Räume des Ankommens: Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht 9783839434482

Cultural clash or the culture of welcoming? The book `Spaces of Arrival' provides insights into the past and presen

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German Pages 240 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einbruch der Nacht. Zur Bedeutung des »Traumraumes« bei der Flucht
2. Die Ortlosigkeit der Werte. Gadamer und Derrida über die Offenheit normativer Ordnungen
3. Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft Psychotektonische Landschaften
4. Eine kleine Typologie der Flüchtlingsbauten
5. Tilman Harlander im Interview mit
6. Fluchtraum. Architektur- und raumtheoretische Überlegungen zu Flüchtlingsräumen
7. Räume der Gemeinschaft
8. ¿Cuándo llegare? Topographien des Ankommens
9. Ankunftsquartier
10. Modulhaus für Flüchtlinge
11. Grandhotel Cosmopolis. Eine soziale Plastik in Augsburgs Herzen
12. Heimat für Körper und Geist
13. Bienvenue. Neue Formen des Zusammenlebens
14. Causal relationships. Topography of brain
15. Der Jungle von Calais
16. Weltmarkt und Raumdynamik. Migrationsräume des Kapitalismus
17. Migration und Stadtentwicklung
Biografien
Abbildungsverzeichnis
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Räume des Ankommens: Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht
 9783839434482

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Räume des Ankommens

Amalia Barboza, Stefanie ­Eberding, Ulrich Pantle, Georg Winter (Hg.)

Urban Studies

R ÄU M E D E S A N K O M M E N S Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht Amalia Barboza, Stefanie ­Eberding, Ulrich Pantle, Georg Winter (Hg.)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der D ­ eutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Konzept, Gestaltung und Satz: Manuel Wesely (mmm.do) Lektorat: Irene Boose Korrektorat: Lilo Burlafinger, Rainer Hartz, Julia Lengyel, Petra Pfeffer, Lil Thomas Printed in Germany Print- I SBN 978–3–8376–3448–8 P DF- I SBN 978–3–8394–3448–2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Roma Büro Freiburg

Inhalt

9 Vorwort Amalia Barboza, stefanie eberding, ulrich pantle, georg winter

13 1 Einbruch der Nacht Zur Bedeutung des »Traumraumes« bei der Flucht Amalia Barboza 29 2 Die Ortlosigkeit der Werte Gadamer und Derrida über die Offenheit normativer Ordnungen Daniel Martin Feige 39 3 Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft Psychotektonische Landschaften Georg Winter 49 4 Eine kleine Typologie der Flüchtlingsbauten Ulrich Pantle 75 5 Tilman Harlander im Interview mit Stefanie Eberding und Ulrich Pantle 83 6 Fluchtraum. Architektur- und raumtheoretische Überlegungen zu Flüchtlingsräumen Markus Dauss 101 7 Räume der Gemeinschaft Anne-Julchen Bernhardt und Anna marijke Weber 123 8 ¿Cuándo llegare? Topographien des Ankommens Amalia Barboza

137

9 Ankunftsquartier Stefanie Eberding

155 10 Modulhaus für Flüchtlinge Esther Heuser 163 11 Grandhotel Cosmopolis. Eine soziale Plastik in Augsburgs Herzen Michael Adamczyk 171 12 Heimat für Körper und Geist Bernd Schmitt 181 13 Bienvenue. Neue Formen des Zusammenlebens Barbara Holub 197 14 Causal relationships. Topography of brain Adi Hösle 207

15 Der Jungle von Calais Stephan Mörsch

217 16 Weltmarkt und Raumdynamik. Migrationsräume des Kapitalismus Christoph Henning 229 17 Migration und Stadtentwicklung Tomas Wald

233 Biografien 237 Abbildungsverzeichnis

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Vorwort

»Flüchtlinge« war das »Wort des Jahres 2015«, mit dem die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache in der jährlich veranstalteten Wahl ein Wort prämierte, das in Deutschland den öffent­lichen Diskurs des Jahres wesentlich geprägt habe. Ein Wort, das nicht nur eine Diskussion um die sprachliche und politische Korrektheit des Begriffs entfachte. Es zeigt auch, wie sich komplexe weltpolitische Prozesse in Deutschland auf einen Begriff komprimieren, der in seiner Verwendung mitnichten diese Komplexität der Weltgesellschaft und der geschlossenen nationalen Grenzen widerspiegelt. Während der anwachsenden Diskussion um die sogenannte »Flüchtlingskrise« wurden andere Wörter als Alternative vorgeschlagen, unter anderem das Wort »Geflüchtete«, um politisch korrekter mit dem Phänomen umzugehen. Dieses Wort deutet an, dass nach der Registrierung die Flucht in der Vergangenheit liegt und die registrierten Personen nicht mehr Flüchtlinge genannt werden können, weil sie sich nicht mehr auf der Flucht befinden und schon angekommen sind. Dass die meisten registrierten Geflüchteten aber immer noch von einem Ort zu einem anderen geschickt werden und dass sie Jahrelang auf Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis warten, wird durch die politische korrekte Wortwahl ausgeklammert. In dieser Hinsicht erscheint es vielleicht viel realistischer, solange die Sachlage sich nicht ändert, politisch unkorrekte Wörter zu benutzten, so wie Tunay Ö ­ nder und Imad Mustafa in ihrem Blog migrantenstadl dies programmatisch ausüben. Zwei Blogger der sogenannten zweiten Generation, die obwohl sie in Deutschland geboren sind und ein Studium erfolgreich abgeschlossen haben, sich trotzdem an der Peripherie fühlen und das nicht schön und politisch korrekt reden wollen: »Migrationsbiographie ist eine Manie, ich verfolge sie, und sie verfolgt mich ...«1 Im Jahr 2014 bildete sich eine Arbeitsgruppe mit Stefanie Eberding und Ulrich Pantle von der HTW Saar, SAS Schule für Architektur Saar, Georg Winter vom S_A_R Projektbüro der HBKsaar, und Amalia Barboza von der Universität des Saarlandes. Eine Gruppe von VertreterInnen verschiedener Hochschulen, die normalerweise wie in Parallelgesellschaften arbeiten, die sich kaum berühren. Schon Charles Percy Snow hatte in seinem Buch Zwei Kulturen die Trennung zwischen verschiedenen Disziplinen (zwischen Wissenschaft und Kunst) mit einem Meer verglichen, das sich schwer überwinden lässt.2 Das Thema Migration und Flucht und die vielen Toten im Mittelmeer an den Grenzen Europas brachte die Gruppe zusammen, um auf verschiedenen Plattformen wie in Lehrveranstaltungen, Sym1

2

Tunay Önder / Imad Mustafa, migrantenstadl, Münster 2016, S. 7. Charles Percy Snow, The Two Cultures (1959), Cambridge 1998, S. 2.

Abb. 1 Aufbau einer Jurte am Tag der offenen Tür 2013, Universität des Saarlandes

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posien und Ausstellungen, Ideen für eine Analyse der Situation, so wie auch für eine mögliche Neugestaltung der Ankunftskultur zu finden. So bündelten sich verschiedene Ansätze und Initiativen, die bis jetzt getrennt verfolgt wurden, in einem gemeinsamen Austausch. Während der Vorbereitungen zum Symposium Ankommen! Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft im Mai 2015 verschärfte sich die Flüchtlings­situation in Europa dramatisch und dominierte die Medien. Bereits in den Diskussionen in der Arbeitsgruppe um eine richtige Terminologie zeigten sich unterschiedliche Standpunkte und Sichtweisen bei den Vertretern der verschiedenen Disziplinen. So wurde beispielsweise auch unter uns die Definition des »Flüchtlings« kontrovers diskutiert. Orientierung gaben integrativ angelegte Projekte, die alternative Begriffe vorschlugen. Die Gäste im »Grand Hotel Cosmopolis« in Augsburg, in dem Flüchtlinge und Touristen gleichermaßen wohnen, werden beispielsweise in »freiwillige« und »unfreiwillige Reisende« unterschieden. Der »KitchenHub« in Berlin schlägt die Bezeichnung »Geflüchtete« und »Beheimatete« vor. Die Trennung zwischen Herkunfts- und Ankunftsräumen, zwischen Peripherie und Zentrum, lässt sich aber auch relativieren, wenn man bedenkt, wie Christoph H ­ enning in seinem Beitrag pointiert, dass die Peripherie und die Gebiete, aus denen die Menschen fliehen müssen, ein Produkt des Zentrums, des Westens sind. Aus einer anderen Perspektive, die eine Reflexion über das Eigene in Anbetracht der »Bedrohung« des Fremden einschließt, zeigt uns wiederum, dass die Aufnahmegesellschaft eine flüchtige Gesellschaft ist, in der es keine Empathie für die Anderen in Not gibt. Vielleicht gerade weil diese Gesellschaft sich auch in einer täglichen Flucht oder wie Georg Lukács sagte, in einer transzendentalen Obdachlosigkeit befindet.3 Die EuropäerInnen machen die Grenzen zu, lassen die Flüchtlinge nicht rein, aber selbst fliegen sie in Urlaubsgebiete, die sich zu Kriegsgebieten entwickeln. Sie suchen Asyl in gesicherten Resorts in Ägypten oder Tunesien, oder am Wochenende 3

Georg Lukács, Die Theorie des Romans (1916–1920), Bielefeld 2009.

11 Abb. 2 Modulhaus für Flüchtlinge in der Hand­ werkergasse im Weltkultur­ erbe Völklinger Hütte, ­Dependance der HBK Saar

in den heimischen Kinosälen. Schon Siegfried Kracauer nannte das Kino »Asyl für Obdachlose«.4 Die Konsequenz daraus wäre, uns alle, sowohl die Einheimischen, die Langzeitansässigen, als auch die Neubürger, die Einwanderer, die Nichtbürger, die auf dem Weg zur Einbürgerung oder die Verschollenen, »Flüchtlinge« zu nennen. Und im Prinzip sind wir alle Flüchtlinge, in der Spanne zwischen Geburt und Tod. In dieser Zeit verfolgen wir Lebenswege, bauen Hütten, ziehen aus, richten uns anderswo ein … bis wir nicht mehr können. In diesem Buch sind einige der Beiträge aus dem Symposium Ankommen! Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft versammelt, so wie auch andere Aufsätze, die später dazukamen und die uns wichtig erschienen, um das Phänomen des Ankommens und der Flucht zu beleuchten. Obwohl es unser Ziel war, Ankunftsorte zu analysieren und neue zu imaginieren, ist es uns wichtig zu betonen, dass in diesem Buch keine fertigen Lösungen angeboten werden: keine Bau­patente, keine sprachlichen Verbesserungen und politisch korrekten Terminologien und keine Integrationsrezepte. Die versammelten Beiträge weisen auf existierende Räume und Wege des Ankommens hin, so wie auch auf neue anvisierte Topographien. Es sind offene Wege der Reflexion von den Standpunkten der verschiedenen Disziplinen. In der Situation, in der sich ein geschlossenes Europa gerade befindet, ist es mehr denn je wichtig, dass an einem Dialog der Kulturen, der Disziplinen, gearbeitet wird. So dass wir in der Lage sind, die Trennung zwischen den Ozeanen zu überwinden, um neue Brücken der Verständigung zu schaffen. Ideal wäre, wenn in der institutionellen Landschaft der Hochschulen ein neues Institut entstehen könnte, in dem interdisziplinär gearbeitet wird, um eine neue Ankommenskultur, eine Kultur des Dialogs, des Ausprobierens und Testens zu ­ermöglichen. Ein Institut für Heimatkunde bzw. für Heimatlosigkeit auf der Suche nach einer vorübergehenden Heimat. Einige solcher Einrichtungen (Abb. 1, 2) sind schon in den Hochschulen ausprobiert worden, andere werden kommen. 4

Siegfried Kracauer, Die Angestellten (1929), Frankfurt am Main 1971, S. 281–291.

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DANK Wir danken den zahlreichen Unterstützern. Vor allem den beteiligten Hochschulen: der HTW Saar, der HBKsaar sowie der Universität des Saarlandes; dem Roma Büro Freiburg e.V., welches das Projekt »Ankommensquartier für Freiburg« mit­ initiiert und betreut hat; dem Museum für Neue Kunst Freiburg und der Stadt Freiburg, die eine Präsentation und Diskussion der architektonischen Entwürfe ermöglicht und unterstützt haben. Wir danken auch allen BewohnerInnen und LadenbesitzerInnen der Stadt Saarbrücken, die es von den unterschiedlichsten Orten der Welt nach Deutschland verschlug und die uns ihre Einrichtungen und ihre Willkommenskultur gezeigt haben. Dank geht auch an Irene Boose und Manuel Wesely, die beim Lektorat und der Gestaltung des Buches einen wesentlichen Beitrag leisteten. Ein besonderer Dank geht an die Studierenden der HTW Saar, der HBKsaar sowie der Universität des Saarlandes, die mit großem Engagement Interviews geführt haben, neue Ideen und Konzepte zum Themenbereich und damit spannende Diskussionsgrundlagen geliefert haben. Mit großer Begeisterung haben sie mit Unterstützung von Markus Towae das Modulhaus für Flüchtlinge in der Handwerkergasse in Völklingen errichtet. Wir bedanken uns schließlich bei all jenen, die an dem Symposium Ankommen! Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft teilgenommen haben, sowie bei den zahlreichen Akteuren, die bei dieser Veröffentlichung mitgewirkt haben. Amalia Barboza, Stefanie Eberding, Ulrich Pantle, Georg Winter »Der Punkt, an dem zwei Themengebiete, zwei Disziplinen, zwei Kulturen – zwei Galaxien, könnte man auch sagen – zusammenstoßen, sollte kreative Gelegenheiten erzeugen. In der Geschichte der geistigen Tätigkeit war dies immer der Ort, an dem es zu einem der Durchbrüche kam. Nun gibt es solche Gelegenheiten.« Charles Percy Snow, The Two Cultures (1959), Cambridge 1998, S. 16.

EINBRUCH DER NACHT AMALIA BARBOZA

Einbruch der Nacht

Bei den vielen Reportagen, die in den letzten Monaten zur sogenannten Flüchtlingskrise in den Medien erschienen sind, fiel mir eine Reportage in der Zeitung Die Zeit besonders auf. Es handelt sich um Schwarz-weiß-Fotos von Geflüchteten, begleitet von kurzen Interviews darüber, was sie nachts tun und wovon sie träumen.1 Die Reportage wurde von dem Photographen Andy Spyra und der Journalistin Malin Schulz geführt. Wir sehen Menschen in der Nacht, bevor sie in einer Massenunterkunft in den Hamburger Messehallen schlafen gehen müssen. Alle zögern den Moment noch hinaus, schlafen zu gehen. Einige rauchen eine letzte Zigarette oder gehen an die frische Luft. Es gibt auch ein Foto von einem Mann, der einen Zettel in der Hand hält. Auf dem Zettel hat er einen Dankes-Text an die Deutschen geschrieben und einen Alptraum mit wenigen Strichen gezeichnet (Abb. 3). Als ich die Reportage sah, wollte ich mehr über diese Fotos und über diese Interviews erfahren. Ich trat mit dem Photographen in Kontakt, mit der Idee, im Rahmen des Graduiertenkollegs »Europäische Traumkulturen«2 eine Ausstellung in Saarbrücken zu organisieren. Am Telefon sagte er mir, dass die Reportage nur eine einmalige Sache war. Er und Malin Schulz hätten in zwei Nächten diese Fotos und Interviews für Die Zeit gemacht und außer diesen Bildern, hätte er nicht mehr Material. Somit war das Projekt, eine Fotoausstellung in Saarbrücken zu organisieren, nicht mehr realisierbar. Die Reportage aber ließ mich nicht los. Zuerst schienen mir der Schlaf und das Träumen während der Flucht keine zentrale, sondern eher eine Nebentätigkeit zu sein. Eine Nebensache, die man als Flüchtender jedoch täglich erledigen muss, um am nächsten Tag nicht völlig unbrauchbar zu sein. Aber umso mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erschien mir der Schlaf und damit der »Traumraum« während der Flucht nicht nur in dieser pragma­ tischen Hinsicht wichtig, sondern auch für das Phänomen der Flucht paradigmatisch von Bedeutung. Als könnte der »Traumraum« als ein Archetyp der Flucht erfasst werden. Ein Ort, an dem der Mensch täglich daran erinnert wird, dass er ausgeliefert ist. Ein Ort, der aber gleichzeitig die Potentialität hat, dem alltäglichen

Zur Bedeutung des »Traum­ raumes« bei der Flucht

Amalia Barboza

1

Malin Schulz / Andy Spyra, Warum wir nicht schlafen können, DIE ZEIT, 40 / 2015. Ich danke Malin Schulz und Andy Spyra für die Genehmigung, einen Teil der Fotos und Interviews in diesem Buch abbilden zu dürfen (Abb. 3, 5, 6 und 7). 2 Das Graduiertenkolleg »Europäische Traumkulturen« wird seit 1. April 2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Forschungsgegenstände des Graduiertenkollegs sind ästhetische Traumdarstellungen sowie die Literatur- und Kultur-/Mediengeschichte des Traums. http://www.traumkulturen.de

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Abb. 3 Der Mann, der diesen Zettel zeigt, möchte aus Angst vor der syrischen Regierung seinen Namen nicht nennen und sein Gesicht nicht zeigen. Auf dem Zettel steht: »Ich habe meine hungernden Kinder im Krieg, unter den Bomben hinterlassen. Ich bin von Land zu Land gezogen, insgesamt habe

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ich acht Länder durchquert, bevor ich in Deutschland angekommen bin, im Land der Sicherheit. Ich will meine Familie wieder zusammenbringen, sie aus den Trümmern Syriens retten. Danke an euch, an das deutsche Volk, dass wir in eurem Land sein dürfen.« Darunter hat er seinen Albtraum gezeichnet.

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Ausgeliefertsein zu entfliehen. Der Traum ist in dieser Hinsicht ein Archetyp. Wenn Archetyp als eine komplexe Struktur menschlicher Denk- und Handlungsmuster verstanden wird, welche sich in einer ständigen Metamorphose befindet, weil sich Gegensätze (wie Leben und Tod, Freiheit und Bestimmtheit, Vergangenheit und Zukunft, Vita activa und Vita passiva) vereinen.3 Im Folgenden möchte ich hier einige Überlegungen zum Traum als paradigmatischen Ort der Flucht und als einen Archetyp skizzieren. Das Ausgeliefertsein im Traum Ein Merkmal des Schlafens und des Träumens ist, dass wir als handelnde Menschen nicht in der Lage sind, uns gegen das, was im Traum passiert, zu wehren. Im Traum verfolgen wir, im Unterschied zur Welt des Alltags, keine Interessen, auch keine Wirkungen, wir sind machtlos gegenüber dem Geschehen, das wir nicht beeinflussen können. Zugleich ist die Zeitperspektive im Traum sehr komplex. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft scheinen miteinander vermengt zu sein.4 Wir sind sozusagen machtlos, dem ausgeliefert, was zeitübergreifend passiert. Wenn wir etwas gegen unseren Traum unternehmen wollen, können wir nur eines tun: aufwachen. In dieser Hinsicht ist der »Traumraum« ein Ort, an dem wir nicht handeln können und ausgeliefert sind. Gerade einem solchen Ort versuchen die Geflüchteten zu entrinnen. Man gerät auf die Flucht, weil man aus einem Raum fliehen möchte, in dem es keine Perspektiven gibt oder nur die Perspektive des Todes. Die ganze Kraft, welche Geflüchtete haben, besteht darin, die Hoffnung zu haben, dass sie diesem Raum entkommen können und irgendwann nicht mehr auf der Flucht sind, sondern in einem neuen Raum mit Perspektiven (Perspektiven des Handelns, Perspektiven einer Zukunft, eines Lebens ohne ständige Bedrohung durch Tod). Deswegen ist gerade der »Traumraum« paradigmatisch für die Flucht: Obwohl die Flüchtlinge sich auf dem Weg befinden, um Räumen der Perspektivlosigkeit zu entkommen, sind sie täglich während des Schlafens gezwungen, sich auf den »Traumraum« einzulassen. Und hier sind sie wieder ausgeliefert. Als könnte der Mensch dem Ausgeliefertsein nie entkommen. Die Warnungen im Traum Obwohl wir uns nächtlich in der Logik des Traums bewegen, ohne uns dagegen wehren zu können, ist es wichtig auch festzuhalten, dass der Traum uns nicht nur auf unseren passiven Zustand in dieser Welt aufmerksam macht, sondern uns gleichzeitig zeigt, dass er eine Quelle unseres Aktivitätsdranges sein kann. Viel3

Zum Begriff Archetyp siehe: Carl Gustav Jung, Die Archetypen und das kollektive Unbewusste. Gesammelte Werke Band 9 / 1, Olten / Freiburg im Breisgau, 1976; sowie auch die Interpretation von Gilbert Durand in L’Imagination Symbolique, Paris 1968. 4 Über die Merkmale der Welt des Traums, unter anderem dieses Ausgeliefertsein, siehe Alfred Schütz: Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten (1945). In: Ders., Werkausgabe. Bd. V. 1: Theorie der Lebenswelt 1. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt. hg. von Martin Endress / Ilja Srubar. Konstanz 2003, S. 217–222.

EINBRUCH DER NACHT AMALIA BARBOZA

leicht gerade weil der Traum uns deutlich macht, dass wir erst im Wachzustand die Möglichkeit des Handelns haben und uns somit darauf vorbereitet. Der Traum funktioniert deswegen manchmal wie ein Wegweiser, der uns genau dann, wenn wir nicht handeln können, auf die Wandelbarkeit der Welt, auf die permanenten Gefahren und Perspektiven hinweist und uns zeigt, dass wir im Wachzustand etwas dagegen unternehmen können. Die Frage ist, ob wir im Wachzustand auf diese Hinweise des Traums achtgeben wollen. Die psychoanalytische Traumarbeit besteht genau darin, die Botschaften des Traums ernst zu nehmen. Das Versprechen der Psychoanalyse ist, dass die Patienten nach langer Traumarbeit und psychoanalytischer Behandlung die verborgenen Traumata und latenten Gefahren, die in unserem Unterbewusstsein lauern, in den Griff bekommen können. Man kann diese Botschaften des Traums aber auch ignorieren und alles, worauf der Traum hinweist, verdrängen. Eine Frau, die als 15-jährige mit ihrer Familie aus Argentinien fliehen musste und heute als erfolgreiche Frau wieder in ihrem Herkunftsland lebt, erzählte mir, dass sie sofort nach dem Aufwachen ganz schnell alltägliche Dinge im Haushalt erledigt, um die Träume der Nacht aus ihrem Kopf zu verbannen. Somit kann sie sich dann auf ihr »normales« Leben konzentrieren, welches sie, nach dem Ende der Diktatur, wieder in ihrem Heimatland Argentinien führen kann. Aber wenn man vorhat, zu fliehen oder auf der Flucht ist, lassen sich diese Träume nicht verdrängen, sondern sie sind permanente Warnungen dessen, was gegenwärtig präsent ist und dem man entkommen möchte. Deswegen ist das Beste, was wir Geflüchteten tun können, wenn wir wach sind und aufstehen, uns auf den Weg zu machen. Auch wenn dieser Weg sich als eine Chimäre entpuppt, wie zum Beispiel bei dem »Kommando Norbert Blüm«-Flugblatt, welches sich als Sackgasse herausstellte (Abb. 4).5 Auf der Flucht ist man froh, aufstehen zu können, um sofort und aktiv einem Weg folgen zu können. 5

Abb. 4 Das ­»Kommando Norbert Blüm«Flugblatt

Es handelte sich um ein Flugblatt mit einem vorgezeichneten Weg über die Grenze nach Mazedonien. Das Flugblatt tauchte eines Tages im nordgriechischen Flüchtlingslager Idomeni auf. Tausende Flüchtlinge folgten diesem nachgezeichneten Weg und marschierten dann aus Idomeni über die Berge Richtung Mazedonien. Erst später stellten die Flüchtlinge fest, dass es sich bei dem Flugblatt sich um ein bösen »Scherz« von Unbekannten handelte.

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»In der Halle ist es zu laut zum Schlafen. Einige der Männer betrinken sich, obwohl sie Muslime sind, oder sie streiten laut. Ich glaube, es ist die Langeweile. Die macht alle verrückt. Atmen. Reden. Weinen. Streiten. Aber verstehen kann ich sie nicht. Hier werden viele Sprachen gesprochen: Arabisch, Kurdisch, Albanisch, Mazedonisch – alles durcheinander. Dann

Abb. 5 Rashid, 27, kommt aus Aleppo, Syrien

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das kalte Wasser: Davon wird man nicht sauber, also kann man nicht beten. Ich habe eigentlich nur zwei Träume. In dem einen Traum taucht meine Mutter auf, die wie ein Engel erstrahlt. Der andere Traum ist ein Albtraum. Das ist der Krieg. Wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich raus und stelle die Musik an meinem Smartphone an. Am liebsten mag ich Meditationsmusik.«

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Das Utopische im Traum Die Flucht bedeutet das Aufgeben von allem, was man hatte, um sich auf den Weg zu machen, in der Hoffnung, dass man zukünftig etwas haben wird. Das Bewusstsein des Flüchtenden ist ein zukunftsgerichtetes bzw. ein utopisches Bewusstsein. Das utopische Bewusstsein wird oft in Verbindung mit Träumerei oder Irrealität gebracht. Im Prinzip aber hat das utopische Bewusstsein, gerade bei der Flucht, nichts mit Träumerei und Irrealität zu tun, wenn man bedenkt, dass man einem »Alptraum« entfliehen möchte, bzw. einer Realität entkommen möchte, welche sich wie ein Alptraum zeigt. In dieser Hinsicht ist die Utopie nicht Irrealität, sondern der Drang zu einer anderen Realität, einer besseren Realität. Es gibt eine Definition des utopischen Bewusstseins, welche auf diese Realitätsfunktion der Utopie hinweist. Der Soziologe Karl Mannheim, der auch, zuerst 1919 aus Ungarn, seinem Geburtsland und dann 1933 aus Deutschland, seiner zweiten Heimat, flüchten musste, schreibt in seinem Buch »Ideologie und Utopie« (1929): »Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ›Sein‹ nicht in Deckung befindet«, aber in der Lage sei, dieses Sein zu transzendieren.6 Nur weil wir denken, dass wir eine Chance haben, diese Wirklichkeit, dieses Sein, in dem wir täglich leben, zu transzendieren, sind wir in der Lage, uns auf den Weg der Flucht zu begeben. Der Traum ist in einer bestimmten Form Wegweiser der Utopie, weil der Traum uns signalisiert, dass es einen anderen Raum als den Raum des täglichen Lebens in der Wirklichkeit des Krieges oder des Terrors gibt. Der Traum weist uns auf die Wandelbarkeit der Wirklichkeit hin oder zumindest auf die Existenz anderer gleichzeitig möglicher Räume, außerhalb der institutionalisierten und täglichen Räume der Wachwelt. Sowohl die Utopie als auch der Traum wurzeln in einen Zustand der Verzweiflung und gleichzeitig der Hoffnung, einen anderen besseren Raum nicht im Jenseits nach dem Tod, sondern im Diesseits finden zu können. Ewige Wanderschaft Falls die Flucht erfolgreich abgeschlossen ist und man schon am Ziel angekommen ist, wo man ein neues Leben aufbauen kann, weist uns der »Traumraum« immer noch darauf hin, dass uns die Vergangenheit trotzdem weiter begleitet und dass die Zukunft immer noch voller Gefahren ist. Wenn Deutschland der Ort der Hoffnung war, an dem man endlich ankommen konnte, wird man schnell merken, dass dieser Ort nicht nur der »Konsum-Raum« mit Mercedes und BMWs oder der »Denkraum« von Schiller, Goethe und Humboldt ist, sondern auch der alltägliche Raum einer oftmals durchbürokratisierten Gesellschaft. Eine Bürokratie, mit der man schon bei der Aufnahme und Registrierung konfrontiert war, die einen dann aber später bei allen neuen Tätigkeiten, von der Einschulung der Kinder bis zur Anmeldung eines Geschäftes, weiter begleiten wird. Die Träume werden nicht aufhören, den ehemals Geflüchteten, die schon angekommen sind, zu zeigen, dass sie trotzdem immer noch auf Wanderschaft sind, um diese täglichen Herausforderungen zu meistern. Der Geflüchtete wird nicht das Gefühl vergessen, dass das Sein und die institutionalisierte Wirklichkeit nicht das letzte Wort haben. Dieses

EINBRUCH DER NACHT AMALIA BARBOZA

utopische Bewusstsein wird hoffentlich trotz aller Traumatisierungen nicht verloren gehen. Und genau das ist es, was die Geflüchteten den Menschen, welche nicht flüchten mussten, weil sie das Glück hatten, in einem sicheren Land geboren zu werden, weitergeben können: das Bewusstsein, dass alle Menschen sich auf ewiger Wanderschaft befinden, mit einer Aufgabe – uns als Menschen in dieser Wandelbarkeit und Potentialität zu verstehen, um ein gutes Leben und Zusammenleben zu Lebzeiten zu ermöglichen. Wie Ernst Bloch7 sagte, der Mensch ist ein hoffendes Tier, auf der Suche nach dem Noch-nicht-Seienden und wenn diese Suche aufhört, weil lauter bürokratische Tätigkeiten und entfremdete Arbeit uns davon abhalten, dann darf man sich fragen, ob es sich lohnt, dieses Leben (als Mensch) weiter zu führen. Vielleicht wegen dieses Zustands des Suchens nach einem Noch-nicht-Seienden, rufen Flüchtlinge eine Verunsicherung und Ängste bei vielen Einheimischen hervor. Einerseits, weil die nicht Geflüchteten sehen, was mit ihnen selbst passieren könnte, wenn auch sie in eine solch aussichtslose Situation kämen. Man merkt plötzlich, wie gut es einem geht und wie fragil dieser Zustand ist. Es kann auch geschehen, dass vielen, denen es in der Wohlstandsgesellschaft wegen Arbeitslosigkeit oder schlecht bezahlten Arbeiten doch nicht so gut geht, durch die Präsenz der Fremden eine Verschlechterung ihres Zustandes voraussehen. Oder es kann auch sein, dass diejenigen, die eine gute bezahlte Arbeit haben, doch unterbewusst oder auch bewusst merken, dass unsere »Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft« nicht der ideale Ort ist, in dem sie sich verwirklichen können. Die Arbeit im Büro wird täglich ausgeübt und um der Entfremdung zu entkommen, werden kleine Flucht-Etappen in den Urlaub oder in die sogenannte »Freizeit« unternommen. Obwohl man im Prinzip keinen Grund hat, an Flucht zu denken, wird geahnt, dass wir uns in unserer »sicheren« Gesellschaft im Prinzip auch auf einer täglichen Flucht befinden. Wie der Historiker Eric J. Hobsbawm in einer Besprechung von Ernst Blochs »Das Prinzip Hoffnung« schrieb: Es ist die bürgerliche abendländische Welt, welche die Utopie und den Traum als Irrationalitäten degradiert und die Utopie »durch ›Anpassung‹ oder Flucht« ersetzt hat: Eine »Gesellschaft ohne Mangel durch window-shopping und das Leben der Reklame im »New Yorker«, das antiphiliströse Leben durch Gangster-Romantik, das unentdeckte Eden durch Ferien in Positano mit Chianti-Flaschen als Lampenständern«8. Die Dialektik dieser Wunschbilder und Fluchtbilder der Konsumgesellschaft besteht darin, dass diese Bilder zuerst befriedigen, gleichzeitig aber die Unbefriedigung mit der Lebenswelt zum Ausdruck bringen. Deswegen besteht bei Walter Benjamins Analyse dieser Wunschbilder und Phantasmagorien der Konsumgesellschaft eine Art Zuneigung.9 Da es sich um Tagträume handelt, die von 6

Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 1995, S. 169. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1990. 8 Eric J. Hobsbawm, Das Prinzip Hoffnung (1960), in: Burghart Schmidt (Hg.), Materialien zu Ernst Blochs Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1978, S. 180. 9 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, 2 Bände, Frankfurt am Main 1983. 7

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Abb. 6 »Ich will mich nicht unterhalten. Dazu bin ich zu un­ glücklich. Das ist meine erste Nacht hier. Ich bin in ei­ nem Albtraum gelandet. Wie soll man hier schlafen? Wir sind doch keine Tiere. Das sind keine Betten hier, das sind Pritschen. Ich bin Tischler. Ich kann das beurteilen. Ich komme gerade aus Österreich, wo ich sechs Mona­ te lang gelebt habe. Da hatte ich eine Freundin, die mir Deutsch beigebracht hat. Ihre Eltern haben gesagt,

dass ich wie ein Sohn für sie sei. Doch in Deutschland ist meine Chance größer, ein Visum zu be­ kommen. Ich war Soldat in der syri­ schen Armee. Es gibt keine Worte für das, was ich erlebt habe. Ich habe in meinem Leben schon vier­ mal bei null angefangen. Erst in ­Syrien, dann im Irak, dann in Öster­

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reich und nun in Deutschland. Man muss kleine Träume haben. Kleine Träume zu haben ist gut. Ich träume von einer kleinen Tischlerei und ei­ ner Frau. Sie kann auch klein sein. Ich habe mir Hamburg auf Google Maps angeguckt. Die Stadt hat mir gefallen. Deutschland ist ein Land mit Anspruch. Hier wurde der

Mercedes-Benz erfunden. Ihr Deutschen könnt stolz sein. Ich habe auf der Flucht Lieder von Helene Fischer, Nik P. und Christina Stürmer gehört, um unterwegs wei­ ter Deutsch lernen zu können. Ich mag den Song Schmetterlinge. Ich habe eine Idee: Ich dreh den Song gleich voll auf, leg mich hin und versuche dabei einzu­ schlafen.« Farhad, 24, Tischler, ist allein aus Syrien geflüchtet

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der Kulturindustrie und den Medien vervielfältigt werden, welche uns nicht nur wie ein »Opium des Volkes« stabilisieren, sondern uns vielleicht auch bewegen könnten, das institutionalisierte Sein zu transzendieren, und das nicht nur für ein Wochenende oder einen kurzen Urlaub. Ghafek (23 Jahre alt) aus Damaskus erzählt, dass er dank der Filme Al ­Pacinos Englisch gelernt hat (Abb. 7). Eine Sprache, die man, wie er sagt, auf der Flucht können muss. Er hat von Al Pacino nicht nur englisch gelernt, sondern auch eine Lebensbotschaft, die ihn begleitet. Diese Botschaft scheint in seinem Lieblingsfilm »Der Duft der Frauen« verborgen zu sein. Ghafek erklärt: In dem Film sagt Pacino einem Mann, der ihn vom Selbstmord abhalten will: ›I am in the dark, my friend‹. Genau diesen Satz hat Ghafek sich angeeignet und dieser begleitet ihn, um den Fluchtweg durchstehen zu können. Solche Film-Szenen gehören zu den Tagträumen vieler Menschen auf der Flucht. Diese Botschaften können, wie bei Ghafek, die Funktion haben, der Flucht einen Sinn zu geben und den Momenten der Verzweiflung zu entkommen. Tagträume Wenn keine Flucht mehr möglich ist, können Tagträume auch die Funktion haben, auf eine andere Art der umgebenden Wirklichkeit zu entweichen. Der Dichter Fernando Pessoa erzählt in seinem Theaterstück »El Marinheiro« (Der Seefahrer) von einem Traum, in dem ein Seefahrer nach einem Schiffbruch jahrelang allein auf einer Insel lebt. Weil er keine Möglichkeit findet, der Insel zu entkommen, macht es ihn sehr traurig, sich an seine Heimat zu erinnern. Deswegen beginnt er, ein Heimatland zu erträumen, das er nie gehabt hat: »Er begann, es so einzurichten, als sei sein Heimatland ein anderes gewesen, eine ganz andere Art von Land mit ganz anderen Landschaften, anderen Menschen, mit einer anderen Weise, durch die Straßen zu gehen oder sich aus dem Fenster zu lehnen […] Stunde um Stunde erschuf er im Traum dieses falsche Heimatland, und nie hörte er auf zu träumen: am Tage im knappen Schatten der großen Palmen, dessen Zackensaum sich auf dem heißen, sandigen Boden abzeichnete; nachts ausgestreckt am Strand, auf dem Rücken liegend und ohne die Sterne zu beachten.«10 Ob die Geflüchteten, die in den Lagern und Hallen auf ihre Abschiebung oder ihr Bleiberecht warten, auch diesen Trick des Seemannes von Pessoa kennen? Jean Cayrol, ein französischer Schriftsteller, der zwei Jahre in einem deutschen Kon10



Fernando Pessoa, Der Seemann / O Marinheiro. Ein statisches Drama / Drama estático em um quadro, Wien 2016. Ich danke meinem Vater Justo Barboza dafür, dass er mir den Text von Pessoa zu lesen gab. Er benutzte den Text für einen Katalog von Zeichnungen und Skulpturen zu einer Ausstellung mit dem Titel »Otro país, otros paisajes« (Ein anderes Land, andere Landschaften) im Centro Cultural Villa de Móstoles, Madrid 2008.

EINBRUCH DER NACHT AMALIA BARBOZA

zentrationslager verbringen musste, schrieb, dass er dank seiner Wachträume der Realität des Lagers entfliehen konnte.11 Und nicht nur bei ihm, sondern bei allen Gefangenen wurde durch Schlaf- und Wachträume die Widerstandskraft zum Überleben gestärkt. Traum: zwischen Vita activa und Vita passiva Der Traum wird in den Wissenschaften als ein sehr komplexes Phänomen umkreist und aus verschiedenen Perspektiven je nach Disziplinen thematisiert. Eine der Schwierigkeiten dieses Umkreisens besteht darin, dass wir den Traum nicht direkt erfassen können, sondern immer eine Übersetzung leisten müssen. Die Traumeindrücke müssen in Worten und in Bildern nacherzählt oder nachgezeichnet werden. Und dabei merken wir, dass bei der Vermittlung irgendetwas von dem Traum verloren geht. Alfred Schütz sprach deswegen von einer »dialektischen Schwierigkeit«12 und meint damit, dass es für den Träumenden keine Möglichkeit direkter Mitteilung gibt. Wir sind gezwungen, die Traumwelt zu verlassen, um uns über den Traum bewusst zu werden: »Wir können uns daher den Provinzen der Träume und der bildhaften Vorstellungen nur auf dem Wege ›indirekter Mitteilung‹ nähern...«.13 Der Traum als Phänomen entzieht sich unseren Wörtern und unserem Kommunikationsvermögen. Der Traum zeigt uns, dass wir Menschen nicht alles rationalisieren können, aber dass wir immer weiter danach streben, das Irrationale, und an sich das Leben selbst, rational zu erfassen. Und um dies zu meistern hat der Mensch immer wieder versucht, auf verschiedenen Wegen Entlastungsstrategien14, wie Koselleck schreibt, zu entwickeln: Strategien der Rationalisierung des Träumens. Alle diese Strategien laufen immer auf eine Reduktion der Komplexität hinaus. Entweder, weil man die Träume auf physische Reize reduziert oder diese nur in ihren Mitteilungen als Vergangenheitsbilder oder als Visionen in versteckten Symbolen erfasst. Mir ging es in diesem Text nicht darum, die Träume von Flüchtlingen und Geflüchteten zu interpretieren. Ich habe allein versucht den Traum als ein komplexes System zu verstehen, als einen Archetyp, der uns während der Flucht zeigt, wie dynamisch und komplex unser Dasein ist. So komplex, dass es sich nicht auf einen Nenner reduzieren lässt. Der Traum zeigt uns einerseits, dass wir in unserem Leben ständig Situationen ausgeliefert sind, ohne handeln zu können. Gleichzeitig motiviert uns der Traum durch Warnungen oder Wunschbilder, in der Wachwelt 11

Jean Cayrol, Les rèves concentrationnaires, In: Les Temps Modernes 36 / 4 (September 1948), S. 520–533. 12 Alfred Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten (1945). In: Ders.: Werkausgabe. Bd. V.1: Theorie der Lebenswelt 1. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt. Hg. von Martin Endress / Ilja Srubar, Konstanz 2003, S. 221. 13 Ebd. 14 Reinhart Koselleck, Nachwort. In: Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt am Main 1981, S. 119.

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Abb. 7 »Ich bin zu aufgeregt zum Schlafen. Morgen muss ich zum Röntgen ins Krankenhaus. Die ungarische Polizei hatte mir mit einem Stock den Arm gebrochen. Ich kann eigentlich überall schlafen – in überfüllten Bus­ sen, im Stehen, auf der Straße, sogar während des Lau­ fens. Ich bin ein schneller Mensch. Wenn man wenig Geld hat, kann man nicht lange zögern. Der Konkurrenz­ druck unter den Flüchtlingen ist groß. Das belastet

mich. Es ist wie in einem Wettbe­ werb, der lautet: Wer ist der beste Flüchtling? Wir Syrer haben gute Chancen. Unsere Pässe sind mittler­ weile viel wert. Ich kenne einen Sy­ rer, der hat aus Hunger seinen Pass verkauft. Wenn man auf der Flucht ist, muss man Englisch können. Ich habe die Sprache von Al Pacino ge­

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lernt. Mein Lieblingsfilm ist Der Duft der Frauen. Da sagt P ­ acino einem Mann, der ihn vom Selbstmord ab­ halten will: ›I am in the dark, my ­friend!‹ Manchmal träume ich von den Dingen, die mir hier fehlen: Ein­ samkeit und Schnee. Oder davon, mein Studium zu beenden. Ich glau­ be, ich habe ein Talent zum Über­

leben. Das ist eine Mischung aus Hoffnung, Durchhalte­ vermögen und Nachvorneschauen. Und gut schlafen. Ich glaube, Talente zu haben ist besser für ein Leben in Deutschland, als nur zu träumen.« Ghafek, 23, kommt aus Damaskus, Syrien, und hat ­Wirtschaftswissenschaften studiert

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zu handeln oder vielleicht die Flucht zu ergreifen. Der Traum kann dadurch zu einem Motor des Wandels werden, der uns zu einer Vita activa motiviert, einer Vita passiva zu entkommen. Diese Vita activa soll nicht auf Arbeit oder Funktionieren beschränkt werden, sondern als ein offenes Handeln verstanden werden: als den ständigen Aufbau eines besseren Lebens, für uns selbst und für die anderen; als das Aufbauen eines Zuhauses.15 Um dieses Aufbauen ringt der Traum und bewegt auch viele Menschen aller Zeiten und Länder zur Flucht mit der Hoffnung irgendwann anzukommen. 15 Vgl.



Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Frankfurt am Main 1967.

Fotos und Protokolle sind Teile aus einer Reportage von Andy Spyra (Fotos) und Malin Schulz (Protokolle): Flüchtlinge in einer Massenunterkunft. Was tun sie nachts, und wovon träumen sie? Die Reportage erschien am 1. Oktober 2015 in Die Zeit, S. 2–3.

DIE ORTLOSIGKEIT DER WERTE DANIEL MARTIN FEIGE

Die Ortlosigkeit der Werte

Ein wesentlicher diskursiver Einsatz in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise besteht in der Redeweise von der europäischen Wertegemeinschaft, in die die Flüchtlinge einwandern. Thema der folgenden Überlegungen ist weniger die Frage, ob eine solche Redeweise angesichts der immer sichtbarer werdenden Spannungen innerhalb Europas wie auch der einzelnen Staaten Europas noch angemessen ist. Das Thema ist vielmehr die Frage danach, was man die topographische Ordnung solcher Werte nennen könnte – die interne Ordnung von Werten wie zugleich ihre Bezogenheit auf geographische Regionen. Ein entsprechender diskursiver Einsatz setzt nämlich voraus, dass es eine normative Ordnung gibt, auf die die Flüchtlinge als etwas ihr Fremdes stoßen. Von der Topographie von Werten zu sprechen thematisiert die Frage, inwieweit es über­haupt Ordnungen von Werten gibt, die einander exklusiv oder gar diametral gegenüber stehen – so etwa, dass sie mit verschiedenen geographischen Regionen zusammenfallen, wie in dem geläufigen Verständnis, dass sich in der Opposition Morgenland / Abendland Ausdruck verleiht. Diesen in der Redeweise der Wertegemeinschaft vorausgesetzten Gedanken möchte ich mit den folgenden Überlegungen fragwürdig werden lassen: Nicht eine Inkommensurabilität normativer Ordnungen gibt es, sondern immer prekäre, vorläufige und fragile Neuaushandlungen dessen, was wir sind – und zwar ­gemeinsame Aushandlungen, insofern die Extension des Ausdrucks »wir« konstitutiv offen bleiben muss. Ich möchte diesen Gedanken eines dynamischen Aushandlungsprozesses gegen den in der Redeweise einer Wertgemeinschaft vorausgesetzten Gedanken verschiedener, klare Kontur gegeneinander gewinnender normativer Ordnungen ausspielen. Meine Gewährsmänner werden zwei selbst ehedem als Ausdruck zweier unterschiedlicher Ordnungen des Denkens verstandene Philosophen sein, nämliche die hermeneutische Philosophie Hans-Georg Gadamers und die Dekonstruktion Jacques Derridas.1 Mit Hans-Georg Gadamers Dialogmodell des Verstehens und Jacques Derridas nur scheinbar paradoxer These, dass man immer nur eine Sprache spricht und niemals nur eine Sprache spricht, lässt sich ein Ausgangspunkt gewinnen, anders über das Verhältnis von Werte­

Gadamer und Derrida über die Offenheit normativer ­Ordnungen

Daniel Martin Feige

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Vgl. als Entschärfungen dieser Gegenüberstellung Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 2003. Georg W. bertram, Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002.

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gemeinschaft und Flüchtling nachzudenken als es im öffentlichen Diskurs derzeit vornehmlich geschieht. Entsprechend wird der erste Teil (I) der folgenden Überlegungen Grundzüge von Hans-Georg Gadamers dialogischem Modell des Ver­ stehens hinsichtlich der Frage nach der wesentlichen Offenheit und Wandelbarkeit normativer Ordnung vorstellen. Der zweite Teil (II) wird diese Gedanken durch eine bestimmte Lesart der These von Jacque Derrida, dass wir immer nur eine Sprache sprechen und nie nur eine Sprache sprechen, erweitern. I. Zur dialogischen Interaktion zwischen Kulturen (Gadamer) Menschen sind Lebewesen, für die ihre Selbstverständnisse einen Unterschied machen hinsichtlich dessen, was sie sind. Eine Beschreibung des Menschen, die nicht auf die eine oder andere Weise Bezug nimmt auf entsprechende Selbstverständnisse ist keine Beschreibung des Menschen, sondern eine Beschreibung einer anderen Art von Lebewesen – oder sogar gar keine Beschreibung einer Art von Lebe­wesen. Die antike Bestimmung des Menschen als eines vernünftigen Lebewesens expliziert diesen Gedanken derart, dass eine Bestimmung menschlichen Handelns Bezug nehmen muss auf die besondere Form unseres Tätigseins in der Welt. Und eine solche Form ist im Handeln in Begriffen praktischer Rationalität zu erläutern: Unser Tätigsein ist nicht bestimmt durch kausale oder biologische Algorithmen bzw. ist nicht auf entsprechende kausale oder biologische Algorithmen explanatorisch reduzierbar,2 sondern ist in Begriffen einer Orientierung an Gründen zu erläutern – Gründe, die in und durch Handlungen verkörpert werden. Wenn ich in diesem Text von normativen Ordnungen spreche,3 so gilt diese Redeweise einer Spezifizierung dieses Gedankens in folgendem Sinne: Unsere Rationalität im ­Denken und Handeln ist nicht hinreichend rekonstruierbar, wenn man sie rein formal beschreibt. Man muss sie vielmehr in ihren inhaltlichen Ausprägungen in den Blick nehmen und dabei das Verhältnis von Inhalt und Form so denken, dass auch die Form unseres Selbst- und Weltbezugs und damit unserer Rationalität im Lichte der jeweiligen Inhalte weiterbestimmt wird.4 Eine entsprechende ­inhaltliche Ausprägung bezieht sich auf kollektive wie historische Aspekte unserer Se­lbst­­ verständnisse. Die hier verfolgte Frage lautet: Gewinnen solche geschichtlich-kulturell ­geprägten Selbstverständnisse im Sinne der normativen Ordnungen, in denen wir stehen, derart klar gegeneinander Kontur, dass sie ein außen kennen würden? Trifft, indem Flüchtlinge aus anderen Kulturen in unserer Gesellschaft ankommen, etwas Fremdes von außen auf unsere Werteordnung? Hans-Georg Gadamer hat 2 Auch

Donald Davidsons lange als Standardtheorie geltende kausale Theorie der Hand­lungs­erklärung bestreitet diese Charakterisierung nicht. Sie macht nur geltend, dass Handlungserklärungen zugleich eine besondere Art von Kausalerklärungen sind. Vgl. Donald Davidson, Handlung, Gründe und Ursachen, in: Ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt am Main 1985, S. 19–42. 3 Vgl. programmatisch zu diesem Begriff auch die Beiträge in Rainer Forst / Klaus Günther (Hg.), Die Herausbildung normativer Ordnungen. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt am Main 2011. 4 Vgl. in diesem Sinne Daniel M. feige, Computerspiele. Eine Ästhetik, Berlin 2015, Kapitel 2.

DIE ORTLOSIGKEIT DER WERTE DANIEL MARTIN FEIGE

im Rahmen seines dialogischen Modells des Verstehens geltend gemacht, dass die Situation nicht so gedacht werden kann. In das Register der Begriffe von ­Gadamers Philosophie kann man diese Frage wie folgt übersetzen: Wenn unsere Werte etwas mit den Traditionen zu tun haben, in denen wir stehen, so kann man fragen, wie solche Traditionen sich mit Blick auf die jeweilige Gegenwart Ausdruck verleihen. Es mag verwundern, dass ausgerechnet die Philosophie Gadamers hier als Garant für ein dynamisches Verständnis unserer Werte fruchtbar gemacht werden soll, scheint sie doch mit der These, dass jeder menschliche Selbst- und Weltbezug traditional vermittelt ist, eher einer gegenteiligen Agenda verpflichtet zu sein. Aber die Lektion von Gadamers Philosophie lautet gerade, dass aus der Tatsache, dass wir in Traditionen stehen und dass diese Traditionen uns Orientie­rungen geben, nicht folgt, dass ihr Sinn und ihre Relevanz schon vor Aushandlungsprozessen genau um diese Frage feststehen würden. Gadamer schreibt zwar: »Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir ­leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens.«5 Er drückt damit aber letztlich nur den Gedanken aus, dass unsere Vernunft nicht formal und ungeschichtlich verstanden werden darf; sie ist immer schon eingebunden und inhaltlich bestimmt durch die historischen und sozialen Kontexte, an denen sie sich betätigt. Es wäre entsprechend ein falscher Begriff dessen, was wir sind, wenn wir meinen würden, wir könnten uns über entsprechende Kontexte von außen erheben. Was wir demgegenüber immer schon tun, ist ihre beständige Modifikation von innen. Denn, wie Gadamer feststellt, ist dasjenige, was aus der Tradition kommt, nicht etwas, was sich naturhaft hinter unserem ­Rücken durchsetzt: »Auch die echteste, gediegenste Tradition […] bedarf der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege. Sie ist ihrem Wesen nach Bewahrung, wie solche in allem geschichtlichen Wandel mit tätig ist. Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft […].«6 Vor allem aber ist jeder Akt einer solchen Bewahrung keiner, der restaurativ wäre: Die Grundeinsicht von Gadamers Hermeneutik lautet, dass dasjenige, was hier bewahrt wird, im Lichte der jeweiligen Situation sowohl weiterbestimmt wird als auch neubestimmt wird. Das zeigt sich besonders deutlich in seiner Redeweise davon, dass alles zu Verstehende immer schon im Verstehen auf die jeweilige Situation angewandt werden muss:7 Es muss sich als sinnvoll im j­ eweils neuen historischen Kontext erweisen können, um nicht nur noch historisch interessant zu sein. Gadamer hat diese Überlegungen anhand der Frage, was in der Kunst und Philosophie klassische Werke und Texte sind, diskutiert;8 sie sind aber umstandslos auf die Frage der geschichtlichen Bewegtheit dessen, was u ­ nsere Werte sind, zu beziehen: Nicht allein haben Werte wie die Würde des ­Menschen, die Trennung von Staat und Religion und die Gleichberechtigung der ­Geschlechter klarerweise historisch durch5

Hans-Georg gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 281. 6 Ebd., S. 286. 7 Vgl. Ebd., S. 312 ff. 8 Vgl. Ebd., S. 290 ff.

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aus spezifische Ursprünge. Vielmehr ist es auch so, dass ihre Auslegung für den jeweiligen Kontext, in dem sie sich Geltung verschaffen sollen, nicht schon in ihnen selbst angelegt ist.9 Was es heißt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, und wie eine solche Trennung von Staat und Religion zu denken ist und in welcher Hinsicht die Gleichberechtigung der Geschlechter einzuklagen ist – das muss in jedem historischen Kontext neu und erneut bestimmt werden. Erneut deshalb, weil es natürlich dieselben Werte sind. Zugleich aber auch neu, weil diese Werte je nach Kontext immer anders ausgelegt werden müssen. Das Allgemeine, das entsprechende Werte sind, wird in und durch die jeweils besondere Situation, in der sie sich bewähren müssen und für das sie jeweils fruchtbar gemacht werden sollen, neu und anders ausgelegt werden. Allein in dieser Hinsicht ist der Gedanke, dass mit den Flüchtlingen Menschen zu uns kommen, die unsere Werte nicht teilen, problematisch: Die Bedeutung unserer Werte wird sich in und durch den Austausch mit diesen Menschen erneut herausstellen müssen. Das ist nicht so gemeint, dass durch diesen Austausch unsere Werte außer Kraft gesetzt werden würden oder gar widerlegt werden könnten. Und es ist auch nicht bloß so gemeint, dass es bereits zu unseren Werten gehört, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Es ist vielmehr so gemeint, dass der Sinn unserer Werte ein anderer geworden sein wird, je nachdem, wie wir mit diesen Flüchtlingen jetzt umgehen und je nachdem, wie die gemeinsame Aushandlung dessen, wie wir l­eben wollen, das neu beleuchtet, was wir aus der Tradition mitbringen. Wer davor warnt, dass unsere Werte durch die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen, in Gefahr sind, der stellt vielleicht selbst die größte Gefahr für entsprechende Werte dar: Er verzeichnet sie im Sinne von Festlegungen, deren Sinn schon vor ihrer Applikation auf die jeweilige Situation feststehen würde; er möchte an einem letztlich unmöglichen wie auch nicht wünschenswerten restaurativen Verständnis unserer Werte festhalten und beschädigt sie dadurch, dass er nicht erkennt, dass Werte in der jeweiligen Situation und im jeweiligen Kontext neu und erneut zum sprechen gebracht werden müssen. Werte, deren Deutung sich nicht verändert, können keine Werte sein; sie wären etwas, das historistisch an den Zeitpunkt seiner Entstehung gebunden wäre und keine normative Signifikanz über diesen Zeitpunkt hinaus gewinnen könnte. Gleichwohl könnte man der Auffassung sein, dass mit dem Zuzug von Flüchtlingen andere Traditionen Einzug halten in unsere Gesellschaft als diejenigen, die sie bislang dominiert haben. Denn bis hierher wurde ja nur gezeigt, dass die aus der Tradition stammenden Orientierungen in ihrem Sinn immer dahin­gehend unbestimmt sind, dass sie sich in jedem neuen Sinnkontext neu zeigen. Nicht gezeigt worden ist bislang, dass Verständigung zwischen Traditionen möglich ist. In der Tat trägt Gadamers Hermeneutik Fragen einer interkulturellen Hermeneutik nicht 9

Gadamer erläutert dieses Modell unter anderem an der Frage, was es heißt, einen Gesetzestext auf den jeweiligen Fall anzuwenden. Vgl. dazu auch Robert B. brandom, Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge / Mass. 2002, S. 226 ff. Und aus juridischer Perspektive auch Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung, Weilerswist 2012.

DIE ORTLOSIGKEIT DER WERTE DANIEL MARTIN FEIGE

explizit genug Rechnung.10 Neben dem Hinweis darauf, dass unsere Kultur keineswegs durch einen einheitlichen traditionalen Zusammenhang konstituiert ist, sondern vielmehr ein offenes und vielstimmiges Ensemble von Traditionen meint, lassen sich aber besonders Gadamers Überlegungen zur Dialogizität allen Verstehens für die Frage nach dem Verhältnis von Flüchtling und Wertegemeinschaft fruchtbar machen.11 Der Fall, in dem wir die uns überlieferten Werte hinsichtlich ihrer Anwendung auf die Gegenwart befragen, ist für Gadamer nämlich nur ein paradigmatischer Fall dessen, was im Verstehen immer schon geschieht: Im Spannungsfeld von Vertrautheit und Fremdheit – ein Spannungsfeld, das schon innerhalb jeder Kultur gegeben ist, so dass bereits von dieser Beobachtung aus der Kulturbegriff selbst problematisiert werden müsste – geht es darum, sich auf ein Gespräch mit dem Anderen einzulassen. Ein Gespräch führt man nicht, sondern die Gesprächspartner werden im Rahmen eines Gesprächs vielmehr von der S ­ ache selbst geführt. Natürlich gibt es Privationen von Gesprächen – wenn man nur herausfinden will, wie die Sicht des Anderen ist, ohne sich von ihm etwas sagen zu lassen; wenn man historische Texte nur als Ausdruck ihrer Zeit liest und nicht daraufhin befragt, inwieweit ihre Thesen sachliches Recht beanspruchen können. Ein Gespräch zu führen heißt entsprechend nicht, sich in den Gesprächspartner zu versetzen, um seine Intentionen zu entziffern – so etwas kann nur Teil eines Gesprächs sein, insofern es dazu dient, das sachliche Recht der Thesen des Anderen möglichst stark zu machen. Es geht nicht darum, eine Meinung zu verstehen, sondern seine eigenen Meinungen dialogisch im Namen der Wahrheit zur Disposition zu stellen. Natürlich kann es sein, dass sich meine Überzeugungen in einem Gespräch bewähren und der Andere mir am Ende beipflichtet. Aber es war nur dann ein Gespräch, wenn es auch hätte anders ausgehen können. Für Gadamers Gesprächsmodell des Verstehens ist dabei zweierlei charakteristisch. Erstens ist es so, dass Gespräche derart epistemisch signifikant sein können, dass sie uns auf undurchschaute Vormeinungen stoßen können. Mitunter werde ich erst dadurch, dass jemand meine Vormeinungen herausfordert, darauf aufmerksam, dass ich sie überhaupt hatte. Zweitens stimmen Gesprächspartner niemals in all ihren Vormeinungen überein. Sie handeln im gemeinsamen Gespräch aus, wie es um die Legitimität ihrer Vormeinungen steht. Ein solcher Prozess ist prinzipiell niemals ­abgeschlossen. Aber wird er geführt, so gewinnen beide Gesprächspartner eine größere Klarheit darüber, was sie sind und wovon sie überzeugt sein sollten. In diesem dialogischen Gesprächsmodell erweist sich der Flüchtling nicht so sehr als Herausforderung oder Störung, sondern vielmehr als produktive Erweiterung unseres Selbstverständnisses. Das natürlich nur dann, wenn sich beide Seiten auf ein kollektives Gespräch darum einlassen, wer wir sind und sein wollen. Gadamers Hermeneutik zeigt uns, dass viel dafür spricht, genau das zu tun. Nicht allein stehen entsprechende Überlegungen zu einer interkulturellen Hermeneutik nicht im Zentrum von Gadamers Hermeneutik. Auch wenn sein Dialog­modell des Verstehens einen produktiven Ausgangspunkt für eine solche 10

Vgl. dazu etwa Andreas vasilache, Interkulturelles Verstehen nach Gadamer und Foucault, Frankfurt am Main 2003. 11 Vgl. dazu v.a. Hans-Georg gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 346 ff.

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Hermeneutik bietet, so stellt sie sich der Frage kultureller Unterschiede nicht systematisch genug, sondern entwickelt sie, wenn überhaupt, beiläufig in der Durchführung einer Antwort auf die Frage, wie sich die Geschichtlichkeit menschlicher Selbst- und Weltverhältnisse insgesamt gegen ihre szientistische Verzeichnung angemessen denken lässt.12 Jacques Derrida hat im Rahmen seiner Dekonstruktion den Begriff klar unterschiedener Kulturen insgesamt fragwürdig werden lassen und das ausgehend von dem Aspekt getan, der gemeinhin als dominantes Merkmal kultureller Unterschiede gilt: der Sprache. II. Zur Dekonstruktion des Kulturbegriffs (Derrida) Gerade die Sprache wird häufig als wesentliches Moment des Zugangs zu wie Ausdrucks einer Kultur verstanden. Und die Feststellung, dass die Flüchtlinge eine andere Muttersprache sprechen als wir, soll entsprechend den Gedanken plausibilisieren, dass es sich um Menschen handelt, die einem anderen Kulturkreis angehören. Derrida hat in seinem Buch Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese den Gedanken der Muttersprache insgesamt fragwürdig werden lassen und damit auch den Gedanken, dass es klar voneinander abgegrenzte Kulturen gibt – dieser Schluss von der Sprache auf Kultur ist dann legitim, wenn man wie etwa auch Gadamer davon ausgeht, dass in sprachliche Praktiken immer schon Perspektiven auf die Welt und uns selbst eingelassen sind.13 Über Gadamer geht Derridas Analyse insofern hinaus, dass sie den Kulturbegriff problematisiert, ohne gleichwohl den Gedanken von Unterschieden und Differenzen zu verabschieden. Anders könnte man sagen: Derrida führt die Differenz schon in das Eigene derart ein, dass er deutlich macht, dass es einen monolithischen, einheitlichen, ungebrochenen und selbstidentischen Kulturraum überhaupt nicht gibt. Werte kennen keine klar abgegrenzten Regionen, sondern sie bleiben in gewisser Weise nachhaltig unbestimmt. Entsprechend trifft mit den Flüchtlingen nicht eine Ordnung auf eine andere Ordnung, sondern es geschieht vielmehr etwas, was letztlich in allen Formen der Begegnung mit dem Anderen auch geschieht; mit der Ankunft der Flüchtlinge trifft nicht der kategorial Andere im Sinne etwas uns restlos Inkommensurablen auf uns, sondern wir begegnen hier einem Anderen, wie wir auch sonst einem Anderen begegnen, insofern auch weitreichende Unterschiede zwischen Angehörigen bereits einer Kultur bestehen, die sich damit als nicht h ­ omogen zeigt, als etwas letztlich Inkommensurables. In dem eben genannten Buch formuliert Derrida in einem Atemzug zwei sich scheinbar ausschließende Thesen: »Man spricht immer nur eine einzige Sprache. […] Man spricht niemals eine einzige Sprache.«14 Um die Vereinbarkeit dieser beiden Thesen verständlich zu machen, ist ein Rückgriff auf Derridas allgemei12

Vgl. dazu programmatisch bereits Hans-Georg gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 1 ff. 13 Entsprechend wären sprachliche Praktiken nicht hinreichend aus einer bloß formalen Perspektive etwa auf syntaktische und semantische Aspekte sprachlicher Ausdrücke analysierbar. Vgl. Ebd., S. 387 ff. 14 Jacques derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, München 2003, S. 29.

DIE ORTLOSIGKEIT DER WERTE DANIEL MARTIN FEIGE

nere Überlegungen zur Zeichentheorie notwendig. Aus der Tradition des Strukturalismus und hier vor allem aus der Tradition Ferdinand de Saussures übernimmt ­Derrida den Gedanken, dass Wahrnehmen, Denken und Handeln nichts sind, was außerhalb einer sprachlichen Ökonomie zu verorten wäre und deutet eine solche sprachliche Ökonomie in Begriffen einer Struktur, deren Elemente holistisch und differenziell konstituiert sind. Anders aber als der klassische Strukturalismus versteht er diese Zeichenstruktur nicht länger als abgeschlossen; mehr noch: Er versteht eine solche Struktur als Zeichensystem, das ebenso wenig ein Zentrum hat, wie es in seiner Dynamik stillzustellen ist. Der Versuch einer Verankerung, Zentrierung und letztlich Stillstellung der Dynamik von Zeichensystemen sieht ­Derrida noch in de Saussures Begründung des Strukturalismus selbst am Werk.15 In seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft wertet de Saussure die Schrift gegenüber der Rede ab und erklärt sie zu einer parasitären Form von Rede.16 Derrida zeigt gleichwohl, dass eine solche Hierarchisierung zum Scheitern verurteilt ist: Nicht allein rekurriert de Saussure, um die Funktionsweise der Sprache zu illus­ trieren, durchweg auf Schrift, was nur deshalb möglich sein kann, weil die Eigenschaften, um die es de Saussure geht, sich an der Rede wie der Schrift gleichermaßen verdeutlichen lassen. Vielmehr ist sein vehementer Ausschluss der Schrift aus der Logik der Sprache unerklärlich, wenn sie tatsächlich für diese irrelevant wäre. Warum so vehement gegen etwas angehen, was letztlich eine unbedeutende, äußerliche und unwesentliche Zutat ist? In Wahrheit könnte de Saussure die hierarchische Überordnung der Schrift über die Rede auch einfach umkehren und die Schrift zum Fundament der Sprache erklären. Derrida hat eine Logik, die etwas als eine unwesentliche und verzichtbare und dabei dennoch gefährliche Zutat versteht, unter dem Schlagwort der Logik des Supplements verhandelt:17 Am Supplement ist paradox, dass es einerseits nur ein Zusatz zu etwas sein soll, das schon vollständig ist, andererseits dieses aber erst komplettiert. Positionen, die von einer solchen Logik bestimmt sind, sind letztlich, ohne es zu wissen, Ausdruck des Versuchs, die Struktur zu »reduzier[en]: und zwar durch einen Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte.«18 Derridas Einsicht lautet demgegenüber, dass es kein Zentrum und keine letzte Verankerung von Zeichensystemen gibt; weder Intention, noch Bewusstsein, noch das, was im Moment des Sprechens gegenwärtig ist, kann eine solche Rolle erfüllen. Das heißt nun nicht, dass es Intentionen, Bewusstsein und Gegebensein nicht gibt und wir sozusagen bloße Bauchrednerpuppen einer Zeichenmaschine wären. Es heißt aber sehr wohl, dass das Sprechen in seinem Sinn unkontrollierbar ist und im Sprechen eine andere Logik aufscheint als die Logik subjektiver Intentionalität. 15

Vgl. v.a. Jacques derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1983, S. 77 ff. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 2001. 17 Vgl. Jacques derrida, Grammatologie, Frankfurt am Main 1983, S. 244 ff. 18 Jacques derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 422–442, hier: S. 422. 16

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In seinem Aufsatz Signatur, Ereignis, Kontext hat Derrida diesen Gedanken in einer Weise weiterentwickelt,19 die für den vorliegenden Fragezusammenhang nach Sprachen von Kulturen und Verständigung zwischen Kulturen von zentraler Bedeutung ist. Die zentrale Frage des Textes lautet, inwieweit der Kontext eines Zeichens und damit auch die Orte und Situationen seiner Verwendung, als konventio­ nell oder anderweitig abgeschlossen verstanden werden kann. Den Gedanken, dass der Drift der Zeichen durch ihre kontextuelle Bestimmung Einhalt geboten werden kann, hat Derrida mit Überlegungen zur Identität von Zeichen zurückgewiesen. Die Identität sprachlicher Zeichen ist häufig so verstanden worden, dass zwischen einem Zeichentyp und einzelnen Zeichenvorkommnissen unterschieden werden muss, wobei die jeweiligen Vorkommnisse Instanziierungen des entsprechenden Typs sind; wenn ich »Y«, »Y«, »Y« schreibe, so habe ich drei verschiedene Vorkommnisse produziert, die gleichwohl allesamt nur Ausdruck eines Typs sind. Derrida weist in dem Aufsatz gleichwohl zu Recht darauf hin, dass wir Identität nicht so sehr voraussetzen dürfen, sondern wir vielmehr Identifizierbarkeit voraussetzen müssen – ein und dasselbe Wort ist in schriftlichen und mündlichen ­Artikulationen unter gänzlich verschiedenen Bedingungen identifizierbar. Diese Überlegungen bindet Derrida an seine skizzierten Überlegungen zur Dekonstruktion der Überordnung der Rede über die Schrift zurück: »Meine ›schriftliche ­Kommunikation‹ muss, trotz des völligen Verschwindens eines jeden bestimmten Empfängers überhaupt, lesbar bleiben, damit sie als Schrift funktioniert, das heißt lesbar ist. Sie muss in völliger Abwesenheit des Empfängers oder der empirisch feststellbaren Gesamtheit von Empfängern wiederholbar – ›iterierbar‹ – sein. Diese Iterierbarkeit […] strukturiert das Zeichen der Schrift selbst, welcher Typ von Schrift es im Übrigen auch immer sein mag […]. Eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus […] strukturell lesbar – iterierbar – ist, wäre keine Schrift.«20 Eine solche Iterierbarkeit bzw. Iterabilität von Zeichen bringt zwei Konsequenzen mit sich. Erstens ist es so, dass die ideale Seite des Zeichens, der Typ, letztlich nur durch eine Kette von Vorkommnissen als Effekt erzeugt wird; es handelt sich hier in Wahrheit niemals um einen idealen Typ, sondern vielmehr um eine unreine Idealität. Zweitens gehört die Möglichkeit des Zitierens eines Zeichens zu dem, was es seiner Konstitution nach ist; Zitate sind keine sekundären oder parasitären Verwendungen von Zeichen, sondern umgekehrt ist aller Zeichengebrauch in bestimmter Weise zitatförmig. Das hat Derrida anhand der Möglichkeit wie zugleich Unmöglichkeit der Unterschrift gezeigt: »Eine schriftliche Unterzeichnung impliziert per definitionem die gegenwärtige oder empirische Nicht-Anwesenheit des Unterzeichners. […] Damit die Verbindung zur Quelle sich herstellt, muss die absolute Einmaligkeit eines Unterzeichnungsereignisses und reiner Unterschriftsform festgehalten werden: die reine Reproduzierbarkeit eines reinen Ereignisses.«21 Aber die Wiederholbarkeit der Unterschrift im Sinne ihrer immer wieder erneuten Identifizierbarkeit streicht zugleich die Möglichkeit eines 19 Vgl.

