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German Pages 337 Year 2009
Philosophische Schriften Band 73
Das Naturrecht der Geselligkeit Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert
Herausgegeben von
Vanda Fiorillo und Frank Grunert
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
VANDA FIORILLO / FRANK GRUNERT (Hrsg.)
Das Naturrecht der Geselligkeit
Philosophische Schriften Band 73
Das Naturrecht der Geselligkeit Anthropologie, Recht und Politik im 18. Jahrhundert
Herausgegeben von
Vanda Fiorillo und Frank Grunert
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Internationales Kooperationsabkommen 2003–2005
zwischen der Justus-Liebig-Universität Gießen und der Universität Neapel ‘Federico II’
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 978-3-428-11928-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Das moderne Naturrecht ist in Theorie und Praxis ein typisch europäisches Phänomen, das sich genaugenommen erst in der produktiven Kombination der unterschiedlichen Perspektiven einer internationalen Wissenschaftlergemeinschaft erschließen läßt. Der vorliegende Band will einen Schritt in diese Richtung gehen, indem er in seinem Kern die Beiträge einer deutsch-italienischen Tagung versammelt, die als Kooperation der Università degli Studi di Napoli „Federico II“ und der Justus-Liebig-Universität Gießen im Dezember 2004 in Gießen bzw. im Reichskammergericht in Wetzlar stattgefunden hat. Es war die zweite in einer Reihe von insgesamt drei inzwischen durchgeführten Tagungen, die der Entwicklung des modernen Naturrechts vom 17. bis ins 19. Jahrhundert gewidmet waren. Die drei Kolloquien sollten – nach dem Willen der ursprünglichen Initiatoren, der politischen Philosophin Vanda Fiorillo (Neapel) und dem Germanisten Friedrich Vollhardt (früher Gießen, jetzt München) – drei Phasen in der Entwicklung des europäischen Naturrechts in den Blick nehmen, die, auf drei Jahrhunderte verteilt, von der Konstitution des modernen Naturrechts im 17. Jahrhundert über die Neuansätze und Probleme der Anwendung der Doktrin im 18. bis zu seiner Kritik im 19. Jahrhundert reichen sollten. Ein solcher übergreifender Blick auf das moderne Naturrecht erlaubt eine genauere Untersuchung seiner Entwicklungsgeschichte, d. h. der Gründe und Umstände seiner Entstehung, seiner internen Ausdifferenzierung, seiner theoretischen und praktischen Wirkungen und schließlich seiner Krise. Naturrecht wird dabei als ein umfassendes Konzept interpretiert, das von dem Befriedungsanspruch eines nicht oder nicht mehr bzw. nur noch ausnahmsweise theologisch begründeten Rechts ausgeht und über eine differenzierte Anthropologie die gesellschaftliche Semantik des hier in Frage stehenden Zeitraums in einem kaum zu überschätzenden Maße bestimmt hat. Insofern stellt das Naturrecht nicht nur eine normative Theorie dar, die innerhalb der praktischen Philosophie ihre Wirksamkeit entfaltet, sondern ein Medium der Sinnverständigung, das über den engeren normativen Rahmen hinaus bei der Selbst- und Weltbeschreibung der frühneuzeitlichen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielt. Während sich die erste der drei Tagungen mit der Konstitutionsphase des modernen Naturrechts befaßte und dabei vornehmlich Autoren in den Blick
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Vorwort
nahm, die wie Grotius, Pufendorf und Thomasius zumindest prima vista in einer gemeinsamen, freilich erst geschaffenen Traditionslinie stehen,1 rückten für das zweite, dem 18. Jahrhundert gewidmeten Kolloquium die Stichworte Applikation und Ausdifferenzierung des Ius naturae sowie Neubegründungen bzw. die beginnende Krise des Naturrechts in das Zentrum des Interesses. Angesichts der bemerkenswerten Vielgestaltigkeit und der enormen praktischen wie theoretischen Reichweite des Phänomens konnte es hier freilich nur darum gehen, auf einzelne, wenn auch zentrale Aspekte hinzuweisen und diese näher zu beleuchten. So werden unter dem Rubrum Grundbegriffe des Naturrechts grundlegende Ansätze zur naturrechtlichen Normbegründung (Ahnert, Link, Dioni) ebenso untersucht wie die das naturrechtliche Paradigma zum Teil tragenden Überlegungen zur Geselligkeit (Cesa, Chiodi). Mit Fragen der politischen Reform in Italien (Dipper, Jung) und in Deutschland (Carl) sowie mit Problemen der naturrechtlich begründeten Strafrechtstheorie (Hüning, Cattaneo) befassen sich die Beiträge, die dem Abschnitt Praktische Anwendungen zugeordnet sind. Die Arbeiten von Scattola, Fiorillo, Achella und Klippel sind schließlich dem Naturrecht des ausgehenden 18. Jahrhunderts bzw. seiner Krise gewidmet, die sich in diesem Jahrhundert unter dem Druck der an Einfluß gewinnenden historischen Orientierung bereits relativ früh ankündigte. Die erfolgreiche Durchführung einer binationalen Tagung beruht ebenso wie die Vorbereitung des die Tagung dokumentierenden Sammelbandes auf der hilfreichen Unterstützung einer ganz beträchtlichen Anzahl von Personen und Institutionen. Insofern geht der herzliche Dank der Herausgeber zunächst an die Forschungsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung e. V., Wetzlar und ihrer Leiterin Dr. Anette Baumann, die mit besonderer Gastfreundlichkeit die Räume des Reichskammergerichts in Wetzlar zur Verfügung gestellt hat. Für die namhafte finanzielle Unterstützung auf italienischer Seite sei an dieser Stelle den folgenden Personen und Institutionen gedankt: dem ehemaligen Präsidenten des Polo delle Scienze Umane e Sociali der Universität Neapel „Federico II“ Herrn Professor Giuseppe Cantillo, dem ehemaligen Direktor des Dipartimento di Scienze dello Stato der Universität Neapel „Federico II“ Herrn Professor Francesco Riccobono, dem Generalsekretär des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici (Neapel) Herrn Professor Antonio Gargano und schließlich dem Istituto Mitteleuropeo e Mediterraneo di Studi Politici Superiori (Udine). Dank gebührt zudem der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der JustusLiebig-Universität Gießen, die auf deutscher Seite durch ihre Zuwendungen ei___________ 1 Vgl. Vanda Fiorillo, Friedrich Vollhardt (a cura di), Il Diritto naturale della Socialità. Tradizioni antiche ed antropologia moderna nel XVII secolo, Atti del Covegno Internazionale Napoli, Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, 24-25 ottobre 2003, Torino 2004.
Vorwort
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nen wichtigen Beitrag für das Gelingen unserer deutsch-italienischen Unternehmung geleistet haben. Bei der über die Distanzen hinweg nicht ganz einfachen Koordination und Organisation des Kolloquiums haben Dr. Stefania Achella (Neapel) und Dr. Dennis Pausch (Gießen) sowie Friederike Viktor (Gießen) und Stefanie Kießling M.A. (früher Gießen, jetzt München) ebenso wertvolle wie unverzichtbare Hilfe geleistet. Die Druckvorlage wurde mit der gewohnten Kompetenz und Umsicht von Wolfgang Thoeben (Münster) erstellt; für die verschiedenen Korrekturdurchgänge standen ihm Jutta Frank (München) und Jennifer Pernau (München) mit der notwendigen Geduld und Gewissenhaftigkeit zur Seite. Dr. Ralf Krause (Neapel/Berlin) hat freundlicherweise die sprachliche und stilistische Verbesserung von einigen Beiträgen übernommen, die ursprünglich in italienischer Sprache verfaßt waren. Das den Band abschließende Personenverzeichnis haben René Lehniger und Carolin Hahn (beide Halle / Saale) angefertigt. Ihnen allen sei hier für ihr Engagement ganz herzlich gedankt. In besonderer Weise zu danken ist schließlich den Autoren und Autorinnen der jeweiligen Beiträge, die sich auf diese transnationale Diskussion zwischen zwei unterschiedlichen europäischen Wissenschaftskulturen eingelassen haben; dieser Dank geht insbesondere an Thomas Ahnert (Edinburgh), der an keinem der Kolloquien hat teilnehmen können, uns aber gleichwohl seinen Aufsatz gerne zur Verfügung gestellt hat, sowie an Christoph Link (Erlangen) und Gianluca Dioni (Neapel), die auf dem dritten, dem 19. Jahrhundert gewidmeten Kolloquium vorgetragen haben und dennoch bereit waren, ihre Beiträge in dem nun vorliegenden Sammelband zu publizieren.
Neapel und Halle (Saale) im Herbst 2008
Vanda Fiorillo Frank Grunert
Inhaltsverzeichnis
I. Grundbegriffe des Naturrechts: Das Gesetz der Geselligkeit und seine Korollarien Giulio M. Chiodi (Insubria) Die socialitas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Ein philosophisches Sittenbild von der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft ..............................................................
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Thomas Ahnert (Edinburgh) Problematische Bindungswirkung: Zum ‚Epikureismus‘ im Naturrecht der deutschen Frühaufklärung ....................
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Christoph Link (Erlangen) Heinrich von Cocceji – ein zu Unrecht vergessener deutscher Staats- und Naturrechtslehrer .................................................................
