Elise Richter Senior Researcher am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Agnes Meisinger, Mag. phil., Projektmitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien.

WILLIAM M. JOHNSTON

ZUR KULTURGESCHICHTE ÖSTERREICHS UND UNGARNS 1890–1938 AUF DER SUCHE NACH VERBORGENEN GEMEINSAMKEITEN AUS DEM ENGLISCHEN VON OTMAR BINDER (STUDIEN ZU POLITIK UND VERWALTUNG, BAND 110)

Österreich und Ungarn generierten nicht nur nationale Kulturen, sondern auch eine bisher unterbewertete „Reichskultur“, die ihren Niederschlag in Literatur, Operette, Architektur, Design und Psychoanalyse fand. William M. Johnston bietet anhand seiner profunden Recherche literarischer Quellen eine neue Sichtweise auf die Zeit der Doppelmonarchie und deren Nachfolgestaaten. Auf bauend auf seinen Standardwerken Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte und Der österreichische Mensch untersucht William M. Johnston in seinem neuen Werk Denkmodelle, die die kulturelle Konkurrenz zwischen Wien und Budapest in der Spätphase der Doppelmonarchie beleuchten. Er bedient sich dazu neuer Leitbegriffe, die entweder noch weitgehend unbekannt sind (Virgil Nemoianus „mitteleuropäische Lernethik“, Peter Weibels „dritte Kultur der Wissenschaft als Kunst“) oder die, wie das „Unklassifi zierbare“, neu konzipiert wurden. Gemeinplätze wie „Wien 1900“ oder „Budapest 1905“ werden aus drei Blickwinkeln untersucht: dem österreichischen, dem ungarischen und jenem der Doppelmonarchie. 2015. 328 S. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-79541-4

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