Jacques derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 325–351. 20 Ebd., S. 333.  21 Ebd., S. 349. 

DIE ORTLOSIGKEIT DER WERTE DANIEL MARTIN FEIGE

restlos einmaligen Ereignisses durch: »Um zu funktionieren, das heißt um lesbar zu sein, muss eine Unterzeichnung eine wiederholbare, iterierbare, nachahmbare Form haben; sie muss sich von der gegenwärtigen und einmaligen Intention ihrer Produktion lösen können. Ihre Gleichheit ist es, die indem sie Identität und Einmaligkeit verfälscht, das Siegel spaltet.«22 Von diesen Überlegungen aus lässt sich Derridas scheinbar paradoxe Gegenüberstellung zweier Thesen in Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche ­Prothese verständlich machen: Wenn es zur Konstitution von Zeichen gehört, dass sie iterierbar sind und dass es keinen abschließenden Kontext gibt, der eine solche Iterierbarkeit begrenzen könnte, dann ist es so, dass Zeichen verschiedener Sprachen im Kontext anderer Sprachen Verwendung finden können. Natürlich ändern sie dadurch ihren Sinn – aber, und das ist Derridas Lektion, es gibt keinen festen Sinn, der mit Zeichen verbunden wäre, sondern jede Verwendung eines Zeichens ist zugleich eine Veränderung von dessen Sinn. Man spricht immer nur eine Sprache, weil die eigene Sprache transmissiv ist hinsichtlich beliebiger Arten von Zeichen. Man spricht dennoch nie nur eine Sprache, weil Sprachen keine klare Kontur gegeneinander gewinnen, sondern immer schon im Sinne der Unabschließbarkeit des Kontextes gegenüber anderen Sprachen entgrenzt sind.23 Derrida bestreitet damit nicht, dass es keine Unterschiede in der Sprachpraxis gibt. Er bestreitet aber, dass solche Unterschiede zwischen dem, was man üblicherweise verschiedene Kulturen nennt, kategorial andere wären als gegenüber dem, was schon innerhalb dessen, was man herkömmlicherweise einen Kulturraum nennt, geschieht. Verständigung ist immer prekär und ihr Medium ist immer eine Sprache, die insofern idiomatisch ist,24 dass sie nicht Ausdruck einer allgemeinen oder reinen Struktur ist. * * * 22

Ebd., S. 349. Wichtig ist dabei für Derrida auch der Gedanke, dass die Sprache, die man spricht, eine Art ursprünglicher Prothese ist – ein Gedanke, der in der hier vorgestellten Analyse anklingt, aber nicht ausführlicher behandelt wird. Derrida verdeutlicht ihn vor allem anhand seiner eigenen Geschichte als eines frankophonen Maghrebiners: Mit der Aneignung von Sprache ist immer schon ein Moment der Enteignung verbunden. Vgl. Jacques derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, München 2003, v.a. Abschnitt 6 und 7. 24 Vgl. Ebd., S. 21. 23

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Mit Gadamers Hermeneutik lässt sich einsehen, dass der Sinn unserer Werte derart dynamisch ist, dass er in jedem Kontext, in dem sie zum Sprechen gebracht werden, neu und anders herausgearbeitet werden muss. Mit Derridas Dekonstruktion lässt sich dieser Gedanke derart radikalisieren, dass solche Werte niemals in sprachlichen Ordnungen als zugleich normativen Ordnungen einfach positiv verkörpert sind, weil solche Ordnungen wesentlich unabgeschlossen und einander gegenüber geöffnet sind. Die Topographie der Werte ist entsprechend nicht so zu deuten, dass verschiedene normative Ordnungen von außen aufeinanderstoßen. Vielmehr sind normative Ordnungen als wesentlich auch in Zeichenpraktiken verkörperte Ordnungen immer schon intern ungesichert, dynamisch und gegenüber einem Außen geöffnet, das zugleich ein Moment des Innen selbst ist.

PERSPEKTIVEN DER FLUCHT IN EINER FLÜCHTIGEN GESELLSCHAFT GEORG WINTER

Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen ­Gesellschaft Psycho­tekto­ nische Land­ schaften

Wirklichkeitskonstruktionen im Zusammenhang der Wechselwirkung unterschiedlicher Dynamiken der Flüchtigkeit und des Übergangs. »Ich imaginiere ein Land mit mannigfaltiger Bodengestaltung, Hügelland, Ebene und Seenketten, mit gemischter Bevölkerung – es wohnen darin Deutsche, Magyaren und Slowaken, die auch verschiedene Tätigkeiten betreiben.« Sigmund Freud, 1933 »Sigmund, aber wo sind die Roma?«

Georg Winter

Das Roma-Lied »Angla mande dui droma« besingt die Möglichkeit an einer Weggabelung in zwei Richtungen zu gehen: »Vor mir sind zwei Wege und ich weiß nicht welchen ich nehmen soll, entweder den Weg der Roma oder den Weg der Anderen...« Im Lied wird der Weg der Anderen eingeschlagen. Der Weg ist eine Sackgasse. Er zieht Leid und Unglück nach sich. Ein Lied mit traurigem Ausgang, der sich aus der traurigen Geschichte der Sinti und Roma in Europa ableiten lässt. Roma und Sinti hatten wenig Gelegenheit die Anderen auf ihren Weg mitzunehmen. Wir wollen das ändern und suchen eine neue Wegeführung. Das Lied erinnert mich an die Aufbruchstimmung, die wir mit der Utopie des Ankunftsquartiers verbanden. Ankunftsquartier in Freiburg 2012 schien die erste Realisierung eines Ankunftsquartiers in Freiburg im Breisgau zum Greifen nahe. Freiburg im Breisgau hat auf dem Bereich des ökologischen Wohnens und der Bürgerbeteiligung bei neuen Wohnbaukonzepten eine Vorreiterrolle in Europa. Wieso sollte es nicht gelingen hier ein zeitgemäßes Ankunftsquartier zu entwickeln? Auf Initiative von Tomas Wald vom Roma Büro Freiburg kommt es zu einem Runden Tisch mit Beteiligten aus Politik, Bürgerschaft, den Kirchen und Sozialträgern. Tomas Wald und ich besichtigten den Wohnmobil­ campingplatz in der Bissierstraße. Die Betreiber ahnen, dass wir etwas vorhaben und treiben uns vom Platz. Das städtische Grundstück könnte in seiner Umgebung, mit Schulen, Kleingärten, Wohnsiedlungen der Nukleus des Ankunftsquartiers werden. Unter Ankunftsquartier verstehen wir ein Stadtviertel, das auf Grund seiner bestehenden Struktur genügend offene Stellen und die Bereitschaft der Anwohnerschaft mitbringt eine Dynamik des Zusammenlebens zu praktizieren, die auf Varietät basiert, sowie eine radikal mutige, auf menschliche Notwendigkeiten ausgerichtete Wohnungsbaupolitik. Im Vergleich zu den bestehenden Auffang­

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lagern, Asylunterkünften, Asylbewerberheimen, Asylbewerberunterkünften, Flüchtlingsunterkünften, migration camps, Flüchtlingsheimen, die ein erstes Obdach zur Grundversorgung gewähren, ist das Ankunftsquartier nicht nur eine Notunter­ bringungen, sondern ein Übergangsraum mit Gestaltungsspielraum für die Beteiligten. Die Sehnsucht der Wohnmobilbesitzer nach der Freiheit ihre festen Häuser für eine Zeit lang zu verlassen, stellt sich in ein Verhältnis zur Notwendigkeit, Wohnraum zu schaffen in dem das Ankommen sei es aus der Not oder aus Gründen der Arbeit, des Studierens, tribalistische Lebensformen erweitert. Ausgehend vom Wohnmobilcampingplatz Bissierstraße, Freiburg wird ein Wettbewerb initiert: »Europa und insbesondere Deutschland erleben gegenwärtig (2014) eine Welle von Migration in all ihren Facetten: Bildungs-, Arbeits- und Abenteuermigranten sowie Armuts-, Kriegs- und Umweltflüchtlinge. In den Großstädten wird es eng, die Preise steigen, eine neue Wohnungsnot entsteht und der Wohnungsbau dient in erster Linie den Investoren. Und andererseits stößt das Aufnahmesystem samt Lagerhaltung für Flüchtlinge an seine Grenzen. In den Ballungsräumen entstehen wilde, informelle Siedlungen. Unter der Hand »krempeln« sich die Städte in rasantem Tempo um. Migration ist für die Städte heute eine ähnliche Herausforderung wie im 19. Jahrhundert die Industrialisierung. Wie dauerhaft und wie stark Migration sein wird, ist dabei schwer kalkulierbar. Aber kaum etwas gebärdet sich gegenwärtig so rückwärts gerichtet wie der Städtebau: so werden Gedächtnisse der Vergangenheit steinern wiedererrichtet, Städte wie Freiluftmuseen konserviert, während die Realitäten als kalter Wind der Globalisierung durch die Städtelandschaften weht. Gemeinsam suchen wir Ideen für die Planung und Entwicklung zur praktischen Neugestaltung der Ankunftskultur. Hierbei unterscheiden sich die Dynamiken der Projektentwicklung. Künstlerische Positionen, Stadtentwicklung und Stadtplanung finden Schnittmengen und tauschen sich aus. Die verschiedenen Methoden und Zugänge der unterschiedlichen Fachrichtungen werden berücksichtigt und kommuniziert.« Auszug aus dem Ausschreibungstext für die Planung eines Ankunftsquartiers, Roma Büro Freiburg, 2014 Hands on Den TeilnehmerInnen des Projektes wurde vom Roma Büro Freiburg die Aufgabe gestellt: »Durch die steigende Anzahl von Flüchtlingen in unseren Städten brauchen wir mutige Lösungsvorschläge, die nicht nur mit den herkömmlichen Mitteln beantwortet werden. Trostlose Containereinrichtungen und lieblose Asylanten­ heime an isolierten Randlagen der Städte provozieren Konflikte mit dem Umfeld, die oftmals als culture-clash empfunden werden. Wie können wir sinnvoll den Prozess des Ankommens unterstützen und von den unterschiedlichen kulturellen Identitäten profitieren? Nötig sind mutige Ansätze zur Umgestaltung der Ankunftskultur vom Asylbewerberheim zum Ankunftsquartier mit kulturellen Potentialen. Architektur, Design, Medien, Stadtplanung, Stadtforschung und Kunst können hierbei mit Ihren Mitteln einen wichtigen Beitrag leisten. Die Gesellschaft braucht Menschen, die dies anpacken können und wollen.«

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»Kein Tag ist der Bruder, die Schwester des anderen Tages.« Rom aus Budapest auf die Frage: »Was tun wir morgen?« Während das Roma Büro die oben erwähnte Bildungsoffensive Ankommen! Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft an verschiedenen Universitäten und Behörden betreibt, Realisierung und Planung des Ankunftquartiers in Freiburg in die Details gehen, kommen 2015 notgedrungen viele Kriegsflüchtlinge aus den arabischen Staaten nach Deutschland. Dringend werden Notunterkünfte gebraucht und eingerichtet. Das Ankunftsquartier rückt wieder in die Ferne. Die Überforderung der Behörden führt zu Gesetzesänderungen und reziprok sind Roma­kinder im Kindergartenalter angehalten, an einer vorbereitenden Schulung zur bevorstehenden Abschiebung in die neuerdings sicheren Herkunftsstaaten teilzunehmen. Im Ordnungsamt Freiburg kommen zum Advent der Migranten Zeichnungen der Kinder zum Thema »Angst vor Abschiebung« zur Ausstellung. Ungeachtet der Proteste werden vor dem internationalen Roma Day (8. Mai) allein am 23. März 2016 aus Baden-Württemberg 81 Roma abgeschoben. 31 nach Serbien und 49 nach Mazedonien. Dass auf eine jahrzehntelange »Duldung«, derart regressive Maßnahmen folgen, sobald neue Katastrophen hereinbrechen, zeigt die fragile Verfasstheit unserer europäischen Werte und bestätigt den falschen Weg, der eingeschlagen werden musste: »Angla mande dui droma....« Der Vorschlag von Tomas Wald (Roma Büro Freiburg), das Wissen und die Erfahrungen der Geduldeten, Anerkannten, Abgeschobenen, Eingebürgerten, Europäer, Geflohenen, Reisenden, Anwesenden, Fremden, zur Linderung der Flüchtlingsproblematik für Ansässige – im Sinne von Beratung, Ausbildung, Erfahrungsaustausch – anzubieten, hat Kooperationen mit Kunst- und Kultureinrichtungen, der Politik, dem selbstorganisierten Bürgertum, den Universitäten, und anderen zu Wege gebracht und nicht zuletzt zu dem vorliegenden Buch geführt. Die oft Generationen übergreifenden Erfahrungen mit den Interdependenzen der Auffassungen von Topographie, Topologie, der Lokomotion, Differenzierungskonstrukten, der Psychotektonik, der kognitiven Verzerrung, der Varietät und der Regression, den vielschichtigen Wahrnehmungsmodellen vorübergehender Gesellschaftsformen, machen die Sinti und Roma zu den Europäern, die wir dringend benötigen um die aktuellen Notwendigkeiten eines europäischen Selbstverständnisses zu bearbeiten. Während wir die Sesshaften oder Gesicherten des Projekts, uns auf der Architektur Biennale in Venedig unter dem Motto »Making Heimat« selbst Mut machen, laufen die Abschiebungen eines Teils der Ideengeber­ Innen in die sicheren Herkunftsländer. Gleichzeitig wurden allein 2015 94 Brand­ anschläge auf Asylunterkünfte oder Bauten verübt, die als Asylunterkunft vorgesehen waren. Ständig ändern sich die Handlungsparameter und damit die topographischen Konstellationen. »Leben in flüchtigen Zeiten bedeutet, mit der Ungewissheit umzugehen – mit der zunehmenden Fluidität der wählbaren Lebensformen und der Dialektik von Angst und Sicherheit, mit dem Wachsen der sozialen Ungerechtigkeit und dem ›Überflüssigwerden‹, mit der Globalisierung und dem Permanenzstatus des Flüchtlings«. Zygmunt Bauman

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Die Flüchtigkeit und der Überfluss im Sinne des »Überflüssigwerdens« führen zu einer gesellschaftlichen Verfassung der Fassungslosigkeit und der Unhaltbarkeit. Die Haltlosigkeit verunsichert vor allem sesshafte Kulturen und treibt sie an ihre Grenzen, wo sie dann die aufzuhalten versuchen, die Opfer des Überflusses geworden sind. Der Zustandsraum charakterisiert sich durch Flüchtigkeit und lässt sich mit Worten nicht erfassen. Zygmunt Baumann sieht uns in einem Zustand, in dem »soziale Formen, Strukturen die individuellen Entscheidungsspielräume begrenzen, Institutionen, die darüber wachen, dass Routineabläufe wiederholt werden, allgemein akzeptierte Verhaltensmuster ihre Gestalt nur für kurze Zeit behalten und niemand etwas anderes erwartet, weil sie so schnell zerfallen, dass sie schon geschmolzen sind, während sie noch geformt werden.« Soziale Formen, bereits bestehende wie sich abzeichnende, und darunter fallen die Handlungskonstrukte der Raumkonstitution, der Darstellung und Aufführung von Existenz, haben kaum je lange genug Bestand, dass sie sich verfestigen könnten. Als Bezugsrahmen für menschliches Handeln und für langfristige Lebensstrategien sind sie aufgrund ihrer beschränkten Lebenserwartung untauglich. Wir denken, dass die anderen auf der Flucht sind und rechnen uns stabil. Auf diese vermeintliche Stabilität, die sich vor allem über die Beherrschung von Territorien und ihrer Grenzen definiert, treffen nun Flüchtlinge oder Migranten mit einer radikalen Dynamik, die vor allem das nackte Überleben sucht. Um einen Aufprall wie an der ungarischen Grenze zu verhindern, sollte an einer gemeinsamen Dynamik gearbeitet werden, die sich nicht auf ein Territorium verlässt, das sowieso nicht mehr zu halten ist. Deshalb lohnt es sich, mit einem Blick auf die Zukunftsplanung unserer Vorhaben mit einer vagen Ahnung oder antizipatorisch mit Vorahnungen an diesem neuen Zustandsraum zu arbeiten. So stellen sich die Fragen nach der gesellschaftlichen Relevanz, die immer wieder angeschnitten werden, oder gar nach forstwirtschaftlicher Nachhaltigkeit des Intervenierens in einem Flüchtigkeitsraum anders als wie vom Sofa aus oder aus dem Polstersitz. Ein Beispiel aus dem Forst, wie sich die zwiespäl­ tigen Ursprünge unseres oft leichtsinnig verwendeten Territorialverständnisses verflüssigen: Unheimlicher Wald »Ich sollte Förster werden. (…) Deshalb nahm er, der Vater, mich zur Nacht, wenn weder Mond noch Sterne schienen, wenn die Stürme brausten auf Fronfasten und Weihnacht in den Wald. Wenn er dann ein Feuer oder ­einen Schein sah oder ein Geräusch hörte, so musste ich mit ihm drauflos, über Stauden und Stöcke, über Gräben und Sümpfe und über alle Kreuzwege musste ich mit ihm dem Geräusch nach, und es waren Zigeuner, Diebe und Bettler. So, dann rief er ihnen mit seiner schrecklichen Stimme zu: Vom Platze, ihr Schelmen! Und wenn’s ihrer zehn und zwanzig waren. Sie strichen sich immer fort, und sie ließen oft noch Häfen und Pfannen und Braten zurück, dass es eine Lust war. (…) « So Johann Heinrich P ­ estalozzi, der Volksaufklärer, Pädagoge und Schriftsteller, in seinem Bildungsroman ­»Lienhard und Gertrud«, 1819.

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Über dieses Beispiel einer historischen Raumintervention schreibt Klaus-Michael Bogdal in seinem Buch »Europa erfindet die Zigeuner«: »Bei diesem Übergriff werden die Menschen, die als Eigentums- und Obdachlose im Wald Unterschlupf gesucht haben, nicht nur vertrieben, sondern auch noch verspottet. Vor dem geringen Besitz und vor der Wohnung der Heimatlosen zeigen sie keinerlei Respekt. Diese rohe Handlung der dörflichen Autoritäten scheint jedoch der Tugenderziehung nicht entgegenzustehen.« Im Zusammenhang der Fragestellung einer Topographie des Aufenthaltsrechts und des Bleiberechts scheint mir das historische Beispiel die unterschätzte Sprengkraft und Widersprüchlichkeit des Intervenierens vor Augen zu führen. Der Förster interveniert gegen vermeintliche Eindringlinge, die in sein Ordnungssystem, den Wald, intervenieren. Eine einseitige Wirklichkeitskonstruktion, die Elias ­Canetti in seiner philosophischen Schrift »Masse und Macht« als »der marschierende Wald«, als ein Synonym für die deutsche Ordnung charakterisiert. Besitz zu behaupten, Territorien anzueignen ohne zu zweifeln, sind Grundsozialisationen unserer Wertegemeinschaft. Die Missachtung der Besitz- und Ortlosigkeit ist aktueller denn je, weil die meisten Betrachtungen der Fluchtkorridore, der Flucht­ räume, der Fluchtrouten aus dem Rückhalt dieser sesshaften Sozialisation zu verstehen sind. Hier ist die volle Aufmerksamkeit der Aktiven gefordert. »Pestalozzis Roman errichtet nicht nur eine Schule der Austreibung der vermeintlichen Eindringlinge, sondern schult auch in der Vertreibung derselben.« Klaus-Michael ­Bogdal. Paradox an dem Beispiel Pestalozzis ist es, das Lagerfeuer, eine temporäre Beheimatung und das Lagern als ursprünglichste Form der Sicherheits- und Ruhesehnsüchte unsteter Existenz, angreifen zu lassen, wo doch darin die Gemeinsamkeiten lägen. Ein exekutives Verhalten dem integrativen vorzuziehen, macht den damit verbundenen Zivilisationsbegriff unheimlich. Meine Intention im Sinne des Vorsatzes und des Vorhabens ist es, eine Berechtigung des Aufenthalts auf ein Existenzrecht zu beziehen, dass über dem Eigentumsrecht steht. Das bedeutet, dass in einer Notsituation die Raumkonstellationen neu ausgehandelt werden damit ein Überleben möglich ist. Dieser Spielraum sollte von denen vorbereitet und eingeräumt werden, die den vermeintlich sichereren Rückhalt behaupten und die in der Lage sind die Konstellation zu überschauen sowie die eigene Verfasstheit in der sie operieren erkennen und einschätzen lernen. Es ist ein Unterschied, ob sich ein System aus sich selbst heraus verändert, als Self Organizing Performance, oder ob wir von einem konstruierten Außen ausgehen, in das wir eingreifen und auf das wir eingehen oder in das wir einmarschieren. Anastrophale Stadt Ob das Andere, das Fremde, das Unbekannte, Teil unserer Wirklichkeitskonstruktion ist und bei genauer Betrachtung lediglich als Projektionsfläche für die eigenen Befindlichkeiten genutzt wird, gilt es mit den Mitteln der paradoxen Intervention zu prüfen. Beispiele dafür sind in den Projekten der »Forschungsgruppe -f«

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oder der »Arbeitsgemeinschaft Anastrophale Stadt« zu finden. So wurde der Info­ pavillon eines »Urban Farming Projekts« der AG Ast in Mannheim, 2011–2030, kurz nach der Eröffnung durch einen Brandanschlag beschädigt. Allein das Eingreifen von KünstlerInnen und StadtforscherInnen im Viertel, ihre Anwesenheit, das über die aktuellen Probleme gestülpte Projekt, sind Gegenstand der Attacke. Obwohl lange recherchiert wurde und ein enger Kontakt zu den BewohnerInnen bestand, wurde die künstlerische Intervention vielleicht zu Recht als Angriff auf die Wehrlosen und ihre Schwellensituation verstanden, wurde das zukünftige Kreativ­wirtschaftsquartier durch die Kulturpioniere vorweggenommen, das Viertel temporär besiedelt und in geistiger Verwandtschaft mit Politik und Stadtplanung unbewusst, vielleicht auch unfreiwillig, ins Viertel transportiert. Arbeiten die Kulturschaffenden unbeabsichtigt für den Kultur- und Territorialbegriff der Besitzenden, von denen sie abhängen und die ihnen Mittel zur Verfügung stellen? Drei Jahre später ist genau das eingetreten, was der Brandanschlag zu verhindern suchte. Der Brandanschlag war vielleicht aus den eigenen Reihen, nur über Generationen versetzt. Ein berechtigter Angriff auf das Selbstverständnis des Kulturbetriebs? Ein Kreativwirtschaftszentrum baut sich aus, die Popakademie stabilisiert sich. Die Roma-Familien sind gänzlich aus dem Viertel verschwunden, beziehungsweise vertrieben worden. Um den Einfluss von Kultur, Kunst, Stadtforschung auf die Entwicklung unserer Gesellschaft nicht so pessimistisch erscheinen zu lassen und sie nicht in den Dienst der bestehenden Herrschaftsverhältnisse unterzuordnen, versuchen wir bestmögliche Methoden und Werkzeuge zu erforschen und anzuwenden, um aus den Fehlern zu lernen. Drehen und Wenden Begriffe wie »öffentlicher Raum«, »Partizipation«, »gesellschaftliche Verhältnisse«, »Zusammenleben« sollten stets aufs Neue definiert und damit auch die Handlungsformen immer wieder neu mit den Anwesenden entschieden und praktiziert werden. Nützlich scheint mir in diesem Zusammenhang der Begriff der paradoxen Intention von Viktor Frankl, Neurologe und Psychiater: Problematische Verhaltensweisen sollten zunächst nicht bekämpft, sondern akzeptiert und sogar gefördert werden. Die Angst vor der Angst, die Erwartungsangst, sollte durch eine absichtliche Ausübung und nicht durch die Unterlassung einer neurotischen Verhaltensweise durchbrochen und überwunden werden. Eine Umkehrung, wie wir es in der Anastrophe, der heftigen Wendung zum vermeintlich Besseren, erfahren, und als Änderung der Richtungsdynamik katastrophaler Zustände erproben, kann angestrebt werden. Als Beispiel für Frankls Methode wird gerne der Esel beschrieben, der nicht aus dem Stall will. Der Bauer schiebt den Esel erfolglos an. Paradoxe Intention ist es, den Esel dann von vorne wieder in den Stall zurückzuschieben, worauf er freiwillig ins Freie drängt. Techniken der paradoxen Betrachtungen, Methoden für den Cultural Turn nehmen auch Lucius Burckhardt und Arno Gruen vorweg. In seinem Buch »Der Wahnsinn der Normalität« schreibt Gruen, »Der Wahnsinn, der sich selbst überspielt und sich mit geistiger Gesundheit maskiert. Er hat es nicht schwer, sich zu verbergen in einer Welt, in der Täuschung und List realitätsgerecht sind. Während jene als verrückt gelten,

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die den Verlust der menschlichen Werte nicht mehr ertragen, wird denen Normalität bescheinigt, die sich von ihren menschlichen Wurzeln getrennt haben. « Den Vorschlag, Normatives und Legitimes auf seine Werteverschiebung hin zu untersuchen und davon auszugehen, dass die Normalität der Städte wahnsinnig sein könnte, wird durch die Methode Burckhardts ergänzt. Mit den promenadolo­ gischen Methoden in die Stadt zu gehen heißt nicht spazieren gehen! Promenadologie, Spaziergangswissenschaften sind kein Spaziergang! Die Änderung der Bewegungsdynamik lässt die Welt je nach Ausgangspunkt von nomadischen oder sesshaften Betrachtungsweisen erscheinen. Die Weiterentwicklung der paradoxen Invention zur paradoxen Intervention in der modernen systemischen Psychologie lässt sich mit den Fragestellungen zu den Ankunftsräumen noch besser verknüpfen. So zielt die paradoxe Intervention darauf ab, festgefahrene Positionen oder Sichtweisen zu erschüttern, um durch Differenz andere als die gewohnten Verhaltensmuster ins Spiel zu bringen und eine Problemlösung zu ermöglichen. Die Gefahr, durch das Verlassen eingespielter Methoden, Kontrollverluste zu erleiden, ist groß, jedoch für neue gesellschaftliche Konstellationen notwendig. Wer sich wirklich auf neue Formen des Zusammenlebens einlassen will, muss bereit sein, mit der eigenen Raum- und Zeitvorstellung zu scheitern, die eigenen Vorstellungen zu verlassen, um für sich und andere Situationen zu ermöglichen, für die noch keine Begriffe und Handlungsformen gefunden sind. Eine innere Intervention könnte den Ausgang erleichtern. Walter Benjamin sagt: »Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Come in Auf dem Weg, vom »Come Inn«, einem Hotel in Berlin, zum Kolloquium »Nichtoffener Wettbewerb Gedenkort Güterbahnhof Moabit« in die Quitzowstraße, von wo aus in den 40er Jahren zehntausende jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger unter den Augen der Anwohner und Nachbarn in den Tod geschickt wurden, versuche ich an dem vorliegenden Text zu schreiben. Mit einem neuen Block und offenem Stift sitze ich in der U-Bahn. Eine Frau mit Kopfschleier setzt sich neben mich und spricht meine Töchter arabisch an. Die Töchter verstehen dann irgendwie »Osloer Straße«, kennen sich aber nicht in Berlin aus. Ein älterer Berliner mischt sich ein, reißt aus meinem Block die erste Seite und zeichnet der Frau einen Plan, mit dem sie, sichtlich erstaunt und erfreut, weiterkommt. Zurück bleibe ich mit dem abgerissenen Papier und verstehe, dass diese erste, verschwundene Seite wohl der stärkste Teil des vorliegenden Textes ist. Dachgeschoss Auf der praktischen Suche nach möglichen Ankunftsräumen, Ankunftsquartieren in Europa führte mich der Weg in das Schlafzimmer der Dachmansarde eines Einfamilienhauses in einer süddeutschen Kleinstadt. In diesen wohlhabenden Kleinstädten finden wir Wohngegenden, in denen oft eine Person das ehemalige Ein­ familienhaus der Familie alleine bewohnt weil die Kinder woanders leben und der

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Partner bereits verstorben ist. In diesen großzügigen Wohnvierteln ist selten jemand auf der Straße zu sehen und naiv betrachtet könnte aus dem traurigen Zustand dieser Viertel, den Vorstadien des Friedhofs, durch beherztes Zusammen­ leben der Anwesenden mit den Hinzukommenden für alle Beteiligten eine erfreulichere Lebenssituation entstehen. Das Schlafzimmer, aus den 50er Jahren, besteht aus einer Spiegelkommode, einem Kleiderschrank, einem Doppelbett und zwei kleinen Nachtschränkchen. Seit dem Tode der Besitzerin im Jahre 2004, ist der Raum mit den Möbeln unverändert erhalten. Die Wohnung steht seit 12 Jahren leer und ist im Besitz der Tochter. Die Tochter ist bislang nicht in der Verfassung den Schlafraum aufzulösen und die Wohnung frei zu geben. Die Besitzerin Mariska Mayer (1922–2004) lebte mit diesem Schlafzimmer ab 1951 an drei verschiedenen Orten. Das Schlafzimmer war immer gleich angeordnet und ergänzt durch ein Hochzeitsfoto, das sie mit dem am 29. Oktober 1944 in Ungarn gefallenen und begrabenen Ehemann Antal Mayer (* 1917) zeigt. Die 22-jährige Witwe mit 6-jährigem Kind kam über Umwege von Kaposhomok (Ungarn) als Flüchtling nach Süddeutschland. Die Witwe kaufte sich 1951 die Schlafzimmermöbel und schlief von 1951 bis 2004, also 53 Jahre in dem Doppelschlafzimmer. Manchmal ­schliefen auf der leeren Seite, in dem dem Ehegatten zugeschriebenen Teil der ­Schlaf­stätte, Verwandte. Die meiste Zeit jedoch verbrachte sie alleine in dieser ­Raumverfassung. In den 60 Jahren von 1944 bis 2004 wurde die Erinnerungsarbeit mit dem Schlafen und der Schlaflosigkeit verbunden. Männer traten nicht mehr in das ­Leben der Witwe. Sie baute sich ein Kenotaph, eine Grabstätte zur Erinnerung an den Toten ohne den Toten, der auf der Flucht zurückblieb, ein Scheingrab. ­Deprivation und Dissoziation durch Kriegserlebnisse, Verlust der Beziehung, der Heimat, Flucht und Schlaflosigkeit schreiben sich in die scheinbar arglos schlafenden Körper ein. »Wir vergessen den Körper, doch der Körper vergisst uns nicht. Verfluchtes Gedächtnis der Organe.« Carol Callaire. Der Kauf des Schlafzimmers und die Raumanordnung beendeten den Flüchtlingsstatus der Frau. Die Schlafstätte war über 53 Jahre Obdach eines Flüchtlingstraumas, gleichzeitig auch Verweis auf die verlorene Heimat, ein Ort der an den Verlust eines anderen Ortes erinnert. Die Aufladung des Schlafzimmers als Verlustraum ist die räumliche Metapher einer psychotektonischen Relation zwischen den aktuellen Verfasstheiten und den Geschichten der Ankommenden, die sehr dringend eine Wohnung brauchen, und den Schichten der Vergangenheit, die die Anwesenden immer noch beschäftigen und zeigen, dass die Anwesenden unter Umständen gar nicht an ihrem Ort sind. Unheimliche Heimat Ein Besuch im Schwarzwald führt mich nach Oberndorf am Neckar in eine Siedlung von Einfamilienhäusern. Eine Familie wäre bereit in der kleinen Einliegerwohnung zwei Flüchtlinge aufzunehmen. In Oberndorf im oberen Neckartal zwischen den Mittelgebirgen Schwarzwald und Schwäbische Alb leben circa 14.000 Menschen. Zwei junge Männer aus Afghanistan interessieren sich für die Wohnung. Der Familienvater arbeitet bei Heckler und Koch. »Heckler und Koch ist ein weltweit führender Hersteller von Handfeuerwaffen mit festen Wurzeln am Standort Deutschland« so die Website des Traditionsunternehmens. Mir ist bekannt,

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dass viele der Anwohner von Oberndorf für die Rüstungsbetriebe arbeiten. Das Sturmgewehr G 36 der KSK (Krisenreaktionskräfte) ist von HK. Ich frage die beiden ob sie sich vorstellen können, bei Heckler und Koch eine Ausbildung zu machen. Sie wollen erstmal die deutsche Sprache lernen, dann wird es sich zeigen wie es weitergehen kann. In Oberndorf gefällt es ihnen gut. Die Nähe zwischen »Wellfare« und »Warfare« kennt die deutsche Sprache nicht. Die Doppelgesichtigkeit des Wohlfahrtstaates als kriegsführender Staat macht diese Landschaft zu einer der gefährlichsten weltweit. Hütten bauen! Das Laubhüttenfest wird jährlich von den jüdischen Gläubigen vom 15. bis 21. / 22. Tischri nach dem jüdischen Kalender (September / Oktober) acht Tage lang gefeiert. Alle Gläubigen sind dazu aufgefordert, in diesem Zeitraum das tägliche Leben in die eigens dafür gebaute Sukka, die Laubhütte zu verlegen. Im besten Falle wird die Laubhütte in Reichweite zur Wohnung oder auf dem Gemeindegelände gebaut. Das Laubhüttenfest erinnert an die Flucht aus Ägypten und die 40 Jahre dauernde Wanderschaft des Volkes durch die Wüste. Das Bauen der Laubhütte und das temporäre Wohnen außerhalb der eigentlichen Wohnung, in einem Improvisorium, soll an die Labilität der sicheren, materiellen Existenz erinnern. Gleichzeitig soll im Vertrauen auf Gott ein transzendentales Obdach gefunden werden. Ein talmudisches Prinzip besagt: »Wer kein Heim hat, ist kein (vollständiger) Mensch.« Im modernen Wohnungsbau wie in Bnei Brak in der Nähe von Tel Aviv gibt es an die Außenfassade angehängte Sukka-Anbauten, die für das jährliche Fest genutzt werden. Die Hütte muss grundsätzlich so beschaffen sein, dass sie kein festes Dach besitzt. Sie ist mit Zweigen, Stroh und Reisig so gedeckt, dass bei Sonnenschein die schattigen Stellen im Inneren überwiegen. Jedoch sollte so locker gedeckt ­werden, dass nachts die Sterne hindurchschimmern. Die Innenausstattung ist wohnlich. Eine Bauanleitung wurde nach den Werken von Rabbi Menachem M. ­S­­chneerson unter dem Titel »Thought for the Week« von Rabbi Yitzhak Meir Kagan, Lubavitch Foundation London herausgegeben und unter dem Titel »Betrachtung für die Woche« von Dr. Stern ins Deutsche übersetzt. Stern lehnte zunächst mit der Bemerkung ab, dass »Deutschland eine spirituelle Wüste sei.« Der Rebbe antwortete ihm: »Aber die Tora wurde in der Wüste gegeben!«. Heute finden wir die genaue Bauanleitung beim Chabad Lubawitsch Media Center in Berlin: »Zuerst errichten wir drei oder vier Wände, dann bauen wir aus wachsenden Pflanzen ein S’chach (ein Dach). Für die Wände ist jedes Material geeignet, es muss aber stark genug sein, um normalem Wind standzuhalten. Wer Leinwand oder Tücher verwendet, muss sie also fest an das Gerüst binden, damit ein normaler Wind sie nicht bauscht oder wegreißt. Sie gelten nicht als Wände, wenn sie flattern! Wenn der Abstand zwischen der unteren Seite einer Wand und dem Boden drei Handbreit beträgt, ist die Hütte ungeeignet. Wenn jemand zuerst ein Gerüst aufstellt, dann das Dach und zum Schluss die Wände baut, ist die Hütte ebenfalls nicht geeignet. Sie ist nur dann geeignet, wenn wir die Wände vor dem S’chach bauen. Wenn das

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Holz oder die Stangen des Gerüsts aber mindestens eine Hand breit sind, darf man das S’chach vor den Wänden anbringen. Hat man das Dach vor den Wänden gemacht, kann man die Sukka dennoch tauglich machen. Man baut die Wände, hebt das S’chach hoch und senkt es wieder ab. Dann gilt das S’chach als eben erst angebracht. Wenn zwei vollständige Wände gebaut sind, die dritte Wand ein Tefach (Maßeinheit) breit ist und eine Tür vorhanden ist, kann man die Sukka benutzen. Vier Wände sind aber besser als drei. Für das S’chach ist nicht jedes Material geeignet. Es muss pflanzlichen Ursprungs sein. Wir müssen es frisch aus der Erde holen, und es darf vorher nicht zu einem anderen Zweck verwendet worden sein. Es darf nie ein Gebrauchsgegenstand oder Gerät gewesen oder rituell unrein geworden sein. Wir können also Äste von einem Baum, Holz, Stroh und ähnliches Material verwenden. Bretter einer Kiste sind nicht geeignet, weil die Kiste ein Gebrauchsgegenstand war. Außerdem darf das Material nicht essbar sein. Bretter, die vier Tefachim breit sind, eignen sich nicht für eine Sukka, selbst wenn sie noch nie benutzt worden sind; denn sie sehen wegen ihrer Breite wie die Decke eines Hauses aus. Wenn jemand die Sukka unter einem Baum baut und dessen Äste die Hütte bedecken, ist sie selbst mit einem korrekten S’chach ungeeignet. Die Äste gelten nämlich als Teil des S'chach, weil sie die Sukka ebenfalls bedecken, und da man das S’chach nur aus Material machen darf, das aus der Erde geholt wurde, ist die Sukka in diesem Fall nicht vorschriftsmäßig. Die Weisen lehnen übelriechendes Material als S’chach ab. Wir sollten auch keine Äste verwenden, deren Blätter leicht abfallen, weil sie die Sukka beschmutzen und uns veranlassen können, sie zu verlassen. Außerdem kann das Dach dadurch so löcherig werden, dass die Sukka nicht mehr geeignet ist, denn die Halacha (Gesetz) verlangt, dass in der Sukka mehr Schatten als Sonnenlicht zu finden ist. Das S’chach muss so dicht sein, dass der Schatten in der Sukka das Sonnenlicht überwiegt, andernfalls ist die Hütte ungeeignet. Andererseits sollte das S’chach nicht übertrieben dicht sein, denn die großen Sterne sollten nachts zu sehen sein. Doch selbst wenn das Sechach derart dicht ist, ist die Sukka geeignet, sofern noch Regen durchdringen kann. Während der acht Tage des Festes dürfen wir das Material der Sukka nicht für andere Zwecke benutzen.« Einen temporär genutzten Raum zu bauen, um sich an Flucht und Entbehrung zu erinnern und um die Sensiblität für die materielle Labilität der Existenz zu erhalten, könnte auch für Ungläubige, Andersgläubige oder transzendental Obdachlose sehr nützlich sein. Um die Empathie und das Verständnis für Menschen die tatsächlich auf der Flucht sind zu stärken ist die Sukka ein Handlungsmodell, welches sich zu begreifen lohnt. »Sag nie, dass du angekommen bist; denn überall bist du ein Transitreisender.« Reb Lami

EINE KLEINE TYPOLOGIE DER FLÜCHTLINGSBAUTEN ULRICH PANTLE

Eine kleine Typo­logie der Flüchtlings­ bauten

Annäherung Im Ankommen von Flüchtlingen ist die Dimension des Ortes und einer dort verfügbaren Behausung evident. Allerdings ist in den aktuellen Debatten zur Unterbringung von Flüchtlingen die Ortsfrage auf die Kontextfrage im besiedelten Raum geschrumpft. Hinter dieser vermeintlich lösungsorientierten Einschränkung auf den städtebaulichen Kontext steht eine nicht ausreichend thematisierte, grundlegende Dimension des Topos und damit die unausgesprochene Frage, was wir angesichts der jüngeren Bauten für Flüchtlinge über unser grundlegendes Architekturverständnis erfahren können. Die Moderne ist durchzogen mit der ständigen Kritik an die Planer, ein defizitäres Ortsverständnis zu haben. So versucht Christian Norberg-Schulz das Wesentliche der Architektur an den »Genius Loci« zu binden. Er wirft den Menschen in seinem gleichnamigen Werk vor, keine »Beziehung zu Erde und Himmel«1 mehr zu haben, beklagt einen »Verlust des Ortes«2. Den Ort bindet er an das soziale Gefüge der Siedlung, wonach in den städtischen Zentren die »Orte des Gemeinschaftslebens« genauso verloren gegangen sind wie das »Bauwerk als sinnvoller Unter-Ort, wo der Mensch zugleich Individualität und Zugehörigkeit erfahren konnte«3. Mittlerweile ist die Dialektik von den Bedingungen einer heimatlichen Bindung als Notwendigkeit der persönlichen Identität und zugleich die Möglichkeiten der Mobilität und Medien als andauerndem Moment der Globalisierung längst zum zentralen architekturtheoretischen Thema geworden4, unabhängig von der aktuellen Flücht­lings­situation. Neben der meist fortschritts- und zivilisationsskeptischen Haltung gegenüber der Moderne ist die Thematisierung des Ortes immer auch ein präarchitektonisches Motiv. Noch bevor ein Gebäude für einen Ort gedacht wird, ist der Ort da und wirkt. Vittorio Gregotti sah 1983 den »Ursprung der Architektur« nicht darin, dass es »die Urhütte, die Höhle oder das mythische Haus Adams im Paradies« sei, sondern »bevor der Mensch eine Stütze in eine Säule, ein Dach in ein Tympanon verwandelte, bevor er Stein auf Stein legte, legte er zunächst einen Stein auf den Boden, um mitten in dieser unbekannten Welt eine Stelle zu markieren, die er in Betracht ziehen und verändern könne«5. Die Verschmelzung von architekto­ nischer Absicht und örtlichem Gefäß ist insofern ein symbolischer Akt, als auch

Ulrich Pantle

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Christian Norberg-Schulz, Genius loci, Stuttgart 1982, S. 190. Ebd., S. 190. 3 Ebd., S. 190. 4 z.B. Marc Augé, Nicht-Orte, München 2010. 5 Vittorio Gregotti in einem 1983 gehaltenen Vortrag vor der New Yorker Architectural League, zit.n. Kenneth Frampton, Grundlagen zur Architektur, München 1993, S. 9. 2

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das Gebaute selbst eine semiotische Dimension hat. Bauten für Flüchtlinge repräsentieren primär die jeweilige gesellschaftliche Situation. Eine Situation, die gegenwärtig nicht selten als Krise beschrieben wird und bauen in Krisenzeiten heißt immer auch bauen als Legitimation von Architektur. Architektur ist schließlich Teil der Kultur, Ergebnis einer kollektiven, gesellschaftlichen Leistung. Wenn in einer Gesellschaft eine Krise irgendeiner Art proklamiert wird, stehen auch die Werke und Taten der Gesellschaft in der Kritik, infolgedessen auch ihre Architektur. Insbesondere dann soll mit Architektur auch Bedeutung produziert werden, um damit wiederum eine positive Perspektive aufzuzeigen. Die spezifische Aufgabe, Flüchtlingen eine Unterkunft zu geben, ist so alt wie die Baugeschichte. In Deutschland ist sie insbesondere durch die gewaltigen Fluchtbewegungen am Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute noch im k ­ ollektiven Bewusstsein präsent. Eine vergleichende Betrachtung der Notwohnungen in Deutschland um 1945 mit der heutigen Situation liegt daher auf der Hand. Sie zeigt einerseits gewiss zahlreiche Unterschiede, die durchaus einen Vergleich schwierig machen, wie der politische Kontext und die Situation der Städte. Die angekommenen Menschen redeten damals die gleiche Sprache, hatten ähnliche Erfahrungen, Wertvorstellungen und religiöse Überzeugungen. Anderseits soll hier der Versuch unternommen werden, in einem historischen Vergleich Parallelen aufzuzeigen, um ein besseres Verständnis der Moderne zu erhalten, die mitunter sogar als grundlegende Konstanten der Architektur und des Ansiedelns verstanden werden können. Demzufolge also auf den Beginn des Bauens verweisen, gleichsam auf eine Basis aller Architektur. Situation um 1945 – Systembauten, Baracken und Behelfsquartiere Bei Kriegsende 1945 stand die Wohnsituation in Deutschland mit der allgemeinen Notlage nicht nur im Zeichen eines materiellen Mangels, sondern auch vor allem einer geistigen Not. Bei der Frage wie es weitergehen sollte, waren die Menschen ausdrücklich mit der Schuldfrage konfrontiert. Aus der Schulddebatte und Schuld­ anerkennung entstand die stereotype Redewendung der Läuterung – der Katharsis. Nur sie sollte eine angemessene Basis bieten, auf der die Werte einer Neuorien­ tierung gedeihen konnten. Denn nur der gereinigte und geläuterte Mensch sollte dazu fähig sein einen Neuanfang beginnen zu können. Die materielle Zerstörung der Städte ließ sich in diese Strategie der Reinigung ausgezeichnet integrieren. Der Dreischritt von Schuldanerkennung über Reinigung zu reduktionistischen Werten des Neuanfangs wurde zum gängigen Muster. Auch das notdürftige Wohnen in provisorischen Bauten lässt sich als Teil dieser Trias verstehen. Die kärglichen Lebensbedingungen konnten als Etappe dieses Reinigungsprozesses verstanden werden, das daraus abgeleitete »einfache Wohnen« wurde zum Programm für die zukünftige Wohnform. In der großen Gruppe der Traumatisierten und Wohnungslosen fanden sich multiple Identitäten: »Heimatvertriebene« und »Displaced Persons«, die sich kriegsbedingt in Deutschland und nicht in Ihrem Heimatland befanden, aber ohne Hilfe weder zurückkehren, noch in einem anderen Land niederlassen konnten. Oder einfach nur »Ausgebombte« und »Zugewanderte«, die aus unterschiedlichen

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Motiven Binnenwanderungen unternahmen. Das Ausmaß dieser »Flüchtlinge« in Deutschland ist bis heute nicht eindeutig zu quantifizieren, Schätzungen reichen bis zu 12,5 Millionen Menschen. Die statistische Auswertung der Volkszählung von 1950 erbrachte einen Bevölkerungsanteil von 9,43 Millionen »Vertriebenen« und »Zugewanderten« im Bundesgebiet. Das entsprach 19,8 % der Gesamtbevölkerung. Deshalb war die Flüchtlingsfrage für die damalige Bundesregierung unter Bundes­ kanzler Konrad Adenauer zum »zentralen Problem des deutschen und wirtschaftlichen Lebens«6 geworden. Sie schätzte die Baukosten für den Bedarf an etwa fünf Millionen Wohnungen für die Flüchtlinge auf eine »phantastische Summe von 50 Milliarden DM« mit einer Bauzeit von »mindestens 20 Jahre[n]« 7. Die Planungen wurden erschwert durch das Verhalten der Menschen, die sich nicht immer an die bürokratischen Vorgaben hielten. Indem die Flüchtlinge versuchten familiäre Beziehungen zu bündeln, in weniger beschädigte, ländliche Gebiete und kleinere Städte zu ziehen, in denen sie zwar kurzfristig Nahrung und Unterkunft fanden, aber langfristig keine Arbeit, verstärkte sich die Not in vielen Regionen. Aber für den Großteil der Bevölkerung standen verständlicherweise die Fragen im Vordergrund, wie es von Tag zu Tag weitergehen kann, wo im materiellen wie ideellen Sinne lebenssichernde Grundlagen sind. Eine Orientierung suchte man im unmittelbaren Lebensumfeld. Der Horizont war klein geworden, gesamtdeutsche oder gar außenpolitische Angelegenheiten rückten für die Betroffenen in den Hintergrund. Obgleich schließlich schneller Wohnraum für die meisten Menschen erstellt werden konnte als erwartet, waren die ersten Nachkriegsjahre von Trümmern und Provisorien bestimmt. Die Menschen richteten sich in den noch erhaltenen Räumen ein. Daneben waren die »Baracken« omnipräsent und wurden zum bestimmenden Gebäudetyp. Als Behelfsbau standen sie neben Nissenhütten und anderen Behelfsunterkünften für einen nicht lösbaren Konflikt. Anstatt sie als adäquate Architektur zur Linderung der Wohnungsnot zu verstehen, als angemessene und zeitentsprechende Antwort auf die dringliche Not, standen sie für eine verachtenswerte Architektur, für die primitivste und unvollkommenste Form des Hausens. Sie waren stigmatisierende Gebäude, nicht zuletzt weil sie für das Provisorische standen, aber das Dauerhafte befürchten ließen. Der aus Oberbayern stammende Peter Kustermann berichtet 1947 von einer Reise durch die Besatzungsgebiete über die Wohnsituation im »Barack-Stil« und mutmaßt: »Wir werden noch lange in Nissenhütten, Garagen, und Baracken, Bunkern und Erdhöhlen, in überhitzten Mansarden und bitterkalten Kellern leben«.8 Die Situation in den Städten zeigt sich für ihn von traumatisierten Menschen bestimmt. Auf freien Grundstücken in den Städten und in der Peripherie werden Baracken zusammengetragen, die mit Flüchtlingen überbelegt sind, »denn 6

Konrad Theiss, Die Ausgewiesenen. Deutschlands Schicksalsfrage, Stuttgart 1946, S. 26. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.), 6 Jahre danach. Vom Chaos zum Staat, Wiesbaden 1951, S. 112. 8 Peter Kustermann, Elend des Wohnens, in: Hans A. Rümelin (Hg.), So lebten wir…, Ein Querschnitt durch 1947, Willsbach 1947, S. 165.

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der ›Wohnungskoeffizient‹ hat das Maß des erträglichen schon überschritten«9. Wie in Frankfurt am Main sieht er überall »Heimatlose in der Bunkerheimat: Heim­ gekehrte, Ausgebombte, Durchreisende, Arme und Verarmte«10. Zugleich bewundert er die Eigeninitiativen und Improvisationsfreude dieser Menschen, wie sie Dinge notdürftig reparieren und Räume wohnfähig machen: »Eine großartige Leistung zeigt sich hier, eine vitale Selbsthilfe«11. München sieht er im Vergleich weniger zerbombt, allerdings beherberge es auch »die meisten Ausländer und wehrt sich verzweifelt gegen den Andrang neuen Zuzugs«12. Die weniger zerstörten Gemeinden in Bayern, die »vollgesogenen Schwämmen gleichen«13, nimmt er zum Anlass, um über den deutschen Bürokratismus und die Notwendigkeit von »Beziehungen« zu spotten. Orte wie diese würden ermöglichen an Genehmigungen und Baumaterial zu kommen. Hier würden die Menschen nicht das »Grauen der Bombennächte« kennen, wüssten nicht, »wie es schmeckt Hab und Gut in einem schlaffen Rucksack einherzutragen« und würden jetzt »mit harten Augen« auf die Fremden blicken, die bei ihnen »auf dem Hals« zwangseinquartiert werden, die »in ihren Wohnungen hocken und das Wohnzimmer belegen, in die Küche kommen und in die Keller sehen«14. Die Lösung für die Wohnmisere sieht auch er noch lange auf sich warten und weniger in einer effizienteren Verwaltung, sondern in einer innovativen Technik der Bauwirtschaft. Zukünftig erwarte er, dass »Räumung, Verwertung und Wiederaufbau – in einem einzigen Arbeitsvorgang«15 möglich sei. Als Beispiel führt er den »Trümmerwolf« an, er »frisst die Trümmer wie sie sind. Sein maschinelles Endergebnis sind fertige Hohlbausteine«16. Allerdings war nicht erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Alltag der Menschen von materieller Not bestimmt. Schon zuvor führte die Verknappung aller Güter zu unbewältigbaren Problemen, die auch eine Bautätigkeit nur unter den stark erschwerten Bedingungen einer Mangelbewirtschaftung möglich machten. Angesichts der Zerstörung der deutschen Städte durch die alliierten Luftangriffe hatten die Machthaber vor allen Dingen Antworten auf die Wohnungsproblematik geben müssen. Die damals zum Einsatz gekommenen Behelfsbauten dienten dann auch nach Kriegsende noch in riesigem Ausmaß als Unterkünfte für Flüchtlinge. Einer der häufigsten Behelfsbauten waren die ab 1934 entwickelten »RAD-Baracken« in Holzskelettbauweise. Dienten sie ursprünglich dem Reichsarbeitsdienst und der Hitlerjugend, später ab 1938 dem Militär sowie als multifunktionale Gebäudetypen für Arbeits- und Konzentrationslager, wurden sie ab 1942, neben den Bauten des Behelfswohnungsbauprogramms, auch für andere zivile Nutzungen wie auch als Notunterkünfte für Ausgebombte und ab 1945 für »Vertriebenen­lager« verwendet. Durch eine modulare Bauweise mit einem Modul9

Ebd., S. 166.

10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd. 14

Ebd., S. 167. Ebd., S. 168. 16 Ebd. 15

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maß von 3,30 m aus genormten Bauteilen konnten die Baracken in modifizierten Ausführungen und in variierenden Typen rasch in großen Mengen für verschiedenen Nutzungen hergestellt und errichtet werden. Ernst Neufert, der Reichsbeauftragte für Baunormung stellte in seiner »Bauordnungslehre« einen optimierten Entwurf für Behelfsunterkünfte für Bombengeschädigte vor, eine Weiterentwicklung der zweigeschossigen Behelfsunterkünfte für Arbeiterfamilien der Rüstungsindustrie. In Holztafelbauweise organisierten sich in einem Vierspänner-Typ die Wohnungen um Installations- und Entlüftungskerne mit einer tragenden Mittelwand. Das Entwurfskonzept hatte das deutliche Ziel einer Ökonomisierung der Mittel. Alle Teile waren vorgefertigt, das Entwurfskonzept war primär konstruktiv angelegt, »die Baukonstruktion wurde wie für eine Maschine bis in alle Einzelheiten sorgfältig durchgebildet. Für jede einzelne Holztafel, für jede Schwelle und Leiste wurde der Holz- und Eisenbedarf genau ausgerechnet und in übersichtlichen Listen zusammengestellt«17. Mit dem im August 1943 verfügten Führererlass wurde Robert Ley beauftragt, ein groß angelegtes »Deutsches Hilfswerk« (später »Deutsches Wohnungshilfswerk«) aufzubauen, das überall im Reich »Notwohnungshäuschen« errichten sollte.18 Architekt der auf einer Gauleitertagung im Februar 1944 in München vorgestellten »Behelfsheime in Siedlungsform«19 war Hans Spiegel, der die Abteilung »Gebäudeplanung« unter Robert Ley leitete. Neben Behelfsheimen aus vorgefertigten Bauteilen in Montagebauweise stellte er Typen vor, die aus örtlich vorhandenen Baustoffen und Trümmerschutt erstellt wurden. Beide Varianten sollten ohne den Einsatz von Facharbeitern gebaut werden können. Bauanleitungen wie die schon zuvor veröffentlichte »Behelfsheimfibel«20 sollten rasch zur Errichtung von Ersatzwohnraum führen. Auch wenn die von Ley anvisierte Anzahl von 300.000 Behelfsheimen bis zum Spätsommer 1944 nicht erreicht werden konnte, waren die Bauten in ihrem Erscheinungsbild dennoch dermaßen präsent, dass der Volksmund bald despektierlich von »Leylauben« sprach. Der Wohnraummangel wurde zudem mit den im Herbst 1944 einsetzenden Flüchtlingsströmen, vor allem aus den Gebieten östlich der Oder und Neiße, Böhmen, Mähren und der Slowakei, dramatisch erhöht. Die Wohnungsnot ging einher mit hygienischen und sozialen Problemen, die in den notdürftig hergerichteten und nicht selten völlig überbelegten Holzbaracken herrschten. Erzählungen von Ungeziefer wie Läusen, Zecken und Ratten sowie dadurch entstandenen Bisswunden und ansteckenden Krankheiten begleiten die Erinnerungen der Zeitzeugen. Auch mit einem modularen, vorgefertigten Bausystem, aber begleitet von einem theoretischen Konzept, das partizipative, theologische und leibphänomenologische Züge trägt, entwarf Hans Schwippert eine Notunterkunft. Er arbeitete 1945 als Architekt und Hochschullehrer in Aachen und war als Leiter der Abteilung Wiederaufbau des Oberpräsidiums der Nordrhein-Provinz an verschiedenen 17

Ernst Neufert, BOL – Bauordnungslehre, Berlin 1943, S. 340. Tilman Harlander, Zwischen Heimstätte und Wohnmaschine, Basel 1995, S. 267. 19 Ebd., S. 327. 20 Reichswohnungskommissar (Hg.), Behelfsheimfibel (Grundheft), Berlin o. J. (um 1943). 18 Vgl.

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Projekten für Notunterkünfte beteiligt. Bereits 1943 hatte er Behelfsheime für das belgische Raeren entworfen, denen er die Bezeichnung »Wohnlaube« gab. Den Bewohnern gab er in der ein Jahr zuvor erstellten Anleitung für »Behelfsmöbel in Selbstherstellung« neben praktischen Bauanleitungen für den Selbstbau der Einrichtung auch eine Erklärung, welche Bedeutung für ihn händische Arbeit hat: »Mit eigenen Händen und wenigen einfachen Werkzeugen einige notwendige Gerätschaften, zu denen auch Möbel zählen, selbst verfertigen zu können, ist immer eine nützliche Sache. [...] Was immer aus örtlichen Gegebenheiten von Material und Arbeitskraft und Arbeitsmitteln in richtigem Werkverstand und vor allem in geeigneten Abmessungen des Ganzen und der Einzelheit entsteht, es hat, und sei es noch so ›primitiv‹, seine Art von Schönheit.«21 Als 1944 die Flüchtlingsströme einsetzten, wurden nach seinen Entwürfen »Notstandshäuser« gebaut, kleine Wohneinheiten mit geringer Freifläche, um sich selbst versorgen zu können. Selbst als nach Kriegsende die Zahl der »Vertriebenen« rasant zunahm und nur noch Wellblechnissen auf einfachen Holzkonstruktionen ausgeführt werden konnten, versuchte er in den Notunterkünften ein soziales Miteinander zu ermöglichen und aktive Mitarbeit zu integrieren, in dem er kleine Einheiten mit jeweils getrennten Wohn- und Schlafräumen schuf, die gemeinsame Versorgungseinrichtungen wie Wasch- und Toilettenanlagen nutzten. Die Planungen begleitete er mit einem Text, in dem er vor einer Trennung zwischen Theorie und Praxis warnte und sich implizit gegen Tendenzen der Moderne wandte. Ihnen setzt er den Versuch entgegen, mit einer Neuinterpretation des mittelalterlichen Ordo-Begriffs die Brüche der Moderne wieder zusammenzuführen. Um die ausdifferenzierten Elemente »des Herzens und des Geistes«22, den Leib, die Seele und den Geist zu reintegrieren, schlug er das Werk der Hände vor. Eine der zentralen Werkaufgaben sei dabei das »Aufräumen und Bauen«, bei der der Mensch zwar ein Werk »von äußerst behelfsmäßiger Form«, ein »sehr, sehr einfaches Werk« verrichten würde, aber damit »bricht er die erste gegebene Natur um in eine zweite ­Natur, 21 in:

Gerdamaria Schwippert, Charlotte Werhahn (Hg.), Hans Schwippert, Köln 1984, S. 55; erstmals veröffentlicht in: Behelfsmöbel zur Selbstherstellung, Einführungstext zu Anleitungsbögen zur Möbelherstellung, 1942. 22 Hans Schwippert, Denken Lehren Bauen. Düsseldorf 1982, S. 17; Manuskript von 1944; erstmals veröffentlicht in: Hefte für Baukunst und Werkform, Heft 1 / 1947.

Abb. 8–12 Reichswohnungskommissar (Hg.), Behelfsheimfibel (Grundheft), Berlin, um 1943

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die Werkwelt«, die eine Wiederholung der Schöpfungswirklichkeit durch den Menschen in seinen Grenzen«23 sei. In diesem Bewusstsein bekäme »Menschenwerk wieder Heimat und Würde«24. Auch hier sieht Schwippert eine Verbindung: »Würde des Werks aber lebt nur aus der Würde des Menschen und die Würde des Menschen ist in der Würde seines Werks«.25 Die Rehabilitierung »des Leiblichen, des Sinnlichen, des Handgreiflichen«26 führte für ihn zur Auflösung des Gegensatzes von Theorie und Praxis. Situation heute – Modulbauten, Bestandsnutzung und Partizipation Beim historischen Vergleich zwischen der Situation um 1945 und heute mag zu Recht eingewandt werden, dass die wirtschaftlichen Unterschiede in Deutschland wohl kaum größer sein könnten. Den ökonomischen Tiefpunkt um 1945 mit dem weltwirtschaftlichen Spitzenplatz Deutschlands in der Gegenwart zu vergleichen ist einerseits unmöglich. Andererseits kann dieser Gegensatz relativiert werden. Denn zum einen beschränkt sich die Forderung nach einem wirtschaftlichen Umgang der Mittel nicht auf Zeiten wirtschaftlicher Not, sie ist vielmehr eine K ­ onstante in der Architektur. Sowohl die Ansprüche an die Effizienz wie auch an die Effektivität sind grundlegende Anforderungen an das Bauen. Entscheidender für einen Vergleich spricht zum zweiten, dass die Situation durch die Flüchtlinge heute wie auch um 1945 vorrangig als gesellschaftliches Problem angesehen wird und die dafür entstehenden Baumaßnahmen unter großer Beobachtung der Ö ­ ffentlichkeit stehen und somit einen bedeutungsvollen Repräsentationsaspekt a­ ufweisen. Nichtsdestotrotz verwundert es kaum, dass gegenwärtig vorrangig Lösungs­ vorschläge angeboten werden, die einer zweckrationalen Argumentation folgen und deren optimierte Wirtschaftlichkeit betont wird. Das von der IKEA-Stiftung finanzierte »1000-Dollar-Haus« akzentuiert bereits mit dem Titel seine öko­nomische Dimension, die ab einer größeren Produktionsmenge erreicht wird. Die modularen Bauteile aus Kunststoff können in vier Stunden ohne Spezialwerkzeug von Laien zu einem Häuschen mit 17,5 qm Nutzfläche zusammengebaut werden. Solarmodule auf dem Satteldach befähigen gar zu einer gewissen Unabhängigkeit der maximal fünf Bewohner. Mit einer geschätzten Standdauer von drei Jahren ist es durch die UNHCR seit 2013 vor allem in Nordafrika und dem Nahen Osten im Einsatz. In Deutschland liegt die Verantwortung zur Unterbringung der Flüchtlinge letzten Endes bei den Kommunen, denen sie über die Bundesländer nach dem »Königsteiner Schlüssel« zugeteilt werden und deren bauliche Reaktionen unterschiedlich sind. Angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen, den erheblichen wirtschaftlichen Belastungen und der knappen Zeit die zur Problemlösung zur Verfügung steht, werden allenthalben Mindeststandards unterschritten. So kommen auch längst ausgemusterte Massenunterkünfte an abgelegenen Standorten ohne Infrastruktur wieder zum Einsatz, obgleich die Einigkeit zu einer möglichst dezentralen Unterbringung vorherrscht. Zahlreiche Statements nehmen die Unter­ 23

Hans Schwippert, Denken Lehren Bauen. Düsseldorf 1982, S. 16. Ebd., S. 18. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 17. 24

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kunftsproblematik auch zum Anlass, um das allgemeine Defizit an Sozialwohn­ raum anzuprangern und eine generelle Senkung der Standards im Wohnungsbau einzufordern, wie Arno Brandlhuber, der in der Lösung des Wohnraummangels für Flüchtlinge »eine Chance« sieht, »diese Standards viel niedriger anzusetzen«27. Philipp Meuser, der sich gleichsam gegen den hohen Ausbaustandard ausspricht, den wir in Deutschland haben, plädiert für das Selbstverständnis des Selbstausbaus von Wohnungen.28 Als weitere Kostenreduzierung sieht er neben einer größeren Belegungsdichte die industrielle Vorfertigung von Bauteilen, bis hin zu »Plattenbauweisen«. Diese Aussage ist nicht untypisch. Neben einer noch umstrittenen Absenkung der Standards werden nach wie vor eine Vorfertigung zur Kosten­ reduzierung sowie eine Beteiligung der Nutzer vorgeschlagen. Die Kommunen folgen vor allem dem Punkt der industriellen Vorfertigung und setzen auf Fertigbauweisen als Container-, Modul- und Systembauten. Wie in Hamburg werden in vielen Städten für eine kurzfristige Unterbringung in der Erstaufnahme standardisierte Großraumzelte aufgebaut. In dem von der Bundeswehr in internationalem Einsatz verwendeten Zelt mit der Bezeichnung »Typ 2« finden 8 bis 10 Personen eine Unterkunft, gegebenenfalls auch mehr, die innerhalb weniger Stunden bezugsfertig sind. Die Konstruktion des multifunktio­ nalen Zeltes besteht aus einem Metallgestänge mit einer Beplanung in einer Modul­bauweise, die in Längsrichtung in 2,40 m-Schritten endlos erweiterbar ist. Je nach Untergrund können unter einer Bodenplatte mit Podestunterbauten topografische Unregelmäßigkeiten ausgeglichen werden. Ergänzende Bauteile wie Verbindungselemente, Sonnensegel sowie Heizungen und Stromaggregate erlauben Kombinationen mit Containern oder passen die Zelte an das ortstypische Klima an und machen sie damit auch wintertauglich. Durch den Architekten Jan Schabert wurden auch in München für mehrere Standorte üblicherweise als Festzelte genutzte Leichtbauhallen zu Wohn- und Schlafhallen modifiziert. Zusätzliche, gedämmte Fußbodenkonstruktionen, gewähren eine energetische Optimierung, raumhohe Glastüren und Verbindungsbauten zu den Sanitärcontainern dienen räumlichen und funktionalen Erfordernissen und ein Innenausbau mit 1,60 m hohen Wänden aus Holzdreischichtplatten zoniert in Individual- und Gemeinschaftsbereiche. In Bremen errichteten die Architekten Stefan Feldschnieders und Tobias Kister bislang drei Wohnanlagen für jeweils bis zu 240 Bewohner aus Überseecontainern, die als Fertigbauten deutlich erkennbar bleiben. Die drei Meter breiten Stahlcontainer sind in der Wohnnutzung jeweils mit einer Küchenzeile, Nasszelle und einem Wohnraum ausgestattet und werden in verschiedener Anordnung kombiniert. Die Besonderheit liegt nicht in der Negierung der Containeranmutung. Vielmehr sind in einer zweigeschossigen Anordnung Strukturen entstanden, mit 27 http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/architekten-zur-

fluechtlingsunterbringung-drei-wege-aus-der-wohnkrise-a-1065749.html; (8. Februar 2016). 28 http://www.zeit.de/2015/43/architektur-plattenbau-philipp-meuser-interview; (8. Februar 2016).