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Gianluca Dioni (Neapel) Die innere moralische Pflicht als obligatio perfectior externa in der Naturrechtslehre von Christian Thomasius ..................................................
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Claudio Cesa (Pisa) Die Bedingungen der ‚absoluten Gemeinschaft‘ bei Fichte ...................................
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II. Praktische Anwendungen: Politische Reform und Strafrechtstheorie Frank Jung (Gießen / München) Naturrecht, Gesellschaftsvertrag und Widerstandsrecht. Zum politisch-juristischen Denken im Großherzogtum Toskana in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts................................................................ 105
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Inhaltsverzeichnis
Christof Dipper (Darmstadt) Die politische Funktionalität des italienischen Naturrechts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ............................................................. 135 Horst Carl (Gießen) Naturrecht und Reichspublizistik in Reformdiskussionen der Spätphase des Heiligen Römischen Reiches .................................................... 159 Dieter Hüning (Mainz) Die Begründung des Strafrechts in Christian Wolffs Naturrechtslehre...................................................................... 183 Mario A. Cattaneo (Treviso) Spezialprävention und Rechtssicherheit in der humanistischen Strafrechtslehre Karl Grolmans .......................................... 223
III. Ende des Naturrechts? Geschichte und ‚absolute Sittlichkeit‘ Merio Scattola (Padua) Das Naturrecht der Triebe, oder das Ende des Naturrechts: Johann Jakob Schmauß und Johann Christian Claproth......................................... 231 Vanda Fiorillo (Neapel) Die Pflicht als Heteronomie der Vernunft. August Wilhelm Rehbergs Kritik an der Abstraktheit der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte ....................................................... 251 Stefania Achella (Neapel) Vom Subjekt zum Geist. Hegels Bruch mit dem Naturrecht .................................. 281 Diethelm Klippel (Bayreuth) Das deutsche Naturrecht am Ende des 18. Jahrhunderts ........................................ 301
Namensverzeichnis...................................................................................................... 327
I. Grundbegriffe des Naturrechts: Das Gesetz der Geselligkeit und seine Korollarien
Die socialitas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland Ein philosophisches Sittenbild von der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft Giulio M. Chiodi In diesem Beitrag werde ich mich darauf beschränken, wenige allgemeine Gedanken zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland auszuführen. Sie erscheinen mir grundlegend, will man eine Beziehung zwischen dem im 17. Jahrhundert auftauchenden Begriff der socialitas und jenem der bürgerlichen Gesellschaft herstellen, der sich Anfang des 17. und Ende des 18. Jahrhunderts durchsetzt. Im Grunde betrachte ich mein Thema einem langwierigen Entwicklungsprozeß zugehörig, der innerhalb der deutschen Kultur eine Verbindung zwischen der ursprünglichen Auffassung von socialitas und der darauf folgenden institutionalisierten Ordnung herstellt, die ungefähr seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet wurde. Einige einführende Bemerkungen zu dieser Betrachtungsweise finden sich in dem Vortrag, den ich anläßlich der Tagung in Neapel gehalten habe, mit der die Tagungen zum Thema Naturrecht der Geselligkeit eingeleitet wurden.1 Damals habe ich erläutert, wie die drei Grundbegriffe, auf denen das moderne Naturrecht aufbaut – Mensch, Natur, Vernunft – innerhalb der deutschen Lehren eine besondere Verbindung eingehen, in deutlichem Unterschied vor allem zu den französischen und englischen. Kurz gesagt, während die beiden letzteren danach trachten, den Menschen und die Natur über die Vernunft oder den Menschen und die Vernunft über die Natur zu erklären, habe ich zu zeigen versucht, daß die deutsche Naturrechtslehre die Vernunft und die Natur gerade über den Menschen bestimmt. Und eben dieser besondere Ansatz hat das Identitätsproblem des menschlichen Wesens herbeigeführt. Hieraus ergibt sich die
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Vgl. Giulio M. Chiodi, Profili antropologici introduttivi allo studio della socialitas nel Seicento tedesco, in: Il diritto naturale della socialità. Tradizioni antiche ed antropologia moderna nel XVII secolo, hrsg. v. Vanda Fiorillo / Friedrich Vollhardt, Turin 2004, S. 3–36.
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Giulio M. Chiodi
Notwendigkeit, sich mit der subjektiven und intersubjektiven Komplexität auseinanderzusetzen, die jede Anthropologie charakterisiert. Folglich erwirbt der Wille mitsamt der Vernunft die führende Rolle unter den Begründungsprinzipien des gesellschaftlichen Lebens. Um die Entwicklung der socialitas zu verstehen, beabsichtige ich hier auszuführen, wie sich der im vorangegangenen Jahrhundert stark überbeanspruchte Begriff ‚Mensch‘ zu Anfang des 18. Jahrhunderts darstellt. Die dabei dem Willen gewidmete besondere Aufmerksamkeit rechtfertigt auf philosophischer Ebene die Bedeutsamkeit von zwei Anhaltspunkten, die gerade in der intellektuellen deutschen Überlieferung prominente Befürworter finden: den Vorrang der im gesellschaftlichen Raum bestimmten Pflichten gegenüber den Rechten und die von Hans Welzel aufs Deutlichste herausgearbeitete Interpretation des Naturmenschen als Kulturmenschen (man vergleiche hier besonders die Werke von Samuel Pufendorf).2 Sowohl der Pflichtenlehre als auch den maßgeblichen Entwicklungen der Intersubjektivität liegt eine Anthropologie und somit eine Folgerichtigkeit zugrunde, nach der beide unausweichlich durch den Einfluß von willentlichen Elementen geprägt sind. Es handelt sich um eine Interpretation, die gut zu der von mir seit geraumer Zeit verfolgten Hypothese paßt, nach der die europäische Zivilisation eine doppelte Abkunft aufweist: Auf der einen Seite sind hier die mittelmeerischen Kulturen der Stadtbegründer zu nennen, und auf der anderen Seite stehen jene ursprünglich nomadischen mittel- und nordkontinentalen Kulturen, zu denen auch die germanische Kultur zu zählen ist. Trotz der Gefahr unzulässiger Verallgemeinerungen läßt sich behaupten, daß auf erstere die Ordnung der civitas, auf letztere die Ordnung der socialitas zurückgeht.3 Selbstverständlich haben diese zwei Komponenten des historisch geprägten europäischen Geistes eine Wirklichkeit entstehen lassen, die beide eng miteinander verzahnt, wobei das jeweilige Erbe noch immer erkennbar ist. In der Tat neigen die sich auf die Idee der civitas beziehenden Einstellungen dazu, die Staatlichkeit, die Bürokratisierung im öffentlichen Bereich, den Vorrang der Gesetzgebung über die Gerichtsbarkeit sowie die auf das System ausgeübte Kontrolle seitens einer starken, zentralisierten Obrigkeit zu begünstigen. Die auf die Idee der socialitas zurückzufüh-
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Vgl. Hans Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, Berlin 1958. Über die Naturrechtslehre Welzels vgl. Vanda Fiorillo, Sulla riscoperta di una concezione etica del diritto nella Germania del secondo dopoguerra, Einleitung zu Hans Welzel, La dottrina giusnaturalistica di Samuel Pufendorf, ins Italienische übersetzt und hrsg. v. Vanda Fiorillo, Turin 1993. 3 Die ersten Abrisse einer Gegenüberstellung von civitas und socialitas sind zu finden in: Giulio M. Chiodi, Europa. Universalità e pluralismo delle culture, Turin 2002, S. 84 ff.