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denen geschützte Freiräume gebildet wurden. In Analogie zu Hoftypen arabischer Länder, erhalten Wohngruppen durch die Anordnung eigene Höfe oder bilden als Winkeltypen differenzierte Außenräume. Durch die Kombination von Schlaf-, Sanitär- und Küchencontainer versuchen Franken Architekten im hessischen Friedrichsdorf für Kleingruppen sowohl Gemeinschafts- als auch Individualbereiche zu schaffen. Dabei bilden jeweils sechs Container eine Wohneinheit (»sixpack«). Kombiniert in Reihen aus vier Einheiten und in einer dreigeschossigen Stapelung formieren sie einen Baukörper mit »12 sixpacks«. Durch eine Reduzierung auf zwei Treppenhäuser mit einer Lauben­gangerschließung zielt das modulare Containersystem auf eine schnellstmögliche und wirtschaftlich optimierte Realisierung. Während die Containermodule meist als solche sichtbar bleiben, wird mit den Modul- und Systembauten in Holz-, Stahl- oder Massivbauweise mitunter versucht, die Vorfertigung nicht zu zeigen. Mit der Negation einer sichtbaren Vorfertigung soll gleichsam auch das Provisorische in eine Dauerhaftigkeit überführt werden, was oft zusätzlich mit dem Hinweis auf eine Nachnutzung bekräftigt wird. So ist beispielweise beabsichtigt, ein Flüchtlingswohnheim in Hannover später als Studentenwohnheim zu nutzen. Jeweils vier der in Vorarlberg vorgefertigten Holzmassivbaumodule ergeben eine Dreizimmerwohneinheit mit gemeinsamer Küche und Bad, die in unterschiedlicher Personenanzahl belegt werden kann. Das Planungsteam um MOSAIK Architekten hat auch hier die Holzmodule in zweigeschossige Baukörper mit Laubengangerschließung mit einem gemeinsamen Freibereich angeordnet. Zugang und Belichtung erfolgt über die Stirnseiten, deren Fassadenelemente in variierender Anordnung arrangiert sind und versuchen die Rigidität des Seriellen aufzulockern. Die serielle Anordnung bleibt durch das gleichmäßige Achsmaß von 2,70 m jedoch erkennbar und durch die aufgeständerte Montage der Wohneinheiten auf Streifenfundamente wird zudem der Mobilitäts­ aspekt des Aufbaus betont. Die Flüchtlingswohnbauten der Stadt Stuttgart vermeiden die Anmutung immobiler Bauten und zeigen noch stärker den Eindruck eines traditionellen Mas­ siv­baus. Die Stadt verfolgt das sogenannte »Stuttgarter Modell«, das eine dezen­ trale Unterbringung in allen 23 Stadtbezirken vorsieht. Wobei die maximale Anzahl von 321 Plätzen für einen Standort nicht überschritten werden soll. Zwar versucht die Stadt wie vielerorts auch leerstehende Bestandsgebäude, wie Wohnungen, Wohn- und Waldheime, leerstehende Schulen sowie Turn- und Versammlungsstätten zu belegen. Allerdings liefert die prosperierende Region mit ihrem angespannten Immobilienmarkt dafür kein großzügiges Angebot. Daher setzt die Stadt Stuttgart auf die Flexibilität von Systembauten, weil diese bei einer prognostizierten Standzeit von fünf bis zehn Jahren »schnell auf- und abgebaut werden können«29. Die Gebäude sind zweigeschossige Zeilenbauten mit Flachdach und einer Gebäudelänge von ca. 37 m. Die Ausführung erfolgt in zwei Varianten: die häufigste Ausführung ist ohne Laubengang in einer herkömmlichen Stahlbetonbauweise aus 29

http://www.stuttgart.de/item/show/572019?plist=homepage; (8. Januar 2016).

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Fertigteilen und einer Gebäudetiefe von ca. 10 m oder mit Laubengang in einer Stahlrahmenkonstruktion. Da grobe ­Stoßfugen oder andere typische Merkmale vorgefertigter Bauteile nicht beziehungsweise nur schwer zu erkennen sind, sind die Bauten für den Laien nicht als Fertigbauten identifizierbar. In ihren Gebäudedimensionen und städtebaulichen Körnungen entsprechen sie eher kleinen Reihen­ haussiedlungen. Dass es keine Reihenhäuser sind, wird jedoch selbst einem Laien durch die Erschließung ersichtlich, die jeweils axial über die Stirnseiten erfolgt. Dort befindet sich eine außenliegende Treppe, die in das Obergeschoss führt. Intern führt axial ein Mittelgang durch das Gebäude, von dem beidseitig gleichtiefe Räume abgehen, so dass hinsichtlich der Raumgröße und Ausrichtung der Räume keine Nutzungsvorgaben entstehen. Ein Raum kann von der Raumtiefe gleichermaßen Wohnraum, Gemeinschaftsraum, Lager oder Büro der Verwaltung sein, mit den entsprechenden Installationen auch Küche oder Bad. Zudem beinhaltet das »Stuttgarter Modell« wie in anderen Städten auch eine adäquate Betreuung durch freie Träger mit Unterstützung durch örtliche Freundeskreise und ehrenamtlich tätige Bürger. Der viele Facetten aufzeigende Ansatz der Integration durch Partizipation ist beispielsweise im Bauprozess des Projektes »Urbanes Regal« des Berliner Architekten Max Schwigalla vorgesehen, einem mehrgeschossigen, auf Containermodulen basierenden Rohbau, der alle notwendigen Infrastrukturen enthält und bei dem die Ausbaumaßnahmen durch die Flüchtlinge erfolgen sollen. Dieser Ansatz einer Fertigstellung durch die Bewohner ist eine mögliche Form der Partizipation, der gewiss nicht neu ist, aber im Rahmen der aktuellen Debatten in vielerlei Hinsicht sehr sinnfällig erscheint. In Vorarlberg entwarfen die Architekten Andreas Postner, Konrad Duelli und Hermann Kaufmann Wohnhäuser in einer für die Region typischen Holzbauweise, die standardisiert in zwei Gebäudetypen, von den zahlreichen Vorarlberger Holzbaubetrieben erstellt werden kann. Die zweigeschossigen Gebäude für ländliche Grundstücke können 25 bis 30 Personen aufnehmen, die dreigeschossigen Gebäude in städtischen Gebieten circa 50 Bewohner. Der Standard der Bauten entspricht einem veredelten Rohbau. Das Projekt dient gleichermaßen allen Wohnungssuchenden als Angebot eines sozialen Wohnraums. Die Bewohner werden bei der Gestaltung des Ausbaus beteiligt, was vom Innenausbau über das Recycling von Möbeln bis zur Pflege der Außenanlage und Bewirtschaftung der Gärten reicht. Dass sich Modulbauweisen, durchaus aus konstruktiven und wirtschaftlichen Ansätzen hervorgehend, mit partizipatorischen Ansprüchen verbinden lassen, zeigen auch die Projekte der Gruppe »more than shelters« um den Künstler und Social Designer Daniel Kerber. Sie »zielt darauf ab, menschenwürdige Lebensräume für Flüchtlinge und BewohnerInnen von informellen Siedlungen zu schaffen, und die betroffenen Menschen dazu zu ermutigen aktiv ihre Zukunft zu gestalten«30. Architektonisches Produkt ist dafür das modulare Zeltsystem DOMO auf einem hexagonförmigen Grundriss. Die Konstruktion einer Einheit besteht aus Aluminium-Hohlprofilen, die mit einer membranartigen Außenhaut bespannt 30 http://www.morethanshelters.org/de/ueber-uns/die-vision/;

(17. Februar 2016).

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wird. Je nach Klimaregion kommen verschiedene Materialien zum Einsatz. Eine Ausführung mit festen Sandwich-Paneelen ist schneefest und steht für kalte Klimaregionen zur Verfügung. Neben der individuellen Anpassung an unterschiedliche klimatische und topografische Gegebenheiten, sind alle Einheiten durch die modulare Bauweise kombinierbar und damit für unterschiedliche Nutzungen geeignet. Ein wichtiges Argument derartiger konstruktiv entwickelter Systeme ist neben der Flexibilität und Variabilität auch hier die Kompaktheit beim Transport ­sowie die Schnelligkeit beim Auf- und Abbau. Das interdisziplinäre Team entwirft jedoch nicht nur Bausteine für Notunterkünfte. Als soziales Projekt werden auch verschiedene Aktivitäten in Lagern gestaltet. Beispielsweise wurde aus sieben DOMO-Einheiten in Za’atari ein »Community- und Lerncenter« errichtet. Za’atari liegt im Norden Jordaniens und ist mit ca. 80.000 Bewohnern innerhalb von wenigen Jahren zu einem der weltgrößten Flüchtlingslager angewachsen. Ohne einen historischen Siedlungskern hat sich das Lager in Grenznähe zu Syrien als Ansiedelung 2012 etabliert und wird vermutlich auch nach Ende des Krieges in Syrien erhalten bleiben. In Kooperation mit dem UNHCR Camp Manager Kilian Kleinschmidt führt »more than shelters« seit 2013 verschiedene partizipative Projekte durch. Neben dem Community- und Lerncenter, in dem unter anderem Perspektiven für die Zivilgesellschaft diskutiert werden, waren sie Teil einer Innovations- und Planungsagentur, in der verschiedene Projekte initiiert wurden. Unter Beteiligung von externen Fachleuten und Institutionen fanden Workshops statt und wurde ein Recyclingprojekt angeregt, um nicht zuletzt ein besseres Müllmanagement zu erzielen. Ein weiteres Projekt reagierte auf einen eigenmächtigen Umbau der Bewohner. Diese wollten nicht die dezentralen Sanitäreinrichtungen benutzen, die für Gruppennutzungen errichten worden waren. Unberechtigt bauten sie die Sanitärobjekte dort aus und in ihre Zelte und Wohncontainer wieder ein. Die Abwasserleitungen wurden nur aus der jeweiligen Wohneinheit geführt, was zu prekären Hygienebedingungen führte. Eine Sondierung bei den Flüchtlingen, wie sie auf dem Land die Abwässer ohne Kanalisation abführen, ergab die Implementierung von Abwasser-Filter-Gärten, bei denen Planung, Ausführung und Unterhalt von den Bewohnern selbst ausgeführt wurden. Inzwischen ist »more than shelters« in ihrer Heimatstadt Hamburg und zunehmend in anderen deutschen Städten aktiv. Wieweit auch hier neben den baulichen Aktivitäten organisatorische und partizipative Projekte umgesetzt werden können, wird die Zukunft zeigen. Selbstverständlich sind die vielfältigen Formen der Partizipation nicht nur in standardisierten Neubauten, Zelten und Containern möglich. Naheliegender erscheinen sie sogar in Bestandsbauten zu sein, die reparaturbedürftig sind, die Geschichte haben und eine Neuaneignung ermöglichen. Unabhängig ob als Leerstand, Nachverdichtung oder Konversion haben diese Bauten Defizite, die angesichts des Notstandes jedoch akzeptabel beziehungsweise reparabel erscheinen. Wie viele Wohnungen und als Wohnraum nutzbare Räume in Deutschland dafür zur Verfügung stehen, ist schwer zu belegen. Zudem schwanken die Leerstandsquoten stark in den Regionen und Städten. Mit unterschiedlichem Sanierungsaufwand werden die Bestandsgebäude ertüchtigt und in manchen Fällen nicht nur

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für Flüchtlingswohnungen hergerichtet. Ergänzende Nutzungen führen zu Hybrid­ typen, die Hemmschwellen zwischen Anwohnern und Bewohnern abbauen, den Bewohnern Beschäftigung und Integrationshilfen geben und den sozialen Frieden erleichtern. Eines der prominentesten hybriden Nutzungskonzepte in dieser Reihe, sicher auch weil es schon vor der aktuell brisanten Situation entstand, ist das Augsburger »Grandhotel Cosmopolis«, das 2011 durch eine Künstlerinitiative entstand und hier eingehender dokumentiert ist. Wie in Augsburg ist auch in Berlin ein ehemaliges Seniorenheim in das »Sharehaus Refugio« umgebaut worden. Die Idee für dieses Projekt brachten die Schriftsteller Sven Lager und Elke Naters aus Süd­afrika mit, die es 2015 gründeten; heute wird es von der Stadtmission mitbetrieben. Hier finden auf fünf Etagen neben Flüchtlingen auch Einheimische und die Gründer eine Unterkunft und teilen sich die Räume mit externen Nutzern, die dort unterschiedlichen Tätigkeiten nachgehen, wie Kochen, Meditation, Nachhilfe, Urban Gardening, Filmabende, Kunstauktionen und mehr. Keinen Wohnraum, aber einen vielseitig nutzbaren Aktionsraum betreibt das »Kitchen-Hub«, ein Projekt, das ab Januar 2015 in Kooperation von Flüchtlingen, Studierenden und Lehrenden der TU Berlin, den Organisationen »CoCoon Studio« und »Über den Tellerrand e.V.« geplant wurde und im November 2015 in einem ehemaligen Ladenlokal in Berlin-Schöneberg den Betrieb aufgenommen hat. Als Ort der Begegnung wird hier in Form eines gemeinnützigen, eingetragenen Vereins gemeinsam gekocht, gegessen, gearbeitet und die Freizeit gestaltet. Eine ähnliche Nutzung schuf der Verein »Tür-an-Tür« bereits 2012 in Augsburg, der im ehemaligen Straßenbahndepot ein Café mit Beratungszentrum für Flüchtlinge und Migranten eingerichtet hatte. Als sich nachfolgend in der Nähe das Bauvorhaben einer Sammelunterkunft ankündigte, wurden mehrere ergänzende Bauaktivitäten initiiert, bei denen neben Handwerkern vor allem ehrenamtliche Helfer, Anwohner und Asylsuchende mitwirkten und milieuübergreifend soziale Bindungen entstehen ließen. Auch in Wien wurde 2015 ein ehemaliges Seniorenheim aus den 1960er Jahren zum Hotel »Magdas« umgebaut, das überwiegend von Flüchtlingen betrieben wird und in dem neben Hotelgästen auch minderjährige Flüchtlinge wohnen. Vorfinanziert wurde die Sanierung über Crowdfunding und einen Kredit der ­Caritas, die auch Betreiber ist. Nach Bekanntgabe des Projekts gingen Sachspenden von Firmen ein und Privatpersonen kamen mit Pflanzen und Büchern für die Bibliothek sowie Möbeln, die in einem umfangreichen Upcycling überarbeitet und in das gestalterische Gesamtkonzept der Architekten »AllesWirdGut« eingearbeitet wurden. Während sich das Gebäude von außen fast nicht verändert hat, ist durch den Umbau und die aufgearbeiteten Möbel für die Gäste eine Atmosphäre entstanden, in dem sie mühelos die Eigentümlichkeit der Möbel und Einrichtungsgegenstände auf die Individualität der Menschen übertragen. Das Entwurfskonzept basiert somit auf der ästhetischen Idee einer Individualisierung und Singularisierung der Objekte, die auf ein umfassendes Erscheinungsbild abgestimmt werden.

EINE KLEINE TYPOLOGIE DER FLÜCHTLINGSBAUTEN ULRICH PANTLE

Grundlagen des Bauens – Das Prinzip der Konstruktion Der exemplarische Vergleich der beiden historischen Situationen zeigt trotz der Unterschiede einige Parallelen. Beide Zeiten sind vom Gedanken geleitet, durch ein standardisiertes Bauen, eine Vorfertigung der Bauteile beziehungsweise modulare Bauweise die beste Lösung für die Wohnungsproblematik gefunden zu haben. Für die Planer geht es anscheinend allein noch darum die Prozesse und Elemente zu optimieren. Dieses Verständnis durchzieht freilich die gesamte Moderne und ist nach wie vor durchdrungen von einer deutlichen Fortschritts- und Technik­ gläubigkeit. Wie bereits im Werkbundstreit von 1914 oder auch in den Nachkriegsdebatten steht der »Typisierung« eine »Individualisierung« entgegen, deren Konfrontation heute jedoch verwaschener in Erscheinung tritt. Diese inzwischen weniger als Antipoden auftretende Einordnung ist möglicherweise auch nicht mehr wichtig. Allenfalls lässt sich attestieren, dass die jeweils als Krise verstandene Situation eine eigene Dynamik der Technikgläubigkeit befördert und eine »Typisierung« noch gewichtiger werden lässt. Interessanter erscheint indes, welche Sprache die Flüchtlingsbauten sprechen, was sie repräsentieren. In Anlehnung an architekturhistorische Entwicklungslinien, die neben anderen Karl Bötticher, Gottfried Semper, August Schmarsow, Paul Klopfer, Karl Gruber und in jüngster Zeit Kenneth Frampton gelegt haben, lassen sich zwei fundamentale Prinzipien unterscheiden: die Stereotomie und die Tektonik. Vereinfacht lassen sich beide als archaische Grundprinzipien verstehen. Die Stereotomie als Subtraktion von Masse, durch die eine Erdhöhle entsteht, umgeben von der Massivität des Erdreichs und die Tektonik des Zeltes, additiv aus stabförmigen und flächigen Elementen. Für Flüchtlingsbauten mag das archaische Prinzip der Erdhöhle direkt nicht dominant sein, gänzlich ungebräuchlich ist es jedoch auch nicht. Als Anfang des 19. Jahrhunderts beispielsweise sogenannte »Separatisten«, eine Gruppierung des schwäbischen Pietismus, in Erwartung eines baldigen Weltendes dem ­Heiligen Land nahe sein wollten und nach mehrmonatigen Reisen schließlich in einer transkaukasischen Provinz die Siedlung Marienfeld gründeten, lebten sie zunächst unter armseligen Bedingungen in mit Zweigen abgedeckten Erdlöchern, bevor sie solide Häuser erbauten.31 Doch das Stereotomische meint nicht nur die Höhle, sondern ganz allgemein das Schneiden von Räumen in das Erdreich, »in welchem Masse und Volumen durch die Anhäufung schwerer Elemente zusammen geformt werden«32. Sie verweist zum einen auf eine Massivität des Bauens, zur Erdverbundenheit und Erdschwere der Mauern. Sie lässt sich daher als Bauweise verstehen, die die Massivität des Erdreiches über den Boden nach oben hinausführt. Die­ ­Massivität der Erdhöhle oder Grube wie beim grundlegenden Herstellen des Fundaments und ihre kräftige Erweiterung über der Erdoberfläche beziehen sich auf die starke Verbundenheit mit der Erde und auf ihren physischen Schutz durch Masse. 31

Annette Clauss, Dem Herrn in den Kaukasus entgegengereist, in: Stuttgarter Zeitung, 16. Januar 2016, S. 19. 32 Kenneth Frampton, Grundlagen der Architektur, Studien zur Kultur des Tektonischen, München 1993, S. 6.

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Zum anderen ist die Maßnahme des Stereotomischen ein architektonisches Ritual, mit dem wie von Gregotti beschrieben der Ort des Wohnens markiert und fixiert wird, die mobilen Teile der Architektur zu etwas Im-mobilem im Erdreich verankert werden. Noch heute wird mit dem symbolischen Spatenstich ein ausgewählter Ort gekennzeichnet. Mit diesem Akt beginnt das Bauen, mit ihm fängt die materielle Erstellung eines beständigen Raumes an, der zuvor eine veränderliche, imaginäre Idee war. In seiner zeitlichen Dimension ist die Erdverbundenheit des Stereotomischen eingebettet in eine religiös-kosmische Kulturtradition. Demnach ist der Mensch Teil eines unbestimmten, sehr lange anhaltenden materialisierten Universums. Er ist physisch aus minderen Teilen der Erde erschaffen und kehrt nach einem erschöpfenden Leben wieder zu ihm zurück: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück«.33 Mit dieser Idee, wonach auch das Material in seiner Erdgebundenheit dauerhaft ist, letztendlich aber sich wieder auflöst, gibt es nicht nur eine Engführung zwischen Mensch und Baumaterial. Es verbindet sich damit auch die Mahnung an die menschliche Vergänglichkeit, die nach einem möglichst langen Leben die körperlichen Reste wieder im Erdreich auflösen lässt. Insofern wird damit eine im wahrsten Sinne bodenständige, regressive Haltung zur Erdnähe gesucht. Der Mensch soll sich verwurzeln mit seinem Ursprung und seiner Zukunft. Die Stereotomie lässt sich damit auch als Modell der Zeitlosigkeit bzw. Entschleunigung verstehen, das gleichermaßen gegen Fortschrittsgläubigkeit und Beschleunigungstendenzen der Moderne steht. Dagegen wird mit der Tektonik nach Kenneth Frampton Bezug auf den Rahmen genommen, »in welchem leichte, lineare Komponenten zusammengefügt werden, um eine Raum-Matrix einzuschließen«34, im archaischen Sinne der lineare Stab und die flächige Hülle aus tierischen oder pflanzlichen Stoffen, im übertragenden Sinne stabförmige Stützen und Träger in Verbindung mit Materialien, mit denen Wand- und Deckenflächen herzustellen sind. Die Teile spezialisieren sich nach ihren spezifischen Aufgaben, insbesondere Hüllen und Tragkonstruktionen sind in Analogie zu »Haut und Skelett« voneinander getrennt. Das Zelt hat durch die Trennung der Raumbildung in stabförmige Trag­ struktur und leichte Hüllflächen den Vorteil eines leichten, materialsparenden Konstruktionssystems, des optimierten Materialeinsatzes, der Leichtigkeit und Umsetzbarkeit. Das Tektonische bot sich in der Moderne nach dem Wirtschaft­lichkeitsprinzip dazu an, die Bauteile weiter aufzulösen, mutierte zu industriell vorgefertigten und standardisierten Bauteilen. Die leichtere und leistungsfähigere Tektonik hatte demnach deutliche Vorteile gegenüber dem Schweren des Stereotomischen und erreichte bis heute eine eindeutige Vorherrschaft. Auch die Tektonik verweist auf eine symbolische Ebene: das Motiv des Zeltes, des Rahmens und seiner Affinität zur Auflösung, zur »Immaterialität des Him33 34

Genesis, 3:19. Kenneth Frampton, Grundlagen der Architektur. Studien zur Kultur des Tektonischen, München 1993, S. 6.

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mels«35. Eine Immaterialität, die auch in ihrer zeitlichen Dimension zum Ephemeren tendiert und Antipode zur gegen Unendlichkeit neigenden Beständigkeit des Massiven ist. In der Tektonik wird die Zeitlichkeit als Potential der Beweglichkeit sichtbar gemacht. Durch die in der Moderne konventionalisierte »konstruktive Ehrlichkeit«, wonach die Fügung der Teile »ehrlich« gezeigt werden soll, wird auch das Prozesshafte der Montage dargestellt und eine Demontage perspektivisch angezeigt. Je stärker die Fügung der Teile zum Gestaltungsmotiv wird, umso deut­ licher wird auch das Motiv der schnellen Veränderbarkeit in der Montage und Demontage. Eine Beschleunigung des Bauprozesses durch genormte Bauteile ist damit auch eine Beschleunigung des möglichen Verschwindens. Eine durch Standardisierung angestrebte vermeintliche Entzeitlichung des Bauens und des Kontextes ist ein Simulationsversuch des Ephemeren. Dass Flüchtlingsbauten eine Dominanz zu tektonischen Teilmotiven wie der Vorfertigung, der Standardisierung und des Mobilen zeigen, die in der Moderne zu einer hohen Perfektion ausgereizt wurden, ist daher nicht zufällig. Um die Identität der Flüchtlinge als Menschen des Transitorischen zu stärken, betont die Architektur die Standortunabhängigkeit des Tektonischen. Die Vorfertigung von Bauteilen ist neben dem wirtschaftlichen Argument ein symbolischer Akt des adäquaten Wohnraums, der eigentlich ebenso flüchtig sein sollte. Das schnelle Aufbauen meint auch das schnelle Verschwinden. Grundlagen des Bauens – Planung, Produktion und Partizipation Die aktuellen Debatten um die Unterbringung von Flüchtlingen zeigen Positionen auf, die auf die grundlegende Planungsfrage hinweisen, durch wen eigentlich gebauter Raum entsteht. Die ausdifferenzierte Gesellschaft hat Spezialisierungen hervorgebracht, die den Architekten durch zahlreiche Experten ergänzt oder gar ersetzt haben. Hat sich der Architekt in der heroischen Moderne noch mit avantgardistischem Pathos generiert und die Distanz zu den Laien vergrößert, weichen jüngere Tendenzen zur Partizipation dieses verkrustete Verhältnis wieder auf. Aber noch radikaler ist die Frage, ob weitgehend ohne Planer agiert werden kann. Wie es ist, zurückgeworfen zu werden auf vermeintlich niedere Entwicklungsstufen, keine Fachkompetenz bei der Planung zu haben, mit wenigen zur Verfügung stehenden Materialien oder Mitteln zu arbeiten, wie es die Situation um 1945 vorgab. Die kompensatorischen Wirkungen werden in der Modernekritik stets positiv angeführt: höhere Anforderung an Improvisation, Förderung von Kreativität, Betonung des Prozesshaften, höhere Identifizierung mit dem Objekt usw. Vermeintlich improvisierte Nutzungen von Turnhallen oder Lagerhallen sind zweifellos keine kreativen Aktionen, wenn in die Innenräume Fertigtrennwände und Feldbetten in orthogonalem Raster gestellt werden und die Räumlichkeiten nur wegen einer vorhandenen Infrastruktur ausgewählt wurden. Bereits zur Findung von Raumreserven bedarf es Phantasie, mit der zudem die übermächtigen Hürden der Bürokratie überwunden werden müssen. Doch das scheint das Problem zu sein. Die Problem35

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bewältigung soll nicht durch Vielfalt und Alternativen, sondern durch eine Steigerung vorhandener Strukturen im System erfolgen. Eine innovativere Technik, eine größere Wirtschaftlichkeit sowie eine effektivere Planung und Verwaltung sollen die Probleme lösen. Dies ist ein typisch modernistischer Pro­­ blem­ bewältigungsansatz. In der Nachkriegszeit war die Verwendung von Trümmer­ material indes nicht nur eine ökonomische Angelegenheit beziehungsweise eine Frage der zur Verfügung stehenden Materialien. Das Trümmermaterial hatte vor allem einen ­hohen sym­bolischen Gehalt, das als »Baumaterial mit Geschichte« in Bezug­ nahme auf die Kriegszerstörung stand. Der Trümmerstein war ein scheinbar belangloses Ding, das zugleich zum multidimensionalen Symbol der Nachkriegszeit wurde. Er hatte ähnlich wie die Menschen eine Geschichte der Erschaffung, des Wirkens und der Zerstörung erlebt, fand mit dem Maß der Hand seine Entsprechung in den menschlichen Proportionen, war materiell aber banal, distanzierte sich in seiner Hervorbringung aus den Trümmern und seiner Wiederverwertung vom kapitalistischen Warencharakter und war omnipräsenter Bestandteil der Lebensumwelt, zeigte seine Individualität in fein differenzierter Vielfalt, wurde konkret als existentielles Ding gebraucht und insbesondere im Gebrauch auch berührt. Zudem brachte der Stein neben seiner symbolischen Aufladung als Trümmerrelikt die Schwere und Erdverbundenheit als physische und symbolische Eigenschaft mit. Die von Schwippert angeführte Bedeutung der Berührung durch die Hand wird am Mythos der »Trümmerfrau« deutlich, da sie nicht nur zwangsweise einer Tätigkeit nachging, sondern ihre Arbeit eher einem Ritus des Räumens entsprach, indem sie die Steine dem Wirrwarr der Trümmerhaufen entnahm, um sie wieder »sortiert« in die eigene Geschichte einzufügen. Ihre Arbeit stand für die Gründung des Menschen durch den Gebrauch alltäglicher Dinge. Sie war dabei Planerin und Ausführende in einer Person, insofern Generalistin mit geringen Mitteln aber hoher Verantwortung. Diese mythische Aufladung eines Baumaterials haben wir heute nicht, eine Teilhabe von Bewohnern am Bauprozess wäre aber durchaus erreichbar und damit eine Partizipation, die einen wesentlichen Beitrag zur Identifikation beisteuern könnte. Selbst die historische Referenz der Materialwiederverwertung ist durch das Leitbild der Nachhaltigkeit längst schon wieder aktuell. Sie ist zentraler Bestandteil in elitäreren Bauten wie dem Kunstmuseum Ravensburg, bei dem die Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei gleichsam Klinker aus Abbruchbauten wieder­

Abb. 13 Max Holzner, Wir bauen auf. Neues Heim aus eigener Kraft. Band 1: Selbsthilfe innerhalb des Hauses, Reparaturen und andere Arbeiten, München 1946

Abb. 14 Max Holzner, Wir bauen auf. Neues Heim aus eigener Kraft. Band 2: Wiederaufbau des zerstörten Hauses, München 1946

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verwendet haben, wie auch in den Recycling- und Nachhaltigkeits-Debatten, wie sie beispielsweise in »Reduce. Reuse. Recycle«, der titelgebenden Ausstellung im Deutschen Pavillon bei der Architekturbiennale 2012 in Venedig thematisiert wurden. Daneben ist die Wiederverwendung von Materialien unter Handeinsatz sowohl um 1945 wie auch heute jedoch weitaus mehr. Mit ihr zeigt sich die Energie eines Lebenswillens, mit dem Betroffene versuchen ihre Traumata zu überwinden und Material und Menschen in ein neues Leben, eine neue Verwendung zu überführen. Das manuelle Arbeiten mit geringem Werkzeugeinsatz entspricht unabhängig vom gebrauchten oder neuen Baumaterial einer vorindustriellen Situation, einem Arbeiten unter entindustrialisierten Bedingungen. Auch dies folgt dem Topos der Modernekritik, der den Problemen der Moderne eine naturnahe, direkte Lebenswelt entgegenhält. Die Symbolik ist hier gleichermaßen eine Individualisierung der Bauteile durch die Individualität des Bauenden. Die Probleme der Moderne werden durch vormoderne Techniken gelindert. Die aktuelle Debatte um Flüchtlingsbauten offenbart somit drei zentrale Kritikpunkte an der Moderne: Die unzureichende Berücksichtigung des Ortes und seiner präarchitektonischen Wirkungsfähigkeiten; die Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Bauens, die ein ehemals tektonisches Denken in ein Bauen unter fast ausschließlich wirtschaftlichen Bedingungen überführt haben, wodurch die zeichenhafte Wirkung wie auch weitere Dimensionen der Architektur nicht mehr ausreichend beachtet werden sowie die Auswirkungen der Ausdifferenzierung, die die Rolle aller Beteiligten, insbesondere der Planer und Nutzer in Frage stellt, womit indirekt auch die Legitimationsfrage an die Architektur gestellt wird. Dies lässt sich allesamt gleichermaßen als Krise wie auch als Chance verstehen – wie die Situation insgesamt.

TILMAN ­H ARLANDER IM INTERVIEW MIT STEFANIE ­E BERDING UND ULRICH PANTLE

Tilman ­Harlander im Interview mit

Bauen für Flüchtlinge als Teil des sozialen Wohnungsbaus Eberding / Pantle: Wenn wir uns über Wohnraum für Flüchtlinge unterhalten, sollten wir vielleicht zunächst unterscheiden zwischen der Erstaufnahmesituation und der Anschluss­unterbringung. Harlander: Natürlich. Auf den gewaltigen Flüchtlingsansturm im letzten Jahr haben die Kommunen für die Erst­unterbringung der ihnen zugewiesenen Asylsuchenden mit Provisorien und Notunterkünften aller Art geantwortet: mit temporär errichteten sog. »Systembauten« wie anfänglich in Stuttgart, mit Containern, aufblas­baren Traglufthallen, eilig umgebauten Gewerberäumen, Großzelten und schließlich auch mit der Unterbringung in Flugzeughangars (Berlin), Sporthallen und Billighotels. Je drangvoll enger, aber auch je heterogener derartige Unterkünfte mit unterschiedlichen Ethnien und Religionsgruppen belegt werden, desto mehr Konfliktpotential droht sich dann sowohl innerhalb dieser Einrichtungen als auch zu den umgebenden Anwohnern aufzubauen. Mit der Anerkennung ihres Asylgesuchs, die nach Schätzungen etwa 40 bis 50 Prozent der Antragsteller erreichen, haben die Flüchtlinge dann das Recht, die Notunterkünfte zu verlassen und im Rahmen der Anschlussunterbringung eine Normal-Wohnung zu beziehen. Rechtlich sind sie dann den anderen Antragstellern auf Zuweisung einer Sozialwohnung gleichgestellt. Hier rollen im laufenden Jahr 2016 enorme Herausforderungen auf die Kommunen zu. Und die Konkurrenz zwischen den anerkannten Asylberechtigten und den vielen deutschen Wohnungssuchenden, die in den Warteschlangen vor den Wohnungsämtern ebenfalls auf eine Sozialwohnung warten, könnte vor allem in den Ballungsräumen und Wachstumsregionen eine gefährliche Sprengkraft entfalten.

Stefanie ­Eberding und Ulrich Pantle

Wir haben bei uns inzwischen sehr ausdifferenzierte Lebens- und Wohnformen, gleichzeitig scheint das zentrale Thema der Moderne, das »Wohnen für das Existenzminimum«, heute aktueller denn je. Ist es überhaupt eine neue Bauaufgabe, für Flüchtlinge zu bauen oder lebt hier die altbekannte historische »Wohnungsfrage« wieder auf? Die die gesamte Wohnungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg leitende Hoffnung, dass perspektivisch allein über den Markt sowie eine ergänzende Subjektförderung (Wohngeld) die Wohnungsnachfrage randständiger und einkommensschwächerer Schichten gedeckt werden könnte, war eine Illusion. Der enorme zusätzliche Sozialwohnraumbedarf für anerkannte Flüchtlinge macht die im Bereich des sogenannten »bezahlbaren Wohnraums« bestehenden gravierenden Defizite nun mit einem Schlag überdeutlich. Die Antwort des 20. Jahrhunderts auf die historische »Wohnungsfrage« bzw. auf die »soziale Blindheit« des Wohnungsmarktes war

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in Deutschland seit den 1920er Jahren der soziale Wohnungsbau. Doch anders als etwa in Österreich verzichtete man in der Bunderepublik auf eine Dauerbindung des geförderten Sozialwohnraums und konzipierte die Objektförderung im sozialen Wohnungsbau nur als temporär befristete Staatsintervention: Mit der Rückzahlung der öffentlichen Darlehen gehen die zuvor staatlich geförderten Sozialwohnungen hierzulande bekanntlich in den freien Markt über und es entfallen die Belegungs- und Mietpreisbindungen. Von den in den 1980er Jahren noch bestehenden ca. vier Mio. Sozialmietwohnungen gibt es heute gerade noch etwa 1,3 Mio. – etwa 60.000 bis 90.000 Sozialwohnungen fallen jährlich aus der Bindung, neue Sozialwohnungen wurden kaum mehr gebaut. Wiederkehrende Problemlagen wie die zyklisch auftretenden Wohnungsmangel- und Wohnungsnotsituationen, singuläre Ereignisse wie die Eingliederung der Russlanddeutschen oder die Wanderungsbewegungen im Gefolge der deutschen Einheit, Flüchtlingsbewegungen wie infolge des Balkankriegs oder in der Gegenwart und last but not least sinkende Mietzahlungsfähigkeiten im Kontext einer auch hierzulande wachsenden Kluft von Arm und Reich unterstreichen allesamt die Notwendigkeit einer anhaltenden aktiven staatlichen Intervention im Wohnungsmarkt. Der Städtetag hielt schon Anfang der 1990er Jahre eine Marge von etwa 10 Prozent des jeweiligen kommunalen Wohnungsbestandes an Sozialwohnungen für unerlässlich, um auch die Gruppen mit menschenwürdigem Wohnraum zu versorgen, die sich aus eigener Kraft am Wohnungsmarkt nicht adäquat versorgen können. Die meisten Städte sind angesichts des unaufhaltsamen »Abschmelzens« der Sozialwohnungsbestände von einer solchen Marge inzwischen weit entfernt – und das, obwohl sich der Problemdruck gewaltig erhöht hat! Historische Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus in Deutschland Können Sie die historische Entwicklung des sozialen Wohnungsbaus in Deutschland skizzieren, der ja auch immer wieder für die Behausung von Flüchtlingen und Migranten eine Schlüsselbedeutung gewann? Begonnen hat in der Moderne alles mit der Forderung nach menschenwürdigem Wohnraum. Was waren die entscheidenden Schritte vom Entstehen des Sozialwohnungsbaus bis heute? Seit dem Mittelalter waren die Städte in Mitteleuropa auch immer »arrival cities« (Doug Saunders) für Migranten und Flüchtlinge (Religionsflüchtlinge, Flüchtlinge aus den verarmten ländlichen Räumen etc.). Während des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg war die Befriedigung des im Kontext der Industrialisierung und stürmischen Verstädterung sprunghaft angewachsenen Wohnungsbedarfs fast gänzlich dem privaten Markt überlassen. Die Folge waren in den spekulativ errichteten Mietskasernen der Großstädte katastrophale und gesundheitsgefährdende Wohnverhältnisse für die unteren Schichten. Frühe, noch unverbundene Reformbestrebungen wurden in der Gründung erster gemeinnütziger Baugesellschaften und Selbsthilfe-Genossenschaften, im paternalistischen Wohnungsbau wohlhabender philanthropischer Bürger, im Werkswohnungsbau einzelner Großindustrieller und in der Wohnungsfürsorge des Staates für seine Beamten und Offiziere sichtbar.

TILMAN ­H ARLANDER IM INTERVIEW MIT STEFANIE ­E BERDING UND ULRICH PANTLE

Ein umfassender sozialstaatlicher wohnungspolitischer Interventionismus begann sich erst nach dem Ersten Weltkrieg herauszubilden. Angesichts der Nachkriegswohnungsnot, des fortbestehenden Mietskasernenelends und des Flüchtlings­ zustroms aus den abgetretenen Gebieten gewannen nun die Neuausrichtung der Wohnungspolitik und der großangelegte dezentralisierte Neubau von gesunden und mietpreisgünstigen Kleinwohnungen politische Schlüsselbedeutung mit Verfassungsrang (Art. 155 der Weimarer Verfassung). Mit den mit Hilfe einer eigenen Steuer (»Hauszinssteuer«) ab 1924 aufgelegten staatlichen und kommunalen Wohnungsbauprogrammen schlug in Deutschland die Geburtsstunde des sozialen Wohnungsbaus, eine Entwicklung, die auf Seiten der Architektenschaft durch intensive, wenn auch in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeitspanne nur begrenzt erfolgreiche Bemühungen um seine Verbilligung durch Rationalisierung, Typisierung und Industrialisierung flankiert wurden. In der bereits 1929 / 1930 einsetzenden Weltwirtschaftskrise kam dann für die Bedürftigsten, die in der Krise ›freigesetzten‹ Millionen von Arbeitslosen eine andere, auch in den Notzeiten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder praktizierte Variante sozialer Wohnungspolitik zum Zuge: die staatlich organisierte und geförderte Gruppenselbsthilfe zum Bau von minimierten Kleinsiedlerhäusern, die durch eine kleine Landzulage für einen Nutzgarten und Kleintierhaltung ergänzt wurde. Die Aktivierung vorhandener Selbsthilfepotentiale – wenn auch gewiss nicht in der rigiden Form der historischen Vorläufer – wird in der gegenwärtigen Diskussion um Wohnungsversorgung und Integration der Flüchtlinge noch viel zu wenig in Betracht gezogen. In der NS-Zeit wurden die sozialen Zielsetzungen staatlicher Wohnungspolitik auf zuvor ungeahnte Weise pervertiert: Staatliche Kleinsiedlungen, der neue Förderungstyp sogenannter »Volkswohnungen« und der für die Zeit nach dem erhofften »Siegfrieden« noch während des Krieges bis ins Detail geplante industrialisierte soziale Mietgeschosswohnungsbau sollte allein den Mitgliedern der rassenideologisch und politisch begründeten »Volksgemeinschaft« zugute kommen. Alle anderen wurden als »rassisch minderwertig«, »artfremd«, »asozial« oder als politische Gegner mitleidlos ausgegrenzt, ausgeschlossen und eliminiert. Die Situation nach 1945 in Deutschland mit ihren enormen Flüchtlingszahlen wird aktuell immer wieder angeführt, worin sehen Sie Parallelen und Unterschiede? Die Integration derartig großer Zahlen von Flüchtlingen muss jede Gesellschaft auf das äußerste fordern. Die Ausgangslagen sind gleichwohl denkbar unterschiedlich: Hier und heute eine starke und dynamische Wirtschaftsnation mit konsolidierten demokratischen Strukturen, damals ein zerstörtes Land mit einer traumatisierten Bevölkerung, in das nun zusätzlich noch ca. 12 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene drängten. Bestandteil der Migrationsströme waren aber auch, dies wird häufig vergessen, Hunderttausende von »displaced persons«, ca. sechs Millionen Ausgebombte und Evakuierte, die vom Land in die Städte zurückströmten sowie über drei Millionen aus der SBZ bzw. DDR bis zum Mauerbau 1961 in die Westzonen bzw. Bundesrepublik Abgewanderte.

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Für die Unterbringung dieses Millionenheeres an Bedürftigen reichten Lager, Notunterkünfte oder Behelfsheime bei weitem nicht aus. Die Deutschen mussten auf der Grundlage des alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 18 vom März 1946 zwangsweise zusammenrücken. Mehr oder minder konflikthafte Einquartierungen in »unterbelegte Wohnungen« (in der amerikanischen Zone lag die Zielzahl etwa bei zwei Personen pro Wohnraum) wurden über Jahre hinweg nahezu flächendeckend praktiziert, so dass die im Rückblick nicht selten über Gebühr verklärte »Solidarität der Not« dieser Jahre zum festen Bestandteil der Geschichte der meisten ­deutschen Familien wurde. In sozialpolitischer Hinsicht lag die herausragende Aufgabe der Nachkriegszeit in der »Eingliederung« der Flüchtlinge und Vertriebenen. Anfänglich schien diese Herkulesaufgabe kaum zu bewältigen und es überwogen bis Anfang der 1950er Jahre pessimistische Prognosen, nach denen die »Entwurzelten« ein neues Proletariat, eine Art »Fünften Stand« noch unterhalb des klassischen Industrieproletariats bilden würden. Tatsächlich erfolgte deren Eingliederung im Zuge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs dann – in beiden deutschen Staaten – aber doch relativ rasch, ein Vorgang, der in der zeitgeschichtlichen Forschung zu Recht als eines »der größten Nachkriegswunder« bezeichnet worden ist. Hauptfaktoren dieses ‚Wunders’ waren auf westlicher Seite, was den Arbeitsmarkt betrifft, die bereits Mitte der 1950er Jahre erreichte Vollbeschäftigung und auf dem Wohnungsmarkt die soziale Wohnungsbaupolitik. Deren wichtigstes Instrument wurde nach Gründung der Bundesrepublik und der Verabschiedung des Ersten Wohnungsbaugesetzes 1950 der staatlich geförderte soziale Wohnungsbau in seinen verschiedenen Ausformungen. Mit seinem raschen quantitativen Ausbau und seiner Zugänglichkeit für »breite Schichten des Volkes« (§ 1 I. WobauG 1950) wurde er zu einem Schlüsselelement nicht nur der Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, sondern des gesamten Wiederaufbaus. Seine Bedeutung für den sozialen Frieden und die sozialstaatlich flankierte politische Stabilisierung im Nachkriegsdeutschland kann kaum überschätzt werden. Es wird deutlich, dass die gegenwärtige Aufgabe der Integration der Flüchtlinge zugleich leichter und schwerer ist als nach 1945. Leichter, weil heute gänzlich andere Ressourcen vorhanden sind und weil die Zahl der Flüchtlinge zumindest bislang noch sehr viel geringer ist. Schwerer, weil die Integration der Vertriebenen nach 1945 nur auf vergleichsweise geringe sprachliche, kulturelle und religiöse Barrieren traf. Vielleicht ebenso wichtig: Damals trafen die traumatisierten und entwurzelten Ankommenden auf eine Aufnahmegesellschaft mit ihren eigenen »Entwurzelungserfahrungen« nach Krieg, Gefangenschaft, Evakuierung, Kinderlandverschickung, Gefängnis, KZ etc. Aktuelle Situation und Ausblick Wie sieht die aktuelle Situation hinsichtlich der Schaffung von geeignetem Wohnraum für Flüchtlinge innerhalb des Sozialwohnungsbaus in Deutschland aus? Was den Wohnraum für anerkannte Flüchtlinge betrifft, die dauerhaft in Deutschland bleiben werden, so geht es, darüber besteht inzwischen weitgehend Einigkeit, nicht um die Entwicklung von Sonderwohnformen für Flüchtlinge, sondern um die möglichst rasche Schaffung von menschenwürdigem und zugleich kostengüns-

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tigem »Wohnraum für alle«. Auch dort, wo zunächst aufgrund der Notsituation dichter belegter Wohnraum geschaffen wird, sollte er Qualitäten aufweisen, die auch längerfristig seine Weiternutzung als Sozialwohnraum ermöglichen. Dies ist auch ökonomisch vernünftig: Schlichtwohnungsbau oder temporäre Bauten, die nach kurzer Nutzungsdauer wieder abgerissen oder aufwendig nachgerüstet werden müssen, sind auf lange Sicht gesehen, die teureren Lösungen. Und: Nur, wenn bestimmte Qualitätsstandards eingehalten werden, kann die Bildung neuer (Flüchtlings-) Ghettos vermieden werden, eine Gefahr, die sich in den Städten, die unter dem Druck der Verhältnisse zu ›metern‹ begonnen haben, bereits abzuzeichnen beginnt. Die Forderung nach mehr, nach viel mehr »bezahlbarem Wohnraum« und einer raschen Steigerung der Fertigstellungszahlen im Sozialmietwohnungsbau ist inzwischen fester Bestandteil aller einschlägigen Debatten, Medienberichte, Positionspapiere und der Agenden der landauf landab entstandenen »Bündnisse für das Wohnen«. Die in den vergangenen Jahren weit abgesackten ­Fertigstellungen im Wohnungsbau müssten, so etwa der GdW als größter Branchendachverband, wieder auf mindestens 400.000 Wohnungen pro Jahr angehoben werden, davon etwa 80.000 Sozialmietwohnungen und weitere 60.000 bezahlbare Wohnungen in Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten. Doch das Umsteuern fällt schwer. Nach jahrelanger »Deregulierung« und »Rückzug aus der Wohnungspolitik« – etwa im Rahmen der Föderalismusreform 2006, mit der die Kompetenz für die soziale Wohnraumförderung allein auf die Länder überging – gelingt der Wiedereinstieg auf allen staatlichen Ebenen nur mühsam und unkoordiniert. Nach Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit 1990 fehlen nun zudem gerade die Träger, die im Wiederaufbau den sozialen Wohnungsbau am aktivsten betrieben. Die kommunalen Wohnungsgesellschaften allein sind jedenfalls mit dieser Aufgabe hoffnungslos überfordert und von den zumeist mit der Verwaltung und Modernisierung ihrer Bestände beschäftigten Genossenschaften beteiligen sich bislang noch wenige an der Aufgabe des Neubaus von »bezahlbarem Wohnraum«. Kein Wunder, dass die sogenannten »Förderquoten«, also die Verpflichtung für private Investoren, immer dann, wenn neues Baurecht geschaffen wird, in einem gewissen prozentualen Umfang (meist zwischen 20 und 30 Prozent) auch geförderten Wohnraum mitzuentwickeln, für viele Kommunen zum wichtigsten wohnungspolitischen Instrument geworden sind. Die Rahmenbedingungen für kostengünstiges Neubauen (neben dem Neubau wären selbstverständlich auch die Potentiale für Umbauten von Bestandsgebäuden und die Aktivierung von leerstehendem Wohnraum zu betrachten) sind aber auch noch aus einer Vielzahl weiterer Gründe gegenwärtig denkbar ungünstig: 1 der Nachfragedruck ist enorm (nicht allein durch Zuwanderer und Flüchtlinge, sondern auch durch die Flucht ins »Betongold«, durch internationale Anleger und nicht zuletzt auch durch die neue Attraktivität des Stadtwohnens) 2 der Kostendruck durch ständig weiter steigende Vorgaben und Standards ist kaum mehr zu kompensieren 3 traditionelle Instrumente in der Objektförderung wie zinsgünstige Darlehen und Zuschüsse sind aufgrund der aktuellen Niedrigst-Zinsphase kaum mehr attraktiv und 4 schließlich, eine der e­ inschneidendsten

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Restriktionen, trifft die neue Nachfrage auf einen gravierenden Mangel an (bezahlbaren) Grundstücken. Auf jede dieser Restriktionen reagiert man inzwischen mit einer Vielzahl von Vorschlägen und zum Teil bereits eingeleiteten Maßnahmen, die von einer erheblichen Aufstockung der Bundesmittel, neuen Sonderabschreibungen zur Förderung des Mietwohnungsbaus, der Stärkung serieller und modularer Bauweisen und Ansätzen zur Verbilligung und Konzeptvergabe öffentlicher Grundstücke bis hin zu einer Fülle konkreter Kosteneinsparungen, wie sie etwa durch die Baukostensenkungskommission des BMUB entwickelt wurden (zu den Standards der ENEV, der Außenanlagen, zur Barrierefreiheit, zu Stellplätzen etc.), reichen. Die wirtschaftlichen Probleme sind ein wichtiger Punkt, fast noch entscheidender scheint der symbolische Gehalt der Flüchtlingsbauten zu sein. Handelt es sich doch um eine Gratwanderung, für diese Gruppe menschenwürdigen Wohnraum anzubieten ohne dadurch bei unterprivilegierten Deutschen Sozialneid zu wecken. Die hier potentiell entstehenden Konkurrenzsituationen sind zweifellos eines der größten Probleme. In Stuttgart beispielsweise, einer der am schnellsten wachsenden Wachstumsregionen, ist viel »Dampf im Kessel«, da Anfang 2016 auch bereits ohne den Anteil der Flüchtlinge beim Wohnungsamt ca. 4.000 Vormerkungen für Zuweisungen von Sozialwohnungen bestehen. Bei gegenwärtig ca. 8.000 Flüchtlingen, die Stuttgart im Laufe des Jahres 2015 aufgenommen hat und einer Bleibequote von mind. 40 Prozent wird diese Warteschlange voraussichtlich auf 6 bis 8.000 Antragsteller wachsen. Die Entstehung von Konkurrenzkämpfen und Sozialneid scheint auf diesem Feld schier unvermeidlich. Jetzt rächt sich die jahrelange Vernachlässigung dieses Wohnungsmarktsegments bitter. Wie kann das Wohnen zu einer Integration der Flüchtlinge beitragen? Welche Bedeutung hat dabei der Raum im umfassenden Sinn? Integration ist ein komplexer Prozess, der sich auch im günstigen Fall über ein bis zwei Generationen hinzieht und ganz verschiedene Phasen durchläuft. Am Anfang steht sicherlich die Sorge um das »Dach über dem Kopf« und die Sicherung des elementaren Lebensunterhalts. Aber dann geht es um die Entwicklung eines »Dreiklangs« aus Integration in den Arbeitsmarkt, aus Bildungsangeboten, kultureller Teilhabe und Sprachförderung und einem Wohnen, das nicht nur adäquaten Wohnraum im engeren Sinn, sondern auch die Integration in das umgebende Quartier und den Stadtraum einschließt. Im Idealfall greifen diese Prozesse parallel ineinander und unterstützen sich gegenseitig. Langandauernde bürokratische Verfahren und erzwungene Untätigkeit sind demgegenüber in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Integration gelingt durch tätige Teilhabe der Betroffenen, nicht durch deren erzwungene Passivierung. Dies gilt teilweise auch für das Wohnen. Wenn es gelingen würde, die hier bei den Flüchtlingen vorhandenen Potentiale an skills und Selbsthilfebereitschaft zu aktivieren, könnte dies ihre Zufriedenheit und Identifikation steigern, den Sozialneid der Deutschen verringern und Kosten einsparen. In diesem Sinn finde ich unter den vielen überall aus dem Boden sprießenden Vorschlägen zur Bewältigung der Krise diejenigen am spannendsten, die mit

TILMAN ­H ARLANDER IM INTERVIEW MIT STEFANIE ­E BERDING UND ULRICH PANTLE

Hybriden experimentieren, die zugleich Wohnraum, aber auch Arbeitsgelegenheiten, zum Teil schon beim Bau (oder Umbau) der jeweiligen Gebäude, schaffen. Im Idealfall, wie etwa in dem Augsburger »Grandhotel Cosmopolis«, werden mit dem jeweiligen Projekt auch zugleich Begegnung und Kommunikation unterschied­ licher sozialer Gruppen ermöglicht. Kurzum, die staatlichen Versorgungsgarantien und -programme sollten mit einer intelligent konzipierten Hilfe zur Selbsthilfe verschränkt werden, mit der das Ankommen bereits ein Teil der Eingliederung und Integration wird. Die Wohnungsbaugesellschaften, Verwaltung und Politik scheinen aber nicht gerade experimentierfreudig zu sein. Ist das nicht gerade der zentrale Konflikt, den wir haben, dass die dringliche schnelle Reaktion, die Notwendigkeit von Improvisation und Experiment auf einen trägen, steifen Bürokratismus und Konservatismus treffen? Ja, da haben Sie recht. Alles dauert bei uns inzwischen viel, viel zu lange – die Asylverfahren, die Baugenehmigungen, die Grundstücksentwicklung, das Bauen selbst. Überall stoßen wir auf zuweilen geradezu grotesk bürokratisierte Verfahren, die mit der nun allenthalben geforderten Flexibilisierung und Beschleunigung in denkbar großem Gegensatz stehen. Dieser strukturelle Konservatismus und diese Unbeweglichkeit prägen nicht nur weite Teile der staatlichen Verwaltungen, sondern auch der Wohnungswirtschaft. Positive Stimuli können hier von neuen Bauträgerformen wie neuen Genossenschaften (Beispiel WAGNIS in München) oder auch den Baugemeinschaften (Baugruppen) ausgehen, die in der Regel in sozialer und ökologischer Hinsicht viel experimentierfreudiger sind und von mehr und mehr Kommunen (wie etwa in Tübingen) als innovative Partner für eine soziale Quartiers- und Stadtentwicklung geschätzt werden. Trotz allem geht es Deutschland wirtschaftlich eigentlich gut, auch wenn die Anzahl der ankommenden Flüchtlinge trotz aller Anstrengungen noch kaum gemindert scheint. Wie sehen Sie die Zukunft der Kommunen? Die Herausforderungen im Jahr 2016 werden groß sein. Unter den Baubürgermeistern und Stadtoberen, die in vielen Kommunen alle noch vorhandenen Unterbringungsspielräume ausgeschöpft und die Grenzen der Belastbarkeit (auch des ehrenamtlichen Engagements!) erreicht sehen, geht die Angst um, dass schwer beherrschbare Situationen entstehen könnten und dass auch innerhalb der ­deutschen Bevölkerung Radikalisierungen und politische Polarisierungen zunehmen könnten. Es kommt jetzt darauf an, die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Was den Baubereich und das Wohnen betrifft, liegen inzwischen, dies dokumentieren die Fachzeitschriften, Ausstellungen und Ideenwerkstätten, wie etwa die Münchner Initiative »Wohnraum für alle« (Februar 2016) eindrucksvoll, eine Fülle innovativer Vorschläge und Konzepte vor. Auf was muss bezüglich der städtebaulichen Situation von Flüchtlingswohnungen geachtet werden? Wo sollen Flüchtlinge unterkommen? Ich halte es für unerlässlich, an den Bemühungen um eine dezentrale Unterbringung und Wohnungsversorgung der Flüchtlinge festzuhalten. Ihre Abschottung und Ausgrenzung in negativ stigmatisierten Flüchtlingsghettos muss unter allen

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Umständen vermieden werden. Die französischen Banlieues, aber auch die Aufstände und Riots in den schwedischen oder englischen Sozialwohnungsghettos sind Warnung genug. In Deutschland hat das mit Blick auf die »überforderten Nachbarschaften« seit 1999 aufgelegte Bund-Länder-Programm »Soziale Stadt« mit seiner glücklichen Kombination von investiven baulichen und nicht-investiven (Arbeitsmarktförderung, Bildungsmaßnahmen, Sprachförderung etc.) Maßnahmen sehr positiv gewirkt und wesentlich dazu beigetragen, ein allzu hartes »Auseinanderdriften der Stadtgesellschaften« zu verhindern. Wir sollten dieses Kapital nicht verspielen!

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Fluchtraum ­

Amorphe Beschaffenheit Als Flüchtlingsräume begreife ich architektonisch gefasste Räume in Aufnahmestaaten, die zur Erfassung, Untersuchung, Beherbergung und even­tuellen Weiterleitung von Flüchtlingen / Asylbewerbern zur Verfügung gestellt werden.1 Auch dort, wo Flüchtlingsräume uns als konkrete Architekturen entgegentreten, lassen sie sich primär mit raumtheoretischen und -soziologischen Ansätzen begreifen.2 Sie rein morphologisch, nur im Hinblick auf ihre konkret sichtbare Gestalt, hin zu befragen, ist nur begrenzt ergiebig: Dem entgegen steht die Vielgestaltigkeit von zumeist umgenutzten Architekturen, die in ihren Ursprungsprogrammen gar nicht für die Belegung mit Flüchtlingen geplant worden sind. Ihre Variationsbreite erschwert eine unvermittelte Ausdeutung der formalen Erscheinung und auch eine Typologisierung des Bestandes.3 Institutionell besteht das Feld von Flüchtlingsräumen in Deutschland aus derzeit stark überlasteten Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder mitsamt provisorischen Notunterkünften und den nachfolgenden Flüchtlingsunterkünften in den Kommunen. Aspekt und Beschaffenheit all dieser Bauten sind extrem divers. Genutzt werden etwa schon lange, etwa ab der Nachkriegszeit als DP-Lager etablierte und immer weiter und fester ausgebaute Aufnahmeeinrichtungen mit lager- und kasernenartigem Charakter. Hinzu kommen zur Not- und Folgeunterbringung neu ­errichtete Containerdörfer und andere ephemere Architekturen aus festen Bau­

Architekturund raum­ theoretische ­Über­legungen zu Flüchtlings­ räumen

Markus Dauss

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›Flüchtlingsräume‹ sind keine eingeführte architekturtheoretische Begrifflichkeit. Auch in den Sozial- und Raumwissenschaften hat der Terminus selbst ein unscharfes Profil: Es ergeben sich Überschneidungen zu Begriffen wie ›Migrationsräume‹ oder ›transnationale Räume‹ oder – wo es um deren Rolle in Städten geht – Arrival Cities (Doug Saunders, Arrival City. The Final Migration and Our Next World, Toronto 2011). 2 Das komplexe Verhältnis von Raum, Architektur und Ort (inklusive Begriffen wie Entortung und Nicht-Ort) wird im Text immer wieder impliziert problematisiert, aber nicht explizit und stringent theoretisiert. Siehe dafür Bände wie: Raumwissenschaften, hg. von Stephan Günzel, Frankfurt am Main 2009. 3 Einen Überblick über die Bandbreite, mobile ›fliegende‹ Bauten, standardisierte, normierte Neubauten sowie wieder angeeignete bzw. umgenutzte oder ergänzte Bestandsbauten umfassend, gibt der Beitrag von Ulrich Pantle in diesem Band. Er versucht auch eine erste Deutung ihrer Charakteristik von Grundmotiven des Architektonischen (Stereometrie versus Konstruktivität) her. Abgebildet werden die seit 2015 in Deutschland in der Umsetzung befindlichen Bauten für Flüchtlinge / Migranten auch in einer Datenbank, die das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt im Rahmen der 15. Architekturbiennale 2016 in Venedig angelegt hat: http://www.makingheimat.de/#fluechtlingsunterkuenfte (5. Juli 2016).

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stoffen, Zeltstädte, Umnutzungen von Kasernen, Sporthallen, ehemaligen Universitätsmensen, Unternehmenszentralen, Baumärkten etc. Auch gibt es häufig Unterbringungen in schon bestehenden Wohnheimen (etwa für Studierende), sog. Beherbergungsstätten (Pensionen / Hotels) oder Wohnungen. Verbunden sind diese diversen Bauten am ehesten durch das im Hintergrund stehende administrative System der Erfassung und Verteilung, das mit gesteigerter Dringlichkeit auf diese zuvor schon anderweitig genutzten oder improvisierten Bauensembles zugreift. Folglich sind die Ansprüche an Unterbringungsstandards minimiert.4 Manche Bauten sind so notdürftig in Stand ­gesetzt, dass ihre Außenerscheinung als patchwork oder Collage wirkt. Das gilt etwa für die zur Flüchtlingsunterbringung genutzte sogenannte Neue Mensa der Goethe U ­ niversität F ­ rankfurt (Abb. 15), ein seit Jahren ungenutztes Gebäude auf dem stark vernachlässigten Campus Bockenheim. Abgrenzungen und Blickbarrieren schaffen nicht nur bei diesem Beispiel Distanz zum Kontext, wobei nicht immer eindeutig zu entscheiden ist, ob sie primär nach außen oder innen gerichtet sind. Im doppelten Sinne ansehnlich sind die genutzten Bauten nicht. Sie sind mit Konnotationen des Temporären, ja Improvisierten, der Kasernierung, ja sogar des Lagers verbunden.5

Abb. 15 Neue Mensa der Goethe ­Universität Frankfurt

Dimensionen von Räumlichkeit Flüchtlingsräume sind folglich nur unter ganz bestimmten Vorzeichen ›attraktiv‹ für eine architekturzentrierte Diskursivierung. Primäre Impulse für die Beschäftigung mit ihnen liegen nicht auf der Ebene ästhetischen Gefallens, ein Parameter, der trotz aller vermeintlichen Distanz häufig Movens gerade etwa für die kunstwissenschaftliche Beschäftigung mit gestalteten Gegenständen ist. Vorherrschend sind bei der Diskursivierung räumliche Perspektiven, die die prekären Verhältnisse in diesen temporären Wohnräumen fokussieren.6 Medial dominant scheinen 4

Die Unterkünfte sollen nach sog. Landesaufnamegesetz § 3 einen menschenwürdigen Aufenthalt ohne gesundheitliche Beeinträchtigung gewährleisten. Ob das flächendeckend wirklich gewährleistet ist, daran lassen zumindest wiederholt in der Presse kommunizierte Klagen von Bewohnern und Hilfsorganisationen zweifeln. Wie streng die bei öffentlichen Bauten gängigen Bau- und Brandschutzbestimmungen zu berücksichtigen sind, wurde in Politik und Öffentlichkeit bereits viel diskutiert. 5 Zum Lager als Paradigma der Moderne, seinen disziplinatorischen und regulativen Funktionen von Ein- und Ausschluss, vor allem aber seiner architektonischen Gestalt – am Beispiel der Geschichte des Barackenlagers (mit seiner letzten Transformation als Containersiedlung) als nur einem Ausschnitt aus einem extrem breiten Spektrum an konkreten Formen: Axel Dossmann, Jan Wenzel, Kai Wenzel, »Barackenlager. Zur Nutzung einer Architektur der Moderne. In: Ludger Schwarte (Hg.), Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie, Berlin und Bielefeld 2007, S. 220–245. 6 Ein Beispiel: Marie-Sophie Adeoso, Flüchtlinge in Frankfurt. Kritik an Massenunterkunft, Frankfurter Rundschau Online, 6. Februar 2016, http://www.fr-online.de/frankfurt/fluechtlinge-in-frankfurt-kritik-anmassenunterkunft,1472798,33725746.html (1. März 2015).

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besorgte oder ablehnende Stimmen, die weder Unterkünfte noch Bewohner in ihrer dörflichen Nachbarschaft, urbanen oder regionalen Umgebung wünschen. Eine einzige positive Einlassung zu diesen Räumen lässt sich ausmachen: Sie passt die Thematik der Flüchtlingsunterbringung in schon bestehende Kritiken der generellen Knappheit, Teuerung und sozialen Exklusivität des Mietwohnens in Großstädten ein.7 Umnutzung und Verdichtung, die bei Flüchtlingsunterkünften aus der Not häufig zum Tragen kommen, gelten als Mittel zu einer gerechteren und nachhaltigeren Nutzung des Stadtraumes. Mit ihnen soll der ressourcenverbrauchenden Neubauobsession der westlichen Gesellschaften ein Ende gesetzt werden. Ziel ist ein Paradigmenwechsel zu verdichteter, effizienter Altbaunutzung, von der auch positive soziale Effekte zu erwarten sein sollen. All’ diese Diskurse fokussieren primär die lokalen Raumkontexte von Flüchtlingsräumen. Vielversprechender scheint es aber, den analytischen Blick räumlich zu weiten: Flüchtlingsunterkünfte vor Ort stellen gleichsam nur ›vorübergehende Endstationen‹8 von umfassenderen Räumen der transnationalen Migration dar – aktuell zumeist der Flucht vor (Bürger-)Krieg, Verfolgung, Verarmung oder Chancenlosigkeit. Diese Makroräume sind von grenzüberschreitenden Dynamiken, Transfers oder Zirkulationen durchzogen (von Menschen, Ressourcen und Kom7

Am deutlichsten bei einem neubauskeptischen und umbau- bzw. umnutzungs­freundlichen Architekten: Daniel Fuhrhop, Verbietet das Bauen!, München 2015. 8 Der Begriff ist nicht zynisch gemeint, sondern eher im Sinne von ›Endgeräten‹ an der Peripherie eines Systems zu verstehen.

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munikationen, Symbolen sowie Dingen). Man spricht hier mit Blick auf ihren Lebens­ ort wechselnde Individuen und Gruppen von Migrationsnetzwerken oder sogar -systemen.9 Zwar ist strittig, inwieweit sich die in diesem Rahmen stattfindenden Bewegungen in ein Gesamttableau der Globalisierung einfügen lassen. Denn nur 2–4 % der Weltbevölkerung leben aktuell nicht in ihren Herkunftsländern – daran wird auch die aktuelle Immigration nach Westeuropa nicht allzu viel ändern.10 Die meisten Migranten bewegen sich zudem nicht im globalen Rahmen, sondern weichen von Krisen- oder Armutsregionen in Nachbarländer aus.11 Zudem verlaufen die Wege der meisten Migrationen nicht kreuz und quer über den Globus. Eher folgen sie ganz bestimmten Routen; sie werden von Pionieren erschlossen, dann bei Bewährung eingeschliffen, aber immer auch den politisch-­ situativen ­Erfordernissen angepasst. Wir wohnen gerade der Etablierung neuer Migrationsrouten und teilweise auch -netzwerke bei. Zurzeit dominiert eine Landroute, die vom ­Nahen Osten nach Westeuropa führt und partiell mit riskanten Seepassagen ­kombiniert wird. Anders als im Fall der je nach Herkunftsland weiter genutzten maritimen Alternativen wird hier besonders deutlich, dass der durchquerte Raum von einer Vielzahl von Systemgrenzen durchzogen ist: nationalen, d.h. administrativ-juridischen, sowie auch supranationalen (vor allem der alles entscheidenden EU-Außen­ grenze). Raum wird dadurch nicht nur konkret, sondern auch konzeptuell komplexer gestaffelt.12 Territoriale, institutionelle sowie rechtliche Raumkonzepte durchdringen sich, ohne immer kongruent zu sein. So kann es nicht nur für einen Flüchtenden undurchschaubar sein, welche Transitroute am vielversprechendsten für die Einreise in die europäische Komfort-13 und Sicherheitszone14 und in welchem west- oder nordeuropäischen Staat am ehesten eine Aufenthalts- oder Bleibeerlaubnis zu erringen ist. Die aktuellen, verzweifelten und rechtlich weit­ gehend fragwürdigen Versuche der Re-Nationalisierung sowie der Verschärfung des Asylrechts steigern die Unübersichtlichkeit eines im Umbau befindlichen 9

Dazu und zum Folgenden Thomas Faist, Transnationale Migration als relative Immobilität in einer globalisierten Welt, In: Berliner Journal für Soziologie, September 2007, Bd. 17, H. 3, S. 365–385. 10 Faist (Ebd.) hat aus dieser Erkenntnis einen sog. Immobilitätsansatz entwickelt, der das Erstaunen angesichts einer relativ hohen Beharrung wissenschaftlich aufzulösen versucht. 11 Jochen Oltmer, Ersatz-Zufluchtsland? In: Forschung und Lehre 1 / 16, S. 14–16, 15. 12 Mechthild Baumann, Externalisierung. Von der Linie zum Raum, von Einlass- zu Ausreisekontrolle, Bonn 2014, (http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/ kurzdossiers/179698/externalisierung; [1. März 2016]). 13 So eine ambivalente, wenn nicht zynische Bezeichnung des EU-Raumes. Wolfgang Schäuble, Europa – Komfortzone, Schicksalsgemeinschaft, Zukunftsaufgabe, 16. Juni 2009, (http://www.wolfgang-schaeuble.de/europakomfortzone-schicksalsgemeinschaft-zukunftsaufgabe/, [1. März 2016]). 14 Zu dieser kategorialen Vervielfältigung und Dynamisierung von Grenzen, die sich damit in einen komplex gestaffelten Grenzraum transformieren: Martin Wunderlich, Tobias Wötzel, Die Grenzen der Menschenrechte. Von der Grenzlinie zum Grenzraum, Vortrag auf der Tagung Die Grenzen der Menschenrechte, Dresden 2014, (http://www.weiterdenken.de/de/2014/02/21/die-grenzen-der-menschenrechte; [1. März 2014]).

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­Systems.15 Sie schaffen einen gestreckten und von multiplen Grenzen durchzogenen Grenzraum: Er transformiert die einer jeden Grenze eigene Ortlosigkeit16 in ein räumliches Konzept, das auch rechtlich eine Art Grauzone konstituiert.17 Zudem sind auch die von diesen Grenzräumen eingeschlossenen Rechtsräume (der EU-Staaten) selbst in eine unübersichtliche Dynamik geraten. Ein ruinöser Wettbewerb um gesenkte, abschreckende Asylstandards bringt ihre komplexe ›Binnenarchitektur‹ ins Schwimmen. Komplex ist aber auch die Systemaußenseite: Eine sich weit erstreckende physische wie rechtliche ›Vorfeldsicherung‹ der EU erweitert dieses System gestaffelter Zugangskontrollen noch einmal entscheidend.18 Das World Press Photo (2015) von Warren Richardson bringt die Schwierigkeit, die vielfältigen Barrikaden überhaupt zu überschreiten bzw. zu unterlaufen, visuell auf den Punkt (Hope for a New Life, August 28, 2015). Die Wege des Transits, der Migration und selbst des Ankommens sind also von einer Vielzahl von gestaffelten Barrieren räumlicher und – berücksichtigt man limitierte Aufenthaltsrechte oder vorgeschaltete Erfassungs- und Verteilungslager – sogar temporaler Art durchzogen. Physische und visuelle / symbolische Grenzkontrollen, dann aber auch Festsetzungs-, Abschiebe- und Rückführungsregelungen sollen im Verbund wirken. Flüchtlingsarchitekturen ›vor Ort‹ fungieren also als ›Endgeräte‹ eines gestaffelten Sicherungs- und Kontrollsystems, das lange ›optimiert‹19 worden ist und nun unter der schieren Menge von Flüchtenden funktionell erodiert. Un- / Sichtbarkeit Weil im weiten Hintergrund Flucht und Migration stehen, sind für die Flüchtlingsunterbringung genutzte Bauten mit einem Feld von vor Ort weitgehend unsichtbaren Räumen verbunden. Sie sind das stärker als die meisten anderen institutionellen Architekturen. Eine strukturelle Analogie bieten höchstens die Bauten, von denen aus Finanzströme gelenkt werden. Auch Bankentürme muss man als ent­ ortete, aber dennoch weithin sichtbare Ausstülpungen eines globalen Finanzraumes sehen, der durch Datenautobahnen vernetzt, selbst aber unsichtbar und ungreifbar ist (was seine Regulierung schwierig macht). Aber stärker als bei Finanz­ architekturen – gleichsam weit herausragende Kabelenden eines virtuellen Netzes – sind Flüchtlingsräume in sich selbst bereits durch eine Spannung von Visibilität und Invisibilität gekennzeichnet. Darauf hat die Studie zur räumlichen bzw. architektonischen Seite der deutschen Flüchtlingspolitik hingewiesen, die der Po15

Dazu und zum Folgenden: Jürgen Bast, Die Flüchtlingskrise und das Recht, in: Forschung und Lehre 1 / 16, S. 24–26. 16 Sie ist ja ein der Demarkation dienendes, linear-abstraktes Dazwischen, das aber gerade der Schaffung klar verorteter Territorien dient. 17 Das ist die Kernthese von: Wunderlich / Wötzel 2014, Die Grenzen, S. 2. 18 Stefanie Duttweiler, Entortete Verortungen. Architekturen des transnationalen Flüchtlingsraumes, In: Hans-Georg Soeffner, (Hg.): Transnationale Vergesellschaftung. 35. Kongress der deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden 2012, beiliegende CD-ROM, 16 S. 19 Etwa durch immer weitere Aufrüstung der 2005 gegründeten europäischen Grenzsicherungsagentur Frontex.

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litikwissenschaftler Tobias Pieper 2008 vorgelegt hat.20 Er konstatiert eine ambivalente Verschränkung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, ja Unsichtbarmachung, die durch die Lage und Erscheinung der Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland bewirkt werde: Sie sind häufig in urbanen Situationen oder sogar in ländlicher Abgeschiedenheit situiert. Ihre sichtbaren Außenseiten sind darüber hinaus häufig buchstäblich unansehnlich. So befördern sie eine Art des visuellen Verschwindens der hier gemeinschaftlich untergebrachten ›Insassen‹, deren Status als volle bürgerliche Rechtsperson ja sowieso eingeschränkt ist – etwa durch Residenz­zwang, Arbeits- und Ausbildungsverbot oder Verpflichtung zum Sach­ mittelbezug. Pieper begreift die kollektiven Unterkünfte deshalb als ›halboff­ene ­Lager‹.21 Ihr auffallend abweisendes Erscheinungsbild bewirke aber zugleich eine Sichtbarmachung durch Stigmatisierung, die die Kehrseite von Praktiken der Unsichtbarmachung darstelle. Die ungewöhnliche Nutzung von zweckentfremdeten Bauten, ihr prekärer Zustand, ihre offenkundige Abgrenzung sowie die Präsenz von Sicherheitspersonal weisen die Bewohner als Insassen einer Sonderzone aus. Ich kann dies täglich an der schon erwähnten Unterkunft in Sichtweite meines Arbeitsplatzes in Frankfurt am Main beobachten: Der notdürftig geflickte Bau wird seit einigen Monaten, nach rudimentärer Instandsetzung, als Flüchtlingsunterkunft genutzt. Als buchstäblich graue Architektur liegt die collagierte Notbehausung zunächst unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Zusätzlich angebrachte Blickbarrieren verschärfen einerseits diesen Effekt, wirken aber andererseits zugleich stigmatisierend, schaffen also einem bekannten Mechanismus entsprechend erst eine negative Aufmerksamkeit. Die Präsenz von Sicherheitspersonal wirkt ähnlich ambivalent. Auch die Einfügung in merkwürdige, selbst collagehafte Nachbarschaften kann diese Dualität noch verschärfen.22 Das bizarre Nebeneinander von qualitativ nivellierten Elementen, die sich in reiner Kontiguitätsbeziehung zueinander befinden, ist ein Kennzeichen vom Raummustern der globalisierten Welt. Als Beispiel dafür ließe sich beim Frankfurter Beispiel etwa der Blickkontakt über die Senckenberganlage hinweg zur Kreditanstalt für Wiederaufbau nennen, zuständig unter anderem für die Finanzierung bilateraler Entwicklungszusammenarbeit. Die über dieses Beispiel hinausgehende These ist, dass durch die aktuelle Entwicklung das merkwürdige Ineins der Un- / Sichtbarkeit in seinen Polen gesteigert wird: Denn einerseits hat die pure Präsenz und Nähe von Flüchtlingsunterkünften im Zuge der sog. Flüchtlingskrise im Stadtbild zugenommen – ein Faktum, das in Umfragen von vielen Bürgern als Novum und damit häufig als Auslöser dif20

Tobias Pieper, Die Gegenwart der Lager. Zur Mikrophysik der Herrschaft in der deutschen Flüchtlingspolitik, Münster 2008, S. 316 f. 21 Ebd.; ders., Flüchtlingspolitik als Lagerpolitik, Berlin 2012 http://www.edoc.hu-berlin.de/miscellanies/netzwerkmira-38541/73/PDF/73.pdf; (Januar–März 2012). 22 Den Begriff Collage auf urbane Muster übertragen haben als erste Colin Rowe und Fred Koetter in ihrer Kritik an den planerischen Einheits- und Großfantasien der Moderne eingeführt (Collage City, Cambridge (Mass). / London 1978). Heute kommt weniger das kritische denn das real zynische Potential von collage­haften Zusammenstellungen zum Tragen.

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fuser Ängste benannt wird.23 Andererseits wirkt die aus der (vorgeblichen) Notwendigkeit geborene Umnutzung von Bausubstanz auch prekärsten Zustandes, die sonst gerne ausgeblendet wird, invisibilisierend. Rituale der Ausgliederung Kann man für diese Konstellation über den Rahmen der aktuellen Politiken hinausweisende tiefenstrukturelle Erklärungen finden? Dafür wäre bei Theorien symbolischer Performanz anzusetzen. Walter Benjamin hat ethnologische Perspektiven rezipiert,24 um räumliche Muster der Moderne und ihre sozialperformative Füllung lesbar zu machen. Der Sozialtheoretiker dachte dafür die Konzeption sog. Übergangsriten durch den Ethnologen Arnold van Gennep weiter, der ihre sozialstabilisierende Wirkung wie auch räumliche Dimension erstmals betont hatte.25 Ebenfalls Bezug auf van Gennep nimmt auch Victor Turners ethnologische Theorie. Sie fokussiert nicht nur rituell markierte liminale Perioden, sondern auch symbolisch separierte transitorische Sonderräume.26 Mein Vorschlag ist, vor allem den letztgenannten Ansatz aufzugreifen, um damit sozialräumliche Charakteristika wie psychologische Effekte von Flüchtlingsräumen zu benennen. Mit dem Blick auf rituelle Einschreibungen wird nämlich die Annahme hinterfragbar, dass kollektive Separierungen von neu in Gesellschaften Ankommenden nur auf die ›rationale‹ Anforderung institutioneller Zugriffsbedürfnisse antworteten. Natürlich sind Menschen in Sonderräumen leicht administrativ zu erfassen, zu adressieren und weiter zu ›distribuieren‹. Aber geht es wirklich nur darum? Macht sich nicht auch die symbolische Eigenmacht von ritualtheoretisch aufzuschlüsselnden, gruppensoziologisch wirksamen Übergangsräumen geltend? Gelangt man über Turner zu dieser These, so muss kritisch eingewandt werden, dass einige seiner Grundannahmen über die vermeintlichen Grundzüge rituell geprägter Sozietäten als modernistische Projektion erscheinen: So nimmt er die Existenz von ›einfacheren Gesellschaften‹ (simpler socities) an, die von der funktional differenzierten, dynamischen Moderne klar zu separieren seien: Sie gelten ihm als überschaubar, relativ einheitlich, stabil und zyklisch geprägt27 – eine Gegenüberstellung, die es sich neben ihrer normativen Schlagseite auch konzeptuell zu einfach macht. Zudem steht bei den von Turner untersuchten Riten letztendlich stets die Wiedereingliederung in eine Gesellschaft in Aussicht, aus der Einzelne oder Gruppen nur temporär austreten. Bei der sozialen Aussonderung von 23

Thomas Petersen, Sorgen und Hilfsbereitschaft. Die Einstellungen der Deutschen zur Flüchtlingskrise, in: Forschung und Lehre 1 / 16, Bonn 2016, S. 18–21, hier S. 19. 24 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V,1, S. 150–152, 617 f. Vermittelt worden sind ihm die Thesen van Genneps wohl indirekt über einen Aufsatz Ferdinand Noacks (Triumph und Triumphbogen, Vorträge der Bibliothek Warburg, Leipzig 1928). Zur Schwelle bei Benjamin: Peter F. Saeverin, Zum Begriff der Schwelle – Philosophische Untersuchung von Übergängen, Oldenburg 2003, S. 99–102. 25 Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), Frankfurt / Paris / New York 1986. 26 Victor W. Turner, Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage, In. William A. Lessa / Evon Z. Vogt (Hg.), Reader in Comparative Religion, New York 1979, S. 234–243. 27 Ebd., S. 234.

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Neuankömmlingen wie Geflüchteten bleibt die potentielle Aufnahme in einer anderen Gesellschaft grundsätzlich perspektivisch fragwürdig. Methodologisch zu meiden ist demnach ein anthropologischer Essenti­ alismus, der in der Moderne bloße rituelle Rest bestände von vermeintlich Archaischem oder Primitiven aufzudecken versuchte. Wenn in der ›Behandlung‹ von Flüchtenden rituelle Muster zum Vorschein kommen, muss man sie nicht automatisch als ›archaisch‹ einordnen. Vor solchen Kurzschlüssen warnt etwa Homi ­Bhabha, einer der maßgeblichen Theoretiker der postcolonial studies und Analytiker entsprechender Gefüge. Für sie hat er u.a. das Konzept des Third Space entwickelt.28 Mit ihm werden Konstellationen der globalen Moderne als jeweils aktuelle Kopräsenz von nur scheinbar weit diametral auseinanderliegenden Zeitregimes (moderne Gegenwart versus ›dunkles Mittelalter‹ oder ›archaische Steinzeit‹) lesbar. Sie repräsentieren nur aus der ›absoluten‹ Perspektive westlicher Fortschrittskonzeptionen normativ weit entfernte Pole einer Entwicklungsskala. Um stattdessen deren Verschachtelung zu betonen, entwirft Bhabha das Konzept eines mehr metaphorisch als konkret gemeinten Zwischenraumes. In ihm begegnen sich konfligierende und doch verwobene Zeit- und Zeichenregimes, Diskurse und Blickdispositive, die sich gegenseitig deformieren, durchdringen und verschieben. Dass dies für Flüchtlingsräume einige Aussagekraft hat, kann die schon vorgestellte Ambivalenz von Hier und Nicht-Hier (lokaler und transnationaler Raum),29 von Sichtbarkeit und Invisibilisierung betonen. Vor allem aber kann ein metaphorischer Third Space konzeptuell nützlich sein, um den Bezug von Victor Turners Analyse ›tribaler‹ Riten und derjenigen zeitgenössischer Flüchtlingsräume zu verdeutlichen. Welche strukturell übertragbaren Funktionen und Züge von Übergangsriten benennt Turner, welche Modifikationsspielräume sind aber eigentlich auch sofort als Teil ihres Charakters mit zu bedenken? Riten medialisieren nach Turner Übergangsprozesse zwischen unterschiedlichen Status.30 Diese Transitionen verunsichern prinzipiell, bedrohen die gesellschaftliche Kohärenz – und werden deshalb rituell gefasst. Dafür werden zeitliche Zwischenräume mit bestimmten symbolischen Handlungen besetzt und so als bewusste wahrnehmbare Grenzphasen 28

Jonathan Rutherford, The Third Space. Interview with Homi Bhabha, In: Ders. (Hg.), Identity, Community, Culture, Difference, London 1990, S. 207–221. Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London / New York 2004, S. 52 f.; unter Aspekten der Identität / Alterität, Gastfreundschaft und Anerkennung: ders., Our Neighbours, Ourselves. Contemporary Reflections on Survival, Berlin 2011, vor allem: S. 6 f. Eine konzise Einführung u.a. in das Konzept des Dritten Raumes: Michael Göhlich, Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Kontexte und Spuren einer postkolonialen Identitätstheorie, In: Benjamin Jörissen, Jörg Zirfas (Hg.), Schlüsselwerke der Identitätsforschung, Wiesbaden 2010, S. 315–330; zu Reichweite und Grenzen: Doris Bachmann-Medick, Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung, in: Claudia Breger / Tobias Döring (Hg.), Figuren der / des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam / Atlanta 1998, S. 19–36. 29 Zu letzterem Begriff: Regina Bittner / Wilfried Hackenbroich / Kai Vöckler (Hg.), Transnational Spaces / Transnationale Räume, Weimar 2005. 30 Dazu und zum Folgenden: Turner, Betwixt and Between, S. 234 f.

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ausgestaltet. Individuen oder vor allem auch Gruppen, die einen Statuswechsel vollziehen, werden häufig als von der umgebenden Gesellschaft separiert. Mittel dazu sind räumliche Abgrenzung oder Ausgliederung, die Entkleidung von allen Statussymbolen und Besitz sowie die Konstituierung nominell strikt egaler Kollektive. So werden sie als Individuen wie als Gruppe zu liminalen, d.h. grenzwertigen, Personen erklärt. Deren Randständigkeit besteht etwa darin, dass sie nur mit dem kollektiven Namen für zu Verwandelnde oder neu Aufzunehmende ­(Neophyten) bezeichnet werden, aber keine individuellen Eigennamen mehr tragen. Sie gelten nicht nur deshalb häufig als gesellschaftlich unsichtbar, ja als sozial ›tot‹. Ihr Übergangsstatus bestimmt sie negativ, macht sie primär zu in einer unklaren Situation Befindlichen, im rituellen Sinne ›Unreinen‹. Da das Unklare bedrohlich wirkt, werden es und auch die es verkörpernden Personen rigoros abgewiesen. Parallelen zur räumlichen wie sozialen Sondersituation von Flüchtlingen / Asylsuchenden sollten ersichtlich sein. Auch sie firmieren in den ­majoritären Diskursen (und notgedrungen auch in diesem Text) nur unter einer k ­ ollektiven Statusbezeichnung, die das Transitorische in sich trägt (›Flücht­ling‹ / ›Asyl­suchender‹). In manchen Staaten oder Ländern werden ihnen bei der Einreise bis auf einen variierenden Sockelbetrag ihr Geld oder andere Vermögenswerte abgenommen. Denunziationen als Störer, ja sogar als buchstäblich ›Unreine‹ sind leider an der Tagesordnung. Lagerbewohner haben sich selbst angesichts ihres prekären, ›liminalen‹ Status und ihrer nur äußerst begrenzten, ja meistens unmöglichen Teilnahme an Arbeitswelt, öffentlichem Leben, Konsum etc. als gleichsam sozial tot beschrieben.31 In dieser Perspektivdrehung hin zu einer Selbstbeschreibung ist eine entscheidende Differenz zu den von Turner analysierten Übergangsriten enthalten: Er fokussiert ja ihre transformatorische Kraft und spricht ihnen grundsätzlich eine positiv vermittelnde Wirkung zu. Nicht nur, dass der Austritt aus der liminalen Phase und der Wiedereintritt in die Umgebungsgesellschaft bereits fest programmiert und in der Regel für die Transformanden absehbar ist. Vielmehr wird diesen in der liminalen Phase ein integrales Set von kollektiven Werten, Normen und / oder Glaubensaxiomen vermittelt, das den Traditionsbestand einer Gesellschaft ausmacht – in die sie wieder eingegliedert werden. Ob für Flüchtlinge und Asylbewerber vergleichbare Angebote und Perspektiven für die erzwungene Auszeit im Off einer administrativ und politisch verordneten oder verlängerten ­Auszeit bestehen, mag bezweifelt werden. Die Zwischenzeit einer delokalisierenden und häufig destabilisierenden Flucht wird bei einer erheblichen Anzahl der Fälle nicht aufgehoben in einer Wiederangliederungsphase,32 sondern juridisch und administrativ verlängert. Lager? Dieser Aspekt einer Fixierung im Off kann durch Theorien des Lagers adäquater erfasst werden. Ihr analytischer Wert besteht im Hinblick auf Flüchtlingsräume in 31 32

Pieper 2008, S. 174. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl. Tabellen, Diagramme, Erläuterungen, Januar 2016, (https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/ Infothek/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.html; [1. März 2016]).

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ihrer explizit zuspitzenden Wirkung. Der Begriff ist eng mit Konzeptionen totalitärer Herrschaftsideologie und -praxis sowie dem Massenmord verwoben. Darüber, ob es angemessen ist, diesen Begriff für die Analyse von kollektiven Flüchtlingsunterkünften in Deutschland zu verwenden, besteht kein Konsens. Pieper adaptiert ihn bewusst in seiner Studie zur Unterbringung von Asylbewerbern: Er weist damit auf den Ausschluss durch Einschluss hin, der dieser Struktur zugrunde liegt.33 ›Lager‹ meint hier einen Mechanismus, der Menschen gerade im Modus der Kollektivierung zu Subjekten administrativen Zugriffs macht und ihnen im Vergleich zu den Bürgern demokratischer Nationalstaaten nur ein limitiertes Set an Rechten zugesteht. Die Soziologin Stefanie Duttweiler, die sachlich ganz ähnlich argumentiert, lehnt die Übertragung des Begriffs hingegen ab, weil sie eine polemische Überdehnung durch die Analogisierung von Zuständen in doch recht unterschiedlichen Systemkontexten befürchtet.34 Allerdings ist diese Weitung des Lagerbegriffs in historischer wie systematischer Perspektive von maßgeblichen Lagertheorien wie denjenigen Hannah Arendts und Giorgio Agambens bewusst angelegt.35 Ob diese Freistellung gelingen kann, ohne den singulären Charakter der Tötungsmaschine Konzentrationslager in Frage zu stellen, ist allerdings ein massives Theorieproblem.36 Arendt hat Lager – vor allem solche des NS-Regimes, aber auch des Stalin­ ismus – als Maschinen der systematischen Entrechtung und als Laboratorien der Willkür beschrieben.37 In Lagern lässt man Menschen verschwinden, die dort den sadistischen Bewachern wie auch sich gegenseitig schutzlos ausgeliefert sind. Der kollektive Ein- und soziale Ausschluss unter depravierenden, ja desaströsen (in der Regel tödlichen) Bedingungen versetzt diese invisibilisierten Individuen in eine Art Naturzustand. Nur um zu demonstrieren, dass es möglich ist, werden die Insassen gezielt ihrer politischen wie Persönlichkeitsrechte entkleidet und erniedrigt. Ebenso dient ungestrafter Massenmord zur puren Illustration, dass derart Unvorstellbares Gestalt annehmen kann – ideologischer Kerngedanke eines von destruktiven Machbarkeitsphantasmen besessenen Regimes. Lager werden als Orte der Enthemmung zum alles entscheidenden Kernparadigma totalitärer Herrschaft. Arendt lässt durchblicken, dass sie die Reproduktion von Zügen totalitärer 33

Pieper 2008. Duttweiler, Entortete Verortung, S. 9. 35 Zygmunt Bauman hat sogar das Schlagwort vom »Jahrhundert der Lager« geprägt. (Das Jahrhundert der Lager, In: Die Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte, 1 / Januar 1994, S. 28–37). 36 Zu diesem Problem bei Arendt: Dan Diner, Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk, in: Jürgen Danyel / Jan-Holger Kirsch / Martin Sabrow (Hg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen 2007, S. 37–41; bei Agamben: Maximilian Pichl, Das Recht als Spielzeug der Moderne, Rezension von: Daniel Loick (Hg.), Der Nomos der Moderne. Die politische Philosophie Giorgio Agambens, Baden-Baden 2010, in: kritisch-lesen, Ausgabe 23, 6. November 2012 (http://www.kritisch-lesen.de/rezension /das-recht-als-spielzeug-der-moderne; [1. März 2016]). 37 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, New York / Frankfurt am Main 1955, S. 693–723. 34

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Herrschaft – wie die Einrichtung von Lagerzonen – in nichttotalitären Regimen für denkbar, ja für wahrscheinlich hält.38 Wieweit die konkreten Analogien dabei reichen, welche belastbaren Kriterien für eine derartige These jeweils gegeben sein müssen, bleibt offen. Der Verweis auf Kontinuitäten ist eine verstörende Perspektive, die ­Agamben aufgegriffen und argumentativ fortgeschrieben hat.39 Entscheidend für unser Thema ist seine bewusst paradoxe Entfaltung des Lagerbegriffs. Sie kulminiert in der Diag­nose der Entortung, die – ausgerechnet – das Lager bewirke. Entscheidend ist für die Herleitung zunächst, dass der italienische Philosoph das Lager als ­nómos der Moderne fasst. Gemeint ist eine Konstellation wie Struktur, die als Ausnahme und als Regel eine Art Matrix moderner Vergesellschaftung abgibt. Dabei ist entscheidend, dass er das konkrete Phänomen Lager historisch wie systematisch aus dem Ausnahmezustand herleitet. Er wird in Lagern auf Dauer gestellt, damit von ihn ›legitimierenden‹ Situationen abgelöst und normalisiert. Recht und Faktum fallen dann zusammen, die juridische Norm erschafft eine reale Norm, die in ihrer puren Existenz sogleich als faktischer ›Beweis‹ für die Notwendigkeit und Gebotenheit der ersteren dient. Insofern gleichen sich, so die zunächst erstaun­ liche Argumentation Agambens, auch Innen und Außen, der in das Lager eingeschlossene Sonderraum der Entrechtung, und die von dort ausgeschlossene Gesellschaftsordnung, qualitativ an. Die institutionell-räumliche Logik der Lager ist also paradox strukturiert. Obwohl ihre Definition als konkrete Orte wie als geschlossene Räume ihm in erster Ebene noch verbindlich ist, gehen Lager darin nicht mehr auf. Vielmehr besteht ihre Funktionsweise in einer Entortung: zunächst historisch im Sinne einer Herauslösung, Entkoppelung aus den geltenden normativen Räumen; dann in einer Gegenwart, die generell stark durch Virtualisierung und Ortlosigkeit geprägt ist,40 auch in einer Freisetzung biopolitischer Muster41 – etwa des basalsten, des Geburtsortes (etwa innerhalb oder außerhalb der EU, ließe sich hier konkretisieren). Eine Art bloßer biopolitischer Zufall, ein Update des tra38

Ebd., S. 723. Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 175–189. Eine Kritik nicht nur, aber auch der Arendt-Rezeption Agambens, die die von ihr treffend beschriebenen Entrechtungs- und Entpersonalisierungsmechanismen totaler Herrschaft von ihrer genauen historischen wie soziopolitischen Genese in fragwürdiger Weise entkoppelten: Gerald Hartung, Das Lager als Matrix der Moderne? Kritische Reflexionen zum biopolitischen Paradigma, in: Schwarte, Auszug aus dem Lager, S. 96–109. 40 Der Ethnologe und Soziologe Marc Augé hat für dieses Phänomen den wirkmächtigen Begriff der Nicht-Orte geprägt (Marc Augé, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main 1994). 41 Zu einer Kritik der bei Agamben zentralen biopolitischen Figur des ›nackten Lebens‹: aus einer foucaultschen Perspektive, hier gegen Agambens eigene Berufung auf den Vorgänger Foucault gewendet: Katherina Zakravsky, Enthüllungen. Zur Kritik des »nackten Lebens«, In: Schwarte, Auszug aus dem Lager, S. 59–77. 39

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ditionellen Nativismus42, schafft nun die alles entscheidende Differenz. ›Entortung‹ hat bei Agamben also eine doppelte Bedeutungsdimension. Sie erlaubt es ihm, zunächst konkrete Sonderräume kollektiver Menschensammlung und -verwahrung als prototypische Lager zu benennen. Darüber hinaus begreift er als ›Lager‹ aber auch ganze externalisierte Makrozonen wie die sog. Dritte Welt.43 Dass in ihr verstärkt Lager – etwa eben von der EU gestützte Lager in ihrer ›Vorfeldzone‹ – auftreten, ist dann nur noch Indikator dafür, dass sie im Rahmen einer sich in dieser Weise entortenden Welt zu gleichsam generalisierten Lagerzonen werden.44 Was wird damit im Hinblick auf unser Thema deutlich? Im Anschluss an Agamben scheint es möglich, auch Flüchtlingsunterkünfte, in denen es ja nicht um ein vollständige Entrechtung oder programmatische Erniedrigung von Eingereisten geht, als Teil einer transnationalen Matrix von Räumen zu begreifen. Ob ›Lager‹ oder nicht, auch diese Räume ausschließenden Einschlusses entorten sich. Sowohl der von ihnen markierte Mikro- als auch Makroraum ist von vielfältigen Barrieren durchzogen. Auch diese müssen selbst nicht mehr nur räumlich sein. Auch in einem transnationalen Raum, der vielfach als eine Matrix ungehinderter globaler Flüsse vorgestellt wird, greifen paradoxe Verschachtelungen von In- und Exklusionen. Mechanismen der Ortung und der Delokalisierung fließen dort zusammen, wo Menschen, die sich aus entorteten ›Lager‹-Zonen über räumliche und rechtliche Grenzen in die relative Sicherheit der EU geflüchtet haben, in kollektiven Behausungen untergebracht werden, in denen selbst Begrenzungen vielfältiger Art wirksam sind. Die sichtbare Unsichtbarkeit dieser Räume im engen Sinne ist dabei ebenso aussagekräftig wie die Tatsache, dass man sie vielleicht mit einiger Plausibilität als ›halboffene Lager‹ bezeichnen kann. Ähnliche ambivalente Raumpolitiken reproduzieren sich auf der Makroebene: Die EU geriert sich im Hinblick auf den Schutz ihrer Außengrenzen seit Langem prinzipiell wie eine Großnation mit grenzpolizeilich zu schützendem Staatsterritorium. Zugleich hat in ihr selbst, im Binnenverhältnis, lange eine größtmögliche transterritoriale Personenfreizügigkeit geherrscht. Aktuell renationalisieren sich aber in Form einer negativen Konkurrenz45 gegenläufige Umgangsweisen mit dem Druck, den die Flüchtenden 42

Er bindet Teilhabe und Rechte in der Gemeinschaft an einem nationalen Geburtsraum; im paradigmatischen Fall wie der Blut- und Bodenideologie wird beides noch biologistisch verkettet. 43 Als eine Art Scharnier sieht Agamben (S. 183) dabei Asylzonen in Flughäfen. Ein Jahr vor dem Erscheinen von Agambens italienischem Originaltext hatte schon Baumann (Das Jahrhundert, S. 37) auf die Ränder der westlichen Konsumzonen und die aus ihr exkludierten Zonen als eine Art generalisiertes Lager hingewiesen. 44 Eine Kritik aus der Perspektive der Rechtsphilosophie: Astrid Deuber-Mankowsky, ›Homo sacer‹, das bloße Leben und das Lager. Anmerkungen zu einem erneuten Versuch einer Kritik der Gewalt, In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Heft 21 / 2006, S. 105–121. 45 Zu dem schon länger auf einem Defizit des internationalen Flüchtlingsrechts gewachsenen Phänomen eines »Systems negativer Kompetenzkonflikte«, dessen europäische Abfederung derzeit stückweise wieder aufgehoben wird: Memorandum zum Schutz der Flüchtlinge, hg. von amnesty international u.a., Frankfurt am Main 2000, S. 2 f.

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notgedrungen auf die immer weniger permeablen, ja teils schon für Flüchtende ganz geschlossenen Systemgrenzen ausüben. Dass ›Ankommen‹ und auch ›Ankommenlassen‹ in einer derart komplexen Konstellation kein einfacher Akt ist, versteht sich fast von selbst. Disziplinäre Ausblendung Das Thema Flüchtlingsräume wird es selbst wohl nicht leicht haben, wissenschaftlich verortet und damit sichtbar zu werden. Sicherlich ist das disziplinär zu differenzieren: Auch der institutionelle Raum der Wissenschaft ist trotz interdisziplinärer Rhetoriken immer noch von vielfachen Grenzen durchzogen. In den Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich raumtheoretischen Ansätzen schnell geöffnet haben und die seit Längerem das Arbeitsfeld der Migrationsforschung umfassen, sind sowohl Migrantenquartiere (statisch)46 als auch Flüchtlingsräume (temporär) bereits diskutiert worden.47 Eine weitere Diskursivierung ist zu erwarten. Anders in der kunstgeschichtlichen Architekturbetrachtung, welcher ich institutionell verbunden bin und daher im Folgenden auch auf ihre Grenzen hin befrage. Sie müsste auf jeden Fall ihr klassisches Vorgehen, ein Ansetzen beim visuellen Bestand, offensiver als bisher um raumtheoretische und -soziologische Fragestellungen wie die oben entwickelten erweitern:48 Vor deren Hintergrund kann eben auch wieder die jeweils vorgefundene bauliche Gestalt einige Aussagekraft gewinnen, und sei es primär ex negativo.49 Ein Zugang zu Flüchtlingsräumen in ihrem Rahmen scheint vor allem dann eher möglich, wenn sie ihre eigenen traditionellen Präferenzen und vor allem Ausblendungen klarer reflektieren. Denn gerade im Verhältnis zu diesen nähme ein an den Rändern des Sozialen situiertes Phänomen50 seine besondere Bedeutung an. Die Architekturgeschichte hat seit jeher eine starke Zurückhaltung gegenüber Räumen des Übergangs, der Mobilität und des Transits geübt. Das gilt zumindest dort, wo diese Bewegungen nicht in religiöses Zeremoniell (liturgischer Räume), Konzepte sozialen Prestiges (Palazzo / Villa) oder Dispositive politischer Macht (fürstlicher Hof) eingebunden waren. Denn nur daraus waren auch nobilitierende, prestigesteigernde Effekte für die akademische Beobachtung selbst ab46

Ivonne Fischer-Krapohl, Viktoria Waltz (Hg.), Raum und Migration. Differenz anerkennen – Vielfalt planen – Potenziale nutzen, Dortmund 2007. 47 Z.B.: Duttweiler, Entortete Verortung. Zu Räumen der Migration in einem zwar weiten Sinne, vor allem aber auf Europa und speziell seine Städte abzielend: Paul Gans (Hg.), Räumliche Auswirkungen der internationalen Migration, Hannover 2014. 48 Hier soll nicht die Entwicklung geleugnet werden, die Kunst-, Architekturgeschichte und -theorie seit über einer Dekade im Hinblick auf die Integration von raum­wissen­schaftlichen Ansätzen durchgemacht haben. 49 Gemeint ist damit etwa die oben zu Protokoll gegebene Beobachtung, dass der vorgefundene bauliche Bestand schwer zu vereinheitlichen oder ästhetisch zu valorisieren ist, sowie seine relative Unsichtbarkeit – die eben eine sozial hergestellte wie signifikante ist. 50 Die Metapher reflektiert eine Mainstream-Sicht, von der sich mein Blick absetzt. Denn dass Flüchtlingsräume vielleicht zentraler sind oder sein werden als bisher angenommen, ist Teil meiner These.

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zuleiten. Wissenschaftlich auf Abstand gehalten wurden Bauten für Gesellschaften on the move dort, wo Bewegungen als Massenphänomen in Erscheinung traten – nämlich in den sich industrialisierenden, demokratisierenden Gesellschaften der kapitalistischen Moderne. Diese disziplinäre Abwehr wiederholt Vermeidungshaltungen der Akteure und Institutionen der architektonischen Raumgestaltung selbst. Schon im 19. Jahrhundert, das häufig als Zeitalter der ersten Massenmobilität beschrieben wurde, war deren offensive architektonische Symbolisierung alles andere als selbstverständlich.51 Vielmehr wurden architekturtheoretische und baupraktische Kämpfe darüber ausgefochten, wie die Bewegung von Massen räumlich funktional gefasst, vor allem aber, mit welchen Mitteln sie symbolisch kommuniziert werden könne. So wurde etwa bei der Konzeption von Bahnhöfen auffallend auf die Kanalisierung von Bewegung, auf ihre Fassung durch tradierte Formeln des architektonischen Repertoires gesetzt.52 Mit Walter Benjamin kann man hier den Versuch erkennen, mit den symbolischen Werkzeugen traditioneller Gesellschaftsordnung die freigesetzte Bewegung von Massen in den performativen wie räumlichen Rahmen von Übergangsriten und Schwellenritualen einzupassen.53 Neben symbolischer Rückversicherung bei der Tradition54 bot die architektonische Fassung ihrer performativen Raumkonzepte im 19. Jahrhundert auch den Vorteil, einen sozial exklusiven Zuschnitt dieser neuen öffentlichen Räume zu suggerieren. Erst allmählich wurde die neuartige materielle, konstruktive und soziale Dimension von Räumen, die funktional auf radikalisierte Mobilität angelegt waren, auch architektonisch offensiver kommuniziert. Mittel dazu war die ungewohnte Sichtbarkeit von Materialien wie Glas und Eisen. Sie ermöglichten neue, lichte Spannweiten, stützenfreie Räume sowie filigran-elegante, aber belastbare Konstruktionen.55 Mit ihnen sollte eine radikalisierte Mobilität baulich eingefangen werden. Ging bzw. fuhr diese doch in ihrer Quantität – aus zirkulierenden Massen bestehend – und Qualität – reine Durchgangsstationen konstituierend – buchstäblich über das hinaus, was bis dahin an Dynamik verbindlich gewesen war. Ein protoglobaler Raum öffnet sich hinter den architektonisch gefassten Endsta51

Zeugnis vom Grad der Verstörung und vom Kampf um die mentale Aneignung der neu entstandenen Bauten für die Massenzirkulation kann etwa der sehr plastische Text eines Architekten ablegen: Richard Lucae, Über die Macht des Raumes in der Baukunst, in: Zeitschrift für Bauwesen 19 (1869), S. 294–306. 52 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2011, S. 152–157. Mit Bezug auf ein Bsp.: Birgit Klein, Der Frankfurter Hauptbahnhof und seine Rezeption im deutschen Bahnhofsbau des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Marburg 2002, S. 30–51. 53 walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1983, S. 151 f. 54 Zu Ausmaß und Form: Nikolaus Pevsner, Funktion und Form. Die Geschichte der Bauwerke des Westens, Hamburg 1998, S. 225–234. 55 Eine Interpretation dieser Prinzipien als Verkörperung eines globalen Konsum- und kapitalistischen ›Weltraumes‹: Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main 2005, S. 265–276.

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tionen der Mobilitätstrassen. Deren neue, transparente Materialsymbolik und innovativen Konstruktionskonzepte stellten die Kernbestimmungskriterien klassischer Monumentalität in Frage: Der Anspruch auf potentiell ewige Dauer wurde durch die neue Bauästhetik herausgefordert. Auch die Zentrierung von sozialen Performanzen in räumlichen Kernzonen, etwa liturgischen oder politischen Kernund Ruhezonen, war für die neuen Durchgangsstationen nicht mehr verbindlich. Aufgegeben wurde mit monolithischer Geschlossenheit auch die häufig überwältigende Massivität klassischer Monumente. Die kunstgeschichtliche Würdigung dieser hybriden, halb technisch-transparenten, halb monumental-massiven Ensembles ließ bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auf sich warten. Noch auffallender ist die mangelnde kunsthistorische Offenheit gegenüber Bauten, die selbst als mobil bezeichnet werden können und damit ein von Ernst Bloch auf den Punkt gebrachtes Prinzip der architektonischen Moderne verkörpern: die sprichwörtliche Reisefertigkeit moderner Bauten.56 Zwar wurden seit dem 19. Jahrhundert immer wieder zerlegbare bzw. zumindest transportable Bauten konzipiert, vor allem für Kolonialbewegung, Pionier­wesen, Militär oder Gesundheit, die mitunter auch seriell produziert und erfolgreich vertrieben wurden.57 Eine eigenständige Würdigung als genuine Gattung, ja als proto­ typische Verkörperung von Prinzipien der progressiven und rationalisierten Moderne haben sie erst spät erfahren. Sie sind ja zumeist zwangsläufig antimonumental beschaffen und mit Konnotationen des Nichtsesshaften behaftet. Zwar ist das Nomadische in den letzten drei Dekaden stark aufgewertet und sogar identifikatorisch besetzt worden.58 Der Katalysator dafür waren postmoderne Analysen globaler Existenzformen, medialer Vernetzung oder auch – damit nicht unbedingt kongruent – dekonstruktivistische Denkformen.59 Das hat auch Folgen für den Blick auf Bauten des Transits, die zur neuen ›Heimat‹ für globale Nomaden werden wie den tragikomischen Ryan Bingham (George Clooney) im Film Up in the Air (USA 2009, Regie: Jason Reitman, 110 Min.), der mit allen Zu56

Ernst Bloch, Die Bebauung des Hohlraums, Neue Häuser und wirkliche Klarheit, In: ders., Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt am Main 1977, S. 858–873, hier: S. 858 f. 57 Man denke hier etwa nur an die Patente, die Gustave Eiffel für mobile Bauten (vor allem Brücken) erworben hatte. Dazu: Michel Carmora, Eiffel, Paris 2002, S. 199–215. Eine Gesamtdarstellung zur Geschichte mobiler Architektur: Matthias Ludwig, Mobile Architektur, Stuttgart 1998. 58 Vom Kult um das in andere soziale, etwa urbane, Kontexte verschobene Nomadische müssen die wenigen noch verbleibenden veritablen Nomaden – also nicht-sedentäre Gruppen – nicht zwangsläufig profitieren. Zu dieser Spannung vgl. die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 65. Jg., Heft 26–27 / 2015, 22. Juni 2015, Nomaden. Man kann hier sogar einen Clash von selbst durch wirtschaftlich globale Aktivtäten zu Nomaden gewordenen ›Reichen‹ und nomadischen Existenzformen im engeren Sinne sehen: Pál Pelbart, Agonistische Räume und kollektive Biomacht, in: Michaela Ott / Elke Uhl (Hg.), Denken des Raums in Zeiten der Globalisierung, Münster 2006, S. 39–49. 59 Letzteres etwa hatte mit der Figur eines nomadischen Denkens einen Angriff auf das Territorium klassischer Ontologie als ein solches fixierender Repräsentation eingeleitet: Gilles Deleuze / Felix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 517–562.

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gangsprivilegien zu den elitären, für frequent traveler reservierten Zonen ausgestattet ist. Heute ist mehr denn je der Trend erkennbar, internationale Drehscheiben, ›Hubs‹ der globalen Mobilität wie Airports, zu einer neuen Art von Monumenten zu nobilitieren.60 Sie sind zwar kaum mehr als pure Positionsmarkierungen innerhalb eines globalen Raumes, der nur noch aus abstrakten Navigationspunkten besteht. Gerade deshalb aber werden ihre gigantischen Terminals, im Wesentlichen aus den Materialien Stahl(-Beton) und Glas bestehend, in der Regel als ›Iconic Buildings‹ angelegt,61 die in sich bereits medial produziert und damit wiederum leicht zu verbildlichen sind. Trotz ihrer medialen und diskursiven Darstellung als gleichsam auf die Globalität geöffnete Monumente sind auch sie von einer Vielzahl von exkludierenden Zugangsgrenzen, kategorialen Raumdifferenzierungen und hierarchisierenden Blickbarrieren durchzogen.62Als Transit- und immer mehr auch Konsumblasen des globalen Raumes verlangen sie nach Eintrittsbillets wie validen Pässen (am besten der westlichen Staatengemeinschaft) oder Visa – und idealer Weise auch Kreditkarten (Visa-Card!).63 Im Mikrobereich der Transitzonen des globalen Luftverkehrsraumes herrschen also ähnliche Strukturen wie im bereits analysierten transnationalen Großraum. Zugleich fällt aber im Hinblick auf Visibilität ein massiver Abstand zwischen weit sichtbaren Airports und häufig unansehnlichen Flüchtlingsunterkünften auf. Nicht zufällig bleiben die Flüchtlinge bzw. Asylsuchenden selbst aus dem ikonischen Feld des gefeierten Transits ausgeblendet.64 Unterkünfte für Asylsuchende in Flughäfen selbst befinden sich zumeist im visuellen Off. Das Gegenbild zu den scheinbar so frei im transnationalen Raum fließenden, globalen Verkehrsströmen wird also verdeckt. Diese räumliche Ausblendung ist ebenso angelegt in lange verfestigten, selektiven Perspektiven der wissenschaftlichen Beschäftigung mit architektonischen und urbanen Bewegungsräumen. Sie hat meist nur ›freie‹, ungehinderte Bewegung als Errungenschaft der ersten architektonischen Moderne fokussiert. Tatsächlich war sie ja auch von Architekten wie Erich Mendelsohn, dem Meister des fließenden Strichs, in dynamisch gestaltete Bauten gegossen worden, die für selbst beschleunigte Beobachter konzipiert waren.65 Auch in die kanonisierende Historisierung derartiger Leistung ist der Aspekt von räumlicher Dynamik eingeflossen – mustergültig etwa bei Sigfried Giedions zugleich zurückschauendem wie visionärem Space, Time and Architecture.66 Festzuhalten ist, dass dabei stets 60

Brian Edwards, The Modern Airport Terminal. New Approaches to Airport Architecture, New York 2005, v. a. S. 26–34. 61 Charles Jencks, The Iconic Building. The Power of Enigma, London 2005. 62 Wilfried Hackenbroich, Aufgesplitterte Räume. Flughafen Frankfurt am Main, in: Regina Bittner / Wilfried Hackenbroich, Transnationale Räume = Transnational Spaces, Berlin 2007, S. 152–162. 63 Das hat vor allem Marc Augé (Orte und Nicht-Orte) verdeutlicht. Gerade die Zonen der Nivellierung von Individuen zu Datencodes verlangen autorisierende ›Zugangsdaten‹. 64 Monika Codourey, Transnationaler Mobilitätsstatus, In: Bittner / Hackenbroich, Transnationale Räume, S. 166–174. 65 Regina Stephan (Hg.), Erich Mendelsohn. Architekt 1887–1957. Gebaute Welten, Ostfildern-Ruit 1998. 66 Sigfried Giedion, Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition, Cambridge (Mass.) 1944.

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eine einengende perspektivische Rahmung zum Tragen kam: eine letztendlich ungebrochene Fortschrittsorientierung. Sie kanalisierte Bewegung umgehend als eine teleologische Größe. Noch in Infragestellungen von raumkonzeptuellen wie geschichtsphilosophischen Prinzipien der architektonischen Moderne wirkt diese Perspektivität fort, selbst dann, wenn sie durch eine Integration von Prinzipien des POP und Merkmale einer ›vulgären‹ Urbanistik die soziale Matrix von Mobilitätskonzepten provokant erweitert haben. Spürbar ist das noch in Robert ­Venturis Learning from Las Vegas, einer bewegungszentrierten Auseinandersetzung mit Verkrustungen moderner Architektur und Urbanistik, die häufig als Schwellenschrift zum postmodernen Architekturdiskurs gelesen wird.67 Postmoderne Strömungen haben versucht, die progressive Gerichtetheit der Moderne wieder auf diese selbst zurückzubiegen und ihre temporalen Strukturen komplex in sich einzufalten. Allerdings färbt sich auch der würdigende Blick dort skeptisch ein, wo er der Tatsache gewahr wird, dass derartige Revisionen häufig in den schon genannten Iconic Buildings umgesetzt worden sind. Deren soziale Semantik ist häufig durch die Ambivalenz eines Starsystems gekennzeichnet, das stets durch Massentauglichkeit (im konsumistischen Sinne) sowie soziale Exklusivität gekennzeichnet ist.68 Selbst Außenseiterpositionen, die Stockungen des Bewegungsstroms zu konstitutiven Prinzipien einer nicht nur linear gerichteten, rein dynamischen Moderne erklären, sind von diesen Spannungen nicht frei. Die gleichermaßen dissidentische wie in der Architekturszene selbst gehypte Position von Rem Koolhaas’ Delirious New York (1978) erhebt den Stau (congestion) zum konstitutiven Prinzip eines modernen Urbanismus, der über Verdichtung und Prestigekonkurrenz funktioniert.69 Der Theoretiker veranschaulicht das an einem ökonomisch stark überformten Terrain: Manhattan, das immer weniger für wirtschaftlich wenig potente Neuankömmlinge zugänglich sein dürfte. Hieran wird auch deutlich, dass auch die prinzipiell stark auf Gegenwartsanalyse verpflichtete Architekturtheorie noch im Banne von historisch etablierten Wertordnungen steht. Flüchtlingsräume als symbolisch wie ökonomisch ›schwache‹ Zonen70 dürften es also besonders schwer haben, in einem solchen disziplinären System verortet zu werden. Architekturgeschichte und selbst -theorie sind zu stark immer auch an Prestigetransfers (von der Gegenstands- auf die Beobachtungsebene) interessiert. Zudem ist vor allem die Architekturhistorie mehrheitlich noch einem 67

Robert Venturi / Denise Scott Brown / Steven Izenour, Learning from Las Vegas, Cambridge (Mass.) 1972. Eine (theorie-)historische Einordnung des Werkes: Martino Stierli, Las Vegas in the Rearview Mirror. The City in Theory, Photography, and Film, Los Angeles 2013. 68 Kritisch, im Rahmen einer Diagnose des von ihm analysierten Systems der Aufmerksamkeitsökonomie: Georg Frank, Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes, Wien 2005, S. 173–218. 69 Rem Koolhaas, Delirious New York. A Retroactive Manifesto for Manhattan, New York 1978. 70 Hier nur im Hinblick auf ökonomisches und symbolisches Kapital zu verstehen.

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hochkulturellen Monumenten- und normativen Kunstbegriff verpflichtet.71 Auch beschäftigt sie sich mehr mit progressivem Fließen als mit Barrieren und ­Stock­ungen. Warum schließen wir mit diesen disziplinären Betrachtungen? Nicht, weil es um eine Ordnung von Fächern und Kompetenzen als Selbstzweck ginge. Sondern, weil die Beobachtung, ob oder wie Disziplinen soziale Phänomene be- und verhandeln, aussagekräftig über den Rahmen der Institution Wissenschaft hinaus ist. In den akademisch institutionalisierten Beobachtungen von Architektur reproduziert sich eine diskursive Invisibilität von Flüchtlingsräumen. Eine kritische Zeit­diagnose sollte sie nicht übersehen. 71

Die Bildgeschichte hat sich bereits stark bildwissenschaftlich neu orientiert, d.h. von verfestigten normativen Axiomen und damit einer Fokussierung nur künstlerischer Bilder gelöst. Zwar mag damit die zunächst greifende Tendenz bedenklich stark sein, eine eigentlich stets mitzuführende Problematisierung historischer Kunstbegriffe zu verabschieden, aber der Entwurf einer Historischen Bildwissenschaft versucht das zu korrigieren.

RÄUME DER GEMEINSCHAFT BERNHARDT / WEBER

Räume der ­Gemeinschaft

Kultur und Gemeinschaft Räumliche Kultur ist ein gemeinschaftlicher Prozess. Dieser ist weder homogen noch statisch. Konsens darüber entsteht aus der Beteiligung Vieler am Diskurs darüber. Machtstrukturen wirken in den Diskurs hinein und werden gleichzeitig neu verhandelt. Architektur ist räumliche Manifestation, Werkzeug, Ergebnis, Auslöser und Ort dieser Verhandlungen. Menschen, die neu nach Deutschland kommen, beteiligen sich an der Produktion von Architektur in Deutschland und damit am kulturellen Diskurs. Ihre vielzähligen räumlichen Biografien, ein enormer Fundus erinnerter Architektur, sind Teil dieses Diskurses. Das Forschungsprojekt TRANSFER untersucht gemeinschaftliche Räume von MigrantenInnen in Deutschland als kulturelles Artefakt. Gemeinschaft ist nicht Selbstzweck dieser Orte – es gibt keine „Gemeinschaftsvereine“ –, sondern wird über gemeinsame Tätigkeiten etabliert. Dieser Beitrag zeigt drei Fallstudien als Räume für sportliche Aktivitäten: das Tenshinkai Dojo in Köln Nippes, den Box Club Integration durch Sport im Kölner Eigelsteinviertel und das Fußballvereinsheim des FC Vrbaš beim DJK Siegfried in Köln Kalk. Alle Beispiele sind von den migrantischen Biografien der Bauherren bestimmt und setzen sich als Ein-, Um- und Anbauten intensiv mit Bestandsgebäuden auseinander. Sie liegen unterschiedlich zum Zentrum der Stadt Köln (Box Club zentral am Hansaring, der Dojo in einem Stadtviertel des 19. Jahrhunderts, der FC Vrbaš im Vorort). Die drei Fallstudien lassen sich als Heterotopien beschreiben, als „wirkliche Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächliche realisierte Utopien, in ­denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte…“ 1. Die Gegenplatzierung, also die Unterscheidung zur Wirklichkeit, zeigt sich durch mannigfache Abstufungen von Differenz.

Anne-Julchen Bernhardt und Anna Marijke Weber

Gruppen und Differenz Eine Gemeinschaft von Bauenden umfasst nicht Alle, sondern eine bestimmte Gruppe. Eine Gruppe entsteht nach Henri Tajfel durch verschiedene Regeln: Die Mitglieder ordnen sich selbst einer sozialen Kategorie zu, die Mitglieder halten diese Kategorie für bedeutsam, die Mitglieder erklären ein gemeinsames Einver1

Michel foucault, Andere Räume, Typoskript eines Vortrages am Cercle d’Etudes Architecturales, Paris 1967. Hier zitiert nach: Catherine David (Hg.), Das Buch zur documenta X, Ostfildern-Ruit 1997, S. 264.

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ständnis über ihre Mitgliedschaft und die Beurteilung der Gruppe. Tun sie dies, ist die Abgrenzung zu anderen Gruppen stärker als die Arbeit am Zusammenhalt der Gruppe.2 Gruppen existieren durch die Formulierung von Differenz. Der Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha beschreibt in »Wie das Neue in die Welt kommt«3 die Welt als aus Minderheiten zusammengesetzte Differenz. Jede Gruppe mit assimilierenden Identitätsbereichen bildet eine Minderheit, die nächstgrößere Einheit, die Gesamtheit Aller, ist die Welt. Besteht die Welt nur noch aus Differenz, braucht es eine präzise und vielschichtige Beschreibung der Erscheinungsformen. Architektur macht Differenz sichtbar. Sie macht räumliche Strukturen, ihre Grenzen, Übergänge und Schwellen räumlich manifest. Sie konkretisiert sich in Baumaterial, Konstruktionstechnik, Ausstattung und repräsentativen Merkmalen, am Programm, den Regeln und Praktiken. Mit dem Überschreiten der Grenze oder Schwelle wird der konkrete Raum der Gemeinschaft auch für den Besucher erfahrbar. Man zieht die Schuhe aus (Dojo), geht einen langen dunklen Gang entlang (Box Club) oder öffnet ein Tor im Zaun (Fußballverein), bevor man den Ort der geplanten Tätigkeit betritt. Hinter dieser Schwelle gilt ein neuer Satz Regeln, finden Handlungen nach vorgeschriebenen Abläufen statt: ankommen, umziehen, Sport machen, duschen, beisammen sein. Die neu Hinzugekommenen ergänzen das bestehende Programm des Ortes über den Sport hinaus: Die Fußballer des FC Vrbaš installieren drei Grillstellen für unterschiedliche Arten des Grillens, das Dojo ist Teil eines japanischen Verbands, der regelmäßigen Austausch und Aufenthalt in Japan vorsieht, der Leiter des Box Clubs betreibt soziale Arbeit für das Viertel, in dem der Box Club liegt. Der relevante Raum für die Gemeinschaft ist dabei nicht auf den lokalen begrenzt. Deutschland-, europa- oder weltweite Netzwerke, Ligen, Ausbildungsund Erinnerungsorte sind wirksam bei der Entstehung des Raums für die sportliche, ethnische und soziale Gemeinschaft. Muster und Struktur »Keine Gruppierung von Menschen, wie ungeordnet und chaotisch sie ihren Angehörigen oder außenstehenden Beobachtern auch erscheinen mag, ist ohne Struktur.« 4 Gleiches gilt für den Raum. Strukturen, Anordnungen und Muster sind über Analysen zeichnerisch als Phänomen und Prozess beschreibbar und in Einzelprinzipien oder -elemente zerlegbar. Die Strukturen erklären sich sowohl aus lokalen, als auch translokalen Prinzipien oder Elementen und der aktiven Auseinandersetzung der Bauherren, Ingenieure und Architekten damit. 2

Henri Tajfel / John C. Turner, The Social Identity Theory of Intergroup Behavior, In: William G. Austin, Stephen Worchel (Hg.), Psychology of Intergroup Relations, Nelson-Hall, Chicago 1986, S. 16. 3 Homi K. bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. 4 Norbert elias / John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main 1993, S. 276.

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Das Verständnis von Architektur als aus Einzelprinzipien bestehend, entspricht der Beschreibung von Christopher Alexander, Sara Ishikawa und Murray Silverstein in »A Pattern Language«5 und ermöglicht eine produktive Perspektive in diesem Prozess. Es sind einzelne räumliche Elemente und Prinzipien, deren ideelle Ursprünge oder konkrete Herkunftsorte eindeutig beschrieben und zeichnerisch dargestellt werden können, um interkulturelle Entstehungskontexte von Räumen der Gemeinschaft zu verdeutlichen. Eigen, fremd, Gegenplatzierung Eine architektonische Typologie, als Abstraktion eines Artefakts, ermöglicht eine An­eignung durch Viele. Die Regelhaftigkeit von Sport, seinen jeweiligen Geräten, Out­fits und dem Ort des Sports besitzen eine besondere Kraft, die sich vor allem durch die grundsätzliche Differenz zum Kontext darstellt. Sport ist nie Normalität, sondern immer eine Gegenplatzierung. Im spezifischen Kontext erfährt die sportliche Typologie eine räumliche Konkretisierung, programmatische Anreicherung und kulturelle Verdichtung. Je nach Perspektive gegenüber der Alltagswelt suchen Gemeinschaften hier das Fremde oder das Eigene. Als explizite Kontrastorte zur Normalität wird die Differenz in diesen Orten zur Gemeinschaft der Sporttreibenden verstärkt. Neben Mitgliedsbeitrag und Kosten der Ausrüstung, sind es räumliche Elemente und Prinzipien, wie die Lage in der Stadt, die äußere Begrenzung oder Räume und Elemente für informelle gemeinschaftliche Tätigkeiten nach dem Training, für deren Beherrschung gemeinschaftsspezifisches Wissen die Voraussetzung bildet. Die drei Fallstudien zeigen exemplarisch drei architektonische Verdichtungen, die jeweils unterschiedliche Felder der Architektur verstärken: Der Dojo zeigt eine kulturelle Verstärkung, der Box Club eine räumliche, während der FC Vrbaš eine programmatische Verstärkung darstellt. Im Dojo überformen zahlreiche aus Japan importierte Elemente, physischer (Tatami, Shoji, Bank, Schrein, Gewand und Schwert) und ritueller (Bewegung und Verhaltensregeln) Art, das bestehende Gebäude. Der Boden ist mit Tatamis ausgelegt, die Ränder und das – natürlich nicht im japanischen Maßsystem – existierende Tragwerk werden über Füllstücke an die Module angepasst. Die Bewegung durch den Raum entspricht der bei Inoue als japanisch beschriebenen Bewegung durch den Raum:6 Die Bewegung ist nie frontal, sondern immer von Drehungen um 90° geprägt. Der Eingang liegt versetzt zum Eingangsraum, dazu erneut gedreht der Hauptraum, der Schrein aus der Ach­se verschoben hinter der Stütze liegend und erst an der zuletzt sichtbaren Stirnseite hängen die raumbestimmenden Schwerter. Alle Bestandteile der festgeschriebenen Bewegung sind in ein chronologisches und nicht hierarchisches Gefüge gesetzt. Die Transferelemente lassen in der eingeschossigen Hinterhofhalle in Köln einen japanischen Innenraum entstehen. 5

Christopher Alexander / Sara Ishikawa, Murray Silverstein, A pattern language, towns, buildings, construction, New York 1977. 6 Mitsuo inoue, Space in Japanese Architecture. New York und Tōkyō, Weatherhill 1985 (Original: Nihon kenchiku no kûkan, 1969) S. 159–170.

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Der Box Club zeigt in der Anpassung an den Bestand einen räumlich ausformulierten Entwurf: Beginnend mit einer Stahltür in einer geschlossenen Tunnelwand, dem anschließenden reinen Bewegungsraum des unbelichteten 10 m langen Tunnels, gelangt man überraschend in den überwölbten großen Innenraum mit zentral platziertem Boxcourt. Der räumliche Entwurf entspricht dem Typus der Höhle. Die Höhle ist in jeder Kultur als Raumbild vorhanden, ein universeller Typus. Die räumlichen Elemente scheinen hier bewusst allgemein verständlich gewählt zu sein, sie lassen niemanden unbeteiligt. Die im großen Box-Raum zentral angebrachten türkischen Fahnen setzen den Raum zwar in einen lokalen Bezug, die räumlichen Prinzipien sind nicht nur mit der Türkei verbunden, sondern in ihrer Archaik überlokal. In dieser sehr eigenständigen Anlage wird gemeinsam Sport getrieben, das außen angekündigte Motto »Integration durch Sport« wird auch durch den räumlichen Entwurf erreicht. Der FC Vrbaš besitzt eine räumlich schwach ausgeprägte Grenze, er ist ein Clubheim am Sportplatz inmitten von Schrebergärten. Der Sportplatz wird von zwei Clubs benutzt, ein migrantisch geprägter Club mit Clubheim neben dem ursprünglich deutschen Club mitsamt Clubheim. Die zwei ursprünglich unabhängigen ­Vereine haben sich über die Zeit programmatisch und baulich miteinander verbunden. Die Nebenhandlung (Grillen beim Fußball) hat das eigentliche Programm (Fußballspielen) an diesem Ort überlagert. Die beiden Clubs besitzen mittlerweile drei Grillräume, die sie gemeinsam nutzen. Gebaut wurden sie vom Vereinsvorsitzenden des FC Vrbaš, der neben diesen sehr eigenständigen Gemeinschaftsmöbeln auch die umgebenden Räume selbst entworfen und gebaut hat. Diese Raumschöpfungen und ihre Benutzung haben den Alltag aller Vereinsmitglieder verändert. Die drei Beispiele migrantischer Vereine zeigen unterschiedliche Prinzipien eines Raumentwurfes. Alle drei zeigen eine deutliche Verstärkung des Raumes, sie sind Heterotopien. Eine Bewertung von Räumen mit einer starken fremden Identität sollte differenziert stattfinden. Der Sozial- und Religionswissenschaftler Rauf Ceylan beschreibt die sozialen Auswirkungen türkischer Männercafés in seinem Buch »Ethnische Kolonien« zum Dortmunder Stadtteil Hochfeld reflektiert: »Im Hinblick auf die Bewältigungsstrategien der Betroffenen im Café sind mit ihrer Mehrfachexklusion sowohl riskante Problemlösungen, als auch Chancen verbunden. Entweder können die Problemlösungen zu einer Verfestigung der Deprivation oder aber zu einer prekären Stabilisierung ihrer Situation im Wohngebiet oder sogar zu einem Ausstieg aus dieser Deprivation führen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, wie die Personengruppen die ihnen aufgrund eingeschränkter Selektionsfreiheiten zur Verfügung stehenden materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen durch Selbstselektion nutzbar machen.«7 Die drei Fallstudien kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Nicht die Errichtung einer Heterotopie stellt ein Problem dar, sondern die Art, wie sie von der Welt gelesen wird. Sie kann die Welt programmatisch, atmosphärisch, räumlich und andersartig reflektieren und bestreiten, grundsätzlich aber verändert sie durch ihre schiere Existenz die Welt. Dies kann eine Chance sein. 7

Rauf ceylan, Ethnische Kolonien, Entstehung, Funktion und Wandel am Beispiel Türkischer Moscheen und Cafés, Wiesbaden 2006, S. 209.

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Tenshinkai Dojo Seite 108 Das Tenshinkai-Dojo befindet sich in umgenutzten Büroräumlichkeiten in einem Hinterhof in Köln Nippes. Im Dojo wird Mugai Ryu, eine japanische Kampfkunst der Samurai, gelehrt. Die Schüler sind kulturell, sozial und altersmäßig heterogen. Das Tenshinkai-Dojo gleicht in einzelnen seiner räumlichen Prinzipien der Typologie eines traditionellen Dojos, diese erfahren im neuen Kontext jedoch eine Transformation. Der Besucher nähert sich dem Gebäude durch einen überbauten Hofeingang. Durch die verglaste Eingangstür tritt der Besucher auf einen parkettierten Vorbereich und erst dann auf den Tatamiboden, der nicht mit Schuhen betreten werden darf. Dieser erste Tatamiraum dient als Vorraum, in welchem gewartet und Tee getrunken werden kann. Wie im traditionellen japanischen Wohnhaus kniet man am Tisch. Der Raum ist mit der klassischen Acht-Mattenkonfiguration im Quadrat ausgestattet. Es folgt der große Trainingssaal (Embujo). Angrenzend an diesen, hinter einer flexiblen Shoji-Trennwand finden sich die Umkleiden. Im hinteren Teil schließt sich eine Teeküche an. Das Dojo zeichnet sich durch eine große Anzahl und Dichte unterschiedlicher, höchst elaborierter, räumlicher Elemente aus, welche aus Japan stammen und dort hergestellt wurden. Diese finden sich vor allem an Boden und Wänden. Die differenzierten Bodenbeschaffenheiten und Mattenrichtungen markieren Raum­einheiten und deren Übergänge. Die Raumabfolge orientiert sich linear am Grad der Privatheit. Seite 109 Die Benutzung eines Dojos ist strengen Regeln unterworfen. 1 Es darf nicht mit Straßenschuhen betreten werden. Im traditionellen Dojo werden diese vor dem Eingang unter dem Dachüberstand abgelegt. In Köln werden die Schuhe in den Schuhschrank des Vorraums gestellt. 2 Man verbeugt sich beim Betreten des Raumes (trad. vor dem Shinzen-Altar). 3 Man legt seine Kleidung in den Umkleiden ab. Im traditionellen Dojo-Raum darf man sich nicht umziehen. 4 Das Training findet zur Altarseite gerichtet statt. Dabei steht der Lehrer mit dem Rücken zur Altarseite der Halle den Schülern gegenüber. 5 Die Waffen werden niemals mit der Klinge Richtung Altar abgelegt. Der Raum ist durch mehrere Elemente geprägt, welche eine eigene Ästhetik erzeugen. Tatami-Matten sind das Bodenmaterial in Vor- und Trainingsraum, welches neben Struktur und Geometrie eine sehr spezifische Materialität, Farbigkeit und Taktilität unter dem schuhlosen Fuß besitzen. Die Shoji-Schiebewände, die eine vollständige Öffnung des Raumes erlauben, bestehen aus einem Holzrahmengerüst, welches einseitig mit Papier beklebt ist und in einer Führungsschiene aus Holz läuft. Der Shinzenaltar ist an der Kamiza (Ehrenseite) immer nach Osten ausgerichtet. Eine hölzerne Mitgliedertafel und Katana-Schwerter sind gut sichtbar an den Wänden des Trainingsraums angebracht. Im Raum kommt es zu Konflikten zwischen japanischen Elementen oder Prinzipien und dem Bestand, hier wird vermittelt. So gibt es Ausgleichsflächen aus einer schwarzen Kiesschüttung, die die Differenz zwischen westlichen Mauerwerksmaßen und dem Modulsystem der Tatami ausgleichen. Die Ausrichtung des Altars nach Osten konkurriert mit Lage und Erschließungsrichtung des Dojo und führt zu einem Kompromiss in der Neusortierung der Seiten.

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Seite 110 Mugai Ryu wurde 1692 von Tsuji Gettan Sukemochi begründet. Der Iaido Soke (Großmeister) Niina Gyokusou Toyoaki gründete 2007 den gemeinnützigen Mugai Ryu Verband und 2008 schließlich die Mugai Ryu Foundation, der Dojos in Japan sowie auf der ganzen Welt angehören. Die Mugai Ryu Foundation möchte japanische Tradition und Kultur pflegen und verbreiten. Mit der Lehre japanischer Kampfkunst möchte die Organisation einen Beitrag zur friedlichen Gesellschaft stiften. Der Verband spricht sich für Gleichheit von Frauen und Männern unabhängig von Ethnie, Religion, Alter, sozialer Schicht und Nationalität aus. Luciano Gabriel Morgenstern, Leiter des Tenshinkai Dojos Köln ist europäischer Vertreter des Mugai Ryu Europe e.V. und Meisterschüler von Niina Gyokusou Toyoaki. Er ist Initiator des Europäischen Verbandes und für die Erweiterung des europä­ ischen Netzwerks verantwortlich. Zum Mugai Ryu Europe e.V., dessen Hauptsitz im Tenshinkai Dojo Köln ist, gehören inzwischen 12 Dojos und drei Zweigstellen in sieben Ländern Europas. Mehrmals pro Jahr treffen sich die Mitglieder zu Workshops mit Soke (Großmeister) Niina Gyokusou Toyoaki und jährlich finden Reisen zu Wettkämpfen nach Japan statt.