Die socialitas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland
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renden Auffassungen neigen hingegen dazu, die Vorrangstellung der bürgerlichen Gesellschaft über den Staat zu betonen, indem sie die zentralisierenden Obrigkeiten mit Mißtrauen betrachten und etwaige Formen der Selbstregelung von öffentlichen Beziehungen bevorzugen. Letztere wissen die auf Vereinbarungen und Verträgen beruhenden Verhältnisse weitaus mehr zu schätzen als jene bürokratisch-rechtlichen, vom civitas-Gedanken hergeleiteten Einstellungen; dies gilt auch für den Vorrang der Gerichtsbarkeit über die Gesetzgebung. Beide Sichtweisen tragen, wenn auch in einer nicht immer vereinbaren Form, zur Erklärung der unterschiedlich aufgebauten institutionellen Ordnungen des heutigen europäischen Gefüges bei. Angesichts der vielseitigen, verschiedenartigen und geradezu verfänglichen Themen, die man bei der Beschäftigung mit der deutschen socialitas des 18. Jahrhunderts behandeln müßte, werde ich mich darauf beschränken, einen Blick auf einige Aspekte zu werfen, die mir dann von Bedeutung zu sein scheinen, wenn man die dem inneren Willen zukommende Rolle bei der Bildung des sozialisierenden Geistes verstehen will. Meine Absicht ist es dabei lediglich, ein Moment des Übergangs zu bestimmen, der zwischen einer auf Beständigkeit, auf Suche nach Sicherheit und auf Kontrolle der angestrebten Ziele gegründeten Anthropologie, wie sie für das 17. Jahrhundert charakteristisch ist, und dem Aufbau einer selbstbewußten Subjektivität besteht, die als Voraussetzung für die Bildung des guten, die bürgerliche Gesellschaft tragenden Bürgers gelten kann. Mit diesem Vorhaben werde ich Themen berühren, die den Literaturwissenschaftlern sehr bekannt und für Germanisten mehr als selbstverständlich sind, die aber meiner Meinung nach auf Seiten der Staats- und Rechtsphilosophen, zu deren Forschungsgebiet das Thema der socialitas zweifelsohne gehört, nahezu unbeachtet geblieben sind. Zunächst einmal bedeutet die Bezugnahme auf den inneren Willen nicht einfach, eine dauernde Verbindung mit dem Element der Willkür zu unterstreichen, die wir für das deutsche 17. Jahrhundert als wesentlich betrachten, sondern sie bedeutet vielmehr, eine Besonderheit der deutschen Kultur zu vertiefen. Wenn wir diese vernachlässigen, laufen wir Gefahr, in die nicht seltenen Verallgemeinerungen zu verfallen, die das sogenannte Jahrhundert der Aufklärung lediglich mit dem Aufkommen einer programmatischen und emanzipatorischen Vernunft kritiklos zusammenfallen lassen. Der historische Zeitraum, auf den wir Bezug nehmen, geht etwas über die Hälfte des 18. Jahrhunderts hinaus, umschließt somit grob die Jahre unmittelbar vor den preußischen Kriegen bis zum Aufkommen der kritischen Philosophie Kants. Wollten wir uns auf eine bereits formierte bürgerliche Gesellschaft beziehen, so würde unser Blick hingegen auf die letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts fallen. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts stößt man auf eine wirtschaft-
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Giulio M. Chiodi
lich-gesellschaftliche Entwicklung und auf Formen von Wechselbeziehungen oder Austausch sowie auf eine Verstärkung von intellektuellen, moralischen und gesetzmäßigen Verhaltensweisen, denen es gelingt, ein institutionelles Gefüge sowie aus- und eingegliederte Ordnungen zu erzeugen, die die Merkmale einer organisierten bürgerlichen Gesellschaft erkennen lassen. Im Deutschland der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, und sagen wir ruhig in vorkantianischer Zeit, ist es naturgemäß sehr schwierig, soziale Formen und Zusammenhänge ausfindig zu machen, die auf die Existenz einer wahren bürgerlichen Gesellschaft hindeuten. In dieser Zeit leuchten lediglich ihre ersten vereinzelten Lichter. Es handelt sich um eine historische Zeitspanne, in der die deutsche Gesellschaft noch damit beschäftigt ist, die Spannungen des vorangegangenen Jahrhunderts zu überwinden, ohne wirklich eine Möglichkeit des Neuanfangs entdeckt zu haben. Mit ihren bezeichnenden Begebenheiten erscheint sie uns wie eine langsame Entwicklungsphase von tiefgründigen Einsichten. So gesehen entdeckt man in ihr die grundsätzlichen Ursachen einer allmählichen, vielfältigen, leicht bleiernen Entstehung des Subjektes. Man kann nicht vernachlässigen, daß die klassische deutsche Philosophie eben mit dem Aufkommen der theoretischen Entdeckung des Subjekts und der Bearbeitung seines Begriffs entsteht und sich weiterentwickeln wird, welche sich schließlich in den existentiellen Strudeln der Zeit und in den innerlichen leidenschaftlichen Erlebnissen der Romantik verzehren. Kurz gesagt, das frühe 18. Jahrhundert ist der historische Zeitraum für die Vorbereitung des ‚Subjektes‘. Der fortschreitende Aufbau der Subjektivität, der Angelpunkt meines Beitrags ist, vollzieht sich tatsächlich in der Wahrnehmung des Selbst, das sich allmählich als Subjekt beziehungsweise als die Hauptfigur anerkennt, auf die sich die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ stützen wird. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit somit auf die Anfänge der Subjektivität richten. Zum besseren Verständnis ist es notwendig, sich die deutsche Wirklichkeit jener Zeit vor Augen zu führen, ihre Literatur, ihre Kunst, ihre Ethik und Religiosität, und natürlich ihr Denken, das die Bildung des Menschen und den Sinn für innere Erlebnisse in den Mittelpunkt stellt, die in der Einfachheit des Alltäglichen erfahren wurden. Aber gleichzeitig darf man sich nicht von allzu starken Intimitätseinflüssen überwältigen lassen. Im wesentlichen handelt es sich um die Vorstellung von äußerst einfachen Gefühlen, die tief in einem Selbst wurzeln, das sich selbst mit der Seele ineins denkt; ein Selbst, also, das in der Seele wurzelt. Ich werde mich nicht weiter damit aufhalten, die Kunst, philosophische oder wissenschaftliche Literatur und andere kulturelle Hervorbringungen dieser Zeit zu erwähnen, sondern einfach jenen Gedanken weiterführen, der mir grundsätzlich erscheint: Die in der socialitas-Lehre der ersten Hälfte des 18. Jahrhun-
Die socialitas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland
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derts in Deutschland aufkommende Anthropologie stützt sich auf die Einfachheit der Seele, welche die Ausübung der Tugenden mit dem Ziel verfolgt, eine sowohl selbst-bewußte als auch des Anderen bewußte Persönlichkeit zu schaffen. Das Selbst und der Andere, die eigene reflektierte Gegenwart und die Gegenwart des Anderen: Derartige Begriffspaare müssen als unzertrennlich angesehen werden. In der schablonenhaften Struktur des auf den sogenannten Kulturmenschen gegründeten deutschen Naturrechts war die wahre Unbekannte unbestritten der Mensch.4 Hieraus ergab sich die Vorstellung, daß dem Menschen eine deutliche Substanz, eine wesensgemäße Natur und eine eindeutige Identität fehlte; der Mensch erschien – zumindest im 17. Jahrhundert – wie ein verlorenes, unbeständiges, jedwedem äußeren Einfluß ausgeliefertes Wesen, wie das Zentrum, wo das Illusorische zusammenfiel und das daher jeder Definitionsbestimmung entkam. Der Mensch des 17. Jahrhunderts war, und das sicherlich nicht nur in der deutschen Kultur, ein a posteriori ersonnenes und gestaltetes Wesen. Der epochale Rationalismus verstand den Menschen als das künstliche Ergebnis einer abstrakten Vernunft, dem a priori Bedeutung zukam. Jenes Menschenbild muß als bar eines eigenen status aufgefaßt werden, denn es war in seiner Universalität durch eine grundsätzlich berechnende Vernunft und in seiner Einzigartigkeit durch einen selbstbeherrschten, vorrangig stoisch geprägten Willen ersetzt. Jener Mensch, als Natur verstanden, hatte eine vielseitige Wesenheit; als Wille war er die Nutzung einer Maske, die sein unbestimmtes Antlitz verbarg; ontologisch gesehen, war er ein rein metaphysisches oder künstliches Wesen. Er war somit ein Geschöpf ohne eigenen Raum und eigene Zeit, in eine Zeit ohne Raum und in einen Raum ohne Zeit und Geschichte eingebettet: Es handelt sich um den barocken Menschen. Es ist offensichtlich, daß ein metaphysischer Mensch, jedweder Zeit und jedweden Raumes entfremdet und ohne ein wie auch immer gestaltetes Selbst kein wirkliches Subjekt sein kann und daher nicht in der Lage ist, eine bürgerliche Gesellschaft zu gründen, die an sich bereits die Negation jeglicher Metaphysik ist. Die Entschiedenheit, mit der nach aufklärerischer Überlieferung der philosophische Verlauf des Jahrhunderts fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Behauptung der Vernunft gelesen wurde, wirft oftmals einen Schatten auf das Bemühen jener weniger augenfälligen dafür aber durchaus entscheidenden kulturellen Identität, die oben erwähnt wurde. Anders gesagt, man kann sich nicht lediglich auf den Rationalismus Wolffs berufen, der in die Transzendentalphilosophie von Kant einmündete. Wolff stellt das Bedürfnis nach Systematik, Folgerichtigkeit und logischer Gedankenführung dar; doch die er-
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Vgl. G. M. Chiodi, Profili antropologici (wie Anm. 1).
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Giulio M. Chiodi
lebte Wirklichkeit, eben in dieser Vergrößerungsoptik betrachtet, erscheint wie ein bloßes Instrument für die von Vernunft geleitete Ordnung oder zumindest für eine logische Systematik. Nicht aufgrund dieser vernünftigen Konstruktion entsteht die bürgerliche Gesellschaft, auch nicht in ihren philosophischen Begriffsbestimmungen: Die Menschlichkeit, die sie zum Ausdruck bringt, gehört nicht ausschließlich der Abstraktion an. Das sehr einfache und schlichte deutsche 18. Jahrhundert vollbringt also ein Wunder: Es füllt die Leere des Menschenbildes, das es geerbt hatte und setzt sich für die Gründung einer neuen Anthropologie in einem philosophischen, existentiellen und moralischen, in einem gesellschaftlichen und theologischen Sinn ein. Mit anderen Worten, das sehr einfache und schlichte deutsche 18. Jahrhundert schickt sich an (innerhalb der Schöpfungsordnung), einen status wiederzufinden, oder dem menschlichen Wesen einen status wiederzugeben, den es vordem nicht mehr besaß. Auf diese Weise schafft das 18. Jahrhundert die Grundvoraussetzungen für die Bildung des Subjektes, das zunächst einzigartig und individuell, später dann auch zum Ursprung einer kollektiven und historisch handelnden Subjektivität wird. All dies wird sich auf eine nahezu stille Art und Weise vollziehen, in geradezu häuslichen Stimmungen, fern vom Anklang der großen historischen Schauplätze und der berühmten Akademien, aber vor allem fern von ehrgeizigen Spekulationen. Nicht etwa abstrakte Zielsetzungen werden den Weg hin zu dieser Subjektivität erschließen, die in der Folge vermutlich immer kühner ausfallen wird, sondern vielmehr ein regelrechtes persönliches Erleben. In Bezug auf die Bildung des Subjekts sind wir deshalb weit davon entfernt, in erster Linie an eine auf Ordnung gegründete Wirklichkeit zu denken, die auf logischen Zusammenhängen beruht. In deren Licht, so ließe sich feststellen, verfolgte man den von Wolff vorgezeichneten Weg weiter, ist die Wirklichkeit nicht als solche gegeben, sondern als eine von der Vernunft bestimmte Ordnung, die sie zum Mittel der systematischen Ableitungen der Vernunft selbst werden läßt. Dementsprechend müssen wir an eine langsame und durchdachte anthropologische Rückbesinnung denken, die sich vor allem durch das Bedürfnis nach Erneuerung ausdrückt. Sich erneuern ist eine Notwendigkeit, die auf vorangegangene Umwälzungen Bezug nimmt. Wenn auch zeitlich ziemlich weit zurückliegend, so hatte der Dreißigjährige Krieg doch schreckliche Auswirkungen zur Folge, die von den unmittelbar folgenden Generationen nicht verarbeitet werden konnten. Blutbäder, Hungersnöte und Epidemien hatten die damalige Bevölkerung dezimiert, in bestimmten Gebieten sogar mehr als halbiert und dabei eine produktive und Handel treibende Welt zerstört, die seit dem 16. Jahrhundert zu bemerkenswerter Blüte gelangt war, nun aber nur noch in der Erinnerung gegeben war.
Die socialitas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland
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Nicht unwesentliche Hindernisse erschwerten die langsame Wiederbelebung einer geradezu an den Rand gedrängten Landwirtschaftswelt, die sich auf die Arbeit im kleinen Familienkreis stützte. Es darf außerdem nicht vergessen werden, daß wir uns in den Jahren der ersten Handelsbeziehungen mit beiden Teilen Amerikas befinden, ohne daß die deutschen Gebiete nennenswerten Anteil daran gehabt hätten. Das gesamte Land war einer fremdbestimmten Vorherrschaft unterworfen, die sich, was die katholischen Gebiete betraf, vor allem am französischen Reich und in Bezug auf die protestantischen Gebiete an Schweden ausrichtete. Nicht unbedeutend waren auch die Beschränkungen, die die politische Diversifizierung Deutschlands als Folge des verhängnisvollen Westfälischen Friedens herbeigeführt hatte: Das ganze Land bestand aus mehr als dreihundertfünfzig Staaten, die sich de facto mehr als verfünffachten, bis hin zur Burggrafschaft Rheineck, von der es hieß, sie bestehe aus zwölf Untertanen und einem Juden. Eine allgemeine Übersicht zeigt uns die Bedeutung der größten deutschsprachigen Kulturstädte zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Hamburg war durch seine wirtschaftlichen Beziehungen zu den nahegelegenen Niederlanden und zu England alles andere als rückständig; das besonders einladende Leipzig verfügte nicht zuletzt dank des erheblichen Ruhmes bei Studenten aus den unterschiedlichsten Ländern über eine besondere Weltoffenheit; Zürich als Ort einer großen Verlagsüberlieferung war sicherlich die tätigste und den kulturellen Austausch am meisten suchende Stadt. Während Hamburg und Zürich, offiziell protestantisch, sich eher von Frankreich fernhielten und sich an England und dessen Kultur orientierten, neigte Leipzig, offiziell nicht katholisch, aber trotzdem mit Beziehungen zu Polen, hingegen dazu, den Einfluß der französischen Welt anzunehmen. Aber kommen wir jetzt zu den Begrifflichkeiten, die uns näher interessieren. In der Übersicht, die wir beschrieben haben, wird eine Spaltung deutlich. Diese bildet die Grundlage nicht nur für jene Dialektik des Selbstbewußtseins, die in der Folge die Hegelschen philosophischen Bearbeitungen in Bezug auf das Subjekt beherrschen wird, sondern auch für die dynamische Lesart der Intersubjektivität, die die gesamte idealistische Vorstellung von bürgerlicher Gesellschaft kennzeichnet. Die Spaltung läßt eine Spannung entstehen zwischen der Außenwelt und ihren festgesetzten Grenzen und Regeln auf der einen Seite und dem wachsenden Gefühl von innerer Freiheit auf der anderen Seite. Gerade durch diese werden aufkommende Idealvorstellungen, neue Formen des Seins und des Geistes sowie die Spuren einer Pietismus und Aufklärung verbindenden ‚Bildung‘ offenbar, und zwar ohne Berücksichtigung ihrer verschiedenen Vorstellungen im moralischen und gesellschaftlichen Bereich. Das Andauern jener Spaltung findet eine würdevolle Entsprechung in der klaren und erhabenen Dichtung von Schiller, der nämlich genau von dem Widerspruch ausgeht zwi-
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Giulio M. Chiodi
schen dem Ideal einerseits, das in unserem Innersten Form annimmt, und dem Leben andererseits, das sich in der Enge einer jedwedes Ideal vernachlässigenden Alltäglichkeit entfaltet. Oder man erinnere sich nochmals an die strenge und folgerichtige Selbstkontrolle der Kantischen Vernunft, die eine moralische Variante jener Widersprüchlichkeiten darstellt, indem sie der persönlichen Erfahrung das übergeordnete Reich der Zwecke gegenüberstellt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts befinden wir uns lediglich in der Dämmerung der ‚Bildung‘, die aus den Schatten des noch in sich selbst gebeugten Bewußtseins hervorlugt und kaum der ersten unschuldigen Lichter gewahr wird, welche die als ‚schöne Seele‘ aufgefaßte Seele erleuchten: Die ‚schöne Seele‘ wird bekanntermaßen zum Gegenstand einer der höchsten Bezeugungen in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Die Spaltung, von der hier die Rede ist, geht eindeutig auf die Einflüsse Luthers zurück. Es kann kaum bestritten werden, daß Luther über Jahrhunderte hinweg tiefe sittliche Spuren in der deutschen Kultur hinterlassen hat. Zu den Auswirkungen dieser Spaltung ist die Tendenz zu zählen, Politik und Kultur zu trennen; eine Trennung, die die Grundbedingung jener ‚unpolitischen‘ Haltung bestimmt, durch die sich wiederum ein großer Teil der deutschen Gelehrten auszeichnet. Es ist, nebenbei gesagt, bereits mehrfach betont worden, daß dieser oft genannte lutherische Einfluß von der Tatsache bestätigt wird, daß die bedeutsamsten Vertreter der zeitgenössischen Literaturszene nicht etwa aus Gebieten des katholischen, sondern des protestantischen Glaubens stammen: von Klopstock zu Lessing, von Wieland zu Herder, von Schiller zu Goethe. Im übrigen entwickelt sich zwischen den beiden Polen, Außen- und Idealwelt, die Suche nach der inneren Freiheit – Grundvoraussetzung für die psycho-ethische und philosophische Bildung des Subjekts – mittels einer engen Beziehung zur Natur. Gerade durch die Aufrechterhaltung dieser Beziehung wird das moralische Subjekt den natürlichen Ausdrucksformen mitsamt ihren Geheimnissen und Rätseln ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lassen und sie letztendlich sogar idealisieren wollen. Wir sind folglich weit entfernt von der vielseitigen und tendenziell homologisierenden Verbindung zwischen Vernunft und Natur, die der Rationalismus des 17. Jahrhunderts und sein ésprit de système auf unterschiedliche Weise versucht haben zu bestimmen. Unter diesem Blickwinkel können sogar die Lettres sur les Anglais et les Français von Beat Ludwig Muralt verstanden werden, die, in französischer Sprache geschrieben, den englischen Geist preisen und ihn dem französischen entgegensetzen: Ziel des Verfassers ist die Betonung der Liebe zur Freiheit im natürlichen Sinne und damit zur Natur an sich. Liebe schreibt Muralt der englischen Kultur zu und bringt sie in Gegensatz zu den abstrakten rationalen Grundsätzen, die als Folge eines vermeintlich übergeordneten Wissens typisch für die französische Kultur sein sollen.