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4 Abb. 17 1 Lageplan 2 Lage in der Stadt 3 Grundriss 4 Schnitt 5 Schema japanisches Dojo 6 Schema Tenshinkai

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Abb. 18 1 Detail Säule 2 Nutzungsschema 3 Detail Tatami 4 Altar 5 Shoji-Wandschirme 6 Mitgliedertafel 7 Katana

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2 Abb. 19 1 Muster Netzwerk 2 Ausrüstung Schüler

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Boxclub Integration durch Sport Seite 114 Seit ungefähr 10 Jahren befindet sich die Boxschule in präsenter Lage am Hansaring in Köln. Damals kaufte Mecit Besiroglu die heruntergekommenen Lagerhallen, die bis zu dem Zeitpunkt ein Treffpunkt vor allem in der Szene der Drogenabhängigen waren. Die Hallen befinden sich im Hohlraum des Tragwerks unter dem Gleiskörper. Ein Raum für Infrastruktur wird durch wenige Eingriffe zum Aufenthaltsraum. Das Eigelsteinviertel, in dem sich das Objekt befindet, besitzt einen hohen Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund. Die Schule ist in der Nachbarschaft bekannt, man erzählt sich hier viel über den türkischstämmigen Kölner, der seit ungefähr 40 Jahren am Rhein lebt. Etwa ein Drittel der Boxer im Club sind deutschstämmig, zwei Drittel besitzen einen Migrationshintergrund. Durch die zentrale Lage der Boxschule ist sie fußläufig für die Kinder und Jugendlichen des Viertels zu erreichen. Boxen ist keine kostspielige Sportart; sie ist für jedermann erschwinglich. Es zählt das Können und dieses wird durch eingeforderte Disziplin und die Einhaltung einfacher Regeln beim Boxen verstärkt. Die programmatische Integrationsabsicht des Vereinstitels »Integration durch Sport« wird auf mehreren Ebenen wirksam – Mitglieder unterschiedlicher Nationalitäten, Geschlechter, und sozialer Schichten sind Teil desselben Sportteams. Die raue und zutiefst städtische Erscheinung besitzt eine große Attraktivität quer durch verschiedene Milieus und fungiert als starkes, eine neue Gruppe definierendes, räumliches Merkmal. Mecit Besiroglu ist sich der Potentiale seiner Tätigkeit bewusst. Er hält das Training im Team für eine passende Maßnahme um Kontakte zu knüpfen und Anschluss zu finden und meint: »Sport ist das beste Mittel gegen Blödsinn.« Seite 115 Die Schwellensituation ist eine Besondere in der Boxschule am Hansaring. Nähert man sich der Boxschule, wird einem der Eingang erst spät deutlich. Eine hohe, schmale Stahltür mit einem zentral angebrachten, kleinen Aufkleber einer deutschen und türkischen Fahne liegt in der Ebene der Begrenzungswand der Bahnunterführung. Ein neongelbes Schild zeigt den Titel der Institution. Der Besucher tritt durch die schmale Stahltür ein und befindet sich in einem langen, schmalen Gang. Am Ende dieses Ganges befindet sich der direkte Eingang zur Halle. Licht scheint durch kleine Öffnungen in der linken Wand (Abb. 22). Der Überwindung dieser deutlichen Grenze und ausgedehnten Schwellensituation folgt der unvermittelte Eintritt in den zentralsten Raum der Einrichtung. Es eröffnet sich eine neue Welt. Die tonnenüberwölbte Halle hängt voll mit Boxsäcken, ein großer, zentral von oben beleuchteter Boxring befindet sich im Zentrum des Raumes. Die räumliche Schwellensituation macht den Übergang vom öffentlichen Raum der Stadt zum gemeinschaftlichen Raum des Boxclubs mit seinen spezifischen räumlichen Elementen, Regeln und Programm überdeutlich. Trotz der besonderen Eintrittssituation ist der Box Club kein geheimer Ort. Seine Existenz wird über Mundpropaganda verbreitet. Er ist in ganz Köln bekannt und beliebt. Seite 116 Die Raumabfolge im Box Club ist außergewöhnlich. Weder ein Foyer, noch die Umkleidekabinen trennen den Eingangsbereich vom zentralen Raum für den Sport. Unvermittelt betritt der Besucher den atmosphärisch dichtesten Raum.

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Der klar strukturierte Trainingsablauf steht der Choreografie des Ankommens entgegen, der Sportler bewegt sich nicht parallel zur Raumabfolge, sondern im Zickzack durch die Anlage. Der Trainingsablauf wird sowohl zeitlich, als auch räumlich in drei Phasen eingeteilt (siehe Schema). Eine Trainingseinheit dauert 1 1/2 Stunden und beginnt an unterschiedlichen Tagen der Woche zu verschiedenen Zeiten. Drei Phasen dauern jeweils eine halbe Stunde. Phase 1: Durch gezieltes Aufwärmen werden die Sportler auf das Haupttraining vorbereitet. Sie springen Seil oder trainieren an Geräten, wie dem Laufband. Schattenboxen schult die Bewegungen des Boxkampfes. Die verschiedenen Einheiten werden in kurzen Intervallen mit kurzen Pausen absolviert. Phase 2: Die Sportler boxen im Boxring, an den Boxsäcken oder werden individuell von dem Trainer trainiert. Die Intervalle sind kurz, die Trainingsintensität hoch. Die Einheiten betragen jeweils drei Minuten. Phase 3: Der Trainer steht zentral im Raum und leitet ein Krafttraining an, wie Sit-ups und Liegestützen.

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3 Abb. 21 1 Grundriss 2 Schnitt 1-1 3 Lageplan

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Abb. 22 1 Schema der Schwellensituation 2 Perspektive der Grenze 3 Perspektive der Schwelle 4 Der Innenbereich

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Abb. 23 1 Schema der drei Trainingsphasen, auf die Räume bezogen 2 Fokussierung auf einzelne Personen 3 Phase I: Vorbereitung und Aufwärmen 4 Phase II: Haupttraining. Boxen im Ring, an den Boxsäcken und individuelles Training 5 Phase III: Krafttraining und Abschluss. Situps, Liegestütze, etc.

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FC Vrbaš Seite 120 Der Fußballverein FC Vrbaš hat sein Vereinsheim zusammen mit dem DJK Siegfried Kalk in der Mehrheimer Heide in Köln. Die Entscheidung zur räumlichen Angliederung des FC Vrbaš an DJK Siegfried Kalk fiel in bei einem Spaziergang des Vorstandsvorsitzenden des FC Vrbaš (Herrn Petković) und einem zufällig anwesenden Mitglied des DJK Siegfried Kalk über die Mehrheimer Heide. Dem FC Vrbaš wurde die Mitnutzung des Vereinsheims und des Sportplatzes zugestanden. 1998 konnte er sich als offizieller Verein eintragen, weil er nun Teilhaber eines Sportplatzes war. Der Titel – FC Vrbaš – erinnert an den Heimatort des maßgeblichen finanziellen Unterstützers des Vereins in der serbischen Vojvodina. Die Mitglieder des Vereins stammen größtenteils aus Serbien. Das Grundstück in der Mehrheimer Heide wird vor allem mit dem Auto erreicht. Die vorgesehenen Parkplätze am Rand des Parks werden nicht genutzt, stattdessen wird am Straßenrand direkt am Sportplatz geparkt. Das Grundstück ist eingezäunt und durch ein großes Tor zu betreten. Das Vereinsheim liegt am Rand des Grundstücks und ist Teil des Begrenzungszauns. Das Grundstück besteht aus einer großzügigen, offenen Fläche umgeben von einem Park mit einem Fußballfeld und einem Vereinsheim bestehend aus zwei Baukörpern im Massivbau, welche Gemeinschaftsräume, Sanitäranlagen, Fernsehraum, Lager und Büro enthalten. Seite 121 Mit seinem großen Flächenangebot und dem Aneignungsangebot des DJK Siegfried Kalk wird das Vereinsheim für die Mitglieder des FC Vrbaš zu einem Ort, der auch für andere große gemeinschaftliche Veranstaltungen genutzt wird. Die bestehenden Räume sind zu klein, wichtige räumliche Elemente fehlen. Die Mitglieder des FC Vrbaš bauen an. Herr Petković ist gelernter Schlosser, alle Neubauten werden in Metall-Skelettbauweise errichtet. Sukzessive werden weitere Gemeinschaftsräume, mehr Sanitäranlagen, Kinderspielgeräte und überdachte Orte im Außenraum mit Grillanlagen errichtet. Bestehende Leerräume zwischen den Volumen des Bestands werden zuerst aufgefüllt, eine offene Grillstelle und ein Raum für einen Spanferkelgrill werden auf Abstand gesetzt, die nicht umschlossenen Bereiche dazwischen überdacht. Es entsteht eine lineare Struktur aus Außen- und Innenräumen mit einer kompakten Mittelzone, die bei Bedarf über die Fassade vollständig geöffnet werden kann. Mittlerweile hat die Anzahl und Größe der Festivitäten wieder abgenommen, der 1. Mai aber, wichtiger Feiertag in Serbien, wird nach wie vor mit bis zu 200 Menschen vereinsübergreifend gefeiert.

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Seite 123 Auffälligstes Merkmal der neuen baulichen Anlagen sind die Grills. Es gibt drei unterschiedliche Grills, die über die Anlage verteilt sind und jeweils einem überdachten Gemeinschaftsraum zugeordnet sind. Nicht nur der gemeinsame Verzehr von Nahrung, sondern auch die gemeinsame Zubereitung von Fleisch kann an den drei Orten auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen. Der kleine Schwenkgrill passt auch in den Innenraum und wird für kleine Anlässe gewählt. Der dreiteilige horizontale Grill mit Kaminaufbau ist in der Lage, große Mengen von Grillgut gleichzeitig zu garen. Auf dem dritten Grill können zwei Spanferkel gleichzeitig vertikal übereinander zubereitet werden. Das Drehen der Ferkel geschieht durch zwei Kurbeln aus Fahrradpedalen, die seitlich am Grill angebracht sind. Der Grill steht in einem eigens dafür errichteten Häuschen mit Kamin, das außer dem Grill nur eine Sitznische für die Grillbetreiber, in der Regel Männer, enthält. Pоштиљ, das Grillen, zeigt sich als differenzierte Kulturtechnik.

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5 Abb. 25 1 Lageplan 2 Lage in der Stadt 3 Eingangsschild 4 Grundriss 5 Aufsicht

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Abb. 26 Sukzessiver Anbau, isometrische Darstellung und Grundriss

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Abb. 27 1 Lage der Grillstellen in der Anlage 2 Spanferkelgrill 3 Schwenkgrill 4 Dreiteiliger Grill

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¿Cuándo ­llegare? Topographien des ­Ankommens Amalia Barboza

Me dicen el desaparecido que cuando llega ya se ha ido volando vengo, volando voy deprisa deprisa a rumbo perdido ¿Cuándo llegare? Man nennt mich den Verschwundenen, der, sobald er gekommen ist, schon wieder geht. Fliegend komme ich an, fliegend gehe ich schnell, schnell, auf verlorenem Kurs. ¿Wann werde ich ankommen? (Manu Chao »Desaparecido« /  »Verschwundener«)

Das Lied »Desaparecido« des Musikers Manu Chao, der aus einer in Paris lebenden spanischen Migrantenfamilie kommt, weist darauf hin, dass der Flüchtling unverortet und verschollen ist, aber mit dem klaren Ziel: Anzukommen. »¿Cuándo llegare…?«, »Wann werde ich ankommen…?« ist der begleitende Refrain von Menschen, die sich auf der Flucht befinden. Ein Zustand, der in dieser Hinsicht ein vorübergehender ist und der schnell, so lautet die Hoffnung, überwunden werden soll. In dem Lied von Manu Chao wird dieser Zustand aber nicht aufgelöst, als bliebe die Chance auf das Ankommen ein unerreichbares Ziel. Inwieweit können Menschen, die aus unterschiedlichen Ländern der Welt fliehen müssen, an einem anderen Ort ankommen und an diesem einen neuen Platz finden? Gibt es verschiedene Formen des Ankommens? Und inwieweit ermöglicht unsere moderne Gesellschaft die Diversität dieser verschiedenen Ankommens­ formen? Modelle des Ankommens Es gibt sicher unzählige Möglichkeiten, sich auf einen neuen Ort einzulassen, so dass es nicht möglich ist, sie alle aufzuzählen. In der klassischen ­Migrationsforschung wird idealtypisch zwischen Modellen der Assimilation und des Multikulturalismus unterschieden. Bei dieser Differenzierung geht man davon aus, dass es hauptsächlich zwei Möglichkeiten gibt. Im ersten Fall haben wir das Bild von einer Gesellschaft, die MigrantInnen aufnimmt, wenn diese in der Lage sind, sich komplett anzupassen. Dabei wird oft vorausgesetzt, dass die Aufnahmegesellschaft eine homogene und einheitliche Form hat, in die die Neuankömmlinge sich angliedern sollen. Der andere Fall präsentiert das Bild einer Gesellschaft, welche die Vielfalt aufnimmt, eine Vielfalt von unterschiedlichen Herkunftsorten, die nebeneinander mosaikartig zusammenlebt. Diese beiden Möglichkeiten sind nicht nur Idealtypen, die heuristisch wichtig für die Forschung sein können, es handelt sich bei beiden gleichzeitig auch um Wunschmodelle, die mit politischen Diskursen verknüpft

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sind, um normativ zu bestimmen, wie sich Flüchtlinge und MigrantInnen idealerweise an einem neuen Ort eingliedern sollen: entweder indem sie sich völlig assimilieren oder indem sie sich mit ihren Partikularitäten sichtbar und produktiv einbringen. Viele MigrationsforscherInnen weisen heute zu Recht darauf hin, dass es zwischen diesen beiden idealtypischen Varianten andere Formen des Ankommens gibt: Zum Beispiel die unterschiedlichen Möglichkeiten des Bewahrens und gleichzeitig des sich Anpassens und Assimilierens. Prozesse, die unter anderem mit neuen Begriffen wie Transkulturalität oder Transnationalität bezeichnet werden. Diese Prozesse machen darauf aufmerksam, dass durch Migrationsbewegungen eine wechselseitige Beeinflussung stattfindet, die nicht nur die NeubürgerInnen, sondern auch die Einheimischen betrifft, und dass Mehrfachzugehörigkeiten möglich sind. Der Migrationsforscher Erol Yildiz spricht zum Beispiel in seinem Buch »Die weltoffene Stadt« von Räumen, in denen Überschneidungen zwischen dem Heimatland und der neuen Heimat entstehen.1 Yildiz nennt diese Orte der dynamischen Übergänge, Transtopien. Es handelt sich nicht um utopische Orte, sondern um existierende Orte, im Sinne von Michel Foucaults Heterotopien, an denen die Möglichkeit der Vereinigung der Unterschiede gegeben ist.2 Diese Transtopien sind aber nicht nur real existierende Orte, sondern auch Wunschmodelle. Der Wunsch ist, wie Yildiz programmatisch formuliert, mit neuen Begriffen wie »Transtopien«, einen neuen Migrationsdiskurs zu etablieren, der in der Lage ist, das »Blickregime des Umgangs mit Migration«, das auf homogenisierendem und auf ethnischem Denken basiert, zu brechen.3 Man muss dabei aber berücksichtigen, dass auch das Modell der Transtopien sich als ein neues Blickregime etablieren könnte. Es ist deswegen wichtig, sich in der Forschung über mögliche Ankommensformen nicht nur zu einem Modell zu bekennen, sondern die Diversität an Modellen zu beachten sowie auch die Diversität der Diskurse (der Migrationsdiskurse), die in der Öffentlichkeit benutzt werden, um diese Prozesse zu beschreiben. Außer den Modellen der Assimilation, des Multikulturalismus und der Trans­topien gibt es sicher noch andere Möglichkeiten des Ankommens. Ein Modell, welches normalerweise als eine nicht gelungene Integration verstanden wird, ist das Modell des Ankommens, ohne eine Verankerung gefunden zu haben. Es ist die Möglichkeit, an einen Ort leiblich angekommen zu sein, sich aber trotzdem in einem 1

Erol Yildiz, Die weltoffene Stadt, Bielefeld 2013. Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt am Main 2005. 3 Erol Yildiz plädiert deswegen mit Bourdieu und Wacquant für eine »Konversion des Blicks« (Ebd., S. 10). Ähnliche Ansätze wie in dem Konzept »Transtopien« sind in vielen anderen Konzepten weitere AutorInnen zu finden, siehe z.B.: »Transnationale Räume« (Ludger Pries), »Transkulturelle Räume« (Wolfgang Welsch), »Transkulturalität als Praxis« (Robert Pütz), »Interkultur« (Mark Terkessidis) sowie auch »Methodologischer Kosmopolitismus« (Ulrich Beck). 2

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Gefühl des »Gleich-schon-wieder-Gehens« zu befinden. Nach diesem Modell haben wir es mit MigrantInnen zu tun, die das Gefühl, verschollen zu sein, wie Manu Chao singt, nicht loslässt. Diese Möglichkeit des Angekommenseins wird oft als ein Defizit in der Entwicklung einer Migrantenbiografie wahrgenommen oder als eine vorübergehende Etappe, die mit der Zeit überwunden wird. Dieses transitorische Ankommen lässt sich aber auch positiv auffassen. Und dies tat der Soziologe Georg Simmel, der dieses Modell in seiner Soziologie der Vergesellschaftungsformen als das Modell des Fremden analysierte. Der Fremde im Sinne Simmels ist die Person, die angekommen ist, die aber »die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat« und eine Art potenzielles Gehen in sich trägt.4 Eine Form des Ankommens, die, wie Simmel zeigte, viele positive Funktionen in der Geschichte der Menschheit ausgeübt hat und noch immer ausübt. Wir hätten somit vier mögliche Formen des Ankommens: die Assimilation, die Bewahrung der Herkunftsidentität, die Möglichkeit der Transtopien und die Möglichkeit des provisorischen Ankommens. Alle diese Formen des Ankommens, und bestimmt noch viele andere, können in Varianten in der Geschichte der Migration vorgefunden werden. Das Ankommen von europäischen Flüchtlingen Als die europäischen Flüchtlinge wegen des Nationalsozialismus nach Amerika auswanderten, suchten sie oft vergebens einen neuen Lebensort. Der Stadtforscher Mike Davis schildert in seinem Buch über Los Angeles in einem Kapitel mit dem Titel »Die Exilanten«, wie nach der Machtergreifung der Nazis diese nordamerikanische Stadt zu einem Exilort für mitteleuropäische Intellektuelle wurde.5 Die europäischen Exilanten lebten von den Ansässigen isoliert und fühlten sich in Los Angeles verloren. Die amerikanische Stadt wurde »als kulturelle Antithese«6 zu den europäischen Städten erlebt. Die EuropäerInnen fanden in den Straßen von Los Angeles keine Möglichkeit, sich heimisch zu fühlen. Amerika als »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, wie der Mythos Amerika von vielen MigrantInnen erträumt wurde, erwies sich, zumindest für diese EuropäerInnen, nicht als Realität. Trotzdem fanden sie einen Ort fernab des nationalsozialistischen Albtraums, auch wenn sie sich an diesem Ort nicht integrierten, und dieses auch nicht wollten. Burghart Schmidt erzählt in seinem Buch »Am Jenseits zu Heimat« von zwei Europäern, die in New York angekommen waren und durch Manhattan wanderten: 4

»Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.« In: Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 509. 5 Mike Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin / Göttingen 1994, S. 66 ff. 6 Ebd., S. 67.

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Ernst Bloch und Hanns Eisler.7 Er schildert eine interessante Anekdote: Bloch befand sich seit 1939 im amerikanischen Exil und weigerte sich, Englisch zu lernen. Eisler versuchte ihn zu überreden, indem er sagte, die Rede Hitlers über das Tausendjährige Reich sei sicher bloß eine Rede, falls sich nun aber vielleicht doch das Reich so lange hielte, dann müsse Bloch in Amerika bleiben und Englisch lernen. Bloch erwiderte aber, dass er in diesem Land nur mit Deutsch zurecht kommen wolle. Hans Eisler schlug eine Wette vor: ob Bloch sich in der Lage sähe, vom nächsten Passanten in Erfahrung bringen zu können, wo sich eine Bibliothek befände. Und in diesem Moment begegnete Bloch tatsächlich einem Passanten, der zufälligerweise Deutsch konnte. Bloch bestätigte damit seinem Freund, dass er in seinem Vorhaben, kein Englisch zu lernen, erfolgreich bleiben würde. Zehn Jahre danach kehrte Ernst Bloch nach Deutschland zurück. Im Exil und stets auf Deutsch schrieb er viele Texte, so unter anderem sein Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung«. Diese Anekdote zeigt, dass Ernst Bloch in New York einen Ort des Ankommens fand, der es ihm ermöglichte, in seiner eigenen Sprache kreativ und produktiv weiter zu arbeiten. In Anbetracht dieser Produktivität lässt sich sagen, dass dieser Ankommensort ein idealer Ort war, weil dieser die Existenz der Differenz und auch diesen schwebenden Zustand des Nicht-ankommen-wollens zuließ und in Produktivität umwandelte. Um diese Produktivität auszuüben, musste sich Bloch kein neues Heim aufbauen, sondern er trug die Sprache mit sich, ein bewegtes und tragendes Gut, gleich Melodien und Bewegungen gelernter Tänze, das ihm ermöglichte, weiterhin selbst im Exil in seiner Muttersprache tätig sein zu können. Es gab aber nicht nur diese Biografien. Andere Europäer suchten, im Unterschied zu Blochs klarer Verweigerung einer »Integration«, doch nach einem Neuanfang und einem neuen Lebensraum, der sich nach dem Albtraum von Verfolgung und der Katastrophenlandschaft in Europa wie ein Paradies ankündigte. Der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig war zuversichtlich, in der brasilianischen Stadt Petrópolis, angesiedelt hoch in den Bergen nördlich von Rio de Janeiro, einen neuen Lebensort zu finden. In seinem Buch mit dem Titel »Brasilien. Ein Land der Zukunft« beschreibt Zweig die Hoffnung, die er mit diesem Land verknüpft sah. Im Jahr 1942 nahm er sich zusammen mit seiner zweiten Frau, Charlotte Altmann, das Leben. In einem Abschiedsbrief teilte er mit, dass er »durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft« sei. Er dankte dem Land Brasilien für das Beherbergen. Ein Land, in dem er das Leben gern »vom Grunde aus neu aufgebaut« hätte, doch es bedürfe dies besonderer Kräfte, »um noch einmal völlig neu zu beginnen«.8 Die Entscheidung für einen Freitod entstand aus dem Bewusstsein, diesen neuen Lebensplatz nicht mehr produktiv ausfüllen zu können. Anderes geschah, nicht weit entfernt von Petrópolis, doch mehr als 100 Jahre zuvor: Im Jahr 1819 hatten viele europäische Familien aus der Schweizer Stadt Freiburg nach einem Ort gesucht, um sich als Gruppe anzusiedeln. Die brasilianische 7 Vgl. 8

Burghart Schmidt, Am Jenseits zu Heimat, Wien 1994, S. 227 ff. Siehe Abschiedsbrief (Petropolis 22. II 1942) in Wikisource: https://de.wikisource.org/wiki/Abschiedsbrief_Stefan_Zweigs (15. August 2016)

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Regierung stellte ihnen einen Landstrich in den Bergen zur Verfügung, dem die MigrantInnen im Jahr 1820 den Namen Nova Friburgo (Neu Freiburg) gaben. Durch diese Namensgebung sollte das verlassene Heimatland in ihre neue Heimat transportiert werden. Die ersten Bewohner dieser Siedlung waren damals 261 Familien, insgesamt 1.682 MigrantInnen. Danach kamen andere Migrantengruppen, hauptsächlich aus Deutschland, Italien, Portugal und Syrien, und die Kommune entwickelte sich zu einer Großstadt, behielt jedoch die schweizerische Prägung ihrer Gründung. Am Beispiel dieser Stadt und vieler anderer Städte in L ­ ateinamerika, die durch verschiedene Migrationswellen entstanden sind, lässt sich gut analysieren, wie Menschen aus unterschiedlichsten Orten der Welt einen neuen Lebensraum finden, dem sie sich einerseits anpassen und an welchem sie sowohl sich selbst als auch den Einheimischen transformieren, ohne die Lebensformen und Traditionen ihrer Herkunftsorte aufgeben zu müssen. Heute erleben wir durch die sogenannte »Flüchtlingskrise« wie Geflüchtete aus verschiedenen Ländern der Welt einen neuen Lebensort in Europa suchen. Die Grenzen Europas werden aber geschlossen mit dem Argument, so viele Menschen könne man nicht aufnehmen. Als sei Europa komplett überfüllt, als gäbe es in Europa keine leeren Räume. Immer mit dem Bewusstsein, dass es bald anders kommen kann und dann die EuropäerInnen gezwungen sein könnten, ihre Heimat zu verlassen, lohnt es sich heute, das Phänomen des Ankommens in den Städten Europas zu analysieren. Vielleicht erweist sich der Mythos Europa, so wie der einstige Mythos Amerika damals für viele Europäer, als ein Traum, der nicht den Erwartungen der Geflüchteten entspricht. Aber am Ende profitieren alle Städte von ihren Exilanten, selbst wenn diese nur verwirrt durch die Stadt wandern und bald zu ihren Heimatorten zurückkehren, wie es Mike Davis in seinem Porträt über die europäischen Exilanten von Los Angeles erzählt. Topogaphien der Diversität In Kanada, in den USA oder in den Ländern Lateinamerikas, die sich schon seit langem als Einwanderungsgesellschaften wahrnehmen, ist die Untersuchung der Topographien der Diversität ein verbreiteter Forschungsgegenstand. Nicht nur die Plätze und Stadtteile der Einwanderungsgruppen gehören zu einem wichtigen Topos der Forschung, sondern auch die Architekturen, welche aus den Herkunftsländern importiert werden, sind wichtige Forschungsdesiderate. In einem Buch mit dem Titel »America’s Architectural Roots. Ethnic Groups that Built America« wird im Format eines Bestellkataloges die architektonische Diversität der verschiedenen Gruppen, die sich in Nordamerika ansiedelten, abgebildet.9 Es handelt sich um Gruppen von MigrantInnen, die in der neuen Gesellschaft versuchten, Häuser zu errichten, so wie sie diese aus ihren Herkunftsländern kannten. Oft wurden alte traditionelle Bauweisen aus den Heimatländern mit neuen Techniken, welche die MigrantInnen erst in Nordamerika kennenlernten, 9

Dell Upton (hg.), America’s Architectural Roots. Ethnic Groups that Built America, Washington 1986.

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kombiniert. Es entstanden somit »transkulturelle« Siedlungen und Architekturen. Die Bautradition des Herkunftslandes wurde auch nicht bloß nachgebildet, sondern oft mehr nachempfunden und idealisiert. Der Herausgeber, Dell Upton, hat ExpertInnen gesucht, die 22 architektonische Beispiele dieser Diversität vorstellen und aufzeigen, welche unterschiedlichen Ankommensarchitekturen entstehen können, wenn keine Bauvorschriften die Möglichkeiten einengen. Die meisten der hier untersuchten, vernakularen Architekturen sind im ländlichen Raum entstanden, wo es genügend Platz gab, um sich frei zu entfalten. Bei den meisten Beispielen wird auch deutlich, dass alle Architekturen einer Wandlung unterworfen waren. Eine Transformation, die oft dahin führte, dass die Formen der Herkunftsorte immer weniger präsent waren und eine Übernahme amerikanischer Formen, so wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierten, immer deutlicher wurde. Edward A. Chappell analysiert in seinem Beitrag über die Architekturen der deutschen und schweizerischen Auswanderer, dass, umso mehr die äußeren Fassaden an ihren deutschen und schweizerischen Prägungen verloren hatten, sich desto mehr die bauliche Imagination der ursprünglichen Heimat in die inneren Räume verlagerte.10 Die Einrichtungen und Möbel wurden jetzt viel aufwendiger und reicher gestaltet und verziert, als man es noch von früher in Erinnerung hatte. Als müsste die Ästhetik der inneren Umwelt die äußerliche Anpassung kompensieren. Nicht nur in ländlichen und peripheren Orten entstanden Architekturen der Herkunftsorte, sondern auch die Stadt wurde als ein offener Raum begriffen, in dem die Welt sich in einem Ort versammelt. In seinem Buch »Delirious New York« erzählt Rem Koolhaas die Geschichte der Entstehung von Manhattan, in dem er den geschriebenen und nicht geschriebenen Manifesten einer Stadt der Verdichtung der Vielfalt nachspürt.11 In einer anonymen Zeichnung (Abb. 30) entdeckte er ein visuelles, programmatisches Manifest dieser Stadt. Es handelt sich hierbei um eine Skizze vom Inneren eines Hochhauses. In jeder Etage gibt es Platz für verschie10 11

Edward A. Chappell, »German and Swiss«, in: Dell Upton (hg.), Ebd., S. 72 f. Rem Koolhaas, Delirious New York. A Retroactive Manifesto for Manhattan, New York 1978.

Abb. 28 Umschlag des Buches: Dell Upton (Hg.), America’s Architectural Roots. Ethnic Groups that Built America, 1986.

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dene idyl­lische Heimaten. Als wäre es die Funktion des Hochhauses, die Vielfalt der Weltanschauungen aufzubewahren. Um diese Funktion der Stadt, im Sinne einer Verdichtung von Differenz zu verdeutlichen, ließ Koolhaas neue Zeichnungen anfertigen. Ein Bild zeigt die Stadt New York als eine Landschaft, in der sich in jedem Block die Pluralität von Stilen und damit gleichzeitig die gesamte Welt versammelt (Abb. 29). Als sei die Großstadt, und ihre moderne Hochhausarchitektur, der ideale Ort, um alle Formen des Ankommens zu ermöglichen.12 Von Außen wiederholen sich die funktionalen, modulartigen und gleichförmigen Fassaden, während sich im Inneren verschiedene Lebensformen und Topographien des Ankommens ausbreiten. In dem Buch »Delirious New York« wird deutlich, dass es bei der Erforschung von Topographien der Diversität und von Formen des Ankommens wichtig ist, nicht nur die »Realität« dieser Räume und Architekturen zu analysieren, sondern auch zu untersuchen, wie diese imaginiert werden und weiter imaginiert werden könnten.

Abb. 29 Rem Kohlhaas, Zoe Zenghelis: The City of the Captive Globe, 1972.

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Spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf die Türme des World Trade Centers ist deutlich geworden, dass diese Architektur auch anders wahr­genommen wird.

Abb. 30 Anonym: Theorem, Life Magazine Cartoon, 1909.

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Topographien des Provisorischen Um an einem Ort anzukommen, braucht man als Geflüchtete/r im Prinzip nicht viel. Mit nur einem Teppich ist man in der Lage, einen Ort zu markieren und sich diesen anzueignen. Als ich vor zehn Jahren in Dresden Interviews mit AsylantInnen durchführte, bat ich darum, die wenigen Sachen, die sie aus ihren Heimatländern mitgenommen hatten, sehen zu können. Oft waren unter diesen Teppiche. Eine Frau aus dem Libanon holte ihren mitgebrachten Teppich aus dem Schrank hervor, entrollte ihn, um mir das Abbild einer eingewebten Moschee aus ihrem Heimatland zu zeigen. Damit wurde mir bewusst, dass der Teppich nicht nur als Markierung in einem Raum, sondern auch als Bildträger für einen Ort, den man verlassen musste, eine wichtige Funktion erfüllt. Die Frau lebte in einem zentralen Stadtteil von Dresden, in einem Haus, in dem viele geflüchtete Familien beherbergt waren. Von außen war nicht erkennbar, dass hinter der Fassade Familien aus dem Libanon und aus dem ehemaligen Jugoslawien lebten. Nur im Inneren breiteten sich die Teppiche und andere Utensilien aus und mit diesen, Landschaften und Räume aus den Heimatländern. Michel Foucault erwähnt in seinem Vortrag Heterotopien auch den Teppich als einen heterotopischen Ort, der sich anderen etablierten Orten widersetzt.13 Er bezieht sich nicht auf den Teppich als Objekt und gleichzeitigen Bildträger der verlassenen Heimat, sondern er nimmt Bezug auf den orientalischen Teppich, der mit der Funktion des Fliegens ausgestattet ist. Als könnte man mit diesem Gegenstand nicht nur einen Raum markieren, sondern auch Räume überwinden und Menschen von einem Ort zu einem anderen transportieren. Der Teppich fungiert sowohl als Transportmittel als auch als Mobiliar des Ankommens. Wenn wir den Teppich als schnelle Markierung eines Ortes begreifen, wird deutlich, dass dieser Ort in sich das Provisorische enthält. Ein Ort, der sich schnell ausrollen und einrollen lässt. Ein Ort, an dem sich Kommen und Gehen vereinen, wie Simmel die Figur des Fremden kennzeichnete. Nicht nur MigrantInnen und Geflüchtete machen von dem Teppich als schnell aufrollende und provisorische Ortsmarkierung Gebrauch, auch den Europäern ist die Faszination des Teppichs nicht entgangen. Walter Benjamin verwies auf die Neigung des Bürgertums, einen Teppich immer schräg im Zimmer zu platzieren, um die eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Als könnte der Teppich und seine Platzierung den Eindruck vermitteln, dass man dem Raum seine 13 Vgl.

Michel Foucault, Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt am Main 2005, S. 15.

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eigene Individualität verliehen habe. Eine Individualität, die immer bereit ist, sich zu erneuern, indem der Teppich in eine andere Richtung gebracht wird. Der Teppich erlaubt sowohl den MigrantInnen als auch dem modernen Menschen, sich in einer Dynamik zwischen Gelöstheit von einer räumlichen Fixierung und der Möglichkeit einer Fixiertheit zu bewegen. Als wäre der Teppich eine Instanz, die als Bildträger sowohl die Vielfalt von Kulturen ermöglicht als auch die Vielfalt von individuellen Orientierungen. Es gibt noch viele andere Einrichtungen, die sowohl die Möglichkeit der Fixierung und gleichzeitig das Weiterwandern verkörpern. Die Fotografin und Kulturwissenschaftlerin Mimi Levy Lipis hat das Phänomen der Sukkah bei jüdischen MigrantInnen untersucht.14 Es handelt sich um eine Laubhütte aus provisorischen Materialien wie Ästen, Zweigen, Laub und Stroh, die in Erinnerung an die Zeit der Wüstenwanderung nach dem Auszug aus Ägypten auf Balkonen oder freien Plätzen gebaut wird. Diese Sukkahs werden einmal im Jahr errichtet, um das siebentägige Laubhüttenfest zu feiern. In dieser Zeit wird in der Sukkah auch gewohnt. Eine Zeit, in der das Gefühl des Provisorischen, Selbstgebauten, in einer sesshaften Umgebung inszeniert wird. Neben diesen mobilen Einrichtungen und provisorischen Architekturen finden wir im Haushalt von MigratInnen oft Objekte, welche das Weiterwandern symbolisieren. Ein Restaurantbesitzer, der in der Stadt Saarbrücken seit 20 Jahren lebt und aus der Türkei flüchten musste, zeigte mir während eines Interviews eine Sammlung von VW-Bus-Modellen. Viele Ecken seines Restaurants waren mit Teilen seiner Sammlung bestückt. Ein anderer Teil der Sammlung befand sich in seiner Wohnung. Im Gespräch erzählte er, dass er nicht in die Türkei einreisen darf, aber schon lange davon träumt, eine Reise mit einem VW-Bus dahin machen zu können. Eine Sammlung von VW-Bussen markiert an einem Ort die Potentialität des Weiterreisen-Könnens und schafft damit eine Form, die Unmöglichkeit dieses Reisevorhabens zu überwinden. 14

Mimi Levy Lipis, Home is anywhere. Jewish culture and the architecture of the Sukkah, Köln 2010.

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Topographien einer transportablen Heimat Die Psychoanalytiker Leo und Rebeca Grinberg beschreiben in ihrem Buch über »Psychoanalyse der Migration und des Exils«, dass bei vielen von den MigrantInnen, die sie als Patienten hatten, in der erste Phase des Ankommens nur beweg­ liches Mobiliar vorhanden war.15 Eine Einrichtung, die das schnelle Weiterwandern ermöglicht und sich für ein nomadisches Leben eignet. Erst nach einiger Zeit gelingt es einigen Patienten, sich feste Möbel zu kaufen. Möbel, die das Angekommen-Sein an einem Ort durch ihre feste Orts-Fixierung, Materialität und Schwere verkörpern. Als könnte diese stabile Einrichtung den Moment des »richtigen« Angekommen-Seins symbolisieren. Die Frage, die in dem Buch der Grinbergs nicht weiter verfolgt wird, ist die Frage nach der Art dieser »unbeweglichen« Topographien. Eine wichtige Funktion wird den Einrichtungsgegenständen aus der verlassenen Heimat zugeschrieben. In der »nichtmenschlichen Umwelt« finden die MigrantInnen Bestand und Dauer, weil man davon ausgeht, dass diese materiellen Dinge sich nicht ändern, während die Menschen durch die Migration einer erzwungenen Wandlung unterzogen werden.16 Viele MigrantInnen versuchen deswegen, verschiedene Objekte und Mobiliar aus ihren Herkunftsorten zu beschaffen. Oft werden Dinge mitgenommen, die nicht mehr funktionieren. Wichtig ist nur ein Teil der »nichtmenschlichen Umwelt« aus dem Herkunftsland intakt mitzunehmen. Dadurch wird es möglich, in einer anderen Gesellschaft anzukommen und sich gleichzeitig wie in der verlassenen Heimat einzurichten. Sigmund Freud, der 1938 nach London emigrieren musste, ließ sich sein gesamtes Mobiliar aus Wien bringen. Die Zeit, in der er auf dieses Mobiliar wartete, beschrieb er als ein Gefühl von Irrealität, als befände er sich wie in einem Traum17. Das Ankommen des Mobiliars aus seinem »Wiener Gefängnis«, wie er seine Wiener Wohnung nannte, sollte wieder ein Gefühl der Realität und der räumlichen Verankerung herstellen. Andere deutsch-jüdische MigrantInnen ergriffen damals auch die Chance, nicht nur Möbel und Haushalt aus der verlassenen Heimat, sondern auch ein gesamtes Haus zu transportieren. In dem Buch »Heimatcontainer« von Friedrich von ­Borries und Jens-Uwe Fischer wird erzählt, wie ein Unternehmen die Aktion eines transportablen Hauses, das sogenannte »Kupferhaus«, startete.18 Das Angebot wurde von vielen, die nach Israel fliehen mussten, wahrgenommen. Das Aussehen des Heimatcontainers war sehr vielfältig, was deutlich zeigt, dass die verlassene »Heimat«, Deutschland, unterschiedliche Formen je nach politischer Gesinnung oder Geschmack annahm. Das Kupferhaus wurde in verschiedenen Stilen angeboten, um »jede individuelle Anpassung an Stadt- und Landschaftsbild« 15 Vgl.

Leon Grinberg / Rebeca Grinberg, Psicoanálisis de la migración y del exilio, Madrid 1984, S. 92. 16 Vgl. Ebd., S. 98 f. 17 Zitiert in Leon Grinberg / Rebeca Grinberg, Ebd., S. 254. 18 Friedrich von Borries / Jens-Uwe Fischer, Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel, Frankfurt am Main 2009.

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zu ermöglichen.19 Am Anfang waren die verschiedenen Typen eher einem »ästhetischen Konservatismus« verpflichtet, bis dann Walter Gropius in das Projekt einstieg und neue Haustypen entwarf, die sich an den ästhetischen Idealen der Moderne orientierten. Als 1933 das Wirtschaftsministerium den »Auswanderern« nach Palästina die Mitnahme eines deutschen Kupferhauses als »Umzugsgut« gestattete, entwickelte das Unternehmen neue Modelle, die schon den Namen der neuen Heimat trugen: »Haifa«, »Jerusalem«, »Tel Aviv«, »Jaffa«, »Scharon«, »Libanon«.20 Als könnten bereits die Namen dieser transportablen Häuser das Ankommen in dem neuen Land erleichtern. Die Häuser landeten in den neuen Orten, als wären sie prädestinierte Ufos. Topographien für die Gäste: Die Willkommenskultur der Migration Das Bedürfnis sich vom Heimatort Dinge, Möbel und andere Einrichtungen mitbringen zu lassen, bleibt bei vielen MigrantInnen eine Konstante. Nicht nur für das Sich-Einrichten in den privaten Räumen, sondern auch, wenn MigrantInnen die Möglichkeit haben, öffentliche Räume am neuen Ankunftsort zu gestalten. Diese MigrantInnen übernehmen fast die Rolle eines Konsulats des eigenen Landes am Ankunftsort. Sie errichten kleine Nischen, in denen Essen, Lebensmittel oder andere Serviceleistungen aus ihren Herkunftsländern angeboten werden und schaffen eine Kulisse der Willkommenskultur für ihre Kunden. Oft wird an einer Topographie des verlassenen Ortes gearbeitet, die sich an dem Bild, wie dieses Land von seinen Gästen imaginiert wird, orientiert. In der Forschung wird in diesem Kontext von einer »Ethno-Mimikry«21 oder von einem »Boutiquen-Multikulturalismus«22 gesprochen, um damit die Künstlichkeit dieser so eingerichteten Räume zu betonen. Der kapitalistische Markt hat die Branche der Ethnizität auf jeden Fall entdeckt und vermarktet die verschiedensten Surrogate. Man sollte aber trotzdem nicht vergessen, dass die Erschaffung solcher ethnischer Surrogate nicht nur der Logik des Marktes unterworfen ist. Oft sind es die MigrantInnen selbst, die durch die eigene Mimikry-Produktion den Wunsch verwirklichen, die verlassene Heimat nicht nur für die Kunden, sondern auch für sich selbst materialisiert zu sehen. Es gibt in Deutschland viele Migrantengruppen, die sich stark durch eine Mimikry-Produktion des Herkunftslandes in der Einrichtung von Restaurants kennzeichnen. Bekannt sind unter anderen die bunten Installationen griechischer, persischer oder indischer Restaurants. Griechische Lokale wirken oft wie eine 19

Vgl. Ebd., S. 80. Vgl. Ebd., S. 121. 21 Manuela Bojadzijev, »Fremde Töpfe. Kulinarische Vorstellungen von Multikulturalismus«, in: Mark Terkessidis / Ruth Mayer (hg.), Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur, Innsbruck 1998, S. 303–312. Regina Römhild, »Fremdzuschreibungen – Selbstpositionierungen. Die Praxis der Ethnisierung im Alltag der Einwanderungsgesellschaft«, in: Brigitta Schmidt-Lauber (hg.), Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder, Berlin 2007, S. 157–178. 22 Stanley fish, »Boutique Multiculturalism«, In: Critical Inquiry, Jg. 23. Heft 2, 1997, S. 378–395. 20

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wilde Mischung aus Ikonen der griechischen Klassik und Wandmalereien mit mediterranen Landschaften. In einer Kleinstadt in den neuen Bundesländern, die nach der Wende für den Tourismus saniert wurde, dann aber so viele Bewohner verlor, dass sie fast wie eine verlassene Filmkulisse anmutet, entdeckte ich ein griechisches Restaurant, versteckt auf dem Dach eines fast leerstehenden Shoppingcenters. Der Besitzer erzählte, dass er vor 15 Jahren in die Stadt gekommen war und hier dieses Restaurant aufbaute. Er wurde gut aufgenommen. Sein Restaurant etablierte sich zu einem beliebten Ort für Einheimische, die sich auf der Terrasse des Shopping­ centers eine Auszeit gönnten. Die ökonomische Situation wurde aber für die Stadt und dadurch ebenso für ihn zunehmend immer schwieriger, da die Arbeitslosigkeit viele der Bewohner zwang, in den Westen abzuwandern. Inzwischen hat er kaum noch Gäste, muss aber in der Gegend bleiben, weil er im Ort eine Familie gegründet hat. Seine kleine griechische Oase bleibt häufig leer, so tot wie die gesamte Stadt-Kulisse, und funktioniert nur manchmal noch als eine von wenigen Lokalitäten, in der die in der Stadt verbliebenen Bewohner essen gehen können. Viele der Dinge, die an den überfüllten Wänden zu sehen sind, hat er aus Griechenland geholt. Andere Elemente hat er konstruieren lassen oder selbst gebaut, mit Materialien aus Baumärkten oder der Umgebung. An einer Wand, die mediterran in warmen Tönen bemalt ist, hat er eine persönliche Ecke mit Fotos eingerichtet, die seine Familie, Freunde und auch Bilder zeigen, von der Zeit, als es im Restaurant noch gut lief. Motive von dem, was ihn an diesem Ort noch hält und ihn nicht weiterziehen lässt. In einer ökonomisch besseren Situation befindet sich der Besitzer eines indonesischen Restaurants in Saarbrücken. Auch er lebt schon seit Jahren in der Stadt und hatte lange in der Gastronomie gearbeitet, bis er sich vor vier Jahren dazu entschied, allein sein eigenes Restaurant zu eröffnen. Ihm ist es vor allem wichtig, die indonesische Küche in Deutschland bekannter zu machen. Alle Gerichte werden so wie in Indonesien zubereitet und serviert. Zudem hat er bei der Gestaltung des Lokals darauf geachtet, ein Ambiente zu schaffen, in dem sich der Gast fühlt wie auf Bali. In einigen Ecken kann man auf dem Boden sitzen, wie es in Bali Tradition ist. Überall sind Skulpturen, Teppiche und Bilder, die er in Indonesien gekauft hat oder dort herstellen ließ. Auch das Restaurantschild hat er sich extra in einem Künstlerort in Bali anfertigen lassen. Im Keller lagert eine umfangreiche Sammlung an indonesischen Requisiten, mit denen er auf Straßenfesten seine Stände schmückt: Puppen, Schirme, Riesendrachen, Fahnen, Skulpturen, Spiegel... Sein Ziel ist, in anderen deutschen Städten weitere indonesische Restaurants zu eröffnen. Als könnte er seine Requisiten ausbreiten, um neue Verankerungen in Europa zu erzielen.23 Hanna Arendt wies in ihrem Buch »Vita activa oder Vom tätigen Leben« darauf hin, dass die Kraft des Neuankömmlings genau darin besteht, die Fähigkeit 23

Zum Begriff »Verankerung« siehe Hartmut Rosa, »Heimat im Zeitalter der Globalisierung«, in: Klaus Giel / Otto-Peter Obermeier / Siegfried Reusch (hg.), Heimat. In: der blaue reiter – Journal für Philosophie. Ausgabe 23, S. 13–18.

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des Neubeginns zu haben. Eine Art »Natalität«, ein Neubeginn, der sich im tätigen Leben, im Arbeiten, Herstellen und Handeln äußert. Das Herstellen einer künst­ lichen Welt ist das, was Neuankömmlingen überall in der Welt das Gefühl gibt, »Bestand und Halt« ihrem flüchtligen Dasein entgegenstellen zu können.24 Anhand dieser beiden geschilderten Beispiele von Restaurantbesitzern wird deutlich, dass dieser Drang nach dem Erzeugen einer künstlichen Umwelt nach dem Vorbild des Herkunftslandes, nicht nur zum eigenen Halt und Bestand, sondern auch für den Halt und Bestand der Anderen, der Gäste, existiert. Wie wir aus einem Punkt eine breite Wiese zaubern können ... In einer Welt, in der wir alle »in einem Punkt« leben mussten, wie der italienische Schriftsteller Italo Calvino für seinen Protagonisten in dem Buch Cosmicomics imaginierte, wären wir nicht in der Lage uns zu vertragen.25 Wir würden keinen privaten Raum haben können, im Prinzip auch keinen Raum, um uns nicht gegenseitig auf die Nerven gehen zu können. Calvino ließ in dieser imaginierten Zeit, in der die Menschen »in einem Punkt« lebten, alle möglichen sozialen Konflikte abspielen. Er erzählt auch von den »Zugereisten«, von denen behauptet wurde, sie seien später gekommen. Sie machten sich dadurch erkennbar, dass sie kinderreich waren und eine Leine »quer durch den Punkt« spannen wollten, um ihre Wäsche aufzuhängen. Die Situation in dem Punkt wurde immer unerträglicher, bis dann die Frau Ph(i)Nko, eine Frau, die alle liebten, kam und sagte: »Kinder, wenn ich ein bisschen Platz hätte, wie gern würde ich euch jetzt Nudeln kochen!«. Im selben Augenblick, in dem sie ihren Wunsch äußerte, fingen alle Bewohner des Punktes an, an den Platz zu denken, der für die Verwirklichung ihres Wunsches nötig wäre: »Im selben Augenblick dachten wir alle an den Platz, den ihre runden Arme einnehmen würden, wenn sie sich vor- und zurückbewegten mit dem Nudelholz auf dem Teig (...); wir dachten an den Raum, den das Mehl einnehmen würde, und das Korn zur Erzeugung des Mehls, und die Felder zum Anbau des Korns, und die Berge, aus denen das Wasser zur Bewässerung der Felder kommen würde (...) ... Und in derselben Zeit, in der wir ihn dachten, bildete sich dieser Raum unaufhaltsam (...), expandierte der Punkt, der sie und alles enthielt, explodierte in einem Strahlenkranz mit der Weite von Lichtjahren ...«26 So erzählt Calvino die Geschichte des Big Bang und der Entstehung der Welt: Der Wunsch, für alle einen Teller Nudeln zu machen, brachte die Wälder, das Meer und den nötigen Raum hervor, um besser zusammenleben zu können. In der aktuellen Situation, in der wir uns befinden, in welcher täglich Tausende Flüchtlinge nach Europa kommen und Grenzen zugemacht werden, wird der Eindruck erweckt, als gäbe es in Europa gar keinen Platz mehr, als würden wir uns alle »in einem Punkt« befinden. In so einer Situation ist es notwendig, von Italo Calvinos Buch zu lernen und sich eine Konzeption der Materie und des 24 Vgl.

Hanna Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Frankfurt am Main 1967, S. 18. Italo Calvino, Alle Cosmicomics, Frankfurt am Main 2015. 26 Ebd., S. 206 f. 25

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Raums anzueignen, welche diesen nicht als statisch und geschlossen versteht, sondern als »dehnbar« und »modellierbar«. Eine Materie, die wie die Protagonisten von Italo Calvino berichten, zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlich physikalischen Bedingungen, je nach existierenden Bau- und Rohstoffen, verschiedene Möglichkeiten des Ankommens und Weitergehens zuließ. Die Ausdehnungsmöglichkeiten der Materie und die Vielfalt der Topographien des Ankommens werden sich bestimmt nicht aufhalten lassen, auch wenn künstlich nationale Grenzen gezogen werden. Ziel meines Textes war es, in einem kurzen Umriss, mögliche Räume des Ankommens zu skizzieren. Dieses Forschungsfeld ist, wie Italo Calvino andeutet, unendlich. Man kann versuchen einige Modelle des Ankommens hervorzuheben. Diese Modelle weisen auf idealtypische Möglichkeiten hin und geben Einblick in die Realität des Phänomens, sowie auch in die Diskurse, die sich in der Migrationsforschung etablieren. Einige Modelle haben bis jetzt das Blickregime der Migrationsforschung besetzt, wie Erol Yildiz zu Recht bemerkt. Andere Modelle finden keine Beachtung oder werden als Etappen im Prozess einer »gelungenen« Integration betrachtet. Statt ein Modell des Ankommens zu statuieren, das uns als Forscher­ Innen geeigneter vorkommt, um die Integration an einem Ort abzubilden, finde ich es wichtiger zu versuchen, sich mit allen Modellen zu beschäftigen und den Standpunkt des eigenen Modells in die Reflexion miteinzubeziehen.27 Ich plädiere auch dafür, dass nicht nur die existierenden Topographien des Ankommens, so wie diese sich in der Realität einrichten, untersucht werden, sondern auch parallel wie diese imaginiert werden. Einerseits, weil die Modelle, welche in der Wissenschaft benutzt werden, die Vorstellungen verraten, wie die WissenschaftlerInnen sich eine gelungene Integration ausmalen. Andererseits, weil auch die Formen des Ankommens mit Vorstellungen, Imaginationen und Wünschen der Ankommenden verknüpft sind. Auch wenn diese Vorstellungen sich oft als Chimären und Trugbilder erweisen, die nicht der Realität des Ankommenswunsches entsprachen. Nicht zuletzt finde ich es wichtig, dass die Untersuchung der Topographien des Ankommens sich nicht nur auf die »Fremden«, die »bei uns« ankommen, beschränkt, sondern auch, dass das Ankommen von »uns« EuropäerInnen, die irgendwann auch als Fremde an unterschiedlichen Orten der Welt ankamen, in die Forschung miteinbezogen wird. Dadurch wird die Trennung zwischen »wir« und »den Fremden« schnell relativiert. Wir alle, wandernde und tätige Menschen, Neuankömmlinge, waren und sind auf der Suche nach einem neuen Ort, um uns anzusiedeln. Auch wenn das Ankommen ein unerfüllter Wunsch bleibt, wie in Manu Chaos Lied. 27

Über das Programm einer reflexiven Wende in der Migrationsforschung siehe: Heike Drotbohm / Boris Nieswand (hg.), Kultur, Gesellschaft, Migration. Die reflexive Wende in der Migrationsforschung, Wiesbaden 2014. Zu einer Wissenssoziologie der Selbstreflexion in der Wissenschaft siehe: Amalia Barboza, Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims, Konstanz 2005, S. 207–239.

ANKUNFTSQUARTIER STEFANIE EBERDING

Ankunfts­ quartier

I. Wie kann man Ankommen gestalten? Die Aufgaben, vor denen sich Europa und die europäischen Staaten angesichts der sogenannten »Flüchtlingskrise« sehen, bestehen nicht seit gestern und werden mittel- und langfristig die politischen und gesellschaftlichen Debatten prägen und bestimmen. Was zu tun ist angesichts der zahlreichen Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – in die relativ sichere und wohlhabende Region Europa flüchten, um sowohl den Ankommenden ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen als auch den sozialen Frieden in Europa / Deutschland nicht zu gefährden, ist ein Feld offener Fragen und bereitet Politikern, Verwaltungsbeamten, Menschen aller Berufe und Schichten Kopfzerbrechen (um es harmlos zu formulieren). Dort, wo es darum geht, wie die Ankommenden untergebracht werden, wie der zu Verfügung stehende Raum einerseits optimal genutzt, andererseits den besonderen Bedürfnissen von Fliehenden Rechnung getragen werden kann, sind ­Architekten gefragt. Dominiert wird die Unterbringung bislang von Behelfsbauten, Provisorien, die eher auf Verwahrung als auf mittel- und langfristige Lebensperspektiven zielen. Mehr und mehr wird spürbar, dass die bestehenden Lösungen selbst neue Probleme erzeugen, dass die Unterbringung in Turnhallen, leerstehenden Hotelgebäuden und ähnlichen Behelfsunterkünften Ghettoisierung und Verrohung nach sich ziehen und damit auch bestehende Vorurteile gegen Migranten, insbesondere aus der muslimischen Welt, scheinbar bestätigen. Sichtbar wird auch, dass der jetzt schon bestehende Bedarf, nicht zu reden von dem noch zu Erwartenden, nicht ohne bauliche Lösungen zu bewältigen sein wird.

Stefanie ­Eberding

2014 bildete sich eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Akteuren der htw saar, der SAS Schule für Architektur Saar, dem S_A_R Projektbüro der HBKsaar, dem Roma Büro Freiburg e.V. und der Universität des Saarlandes, die sich dieser Problematik stellt. Die interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppe brachte Vertreter der Bildenden Kunst, der Architektur, Aktivisten und Wissenschaftler zusammen. Auf dem im Mai 2015 veranstalteten Symposion »Ankommen! Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft« standen die Fragen im Mittelpunkt, welche Rolle die gesellschaftliche Verfasstheit in der aktuellen Fluchtdebatte spielt, welche Rolle wiederum Bildungs- und Kultureinrichtungen spielen, wenn es um die Richtung gesellschaftlicher Veränderungen geht; wer in der Lage ist, die gestalterischen Mittel in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zur Verbesserung der Zustände einzusetzen – und wie sich gemeinsames Handeln in solcher Perspektive gestalten könnte. Utopisches Denken ist in einem solchen Zusammenhang unabdingbar, doch wie sind Utopien an die Realität rückzubinden, wie in Handlung zu übersetzen?

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Im Kontext dieser Fragestellungen entstand im Sommersemester 2015 ein Projekt an der htw saar, an dem neun Architekturstudierende teilnahmen. Die Studierenden sollten architektonische und städtebauliche Konzepte für »Ankunftsquartiere« zur Aufnahme und Einbindung von Geflüchteten erarbeiten. Die Entwürfe sollten sich auf ein reales Areal in Freiburg beziehen, ein Grundstück in städtischem Besitz an der Bissierstraße, das im Moment als Parkplatz für Wohnmobile dient. Den eigentlichen Entwurfsarbeiten der Studierenden ging eine intensive Rechercheund Analysephase voran. Als Einstieg gingen die Studierenden den Fragen nach, wie Asylsuchende ihre Ankunft in Deutschland erleben, wie wir diese Menschen wahrnehmen und wie wir sie aufnehmen. Im Fokus stand der Prozess des Ankommens. Die Studierenden nahmen dafür Kontakt zu Personen auf, die gerade in Deutschland Asyl suchen oder Menschen, die den Prozess des Ankommens unterstützen (Asylbewerber, Roma, Integrationsbeauftragte etc.). In Gesprächen und Interviews setzten sie sich mit den Problemen, Konflikten und Potentialen des vermeintlichen »culture-clashs« auseinander. Parallel dazu begann dann die Analyse­ phase, in der sowohl das Freiburger Umfeld beleuchtet wurde, wie die Angebote für Ankommende und deren Bedürfnisse erfasst wurden. Besichtigungen und Gespräche vor Ort boten vielschichtige Hinweise und Erkenntnisse. Bei der Integration bzw. Inklusion von Migranten ist die Unterstützung im Ankommen und das sich Zurechtfinden unabdingbar. Hierbei stehen sprachliche, kulturelle und politische Barrieren im Vordergrund, die selbstbestimmtes Handeln und vor allem der Möglichkeit zu Arbeiten im Wege stehen. Was gibt es für Angebote, um den Menschen bei der Lösung ihrer Probleme behilflich zu sein? Auf Basis der ersten Übung und den Kenntnissen aus Freiburg wurden nun Szenarien für die Ankommenden entwickelt. Aufgabe war es ein bezeichnendes Kernthema zu finden, um darauf aufbauend den Entwurf und die Planung eines Ankunftsquartiers im städtischen Kontext der Stadt Freiburg im Breisgau anzufertigen. Bedeutsamer Teil der Entwurfsaufgabe war es, eine Kommunikationsplattform jenseits einer reinen Wohnunterbringung zu schaffen. Gefordert war eine hybride Gebäudestruktur, die sowohl Wohnfunktionen, Kommunikationsmöglichkeiten und Betätigungsfelder für interne und externe Nutzer bietet. Wichtig war es, einen Ort für die Ankommenden innerhalb von Freiburg zu schaffen, in welchem die neu zu entwickelnde Typologie eines Ankunftsquartiers eingefügt und integriert wird und das Quartier mitprägt. Ausgehend von der Freiburger Situation wurden unterschiedliche Formen des Ankunftsquartiers generiert, die ebenso als Modellsituation für andere Orte verhandelt werden können. Die dabei entstandenen studentischen Arbeiten zeichnen sich durch vielfältige Ansätze aus, die je unterschiedliche Aspekte der Situation von Flüchtlingen in den Fokus nehmen. Jonas Niewöhner leitet seinen Entwurf »ski³« von den drei Stadien der Traumatherapie her: Der Dreischritt von Stabilisierung, Konfrontation und Integration wird ihm zum Strukturmodell für ein Entwurfskonzept, in dessen Außen- und Innenräumen diese Stadien durchlebt werden können. Carla Mörgens Entwurf »Ankunftsquartier« (S. 144 f.) sieht als zentrales Gestaltungselement eine Art Regalsystem vor, das flexibel in der Geschossigkeit, Wohnmodule aufnehmen kann und so unterschiedlichem Platzbedarf gerecht werden kann. Sie

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geht dabei vom Begriff des »Schwellenraumes« aus – die Schaffung von Räumen, die Übergang ermöglichen, stand im Zentrum. Lukas Tilmann Wirbel sieht im Mittelpunkt seines Entwurfs »stageX« einen flexibel bespielbaren Theatersaal, der als Kreativraum einen Ort der Öffentlichkeit für die Gemeinschaft der Ankommenden darstellt. Miriam Werle untersucht für ihr Konzept die transitorischen Räume, die sowohl Flüchtende als auch Geschäftsreisende durchlaufen müssen, arbeitet Parallelen und Differenzen dieser zwei Arten des »Reisens« heraus. Unter dem Titel »Connecting Quarters« denkt Katarzyna Rogala in ihrem Entwurf (S. 140 f.) an die bauliche und funktionale Verschränkung mit umliegenden Wohnquartieren. Bei der Recherche in bestehenden Flüchtlingsunterkünften geraten ihr vor allem die hygienischen Bedingungen in den Blick, ein Kamm eines Bewohners wird ihr zum Ausgangspunkt des Entwurfs. Der Kamm als eines der ältesten menschlichen Instrumente bringt Ordnung in das Chaos, wird für Rogala in dieser Funktion sowohl Leitmetapher als auch Formvorbild: mit mehreren »Zinken« ragt ihr Ankunftsquartier in die Struktur der umliegenden Bebauung und greift somit in die vorhandene Urbanität ein. In »Flexiblen Start-Ups« sieht Adelina Borisov eine Chance zur Integration der Flüchtlinge. Standardisierte Boxen werden zweigeschossig aufgestapelt, wodurch eine enge Verknüpfung zwischen wirtschaftlicher Tätigkeit in der unteren Ebene und Wohnmöglichkeiten in der zweiten Ebene entstehen. Dabei entsteht im Ankunftsquartier idealerweise eine Art Dienstleistungszentrum, welches für die Bewohner des Umfelds Öffnungen erzeugt. Mehtap Ziay orientiert sich an den »Wohnhöfen« (S. 142 f.) der traditionellen syrischen Architektur, um ein Ineinander von privatem und (halböffentlichem) Gemeinschaftsraum zu schaffen. Flüchtlinge und Studenten leben gemeinsam in kleinen Baueinheiten, die jeweils 15–20 Bewohner um einen allen zugänglichen Innenhof gruppieren. Ausgehend von Vilem Flussers Kommunikationstheorie entwirft ­AnnaMaria Gard ein Modell der nachhaltigen gegenseitigen »Gewöhnung« von Flüchtlingen und schon Ansässigen, ausgeführt am Beispiel eines Landkreises im Saarland (S. 146 f.). Gards Modell sieht eine Strukturierung über eine zentrale Anlaufund Informationsstelle, und engmaschig über die Region verteilten »Satelliten«, die ortsnah Unterbringung und Beschäftigung ermöglichen. Dabei sieht dieses Modell explizit auch die Nutzung vorhandener Bebauung vor. Esther Heuser entwirft ein Modulhaus für Flüchtlinge, das schnell aus Europaletten und wenigen im Baumarkt erhältlichen Zusatzmaterialien aufgebaut werden kann und so eine äußerst flexible, auch von ungelernten Händen zu errichtende Unterbringungslösung darstellt. Das Modulhaus kann auf verschiedenen Gründungen erbaut werden und fügt sich daher unkompliziert in unterschiedlichste Gegebenheiten ein. II. Wie kann man Fluchtgeschichten erzählen? Wir alle haben, spätestens seit im Jahre 2015 die humanitäre Katastrophe, die unter dem Schlagwort »Flüchtlingskrise« Medien, Alltagsdebatten, … dominiert, offenbar wurde, zahlreiche Geschichten von Flucht und Vertreibung im Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Verzweiflung gehört. Unter Lebensgefahr begeben sich Hunderttausende auf eine Reise, die mitunter Monate dauert und von der ­niemand zu Beginn sagen kann, ob sie je ans Ziel führt. In der schieren Zahl derer,

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Abb. 34 Grundriss EG Ankunftsquartier

141 Abb. 35 rechts Städtebau und Verzahnung

Verzahnung

Abb. 36 rechts Kamm und Verzahnung

Abb. 33 oben Persönliche Gegenstände

»Connecting Quarters« Katarzyna Rogala Bei den Recherchen in bestehenden Flüchtlingsunterkünften geraten vor allem die hygienischen Bedingungen in das Blickfeld, der Kamm eines Bewohners wird der Ausgangspunkt des Entwurfs. Der Kamm als eines der ältesten menschlichen Instrumente bringt Ordnung in das Chaos und wird in dieser Funktion Leitmetapher. Die Aufgaben, wie das Verzahnen, die Neuordnung, das Durchdringen, das Ineinandergreifen oder die Kontrolle, wurden als Motiv übertragen.

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Abb. 37 Hofhaustypologie Siedlung Damaskus

Zentraler Mittelpunkt

Zentraler Gemeinschafts­ bereich

Erschließungs­ fläche

143 »Wohnhöfe« Mehtap Ziay Die Hofhaustypologien der traditionellen syrischen Architektur stehen Pate für diesen Entwurf. Flüchtlinge und Studenten leben gemeinsam in kleinen Baueinheiten, die jeweils 15–20 Bewohner um einen allen zugäng­ lichen Innenhof gruppieren. Die horizontale Erschließung und die Abstu­ fungen vom öffentlichen in den privaten Raum bietet Potential und schafft fließende Übergänge. Besonders hierbei ist die Priorisierung und Aus­ formung des Weges. In den dargestellten Piktogrammen der Grundrisse sind die unterschiedli­ chen Größen der privaten Wohnbereiche, die halböffentlichen Gemeinschafts­bereiche von Hof und Küchenzonen, die öffentlichen Bereiche der Verwaltung und die Erschließungszonen farblich abgestuft.

Abb. 38 Modell

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Abb. 39 links Anzahl Bewohner je Modul

Abb. 40 links Regalsystem

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Abb. 42 oben Explosions­ zeichnung Wohneinheit

Abb. 41 links Modell

»Ankunftsquartier Freiburg« Carla Mörgen Als zentrales Gestaltungselement für diesen Entwurf ist eine Art Regalsystem vorgesehen, das flexibel in der Geschossigkeit, Wohnmodule aufnehmen kann und so unterschiedlichem Platzbedarf gerecht wird. Der Begriff des Schwellenraums ist Leitmotiv und im Fokus stand das Ineinandergrei­ fen von Räumen, welche somit Übergänge und Zwischenzonen entstehen lassen.

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Einheimischer Gewohntes Umfeld Flüchtling

Einheimischer in seinem gewohnten Umfeld

Platzierung der Flüchtlinge in dem gewohnten Umfeld

Kontrastieren

Harmonisieren

»Gewöhnung« Anna-Maria Gard Der Ansatz besteht darin, die Fremdheit durch Gewöhnung zu minimieren. Die Flüchtlinge werden in den Aktionsraum der einheimischen Bevölkerung eingebunden, sodass eine Gewöhnung stattfinden kann. Die folgende Studie fokussiert auf das Saarland.