Die socialitas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland
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Wollte man diejenigen Gefühle benennen, welche in dieser Phase der Heranbildung des künftigen Bürgers einer für frei gehaltenen und auf wechselseitige Pflichterfüllung beruhenden Gesellschaft am meisten verbreitet waren, so kann man sich auf eine Bemerkung von Ladislao Mittner berufen. Dieser erachtet Begeisterung, Freude, Schwärmerei als Schlüsselbegriffe, die am trefflichsten den Charakter der damaligen Wesensart beschreiben.5 Erlebt in der Einfachheit des Daseins, sind demnach die ‚Begeisterung‘, ‚Freude‘ und ‚Schwärmerei‘ besonders geeignet, den zu Beginn des 18. Jahrhunderts herrschenden Zeitgeist zu fassen. Diese Gefühle können auch als von der Wirklichkeit losgelöst, d. h. lediglich auf einem idealisierenden und rein subjektiven Niveau betrachtet werden. Sie werden gleichwohl doch immer wirklich und zumeist mit den Anzeichen einer ehrlichen Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anderen erlebt. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß das Gefühl der Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anderen in jener Zeit einen ausgeprägt vernunftorientierten Charakter annimmt. Wir stehen weder vor einem lediglich auf Gewissen und Moral beruhenden Altruismus, noch vor einer unbestimmten Bereitwilligkeit dem Nächsten gegenüber, sondern vielmehr vor einer Haltung, aufrichtig und unschuldig fühlen zu wollen – und ich unterstreiche ‚wollen‘ –, weshalb der Andere in uns selbst mit Bedacht gewählt und erlebt wird. Es handelt sich um eine regelrechte Verinnerlichung, denn der Andere ist tiefgründiger Teil unserer Innerlichkeit, ja sogar Erkennungszeichen unserer Identität. Der hier angesprochene Seelenzustand entsteht in der Intimität einer stillen Stube, entwickelt und verliert sich unterwegs auf den Pfaden eines Waldes, in den Blicken über die Weiten der Felder, in dem nachhaltigen Lauschen auf die Geistes- und Herzensstimmen. Und es ist zu großen Teilen derselbe, der in jener sehnsuchtsvollen und beeindruckenden Sammlung von Walter Benjamin überlebt, die den wirkungsvollen und treffenden Titel Deutsche Menschen6 trägt. Mit ihrem Aufkommen zu Beginn des 18. Jahrhunderts öffnete sich jene Gemütsverfassung einem Fühlen, das der oben erwähnte Ladislao Mittner7 so beschreibt: Ergriffenheit oder fast schon Verehrung für das Leben in seiner Natürlichkeit, für die Ausstrahlungen des Geistes und für die Formen des Denkens und des Handelns, die sich in Tugend übersetzen, für eine Art des Seins, das die höchsten Stufen einer innigen ‚Ehrfurcht‘ erreicht. Es handelt sich um eine aus einfachen Bestandteilen zusammengesetzte Welt und somit um ein von unerschöpflichen Entwicklungsmöglichkeiten reiches Ganzes. Tatsächlich bestärkt
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Vgl. Ladislao Mittner, Storia della letteratura tedesca, Bd. II/I, Turin 1971. Vgl. Walter Benjamin, Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen, Frankfurt a. M. 1967. 7 Vgl. L. Mittner, Storia della letteratura tedesca (wie Anm. 5). 6
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das Gefühl des Anwachsens innerer Erfahrung den Selbstentwicklungskult und den Jugendmythos; es ist die Welt des Besonderen im Ganzen und des Ganzen im Besonderen, es ist demgemäß die Welt der reinen Entwicklungsmöglichkeiten. Der Erziehungsroman mit seinem scharfsinnigen Interesse für den status nascens der Selbsterfahrung, der Empfindungen und der Ideale offenbart sich als beredter Standpunkt der neuen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Oftmals stirbt die Hauptfigur in jungen Jahren; ihre Erscheinung als Inbegriff von Reinheit, von Unschuld und von Arglosigkeit, als Inbegriff einer unverdorbenen Seele bleibt somit beispielhaft erhalten. Die diese Idealisierungen einrahmenden Bereiche sind die kleinen familiären Welten, die Ausflüge aufs Land, die entstehenden Schwärmereien, die stillen Dialoge mit der Natur, die Stimmung von Wäldern, von in Blüte stehenden Wiesen, von Bächen. Allesamt zwischen der Erde und den Wolken am Himmel, beherbergen sie die morgenrötliche und in eine strahlende Zukunft strebende Seele. Angesichts der sich abzeichnenden Züge der neuen socialitas ist es wichtig, zwei Grundgedanken hervorzuheben. Der erste spielt eine entscheidende und maßgebliche Rolle: Es ist das Bedürfnis der Erneuerung. Das Thema der Erneuerung ist in der Literatur jener Zeit auf starke Art und Weise vorhanden und wird von einem suchenden Streben nach dem Wahren und Reinen begleitet. Es ist dies ein in der deutschen Kultur außerordentlich reiches Thema mit weit zurückliegenden Darstellungsformen, die bis in die alte Mythologie und auf die urtümlichen Sitten ihrer Bevölkerungen zurückgehen. Doch muß an dieser Stelle hervorgehoben werden, daß sich die schöpferische und sich selbst wiedererschaffende Handlung gerade und zuallererst in der Seele vollzieht, in der sich die Persönlichkeit herausbildet und sich wiedererschafft. Ausgehend von dieser rätselhaften und nicht greifbaren göttlichen Gegenwart in uns, beginnt die schöpferische Subjektivität Form anzunehmen, mit der die kulturelle und gesellschaftliche Erneuerung eingeleitet wird. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß im Grunde jenes Prinzip, nach welchem das Leben nichts anderes ist als Wiederentstehung bzw. Erneuerung, auch das von Goethe geprägte ewige Werden nährt. Die Seele ist dementsprechend Kernpunkt und Urstoff der menschlichen Erneuerung. Der erste Schritt liegt in der Verinnerlichung. Der zweite wichtige Grundgedanke ergibt sich aus der Seelenfreundschaft. Aus sich herausgehen, um sich zu öffnen und dann wiederzufinden, ist beispielsweise das wiederkehrende Thema der auf sittlichen Regeln beruhenden Poesie von Barthold Hinrich Brockes, die als bezeichnend für die „Empfindsamkeit“ jener Zeit angesehen werden kann. Die Eintracht, die die menschlichen Geschicke verbindet, findet ihren Ursprung immer in den verschwisterten Seelen. Der zweite Schritt liegt demnach in der Selbstentäußerung. Hier begeg-
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nen wir einem anderen großen Thema, das die „Empfindsamkeit“ jener Zeit tiefgehend berührt, nämlich der brüderlichen Freundschaft, oder, wenn man will, der freundschaftlichen Brüderlichkeit. Es handelt sich um die Heraufbeschwörung eines Daseinsbewußtseins, bei dem durch Freundschaft, durch die Teilung desselben Leids, derselben Hoffnungen und Erwartungen Freuden erreicht werden, und zwar unter der tiefsten Einbeziehung der Gefühle, ein Bewußtsein, das die Seelen für eine Schicksalsgemeinschaft öffnet. Typisch ist die Begeisterung für das filadelphicum Trigonon, bei dem die Liebesbeziehung mit der Schwester eines Freundes die vorhandene Verbindung zwischen zwei Freunden besiegelt, sie damit zu noch innigeren Brüdern werden läßt. Auch hier äußert sich die Kraft der Wahlverwandtschaften in der Seele als tätige Nutznießerin. „Seele! Seele! Schönheit der Welt!“, sprudelte es seinerzeit aus Hölderlin hervor. Die aus der Seele entsprungene Schönheit wird sogar Selbstzweck, Ausdruck von Wahrheit und somit eine regelrechte Quelle der Erkenntnis.8 Erneuerung und freundschaftlicher, brüderlicher Geist sind sicherlich zwei untrennbare Grundelemente der Theorie der schönen Seelen, die späterhin zum Kennzeichen des deutschen Klassizismus wird. Sie reicht von der durch Johann Christoph Gottsched – einem nicht gerade durch herausragende Ideen auffallenden Verfasser, der diese jedoch mit angenehmer Erlesenheit darzustellen vermag und der dazu neigt, die Schönheit der eigenen Seele mittels der Schönheit des Schreibstils zu pflegen – geprägten Vorstellung von der schönen Seele bis zur großen Poesie Schillers. Allerdings sind die zwei tragenden Begriffe Erneuerung und freundschaftlicher Geist auch, wie bereits erwähnt, die beiden grundlegenden Anhaltspunkte für die Verinnerlichung der socialitas im 18.
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Bezüglich der Bedeutung des Schönen im Sinne einer Erkenntnislehre – zu großen Teilen theoretisches Gedankengut von Baumgarten als Begründer der Ästhetik als Wissenschaft – sei an dieser Stelle an die Vorhaben des jungen Hölderlin, Schelling und Hegel, ehemalige Studienkollegen an der Universität Tübingen, erinnert, die ihre Untersuchungen zur Theologie auf ästhetische Kategorien gründen wollten. Ende des 18. Jahrhunderts gewinnt eine philosophische Auffassung an Gewicht, die sich zu Beginn des Jahrhunderts schon deutlich abzeichnete. Siehe dazu die Schriften Hegels aus jener Zeit. „Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere Buchstabenphilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonnieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus [1796], in: Otto Pöggeler, Hegel, der Verfasser des ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus, Hegel-Studien, Beiheft 4, Bonn 1969, S. 17–32).
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Jahrhundert. Es reicht aus, sich lediglich den Gefühlsschwall ins Gedächtnis zu rufen, der, anthropologisch gesehen, den wahren und empfänglichen Menschen ausmacht, der allzeit auf der Suche nach dem Anderen ist, um sich in ihm wiederzuerkennen. Und in ihm müssen wir folglich jenes Anderen gewahr werden, der uns auf unser eigenes Selbst treffen läßt. Das geflügelte Wort ‚Der Mensch ist keine Insel‘ ist bekannt; der Mensch kann nicht allein bestehen, anderenfalls, so fügen wir hinzu, könnte er nicht als Subjekt auftreten. Der Kernpunkt, den ich hier herausheben möchte, ist die Tatsache, daß die Idee der Intersubjektivität, die der bürgerlichen Gesellschaft ihre philosophische Grundlage verleihen wird, in der Vereinigung der Seelen ihren Anfang findet. Erst wenn im Bereich der Erkenntnis und der Selbsterkenntnis die Gewaltsamkeit als dialektische Erscheinung beigefügt wird, gelangt man zu der Bestimmung des Hegelschen Selbstbewußtseins. Doch im Aufeinandertreffen der Seelen, von denen hier die Rede ist, wird Selbstbewußtsein noch nicht über den dialektischen Gegensatz, sondern durch Vereinigung erreicht. Seelenhunger nach der unauflösbaren Begegnung mit dem Anderen, um sich selbst zu erkennen, aber auch sich in eine von Schönheit und Tugend durchdrungene Selbstreflexion zurückziehen zu können, während der Geist sich aufmacht zu Orten der Reinheit und Erneuerung, von denen er erleichtert, wiederbelebt und befreit in die Alltagswelt zurückkehrt. Dies sind die Glieder der inneren Erziehung, die sich zu der strengen Übung der vernünftigen Zucht des Willens gesellen. Moral und Ästhetik wohnen vereint in der schönen Seele. Es ist das Reich der den Menschen bildenden Idylle, die die hervorgehobenen Seiten jener Literatur durchdringt. Und genau aus diesem Boden entspringen die Wurzeln der pietistischen Bewegung, die die Kirche des Herzens anstelle der Kirche aus Stein errichtet, einem berühmten Ausdruck zufolge, der ihr geistiges Wesen zu erfassen sucht. Ich glaube nicht, es wäre willkürlich, in dieser Behauptung einen längst vergangenen Bestandteil der alten germanischen Kultur wiederzuerkennen, auf den an dieser Stelle noch einmal verwiesen sei, ist er doch Teil jener langen Tradition, die in der Entwicklung der socialitas uralte Sitten des vorrömischen Germanentums mit der modernen Auffassung von bürgerlicher Gesellschaft verbindet. Tatsächlich läßt sich eine auffallende Ähnlichkeit zwischen der Vorstellung einer mit dem Herzen – und nicht aus Stein – errichteten Kirche und dem Fehlen von Tempeln oder gemauerten Klausen innerhalb der alten Germanenstämme erkennen. Tacitus9 erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß die Germanen es der Würde der Gottheit als abträglich erachteten, dieser
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Vgl. Tacitus, Germania, hrsg. v. Quintino Di Vona, Mailand 1943, c. 9: „nec cohibere parietibus deos neque in ullam humani oris speciem adsimilare ex magnitudine caelestium arbitrantur“.
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ein menschliches Aussehen zu verleihen und sie in den Mauern eines Gebäudes einzufangen. Ein Beispiel für die in pietistischen – im übrigen nicht immer gleich gearteten – Kreisen verbreitete Weltanschauung bietet in dieser Hinsicht die Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie (den Titel gab Ludwig Tieck einer Schrift von Gottfried Arnold), die alle Kirchen verurteilte, um eine reine Religion des Bewußtseins und des Geistes zu behaupten. Es ist anzumerken, daß die von Arnold vertretene Religion aufgrund ihrer besonderen und eindeutig pietistischen Merkmale nicht vollends mit den seit dem vorangegangenen Jahrhundert verbreiteten so genannten Naturreligionen gleichgestellt werden kann. Arnold schöpft nämlich aus dem 17. Jahrhundert nicht so sehr aus den naturbedingten-rationalistischen Lehren, sondern vielmehr aus den mystischen Strömungen. Dabei stützt er sich, im Widerspruch zu den Orthodoxien der institutionalisierten Konfessionen, auf jene asketischen Schöpfungsfähigkeiten, die er in vielen und aufs Schärfste bekämpften und unterdrückten Irrlehren der Vergangenheit erkannte.10 In Hinsicht auf die wirklich bedeutsame kulturelle Strömung des Pietismus beschränke ich mich auf einen kurzen Verweis. Neben dem bereits erwähnten Brockes müßten wir uns hier auch auf die überlieferungsreiche Schulung des Choralgesangs beziehen, der durch Selbstreflexion ein Gemeinschaftsgefühl und ein Gefühl der Zugehörigkeit entstehen läßt. Wir müßten außerdem an die von Susanne von Klettenberg erteilten Ermahnungen betreffs der mystischen Besonnenheit des Herzens erinnern. Wir müßten schließlich verweilen, um die von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf gewollten öffentlichen Bußen aufzuzeigen. Verfasser zahlreicher Schriften, Predigten, Reden und Hymnen, in denen er sich für die nicht zuletzt gesellschaftliche Erneuerung der Geister entflammt, zählt er gleichzeitig zu den Gründern von Gemeinden, deren bekannteste sicherlich die multikonfessionelle Gemeinde Herrnhut ist. Doch es mag genügen, an dieser Stelle lediglich einen Text von herausragender Bedeutung für diese allgemeine Stimmung der geistigen Erneuerung zu erwähnen, der von vielen als der echte deutsche Roman des 18. Jahrhunderts angesehen wird. Ich beziehe mich auf die vier Bände von Die Insel Felsenburg, deren Titel auf Tieck zurückgeht und der schließlich den endlosen analytisch barocken Originaltitel ersetzen sollte.11
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Vgl. Gottfried Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie, Frankfurt a. M. 1699–1700; und ders., Historia et descriptio theologiae Mysticae, seu Theosophiae Arcanae et reconditae itemque veterum et novorum mysticorum, Francofurti 1702. 11 Der Originaltitel dieses Romans von Johann Gottfried Schnabel, erschienen unter dem Pseudonym Gisander, lautet: Wunderliche Fata einiger Seefahrer, absonderlich Alberti Julii, eines geborenen Sachsen, welcher in seinem achtzehnten Jahre zu Schiff gegangen, durch Schiffbruch selbrierte an eine grausame Klippe geworfen worden, nach
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Der Verfasser Johann Gottfried Schnabel ahmt, ohne sich dabei dem Einfluß des Simplicissimus von Grimmelshausen zu entziehen, mit ausgeprägten, dem utopischen Genre entlehnten Merkmalen das Abenteuer Robinson Crusoes nach, um die Geburt und das Heranwachsen innerhalb einer Gemeinschaft von Wesen zu beschreiben, die im Sinne der strengsten pietistischen Maßstäbe vollkommen sind. Der Roman wird gemeinhin als eine hervorragende Robinsonade betrachtet. Er erzählt von Schiffbrüchigen – den ersten Überlebenden des Dreißigjährigen Kriegs – die, glücklich über ihr Schicksal, eine neue biblisch inspirierte Gesellschaft gründen, die aus grundehrlichen und vor lauter christlicher Tugend strahlenden Personen besteht. Hinter dem Übermaß an Begebenheiten und den auf sittlichen Mahnungen beruhenden Abschweifungen entdecken wir, daß der Kerngedanke des Romans in Wahrheit dem existenziellen Bedürfnis einer Seelengemeinschaft Ausdruck verleiht. Hier die Auslegung, die mich am meisten überzeugt: Die tiefe Bindung, die die Gemeinde auf der Insel vereint, ergibt sich aus dem Wunsch der Begegnung einzelner, innerlicher, persönlicher Inseln auf gemeinschaftlichem Boden (denn der Mensch ist keine Insel, wie ja bereits John Donne schrieb) oder, wenn man so will, der Begegnung Einzelner auf der inneren Insel, die nichts anderes als die Seeleninsel darstellt. In einem derartigen Bestreben finden sich alle vom Pietismus gehegten tugendhaften Träume wieder. Dennoch, um eine von der socialitas ausgehende Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft nachzuzeichnen, muß die Introspektion als innere Übung betont werden. Dieser widmete sich die dem Pietismus eigentümliche intime Geistigkeit auch in der engen Welt des Alltags und der kleinen Gemeinschaften. Letztere wurden von den Pietisten als Gemeinschaften angesehen, die durch die Anmaßung der stumpfsinnigen Macht der herrschenden Klassen unterdrückt wurden (man denke hierbei nur an die ethische Verlautbarung, die sich aus dem dramatischen Realismus eines theatralischen Meisterwerks wie Schillers Kabale und Liebe ergibt). Es ist unbestreitbar, daß der verinnerlichte Altruismus, der den auf ethischen Mahnungen beruhenden pietistischen Geist durchdringt, die Voraussetzung für jene Verinnerlichung der öffentlichen Sphäre in der Seele der Individuen schafft, die wiederum die Sittlichkeit des Bürgers bestimmt, der für das eigene Handeln und für die bürgerlichen Zwecke dieses Handelns verantwortlich ist.
___________ deren Übersteigung das schönste Land entdeckt, sich daselbst mit seiner Gefährtin verheiratet, aus solcher Ehe eine Familie von mehr als dreihundert Seelen erzeugt […]. Die vier Bände, in die sich dieser Roman unterteilt, werden der erste 1731, der zweite 1732, der dritte 1736 und der vierte 1743 in Nordhausen veröffentlicht.