Positionierung der ­Flüchtlinge ­zwischen dem »gewohnt ­gewordenen« im Aktionsraum der Ankunfts­gesellschaft

Integration durch Kombination aus ­Flüchtlingen und dem »gewohnt­ ­gewordenen« der Ankunftsgesellschaft

St. Wendel

Momentane Situation: Flüchtlinge werden auf die ­Gemeinden verteilt

Entwicklung eines »Zeitraums« mit »Satelli­ ten«, um einen ­Aktionsraum zu etablieren und die Gewöhnung zu fördern

5km-Radius

Standort Freie Stellen Ausbildungsplätze

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die nach Deutschland oder in andere Länder des sogenannten »Westens« kommen, spiegelt sich schon das Dilemma: Hunderttausende Geschichten, jede ein individuelles Schicksal, und doch gleichen sie sich in vielen Punkten. Als Beispiel mag ein namenloser Afghane dienen, der als 15-Jähriger nach Deutschland gekommen ist. Sein Weg führte ihn und seinen Bruder zunächst nach Pakistan, von dort mit dem Jeep weiter nach Iran. Er verliert seinen Bruder, glaubt er sei tot. In einem LKW-Container, zusammengepfercht mit 80 weiteren Menschen, geht es weiter über Kurdistan in die Türkei. Im Container ist es stickend heiß. Viele spucken Blut, rufen ihre Familien an, um sich zu verabschieden, in der Gewissheit, bald sterben zu müssen. Wer die 13 Stunden Fahrt überlebt, bekommt bei der Ankunft vom Schlepper ein Stück Wassermelone und Brot. Der weitere Weg führt sie zu Fuß durch die Türkei in Richtung Griechenland, drei Tage und Nächte ohne Essen und Schlaf, alle paar Stunden ein Schluck Wasser. Anschließend drei Monate lang warten in Griechenland auf ein Boot, das ihn weiter in Richtung Mitteleuropa bringt. Auf der Überfahrt wieder Lebensgefahr. Die italienische Küstenpolizei hilft den Flüchtenden nicht, erst als diese aus eigener Kraft an Land

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gehen, nimmt man sich ihrer an. Als Schwarzfahrer gelangt er mit dem Zug über Frankreich nach Deutschland, nach Saarbrücken. Dort kauft er sich als Erstes einen Döner. Vom Ankommen her gedacht: Genau die scheinbar banale Freiheit, sich etwas zu kaufen, über einen Moment selbst zu bestimmen, in einem unaufgeregten Sinn sein eigener Herr zu sein, erzählt etwas über das Ankommen, über das Ende der Flucht. Die Sehnsucht, der Drang nach selbstbestimmtem Leben, ist ein Hauptantrieb zur Flucht – umso erschütternder muss es für einen Flüchtling sein, hier angekommen gleich zum Objekt einer großen Verschiebe- und Verwahrbürokratie gemacht zu werden. Was wäre wenn – Räume der Möglichkeiten. Architektur ist immer auch ein Versuchsaufbau, genauer eine These über Raumnutzung, über Gestaltung eines Terrains, die sich, in die Welt gesetzt, an der tatsächlichen Nutzung über die Zeit bewähren, sich verändern, neu belebt und gedacht werden muss. Was können Entwürfe von der Art, wie sie an der htw saar gestaltet wurden, leisten? Im Folgenden werden einige Entwürfe in Gedanken belebt – wir Abb. 43 Wanderley Viera bewegen uns ab jetzt im Bereich des Möglivor dem chen, der Fiktion, mehr oder weniger nah am Modul­haus für Vorhandenen. Was kann aus den Entwürfen Flüchtlinge werden, welche Möglichkeiten des Belebtwerdens bieten sie, wie kann mit und in ihnen Integration gelebt werden, welche Gesellschaft kann in und an ihnen wachsen? Friede den Hütten Wir treffen Wanderley Viera, einen brasilianischen Migranten, als er gerade mit seinem Morgenkaffee vor die Haustür tritt. Hier, inmitten alter Industrieanlagen, auf dem Areal der historischen Völklinger Hütte hat er überwintert. Sein Zuhause war ein kleines Holzhäuschen, zusammengebaut aus Europaletten, OSB-Platten und Pappe als Außenverkleidung. (Abb. 43) Für Monate war das erste, worauf sein Blick morgens fiel, die rote Backsteinmauer des historischen Industrieareals im Saarland, in langen Spaziergängen erkundete er die denkmalgeschützte Anlage. Nun räumt er seine Habseligkeiten, die geschenkten Möbel, seine Arbeitsmaterialien etc. aus: Der erste Umzug steht an. Nach dem Test des Prototyps wird das Haus wieder in seine Bestand-

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teile zerlegt, was aufgrund der modularen Bauweise keine große Schwierigkeit darstellt. Das Konzept sieht eine Aufbauzeit von längstens drei Tagen vor, der Aufbau ist von ungelernten Händen zu bewerkstelligen, die Materialkosten sollen 2500 € nicht übersteigen. Ein Lastwagen nimmt die Europaletten auf und transportiert sie nach Freiburg, wo nach der ersten Erprobungsphase ein größer angelegter Feldversuch stattfindet. Die Stadt Freiburg hat für das Projekt eine Wiese im Eschholzpark nahe des geplanten Ankunftsquartiers für Flüchtlinge bereitgestellt. Hier sind schon die Bauarbeiter beschäftigt: Deutsche Studenten und eine Gruppe Flüchtlinge sägen, hämmern und schrauben. Wanderley als erfahrenster Häuslebauer packt an, wo er kann. Was hier geschieht, ist nicht einfach die Errichtung von ein paar Häuschen. Die kleinen, mobilen und schnell zu errichtenden Gebäude sind der Versuch, die Kasernenstruktur aus der Flüchtlingsarchitektur wegzudenken. Wenn die Menschheit mobil wird, muss das Bauen darauf reagieren können. Mit den Modulhäusern wird es möglich, die Unterbringung von Flüchtlingen dezentral und flexibel zu gestalten. Anstatt die Angekommenen möglichst platzsparend in Massenunterkünfte zu pferchen und so hohe Konzentrationen zu schaffen, können mit den Modulhäusern Kleinstsiedlungen errichtet werden – die dafür nötigen Freiflächen sind überall zu finden: in Hinterhöfen, Gärten, auf Parkplätzen Feldern, finden drei, vier, fünf, höchstens zehn der Häuser mühelos Platz. Aufbau, Erweiterung und Rückbau solcher Siedlungen ist schnell bewerkstelligt. Aus den Erfahrungen von Wanderleys »Völklinger Winter« haben sich einige Modifikationen am Ursprungskonzept ergeben. Die Häuser bekommen je einen kleinen Ofen, der bislang fehlende Wasseranschluss wird ergänzt. Statt wie ursprünglich mit Pappe, werden die Häuser mit Holzplatten verkleidet. Die Pappverkleidung hatte Wanderley zu sehr an die Favelas seiner Heimat Brasilien erinnert. Während der Prototyp noch die rohen Baumaterialien stolz präsentierte, werden hier im Eschholzpark die Häuser bunt angestrichen. Eines der Häuser wird zum Gemeinschaftsraum; ein weiteres beherbergt das Betriebsbüro. Die Bewohner regeln hier in Selbstverwaltung die noch überschaubaren gemeinschaftlichen Aufgaben, außerdem dient das Gemeinschaftshaus als »Musterhaus« – Interessierte können die Siedlung besichtigen, auch Beratungstermine werden angeboten, für Menschen, die das Konzept privat oder für eigene Initiativen adaptieren wollen. Schnell zeigt sich, dass die im Rahmen der Unterbringung von Flüchtlingen entstandene Idee ganz andere Interessensgruppen findet: Studierende machen sich das Konzept zu eigen, um in der Hochpreismetropole Freiburg bezahlbaren Wohnraum zu finden. Wohltätigkeitsverbände interessieren sich für die Häuser als Möglichkeit für selbstbestimmte Unterbringung von Obdachlosen, auch »ganz normale« Familien denken über die Errichtung eines solchen Hauses nach: als Gartenhaus der anderen Art. Die Erstbewohner der kleinen Siedlung im Freiburger Stadtpark werden zu Protagonisten der neuen Häuslebauerbewegung: als Pioniere helfen sie bei der Errichtung und Konzeption neuer Siedlungen, sind Ansprechpartner bei der Frage,

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wie Raum für die Häuser akquiriert werden kann, entwickeln neue, anderen Bedürfnissen angepasste Haustypen. Zwei Jahre im Willkommensquartier Freiburg, Bissierstraße: Das hat Kalil nicht erwartet. Soeben ist er aus dem Bus ausgestiegen, der ihn vom von der Erstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe nach Freiburg gebracht hat. Seit seiner Ankunft in Deutschland hat er schon mehrere Unterkünfte kennengelernt, aber die Bandbreite reichte bislang von Turnhallen über Containerunterkünfte, sogar Zelte hat er schon durch. Doch im Willkommensquartier Freiburg blicken ihm helle Flächen entgegen, frisch gepflanzte Bäume säumen die von Glas durchbrochenen, niedrigen Betonwände. Im zentralen Theatersaal findet eine Eröffnungsfeier statt. Registrieren darf Kalil sich später, erstmal wird mit dem Innenminister Hände geschüttelt. Reden werden gehalten, Journalisten stehen Spalier. Ein arabischer Übersetzer fasst immer wieder den Inhalt der Reden zusammen, Kalil hat das Gefühl, alles schon einmal gehört zu haben. Kalil gehört zu den ersten fünfzig Flüchtlingen, die das neugebaute Quartier beziehen. Sie alle sind sorgfältig überprüft worden – alle sind »echte« Flüchtlinge, nachweislich ohne islamistischen Hintergrund, haben ein gewisses Bildungsniveau und… Die Zimmer sind sauber, modern eingerichtet, sie sind in große, wie überdimensionierte Regale / Kommoden anmutende Stahlträgergestelle eingelassen. Der Wohnblock ist luftig: Die einzelnen Wohneinheiten wechseln sich schachbrettmusterartig ab mit Leerräumen, einzelne der Blöcke sind oben mit Geländer gesichert, kleine Dachterrassen blicken in den frühlingswarmen südbadischen Himmel. Kalil steigt die Außentreppe zu seiner Wohneinheit im zweiten Stock hinauf. Er öffnet die Tür und tritt ein. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Deutschland vor einem knappen halben Jahr hat er ein Stück Raum für sich allein, eine Tür, die er hinter sich zuziehen kann und ein frisch bezogenes Bett. Ein halbes Jahr später: Die Freiräume zwischen den Wohneinheiten werden weniger. Da seit Herbst 2016 wieder vermehrt Flüchtlinge nach Deutschland strömen, werden die bislang eingesetzten zwei-zimmerigen Wohnmodule sukzessive durch Vierraumeinheiten ersetzt. Die Luftigkeit der ersten Monate ist vorerst Geschichte. Aber auch das ist im Entwurf vorgesehen und gewollt: pragmatische Raumnutzung ist das Gebot der Stunde. Eine junge Familie aus Eritrea, ein Paar mit seinem zwei Jahre alten Sohn, gerade angekommen, richtet sich auf dem vorhandenen Raum ein. Eng, aber immer noch besser als die Wellblechhütten ihrer Heimat. Auch wenn gerade Überfüllung zum Problem zu werden scheint, hat sich doch einiges an sozialen Strukturen im Quartier entwickelt. Der Theatersaal als zentraler Ort für Veranstaltungen aller Art hat sich längst etabliert und dient unterschiedlichen Zwecken. Alle zwei Wochen findet ein Tauschbasar statt, daneben Gottesdienste verschiedener Religionen, Informationsveranstaltungen zum Leben in Deutschland, zur rechtlichen Situation als Flüchtling, zu Geschlechterthemen.

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Vor allem zu den Tauschbasaren mit Kontaktcafé, in dem Menschen verschiedener Nationalitäten kochen, kommen auch vermehrt Bewohner der umliegenden »autochthonen« Siedlungen. Unsere eritreische Familie lebt mit anderen jungen Familien zusammen in Regal C; ein weiteres Regal ist alleinstehenden Frauen vorbehalten. Kalil wurde mit seiner Wohneinheit bereits einmal »umsortiert«: nachdem die Aufteilung nach Herkunftsregionen sich als kontraproduktiv erwiesen hatte – die Bewohner zeigten keine große Begeisterung zum Sprachenlernen, außerdem war es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen gekommen – wurden die Bewohner nach Familienstand und Geschlecht aufgeteilt. Doch im »Männer­riegel A« kam es mittlerweile auch zu unschönen Szenen, so dass Kalil nun eine weitere Umsiedlung bevorsteht: die männlichen Bewohner sollen mit den Familien gemischt werden, nur alleinstehende Frauen behalten ihren zugewiesenen Schutzraum. Dank der modularen Regalbauweise lässt sich die Siedlung den unterschiedlichen Situationen anpassen; schnell sind die Wohnräume umorganisiert. Nach zwei Jahren: Das Willkommensquartier verändert sich rasend schnell. Manche anerkannten Flüchtlinge sind im Begriff, eigene Geschäfte / Unternehmen zu gründen. Andere sind ausgezogen, haben sich über verschiedene Stadtteile verteilt, sich selbständig gemacht. Doch das Willkommensquartier ist nach wie vor beliebt; durch die Organisation um den zentralen Theatersaal herum entsteht eine enge Bindung der Bewohner an den Ort und die entstehende Gemeinschaft. Im Jahr drei nach Eröffnung hat sich im Theatersaal eine Art Gemeinderat etabliert. Es handelt sich jedoch nicht um ein formal einbestelltes Gremium – im Ursprung der monatlichen Zusammenkunft stand ein Filmproduktionsteam, das einige Bewohner ins Leben gerufen haben, um das Leben im Willkommensquartier zu dokumentieren. Das entstandene Material wurde regelmäßig im Theatersaal vorgeführt; anhand der filmischen Darstellungen entbrannten schnell Diskussionen über das Zusammenleben im Quartier. Mittlerweile bringen die Bewohner selbst Filmmaterial zu den Terminen mit, um Anliegen, Missstände etc. zu dokumentieren und die Quartiersöffentlichkeit zu einer Stellungnahme zu bewegen. Die Filmvorführungen sind so zum wichtigsten öffentlichen Forum des Quartiers geworden (Bewohnerzahl ca. 500), die hier diskutierten Themen bestimmen den laufenden Diskurs, hier getroffene Vereinbarungen werden von den Bewohnern – ohne dass es eine formale Beschlussstruktur oder Geschäftsordnung gäbe – als allgemein bindend akzeptiert. Auch die Architektur selbst beginnt sich zu verändern. Nach einer Zeit der Überfüllung hat sich die Lage wieder entspannt; zwei neu errichtete Regale nehmen Wohneinheiten auf, so dass das Gesamtbild wieder von luftigen Strukturen geprägt wird, die den Durchblick auf dahinterliegendes zulassen. In einzelnen Modulen hat sich eine gewerbliche Nutzung etabliert, dies sorgt für regelmäßige Diskussionen – soll dies allgemein zugelassen werden, dürfen auch Nichtbewohner hier gewerblich tätig werden, soll die gewerbliche Nutzung auf die Erdgeschosse eingeschränkt werden – jedenfalls wurde architektonisch schnell reagiert; es exis-

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tieren nun mehrere Modultypen, die auf gewerbliche Nutzung ausgerichtet sind. Kalil jedenfalls betreibt seit einem Jahr eine Apotheke, die gemeinsam mit einer Allgemeinarztpraxis die medizinische Grundversorgung im Quartier sichert; die Eritreer haben eine Fahrradwerkstatt gegründet, die auch Kundschaft aus den umliegenden Vierteln anzieht und demnächst eine Filiale in Uninähe eröffnen wird. Erste Anfragen von Biodeutschen nach Wohnungen im Willkommensquartier treffen bei der Verwaltung ein, aber noch ist das Areal als Flüchtlingsunterkunft deklariert. Ankommen 2040 – ein bisschen Science Fiction Jenseits aller Wahrscheinlichkeiten, Prognosen und Interessenslagen ist es ab und zu erlaubt, sich vorzustellen, wie die Zukunft aussehen mag, wenn sich die Dinge tatsächlich zum Guten oder zumindest zum Besseren wenden. Wir dürfen also imaginieren, dass wir tatsächlich gelernt haben werden, was es heißt, in einer globalisierten Welt zu leben, in der verschiedene Identitäten neben- und miteinander existieren können. Der Dritte Weltkrieg wird in unserem kleinen Zukunftsszenario nicht stattgefunden haben, die islamistische Machtergreifung wird ausgeblieben sein, in Deutschland und Europa wird der neue Faschismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht den Sieg davongetragen haben. Wir befinden uns also im Jahre 2040 und schauen zurück auf den Einfluss, den die architektonischen Entwürfe von 2016 auf die gesellschaftliche Entwicklung genommen haben. Die Modulhäuschen haben sich während der Flüchtlingsproteste der frühen 2020er-Jahre zum politischen Kampfmittel entwickelt. Durch Optimierung des Aufbauprozederes konnten die Häuschen über Nacht auf öffentlichen Plätzen, in Vorgärten von rechtskonservativen Stadträten, vor Abschiebezentren aufgebaut werden. Die Häuser erwiesen sich, da weniger leicht abräumbar, als deutlich effektiver als traditionelle Formen wie Sitzblockaden oder Anketten. Außerdem konnte, wenn die Häuser erst einmal standen, die notwendige Protestinfrastruktur wie Suppenküchen, Informationszentrale, Erste-Hilfe-Stelle etc. schneller und dauerhafter eingerichtet werden. Legendär wurde das Dorf Dreyeckland: 2023 schloss sich eine Art Belagerungsring von Modulhäusern um das trilaterale Abschiebezentrum Bartenheim, in dem zeitweise bis zu 100000 Flüchtlinge in nächster Nähe zum Euro-Airport auf ihre Abschiebung in das sichere Drittland Irak warteten. Das Dorf Dreyeckland hatte aus über 1000 Häusern bestanden und hielt zwei Jahre lang durch, bis 2025 der Vertrieb von Europaletten unter staatliche Kontrolle gestellt wurde. Nach Auflösung des Abschiebezentrums wurden die übrig gebliebenen Hütten von Dreyeckland zum begehrten Objekt von arrivierten Revolutionsromantikern. Mehrere hunderttausend saarbadische Francs muss man mittlerweile für eines der kleinen, mit Parolen beschriebenen Wochenendhäuschen sichern. Veteranen des Dorfes Dreyeckland bieten Beratung für originalgetreue Einrichtung an; wöchentlich werden Führungen übers Gelände angeboten. Die »Dokukratie«, die ihre ersten Gehversuche im Freiburger Ankunftsquartier unternommen hatte, ist 2040 als direkte Form der Demokratie in aller Munde – Filmforen als Orte der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinungsbildung finden sich überall im Land. Über das gesamte Gebiet der ehemaligen BRD und de-

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ren Nachbarstaaten hat sich, ausgehend von verschiedenen Flüchtlingsquartieren und letztlich vom Freiburger Ankunftsquartier, eine Welle von film- und mediengestützten Entscheidungsgremien gebildet, die teilweise dauerhaften Bestand haben, teilweise ad hoc zu bestimmten Fragestellungen gebildet werden. Soziologen betrachten mit Neugier diese Bewegung, der es tatsächlich zu gelingen scheint, demokratische Öffentlichkeit nach ihrem Scheintod Anfang des 21. Jahrhunderts wieder zu beleben. Rechte Kräfte stoßen sich daran, dass die Strukturen dieser Bewegung vor allem zu Beginn von syrischen Flüchtlingen dominiert waren und wenden sich – natürlich findet der rechte Protest gegen die Unterwanderung unserer urdeutschen Demokratie in Form von dokukratischen Montagsvorführungen statt. Die Regierung der Saarbadischen Volksrepublik betrachtet die Entwicklung schon seit längerem mit Sorge und befürchtet einen Legitimitätsverlust, hat jedoch bestimmte Parlamentsentscheidungen für dokukratische Abstimmungen freigegeben. Die Kommunikationsindustrie hat diese Bewegung längst als Markt für sich entdeckt, Webseiten wie YouPropose.com und docucracy.org konkurrieren um lokale Basisaktivisten wie professionelle Entscheidungsfinder und bieten vorgefertigte Pakete für Videopräsentationen an. Damit geht eine neue Debatte über die politische Einflussnahme der Medienindustrie einher. Radikaldokukraten versuchen 2041, die Modulhausproteste für ihre Zwecke wiederzubeleben und die Baseler Konzernzentrale von docucracy.org zu belagern, aufgrund der gestiegenen ­Euro­palettenpreise können jedoch nur drei Häuschen errichtet werden. Als die ­docucracy-Geschäftsführerin die Radikalen jedoch zu einem gemeinsamen Filmslam einlädt, erinnert man sich der alten Zeiten – sowohl die Protestierer als auch die arrivierte Geschäftsfrau haben in Dreyecksland den Polizeidrohnen getrotzt und man tauscht Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte aus. Ergebnis des Treffens: die neue docucracy-Zentrale wird in Palettenbauweise errichtet. Auf der 28. Architekturbiennale 2042 wird dieses Gebäude mit dem Hauptpreis, der »goldenen Palette« ausgezeichnet. Als am Morgen des 5. Juni 2042 die Sonne über der Palettenlandschaft am Baseler Rheinufer aufgeht, tritt der leitende Architekt des Projekts, Wanderley, vor die Tür und genießt den Duft seines Morgenkaffees, der sich mit der feuchten Frühsommerluft vermischt. Die Zukunft kann kommen.

MODULHAUS FÜR FLÜCHTLINGE ESTHER HEUSER

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Modulhaus für Flüchtlinge

Husein und Omar aus Syrien berichteten mir, dass sie gerne arbeiten würden oder zumindest irgendwo mit anpacken, damit die Zeit schneller vorbei geht. Das einzige was sie jedoch haben und was für sie den höchsten Stellenwert hat, ist ihr Handy. Mit dem Handy kommunizieren sie den ganzen Tag und können somit den Kontak zu ihren Verwandten aufnehmen. Für mich war von Anfang an klar, dass ich mich mit dem Entwurf voll und ganz nach den Bedürfnissen der Flüchtlinge richten will und diese waren für mich etwas zu haben, mit dem sie die Zeit, neben social media, verbringen können. Gleich zu Beginn entschied ich mich für das Thema des ­Anpackens – hands on –, was zum Modulhaus führte. Der Einsatz von Europaletten schien interessant, sie können Lasten tragen, sind stabil und in der Anschaffung günstig. Das Modulhaus für zwei Flüchtlinge sollte alles beinhalten, eine Küche, ein Bad, Schlaf- und Aufenthaltsmöglichkeiten sowie einen geschützten Außenraum vor der Eingangstür – und das alles auf kleinstem Raum. Um das kleine Gebäude überall flexibel aufstellen zu können, habe ich verschiedene Gründungsarten vorgegeben. Es kann zum Beispiel am Waldrand, im Garten von Privatpersonen, in einer Baulücke in der Stadt oder im Stadtpark stehen. Das Thema des Selbstbauens bestand immer noch und um es einfacher zu machen, habe ich einen Katalog entwickelt, der neben allen Bestandteilen, auch eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Bau beinhaltet. Die Flüchtlinge können mit wenig Helfern das Modulhaus mit den vorgegeben Materialien an einem Tag selbst bauen. Es entsteht Kommunikation zu anderen und erleichtert das Ankommen in Deutschland.

Esther Heuser

Abb. 44 Das Modulhaus für Flüchtlinge

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Abb. 45–69 Im Oktober 2015 bauen in der Handwerkergasse des Weltkulturerbes Völklinger Hütte Studie­ rende der HTW des Saarlandes unter Mithilfe von Studentinnen der HBK Saar, das Modulhaus auf. Die Tragstruktur des Minimal-Wohnhauses besteht aus gebrauchten Euro­paletten und wird ergänzt durch einfache Baumaterialien aus dem Baumarkt. Zum Bau sind drei Tage

MODULHAUS FÜR FLÜCHTLINGE ESTHER HEUSER

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Bauzeit und 2.500 Euro angesetzt. Es dient als Musterhaus, das ohne Fachkenntnisse, als Selbstbauprojekt, zu realisieren ist. Seit Herbst 2015 wird das Modulhaus von Wanderley Viera bewohnt. Aufbauteam: Anna-Maria Gard, Stefanie Eberding, Caroline Heinzel, Christian Hussong, Naomi Liesenfeld, Carla Mörgen, Jonas Niewöhner, Esther Heuser, Katarzyna Rogala, Lila Rose, Markus Towae, Türkten Türkmen, Wanderley Viera, Miriam Werle, Georg Winter, Lucas Wirbel.

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MODULHAUS FÜR FLÜCHTLINGE ESTHER HEUSER Abb. 70

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Abb. 71 Modulhäuser im Stadtpark

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Abb. 72

GRANDHOTEL COSMOPOLIS MICHAEL ­A DAMCZYK

Grandhotel Cosmopolis –

Als eine kleine Gruppe von Künstlern, Freischaffenden und ich, als Architekt, im Spätsommer 2011 den Schlüssel zu einem seit Jahren leerstehenden Altenheim der 1960er Jahre mitten im Augsburger Domviertel in den Händen hielten, hatten wir das Ziel, ein Konzept für eine Neunutzung des Gebäudes zu entwickeln. Zu dieser Zeit war noch nicht absehbar, dass sich einige Jahre später die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern und aus der »Flüchtlingskrise« eine Regierungskrise werden könnte, die die Grundpfeiler Europas ins Wanken bringen würde. Das verlassene Altenheim wurde vor Jahren durch einen Neubau am Stadtrand ersetzt. Eine Modernisierung erschien unwirtschaftlich. Der Eigen­tümer – das Diakonische Werk – hatte keine Verwendung mehr dafür. Aber das Gebäude in einem der ältesten Stadtteile in unmittelbarer Nähe zum Augsburger Dom sollte neu genutzt und im Bestand erhalten werden, nicht nur, weil hier vor über hundert Jahren das Diakonische Werk Augsburg an diesem Ort seinen Ursprung hatte, sondern auch, weil sich bis heute die Verwaltung der Diakonie im angrenzenden Gebäude befindet. Der Leerstand hatte bereits Begehrlichkeiten der Regierung von Schwaben geweckt, die nicht zuletzt aufgrund steigender »Flüchtlingszahlen« auf der Suche nach geeigneten Objekten war. Der Eigentümer betreibt eine Vielzahl von unterschiedlichen sozialen Einrichtungen und ist seit Jahren auch mit den Aufgaben der Flüchtlingsbetreuung vertraut. Er kennt die zahlreichen Schwierigkeiten in den oft katastrophalen Unterkünften, in denen manche Asylsuchende über Jahre verharren müssen. Das Gebäude war in seiner Lage und Struktur geradezu ideal, um für unterschiedliche Menschen für mehr oder weniger lange Zeiträume einen Wohn- und Lebensraum im Herzen der Stadt zu bieten – die Idee: ein von Künstlern gestal­tetes »Hotel« mit einem Angebot an Gastronomie und Kultur. Dabei macht es überhaupt keinen Unterschied, welchen Status, Beruf, Religion oder Hautfarbe ein Bewohner hat.

eine Soziale Plastik in ­Augsburgs ­Herzen

Michael ­Adamczyk

Ausgangssituation und Rahmenbedingungen Im Nachhinein betrachtet, war die Ausgangssituation 2011 für dieses Projekt äußerst günstig. Es waren die richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Dies war sicher kein Zufall, sondern ein Umstand, der sich aus den lokalen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fügte. Augsburg ist mit seinen 265.000 Einwohnern, die drittgrößte Stadt in Bayern, geografisch und wirtschaftlich seit 1806 im Schatten der Landeshauptstadt gelegen. In der Renaissance war Augsburg stolze Reichsstadt mit globalem Han-

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del einiger mächtiger Familien, deren Kapital im großen Stil prachtvolle Bauwerke ermöglichten. Geografisch begünstigt durch die Lage am Lech, konnte noch vor Beginn der Industrialisierung das Großkapital in die entstehende Textilindustrie investiert werden. Augsburg wurde so zu einem bedeutenden Zentrum der Textilindustrie, die allerdings mit Beginn der Globalisierung eine unüberwindbare Krise erlebte und die ganze Stadt in eine Rezession führte. Bis Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts waren die urbanen Freiräume der verlassenen Fabriken unübersehbar. Leerstände waren zu dieser Zeit auch in der Innenstadt nicht ungewöhnlich. Leerstand als Chance Ungenutzte Nischen und Leerstände bieten einer Stadt die notwendigen Freiräume für neue Entwicklungen. Neben der klassischen Ateliernutzung, die die Stadt Augsburg mit einer eigenen städtischen Tochter betreibt, etablierte sich auch eine unabhängige Szene Kulturschaffender, die vor allem temporär zentrale Orte in der Stadt bespielte. Oft wurden leerstehende Läden für einige Monate zur Galerie und zum kulturellen Veranstaltungsort, wie z.B. »der Orange Raum« (2008) und »Muhackl oder Blutwurst« (2009). Auf einem innerstädtischen Brauerei­ gelände verwandelte sich 2010 die dazugehörige leerstehende Wirtschaft mit Biergarten für vier Monate in den offenen, kulturellen Schmelztiegel »Jean-Stein« und schaffte so eine neue Art der urbanen Intervention. Die darin gesammelten Erfahrungen und Kompetenzen konnten durch die beteiligten Künstler im »Grandhotel Cosmopolis« unmittelbar einfließen und weiterentwickelt werden. Projekte dieser Art starten mit keinem oder nur wenig Budget, dafür aber mit umso mehr persönlichem Einsatz und Herzblut verschiedener Menschen. Beflügelt von dem Ziel und dem kollektiven Wunsch etwas Neues und Einzigartiges zu erschaffen. Sie entwickeln eine eigene Dynamik. Sie mobilisieren Überzeugungstäter. Kultur wird gleichzeitig konsumiert und konstruiert. Es gibt keine klare Organisation, keinen konkreten Plan. Jeder bringt sich mit seinen Kräften und Möglichkeiten ein und übernimmt die Verantwortung für sein Handeln. Offenheit im Entstehungsprozess, Eigenverantwortung beim Übernehmen von Einzelbereichen, gemeinschaftliche Zusammenarbeit und genügend Freiräume führen zu einem dynamischen Projektverlauf, in dem sich Vorgänge verselbständigen. Gleichzeitig müssen sich neue Ansätze und Lösungen im Kontext bewähren und behaupten können. Andernfalls werden sie von der »Macht des Faktischen« eingeholt. Mit solchen Interventionen geht ein Transformationsprozess einher, der einen Ort auf Zeit verwandelt, nicht nur ästhetisch und oberflächlich, sondern radikal und strukturell. Der städtische Raum blüht auf. Aus einem identitätslosen »Un-Ort«, einer Brache oder einem leerstehenden Gebäude entsteht – wenn vielleicht auch nur temporär – ein zentraler Ort der Begegnung, der Emotionen und der Kultur. Soziale Plastik – Partizipative Architektur Die Mittel der Kunst bilden die Schlüsselrolle für eine radikale Transformation. Dort, wo die Ausgangssituation verfahren ist und schwierig erscheint, braucht es

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einen Befreiungsschlag: einen radikalen Neuanfang, eine emotionale Komponente, die mit produktiver Macht einer Leerstandsmonotonie entgegenhält. Der erweiterte Kunstbegriff nach Beuys, nach dem jeder Mensch ein Künstler ist, wenn er in seinem Schaffen frei ist, erleichtert es, den inhaltlichen Transformations­prozess eines Gebäudes in Gang zu bringen. Es ist eine Einladung zur praktischen Veränderung, gerichtet an alle Menschen – egal mit welchem Titel oder Status. Die Idee, »Dinge einfach zu machen«, sie selbst aktiv zu verändern und dabei einen gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen, funktioniert nur, wenn es eine Vision gibt – aber der Weg und die Form dazu noch individuell gefunden werden können. Das Ergebnis ist dabei so vielfältig wie die Menschen, die sich daran beteiligen. Es entsteht nicht das Werk eines Einzelnen, sondern ein kollektiv geschaffenes Werk mit unterschiedlichen Ansätzen und individuellen Handschriften. Das Resultat ist authentisch und findet mit seinen vielfältigen Facetten leicht und unmittelbar den Zugang zum Betrachter. Und die Akteure können sich mit ihrem Werk identifizieren, können es fortlaufend modifizieren, sodass es ihren eigenen Bedürfnissen entspricht. Dies ist bei der Beteiligung von Geflüchteten ein wichtiger Aspekt. Diese Art, sich aktiv an einer solchen Veränderung zu beteiligen, hat etwas Direktes und Radikales. Es ist auch deshalb so reizvoll, weil die klassische Bürgerbeteiligung bei Projekten, aber auch bei anderen lokalpolitischen Prozessen viel zu vage und unverbindlich ist. Innerhalb einer Sozialen Plastik besteht die Möglichkeit, direkt etwas zu verändern und die Stadt ein Stück weit mit zu bewegen. Soziale Projektentwicklung – kein Budget, aber eine Vision Diese Aspekte sollten Grundlage für die Umnutzung des Altenheimes werden, um eine realisierbare Vision zu entwickeln. Nachdem von allen Beteiligten der Wunsch bestand, eine wohlwollende Zusammenarbeit einzugehen, galt es, die Rahmenbedingungen und Möglichkeiten abzustecken. Die Kombination aus einem klassischen Hotel und der Idee, Wohnräume für Geflüchtete anzubieten, war isoliert betrachtet ungewöhnlich aber völlig selbstverständlich für diesen speziellen Ort. Die über 60 Zimmer waren für »Wohnen auf Zeit« sehr gut geeignet. Ganz im Sinne eines klassischen Grandhotels wird das Zusammenleben unterschiedlichster Menschen unter einem Dach als Chance der kosmopolitischen Erfahrung und nicht etwa als Problem betrachtet. Die Privatsphäre der Bewohner ist ebenso gegeben wie die Möglichkeit des Austausches, der Begegnung und der aktiven Beteiligung für alle Bewohner und Besucher. Das Café mit Lobby und Bar ist der zentrale Ort im Eingangsbereich. Werkstätten, Ateliers und Arbeitsräume konzentrieren sich in den mittleren Ebenen des Gebäudes. Mehrere Zugänge zum Gebäude ermöglichen eine flexible Erschließung. Küche und kulturelle Veranstaltungen finden in der ehemaligen Großküche des Altenheimes im Souterrain ihren Platz. In mehrwöchiger Arbeit erstellte eine kleine Gruppe vor Ort zunächst das Konzept. Auf zehn Seiten mit einigen Fotos und Tabellen wurden die wesentlichen Eckpfeiler des »Grandhotel-Cosmopolis« verständlich, konkret und überzeugend dargestellt und schließlich in einer Auflage von 1.000 Stück gedruckt. Abschnitte mit den Überschriften »Partizipation als Grundlage«, »Offene Kommunikation,

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Transparenz & Interaktion«, »Ressourcennutzung in einer Wegwerfgesellschaft«, »Der Prozess als Motor« vertiefen und erläutern das Vorgehen und die Arbeitsweise. Dieses Grundlagenpapier informierte und warb für Vertrauen für das zu diesem Zeitpunkt noch völlig abstrakte Projekt. Zunächst galt es, den Verwaltungsrat der Eigentümer zu überzeugen und im nächsten Schritt Nachbarn und Behörden. Unter vergleichbaren Rahmenbedingungen wie bei den temporären Vorläuferprojekten und mit Hilfe eines Baukostenzuschusses des Eigentümers, sollte sich auch ein Umnutzungsprojekt dieser Größenordnung realisieren und dauerhaft betreiben lassen. Mit dem Budget konnten wesentliche bauliche Veränderungen und die Sanierung der Haustechnik von Fachfirmen ausgeführt werden. Der komplette Innenausbau und alles andere konnte sofort von den Nutzern selbst in Angriff genommen werden. Die Möglichkeit gleich mit dem Transformationsprozess zu beginnen, vor Ort zu leben und zu wirken und damit von Null an, einen sich ständig vergrößernden Organismus zu erschaffen, war enorm reizvoll für viele Unterstützer. Die unmittelbare Aneignung des Gebäudes führte nicht nur zu einem hohen Identifikationswert mit dem Projekt, sondern schaffte aus dem Nichts heraus für viele Beteiligte eine echte Lebensperspektive.

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◀ Eingang

Abb. 73 »Grandhotel Cosmopolis«

Springergäßchen 5



12 DZ Hotel, Wohnen »ohne Asyl«



12 Ateliers



31 DZ Wohnen »mit Asyl«



Galerie, Gastro

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Das Diakonische Werk – Eigentümer mit Weitsicht Das Diakonische Werk wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Verein mit dem Ziel gegründet, auf Grundlage des evangelischen Glaubens, praktisch und konkret alltägliche Not zu lindern. Inzwischen gehören dazu rund 50 Sozialeinrichtungen und Dienststellen in der Stadt Augsburg und im Umland. Die erste Sozialeinrichtung des Vereins war eine »Herberge zur Heimat«1, mit dem Ziel, der Wohnungsnot insbesondere der Arbeiter und Lehrlinge in der Zeit der Industrialisierung entgegenzuwirken. Ein hohes Maß an Flexibilität hatte sich in der langen Vereinsgeschichte schon oft bewährt. Die Offenheit und das große Vertrauen, das die Diakonie diesem Projekt entgegengebrachte, war entscheidend für dessen Realisierung. Dies wird im Vorwort »Konzept für eine soziale Skulptur in Augsburgs Herzen« (2011) deutlich. Pfarrer Fritz Graßmann (Theologischer Vorstand des Diakonischen Werkes Augsburg e.V.): »Da die Diakonie selbst umfangreich in der Flüchtlingsbetreuung in Augsburg tätig ist, kennen wir den eklatanten Mangel an geeigneten Plätzen und die Not der Asylbewerber sehr genau. Wir wollen helfen und wir sehen, dass das alte Paul-Gerhardt-Haus ein vergleichsweise gut geeignetes Gebäude für diesen Zweck ist. Aber wir wollen zugleich einen Akzent setzen für eine moderne Stadtgesellschaft, in der sehr verschiedene Gruppen auf engem Raum in Frieden zusammenleben. Aus diesem Grund war die Diakonie Augsburg sofort offen und gesprächsbereit, als eine Gruppe kreativer Entwickler vorschlug, ihre eigenen Vorstellungen vom Wohnen und Wirken mit den Wünschen der Diakonie zu verbinden. Was nun durch ehrenamtliches Engagement der Projektgruppe entstanden ist, ist ein Konzept, das die soziale Aufgabe der Unterbringung von Asylbewerbern verknüpft mit bürgerschaftlichem Engagement, kultureller Vielfalt und einem künstlerischen Ansatz. Die Diakonie Augsburg macht sich dieses Konzept gern zu Eigen. Es könnte Modellcharakter haben. Denn wenn wir in der Gesellschaft der Zukunft nicht in immer strenger voneinander abgetrennten Quartieren unter unseresgleichen leben wollen, sondern in einer offenen, zum Dialog über die Grenzen der sozialen, kulturellen und religiösen Milieus hinaus fähigen Gesellschaft, dann sollten wir Räume für diese Kommunikation bereitstellen. Dass in diese Kommuni­ kation auch die Asylbewerber hineingehören, ist aus Sicht der Diakonie zwingend. Denn es wird auch morgen Flüchtlinge geben, vielleicht weit mehr, als dies heute der Fall ist. Da scheint es uns verheißungsvoll, das Zusammenleben an Orten wie dem alten Paul-Gerhardt-Haus zu üben. Wir laden daher die Augsburger Stadtgesellschaft und insbesondere die Bewohner des Domviertels herzlich ein, mit uns zusammen dieses Konzept so um1

Vgl. http://www.diakonie-augsburg.de/de/infos-kontakt/diakonie-augsburg/wer-wir-sind/ geschichte (9. März 2016).

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zusetzen, dass am Schluss alle profitieren: das Domviertel, die Friedensstadt Augsburg, Künstler und Kulturschaffende, Besucher unserer Stadt, aber natürlich auch die Asylbewerber.« Dynamischer Projektverlauf – es kommt immer besser als man denkt Als erstes entstand eine Hotellobby mit Bar und Café. Die Umgestaltung des ehemaligen Eingangsbereiches war der Auftakt der Verwandlung und überraschte nach 14 Tagen Umbauzeit nicht nur die etwa 100 eingeladenen Anwohner. Hier wurde am 1. Dezember 2011 das »Konzept für eine Soziale Skulptur in Augsburgs Herzen« öffentlich vorgestellt. Trotz wortreicher Auseinandersetzungen gelang es doch, Interesse zu wecken und Vertrauen zu gewinnen. Mit einem kleinen Artikel in der örtlichen Tageszeitung begann die sich stetig steigernde mediale Aufmerksamkeit. Aber auch immer mehr Interessierte kamen ins Grandhotel und b ­ eteiligten sich an der Erschaffung der Sozialen Plastik. Der dynamische Projektverlauf begann. Vom ersten Tag an gab es täglich ein gemeinsames Mittagessen, anfangs noch in einer der verbliebenen Küchen auf den Stockwerken, später dann im Souterrain, im zukünftigen Restaurant. Die Bar – schon bald Schnittstelle der Welten innerhalb und außerhalb des Grandhotels – liefert seit dieser Zeit Kaffee und Getränke auf Spendenbasis. Jeder Gast muss selbst entscheiden, wieviel ihm diese Leistung wert ist. Dies ermöglicht den Zugang für alle gesellschaftlichen Schichten und forderte dazu auf, den Wert von Arbeit, Leistung und eines menschlichen Umgangs miteinander in einem alltäglichen Vorgang zu hinterfragen. Erste für das Projekt erforderliche Werkstätten wurden bezogen. Über die Internetseite und die sozialen Netzwerke konnte mit dem Rest der Welt kommuniziert werden. Der Bauantrag für die Nutzungsänderung zum »Umbau eines ehemaligen Altenheimes zur Gemeinschaftsunterkunft mit Ateliers und Gaststätte« wurde im März 2012 eingereicht und nach erfolgreicher öffentlicher Auslegung – ohne nennenswerte Einwände – Ende 2012 genehmigt. Während der Umbaumaßnahmen, musste

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sich auch die ständig wachsende Zahl an Unterstützenden immer wieder neu organisieren. Ein digitales Hausnetz wurde eingerichtet, um besser kommunizieren und organisieren zu können. Im Juli 2012 wurde der Verein »Grandhotel-Cosmopolis e.V.« gegründet. Dem wachsenden Interesse der Öffentlichkeit und Institutionen wurde in hunderten von Hausführungen Rechnung getragen und das Projekt wurde mit verschiedenen Preisen öffentlich geehrt, Stiftungen fanden den Weg ins Grandhotel. Das große Interesse der Medien legte zeitweise die Baustelle lahm und über 100.000 Helferstunden wurden bis Ende Juli 2013 geleistet, bevor die ersten Bewohner – überwiegend Familien aus Tschetschenien, später auch aus Afghanistan, Syrien und afrikanischen Nationen – einziehen konnten. Als die größten Umbaumaßnahmen vollbracht waren und Kostensicherheit bestand, konnte der Mietvertrag abschließend verhandelt werden. Im Oktober 2013 eröffneten schließlich die zwölf individuell gestalteten Hotelzimmer in den obersten Etagen. Die »Wirtschaft« versorgt Bewohner und Gäste nach wie vor täglich mit einem warmen, veganen oder vegetarischen Mittagessen. Während der gesamten Zeit finden unzählige Konzerte, Workshops, Ausstellungen und weitere Veranstaltungen statt. Wirken und Werden oder: Willkommen im »Grandhotel Cosmopolis«2 Das »Grandhotel Cosmopolis« ist eine auf Dauer angelegte Intervention, die in gegebene Strukturen auf unterschiedlichen Ebenen in die Gesellschaft eingreift. Sie operiert auf dem Terrain des Alltags, testet vermeintliche Gesetzmäßigkeiten auf ihre Veränderbarkeit und fordert die Entwicklung einer Haltung, die als Friedensangebot in einer kosmopolitischen Gesellschaft angesehen werden kann: die konkrete Utopie sich jeden Tag aufs Neue auf Augenhöhe zu begegnen und zusammen ein menschlicheres Miteinander zu formen. Das »Grandhotel Cosmopolis« bereitet den Nährboden für kulturellen Austausch und spielt mit der Schönheit in Arbeitsprozessen des Alltäglichen: in der Entwicklung einer kosmopolitischen Küche, im Upcycling von nicht gebrauchten Materialien, bei einer vertraulichen Behandlung im Beauty Salon, beim Putzen der Unisex-Toilette und in der Begleitung von schutzbedürftigen Menschen im Dschungel der Behörden. ArAbb. 74 beitsprozesse werden angeschoben und weiter entwickelt, erLobby halten Geschmack und werden fragmentarisch e­ rfahrbar in vielfältigen Formen kontemporärer Kunst. Das »Grandhotel Cosmopolis« fordert auf, neue Zugänge zu sozialen Räumen und Sprache herauszuarbeiten, urbane Stadtentwicklung auf ihre Potenziale für menschenwürdige Verhältnisse zu befragen und im konkreten Handeln zur Mitgestaltung anzuregen – Kunst als alltägliche Praxis. Als erstes Projekt dieser Art verstanden, sind unterschiedliche Akteure aus Medien, Politik, Kunst und Zivilgesellschaft an der Arbeitsweise des Organismus »Grandhotel Cosmopolis« inter2

Julia Costa Carneiro, Grandhotel Cosmopolis. Willkommen im Grandhotel Cosmopolis!, in: AllesWirdGut Architektur ZT GmbH (Hg.), Alles wird gut. Das Rezept / The Manual, Wien 2015.

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essiert und stellen Fragen nach der Übertragbarkeit des Konzepts an andere Orte oder in sich unterscheidende Kontexte. Versteht man das »Grandhotel Cosmopolis« als Intervention in den urbanen Raum, in das öffentliche Leben, als Eingriff in vermeintlich stabile Konzepte von Realitäten und als Annäherung an eine praktische Ausgestaltung von Inklusion, dann ist sein ­Aktionsfeld nicht an einen physisch betretbaren Raum gebunden, also kosmo­politisch entgrenzt. Als gesellschaftliches Gesamtkunstwerk betrachtet, gestalten wir Tatsachen, die wir als Beweis für unsere eigenen Weltanschauungen verwenden und experimentieren damit an der Aktualisierung der Beuysschen Idee der »Sozialen Plastik«. Resümee Sicher hat das »Grandhotel-Cosmopolis« durch seine bloße Existenz einen positiven Beitrag zur aktuellen gesellschaftlichen Diskussion über Menschen auf der Flucht geleistet. Lange bevor das Thema in den Medien die heutige Bedeutung bekommen hat, wurde aus einer kühnen Vision, ein komplexer sozialer Raum. Das öffentliche Interesse bewerten wir als Beweis für die Möglichkeit einer aktiven, zeitgemäßen Formgebung des Zusammenlebens im städtischen Raum. Zahlreiche ähnliche Projekte, wie das »magdas Hotel« in Wien, das »Bellevue di Monaco« in München und Überlegungen um das »Haus der Statistik» in Berlin, sowie die Diskussionen und Würdigungen in der internationalen Architekturszene spiegeln die Bedeutung dieses Themas wider. Die viel beschworene »Begegnung auf Augenhöhe« ist hier nicht nur Phrase, sondern gelebte Alltäglichkeit, in der das Zusammenleben ständig neu verhandelt wird und so kollektiv Raum formt. Solange es etwas Besonderes ist, dass verschiedene Menschen unter einem Dach zusammenleben und nicht nur isoliert voneinander wohnen und schlafen, sind neue Wohnkonzepte für ankommende Menschen nicht nur möglich, sondern auch nötig.

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Heimat für ­Körper und Geist Bernd Schmitt

Der Opernregisseur Bernd Schmitt hat zusammen mit der Bühnenbildnerin Birgit Angele das Konzept zur Inszenierung von Mozarts Oper »Idomeneo« erarbeitet. Die Aufführungen fanden in Zusammenarbeit mit »Zuflucht Kultur e. V.« bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen statt.

Während der Mensch seinen Körper mal leichter, mal weniger leicht, mal direkt und mal über viele Hemmnisse und Hindernisse hinweg von einem Ort zum anderen versetzen kann, ist dies mit seinem Geist, seinem Bewusstsein, seinem Heimatgefühl in der Regel etwas komplizierter. Ist es schon für den sesshaften Bürger schwer, seinen flüchtigen Geist zu sammeln, wie viel mehr für den Vertriebenen, Entwurzelten, Heimatlosen. Während man dem angekommenen Körper ein Bett bieten kann und sei es vorerst eines unter vielen in einer zweckentfremdeten Turnhalle, wo bringt man den hinterherhinkenden Geist unter, der nun auch noch lernen muss, seine differenziert schwierige Lage in einer neuen, fremden Sprache zu beschreiben, die allenfalls hinlangt, für den Körper das Notwendigste zu erlangen, nicht aber dem Geist zu geben, was der mindestens ebenso dringend bräuchte.

Zuflucht Kultur Vor zwei Jahren arbeiteten wir zum ersten Mal bei »Cosí fan tutte« mit syrischen Flüchtlingen zusammen an einer Mozart-Oper. Wir waren damals zu dem Projekt gekommen, wie die berühmte Jungfrau zum Kind. Die Konzeption sah vor, dass das Stück in einem Asylantenheim spielen und kulturelle Differenzen über Liebe und Sexualität thematisieren sollte. Und plötzlich probten wir vier Wochen lang Tür an Tür mit 70 syrischen Flüchtlingen in den Räumen eines ehemaligen Klosters in Oggelsbeuren. Das ließ sich nicht ignorieren. Der betreuende Pfarrer fragte an, ob eine Zusammenarbeit möglich sei. Die Langeweile sei ein großes Problem. Ja, sagten wir, es gäbe Möglichkeiten. Bühnenbildbau. Ein syrisches Friedenslied statt »Bella vita militar«. Eine kleine Szene beim Ausfüllen der Antragsformulare. In der Premiere standen 30 Flüchtlinge auf der Bühne, echte Asylanten in einem gefälschten Asylantenheim, in einer Dekoration, die sie mit Wirklichkeit füllten. Ein Verein wurde gegründet: »Zuflucht Kultur«. Die Arbeit sollte fortgesetzt werden. Abb. 75 Eine Notunter­ kunft in Deutschland im August 2015

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Idomeneo Wieder sollte es eine Oper sein, diesmal aber bewusst gewählt für die Zusammenarbeit mit Flüchtlingen. Unsere Wahl fiel wieder auf Mozart, auf »Idomeneo«. Alle Figuren dieser Oper sind beschädigt vom Trojanischen Krieg. Idomeneo als Feldherr, Idamante, der ohne seinen Vater Idomeneo aufwachsen muss, Elettra, die hilft, ihre Mutter zu töten, aus Rache für den Mord an ihrer Schwester Iphigenie, Ilia, Kriegsgefangene trojanische Prinzessin, deren Familie ausgelöscht wurde von der griechischen Soldateska und die nun ausgerechnet einen Griechen liebt: Idamante. Die entscheidende Initialzündung aber war ein Bild: das Bild eines sinkenden Schiffes. Idomeneo, auf der Rückreise vom Krieg, gerät auf dem Mittelmeer in einen Sturm. Der Meergott Neptun, Mitverlierer im trojanischen Krieg, will sich an Idomeneo rächen und zerstört dessen Schiff. Idomeneo schwört, ihm das erste lebende Wesen zu opfern, dass er, so er am Leben bliebe, am rettenden Ufer sehen würde. Der Deal wird gemacht, Idomeneo gerettet und das Opfer wird sein: Idamante, sein Sohn. Das entscheidende Bild aber ist das sinkende Schiff auf dem Mittelmeer und die Rolle dieses Meeres (wenn wir den da hinein gedachten Gott Neptun einmal beiseite lassen) in der gegenwärtigen Flüchtlingswelle – wobei Welle hier sicher das passendere Wort ist und dem Wort Krise, die ja vielleicht auch eine Chance ist, unbedingt vorzuziehen.

Keimzellen des Krieges Unsere Herangehensweise an die Oper ist schnell gefunden: der Vater-Sohn-Konflikt, der Kampf um die Position der besseren Asylantin zwischen Elletra und Ilia, das Politische im Privaten und wie aus Privatem das Politische wird. ›Keimzellen des Krieges‹ haben wir es genannt. Aber was wird der Anteil der Flüchtlinge sein? Wo kommen sie vor in dieser Oper, deren Thema so viel zu tun hat mit ihrem eigenen Schicksal? Was ist zu tun mit einer Gruppe von Menschen, die weder Dar-

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steller noch Sänger sind, die aber nun auf einer Bühne stehen sollen, inmitten italienisch singender Operndarsteller? Und brauchen sie dieses Projekt? Haben sie nicht andere Sorgen im Moment, als sich mit einer über 200 Jahre alten Oper herumzuschlagen? Die Erfahrungen aus »Cosí fan tutte« werden nun die tragfähige Basis für das neue Projekt.

Das Casting Die Entscheidung über die Teilnahme an einem Opernprojekt wollen wir den Flüchtlingen selbst überlassen. Wir melden uns zum Casting an in einer Turnhalle – jetzt Flüchtlings-Massen-Unterkunft. Wir erzählen, was wir vorhaben und fragen, ob Abb. 76 links jemand Interesse habe mitzumachen. 25 Menschen melden sich. Sie tragen altpersische Gedichte vor, improvisieren eine Theaterszene, trommeln auf einer leeren 5-Liter-Plastikflasche, singen irakische Liebeslieder. Viele aus der Halle schauen zu. Man merkt die Freude darüber, dass etwas passiert, was sie dem Alltag und der Langeweile für ein paar Stunden enthebt. Ich lerne meinen ersten afghanischen Rapper kennen. Erst nach ein paar Minuten realisiere ich, dass er englisch rappt. Leider haben wir ihn nie wieder gesehen. Ein älterer Herr hatte aus einem Stück Gartenschlauch eine Flöte gebaut und spielt uns darauf arabische Achteltonmusik vor. Er zeigt uns die Flöte. Abb. 77 oben »Idomeneo«: Vorproben, März 2016 in Stuttgart

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Es ist nur ein Stück Schlauch mit Löchern und etwas Klebeband als Mundstück. Seine Flöte musste er zurücklassen. Eine junge Frau will mitmachen. Ihr Mann ist dagegen. Dolmetscher. Es wird verhandelt. Mit dem Mann. Neben ihm seine Frau, stumm, mit großen, erwartungsvollen Augen. Er bleibt dabei: Bühne ist nichts für Frauen. Wir suchen jemanden, der den Vater Ilias verkörpern könnte. Ein Mann, dessen Alter schwer auszumachen ist, war uns aufgefallen. Er spricht nur Farsi. Wir finden jemanden der Farsi und Urdu spricht. Wir finden noch jemanden, der Urdu und Englisch spricht. Wir erklären uns auf Englisch, dann Urdu, dann Farsi. Es ist wie ›Stille Post‹. Hat der Mann verstanden? Wir wissen es nicht. Aber er kommt später zu den Proben. Er wird den Vater spielen. Haben die Menschen überhaupt verstanden, was wir machen wollen? Conny singt die ›Habanera‹ aus »Carmen«. Ohne Begleitung. Das ist Oper, versteht ihr? Alle sind begeistert. Eigentlich suchten wir nur 15 Leute, am Ende sagen wir zu allen, dass sie kommen sollen und mitmachen. Der Bewegungschor Wer sind diese Menschen, die wir jetzt eingeladen haben mit uns »Idomeneo« zu stemmen und was werden sie auf der Bühne tun? Ein Zahnarzt ist darunter und ein Mechatroniker, ein Ökonom, auch ein Musiklehrer. Wir beschließen, dass diese Menschen genau das tun, was sie können und das bekommen, was sie brauchen: Essen, Schlafen, Reden, Tisch und Bett und Ohr. Sie werden eine Art Bewegungschor sein. Birgit entwirft einen riesigen Tisch, fast acht Meter lang, mit einer Gegen-Schräge: die Welt ist aus den Fugen. Um den Tisch 24 Betten: Essen und Schla-

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fen. Über dem Tisch spannt sich ein riesiges Segel: assoziationsreiche Pro­jektions­fläche für Videos. Bei »Così« war mir klar geworden: die Menschen, die sich für ein solches Projekt engagieren, wollen keine falsche Rücksichtnahme. Sie wollen ernst genommen werden und klare Ansagen bekommen. Also wird der Bewegungschor fast die ganze Oper über auf der Bühne sein und sie werden hart dafür arbeiten und proben müssen. Die erste Probe Auf der ersten Probe erscheinen fast 30 Männer. Viele junge, einige ältere. Alle irgendwie dunkel, schwarze Haare, entschlossene Blicke. Sie stehen da wie eine Wand und die Situation verkehrt sich in ihr Gegenteil: plötzlich bin ich fremd, spreche nicht deren Sprache, stehe als einzelner Regisseur dieser Gruppe gegenüber, mit der ich eine Szene erarbeiten soll und deren Mitglieder ich nicht kenne, deren Anliegen ich allenfalls erahnen kann. Wir machen uns bekannt, versuchen die Fremdheit, die Unsicherheit zu überwinden. Wir tauschen Namen aus. Ich erkläre die Situation. Mein Englisch ist miserabel. Drei Übersetzer dolmetschen: ins Arabische, in Farsi, in Urdu. Alles wirkt irgendwie absurd, surreal und zugleich euphorisierend.

Die erste Szene Wir probieren die erste Szene: während der Ouvertüre sollen Einzelne oder kleine Gruppen von einer Bühnenseite zur anderen rennen, von rechts nach links, von links nach rechts. Birgits Tisch als zu überwindendes Hindernis in der Mitte. Ich möchte keine Flucht nachspielen, ich möchte Akrobatik, Virtuosität, Zirkus. Alle probieren aus, viele sind gut in Form. Mohanad, der Zahnarzt, macht einen Seitwärtssalto über den Tisch. Wir versuchen das zu organisieren. Du rennst als Erster in Takt fünf, dann ihr beiden in Takt sieben. Wir machen zwei Durchläufe Startnummer 1–12 und noch mal 1–15, jeder hat zwei Nummern. In der Mitte der Ouvertüre sitzen dann alle auf dem Tisch. Die Menschen als Ware. Im Dutzend billiger. Der Tisch sieht jetzt aus wie ein vollbesetztes Flüchtlingsboot. Auf das Segel projizieren wir ein Stück bewegtes Mittelmeer. Ilia beginnt zu singen. Auf mein Zeichen kippen alle um, rutschen ab auf der schiefen Ebene des Tisches, fallen über die Kante. Ilia verabschiedet sich von ihrer ermordeten Verwandtschaft. Auf dem Boden liegen 25 Flüchtlinge. Keiner rührt sich. Die Bilder beginnen sich zu vermischen, die Realität dringt ein in die Oper. Niemand braucht eine Erklärung. Ich wundere mich über die Geduld und die Konzentration. Ich wundere mich, dass ich mich wundere. Wieso sollten sie keine Geduld haben, keine Konzentration? Spielball der Politik – Flüchtlinge als Medienereignis Idamante missbraucht die trojanischen Gefangenen. Um Ilia, in die er sich verliebt hat, zu beeindrucken, schenkt er ihrem Volk die Freiheit. Die Gefangenen / die Flüchtlinge, bekommen Betten, bekommen zu essen. Idamante interviewt sie. Wie

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heißt du? Wie geht es Dir? Gut. Es geht mir gut. Hossam geht es gut. Es soll Euch allen gut gehen. Idamante signalisiert einem Kameramann: »film das«. Die gute Tat ist nichts wert ohne Bild. Die Flüchtlingsindustrie nimmt ihre Fahrt auf. Über das Segel flirren die Bilder der Live-Kamera. Schwer zu lesende Gesichter. Wie viele Flüchtlinge habe ich gesehen? Wie viele im Fernsehen? Wie viele in der Wirk­ aher lichkeit? Wir machen Pause. »Let’s have a break.« Bilal übersetzt in Urdu, Z ins Arabische und Soraja in Farsi. Pause In der Pause beginnen die Gespräche. Ich versuche Namen zu lernen, lerne die Menschen zu unterscheiden. Die Fremdheit weicht, langsam. Man lacht sich an, berührt sich. Die ersten Gespräche entstehen. Khalid kocht manchmal etwas. Ich lerne ›Guten Appetit‹ auf Arabisch zu sagen. Danke kannte ich schon von »Così«: Schukran. Jetzt lerne ich es auch auf Urdu: Meherbani. Mazen ist seit 6 Monaten in Deutschland. Er lernt jeden Tag 30 Voka- Abb. 79 beln, sagt er. Ich habe heute zwei gelernt. Die Monologe Der Tisch, die Betten: Essen und Schlafen. Jetzt sollen sie reden, möglichst bühnentauglich. Wir haben uns eine kleine Regel ausgedacht. Jeder, der etwas erzählen möchte, soll dies anhand eines kleinen Gegenstandes tun, den er mitgebracht oder hier gefunden hat. Der erste Versuch ist ernüchternd. Alle erzählen die gleiche Geschichte: Ich habe alles zurück gelassen. Das ist das einzige, was ich gerettet habe. Auf der Flucht ist mir das und das passiert. Lauter identische Flüchtlinge. Massenware. Langsam verstehen wir. Sie erzählen uns, was sie glauben, dass wir hören wollen. Sie erzählen das Naheliegende und werden zum Einheitsopfer. Wir stellen Fragen, um an die individuellen Geschichten heranzukommen, an ihre Persönlichkeit. Hossam, welches war deine erste Rolle auf der Schauspielschule in Damaskus? Wassim, von wem hast Du den Kompass bekommen? Bilal, wann hast Du zum ersten Mal das Hemd getragen, das deine Mutter bestickt hat? Die Konturen werden klarer. Aus den ewig gleichen Flüchtlingen werden langsam Individuen. Plötzlich blicken wir in viele lachende Gesichter. Hossam war der böse Held des Stückes »Der König ist der König«. Er hat den anderen Figuren den Kopf abgeschlagen. Er zeigt uns die Bewegung. Er rezitiert den Text des Stückes. Es war nur ein Plastikschwert. Hossam grinst. Wassims Kompass rettete im Libanon-Krieg einem Mann das Leben. Er gab ihn Wassim mit auf die Flucht und sie fanden in den türkischen Wäldern die Richtung zum Mittelmeer und auf dem Mittelmeer die Richtung nach Griechenland. Wassim grinst nicht. Seine Frau war im neunten Monat schwanger. Der Kompass ist mehr wert als Gold. Schukran, sagt Wassim, schukran, mein Kompass. Bilal trug sein Hemd das erste Mal bei seinem College-Abschluss. Er trug ein Gedicht vor.

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Über Haschischrauchen. Es war ein lustiges Gedicht, sagt er. Auch er rezitiert und freut sich. Seine Mutter wollte, dass er schön gekleidet sei. Jetzt trägt er das Hemd, wenn er betet. Die Disziplin Will man mit so etwas wie Pünktlichkeit einem arabisch-persischen Bewegungschor kommen? Will man den typischen Deutschen geben, der auf die Uhr schaut statt auf die Menschen? Wenn die Probe um 10 Uhr beginnen soll, können wir oft erst um 11 Uhr anfangen. Wir benutzen das ›warm-up‹ als Puffer. Aber ja, wir wollen, wir müssen auf die Uhr schauen. Wir schauen auf die Uhr und auf die Menschen. Aber fast alle halten den Probenprozess durch. Der Bewegungschor ist fast immer vollzählig zur Stelle, wenn auch nicht immer pünktlich. Fahime und ihr Vater fehlen einige Zeit. Es heißt, sie haben Angst, dass sie auf den Fotos erkannt

werden und ihre Familie zu Hause Probleme bekommt. Nach ein paar Tagen ist Fahime wieder an Bord. Ihr Vater bleibt weg. Die Gespräche in den Pausen werden persönlicher. Ahmed sagt, er kann nicht zu allen Schlussproben kommen, er müsse in dieser Zeit in der Schule sein und die sei wichtig, er wolle nichts verpassen, die Schule sei sein Leben, seine Zukunft. Khalid, unser Helfer im Hintergrund, der bisweilen arabisch kocht für uns, erzählt von Aleppo. Wir hatten ein gutes Leben, sagt er. Niemand weiß, warum Krieg ist.

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Die Radikalisierung Idamantes Plan über die Befreiung der Gefangenen Ilias Herz zu erobern, ist nicht aufgegangen. Ilia bleibt reserviert. Der aus dem Krieg zurückgekehrte Vater bleibt ein Fremder, weißt ihn ohne Erklärung zurück. Idamante radikalisiert sich, bewaffnet sich, will in den Krieg. Zum Abschied von Ilia zieht er schreiend und schießend durch den Schlafsaal und wirft alle Flüchtlinge, die er zuvor so freimütig aufgenommen hat, raus, bedroht sie mit der Waffe. Wir üben die Szene. Conny, die den Idamante singt, hat noch nie geschossen, auch nicht mit Platzpatronen. Die Schüsse sind laut, der Knall zerrt an den Nerven. Ich will, dass Idamante sehr hässlich ist zu den Flüchtlingen, sie beleidigt. Conny fällt es schwer, zwischen sich und der Rolle zu trennen. Dazu die Schüsse. Sie weint, kann nicht weiter. Wir müssen abbrechen. Und die Flüchtlinge selbst? Sie nehmen die Szene sehr professionell.

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Wir haben viele Schüsse gehört, sagen sie, kein Problem für uns. Der Abschluss der Proben Nach vier Wochen Proben gibt es Ende März eine Pause. Es waren Vorproben für die Aufführungen im Juli bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen. Wir machen einen abschließenden Durchlauf. Ohne Beleuchtung, ohne Videos, ohne Opernchor, nur mit Klavier, Solisten und Bewegungschor auf einer riesigen, leicht heruntergekommenen Probebühne im Stuttgarter Osten. Und doch entwickelt bereits diese rudimentäre Fassung unserer Inszenierung einen Sog und zeigt uns, dass unser Versuch, die Welten der Flüchtlinge in der Oper und der Flüchtlinge in der Wirklichkeit ineinander zu schieben und gleichzeitig auf einer Opernbühne darzubieten, funktionieren kann.

Abb. 80 oben

Abb. 81 rechts

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Das Bett auf der Bühne Wir haben etwa 30 der vielen Tausend Flüchtlinge, die in den letzten Monaten zu uns gekommen sind, während unserer Arbeit an »Idomeneo« näher kennen gelernt. Es hat uns bereichert und unseren Horizont erweitert. Mazen, der syrische Musiklehrer, der jeden Tag 30 deutsche Worte lernt, treffe ich bei der Musikhochschule. Er will Musik studieren, vielleicht sogar Opernsänger werden. Ich hatte ihm ein Gespräch beim Prorektor organisiert. Ich stelle ihn jetzt einem Gesangslehrer vor. Das Netzwerk arbeitet. Vielleicht braucht man neben dem Bett in der Turnhalle, denke ich, noch ein Bett auf einer Bühne. Vielleicht ist dieser geistige Raum zum Beispiel eines Theaters ebenso wichtig, wie die Wohnung und die Nahrung für den Körper. Auch wenn man im ersten Moment daran nicht denkt. Ja, ganz sicher ist das so. Und dann, meint Birgit, ist Musiktheater ja doch die Kunstform, die direkt in die Seele mündet. Er vermisse die Proben, sagt Mazen zum Abschied und er freue sich auf die Fortsetzung ab Ende Juni. Die Proben wurden begleitet und dokumentiert von dem Fotografen Andreas Knapp. Andreas Knapp ist Mitinitiator von Hangarmusik. Dies ist ein privates, spendenbasiertes nicht-institutionelles Programm zur gesellschaftlichen Integration von asylsuchenden Kindern im Notaufnahmelager für Flüchtlinge im ehemaligen Flughafen Berlin-Tempelhof.

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Bienvenue Neue Formen des Zusammen­ lebens

Neue Aufgaben und Rollen von Architektur und Kunst im Zusammenhang gesellschaftlicher Verantwortung

Fünf Jahre nachdem Stéphane Hessel in seinem agitatorischen Essay »Empört euch«1 dazu aufgerufen hatte, die Dinge wieder in die Hand zu nehmen, haben die nicht abbrechenden Ströme von Ankömmlingen in der Mitte Europas eine Situation geschaffen, die uns nun tatsächlich dazu anhält, die »Empörung« gegen Ausgrenzung und ökonomische und soziale Ungleichheit in konkretes Handeln umzusetzen. Die zumindest in Österreich und Deutschland anfänglich viel gepriesene »Willkommenskultur« ist längst wieder einer Politik der Ausgrenzung gewichen, deren VertreterInnen in Österreich mittlerweile nicht einmal mehr versuchen, diese in verharmlosende Worte zu fassen. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin ein ungebrochenes Engagement vieler Initiativen und Privatpersonen, die sich gegen diese Politik der Ausgrenzung stellen und aktiv an Perspektiven für ein Zusammenleben arbeiten. So haben auch wir (transparadiso) uns in unseren künstlerischen Projekten und urbanen Interventionen, aber auch in Architekturprojekten, immer wieder und in den letzten Jahren verstärkt mit Fragen von Migration, Identität und Zusammenleben befasst. Nun arbeiten wir seit geraumer Zeit an einem längerfristigen Architekturprojekt, dem Bienvenue, das als urbanes Quartier spezielle Programme für ein Zusammenleben von Beheimateten und Heimatlosen entwickeln wird. Dafür setzen wir die Methoden des direkten Urbanismus2 ein, um Formen der Gemeinschaft zu stärken und unvorhergesehene und mit konventionellen Mitteln der Stadtplanung nicht planbare Visionen und Qualitäten zu erzeugen.