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Die grundsätzliche Bedeutung von Willen und Pflicht erneut hervorhebend – beide werden u. a. durch den Pietismus verbreitet – fällt es uns leichter, ihr entscheidendes bürgerliches Erbe zu verstehen. Die Gewohnheit der Selbstvertiefung sowie der damit verbundenen Selbstkontrolle ist in der Tat unumstößliche Voraussetzung für die Verwirklichung des moralischen Selbstbewußtseins, das schließlich seinerseits über die Kraft eines vernunftbestimmten Willens in die sozialen Beziehungen und vor allem in die Arbeitswelt einfließt, wobei es die Strukturen der organisierten Gesellschaft und der Institutionen durchdringt. Und es sind gerade das moralische Selbstbewußtsein und die Form des Willens, die jene säkularisierte „innerweltliche Askese“ vorwegnehmen, die Max Weber dem der bürgerlichen Seele eigenen Ökonomismus und ihrer Beruflichkeit zuschreibt. Mit anderen Worten, die sich in der geistigen Gemeinschaft mit Anderen offenbarende Selbstdisziplin, für die der Pietismus ein bemerkenswertes Beispiel darstellt, schafft die wesentliche Prägung für die Eigenschaften und die Typologie des Individuums, das seine volle Reife als Subjekt erlangt hat. Hiermit fasse ich die wichtigsten Phasen der Bildung des Subjekts folgendermaßen zusammen: Ausgehend von einem anfänglichen amor sui, wird über den beherrschten Willen ein Ich bzw. ein Selbst in der Seele entdeckt, das sich nach außen richtet, indem es sich um den Aufbau eines bewußten und verantwortlichen Subjekts bemüht. Dieses ist die grundlegende Struktur, die alsdann in den Bereich der sozialen und bürgerlichen Intersubjektivität übergeht, in dem die egoistischen Interessen der Einzelnen eine auf Wechselseitigkeit beruhende Position einnehmen. Für einen unmittelbar ethisch-sozialen Bezug eben jener Epoche, von der hier die Rede ist, denke man beispielsweise an die Beharrlichkeit, mit der der späte Christian Thomasius, zunächst Anhänger, danach vehementer Gegner des Pietismus, in seinen engagierten Pamphleten für das Leben in Arbeit wirbt, oder auch an die Schriften seines Schülers Johann Adolf Hoffmann.12 Das, was in diesen Werken als Arbeitsethik anmutet, ist in Wahrheit eine deutliche Auffassung der Arbeit als ein Mittel der ethischen Prägung, mit dessen Hilfe jeder Mensch zu einer eigenen ethischen, anständigen Natur und zu einer auf ethischen Beziehungen beruhenden Ordnung zurückgeführt wird. Aus diesem Grund – gemeint ist die Suche nach einer Übereinstimmung mit der Natur, die sich auch als einfache Natürlichkeit des Lebens ausdrückt – unterscheiden sich die philosophisch-ethischen Schriften jener Art kaum von dem Geist, den wir in rein literarischen Werken wie beispielsweise in dem berühmten Kurzepos Die Alpen von Albrecht von Haller aus dem Jahre 1729 finden. Hier bieten die vor-
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Vgl. insbesondere: Johann Adolf Hoffmann, Zwei Bücher von der Zufriedenheit, Hamburg 1722.
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trefflichen Beschreibungen der alpinen Landschaft und vor allem der echten Einfachheit der Lebensart und der Gefühlswelt einer im Gegensatz zu der Unnatürlichkeit der Stadtwelt stehenden Bergbevölkerung eine ethische Bedeutung, die auf die Wiedererlangung der natürlichen, in ihren Mühen und ihrem sittsamen Vergnügen erlebten Reinheit gerichtet ist. Unabhängig von seinem künstlerischen Wert vertritt das Kurzepos in vollendeter Weise ein zu verinnerlichendes ethisches Vorbild. Zu beachten ist außerdem, daß sich in jener Zeit eine philosophische Auffassung abzeichnet, die sich von der systematischen Lebensqual des 17. Jahrhunderts löst und eine neue ethisch-politische Anthropologie entwickelt; das ist das Ergebnis einer – bereits erwähnten – oft naiven und idealisierenden, und doch absichtlich in das wirkliche Dasein eingebundenen träumerischen Welt. Diesbezüglich folgt man gewöhnlich einem lehrbuchmäßigen Schema, das, mit nicht unerheblichen Verzerrungen, die Zeit des beginnenden und sich noch auf der Suche nach der Seele befindenden 18. Jahrhunderts der Phase der eigentlichen und vom Geist der Befreiung beherrschten Aufklärung gegenüberstellt. Zur Erläuterung dieser Lesart sei jedoch angefügt, daß jene Gegenüberstellung eher auf Klassifizierungsabsichten zurückzuführen ist, die im ideologischen Rationalismus gründen, als daß sie sich auf die geschichtliche Wirklichkeit beziehen. Genauer gesagt, verleitet eine allzu rationalistische Sichtweise zu der nicht ganz richtigen Auffassung, die Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft sei fast ausschließlich das Ergebnis der Entwicklung der aufgeklärten Vernunft. Demnach wäre die bürgerliche Gesellschaft – so wie sie sich später im Jahrhundert durchsetzen wird – nichts anderes als der bloß philosophische Beitrag des abstrakt verfahrenden aufgeklärten Intellektualismus. Eine derartige Anschauung läuft Gefahr, die Fortdauer von jenen Sitten zu vernachlässigen, die ihre Wurzeln in den ältesten germanischen Gemeinschaften und deren späteren Veränderungen haben; diese Fortdauer der Sitten wird nicht zuletzt von jener Erziehung der Seele unterstützt, die während der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts besonders gepflegt wurde. Es handelt sich um Sitten, die weder an hierarchisierte Einrichtungen noch an obrigkeitliche Vorschriften gebunden sind. In der Überlieferung des beginnenden 18. Jahrhunderts war es vor allem die Gewohnheit, welche die politische Macht bestimmte, und zwar ausgehend von der des Hausherrn, als der wesentlichen Gestalt der häuslichen Gemeinschaft. Es stimmt, daß die bürgerliche Gesellschaft genau gesehen im Gegensatz zu diesen aus der Gewohnheit entstandenen Sitten und Bräuchen entsteht, aber es ist ebenfalls wahr, daß das von diesem System eingeführte Treueverhältnis zum Verantwortungsprinzip wird, dem der moderne Bürger für sein eigenes Handeln verpflichtet ist.
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Die grundsätzlichen Elemente des deutschen 18. Jahrhunderts, die meiner Meinung nach in der hier angeführten Übersicht hervorgehoben werden sollten, lassen sich wie folgt zusammenfassen. Zunächst einmal offenbart diese Epoche einen tiefen, an die menschlichen Fähigkeiten glaubenden Geist, insbesondere an jene Fähigkeiten, die zur Beeinflussung persönlicher Überzeugungen geeignet sind; dieser Geist drückt sich durch die Selbstbeherrschung, die schöpferische Kraft, die Fähigkeit, Charakterschwächen zu überwinden und das Erkenntnisvermögen zu entfalten und endlich durch die Fähigkeit, seine eigene Seele der Welt zu erschließen, aus. Dies ist das Erfahrungsfeld der ‚Bildung‘. In diesem Rahmen kommt die entscheidende Aufgabe dem Willen zu, als dem aus der Vernunft nicht abgeleiteten Element der menschlichen Persönlichkeit; ein Element, das dem deutschen Naturrecht des 17. Jahrhunderts eigentümlich ist. Gerade auf den Willen stützen sich Tugend, Pflichten, Verantwortlichkeit und Verfolgung der moralischen Zielsetzungen. Der Wille drückt sich gleichfalls in der Beziehung aus, die das Subjekt mit der Natur eingeht, welche das zweite wesentliche und nicht aus der Vernunft abgeleitete Element darstellt, auf das sich das Naturrecht des 17. Jahrhunderts bezieht. Aus diesen Bezugnahmen ergibt sich eine Vertrautheit mit der Natur; eine Vertrautheit, die sich des Schönheitsempfindens bedient. Dementsprechend gilt die Schönheit der Seele als pars principans, welche dann im Allgemeinen den Geist auf die Schönheit der Formen richtet, die sich neben die Moralästhetik gesellt und sie manchmal leitet. Die Ästhetik wird somit zu einem regelrechten und selbständigen Erkenntnisstil, der von Alexander Gottlieb Baumgarten als selbständiges Teilgebiet der Erkenntnislehre begründet wurde. Seine im Jahre 1750 erschienene Aesthetica entwickelt Thesen weiter, die, von Leibniz bereits im vorangegangenen Jahrhundert aufgestellt, die Ästhetik zu einer vollwertigen, allerdings nichtcartesianischen Wissenschaft werden lassen, gerade weil sie sich – wie Leibniz behauptete – zwar auf ‚klare‘, aber nicht auf ‚deutliche‘ Ideen gründet. Die ästhetische Bestrebung der zwischenmenschlichen Beziehungen wirkt sich jedoch auch in der Politik aus. Im 18. Jahrhundert greift der Einklang der Regierenden mit den Untertanen ein Gemeinschaftsmodell auf, das vorab in der Seelengemeinschaft seine Entsprechung findet. Eines der bedeutendsten Zeugnisse dieser idyllischen Vorstellung des politischen Verhältnisses liefert das Werk Deutsches Staatsrecht von Johann Jacob Moser, worin der gute Geschmack als Teil des alltäglichen Lebens sowie die gemeinschaftliche Vernünftigkeit aufeinander treffen. Dabei unterstützen sie einen institutionalisierten Gemeinschaftssinn, der in den moder-nen, nicht mehr gewohnheitsmäßigen Gesellschaften nicht ganz verlorengehen wird. Der gute Geschmack, überdies regulierendes Kriterium der sozialen Beziehungen, erscheint in den Betrachtungen von Thomasius und späterhin z. B. in den wohlbekannten Überlegungen Kants.