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Ankommen, willkommen sein – als Gast. Ankommen, rasten oder sich ausrasten. Welche Bedingungen braucht es um langfristig in einer ›flüchtigen‹ Gesellschaft anzukommen? 3 Ankommen bedeutet eine Perspektive des Verweilens einzuneh1

Stéphane Hessels Essay »Indignez-vous« erschien im französischen Original im Oktober 2010, Montpellier 2010, und auf deutsch: Berlin 2011. 2 Unter direktem Urbanismus verstehen wir die Einbindung künstlerischer Strategien und Projekte sowie urbaner Interventionen als Teil einer prozessorientierten Stadtentwicklung, um den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen begegnen zu können. Siehe auch: Barbara Holub / Paul Rajakovics: Direkter Urbanismus, Nürnberg 2013. 3 Siehe dazu das Symposium »Ankommen! Perspektiven der Flucht in einer flüchtigen Gesellschaft«, HBK Saar / HTW Saarbrücken, Mai 2015. http://www.uni-saarland.de/lehrstuhl/barboza/aktuelles/symposium-ankommenperspektiven-der-flucht-in-einer-fluechtigen-gesellschaft.html (15. August 2016).

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men, die die Rastlosigkeit der (erzwungenen) Bewegung unterbricht. Verweildauer unbestimmt. Diese Unbestimmtheit schafft eine Spirale von Bewegung und Verweilen – eine deutlich andere Situation als zum Beispiel jene in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Flüchtlinge aus den »Ostgebieten« und der Tschecho­ slowakei nach Deutschland vertrieben wurden und sich die Frage gar nicht stellte, wie lange sie verweilen würden.4 Vor dem Ankommen ist die Bewegung. Und auch das »Ankommen« bedeutet keinen Ruhezustand, sondern den Beginn weiterer Bewegung, die sich oft über Generationen fortschreibt5, oder aufgrund eines sich über viele Jahre hinschleppenden ungeklärten Aufenthaltsstatus das Ankommen als dauerhafte interimistische Lebensform manifestiert. Dieser Zustand ist von Heimatlosigkeit und der Hoffnung, irgendwann wieder beheimatet zu sein, geprägt. Das Aufeinanderprallen der »Heimatlosen« auf die »Beheimateten« ruft uns dazu auf, unser Verständnis von Heimat zu hinterfragen. Der Medientheoretiker und Philosoph Vilém Flusser, der selbst den Weg von beheimatet zu heimatlos zu neuem Beheimatetsein mehrfach durchlebte, b ­ eschreibt in »Die Freiheit des Migranten«6 diese komplexe Wechselwirkung ­folgendermaßen: »Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewussten Regeln, sondern größtenteils aus unbewussten Gewohnheiten gesponnen. [...] Um in eine Heimat einwandern zu können, muss der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewusst erlernen und dann wieder vergessen. [...] Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt. Er ist hassenswert, hässlich, weil er die Schönheit der Heimat als verkitschte Hübschheit ausweist. Bei der Einwanderung entsteht daher zwischen den schönen Beheimateten und den hässlichen Heimatlosen ein polemischer Dialog.« Die Heimatlosen lassen uns also in Bewegung geraten und fordern uns heraus, uns selbst in Bewegung zu setzen und uns aus der Starre der Saturiertheit eines oft nur scheinbar beheimateten Daseins zu erheben. Längst wird diese Saturiertheit durch prekäre Arbeitsverhältnisse wachsender Teile der Bevölkerung konterkariert. Hier kann das Selbstverständnis von KünstlerInnen hilfreich sein – ist dieses doch (bei allen unterschiedlichen Ausprägungen ihres Künstlerdaseins) wesentlich davon bestimmt, dass sie eben nicht in »mehrheitsfähigen«, gesellschaftlichen Strukturen beheimatet sind – auch wenn sie selbstverständlich innerhalb dieser operie4 Vgl.

Hans Stimann, Standardisierte Unterkünfte, in: Stadtbauwelt 208 (48.2015), S. 30. Doug Saunders beschreibt in »Arrival City« den langwierigen Prozess des »Ankommens«, der sich meist über Generationen hinzieht, wenn Landarbeiter in die »Ankunftsstadt« aufbrechen, um sich eine neue (Über)lebensperspektive zu erwirtschaften. Doug Saunders, »Die neue Völkerwanderung – Arrival City«, München 2013. 6 Vilém Flusser, Von der Freiheit des Migranten, Hamburg 2013 (erstmals 1994), S. 33. 5

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ren. Sie widersetzen sich der Anpassung, sie ordnen sich nicht der gesellschaftlichen Akkordierung unter. Sie sind rastlose MigrantInnen innerhalb des Systems, in dem sie leben und gegen welches sie oft ankämpfen mit dem Wissen und Bewusstsein nicht ankommen zu können oder zu wollen. Sie pflegen diesen latenten Zustand als immer wieder neu aufrecht zu erhaltenden und neu zu befragenden. »Der Mensch ist frei, weil er sich mit einer unvorhersehbaren und unerklärlichen Bewegung gegen seine Bedingung empören kann und sie verändern kann. Durch diese Möglichkeit ist er virtuell frei, und, wenn er sie vollzieht, ist er faktisch frei.«7 Der latente Zustand zwischen virtueller und faktischer Freiheit ist eine Triebkraft für KünstlerInnen sich in gesellschaftlichen Prozessen zu engagieren. Ihre künstlerischen Praktiken spielen dabei mit dem Wechsel von Rollen, der zwischen verschiedenen Akteuren, kulturellen und sozialen Hintergründen eine ›Sprache‹ findet, die der Angstmache und Demagogie entgegenarbeitet. Diese KünstlerInnen und AkteurInnen, die – wie transparadiso – oft zwischen den Disziplinen operieren, bezeichne ich als »urban practitioner«8. Hier liegt das aktuelle Potenzial von Kunst, als Expertise wahrgenommen zu werden, um neue Formen von Kommunikation zu ermöglichen, die Konflikte oder divergierende Interessen zulassen und auch Ängsten Raum geben. So entstehen Begegnungs- und Kommunikationsräume, die keinen üblichen Regeln unterliegen, die von keinen vorgefassten Erwartungshaltungen geprägt sind (was gerne als »ergebnisoffen« bezeichnet wird) – Settings, die nichts verlangen. Ein solches Setting haben wir im Dezember 2015 im Rahmen der Ausstellung »Creating Common Good« im Kunsthaus Wien als Recherche für das Bienvenue geschaffen. In diesem Spiel- und Diskussionsabend haben unsere Gäste aus verschiedenen kulturellen Hintergründen und Ankunftsepochen ihre Wünsche und Ängste sowie Vorstellungen, die ein gleichwertiges Zusammenleben aller ermöglichen, diskutiert. Das dafür modifizierte kollektive Tangram-Spiel9 schaffte eine entspannte Atmosphäre des sich Kennenlernens, wobei gleichzeitig der Ehrgeiz des 7

Ebd., S.31 f. Siehe dazu Barbara Holub / Christine Hohenbüchler (Hg.): Planning Unplanned – Darf Kunst eine Funktion haben? Towards a New Function of Art, Verlag für moderne Kunst, Wien, 2015. 9 Tangram ist ein chinesisches Geduldspiel, bei dem vorgegebene Formen jeweils mit allen sieben Spielsteinen gelegt werden müssen. In Österreich und Deutschland wurde es Ende des 19. Jahrhunderts als »Quälgeist« bekannt. transparadiso entwickelte eine modifizierte Form des Tangramspiels als kollektives Spiel zur Wunschproduktion für »Commons kommen nach Liezen«, 2011 – ein Projekt für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark. http://www.transparadiso.com/cms/index.php?id=85&L=1%27`%28[%257B%255E~ (15. August 2016). Für das Event im Rahmen von »Creating Common Goods« wurde es für diesen neuen inhaltlichen Kontext eingesetzt. 8

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Spiels zum gemeinsamen Legen der Figuren anregte. Der Wechsel zwischen Spiel und Diskussion der Fragen entwickelte eine angenehme Dynamik, sodass am Ende des Abends die Spielunterlage mit den Tangram-Legefiguren, die wir als Großplakat ausgedruckt hatten, mit Beiträgen der Gäste in verschiedenen Sprachen angefüllt waren. Dieses Plakat wurde danach in der Ausstellung installiert und machte so den Prozess der Diskussion als integralen Beitrag der Ausstellung für die BesucherInnen sichtbar.

Die scheinbare Lapidarität, ein Spiel als Tool für »Wunschproduktion« und Recherche durch Beteiligung zu nutzen (in diesem Fall für die Bearbeitung des Konzepts für ein »Willkommenszentrum«), eröffnet Kommunikationsformen, die sich dem Ziel einer ›wissenschaftlichen‹ Auswertung, wie wir sie aus Disziplinen wie der Soziologie kennen, widersetzen und diese gezielt sprengen. Hier ist der künstlerische Prozess selbst ein migratorischer zwischen den Disziplinen. Diese Erfahrungen mit dem Einsatz künstlerischer Strategien sind in der aktuellen, »ungeplanten« Situation besonders wertvoll, da herkömmliche urbanistische und sonstige Methoden für die Unplanbarkeit in diesem lange nicht gekannten Ausmaß nicht mehr zulänglich sind. Der gezielt intendierten Hilflosigkeit der Politik begegnen KünstlerInnen, AktivistInnen und urban practitioner mit dem Anspruch, nach neuen Modellen eines Zusammenlebens zu suchen, die die funktionale Pragmatik von Unterbringung und Versorgung (auf der der aktuelle Fokus auch der meisten Architekturprojekte liegt) hinter sich lassen. Sie betrachten die Unplanbarkeit vielmehr als Gunst der Stunde, um für gesamtgesellschaftliche Veränderungen und für eine gerechtere Gesellschaft mit den Beheimateten ­einzutreten. Hier und jetzt ist die Zeit, Architektur und Stadtentwicklung wieder als Engage-

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ment für die komplexen Herausforderungen zur Gestaltung von gesellschaftlichen Visionen zu betrachten und hierfür neue Formen von Teilhabe zu fordern und dafür Modelle zu entwickeln. Die Zeit, sich nicht nur theoretisch, sondern im konkreten Handeln zu empören. Dies war der Ausgangspunkt für transparadiso, ein »Willkommenszentrum – ein Recht auf Raum für alle« zu konzipieren. Dieses soll in Wien realisiert werden und auch als adaptierbares Modell für andere Städte und Regionen entAbb. 82 sprechend des spezifischen Kontextes dienen.10 Den ursprüngTangram-Spiel lichen Namen betrachten wir mittlerweile als Platzhalter, ist von transpara­ doch der Begriff des »Willkommens« schon ähnlich abgenutzt diso zur und teilweise missbraucht wie »Nachhaltigkeit«. Eine Flut von ­Diskussion neuer engagierten Projekten, Initiativen und Organisationen aus der Qualitäten des Zivilgesellschaft wie »Refugees Welcome« oder »trainofhope« Zusammen­ sowie Hochschulprogramme vor allem aus der Architektur11 lebens von widmen sich der »Willkommenskultur«. Hier droht der kurzfrisBeheimateten und Heimatlosen tige Kampf um Aufmerksamkeit, der direkt auch mit der Verteilung von finanziellen Mitteln verknüpft ist, den Blick auf die zwischen große gesellschaftliche Dimension des Themas und den langen Ängsten und Prozess, dessen Entwicklung noch nicht absehbar ist, bereits zu Wünschen im Rahmen der verstellen. Wir sind aber an genau jenem langfristigen Prozess Ausstellung interessiert, der nun nach dem ersten ›Willkommens-Schub‹ und »Creating einer Ernüchterung aufgrund neuer Grenzzaunerrichtungen Common Goods«, und -debatten einsetzen sollte. Der Abnutzung des Begriffs der Kunsthaus Wien, »Willkommenskultur« muss also mit umso schärferem Beharren 2015 auf dessen Bedeutung begegnet werden. Die Unmöglichkeit eines adäquaten Begriffs Die »Willkommenskultur« kontinuierlich zu befragen ist Zeichen eines wichtigen Prozesses, den wir aufgrund der neu zu entwickelnden Inhalte für ein Zusammenleben, das nach dem ersten »Willkommenheißen« ansetzt, erst mit Qualitäten füllen müssen. Dieser Prozess überschreitet unsere bisherigen Vorstellungen von »Integration«. Willkommen: Etymologisch bedeutet »willkommen« (mittelhochdeutsch willekomen, spätalthochdeutsch willechomen): (du bist) nach Willen (= nach Wunsch) gekommen. »Willkommen« wird meist als Geste gegenüber einem Gast, einem Ankömmling beschrieben und im Sinne von »willkommen heißen« verwendet. Dem 10

Seit Mai 2015; im Juni 2015 konzipierte ich dann den Workshop »Ankommen. Neue Formen des Zusammenlebens« im Dept. Social Design / Universität für angewandte Kunst Wien, den ich im Oktober 2015 mit Herwig Turk realisierte. 11 Es gibt kaum eine Architekturfakultät im deutschsprachigen Raum, die es sich leistet, kein Programm zur Flüchtlingsthematik zu entwickeln, und dazu gleich auch zu publizieren; ebenso widmen sich auch u.a. der österreichische und deutsche Pavillon bei der Architekturbiennale in Venedig 2016 der Flüchtlingsthematik.

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gegenüber steht das Gefühl des »willkommen seins«, das die Perspektive des ­Gastes / ­ nkömmlings betrifft. Dieses Verhältnis zwischen »willkommen heißen« und »willA kommen sein« (d.h. sich willkommen fühlen) ist eines, das sich in einem latenten Zustand befindet und dessen Disparität wohl lange unsere Gesellschaft in Veränderung bestimmen wird. »Willkommen« bedeutet für uns die Offenheit für Dialog, Austausch und Gemeinschaft, die die verschiedenen Bedürfnisse von Privatheit und Teilhabe an Gemeinschaft respektiert und fördert – und zwar quer durch alle Gesellschaftsschichten, seien es »Beheimatete«,die selbst aus verschiedenen Generationen von Einwanderung stammen, oder kürzlich angekommene »Heimatlose«. Die zentrale Frage für uns ist: Was können wir von den Ankömmlingen lernen? Dies bedeutet wechselseitiges Lernen zu fördern anstatt auf konventionellen Vorstellungen von »Integration« zu beharren. Die Gesten, die »willkommen« bedeuten, sind kulturell konnotiert und sehr unterschiedlich – ein Anlass also, über unsere Gesten nachzu­ denken. Bienvenue: Frz. (wörtlich übersetzt): gut an(ge)kommen; Hier beziehen wir uns jedoch auf »bienvenue« im Sinne von »willkommen«, das wir dem Belvedere – das bedeutende Kunstsammlungen birgt und auch ein wichtiger Ort für zeitgenössische Kunst in Wien ist – als aktuelles sozial anspruchsvolles Projekt gegenüberstellen. Assimilation: Der Begriff »Assimilation« wurde in den 1980er Jahren verwendet und ist mittlerweile fast aus dem Diskurs verschwunden. Dieses Verschwinden ist Ausdruck des kontinuierlichen Wandels der Debatte um »Eingliederung« der Ankunftskultur in die bestehende »Mehrheitskultur« im Verhältnis zum Bewahren von Eigenständigkeit der Ankunftskultur. Assimilation hat den unangenehmen Beigeschmack der bedingungslosen Unterordnung der Ankömmlinge gegenüber den Beheimateten.12 Integration: »Das im 18. Jh. aus dem Lateinischen (»integrare«) entlehnte Wort steht etymologisch für »ergänzen, vervollständigen, sich zusammenschließen, in ein größeres Ganzes eingliedern«. [...] Hintergrund dieser allgemeinen Bedeutung ist also, dass ein Ganzes durch einseitige (Eingliederung) oder mehrseitige (Zu12

»Assimilation ist ein Prozess der Entgrenzung (boundary reduction), der sich ereignen kann, wenn Mitglieder von zwei oder mehr Gesellschaften oder kleineren kulturellen Gruppen aufeinandertreffen. Wenn man sie als abgeschlossenen Prozess betrachtet, ist sie [die Assimilation] die Vermischung von zuvor unterscheidbaren sozio-kulturellen Gruppen zu einer Einzigen. Wenn wir Assimilation jedoch als Variable ansehen, was meiner Ansicht nach unser Verständnis vertieft, stellen wir fest, dass Assimilation von den bescheidensten Anfängen von Interaktion und kulturellem Austausch bis hin zur gründlichen Verschmelzung der Gruppen reichen kann.« J. Milton Yinger, Toward a Theory of Assimilation and Dissimilation, in: Ethnic and Racial Studies. Bd. 4, Nr. 3 (Juli 1981), S. 249–264, siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Assimilation_%28Soziologie%29 (8. Mai 2016).

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sammenschluss) Aktivitäten herstellbar ist. [...] .«13 Entgegen des mittlerweile als diskreditiert wahrgenommenen Begriffs der Assimilation, d.h. der Verschmelzung der Ankunftskultur in der beheimateten Kultur (die bis zur Auflösung der Herkunftsidentität führen kann), betont »Integration« eher die Eingliederung im Sinne eines Zurechtkommens der Ankunftskultur mit der beheimateten Kultur und vice versa.14 In unserem / transparadisos Verständnis heißt Integration (für die Ankömmlinge), sie auf ein Leben in der Ankunftsgesellschaft vorzubereiten, das oft erst in der nächsten Generation einen freieren Umgang mit den mittlerweile gemischten Wurzeln ermöglicht. Für die Beheimateten sollte Integration bedeuten, den Ankömmlingen mit Offenheit zu begegnen und sich über verschiedene Wertvorstellungen auszutauschen. Kulturelle »Missverständnisse« sollten offen diskutiert und als produktive Kraft für gesellschaftliche Veränderung betrachtet werden, um dem vielfachen Missbrauch des Begriffs »Integration« von rechts gesinnten Politikern im Sinne von »Assimilation« entgegenzuwirken. Zwei außergewöhnliche Flüchtlingsunterkünfte in Wien – ein Exkurs in die Geschichte Macondo In der aktuellen Flüchtlingsdebatte in Europa und im Fokus auf die dringliche kurzfristige Unterbringung vergessen wir vieles. Wir vergessen, mit wie vielen Generationen von Flüchtlingen wir immer schon konfrontiert waren und dass wir selbst Teil dieser sind. Manche davon sind heute in Wien noch beispielhaft sichtbar – wie in der ungewöhnlichen Siedlung Macondo am Stadtrand Wiens zwischen Flughafen, Autobahn und Freiräumen für Fantasie und Fiktion (wie sie auch der Name schon anregt) – und andere sind immer noch geheim. Macondo entstand 1956 aus der Umnutzung der ehemaligen Kaserne Kaiserebersdorf für Flüchtlinge aus Ungarn, die aufgrund des Ungarnaufstands nach Wien kamen. In den 1970er Jahren war Macondo geprägt von Flüchtlingen aus Chile, die der Pinochet-Junta entflohen. Aus dieser Zeit stammt auch die Namensgebung Macondo, die sich auf den Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel Garcia Marquez bezieht. Heute treffen Flüchtlinge von aktuellen Kriegsschauplätzen aus allen Teilen der Welt auf die BewohnerInnen der verschiedenen Generationen von Ankömmlingen. Zurzeit 13 Susanne

Schätzle, Migration und Integration in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme mit Konsequenzen für die Pädagogik, TU Darmstadt 2004, S. 33. 14 Die Dimension der Eingliederung einer Ankunftskultur in die beheimatete Kultur bzw. des wechselseitigen Respekts von Werten, d.h. inwieweit welche Kultur sich öffnen sollte, hat sich in den letzten Jahren kontrovers und beispielhaft an der sogenannten »Kopftuchdebatte« entzündet. Die Einflüsse von ZuwanderInnen aus islamischen Hintergründen werden vielfach als drohende Gefahr einer schleichenden Islamisierung gesehen, deren mögliche Auswirkungen der Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Roman »Die Unterwerfung« (2015) drastisch ausgemalt hat.

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leben in Macondo zwischen 2000 und 3000 Menschen aus 22 Ländern in mehr als 500 Wohnungen. In den letzten Jahren hat diese Siedlung zunehmendes Interesse von KünstlerInnen und ArchitektInnen erfahren, deren komplexen Mikrokosmos u.a. die Künstlergruppe Cabula Seis im Rahmen einer Residency vor Ort 2008 / 2009 erforschte. Sie installierte einen Nachbarschaftsgarten, und das ArchitektInnenteam arquitectos (Pretterhofer / Spath, Wien) verfasste eine ausführliche Studie zu Macondo. 2014 erschien der vielfach ausgezeichnete Film »Macondo« der Regisseurin Sudabeh Mortezai, der aus der Perspektive eines 11-jährigen tschetschenischen Jungen das Leben und die sozialen Konflikte in der neuen Noch-Nicht-Heimat aufgrund seines kulturellen Hintergrundes beschreibt.

Abb. 83 Der Gemein­ schaftsgarten in Macondo, Wien 11, wurde 2009 von Cabula Seis initiiert, Oktober 2015.

Dieses vielfältige ›Soziotop‹ befindet sich im 11. Bezirk, am Stadtrand von Wien. Von dort ist es ein weiter Weg in die Stadt, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist teuer und schränkt die Abb. 84 Bewegungsfreiheit und somit auch die Arbeitssuche ein. Die Temporäre Flüchtlinge leben also in einer eigenen Welt, die ein spannendes Aneignung des Beispiel für ein heterogenes Zusammenleben verschiedenster öffentlichen Kulturen – allerdings ohne ÖsterreicherInnen – ist. Diese Abwe- Raums in senheit ist auffällig, ebenso wie die Abwesenheit von kleinen Ge- Macondo, Oktober 2015. schäften oder Werkstätten, obwohl in der Siedlung genügend Freiräume wären, die solche Nutzungen zulassen würden – Freiräume, nach denen wir uns in der Stadt sehnen. Hier fehlt es an einem gesetzlichen Rahmenwerk, das Möglichkeiten für Eigenständigkeit und Eigeninitiativen zulässt und damit den Aufbau von Zukunftsperspektiven der Ankömmlinge und eine wechselseitige Bereicherung mit und in der Ankunftsgesellschaft fördert. Bis heute gibt es in M ­ acondo keine öffentlichen Einrichtungen (abgesehen von der Diakonie als sozialem Hilfsdienst und einem Nachbarschaftszentrum). Das Kardinal-König-Haus, das ehemalige Integrationshaus, wurde 2010 unter der schwarzblauen (ÖVP-FPÖ-)Regierung zynischerweise in ein Schubhaftzentrum umgewandelt, das nun eingezäunt inmitten der Grenzen von Macondo ein sichtbares Zeichen für die Bedrohung durch Abschiebung für all jene BewohnerInnen ist, die noch keinen Asylstatus haben.15 Macondo steht aber auch für eine reale Fiktion, aus deren im Laufe der Zeit akkumulierten Qualitäten und jenen, die 15

1998 wurde das »Kardinal-König-Integrationshaus« vom Österreichischen Integrationsfonds errichtet und war elf Jahre lang Unterkunft für anerkannte Flüchtlinge. Seit 2010 wird es vom Innenministerium verwaltet, und seither ging es mit der Gründungsidee bergab. Unter dem freundlich-familiären Namen »Familienunterbringung Zinnergasse« werden dort Familien inhaftiert, die auf ihre Abschiebung zu warten haben. http://www.augustin.or.at/zeitung/artistin/ macondo-liegt-in-simmering.html (31. Januar 2016).

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noch fehlen, wir lernen und die wir weiterentwickeln sollten, wenn wir von neuen Formen des Zusammenlebens sprechen. Flucht im Kalten Krieg – Wien als Zwischenstation Ebenso in Simmering gelegen ist ein heute immer noch unbekannter, geheimer Zwischenort aus der Ära des Kalten Krieges (Ende der 1970er / Anfang der 1980er Jahre). Wien war eine Drehscheibe zwischen Ost und West, und so ist es auch nur naheliegend, dass sich hier ein interimistisches Flüchtlingslager befand, das unter der Kreisky-Ära jüdische Flüchtlinge aus der Sowjetunion aufnahm, die weiter in die USA auswandern wollten. Die Flüchtlinge wurden dort untergebracht, bis die Angelegenheiten, d.h. der Geldfluss und die Akten geregelt waren. Heute zeu-

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gen vom ehemaligen Camp nur noch eine Mauer und eine Freifläche, die in den angrenzenden neuen Wohnbau quasi ›integriert‹ ist. Eine dieser Flüchtlinge war die Künstlerin und Schriftstellerin Svetlana Boym. 1981 war sie u.a. mit den Künstlern Vitaly Komar / Alexander Melamid dort der Ungewissheit auf ihr ­angestrebtes Exil, die USA, ausgesetzt. 2013 besuchte ich mit ihr den Ort ihres ehemaligen Camps, da sie nun nach mehr als dreißig Jahren und als etablierte Persönlichkeit den Mut und das Interesse hatte, diesem Kapitel ihrer Vergangenheit nachzuspüren und es öffentlich zu machen.16 Die Mauer war dann auch das Thema, um das sich alles kreiste. An sie konnte sich Svetlana Boym erinnern. Sie wusste damals allerdings nicht, wo sie sich innerhalb von Wien befand. Die Aufenthaltsdauer im Camp war vorübergehend, war die organisierte Flucht ja bei aller Geheimhaltung ein erprobtes »Geschäftsmodell«, an dessen guter Abwicklung beide Seiten der Geschäftspartner Interesse hatten. Trotzdem war der temporäre Aufenthalt im Camp von Ungewissheit geprägt, die die Künstlerin dann auch erneut ergriff, als es um die Frage der Übersetzung ihrer Erfahrung in ein Video ging. Im Sommer 2015 war eine Ausstellung im jüdischen Museum in Wien geplant, in der die Künstlerin ihre persönliche Geschichte und jene des Camps erstmals öffentlich machen wollte. Sie verstarb jedoch im August 2015, sodass diese Geschichte weiter verborgen bleibt.

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Svetlana Boym war Professorin für Slawische Sprachen und Literatur an der Harvard University und u.a. Autorin von »The Future of Nostalgia«. Sie verstarb am 5. August 2015. Seit 2014 arbeitete sie an einem Video für eine Ausstellung im jüdischen Museum in Wien, in dem sie ihre Erfahrung in diesem geheimen Interimslager erstmals thematisieren wollte. Kurz vor ihrem Tod veröffentlichte sie einen ausführlichen Text dazu: http://www.tabletmag.com/podcasts/196376/a-year-of-firsts (8. Mai 2016).

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Das Bienvenue – ein Willkommenszentrum und Quartier für alle Die oben beschriebenen performativen Settings dienen ebenso wie künstlerischurbane Interventionen als Recherche durch Praxis, um daraus strukturelle Mittel für die Architektur und einen prozessorientierten Urbanismus, der das Handeln und Beteiligung inkludiert (direkten Urbanismus) zu entwickeln. Dieser wendet sich an ALLE. Das Konzept für das Bienvenue basiert auf intensiven Recherchen und unseren Erfahrungen mit Kunstprojekten und urbanen Interventionen, die wir zum Thema Migration in den letzten Jahren realisiert haben17, sowie auf Entwurfsprojekten mit Studierenden an der TU Wien (die vielfach selbst als Flüchtlinge nach Wien kamen) und Gesprächen mit den internationalen Studierenden von Social Design / Universität für angewandte Kunst, Wien, die trotz ihrer »privilegierten Situation« die kulturellen Missverständnisse und Schwierigkeiten des Eingewöhnens direkt an uns zurückspiegeln, und direkten Erfahrungen mit Flüchtlingen in diversen Notunterkünften in Wien.18 Das Bienvenue verstehen wir als Ort des »guten Ankommens«, als Willkommmens­ zentrum für Heimatlose und Beheimatete. Als Ort der Begegnung, des gegenseitigen Kennenlernens, des Austausches, des Zusammenfindens und des Zus­ammen­ lebens, als städtisches Quartier. Als Zwi­schen­nutzung, aber auch als permanenten LebensAbb. 85 Blick vom Wohnbau, der am Ort des raum für neu Angekommene sowie für hier ehemaligen Lagers in der Dreher­ längst Ansässige – ein Anlass, aus der bis dato strasse, Wien 11, errichtet wurde, auf nicht allzu geglückten »Integrationspolitik« in die Mauer des Lagers, die heute Österreich (bzw. in Wien) zu lernen. Intensiv noch den neuen Wohnbau wurde in den letzten Monaten die Frage von begrenzt – ohne dass die Bewohne­ Werten diskutiert. Diese erfolgte jedoch meist rInnen wohl die verborgene polarisierend im Hinblick auf jene kulturellen Geschichte dieses Orts kennen. Werte, die »wir« fürchten zu verlieren, ob der neuen zu uns kommenden kulturellen Einflüsse, die uns von den Medien hauptsächlich pauschalisiert als »fremd« vorgeführt werden. Dies können wir jedoch positiv als Anlass betrachten, über unsere Werte, derer wir uns schon länger nicht mehr genau bewusst sind,

»Du Bakchich pour Lampedusa« (Sousse, TUN, 2014), »Je suis arabe – ein Recht auf Poesie« (Salzburg Museum, 2015) und »Das Lachen, das einem im Halse stecken bleibt« (Performing Public Art / Vienna Biennale, 2015); siehe www.transparadiso.com 18 Mit den StudentInnen und internationalen Gästen führte Barbara Holub (mit Herwig Turk) im Oktober 2015 den Workshop »Ankommen. Neue Formen des Zusammenlebens« durch, und von Oktober 2015 bis Mai 2016 war das Dept. Social Design / Universität für angewandte Kunst, Wien, sowie das Institut für Kunst und Gestaltung / TU Wien, intensiv in der Vorderen Zollamtstraße (der größten Flüchtlingsunterkunft in Wien mit bis zu 1.300 BewohnerInnen) bis zu dessen Schließung engagiert. Die nächsten Schritte sind derzeit in Planung. 17

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nachzudenken.19 Die »Werte«-Debatte muss also in einem weiteren Kontext betrachtet werden: welche Werte des Zusammenlebens sind uns abhandengekommen? Das Verschwinden von sozialen Qualitäten, die eine möglichst ausgewogene Gesellschaftsstruktur und die Gemeinschaft gegenüber Individualinteressen stärken, ist ein schleichender Prozess, der auch Wien, das international immer noch als Vorzeigebeispiel – sowohl für die Periode des »Roten Wien« der 1920er Jahre, als auch für den sozialen Wohnungsbau – gilt, betrifft. Der soziale Wohnungsbau wurde mittlerweile über Bauträgerwettbewerbe auf die Bedürfnisse des Mittelstands adaptiert und der letzte Gemeindebau wurde 2004 in der Rösslergasse, 23. Bezirk, errichtet. 2015 wurde durch den Wiener Bürgermeister Michael Häupl der Gemeindebau wieder eingeführt. Im »4-Säulen-Modell«, das der Beurteilung von Projekten durch den Grundstücksbeirat zugrunde liegt, spielt die »soziale Nachhaltigkeit« eine gleichermaßen wichtige Rolle wie die Architektur, Ökonomie und Ökologie.20 Trotz dieser Bemühungen zeugen die Wahlergebnisse der letzten Gemeinderatswahlen in Wien im September 2015 von den anhaltenden Versäumnissen, mit den Ängsten der sozial schwächeren Bevölkerungsgruppen so umzugehen, dass dafür ernsthafte soziale und politische Angebote geschaffen werden konnten, die als solche auch wahrgenommen werden. Die ehemaligen H ­ ochburgen sozialistischer WählerInnen (wie der 11. Bezirk) wurden von der FPÖ ­v­­ereinnahmt. Eine Wohnbauvereinigung, die vielfach sozial orientierte Sonderprojekte realisiert hat (wie zum Beispiel auch einen Neubau in Macondo, 1986), hatte bereits durch eine beauftragte Studie festgestellt, dass die scheinbare Einsparung von Hausmeistern21 in Gemeindebauten ein Vakuum hinterlässt, das soziale Probleme 19

So hat auch die katholische Kirche mittlerweile festgestellt, dass die Debatte um den Zuzug von Menschen mit islamischer Religion nun auch vermehrt Anlass ist, uns unserer »eigenen«, christlichen Wertvorstellungen wieder bewusster zu werden und sich mit dem Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft neu auseinanderzusetzen. Siehe dazu z.B.: http://derstandard.at/2000034844552/Wie-veraendert-Migration-Religion-in-Europa (8. Mai 2016). 20 Der Grundstücksbeirat beurteilt nicht nur wie der Gestaltungsbeirat die architektonische, sondern auch die soziale und infrastrukturelle Qualität, bevor ein Bauvorhaben beschlossen wird. »Öffentlich geförderter Wohnbau ist der Entwicklung einer sozialen und gerechten Gesellschaft verpflichtet und verantwortlich für die Baukultur und Schönheit der Stadt. Er hat den zeitgenössischen Qualitäten in den Bereichen Ökonomie, Sozialer Nachhaltigkeit, Architektur und Ökologie zu entsprechen. Jeder Wohnbau hat deshalb die Anforderungen der 4-Säulen gleichwertig zu berücksichtigen.« in: Wohnfonds Wien (Hg.), Beurteilungsblatt 4-Säulen-Modell, 2015., siehe dazu: http://www.wohnfonds.wien.at/articles/nav/142 (8. Mai 2016). 21 Die Aufhebung des Hausbesorgergesetzes wurde 2010 unter der schwarz-blauen Regierung verabschiedet. Begründet wurde dies damit, dass die Betriebskosten gesenkt und diese Aufgaben künftig von verschiedenen Dienstleistern erbracht werden sollten. »Dies wird die Kosten für Mieter sicher nicht senken. Selbst wenn es keinen Hausbesorger gibt, können alle Kosten, samt Sozialabgaben in die Abrechnung genommen werden«, erklärt Elisabeth Weihsmann, Geschäftsführerin der Wohnbauvereinigung für Privatangestellte. »Im vergangenen Jahr wurde eine Umfrage bei Mietern gemacht. Und über 70 Prozent der Befragten wollen einen persönlichen Ansprechpartner, der kleine Reparaturarbeiten selbst ausführt.« http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/chronik/353877_Sterben-dieHausmeister-bald-aus.html?em_cnt=353877 (8. Mai 2016).

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nach sich zieht. Geht doch die ›Funktion‹ eines Hausmeisters weit über die pragmatischen Bedürfnisse hinaus: Der Hausmeister ist Ansprechpartner, Konfliktlöser, Kummerkasten etc. für alle und in dieser seiner harmlosen Rolle nicht durch einen Sozialarbeiter o.ä. ersetzbar. Seitdem werden wieder Hausmeister eingesetzt, wozu diese Wohnbaugenossenschaft ein eigenes Unternehmen gegründet hat. Probleme in unserer beheimateten Gesellschaft sind meist kaum verständlich für die ankommenden Kulturen, da diese von einem anderen Gemeinschaftssinn geprägt sind: Einsamkeit quer durch die Generationen, Vereinsamung / Alleinsein im Alter, Zerfall der Generationen, kleine Kernfamilien, Leiden unter Sinnlosigkeit trotz relativem materiellen Wohlstand, Definition des Selbstwertes nur über berufliche Erfolge, etc. Ebenso schwierig ist es für viele Ankömmlinge die Frage zu verstehen, was sie als ihr berufliches Ziel formulieren möchten, sind sie doch aus ihren Herkunftsländern meist nicht gewohnt, eine Wahlmöglichkeit zu haben.22 In den vielen Gesprächen, die ich seit Oktober 2015 im Notquartier in der Vorderen Zollamtstraße in Wien führe, um für das Willkommenszentrum zu recherchieren und dafür konkrete Angebote zu formulieren, war deshalb die Antwort auf meine Frage nach beruflichen Wünschen und Vorstellungen meist eine sehr allgemeine wie »Arbeit finden – ich würde alles tun«. Ein Flüchtling hat mir gesagt, dass es für Afrikaner nur zwei Möglichkeiten im Ausland gibt: Entweder als Student, wenn man aus entsprechend privilegierter Schicht kommt, oder als »pied noir« / »sans papier« (d.h. illegal) Handel zu betreiben. Die Wahlmöglichkeit, die bei unseren Jugendlichen eine Orientierungslosigkeit hervorruft, erscheint den Ankömmlingen als unverständlicher Luxus, da sie meist um das nackte Überleben kämpfen – sei es vordergründig aufgrund von Krieg (­Syrien, Afghanistan) oder Armut (afrikanische Länder), die beide gleichermaßen in einer Perspektivlosigkeit münden und keine Chance für eine den Beheimateten gegenüber emanzipierte Zukunft eröffnen. Dabei ist zu betonen, dass viele »Beheimatete« ebenso vor ihrer Zukunft bangen, da es seit der De-Industrialisierung kaum noch Jobs für ungelernte Arbeitskräfte gibt. Der Unterscheidung zwischen »Wirtschaftsflüchtlingen«, die schnellstmöglich abgeschoben werden sollen, und »Kriegsflüchtlingen«, für die zumindest die zeitweilige Gewährung von Asyl im Respekt für die Genfer Konvention für Menschenrechte in Betracht gezogen wird, muss also ebenso entgegengearbeitet werden, wie unter den Beheimateten zwischen »Arbeitswilligen« und »Sozialschmarotzern«. Der Status des Arbeits-los-Seins bedeutet – egal ob für Ankömmlinge oder Beheimatete – den Zwang zur Tatlosigkeit, die eine Nicht-Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nach sich zieht. Das Bienvenue sieht also vor, konkrete Bildungs- und Job-Angebote für alle zu schaffen, um die Eigenständigkeit und Eigeninitiative zu fördern. 22

Dies differiert natürlich entsprechend der Herkunftsländer und -kulturen. Während Ankömmlinge aus Syrien (auch Frauen) relativ gut gebildet sind, ist die Anzahl von AnalphabetInnen vor allem aus Afghanistan, die keine oder kaum Schulbildung haben, sehr hoch. Dies sagt jedoch nichts über ihre intellektuellen Fähigkeiten aus, sondern ist Ausdruck des gesellschaftlichen Systems, das Frauen weitgehend Schulbildung verweigert.

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Das Bienvenue – konkret Vilém Flusser unterscheidet den Emigranten vom Flüchtling folgendermaßen: »Der Flüchtling ist, positiv und negativ, der verlassenen Bedingung verhaftet. [...] Der Emigrant hat sich über die verlassene Bedingung erhoben. In dieser seiner Empörung kann er aus ihr herausheben, was er will, und anderes kann er verwerfen. Was unterscheidet den Immigranten vom Flüchtling? Der Flüchtling, eingekapselt in die verlassene Bedingung wie er ist, ist der neuen verschlossen. Er hat ihr weder etwas zu geben noch etwas zu nehmen. Der Immigrant steht der neuen Bedingung teilweise offen, nämlich an den Stellen, an denen die verlassene Bedingung ironisch verworfen wurde.«23 Das Bienvenue versteht sich als Konzept, das verschiedene räumliche Dimensionen annehmen kann. Derzeit verfolgen wir (transparadiso in Kooperation mit Julian ­Pöschl / trainofhope und einer Wohnbauvereinigung) mögliche (Zwischen-)Nutzungen, u.a. des brachliegenden Bahnoramas24, das in direkter Nachbarschaft zum Oberen Belvedere, direkt neben dem Hauptbahnhof Wien und im Fokus des neuen Stadtentwicklungsgebietes situiert ist. Dieses ikonische Zeichen wollen wir als eine Art kulturelles Zentrum / Community Zentrum nutzen, bevor dieser für Immobilieninvestoren höchst interessante Standort verwertet wird. Im Bienvenue sollen halböffentliche und öffentliche Räume für Workshops und Seminare, ein Café, Informationszentrum und womöglich eine Zweigstelle der Wiener Büchereien eingerichtet werden, die für Ankömmlinge, Beheimatete und die AnwohnerInnen des Bezirks gleichermaßen Angebote vor Ort schaffen sowie als Informationsdrehscheibe für ganz Wien fungieren. Gleichzeitig arbeiten wir am Quartier Bienvenue, das aus einer Mischung von Wohnen und (halb-)öffentlichen Räumen und den Programmen, die bereits in der Zwischennutzung erprobt werden, in Abstimmung mit dem urbanen Kontext bestehen soll. Zusammenarbeiten, Zusammenleben, Teilen Gemeinschaft entsteht von innen heraus, aus Interessensüberschneidungen der Beteiligten, aber sie braucht vor allem Zusammenarbeit und Kommunikation. Der Soziologe Richard Sennett unterscheidet in seinem Buch »Zusammenarbeit« zwischen dialektischer und dialogischer Kommunikation. Während Dialektik auf Konsens ausgerichtet sei, bezeichnete der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin eine Diskussion als »dialogisch«, wenn diese nicht darauf hinausläuft, dass man Übereinstimmungen findet.25 Unsere Zusammenarbeit mit den Ankömmlingen – sowohl für das Bienvenue als Zwischennutzung als auch für das Quartier Bienvenue – ist geprägt von letzterem: Für die Adaptierung von Räumlichkeiten für eine Zwischennutzung werden wir mit den Ankömmlingen eine hybride Ästhetik und Programmatik schaffen. Diese 23

Villém Flusser, Von der Freiheit des Migranten, Hamburg 2013 (erstmals 1994), S. 33. Das Bahnorama wurde als Aussichtsplattform für die Entwicklung der Baustelle des Hauptbahnhofgeländes errichtet und steht seit Dezember 2014 leer. 25 Vgl. Richard Sennett, Zusammenarbeit, München 2014, S.36. 24

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Erfahrungen werden in die permanenten Programme für das Quartier Bienvenue ein­ fließen, um die verschiedenen Wohnvorstellungen entsprechend der jeweiligen kulturellen Hintergründe in Sonderwohnformen umzusetzen, die gleichermaßen ein wichtiges Angebot für hybride Lebenssituationen von Beheimateten darstellen.26 Mit künstlerischen Strategien werden wir spezielle Settings erproben, um neue Formen von wechselseitiger Kommunikation und kulturellem Austausch zu entwickeln. Dabei betrachten wir »kulturelle Missverständnisse« als Produktivkraft. So planen wir u.a. einen Workshop zu »Vier Stunden ohne Uhr«, der unsere Maßgabe von Effizienz in Bezug auf Qualität hinterfragen wird. Wir könnten lernen zu verlernen. Und dieser Konjunktiv, so lehrt uns Richard Sennett (allerdings insgesamt bezogen auf die Rolle des Konjunktivs) »eröffnet im Verhältnis der Beteiligten einen unbestimmten Raum, in dem sich Fremde gemeinsam aufhalten können, ob es sich nun um Immigranten und Einheimische in ein und derselben Stadt, oder um Schwule und Heterosexuelle in derselben Straße handelt.« Er führt weiter aus: »Das dialektische und das dialogische Vorgehen sind zwei Möglichkeiten zur Gestaltung eines Gesprächs, im einen Fall durch ein Spiel von Gegensätzen, das zu einer Übereinstimmung führt, im anderen durch einen ergebnisoffenen Austausch von Ansichten und Erfahrungen.« 27 Letzteres ist unser Wunsch an das Bienvenue.28 26

Das aktuelle Konzept für das Quartier Bienvenue sieht folgende gemischte Wohnformen für unterschiedliche Zielgruppen vor: kulturell gemischte Paare bzw. Familien verschiedener Ankunftsgenerationen; ÖsterreicherInnen, die Austausch mit anderen Kulturen suchen; Patenschaften für Wohnungen um andere sozial zu unterstützen; Alleinerziehende mit Kindern aus verschiedenen kulturellen Hintergründen und Ankunftsgenerationen, die sich einen Gemeinschaftsraum teilen; WGs für unbegleitete Minderjährige; Großfamilien; etc. 27 Ebd., S.41 f. 28 April 2016

Dieser Beitrag ist ein veränderter Auszug einer Publikation, die im Oktober 2016 im Rahmen einer neuen Schriftenreihe erscheinen wird, die von der Abteilung ­Social Design. Arts as Urban Innovation / Universität für angewandte Kunst herausge­geben wird. Barbara Holub war während des Studienjahrs 2015 / 16 visiting artist im Studio Social Design und thematisiert in dem Band ihre künstlerische Forschung zum Thema Willkommenskultur sowie die Projekte des Studios. Zudem kommen andere Expertinnen und Experten in Statements und Interviews zu Wort.

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Causal ­relationships Topography of brain

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»Welche Fluchtstrategie wir wählen – alleine oder in der Gruppe zu fliehen, ist von entscheidender Bedeutung. … Diejenigen überleben und erreichen ihr Ziel, die die Klaviatur sozialer Medien beherrschen.« (G. Osagie, Flüchtling aus Nigeria)

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Derjenige Flüchtling, der vor und während der Flucht eine optimale und sichere Balance zwischen Egoismus und Altruismus aufbaut, schafft eine notwendige Grundvoraussetzung für ihr Gelingen.

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Wer also einerseits sein eigenes Süppchen kocht und andererseits eine ausgeprägte mentale Anpassungsfähigkeit besitzt, um sich je nach Situation gruppendynamischen Prozessen unterzuordnen, wird daraus die richtigen Schlüsse für Fluchtverhalten und -bewegungen ziehen. Der Fluchtraum bzw. -weg ergibt sich somit weniger aus einem geographisch zu definierenden Raumgefüge als vielmehr aus den Koordinaten von Erkenntnisprozess und Selbstreflexion. Die diesen mentalen Prozessen zugrunde liegenden aktiven psychosozialen Tools sind: I. Empathie Empathie ist ein vielschichtiges Konstrukt mit kognitiven und affektiven Anteilen. Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung. Als »kognitive« Empathie werden das Erkennen und das Verstehen, was in einem anderen Menschen vorgeht, jedoch ohne eigene emotionale Anteilnahme, definiert. Die »affektive« Empathie beschreibt dagegen die dem Subjekt eigene emotionale Reaktion auf den Gemütszustand des Gegenübers. Also eine Erweiterung der Kognition um eine emotionale Komponente: das Einfühlungsvermögen. Eine daraus gewonnene Wahrnehmung, Einordnung eines unerwarteten Gegenübers oder Vorhersage einer Reaktion etc. kann auf der Flucht unmittelbar zu einem kleinen, aber entscheidenden Vorteil führen. In jeder Sekunde der Flucht muss der oder die Fliehende unzählige Eindrücke verarbeiten und anhand dieser Informationen – mitunter lebenswichtige – Entscheidungen treffen. In welcher Situation oder in welchem Modus sich ein Gegenüber, eine Person, ein Freund oder ein Feind sich momentan befindet, verstehen die Flüchtenden also nicht nur gedanklich, sondern können dessen Beweggründe auch tatsächlich nachempfinden. II. Theory of mind Theory of mind ist die Fähigkeit, eine Annahme über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzunehmen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten und Handlungsintentionen zu verstehen. Basierend auf diesem Verstehen der mentalen Zustände anderer sagen die Flüchtlinge Verhalten vorher und passen ihr Verhalten an. Im Fluchtalltag – und vor allem in der Interaktion mit anderen – stellen sich diese Entscheidungssituationen höchst komplex und unstrukturiert dar. Wollen sie beispielsweise eine Entscheidung darüber treffen, wie vertrauenswürdig oder verärgert ein Gegenüber ist, so müssen in dieses Urteil Informationen über Gesichtsausdruck, Mimik, Gestik, Tonfall der Stimme oder die Anwendung sprachlicher Stilmittel wie etwa Sarkasmus oder Ironie einfließen.

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1 Beide Fähigkeiten – Empathie und Theory of mind – sind zwei unterschiedliche mentale Routen, um den anderen und dessen emotionale Situation zu verstehen. 2 Dabei steht bei der Empathie unsere Fähigkeit, mit und für den anderen zu fühlen, im Vordergrund. Bei der Theory of mind ist die Fähigkeit, die Gedanken und Handlungsabsichten anderer zu verstehen und vorherzusagen, dominant. 3 Das Ausmaß der Interaktion zwischen diesen Routen ist einerseits individuell verschieden und hängt andererseits vom Aufgabenkontext und von den vorhandenen Informationen in der jeweiligen Situation ab. Die Qualität der kognitiven und affektiven Empathie und der Theory of mind bestimmen das Ergebnis der als social scan zu bezeichnenden Modellierung des Gegenübers: freundlich, unfreundlich, ruhig, nervös, aggressiv, vertrauenerweckend, still, stumm, taub, ängstlich, interessiert, stotternd, fragend, laut, leise, wach, müde, jung, alt, gewaschen, ungewaschen, stark, schwach, dick, dünn, groß, klein, verletzt, vernarbt, schwitzend, Geruch, Hautfarbe, Stimme, Stimmlage, Ton, Kleidung, Schmuck, Handy, Waffe, ..... Freund oder Feind! Über die »psychosozialen Tools« stülpt sich die Frage, ob das eigene und das Verhalten des Gegenübers eine moralische oder eine soziale Norm verletzt könnten. III. Hive mind Hive mind (Schwarmintelligenz) wird definiert als die kooperative Intelligenz, die aus der gekoppelten Aktivität von vielen Akteuren entsteht. Je nach Fragestellung und Sichtweise zeigt sich der Hive mind als anarchistisches Gebilde, da er für sinnvolles, scheinbar organisationsloses Handeln vieler gleichartiger Einzelakteure ohne Gesetze oder hierarchische Organisation steht. Macht und Hierarchie wird hier in Frage gestellt. Flüchtlinge stellen selbstorganisierte Verbindungen her, bilden funktionsübergreifende Gruppierungen, formieren sich zu und in kooperierenden Kreisen, Kompetenzen werden verteilt, Gleichberechtigungen werden vorausgesetzt und Wissen wird in Echtzeit an alle weitergeleitet. Niemand übernimmt ein Kommando oder sagt den anderen Flüchtlingen, was sie zu tun hätten. Vielmehr reagieren alle miteinander, aufeinander, mental und kognitiv solange, bis ein Bewegungsmuster im Raum entsteht. Das Ergebnis ist die Summe der Aktivitäten jedes Flüchtlings, der aufgrund seiner Wahrnehmungen Entscheidungen trifft und diese in eine hochmotivierte, informierte und sich dynamisch bewegende Gruppe implementiert. Daraus ergibt sich die kollektive Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Optionen die optimale Lösung zu wählen. Die angeführten reduzierten Überlegungen zum Hive mind werden im Folgenden erweiternd in eine ästhetische Bildsprache übersetzt.

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IV. www – social medias – digital reality Sind die computergenerierten neuronalen Netzwerke folglich als eine Art von zerebraler Ausstülpung zu interpretieren? Längst ist es Realität und als kausaler Zusammenhang zu verstehen, wenn sich die Flüchtlinge der globalen digitalen Plattformen und deren uneingeschränkter Informationsquantität bedienen. Verwandelt sich durch das World Wide Web, durch die social medias und durch die digital reality auch unser zerebrales Synapsennetz­werk – qualitativ und quantitativ? Damit würden sich auch die Fähigkeit der zerebralen Informationsverarbeitung und sicherlich auch unsere Fähigkeiten zu Empathie und Hive mind ändern. Der Text nimmt Bezug auf: Niels Werber, Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte, Frankfurt am Main 2013. Peter Miller, Die Intelligenz des Schwarms, Frankfurt / New York 2010. Nadia Zaboura, Das empathische Gehirn, Wiesbaden 2009. Eric Schmidt / Jared Cohen, Die Vernetzung der Welt, Reinbek bei Hamburg 2013. http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/beendetebereiche/mpfg-neurokognition-der-entscheidungsfindung/ entscheidungsfindung-im-sozialen-kontext-2; (3. Juni 2016). http://www.socialbehavior.uzh.ch/teaching/NeurooekonomieFS11/VL_11_Empathie.pdf; (3. Juni 2016).

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Der Jungle von Calais

Calais ist EU-Außengrenze Die nordfranzösische Hafenstadt Calais ist seit dem Frühsommer 2015 im Focus der Flüchtlingsberichterstattung. Calais ist der wichtigste Hafen für den Auto- und Lkw-Transfer nach England. Zusätzlich gibt es seit der Eröffnung des Ärmelkanaltunnels im Jahr 1994 eine direkte Zuganbindung nach London für Auto- und Lkw-Züge. Der Eingang zum Tunnel bzw. die Bahn­ station CalaisFréthun liegt 7 Kilometer außerhalb von Calais an der A16. Dadurch, dass England dem S ­ chengener Abkommen nicht im vollen Umfang beigetreten ist, wurde Calais, bezogen auf die individuelle Reisefreiheit, zu einer EU-Außengrenze. Die Auswirkungen ­waren in Calais schon vor knapp 20 Jahren im Zuge der Jugoslawienkriege erkennbar. Vor allem der Kosovokrieg von 1999 sorgte für einen Anstieg von ­Kriegsflüchtlingen, die versuchten von Calais aus nach England zu gelangen. Die ­erfolgversprechendste Methode, um ­unkontrolliert an den Grenzkontrollen vorbei zu kommen, be­steht darin, sich in den Laderäumen der nach England fahrenden Lkws zu verstecken. Öffentliche Aufmerksamkeit erregten einige hundert kosovarische Familien mit Kindern, die in einer besetzten Fabrikhalle ohne sanitäre Infrastruktur lebten. D ­ araufhin wurde im September 1999 neben dem östlich von Calais an der Küste ­gelegenen Sangatte eine Notunterkunft, geführt vom Roten Kreuz, errichtet. Gebaut wurde sie iro­ nischerweise auf einem Gelände, das zum Bau des Ärmelkanaltunnels genutzt wurde. Sie lag somit verkehrsgünstig in der Nähe des Tunnel­eingangs. Das als Rotkreuzlager von Sangatte auch außerhalb von Frankreich und England bekannt gewordene Lager war als Notunterkunft für einige hundert Bürgerkriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien gedacht. Durch erhöhte Sicherheitsmaßnahmen am Tunneleingang und neue Krisen, wie den Erfolg der Taliban in Afghanistan, kam es in den folgenden zwei Jahren zu einem Rückstau und gleichzeitig zum Zuzug von neuen Geflohenen. Ende 2002 beschlossen der damalige französische Außenminister Nicolas Sarkozy und sein britischer Kollege David Blunkett die Schließung von Sangatte. Mittlerweile befanden sich hier 1800 MigrantInnen und davon kamen 40 % aus Afghanistan. Man war sich einig, dass das Lager der eigentliche Grund für den Zuzug von MigrantInnen sei und teilte die Anwesenden zur weiteren Behandlung auf beide Länder auf. War der Ablauf der Grenzkontrolle am Ärmelkanaltunnel schon seit der Inbetriebnahme 1994 durch sogenannte vorgezogene Grenzkontrollen geregelt, verabschiedeten Sarkozy und Blunkett im Zuge der Schließung von Sangatte den Vertrag von Le Touquet, der die Grenzkontrolle der britischen Beamten schon auf dem Gelände der französischen Häfen und umgekehrt auch der französischen Be-

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amten auf dem Gelände der britischem Häfen ermöglichte. Dadurch wurden sowohl der Bereich des Tunneleingangs als auch der Hafen von Calais in die Obhut von britischen Grenzbeamten gelegt. In den ersten Jahren nach Sangatte schwankte die Zahl der in Calais wahrnehmbaren Migranten stark, lag aber wohl meistens nur zwischen 300 und 600 Menschen gleichzeitig. Die meisten hielten sich in Zelten und in vereinzelten, selbstgebauten Hütten in den Dünen auf oder besetzten leerstehende Wohnungen und Fabrikareale, bzw. nutzten diese meistens eher möglichst unbemerkt. Ich fahre seit meiner Kindheit regelmäßig 1-2-mal im Jahr in ein 20 Kilometer von Calais entferntes Küstendorf namens Wissant und hatte in den Jahren nach Sangatte meine ersten eigenen Begegnungen mit MigrantInnen. Bei einem stundenlangen Spaziergang an einem ansonsten menschenleeren Strand traf ich auf einen nordirakischen Kurden, der bei einem Fischer in einer winzigen Ansiedlung am Cap Griz Nez untergekommen war. In den Weltkriegsbunkern an der Küste um Calais traf ich immer wieder auf Anzeichen von vorübergehender Nutzung. Zum Thema »Urlauber trifft auf Flüchtling« waren für mich Begegnungen bei den hölzernen Strandhäusern bei Blériot Plage mit Blick auf die Hafenausfahrt von Calais am stärksten. Hunderte von Strandhütten werden meist nur zur Hauptsaison genutzt und lassen sich oft, ohne die Tür benutzen zu müssen, betreten. Sie waren dementsprechend bei Einzelreisenden oder kleinen Gruppen beliebt. Von hier aus sieht man die Kreidefelsen von Dover mit bloßem Auge und zusätzlich fahren in regelmäßigem Abstand die Fähren durchs Bild. Mit der letzten »kleinen Aufgabe« direkt vor Augen sind Gespräche hier besonders intensiv und das Thema vorgegeben.

DER JUNGLE VON CALAIS STEPHAN MÖRSCH

Die Kontaktaufnahme zu MigrantInnen in Calais ist übrigens denkbar einfach. Meist reicht ein angedeutetes grüßendes Kopfnicken und kurzes Innehalten, um dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, auf einen zuzukommen. Die Migrant­ Innen in Calais sind meistens so aufmerksam, dass sie kleinste Reaktionen an Passanten auch aus dem Augenwinkel wahrnehmen und lesen können. Der erste Jungle 2009 stieg die Zahl der Flüchtenden zum ersten Mal nach der Schließung von Sangatte wieder stark an. Es waren vor allem Afghanen, die zu Verwandten oder Bekannten nach England wollten. Ein großer Teil war minderjährig und fast ausschließlich männlich. Von der parallel zur Küste verlaufenden Autobahn A16 zweigt westlich von Calais die Ausfahrt zum Hafengebiet ab und führt im rechten Winkel auf die Küste zu, bevor sie vor den Dünen wieder rechtwinklig abknickt und dann direkt zum Hafengelände führt. In dem durch Autobahn und Zufahrtstrasse begrenzten Bereich befinden sich noch einige Privathäuser, mehrere Industrieanlagen und zum großen Teil unterschiedlich stark bewachsene, ungenutzte Flächen. In diesen Brachen und in den mit Sanddornbüschen bewachsenen Dünen jenseits der Hafenzufahrt haben sich bisher nur vereinzelte Hütten angesiedelt, da sie regelmäßig in den Morgenstunden von 6:00–10:00 Uhr von Polizei aufgesucht und zerstört wurden. Das ist genau die Zeit, in der der Betrieb im Hafen ruhiger wird und sich die MigrantInnen von ihren nächtlichen Versuchen, die Lkws zu erreichen, ausruhen wollen. Mit der zunehmenden Zahl von MigrantInnen war die Polizei überfordert und konzentrierte sich auf deren Vertreibung aus dem Innenstadtbereich. Nach Aussage eines Afghanen1 haben sie das öfters mit den Worten »Geht doch in euren Jungle!« getan. Damit war wohl ursprünglich ein dichteres Waldgebiet zwischen den letzten Wohnhäusern und dem Industriegebiet geAbb. 92 meint, das für die Polizei besonders unzugänglich war. Welche The Calais Seite, die Polizei oder die MigrantInnen, auf diesen Namen kam, Jungle, 2014 ist nicht klar. Auf Pashtun soll »Dzhangal« ebenfalls Wald Metall, Holz, bedeuten. Plastik, Stoff, Motiviert durch die Aufforderung, in ihr eigenes Gebiet gehen Beton, Farbe zu sollen, fingen dann vor allem Pashtunen an, aus dem Wald H 32 cm x B 115 heraus eine angrenzende, größere Freifläche, die nur stellencm x T 120 cm weise bewachsen war, zu bebauen. Als Baumaterial wurde alles genutzt, was im Hafen und in der Stadt zu finden war. Paletten dienten für Bodenflächen und anfänglich auch für die Wände, 1

Dieser Afghane war 2009 in Calais, lebte im Jungle und hat in der Nacht nach der Räumung die Überfahrt nach England geschafft. Er hat dann über 4 Jahre in Brighton in einem Club gearbeitet, wurde dort bei einer Kontrolle erwischt und zurück nach Italien geschickt, wo er erstmals seine Fingerabdrücke abgeben musste. Ich traf ihn im Juni 2014, als er gerade wieder in Calais angekommen war, um erneut überzusetzen. Seine Heimat hat er bereits 2003 verlassen.

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bis immer mehr Bauzäune auftauchten. Ein Bauzaun ist 2 Meter hoch und 3,50 Meter breit. Die am häufigsten gebaute Einheit bestand aus 4 Bauzäunen für die Wände und 2 Bauzäunen für das Dach und genau 9 LKW Paletten für den Boden. Innen ergab das eine Höhe von bequemen 1,80 Metern. Anfang 2009 wurden die Hütten noch mit Decken, Styropor und ähnlichem Dammmaterial abgedichtet Im Sommer wurde darauf meistens verzichtet. Zum Abdichten der Gebäude kamen hauptsächlich blaue Baumarktplanen zum Einsatz und alles Wasserdichte, was sich in der Stadt finden ließ, wie Werbebanner, Plakate und Verpackungen. Die einzelnen Baukörper wurden so zueinander und zu den Hauptwegen platziert, dass möglichst lange und gewundene Wege zu den jeweiligen Eingängen zurückzulegen sind. Daneben hat jede Hütte oft mehrere Gucklöcher, durch die man von innen das Geschehen draußen beobachten konnte. Kochstellen waren meist getrennt von den Hütten platziert und gegen Wind und Regen geschützt. Toilettengruben waren am Rand gelegen, wohingegen die ähnlich aussehenden Duschkabinen oft direkt in den jeweiligen Hüttenverbund integriert waren, was auf Grund des sehr sandigen Untergrundes kein Problem darstellte. Fließendes Wasser gab es sowieso nicht und das war die Achillesferse der Siedlung. Trinkwasser gab es nur über einen an der nächsten Straße gelegenen Hydranten. Diese Bautätigkeit dehnte sich bis zu der Räumung des Jungles am 23. 9. 2009 auf einer Fläche von 250 mal 150 Metern aus und gipfelte in der Errichtung einer Moschee als Zentrum der ersten, rein afghanischen Dorfgründung in Mitteleuropa. Ich war 2009 erst nach der Räumung und der Zerstörung der Siedlung in Calais. Der Jungle von Calais war aber schon seit dem Sommer 2009 nationales Medienereignis und kurz vor der Räumung wurde auch europaweit berichtet. Im Internet ließ sich genug Bildmaterial finden, um die Moschee und die umliegenden Gebäude nachbauen zu können. Dabei fielen mir der Einsatz von wiederverwendeten Medienerzeugnissen und deren bewusste Platzierung an den Gebäuden auf, die von der klaren Eigenwahrnehmung und dem Humor ihrer Erbauer zeugt. An prominenter Stelle befindet sich eine Lkw-Werbung: Ein Tiger bewacht den Eingang einer einzeln stehenden Rundhütte. Der holländische Fotograf Henk Wildschut hat 2008 unter anderem in dem erwähnten Waldgebiet, dem Ur-Jungle, Fotos von den damals noch vereinzelten Bauten gemacht und diese für eine Ausstellung im Stadtraum von Breda auf ca. 8 mal 6 m große Planen in Originalgröße gedruckt. Nach dem Ende der Ausstellung hat er diese Planen an die Originalplätze der fotografierten und mittlerweile verschwundenen Hütten in Calais zurückgebracht. Eine dieser Ur-Jungle-Darstellungen wurde dann als Dach der Moschee verwendet. Überwältigend finde ich die spirituelle Wirkung des Moschee-Innenraumes, der mich dazu veranlasst hat, dieses Gebäude im Maßstab 1:10 wieder auferstehen zu lassen. Hier möchte ich nochmals daran erinnern, dass das Hauptanliegen der Moschee-Erbauer darin bestand, in den nächsten Stunden jede Möglichkeit zu nutzen, um nach England zu kommen.

Abb. 93 The Calais Jungle/ The Jungle Mosque, 2010–2014 Metall, Holz, Plastik, Farbe H 25 cm x B 170 cm x T 92 cm

Abb. 94 The Calais Jungle/ The Jungle Mosque, 2010–2014 Metall, Holz, Plastik, Farbe H 25 cm x B 170 cm x T 92 cm

Abb. 95 The Calais Jungle/ The Jungle Mosque, 2010–2014 Metall, Holz, Plastik, Farbe H 25 cm x B 170 cm x T 92 cm

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Nach der Räumung im September 2009 wurde es aus verschiedenen Gründen ›leerer‹ in Calais. Einige versuchten ihr Glück in dem kleineren Hafen von Dunkerque, oder versuchten schon weit vor Calais auf LKWs zu gelangen. Was immer wieder zu kleineren Jungles entlang der Autobahnen führte, wie etwa in dem kleinen Ort Norrent-Fontes an der A26. Eine langfristig wirksame Veränderung hat das Jahr 2009 aber bei den Hilfsorganisatoren vor Ort gebracht. Schon seit der Schließung von Sangatte haben sich Organisationen wie Salam, Secours Catholique, Médecins Sans ­Frontières oder Emmaus um eine Notversorgung der MigrantInnen mit mindestens einer täglichen Essensausgabe, Kleiderspenden, medizinischer Versorgung und auch Zelten oder Baumaterialien gekümmert. Zum einen haben die angestiegenen Zahlen 2009 den Kreis der UnterstützerInnen erhöht, zum anderen hat die Medienpräsenz die aktiven Bürger von Calais, aber auch im Umgang mit der Presse geschult. Zusätzlich fand im Sommer 2009 ein No Border Camp, ein i­ nternationales Treffen der No Border AktivistInnen, statt. Seitdem kommen immer wieder AktivistInnen für längere Zeit nach Calais, um die überschaubaren Akteure vor Ort zu unterstützen. Zum einen geht es um das Verhindern und Veröffentlichen von Übergriffen sowohl der Polizei als auch von rechtsradikalen Gruppen, wie auch um praktische Hilfe wie Hausbesetzungen oder Bewachung des Jungle. Die nach dem No Border Camp gegründete Internetseite ­(­calaismigrantsolidarity.wordpress. com) bietet ein detailliertes Archiv der Ereignisse seit Juli 2009.2 2 Hier weise ich auf den Blog https://passeursdhospitalites.wordpress.com von Philippe Wannesson hin. Er zeichnet sich als unaufgeregter Beobachter der Ereignisse in Calais aus und ist einer der wenigen, der nicht einer der Hilfsorganisationen oder AktivistInnengruppen direkt angehört, aber Kontakt zu allen hält. Er ist seit Jahren täglich an den neuralgischen Punkten in Calais unterwegs.

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Der zweite Jungle Anfang 2014 veränderte sich die Situation wieder einmal. Die Zahlen stiegen und zusätzlich wurden neue Strategien ausprobiert. Die mittlerweile auch in Calais angekommenen syrischen MigrantInnen besetzten medienwirksam den Fußgängerzugang zum Hafengelände und benutzen die Konstruktionen des Zuganges als Zeltstangen; sie waren somit für alle Calais-Reisenden sichtbar. Dann gab es den ersten Massenansturm auf den Hafen von einigen hundert MigrantInnen gleichzeitig, der erst unmittelbar vor den Fähren gestoppt werden konnte. Im Frühsommer entstanden dann zwei Zeltlager innerhalb der Grenzen der Altstadt. Während deren Räumung organisierten sich die aus verschiedenen Ländern stammenden MigrantInnen erstmalig spontan und besetzten trotz massiver Polizeigewalt das Gelände der Essensausgabe der Hilfsorganisation Salam, das noch ein bisschen zentraler in der Innenstadt lag. Nach einigen Wochen wurde dieses zwar wieder geräumt, aber die Zahlen stiegen und alles passierte gleichzeitig. In der Innenstadt wurden jetzt für jeden sichtbar Häuser und Fabrikanlagen besetzt. Die Afghanen begannen mit dem Bau einer neuen Siedlung in dem Waldstück des Ur-Jungles. In unmittelbarer Nachbarschaft wurde eine Turnhalle zugänglich gemacht und an die Wasserversorgung angeschlossen. Diese Halle wurde zum Ursprung einer eritreischen Siedlung. Die Eritreer waren dann auch die ersten, die nach 2009 wieder ein von außen erkennbares, religiöses Gebäude bauten, in diesem Fall eine griechisch-orthodoxe Kirche. Die Bedeutung dieses Schrittes ist vielleicht mit dem Ursprung der ­deutschen Kirchweih vergleichbar. Hier wurde nicht nur des Momentes der Weihung eines Gebäudes gedacht, sondern es ist auch die Erinnerung an den Moment, in dem eine Ansammlung von Gebäuden zu einer zusammengehörenden Siedlung wird. Kurze Zeit später stand dann gegenüber der eritreischen Kirche eine Abb. 96 afghanische Moschee, was wiederum eine Neuerung war, da Die Turnhalle die sich die verschiedenen Nationalitäten bisher nicht freiwillig gezur Keimzelle der mischt hatten. Diese Siedlungen unterschieden sich aber auch eritreischen alleine durch die Anwesenheit von Frauen und Kindern extrem Siedlung werden von dem ersten Jungle von 2009. Neben von Frauen geführten wird kurz nach Restaurants und Schulen gab es auf einmal auch Friseure und dem Nutzungs­ kleine Läden. beginn im August 2014. Gerade wird ein wichtiger Marienfeiertag begangen. In wenigen Tagen wird diese Halle komplett mit Zelten gefüllt sein und für den Altar wird ausserhalb der Halle ein eigenes Gebäude errichtet.

Die Hilfsorganisationen kamen 2014 aber durch steigende Zahlen der Flüchtlinge absolut an ihre organisatorischen Grenzen und konnten eine Nahrungsverteilung nicht mehr im nötigen Umfang aufrechterhalten. Spätestens nach einer Massenschlägerei während der Essensausgabe wurde öffentlich über Unterbringung und Versorgung durch den Staat diskutiert, und dies, obwohl es bei der Schlägerei zwischen Eritreern und Sudanesen nicht um die Essensrationen ging, sondern um den Zugang zu den wenigen Stellen, an denen man die Lkws erreichen kann.

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Dies führte zu dem Plan, die MigrantInnen zwar nicht unterzubringen, ihnen aber ein Tageslager zur Verfügung zu stellen. Dort erhalten sie eine warme Mahlzeit, Duscheinheiten von fünf Minuten und den Zugang zu Steckdosen, um ihre Handys aufzuladen. Für das Tageslager wurde ein ehemaliges Freizeitgelände namens Jules-Ferry, das östlich der Autobahnzufahrt zum Hafen liegt, ausgewählt und für erwartete 1000 Flüchtlinge ausgerüstet. Zur Unterbringung wurde ein direkt an der Zufahrtsstraße gelegenes 18 ha großes Areal vorgesehen, wo sich die Migrant­ Innen aber selber organisieren sollten. Diese Pläne wurden treffend als »Sangatte ohne Dach« oder als »staatlich organisierter Slum« bezeichnet. Aber mit der Ansage: »Zieht freiwillig um, oder wir räumen!« und der Aussicht, wenigstens tagsüber Zugang zu Strom für die Kommunikationsgeräte zu haben, ließen sich viele aus den bisherigen Siedlungen zum Umziehen überreden. Der Zugang zu Strom ist für aktiv Flüchtende wichtiger als die Grundversorgung mit Nahrung. Ohne Netz, ohne Informationen geht es nicht weiter. Das hatte zur Folge, dass zum ersten Mal Siedlungen abgebaut und durch Calais transportiert wurden, anstatt von Bulldozern planiert zu werden. Als ich im Mai 2015 nach Calais kam, war der neue Jungle erst einige Wochen alt. Jedoch hatten sich schon ein richtiges Geschäftsviertel, größere Teestuben und Restaurants gebildet und die scheinen gute Umsätze zu machen. Für eine Abb. 97 Neubau der eritreischen, griechischorthodoxen Kirche im neuen Jungle im Mai 2015

Abb. 98 Die eritreische, griechischorthodoxe Kirche im neuen Jungle im November 2015

DER JUNGLE VON CALAIS STEPHAN MÖRSCH

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Restaurantbetreiberin aus Eritrea habe ich an einem Freitag für 250 € Mehl, Quark, Öl, Eier, Tomaten und Sauce Bolognese für eine Art Pizza gekauft; nach ihrer Aussage müsse sie Montag wieder einkaufen gehen. Mein Kombi war komplett gefüllt. Es gab im Mai bereits drei fertig gestellte Moscheen, und die eritreische Community war gerade dabei, ihre abgebrannte erste Kirche durch einen wesentlich größeren Neubau zu ersetzen. Auf diesem neuen Areal sind die Gebäude dem Wind wesentlich stärker ausgesetzt, was wohl auch den Brand der Kirche verursacht hatte. Beim Neubau haben sie ein seitdem auch bei anderen größeren Bauvorhaben kopiertes Trägersystem in den Dachstuhl eingebaut. Mittlerweile wurde ein Umfassungszaun um die Kirche und umliegende Flächen gebaut sowie weitere Gemeindehäuser innerhalb dieses Areals. Man sollte also eher von einer Klosteranlage sprechen. Es waren auch schon einige eritreische Geistliche auf der Durchreise vor Ort. Für die jetzige Gestalt mit größerer Wirkung ist aber der Aufenthalt eines eritreischen Kirchenmalers nötig gewesen. Die Zahl der BewohnerInnen des Jungle stieg dann bis zum Ende des letzten Jahres auf 8000 an. Das Tageslager Jules Ferry mit einer Kapazität für 1000 ›Kunden‹ ist dementsprechend überlastet. Zusätzlich wurde im Lauf des letzten Jahres der Autobahnzubringer bis zur Autobahn beidseitig eingezäunt mit einem Zaun, der

Abb. 99 Luftbild mit den Siedlungsgebieten der verschiedenen Nationalitäten. Auf der linken Seite befindet sich das Tageslager Jules Ferry. Die mit Rocade bezeichnete Strasse ist die mittler­ weile ein­gezäunte Hafenzufahrtsstraße. Fotografiert an der Anlaufstelle der Ärzte ohne Grenzen im neuen Jungle im November 2015.

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ursprünglich das Nato-Treffen in Newport 2014 sicherte und dann von England an Calais verschenkt wurde. Damit ist der Zugang zu den direkt am Jungle vorbeifahrenden Lkws fast unmöglich gemacht worden. Mit der einsetzenden europaweiten Medienberichterstattung kam aber auch europaweit Hilfe nach Calais. Lebten im Herbst noch die Hälfte der Jungle-BewohnerInnen in Zelten, so soll es Anfang Januar nur noch ca. 125 nicht winterfeste Behausungen gegeben haben. Die agierenden Helfer vor Ort sind unterschied­ licher Natur, von einzelnen AktivistInnen, über Künstlergruppen, Bautrupps von Architekturuniversitäten, bis hin zu den verschiedenen konfessionellen Gruppen. Es gibt momentan eine Lagerhalle, in der Gebäude vorgefertigt werden. Im Januar kam es dann zu zwei schweren Eingriffen in die gewachsene Struktur des Jungles. Zum einen wurde eine Mitte 2015 für den Jungle geplante Container­ einheit mitten in das Gebiet des Jungle abgesetzt. Die Idee war ursprünglich, einen sicheren Bereich für Frauen, Kinder und unbegleitete Minderjährige zu schaffen. Geplant waren diese Container mit den Zahlen von Sommer 2015, also für 1500 Menschen. Zusätzlich mussten für die Container einige Gebäude umziehen. Gleichzeitig hat die Polizei eine hundert Meter lange Pufferzone entlang der nun eingezäunten Hafenzufahrtsstraße freigeräumt. Der Zaun wird natürlich permanent angegriffen und bisher mit Vorliebe an den Stellen, an denen die Siedlung direkt an den Zaun heranreichte. Die Zukunft des neuen oder besser jetzigen Jungle ist also zum wiederholten Male absolut unsicher. Wir Mitteleuropäer ertragen die Unkontrollierbarkeit von selbstorganisierten Siedlungen seit einigen Generationen nicht mehr. Damit haben wir uns aber von einer in anderen Teilen der Welt willkommenen Ressource zur Urbanisierung komplett abgeschnitten.

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Weltmarkt und Raumdynamik

Migration bezeichnet eine Wanderung von Menschen aus einem Raum in den anderen. Das suggeriert einen Übergang von einem heimatlichen in einen neuen, fremden Raum; die Forderung nach »Integration« greift das als Anmutung des Übernehmens einer neuen Raumordnung auf. Dabei befremdet die Bewohner der alten Welt nicht nur die Fremdheit der Neuankömmlinge, sondern vielmehr auch ihre Nähe, also der Grad, zu dem uns die Neuankömmlinge bereits ähnlich sind. Sie tragen Jeans und Turnschuhe, nutzen Smartphones und stellen Forderungen – genau wie wir. Ein Gutteil der Bedrohungsgefühle dürfte auf diese Ähnlichkeit zurückgehen. Daher greift der vorliegende Essay diese verstörende Ähnlichkeit der »Fremden« auf und diskutiert als eine mögliche Ursache die übergreifenden kapitalistischen Raumdynamiken, die Herkunfts- und Ankunftsräume miteinander verbinden. Das beansprucht keine Analyse unmittelbarer »Fluchtursachen« – das bräuchte viele Einzelanalysen für die jeweiligen Regionen (Kronauer 2016). Doch gibt es durch die kapitalistische Dynamik eine Präformierung des gemeinsamen Raumes. Betrachtet man diese genauer, so erscheint Migration keineswegs als Sonderfall, sondern als etwas Erwartbares, das aus einer Logik resultiert, die den neuen und alten Heimaten gemeinsam ist. Diese Dynamik wird hier in einer Relektüre einiger Werke über die Logik des Kapitalismus nachgezeichnet.

Migrations­ räume des ­Kapitalismus

Christoph ­Henning

1. Immanuel Wallerstein über die ursprüngliche Akkumulation Anlässlich des zweiten Golfkriegs – einem epochalen Fehler der Regierung von George W. Bush, die unter den hier nicht näher betrachteten Fluchtursachen weit oben rangiert – schrieb Immanuel Wallerstein in einem denkwürdigen Büchlein über die Vorgeschichte solcher Kriege, dass die »Rhetorik der Mächtigen« (2007, 8; gemeint waren Bush und Tony Blair) eine Kontinuität bilde zu der Rhetorik älterer kolonialer Kriege: der Eroberung Amerikas durch die Spanier und den Kolonialismus der Briten im 19. Jahrhundert. Gegenüber anderen Theorien der Weltgesellschaft zeichnet es die Theorie Wallersteins aus, dass sie keine vorschnellen Synthesen behauptet, die harmonistisch Differenzen überspielt: in der globalisierten Welt ist ihm zufolge keine politische oder kulturelle Homogenität zu erwarten (Wallerstein 2006, 23). Gegenüber postmodernen Ansätzen allerdings, die ähnlich Differenzen hervorheben, aber Behauptungen von Identität eher problematisieren, verweist Wallerstein gleichwohl auf Zusammenhänge: Das Weltsystem sei weniger ein kultureller oder politischer, sondern zunächst ein ökonomischer Zusammenhang. Einen solchen auf globaler Ebene zu schaffen ist allerdings voraussetzungsreich, es dauert Jahrhunderte. Erst wenn

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man auf diesen Zusammenhang sensibilisiert ist, zeigen sich große historische Linien, die die Eroberungskriege des 16. Jahrhunderts mit denen des 19. und 21. Jahrhunderts verbinden: es sei die »Geschichte der Expansion europäischer Staaten und Völker in den Rest der Welt« (Wallerstein 2007, 11). Es gibt also, einfach gesagt, einen sowohl historischen wie geographischen Zusammenhang in der ökonomischen Basis (dem modernen Weltsystem), der die betrachteten Regionen und Jahrhunderte zusammenbindet – allerdings nicht harmonisch und reziprok, wie es ökonomische Theorien des »Marktes« gern hinstellen, sondern auf eine räuber­ ische, kriegerische und bis heute asymmetrische Weise. Das hat doppelt mit Migration zu tun: Erstens war dieser Prozess des Zusammenbindens eine überaus gewaltsame Angelegenheit, welche ganze Völker – wenn sie nicht dem Tode ausgeliefert wurden – entwurzelt und vertrieben hat. Lokale Entwurzelung steht schon am Beginn des modernen Weltsystems, wie man am Bericht des Bischofs Las Casas ablesen kann, in dem dieser dem heimatlichen Spanien die Auswirkungen seiner Expansion vor Augen stellte: »Im Jahre 1509 fuhren die Spanier zu den Inseln Puerto Rico und Jamaica hinüber (diese waren wie fruchtbare Gärten und volkreiche Bienenstöcke) … Und sie verübten dort die gleichen großen Missetaten und Frevel, … indem sie die Indios töteten, verbrannten, rösteten und mit scharfen Hunden hetzten und die übrigen später in den Bergwerken und bei den anderen Arbeiten bedrückten, quälten und peinigten, bis Sie all jene unglücklichen und unschuldigen Menschen vernichtet und ausgerottet hatten« (Las Casas 1541, 36; es folgen endlose weitere Schilderungen; cf. ­Wallerstein 2007, 16 f.). In der kulturellen Repräsentation dieser Prozesse wird diese Vernichtung und Vertreibung allerdings in der Regel nicht als solche kenntlich – Las Casas ist eher die Ausnahme. Vielmehr gibt es zweitens ein Legitimationsnarrativ, was diese Taten mit der Fremdheit, der »Barbarei der Anderen« zu rechtfertigen versucht. Zwar gibt es zwischen den sich historisch ändernden Legitimationserzählungen inhaltliche Unterschiede: mal ist es die religiöse Überlegenheit des Christentums über die Heiden, mal die kulturelle Überlegenheit der Zivilisation über die ›Primitiven‹, mal die ökonomische Überlegenheit moderner Marktwirtschaften über vormoderne Regionen oder die moralische Überlegenheit von Demokratien, die dies leisten soll (Wallerstein 2007, 11, 20 f.). Doch ist die Struktur dieser Erzählungen, folgt man Wallerstein, stets ähnlich: Die anderen werden 1 als »Wilde« hingestellt, die sich selbst nicht regieren könnten und daher von der Fremdherrschaft profitieren; ihnen werden 2 Vergehen vorgeworden, die es zu sühnen gelte; es werden 3 Schutzbedürftige angeführt, die man zu retten habe, und schließlich seien 4 bestimmte Werte in diesen Regionen zu verbreiten (Christentum, Zivilisation oder Wohl­stand). Es kommt mir hier nicht darauf an, mit welchen Argumenten im Einzelnen Wallerstein diese Punkte in ihren unterschiedlichen historischen Versionen ad absurdum führt. Wichtiger ist mir, dass das, was die Versionen verbindet, ihre Falschheit ist: stets hat die Konstruktion eines Schwarz-Weiß-Bildes zwischen »uns«, den Guten, und »ihnen«, den Barbaren, eine ideologische Funktion. Ihnen voran geht die in diesem Bild nicht mitgezeigte gewaltsame Eroberung durch »unsere« Seite,

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die durch die Konstruktionen nachträglich legitimiert werden soll. Das Bild der Fremdheit der Anderen trägt eine exkulpatorische Last: das Konstrukt soll ex post zeigen, dass unsere Gewalt berechtigt war. Daher ist es so verstörend, wenn »sie« zu »uns« kommen – und wir aus der Nähe erleben, dass es zwischen uns keineswegs nur Fremdheit, sondern auch Ähnlichkeit gibt. Vielleicht wird damit das alte Legitimationsnarrativ brüchig, vielleicht kommt hiermit ein Bewusstsein für nicht-entschuldete Gewalt wieder ans Tageslicht? Hinsichtlich der Frage des Raumes jedenfalls macht diese Rückbesinnung klar, dass drei Größen auseinanderzuhalten sind: Es gibt nicht nur den einen, nämlich »unseren« Raum, im dem es gegenwärtig zu Begegnungen kommt und in dem sich der Konflikt vordergründig abspielt. Es gib auch den anderen, »ihren« Raum, in dem es immer schon eine Begegnung zwischen »uns« und »ihnen« gegeben hat (Wallerstein spricht hier von Zentrum und Peripherie). Unsere Verhandlungsführung im einen (»unseren«) Raum verändert sich, wenn wir unsere Rolle im anderen gegenwärtig halten, die mit unter die Fluchtursachen zu zählen ist. Eine dritte Instanz ist schließlich dasjenige, das diese beiden Räume allererst geformt und in Beziehung gesetzt hat: die kapitalistische Weltwirtschaft. Sie hat unsere Gesellschaften wie diejenigen der »Peripherie« stark überformt und miteinander vernetzt – doch auf bis heute radikal asymmetrische Weise. Daher wird in gegenwärtigen Debatten über Migration und Integration der globale Kapitalismus mitverhandelt (Zizek 2015). Er ist die ein-räumende Macht, die »uns« und »ihnen« überhaupt erst diese beiderseits unangenehmen Rollen verliehen hat. Diese einleitende Überlegung über die Verquickung der konstruierten Fremdheit der Fremden mit Motiven einer Rechtfertigung von (unserer) Gewalt mag damit abgewiesen werden, dass diese – zugegeben – laienpsychologische Verquickung sich an vergangene Taten halte, die nicht länger der Logik des gegenwärtigen globalen Wirtschaftssystems entsprächen. Aber ist das so? Glaubt man jüngeren Dokumentarfilmen wie La Buena Vida (Jens Schanze 2015) oder L ­ andgrabbing (Kurt Langbein 2015), so ist die Vertreibung von Menschen im Namen des Wohlstands noch immer die Regel, gerade in schon damals betroffenen Regionen. Ebenso wenig trifft das Argument einer veränderten wirtschaftlichen Logik zu. Der folgende Abschnitt zeigt auf, dass Vertreibung im großen Stil auch im liberalen Zeitalter erlaubt war und ist: liberale Theorien verwandten große Mühe darauf, sie als legitim aufzuzeigen. 2. John Locke und die Gewaltsamkeit des Liberalismus Verstehen wir unter Liberalismus nicht das Hochglanzmodell, das sich darin als vorziehenswert ansieht, dass es von realen Problemen fortabstrahiert (Rawls’ »veil of ignorance«), sondern die reale historische Bewegung, in die theoretische Auseinandersetzungen stets eingelassen sind. Dann zeigt sich rasch, wie die Etablierung des liberalen ›Regimes‹ von Anbeginn gewaltsam erfolgte (Bohlender 2007). Viele gewaltsame Maßnahmen wurden damit legitimiert, dass sie sowohl für die Ausübenden wie für die von der Gewalt Betroffenen von Vorteil seien. Um das Wohl von Personen zu fördern, greift man in deren Lebensführung ein. Das resultiert in Entwurzelung und Vertreibung. Dieses paternalistische Motiv ist ein liberaler

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Grundbaustein. Schauen wir, wie dies bei John Locke, einem frühen »Liberalen« im heutigen Sinne, genau aussah. Locke lässt die Ausübung von (Staats-)Gewalt nicht erst für die nachträg­ liche Sicherung des Eigentums gegen Diebe zu. Bereits die Konstitution von Privateigentum geschieht unter Zwang. Im Second Treatise of Government (1689, V.26, V.32 und öfter) ist die Rede von »enclosures«, der Privatisierung vormals gemeinsam genutzter Ressourcen (neudeutsch »Landnahme«). Wie die genannten Filme demonstrieren, ist dieser urliberale Zug noch immer aktuell. Er basiert auf einer Theorie des Guten, nach welcher Privateigentum gut, Gemeineigentum hingegen schlecht ist. Darüber wird in keinem »Urzustand« abgestimmt (wie man beim Kontraktualismus vermuten könnte), sondern es wird von Locke gesetzt. Konkret bedeutet dies, dass Einzelne sich am Gemeineigentum bedienen und die anderen unter Androhung von Zwang von der Nutzung ausschließen – und das heißt de facto oft: vertreiben – dürfen. Wie Rousseau und Proudhon später monierten, handelt es sich dabei um Raub (lat. privare = rauben). Locke bestreitet dies nicht: »Was it a robbery thus to assume to himself what belonged to all in common?« Er antwortet lediglich mit einem Effizienzgewinn, der das moralische Unrecht aufwiegen soll: »If such a consent as that was necessary, man had starved« (Locke 1689, V.28). Aber welcher »Mann« wäre verhungert: der, der nahm, oder die anderen? Setzt nicht der, der aus dem gemeinsamen Pool nimmt, andere dem Verhungern aus?1 Ist dies nicht der Grund, warum Raub verwerflich ist? An dieser Stelle setzt das große Narrativ der Effizienz an, die alle anderen Moralen umwirft, ja sich ihnen gewaltsam widersetzen darf. Der liberal Raubende will nicht einfach seine Besitztümer oder seinen »Nutzen« maximieren. So hatte es die Vorgängertheorie des Merkantilismus noch betrachtet – Reichtum maximieren könne nur, wer von anderen nehme, etwa im ungleichen Tausch (Mills 2002, 51 f.). Eine liberale Aneignung von Privateigentum geschieht vielmehr stets auch zum Wohle der Beraubten. Es streicht das Bewusstsein eigenen Unrechts bereits in actu durch. Ausflüge in die koloniale Ethnologie sollen das verdeutlich: Von den gewaltsamen Privatisierungen profitieren letztlich alle, wenn auch nicht im gleichen Maße. Daher geht es »unseren« Ärmsten besser als den Reichsten bei den anderen.2 Das ist noch die Grundidee des Differenzprinzips bei John Rawls: ­Ungleichheit in Besitzverhältnissen soll eigentlich nicht sein, ist aber gerechtfertigt, wenn es allen (auch den schlechtest Gestellten) nützt. Das scheint das Regime des Privateigentums per se zu tun, eben weil es effizienter Reichtümer schafft. Zum 1

Der Vordenker des Grundeinkommens Josef Popper-Lynkeus (1912, S. 10) ging an Gerechtigkeitserwägungen ganz anders heran: Alle Menschen müssen in gleicher Weise satt werden können, ansonsten müsse eben gemeinsam gehungert werden. 2 Dem dienen die Vergleiche der ärmsten Europäer mit den Reichsten der ›Anderen‹: »There cannot be a clearer demonstration of any thing, than several nations of the Americans are of this, who are rich in land, and poor in all the comforts of life; […] a king of a large and fruitful territory there, feeds, lodges, and is clad worse than a day-labourer in England« (Locke 1689, V.41); »[The] accommodation of an European prince does not always so much exceed that of an industrious and frugal peasant, as the accommodation of the latter exceeds that of many an African king, the absolute master of the lives and liberties of ten thousand naked savages« (Smith 1776, I.2).

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Raubenden wird daher umgekehrt der, der sich dem Regime des Privateigentums in den Weg stellt.3 Auch hier werden die Anderen, die Fremden, mit großen rhetorischen Aufwand moralisch entwertet: Das Schwarz-Weiß-Bild von »uns« und »ihnen« wird wirtschaftsethisch zementiert. Doch an diesem Legitimationsnarrativ, das die Beraubten zu Räubern und die Räuber zu Wohltätern macht, ist an zwei Stellen Kritik anzubringen: Die Sache stimmt ›vorn‹ und ›hinten‹ nicht, weder bei den Ausgangsvoraussetzungen noch bei den unterstellten Effekten. Die Ausgangs-Setzung einer ursprünglichen Armut ist frei erfunden: vor der Landnahme herrschte lediglich eine andere Wirtschaftsweise.4 Sie lässt sich nicht in das liberale Recht des Privateigentums übersetzen, daher stehen die vorigen Nutzer in der Konfrontation mit Privateigentums-Ansprüchen ohne rechtliche oder moralische Ansprüche da.5 Die andere »Theorie des Guten« wird durch die Sprache der Effizienz schlicht annulliert. Hinsichtlich der Ergebnisse dient das Narrativ der ursprünglichen Armut nur dann als Legitimation, wenn es den Menschen im neuen Regime am Ende besser ergeht. Warum aber gibt es dann in liberalen, marktwirtschaftlichen Gesellschaften so viel Elend? Warum nimmt die soziale Ungleichheit nur dort ab, wo dem Markt von außen Grenzen gesetzt werden? Eine zweite Gewaltsamkeit des liberalen ›Regimes‹ zeigt sich nun daran, wie es mit den freigesetzten Armen umgeht: Ihr Vorhandensein kann nur auf einen Fehler auf ihrer Seite zurückgehen, 3

Locke dreht den Spieß um: »[He] that encloses land, and has a greater plenty of the conveniencies of life from ten acres, than he could have from an hundred left to nature, may truly be said to give ninety acres to mankind« (Locke 1689, V.37). Wer nicht produktiv arbeitet, beraubt den Rest der Menschheit, da Boden durch unproduktive Lebensstile ›blockiert‹ wird. Daher bringt ihre Enteignung die »Menschheit« voran. Dieser Logik folgten die »enclosures« in England wie in den Kolonien. 4 Dies wurde immer wieder eingeklagt: »There is not, in that state, any of those spectacles of human misery which poverty and want present to our eyes in all the towns and streets in Europe. Poverty, therefore, is a thing created by that which is called civilized life. It exists not in the natural state« (Paine 1797, 331). »Es ist gerade das Fehlen der Drohung des Hungers für den einzelnen, das die primitive Gesellschaft in gewissem Sinne humaner macht als die marktwirtschaftliche Gesellschaft. …  So konnten die Kolonisten auf den Gedanken kommen, die Brot­frucht­bäume zu fällen, um einen künstlichen Lebensmittelmangel herbeizuführen, oder sie belegten die Hütten der Eingeborenen mit einer Steuer, um sie zum Verkauf ihrer Arbeitskraft zu zwingen« (Polanyi 1944, 225 f.; ähnlich etwa noch Sahlins 1972, 1 zur Steinzeit). 5 Gut ist nur, wer Mittel effektiv nutzt. Weniger Effiziente haben da keine Ansprüche mehr, wo solche einmal von ›Fleißigen‹ erhoben wurden: »God gave the world to men in common; but … it cannot be supposed he meant it should always remain common and uncultivated. He gave it to the use of the industrious and rational, […] not to the fancy or covetousness of the quarrelsome and contentious« (Locke 1689, V.34).

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sonst würde das Legitimationsnarrativ erodieren.6 Sie haben die Regeln des Spiels noch nicht verinnerlicht. Daher wird in der Praxis auf sie erneut Zwang ausgeübt – nun im Sinne einer Erziehung zur Niedriglohnarbeit.7 Die Reaktion auf das armutsbedingte Fehlen der Legitimation des ersten Zwangs (der privaten Aneignung gemeinsamer Ressourcen) ist nicht dessen Zurücknahme, sondern ein zweiter Zwang (zur Arbeit) – erneut unter Entzug der moralischen Inklusion. Wer den ökonomischen Schaden hat, braucht für soziale Ausgrenzung nicht zu sorgen. Hierin liegen noch zwei weitere Bevormundungen. Das, was »gut« für alle sein soll, geht zunächst durch das Nadelöhr des Privatbesitzes der Wenigen. Sie können entscheiden, ob und wie der private Reichtum den anderen zu »Gute« kommen soll. Damit erlangen Privateigentümer große soziale Macht. Sie können den Reichtum auch für eigene Zwecke nutzen, ohne dass dies einen Effekt auf die Mitbürger hat – kein Automatismus garantiert, dass die schlechtest Gestellten durch den privaten Reichtum Weniger bessergestellt würden (Sayer 2014). Ein weiteres Problem ist die begriffliche Verengung auf das Ökonomische: Was an vorkapitalistischen Wirtschaftsweisen anders war, kommt qualitativ nicht mehr in Betracht. (Es kommt nur in Lederstrumpf- und Winnetou-Romantik halb zu Bewusstsein.) Vergleiche werden reduziert auf den Output materieller Güter. Eine schein-neutrale »Theorie des Guten« (gut ist allein, was Effizienz schafft) wischt alle anderen Ansätze vom Tisch. Soziale, ökologische, kulturelle, sinnhafte, traditionale oder religiöse Aspekte »zählen« nicht mehr. Gut für die Armen soll nur noch das sein, was sie materiell versorgt. Auch dieses Problem zieht sich von Locke an weiter: Rawls hat »Muße« unter die Basisgüter aufgenommen, um zu verhindern, dass die schlechtest Gestellten in einer wohlgeordneten Gesellschaft aufhören zu arbeiten. Zur Arbeit kann in diesem Ansatz durch Drohungen mit Obdachlosigkeit gezwungen werden (Howard 2005), jedoch unter der Unterstellung, dies sei in ihrem eigenen Interesse.8 6

»The growth of the poor must therefore have some other cause; and it can be nothing else but the relaxation of discipline, and corruption of manners: virtue and industry being as constant companions on the one side as vice and idleness are on the other« (Locke 1697, 447). Smith (1776, V.I.3.2) sah immerhin, dass die Arbeit nicht nur Effekt, sondern auch Ursache der Demoralisierung sei: »The man whose whole life is spent in performing a few simple operations, of which the effects are perhaps always the same, […] naturally loses, therefore, the habit of such exertion, and generally becomes as stupid and ignorant as it is possible for a human creature to become«. 7 Locke dekretiert »that all men begging […] shall be sent to the next house of correction, there to be kept at hard labour for three years« (Locke 1697, 449). 8 Es ist fraglich, ob aus der Sicht der am schlechtest Gestellten wirklich das Rawlssche Gerechtigkeitsmodell gewählt würde. Karl Widerquist zufolge nimmt Rawls übereilt an, dass alle Parteien im Urzustand zustimmen – denn mit dieser fingierten Zustimmung könne in der realen Welt Zwang ausgeübt werden. »Because everyone agrees that there are no reasonable objections to the social project, the government is justified in forcing the individuals to participate. We may force you, but only because you agree that we should force you« (Widerquist 2013, 159).

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Doch wer sagt, dass alle das Geld der Sicherheit, der Muße, oder einem anderen Lebensstil vorziehen würden?9 Dieses liberale Denken ist auf vierfache Weise gewaltsam: Es beruht auf Vertreibung und Exklusion; es schafft Reichtum und soziale Macht nur für wenige; es reduziert gerechtigkeitstheoretisch relevante Güter allein auf ökonomische und entwertet andere »Theorien des Guten«; und es zwingt Arme zu erniedrigenden Arbeiten. Das lässt verstehen, warum Viele in einem von dieser Dynamik geprägten Raum nicht recht »zuhause« sind und die Bindungskraft ans Lokale, die Autoren wie Montesquieu noch für stark hielten, rasch erodieren kann. 3. Karl Marx über kapitalistische Expulsionsmechanismen In Marx’ Schriften lassen sich klarer als bei Locke unterschiedliche Modi kapitalistischer Raumdynamik unterscheiden. Das ist zunächst 1 die ursprüngliche Akkumulation (MEW 23, 741 ff.) als gewaltsame Schaffung von Kapital, nicht aus Akkumulation, sondern aus Landnahmen. Sie vollzieht sich, wie schon bei Locke zu sehen, in beiden Räumen: sowohl in der Durchkapitalisierung »innen« wie bei der Kolonialisierung »außen«. Es gibt Sublimierungen dieses Mechanismus, die weniger offen gewaltsam sind; sie sind deswegen nicht weniger wirksam. Da ist 2 die Perpetuierung des Landnahme-Mechanismus ins Innere: Die permanente »Extraktion von Mehrarbeit« (MEW 23, 315),10 die »Ausbeutung« der Arbeitenden durch das Kapital. Für Marx sind auch dies Enteignungen, die ihr Unrechtsbewusstsein bereits im Vollzug durchstreichen. In kapitalistischen Arbeitsverhältnissen ist alles vertraglich geregelt und damit legitim. Ein Effekt dieser Ausbeutung ist die Entfremdung 3. Durch sie fühlen Arbeitende sich in ihrer Welt nicht »zuhause« (MEW 40, 514). Diese Entwurzelung findet wohlgemerkt gerade dort statt, wo Menschen durch Arbeit systemisch integriert sind. Da sie nicht auf Arbeitsprozesse begrenzt ist (Henning 2015), empfindet der Arbeiter auch weitere soziale Bereiche »nicht als seine Heimat« (MEW 40, 554). Ein vierter Mechanismus kann allerdings dazu führen, dass Arbeitende selbst aus dieser entfremdenden Integration vertrieben werden: Die jederzeit drohende Vertreibung und Verdrängung aus der Arbeit 4, hinein in eine »industrielle Reservearmee« (MEW 23, 657 ff.), führt dazu, dass Arbeitende selbst noch in ihrer vollen Exklusion (systemisch und sozial) funktional bleiben. Mangels alternativer Einnahmequellen sind sie bereit, zu tiefen Löhnen zu arbeiten, was die Lohnhöhe vergleichsweise niedrig hält. Sie befinden sich in einem inneren Ausland, das negativ auf das System bezogen bleibt. Dieser Konkurrenzmechanismus wirkt auch international. Zieht ein Kapital aus einem Niedriglohnland, 9

»Rawlsian awareness of reasonable disagreement should lead to respect for individual’s choice of whether they want to participate in any joint venture. If the ruling coalition denies all access to resources to people who refuse to serve the coalition’s project no matter how strongly some disadvantaged people believe they would not have agreed to that in the original position, it simply does not take disadvantaged individuals’ perspective sufficiently into account. It will make them feel like a forced laborer« (Widerquist 2013, 162). 10 Extraktion bezeichnet den Abbau von Bodenschätzen, wie er in Kolonien erfolgte.

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das sich langsam Arbeitsrechte und höhere Löhne erkämpft, weiter in das nächste, so hinterlässt es große proletarisierte Bevölkerungsteile, die auf Kapital angewiesen sind: eine internationale Reservearmee. Doch nicht nur um Arbeit wird konkurriert: Eine Hauptwaffe im internationalen Kampf um Absatz ist schließlich 5 der Preis. Durch Preiskampf wird auf andere Erdteile ein Modus der Vergesellschaftung gepresst, der schon zuhause aufgrund seiner »ewige[n] Unsicherheit und Bewegung« (MEW 4, 465) keine Heimat mehr schaffen kann: Zentrum und Peripherie, »wir« und »sie«, gleichen sich gerade in dieser Heimatlosigkeit einander an (so noch Ritzer 2007): »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde« (Marx / Engels, MEW 4, 466; vgl. Soja 2007). Marx beschreibt aber nicht nur Push-, sondern auch Pullfaktoren: Es bilden sich im Rahmen desselben Mechanismus einerseits der Nationalstaat, der ganz unterschiedliche Instanzen »zusammengedrängt in eine Nation« presst (MEW 4, 466), andererseits bildet sich »sowohl materiell wie geistig […] eine Weltkultur heraus«, die es zu einer zweitrangigen Frage macht, an welchem Ort man sich gerade befindet – eine Dequalifizierung des Umgebungsraumes (Rosa 2012): »An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur « (MEW 4, 466). Diese Pullfaktoren werden umso wirksamer, je größer der ökonomische Abstand zwischen den Polen der ungleichen Entwicklung wird, und wenn Kriege und ökologische Desaster ausgerechnet die ärmeren Regionen – in vielen Fällen auch durch Eingriffe des »Westens« – zunehmend unbewohnbar machen. 4. Rebound: Saskia Sassen und Sumita Raghuram Spätere Autoren haben weitere kapitalistische Pullfaktoren untersucht. Saskia S ­ assen hat bereits 1988 einen überraschenden Effekt nachgewiesen. Um »Fluchtursachen« zu bekämpfen, könnte man etwa auf mehr Direktinvestitionen in bestimmte Länder drängen, um dort Arbeitsplätze und »Perspektiven« zu schaffen. Sassen wies allerdings nach, dass die Migration in die USA gerade in Zeiten, als dort eine hohe Arbeitslosigkeit herrschte, vor allem aus Ländern erfolgte, in die die USA zuvor investiert hatten. Sie nennt verschiedene Mechanismen für diesen paradoxen Ef-

WELTMARKT UND RAUMDYNAMIK CHRISTOPH HENNING

fekt. Da ist zum einen die Proletarisierung: Es gibt keine vorfestgelegte Zahl verfügbarer Arbeitskräfte. Erst wenn Arbeit in einem exportorientierten Sektor zur Option wird, werden weite Teile der Bevölkerung überhaupt erst Teil der »workforce« (107, vgl. Henning 2015). Das können mehr Menschen sein als es Arbeitsstellen gibt, so dass die Investition mehr Arbeitslosigkeit geschaffen hätte. Es führt weiterhin zu einer Erosion traditioneller Arbeitsweisen, etwa der Kleinbauern (115). Anteil daran hat auch die »Feminisierung« der Arbeit in neuen Sektoren: Da dort vor allem junge Frauen arbeiten, allerdings aufgrund hoher »turnover rates« (116) nicht lange, entsteht ein Pool potentieller Migrantinnen: »It puts these Third World women in a highly vulnerable position given a) the hiring and firing practices in many of these new industrial zones and b) the disruption of traditional work structures and the westernization of these women, both of which minimize the possibilities of successful reincorporation in the work lives that preceded employment in the zones. We see the conditions for the formation of a supply of women migrants« (Sassen 1988, 114). Zwei weitere Faktoren verstärken dies. Zum einen ist auch für junge Männer die Welt nicht mehr im Lot, wenn traditionelle Strukturen erodieren und Frauen gehen (116). Zum anderen erfolgt durch die Inhalte der Arbeit eine »kulturelle« (98) oder »ideologische« (120) Bindung an die westliche Kultur: »Year after year, day after day, these manual and service workers are engaged in activities that meet demand in the U.S., or West Germany, or Japan. In other words, they make things of use to people and firms in countries with much higher levels of development than their own. One could infer, then, that these workers may feel capable of using their labor power effectively in these developed countries as well« (117). Wirksam ist also nicht nur das Überflüssigmachen großer Gruppen, wie es etwa Bauman (2003) als ökonomische Ursache hinter den modernen Migrationswellen vermutet, sondern eher noch ihre halbierte Integration – Menschen in allen Weltteilen werden nolens volens in ein Funktionssystem hineingedrängt, von dem sie viele Nachteile, aber wenig Vorteile erfahren (Browne 2015). Da dieses Funktionssystem überall ähnlich ist, wirkt es wie ein Gleitfilm, auf dem es für »men and women who may not have planned on doing so« (Sassen 1988, 97) nicht viel braucht, um auf die Idee zu kommen, sich dahin auf den Weg zu machen, wo die Vorteile desselben Systems vermutet werden (seien es große Städte der Region, seien es westliche Staaten). Sumita Raghuram, eine US-amerikanische Soziologin, untersucht vordergründig andere Themen – die Auswirkung von Arbeit in call centers auf die »Identität« indischer Arbeiterinnen. Doch sie findet einen ähnlichen Effekt: Die von ihr untersuchten Arbeiterinnen müssen nachts arbeiten (was sie aus ihrem Umfeld hinausreißt), sie müssen einen anderen Akzent erlernen, sich amerikanische Namen geben und so tun, als lebten sie in den USA, aus denen die meisten Anrufe kommen. Diese gleichzeitige Entwurzelung aus der eigenen Lebenswelt bei einer halbierten Integration in eine ferne Kultur (in diesem Fall die amerikanische) führt dazu, dass diese Arbeiterinnen sich mental schon halb auf dem Weg nach Amerika

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befinden – so benutzen sie ihre falschen Namen nun auch im Alltag (Raghuram 2013, 1482).11 Die Frage liegt nahe, warum die KollegInnen in den USA für dieselbe (wenngleich weniger anstrengende, da tagsüber und ohne Verstellung stattfindende) Arbeit so viel mehr Geld bekommen. Bedenkt man diese gewaltsam ökonomischen und scheinbar paradoxen kulturellen Effekte der Globalisierung westlicher Wirtschaftspraktiken, ist Migration eine überaus wahrscheinliche Begleiterscheinung. Wer etwas dagegen hat, sollte sich zuerst für eine gleichere und fairere wirtschaftliche Entwicklung auf diesem Planeten einsetzen. 11 Raghuram

spricht nicht von Migration, sondern von »identity exploration«: die Leute haben die Wahl zwischen »segmentation« und »hybridization« (2013, 1484 ff.). Hybridität wird oft mit Migration assoziiert, etwa bei Homi Bhabha oder schon bei Robert E. Park, siehe Reuter / Mecheril 2015, 45 ff. und 379 ff.

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Literatur Zygmut Bauman, Wasted Lives. Modernity and its Outcasts, Oxford 2003. Matthias Bohlender, Metamorphosen des liberalen Regierungs­ denkens. Politische Ökonomie, Polizei und Pauperismus, ­Weilerswist 2007. Craig Browne, Half-Positions and Social Contestatio. On the Dynamics of Exclusionary Integration, in: Breno Bringel / José Domingues (Hg.), Global Modernity and Social Contestation, Los Angeles 2015, 185–199. Christoph Henning, Free Trade Zones / Export processing Zones, in: Daniel Cook / Michael Ryan (Hg.), Encyclopedia of Consumption and Consumer Studies, Blackwell / Wiley 2015. Michael W. Howard, Basic Income, liberal Neutrality, Socialism, and Work, in: Review of Social Economy 63.4 (2005), 122–135. Jörg Kronauer, ›Ordnungszerfall‹ und Migration, in: Kapitalismus und Migration. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 105 (2016), 45–53. Bartolomé de Las Casas, Kurzgefasster Bericht von der Verwüstung der West­indischen Länder (1541), Berlin 1998. John Locke, Second Treatise of Government (1689), Peter Laslett (hg.), ­Cambridge 1988. John Locke, Report respecting the relief and employment of the poor (1697), in: ders.: Political Writings, New York 1993, 446–461. Karl Marx / Friedrich Engels, Marx Engels Werke (MEW), 42 Bände, Berlin 1953  ff. John Mills, A Critical History of Economics, Houndmills 2002. Thomas Paine, Agrarian Justice (1797), in ders.: Common Sense and other Writings, New York 2005, 321–346. Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt am Main 1978. Josef Popper-Lynkeus, Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage, Dresden 1912. Sumita Raghuram, Identities on Call: Impact of Impression management on Indian Call Center Agents, in: Human Relations 66.11 (2013), 1471–1496.

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Julia Reuter / Paul Mecheril (Hg.), Schlüsselwerke der Migra­ tions­forschung, Wiesbaden 2015. George Ritzer, The Globalization of Nothing, Thousand Oaks 2007. Hartmut Rosa, Heimat im Zeitalter der Globalisierung (2012), http://www.kas.de/upload/dokumente/2012/heimat/Heimat_ rosa.pdf (15. August 2016). Marshall Sahlins, Stone Age Economics, Chicago 1972. Saskia Sassen, The Mobility of Labor and Capital, Cambridge 1988, erneut 2011. Andrew Sayer, Why we can’t afford the rich, Bristol 2014. Adam Smith, Wealth of Nations (1776), London 2012. Edward Soja, Verräumlichungen: Marxistische Geographie und kritische Gesellschaftstheorie, in: Bernd Belina / Boris Michel (Hg.), Raumproduktionen. Beiträge der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz, Münster 2007, 77–110. Immanuel Wallerstein, World-Systems Analysis. An ­Introduction, Durham / London 2006, 23–41. Immanuel Wallerstein, Die Barbarei der Anderen. Europäischer Universalismus, Berlin 2007. Karl Widerquist, Independence, Propertylessness, and Basic Income. The Theory of Freedom as the Power to say No, New York 2013. Slavoj Zizek, We can’t address the EU Refugee Crisis without confronting global capitalism, in: In these Times, 9. September 2015, http://www.inthesetimes.com.

MIGRATION UND STADTENTWICKLUNG TOMAS WALD

Migration und Stadt­ entwicklung

Georg Winter: Lieber Tomas, 2013 haben wir uns mit der Utopie und der Realisierung von Ankunftsquartieren beschäftigt.  Was ist inzwischen geschehen? Was haben wir erreichen können? Was können wir tun?

Tomas Wald: All die Formen der Zuwanderung – illegale, Armutsmigration, die der Kriegsflüchtlinge ins Asyl, EU-­ Zuwanderung sowie Binnenmigration in die Ballungsräume – haben sprunghaft zugenommen und die bundesdeutsche Gesellschaft sichtbar bunter und konfliktreicher gemacht. Migration und Mobilität verwischen sich und nehmen befeuert durch die Digitalisierung zunehmend zirkuläre Formen an. Eine »Tür zu«-Politik à la 19. / 20. Jahrhundert produziert da nur Sackgassen und Überdruck – nur eine Politik bzw. eine Praxis der halboffenen Schwingtüren nach innen und außen könnte solche Zirkulationsprozesse steuern.

Tomas Wald

Während die staatlichen Institutionen im Zuwanderungsschub einen Kontrollverlust durchmachten, bewerkstelligte eine noch nie so große Helferbewegung (rund 10 % der Bevölkerung) das erste Ankommen der Kriegsflüchtlinge. Die staatlichen Institutionen – eigentümlicher Weise im Sommer 2015 vollkommen »überrascht« – rannten den Ereignissen hinterher und setzten auf Struktur: zurück ins Lagersystem. Hier wurden sie auch »kreativ« in Erfindung neuer Lagerformen. Die laufenden Prozesse hingegen vernachlässigten sie. Mut auf’s Experiment – und darin Struktur-Reformversuche – Fehlanzeige. Vorschläge von ­Technologieunternehmen wie IBM, Atos und Oracle, mit Hilfe innovativer Technologie die Asylverfahren erheblich zu beschleunigen oder Anregungen die Erstwohn-Verteilung der Flüchtlinge über Algorithmen sog. Passungsmärkte zu lenken – rund 1,9 Mio. ­Wohnungen stehen in Deutschland leer – hatten keinen Platz. Der staatliche Verteilerschlüssel hingegen sieht vor, dass dicht besiedelten Orten auch entsprechend viele Flüchtlinge zugewiesen werden sollen. Entsprechend wurde wie im Ausnahmezustand fieberhaft in den Ballungsgebieten Erstaufnahmewohnraum hochgezogen. Die Nachfrage nach Containern (produziert in der Türkei und China) sowie nach Wohnraum in den Ballungsgebieten ließ deren Preise explodieren. Rund die Hälfte aller Kriegsflüchtlinge des letzten Jahres sind bis heute nicht »registriert« und der Großteil ist in die »Illegalität« abgetaucht. Hinzu kommt die Armuts- und »Sichere Drittländer«-Migration. Waren noch vor zwei Jahren Bretterbudensiedlungen, Slums, Zeltdörfer und »Schrottimmobilien« in deutschen Großstädten die Ausnahme, sind sie heute normal geworden. Alle vier bis sechs Wochen werden diese – wie zum Beispiel gegenüber dem Kanzleramt in Berlin – geräumt, um sie gleich darauf nebenan wieder neu zu errichten. Die »Dritte Welt«

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ist in den Metropolen angekommen. In den Schrottimmobilien kostet die Matratze 20 Euro die Nacht. Es hat sich eine neue Hierarchie der Mietverhältnisse herausgebildet, in der die Allerärmsten die höchste Miete bezahlen. Die Mieten liegen dabei gar höher als in den sich gerade quer durch die Republik vollendenden hochpreisigen Innenstadt-Eigentumswohnquartieren. Die Treiber dieser Innenstadt-Bauwelle in Form »begehbarer Anlagedepots mit Trostparks« – die Projektentwickler – steigen nun für die kommunalen und staatlichen Wohnungs­ baugesellschaften, die nicht mehr selber in der Lage sind zu projektieren und zu bauen, als Entwickler für massenhaften niedrigpreisigen Wohnungsbau ein. Allem Anschein nach werden Milliarden Summen an Förderung für Neubau (aber Millionen auch für Abriss von Leerstand) bereitgestellt – irgendwo muss ja wohl die Geldflut hin – oder? Immerhin besser als in Anlagenblasenbildung! Berlin plant circa 12 Quartiere in den Außenbezirken für rund 100.000 Menschen. Nur eine Debatte und Pläne, wie die neuen Quartiere nicht wie die Tristessen der Unwirtlichkeit des Sozialwohnungsbaus der 1960 / 70er ausschauen könnten, fehlen großenteils! Erste Entwürfe schauen aus wie aufgestapelte 1-Personen- und Kleinfamilien-Kartons, die Vereinzelung und Segregation anstatt die Durchlässigkeit und Vergemeinschaftung zu fördern. Gerade die gegenwärtige Flüchtlingsfrage stellt die Frage nach passenden Wohnformen für eine sich schnell ändernde Gesellschaft; einerseits einer sich rasch atomisierenden ansässigen Bevölkerung mit den Bedürfnissen nach mehr Gemeinschaft sowie flexiblen Strukturen und andererseits einer zuwandernden Großfamilien- und Festkultur. Die strikte Trennung zwischen privat und öffentlich wird fließenden Übergängen Platz machen – offene Strukturen mit Optionsräumen, die sich immer wieder je nach Bedarf (Büro, Werkstatt, Gästezimmer…) neu zusammensetzen – generieren Zukunft. Es sollte ein Zukunftszertifikat für Neubauten eingeführt werden … und ist doch alles nur schöne Utopie? Die gewaltige Fehlallokation von Ressourcen und Verhaltensregression ist der »Atmo« in der politischen Landschaft – eins sich gegenseitigen ideologischen Krampfbeißens – geschuldet. Gesellschaftliche Stimmungen sind mittlerweile so volatil wie die Aktienbörse und zu einer Realität eigener Art geworden, wo Argumente nicht zählen. Es lastet unter den »Ansässigen« die Stimmung einer »verbauten Zukunft«. Um des »inneren Frieden« Willens wird eine »ehrliche Debatte« unterdrückt, Ideen werden ignoriert. Für das deutsche Konsensmodell: zurück in die 1970 / 80er, und dies nicht nur bei der AfD. Viele der ehrenamtlichen Helfer müssen die kafkaesken und undurchdringlichen Regeln und Verordnungen erleben. Verwaltungen schließen sich nach außen ab, um ihre Schreibtische neu zu ordnen; das Modell Ankunftsquartier anstatt monofunktionaler Lager schaffte es zum Beispiel in Freiburg zu einem Gemeinde­ rats­beschluss. Es wird auch als Werbung in Konkurrenz zu anderen Städten verwandt, aber gebaut wird weiterhin nach Lagermuster. Im Habitus des Dauerkrisen­ modus können keine Fortschritte und Entwicklungen gesehen werden, Be­freiungs­schläge aber werden erwartet.

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Heute im Frühjahr 2016 stehen nun all die Lager für Erstaufnahme und den Kommunen schwillt die Brust vor Stolz und Selbstlob, aber wo sind die Flüchtlinge? Ein deutsches Bürokraten-Paradox. Den Ereignissen der aktuellen Krisen hinterherlaufen – die großen strukturellen Fragen, die durch die Krisen aufgeworfen werden, aber ignorieren. Viel Taktik, keine Strategie. Andererseits zirkulieren in der Zivilgesellschaft viele Ideen, finden Raum im Diskurs in den Medien und Hochschulen, kaum aber beim praktischen Aufbau. Die Fehlschiene auf der sich gegenwärtig »die Integration« staatlicherseits bewegt, zeigt sich im Integrationsgesetzentwurf. Integration wird in die Hände des Innenministeriums, also der Polizei, gelegt. Und entsprechend wird im Befehlston einseitige Anpassung gefordert und bei nicht Einhaltung mit Sanktionen gedroht. Den Zuwanderern wird kein Angebot gemacht, ihre Kreativität und Dynamik einzubringen für gemeinsame Ziele und Projekte. Das Entwicklungs- oder Wirtschaftsministerium wäre hier der wirkliche sinnvolle Partner. Seit Jahrzehnten ist die Selbstständigen-Quote unter Migranten doppelt so hoch wie unter Deutschen. Dies wird ignoriert, aber das Modell Lohnarbeit als Hauptschlüssel zur Integration gebahnt, obwohl alle Daten dies nicht stützen. Wer sich aufmacht zu migrieren, der zeigt, dass er bereit ist, Risiken auf sich zu nehmen. Und zumeist gelingt es nach Anfangsschwierigkeiten auch, sich eine neue Existenz aufzubauen. Historisch gesehen, haben Einwanderer die Gesellschaften stets bereichert: Sie brachten Innovation, Dynamik und wirtschaftlichen Erfolg. Sie sind oft ambitioniert, ihre Beweglichkeit haben sie schon durch den Abschied vom angestammten Orten unter Beweis gestellt. Wenn man ihnen Raum gibt, ihre Pläne zu verwirklichen, und ihnen nicht mit fehlgeleiteter Politik im Weg steht, dann könnten sie für das Gastland ein großer Gewinn sein. Leider ist bis heute In der deutschen Flüchtlings-Debatte von diesen positiven Erfahrungen kaum die Rede, aber desto mehr über religiöse und kulturelle Differenzen. Dabei sind die wirklichen Probleme der Migration die Strukturen der Städte in denen die Menschen ankommen. Bietet die Kommune zeitnah informelle oder sogar halblegale Möglichkeiten der Arbeit? Gibt es Freiräume für die Selbstorganisation oder für neue Wohnund Arbeitsformen? Gibt sie Hilfe zur Selbsthilfe? Ermöglicht die Stadt informelle interkulturelle urbane Kultur außerhalb des Kanons? Und bietet die Stadt den Aufwärtsstrebenden Anschlüsse ans Bildungssystem und an berufliche Selbstständigkeit? Krisen zeigen die Vitalität der Welt, das Unaufhörliche nach Zukunft Drängen! Die Krisen gehen erst zu Ende, wenn eine neue Wahrnehmung dazu entsteht.

BIOGRAFIEN

Michael Adamczyk ist Architekt und Stadtplaner. 1967 in Esslingen am Neckar geboren. Nach einer kaufmännischen Ausbildung erfolgte ein Architekturstudium an der FH Augsburg mit Studienaufenthalt in Parma /  Italien und Abschluss 1996. Anschließende Mitarbeit in verschiedenen ­Architekturbüros in München und Augsburg. Seit 2009 eingetragen als Stadtplaner. 2012 Bürogründung mit Schwerpunkt Umnutzungen, Sanierungen und Stadtentwicklung. Gastlehrauftrag an der Hochschule Augsburg im WS 2014 / 15. Mit dem Projekt »Grandhotel-Cosmopolis« gelang 2011 in der Innenstadt von Augsburg nicht nur die Umnutzung eines ehemaligen Altenheimes in ein Hotel mit Ateliers, Gastronomie und Wohnräumen für Flüchtlinge, sondern es entstand in einem offenen Prozess und mit geringstem Budget ein vielfach gewürdigter urbaner Mikrokosmos. Birgit Angele, Bühnenbildnerin, Künstlerin. Sie entwirft Bühnenbilder und Kostüme für große europäische Festivals und Theaterbühnen (Schwetzinger Festspiele, Wiener Festwochen, Oper Stockholm, Theater Göteborg, Wiener Volksoper, Staatsoper Stuttgart, Volkstheater München, Schauspielhaus Zürich, Theater Basel, Ludwigsburger Schlossfestspiele …). Bereits während Ihres Studiums an der Akademie der Bildenden Künste befasste sie sich zudem mit ­Sparten-übergreifenden Projekten. Ihre Museums-Installationen im Museum Kunst der Westküste und dem Ludwig-Kirchner-Museum Davos sind Beispiele für die Verbindung und Erforschung von Raum und Bühne.

Amalia Barboza, Dr. phil., Soziologin, Kulturwissenschaftlerin und Künstlerin. Seit 2013 ist sie Juniorprofessorin an der Universität des Saarlandes im Fach »Theorien und Methoden der Kulturwissenschaften«. Sie hat an der Universität Complutense in Madrid und an der Universität Konstanz ­Soziologie studiert und promovierte mit einer Arbeit über die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims an der Technischen Universität Dresden. Sie hat auch Bildende Kunst (Bildhauerei) in Madrid, Dresden und Rio de Janeiro studiert. Arbeitsschwerpunkte: Methoden und Theorien der Kulturund Sozialwissenschaften, Wissensund Kultursoziologie, Migrationsforschung, das Wissen der Künste. Anne-Julchen Bernhardt, Prof. ­Dipl.-Ing., Architektin, hat Architektur an der RWTH Aachen und der Kunstakademie Düsseldorf studiert, als Architektin in Berlin und Köln und als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Aachen und Wuppertal gearbeitet. Seit 2008 ist sie Professorin für Gebäude­ lehre an der RWTH Aachen. Im Jahr 2000 gründete sie mit Jörg Leeser BeL Sozietät für Architektur in Köln. BeL hat bisher 130 nationale und internationale Projekte bearbeitet. Ihr Werk wurde international ausgestellt, mehrfach ausgezeichnet – unter anderem mit dem Kunstpreis der Akademie der Künste Berlin 2011. Markus Dauss, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe Universität. Er hat 2012 ebendort habilitiert mit einer Studie zur Schriftmetaphorik in der Architekturtheorie zwischen 18. Jahrhundert und Gegenwart. 2004

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hat er an der TU Dresden und École Pratique des Hautes Études in Paris promoviert mit einer vergleichenden Untersuchung öffentlicher Bauten in Paris und Berlin im 19. Jahrhundert. 1999 hat er ein Geschichtsstudium an der Université Paris IV (Sorbonne) (Maîtrise en histoire) abgeschlossen mit einer Arbeit zu öffentlichen Denkmälern in Paris und Berlin im 19. Jahrhundert, im darauf folgenden Jahr ein Studium der Kunstwissenschaften und Geschichte an der Universität Oldenburg (M.A.). Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Architekturgeschichte und -theorie, der Raumtheorie sowie an der Schnittstelle von Bildmedien und Raumgestaltung.

an den Universitäten Gießen und Frankfurt am Main. Promotion mit einer Arbeit zu Hegels Ästhetik an der Universität Frankfurt, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 Juniorprofessor für ­Philosophie und Ästhetik unter besonderer Berücksichtigung des Designs an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Ästhetik und Kunsttheorie, deutscher Idealismus, hermeneutische Philosophie, Sprachphilosophie, philosophische Anthropologie.

Stefanie Eberding, Prof. M Arch ­Dipl.-Ing., Architektin, hat Architektur an der Rice University in Houston, an der SCI-Arc in Los Angeles und an der Hochschule in Darmstadt studiert, in Architekturbüros in Stuttgart und Los Angeles und als wissenschaftliche ­Mitarbeiterin am Institut Wohnen und Entwerfen an der Universität Stuttgart gearbeitet. Im Jahr 1998 gründete sie zusammen mit Stephan Eberding (se)arch, freie Architekten in Stuttgart. (se)arch hat mit großem Engagement erfolgreich zahlreiche Projekte konzipiert und realisiert, das mit zahlreichen Architekturpreisen und Veröffentlichungen honoriert wurde. Seit 2005 hat sie eine Professur für Gebäudelehre, Entwerfen und Baukonstruktion an der HTW Saar.

Tilman Harlander, Prof. Dr. rer. pol. habil, Soziologe. Studium der Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Psychologie und Politikwissenschaften in München und Berlin, Promotion Universität Oldenburg 1978; Habilitation RWTH Aachen 1994. 1999 Gastprofessur in Lima. Von 1997–2011 Professor für Architektur- und Wohnsoziologie an der Fakultät für Architektur und Stadtplanung der Universität Stuttgart. Dekan von 2002–2006. Seit 2011 freiberuflich tätig. Mitglied u.a. in der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL), im Deutschen Werkbund, dem Wissenschaft­ lichen Kuratorium von »Forum Stadt«, der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, dem Städtebauausschuss der Landeshauptstadt Stuttgart. Zahlreiche Veröffentlichungen, Herausgeberschaften, Juryteilnahmen. Arbeitsschwerpunkte: Architektur- und Wohnsoziologie, Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, Wohnungspolitik.

Daniel Martin Feige, Dr. phil., Philosoph. Zunächst Jazz-Piano-Studium am Sweelinck-Konservatorium von Amsterdam, dann Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie

BIOGRAFIEN

Christoph Henning, Privatdozent für Philosophie an der Universität St. ­Gallen. Promovierte an der TU Dresden über die Wirkungsgeschichte von Karl Marx (Philosophie nach Marx, eine Englische Übersetzung erschien 2014), war beschäftigt an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und an der Universität St. Gallen, ist nun Junior­fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Wohnte bisher u.a. in Dresden, Berlin, Leipzig, London, Friedrichshafen, Frankfurt, London, St. Gallen, Zürich und Erfurt sowie an wechselnden Orten seiner Frau, mit der er zwei kleine Söhne hat. Zuletzt erschienen die Theorien der Entfremdung zur Einführung (Junius 2015) sowie Freiheit, Gleichheit, Entfaltung: Die politische Philosophie des Perfektionismus (Campus 2016).  Esther Heuser (geb. Recktenwald), Studentin. Zur Zeit studiert sie Architektur im 4. Semester Master an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. Sie hat ebenso Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Rechnungswesen in Saarbrücken an der Hochschule für Technik und Wirtschaft studiert. Nach der Fachoberschule für Wirtschaft ging sie für ein Jahr als Au-Pair in die USA nach Philadelphia. Adi Hoesle, Künstler und Retrogradist. Beschäftigt sich seit 25 Jahren mit Rückbildungs- und Rückbaumaßnahmen im Kunstkontext und im politischen Alltag. Gründete zusammen mit Georg Winter 1998 die Arbeitsgemeinschaft »Retrograde Strategien«. Seit 2003 Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen (Neurobiologie, Prof. Niels Birbaumer) und der Uni-

versität Würzburg (Interventionspsychologie, Prof. Andrea Kübler) im Bereich Hirnforschung / Brain Computer Interfaces (BCI). Entwicklung von Brain Painting. 2012 Gründung des »Art Research Lab«. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland. Barbara Holub, Dipl.Ing., Künstlerin. Lehrt am Institut für Kunst und Gestaltung / Fakultät für Architektur und Raumplanung / TU Wien, wo sie das Forschungsprojekt »Planning Unplan­ ned« zur Rolle von Kunst im Kontext urbaner Entwicklungen leitete, sowie an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2007 Otto-Wagner-Städtebaupreis für Stadtwerk Lehen / Salzburg; 2005– 2007 Mitglied des Beirats für Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich; 2006–2007 Präsidentin der Secession Wien. 1999 gründete sie »transparadiso« mit Paul Rajakovics ­(Architekt und Urbanist) als trans­disziplinäre Praxis, die sich insbesondere mit der Entwicklung künstlerischer Strategien für sozial engagierte Planungsprozesse (»direkten Urbanismus«) befasst. Stephan Mörsch ist Bildhauer und als solcher rekonstruiert er hauptsächlich real existierende Gebäude im Maßstab 1 : 10. Aufgewachsen u.a. in der Nähe der nordfranzösischen Hafenstadt ­Calais, beschäftigt er sich seit Jahren mit der selbstorganisierten Unterbringung der von dort nach England Weiter­reisenden. Die Rekonstruktion des sogenannten ersten »Jungles von Calais« stellte er 2014 im Rahmen der Ausstellung »Was Modelle können« im Museum für Gegenwartskunst in Sie-

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gen aus. Er lebt und arbeitet in Berlin und ist dort seit 2011 Lehrer im Master­studiengang Raumstrategien. 2014 war er das erste Mal auch mit Studenten vor Ort in ­Calais. Ulrich Pantle, Dr. Ing., Architekt. Studium der Architektur und ­Stadtplanung an der Universität Stuttgart. Mitarbeit in verschiedenen Architekturbüros in Stuttgart, Amsterdam und ­Luzern. Außerdem am Institut Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen an der Universität Stuttgart, dort ­Promotion mit der Arbeit »Leitbild ­Reduktion«. Seit 2003 Freier Architekt, diverse Lehraufträge und seit 2011 Professur für Baugeschichte, Architekturtheorie, Soziologie und Entwerfen an der HTW des Saarlandes. Bernd Schmitt, Regisseur und Autor. Neben seiner Tätigkeit als freier Regisseur, vorwiegend im Bereich Oper, ist er Dozent für darstellenden Unterricht an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Bernd Schmitt hat Klarinette studiert und das Regiehandwerk bei Ruth ­Berghaus gelernt. Er hat etwa 60 Opern inszeniert. Seine Schwerpunkte liegen auf den Werken Mozarts und der ­Moderne. Er hat zahlreiche Libretti für verschiedene Komponisten verfasst und viele Uraufführungen inszeniert. Zuletzt erschien sein Buch »Lückentexte«. Tomas Wald, geboren und aufgewachsen in Sarajevo, im Grundschulalter mit Familie nach Deutschland migriert in ein Flüchtlingslager der Endfünfziger in Freiburg. Studium der Stadtund Regionalwissenschaften in Berlin und Arbeit als Konzeptkünstler.

In den letzten 10 Jahren Arbeiten rund um Migration und Aufbau des ­Roma-Büros. Anna Marijke Weber, Dipl.-Ing., ­ rchitektin, hat Architektur an der A RWTH Aachen, der University of ­Belgrade und der PBSA Düsseldorf studiert. Dort leitet sie seit 2013 das Projekt TRANSFER – Architektur von ­­Migranten in Deutschland, welches empirische Forschung, Lehre und studen­tische Bauprojekte umfasst. Georg Winter Geboren 1962 in Biberach / Riss (D), lebt in Stuttgart, Saarbrücken, Budapest. Kennzeichnend für Georg Winters künstlerische ­Praxis sind temporäre Laboratorien, urbane Situationen, Self Organizing Performances, Forschungsprojekte in einem fächerübergreifenden Arbeitsfeld. Georg Winter zählt mit UKIYO ­CAMERA SYSTEMS, seit den 80er Jahren, zu den Aktivisten des »Expanded media« und der raumbezogenen Experimentalkunst. Ausgehend von der »Universität im Koffer« lehrte ­Winter seit 1994 unter anderen an der Universität Stuttgart, der Merzakademie Stuttgart, 1999–2003 Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, 2003–2007 Professur für Kunst und Öffentlicher Raum, AdBK Nürnberg und seit 2007 an der HBK Saar als Professor für Bildhauerei / Public Art. Er ist Gründer der »Brigade Partisan Heslach« (1984– 2004), der ­»forschungsgruppe_f« in Zürich, der »Arbeitsgemeinschaft Retrograde ­Strategien« Berlin, des »Urban ­Research Instituts« Nürnberg, des »S_A_R Projektbüros« in Völklingen und der »AG AST Arbeitsgemeinschaft Anastrophale Stadt«.

ABBILDUNGSNACHWEISE

Urheber

Abbildung Nr.

michael adamczyk

74

Amalia Barboza

1, 31–32

markus dauss

15

Caroline Heinzel

54

Esther Heuser

70–72

Barbara holub

82–85

Christian Hussong

2, 38, 41, 43–53, 55–69

Adi Hösle

86–91

Andreas Knapp 75–81 alexander kohler

74

Carla Mörgen

39–40, 42

Stephan Mörsch

96–99

Kınay Olcaytu

95

kristian prewitz

4

Katarzyna Rogala

33–36

Andy Spyra

3, 5–7

Weber / Bernhard

16–27

Martin Zellerhof

92–94

Mehtap Ziay

37

kulturbilderdienst.de hangarmusik.de

rigardu.de

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Kultur- und Museumsmanagement bei transcript Oliver Scheytt, Simone Raskob, Gabriele Willems (Hg.)

Die Kulturimmobilie Planen – Bauen – Betreiben. Beispiele und Erfolgskonzepte

Mai 2016, 384 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 E, ISBN 978-3-8376-2981-1 Museen, Opern, Theater, Konzerthäuser, Kulturzentren, Bibliotheken und Volkshochschulen prägen als Bauwerke das Stadtbild. Sie sind Motoren der Stadtentwicklung sowie des Kulturtourismus und bergen ein Investitionsvolumen in Milliardenhöhe. Nicht nur das Planen und Bauen neuer Häuser, sondern auch die Renovierung alter Kulturimmobilien sowie die Umnutzung von Baudenkmälern sind herausfordernde Aufgaben. Die Beiträge dieses Bandes sind den Spezifika der einzelnen Sparten (Theatern, Museen etc.) gewidmet und von Akteurinnen und Akteuren verfasst, die in das Planen, Bauen und Betreiben von Kulturimmobilien involviert sind. Sie präsentieren erstmalig ganzheitliche Lösungen für »Kulturimmobilien« in den Spannungsfeldern von Stadtentwicklung und Kulturbetrieb, Investitionen und Folgekosten, öffentlicher Hand und Privatwirtschaft.

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Urban Studies Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.) Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis September 2016, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3377-1

Ilse Helbrecht (Hg.) Gentrifizierung in Berlin Verdrängungsprozesse und Bleibestrategien September 2016, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3646-8

Andreas Thiesen Die transformative Stadt Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität Mai 2016, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,99 €, ISBN 978-3-8376-3474-7

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Urban Studies Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse März 2016, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3030-5

Lilo Schmitz (Hg.) Artivismus Kunst und Aktion im Alltag der Stadt 2015, 278 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3035-0

Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.) Gleisdreieck / Parklife Berlin 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1

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