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Die zentrale Rolle der Seele ist – wie mehrfach hervorgehoben – Teil von einer alles andere als holistischen Form von Religiosität, welche die nicht äußerlich verbindlichen Regeln des bürgerlichen gesunden Gemeinsinnes vorwegnimmt. Eine zusätzliche Bestätigung der grundsätzlichen Rolle der Seele ergibt sich aus der tröstlichen Vorstellung von ihrer Unsterblichkeit. Die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele erschöpft sich nicht einfach in dem Glauben an ihr Weiterleben im Jenseits, sondern wird auch als ein entscheidender Bestandteil der menschlichen Würde angesehen. Man könnte sogar behaupten, daß die Menschenwürde von der Unsterblichkeit der Seele gleichsam geprägt wird. Die Unsterblichkeit der Seele wurde fernerhin wahrgenommen als überlegener Ausdruck der Außerordentlichkeit, sozusagen als Wunder des menschlichen Wesens in sich selbst und in seinen Werken, die Goethe ausdrücklich rühmen wird. Die Seele ist in ihrer Unsterblichkeit gleichsam die Kraft, die sich im vervollkommnenden Werden entwickelt. Diesbezüglich darf nicht unbeachtet bleiben, daß es gerade die unsterbliche Seele ist, die sich als handelndes Subjekt jenes tugendhaften Willens abzeichnet, der stufenweise den wiederum nicht als Urzustand zu verstehenden Naturzustand plant und erreicht. Die materialistische Haltung – der transzendenten Seite der Menschlichkeit fremd und folglich die Unsterblichkeit der Seele leugnend – entstammt also keineswegs dieser anthropologischen Neugründung; materialistische Denkweisen, wie beispielsweise die eines Georg Forster, müssen als außergewöhnlich, wenn nicht gar als einmalig, betrachtet werden und sind sicherlich nicht charakteristisch für jene Zeit. In den Idealen, die die tugendhaften Gemüter beleben, löst sich auch der furchtbare Streit zwischen Vernunft und Glauben auf, der das vorangegangene Jahrhundert geprägt hatte. Der Verdienst dieser Auflösung gebührt vor allem dem Aufkommen eines sensus communis, der die Spannungen des Dogmatismus mildert und der die Gemüter jenem ‚Geschmack‘ zuführt, den auch Kant als für das gute Leben wesentlich ansieht. Es handelt sich letztendlich um den Ausdruck eines guten Geschmacks, der das Zusammenleben bereichert und der sich einerseits auf die innere Erziehung zur Tugend, andererseits auf die Anwendung einer fei-nen Vernünftigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen stützt. Auf diese Art stimmen Antidogmatismus und Toleranz mit moralischer Strenge überein. Vor diesem Hintergrund darf natürlich eine sehr bedeutende Gestalt keineswegs fehlen, welche die grundsätzliche Harmonie des Verhältnisses zwischen öffentlicher und privater Sphäre sowohl nach allgemeiner Vorstellung als auch in der institutionalisierten Wirklichkeit verkörpert: der aufgeklärte Fürst. Dieser hat das Vertrauen der Untertanen, denn er spiegelt sich in ihnen und in ihrem Wohlsein wieder und verlangt von ihnen Redlichkeit und Gehorsam.
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Man könnte einen Entwurf des Fürsten selbst nach dem Vorbild der traditionellen specula principis zeichnen – jedoch im Unterschied zu diesen ohne deren Beispielcharakter – und zwar mit dem Ziel, aufzuzeigen, wie man von dem speculum des christlichen bonus princeps zu einem Hüter der äußeren Ordnung wird, die wiederum die Entfaltung der inneren Ordnung ermöglicht. Auch wenn die Gestalt des Fürsten letztendlich der eines gleichsam ‚gesteigerten‘ Hausherrn entspricht, so enthalten ihre politischen Züge dennoch unverkennbare deistische Komponenten. Dadurch treten religiöse und politische Obrigkeit, auch ohne sie einander gleichstellen zu wollen, nicht in Gegensatz, da sie beide Ausdruck einer von der Natur der Sache abhängigen Ordnung sind. Damit kann auch von der noch im 17. Jahrhundert vorherrschenden mechanistischen Auffassung Abstand genommen werden, wonach Gott der Schöpfer der Weltmaschine und dieser infolgedessen mit einem göttlichen Zeitmesser vergleichbar war. Hierzu paßt, als deutliches Beispiel für die Denkweise einer zu Anfang des 18. Jahrhunderts aufkommenden und sich fortentwickelnden Theologie, die (sehr ungünstig beurteilte) und als Wertheimer Bibel (1734) bekannte Bibelübersetzung von Lorenz Schmitt, deren Leitgedanke auf der Vorstellung von einer als natürliche Notwendigkeit und menschlicher Nutzen verstandenen Schöpfung gründet; eine Schöpfung, die, jener Übersetzung nach, „notwendig und nutzbar“ wäre. Unsere Zielsetzung erfordert auch einen kurzen Hinweis auf die rechtliche Seite dieses Themas. Vom rechtlichen Standpunkt aus beruht die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelnde bürgerlichen Gesellschaft auf zwei Prinzipien. Das erste fällt mit dem Naturrecht als Pflichtenlehre zusammen; das zweite ist hingegen die gewohnheitsmäßige Auslegung der tatsächlichen Zustände und Verhältnisse nach dem gemeinen Recht. Der bedeutendste Aspekt, der von den oben genannten Prinzipien bestimmt wird, ist der status. Begrifflich betrachtet ist der betreffende status das Ergebnis einer Ansammlung von normativen Quellen – römischrechtlichen, religiösen, gewohnheitsrechtlichen, moralischen und sogar philosophischen – die de iure et de facto zu einer Vielfalt von Bedingungen und von persönlichen und gesellschaftlichen Rollen führen. So verwirklichen sich die eigentlichen Normen des status familiaris, libertatis, civitatis, servitutis, um nur die wichtigsten zu nennen, denen gemäß einer alten klassischen Lehre ähnliche Pflichtentypen entsprechen. Es zeichnen sich somit die besonderen Pflichten von Stammhalter, Vater, Ehepartner, Eigentümer, Handwerker, Arbeiter, Verkäufer, Händler, Beamten, Soldat, Priester und so fort ab. Auf der Grundlage des Zusammenspiels der normativen Beziehungen, welche auf jenen persönlichen und gesellschaftlichen status beruhen, die ihrerseits ebenso viele status iuris begründen, bestimmen sich die Grundsätze der gesamten rechtlichen Sphäre und die Kennzeichen der institu-
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tionellen Anstalten. In diesem Rahmen einleuchtend ist der entscheidende Einfluß des usus modernus pandectarum als Verknüpfung von römischrechtlichen und gewohnheitsrechtlichen Regeln. Die Elementa juris naturae et gentium von Johann Gottlieb Heineccius bieten sicherlich das vollständigste Kompendium, das die beiden oben erwähnten Prinzipien in Übereinstimmung mit dem römischen Recht theoretisch erläutert. Was die Vorbedingungen der bürgerlichen Ordnung anbetrifft, liegt deren wichtigste rechtliche Besonderheit in der Darlegung eines verantwortlichen Selbst, das sich vorwiegend auf der Pflichtkategorie gründet, so wie es beispielsweise Wolff behauptet, wenn er das sogenannte ius connatum erläutert. In diesem Fall lassen sich die rationalistischen Begriffsscheidungen Wolffs gut in das Verfahren einfügen, das zu der Entstehung des künftigen Bürgers führt. In den Wolffschen Werken ist der Begriff ius connatum ziemlich verzwickt; er enthält vielschichtige Anklänge von stoischen und ciceronianischen Vorstellungen, die mittels einer typisch scholastischen Beweisführung und einer protestantischen ethisch begründeten Sicht überarbeitet worden sind. Sein Leitprinzip stellt die grundlegende Pflicht gegen sich selbst dar, welche die Pflege der Seele und des Körpers und die Verpflichtungen gegen die anderen Menschen vorschreibt; und diese Pflichten drücken sich insgesamt als äußerer Zustand aus. Man muß auf dieses Pflichtensystem und insbesondere auf die nach außen gehende Verpflichtung Bezug nehmen, will man die moralische Aufgabe einer Achtung des Naturgesetzes genau interpretieren; eine Aufgabe, die auch der sovrana majestas obliegt. Davon hängt nämlich das Erreichen des bonum commune ab, dem das System der Pflichten als Ziel vorgegeben ist. Dabei ist die überlieferte Kontinuität einer Dreiteilung der Verpflichtungen – erga Deum, erga seipsum, erga alios – offensichtlich, wie sie unter anderen in der Pflichtenlehre von Pufendorf zu finden ist, der sich freilich seinerseits auf Cicero beruft. Bei Wolff muß der besondere Verweis auf die Seele betont werden, noch stärker jedoch die Hervorhebung der Subjektivität, von der die Pflichtgebote und vor allem die Bestimmungsmaßstäbe des verantwortlichen Subjekts ausgehen. Hieraus ergibt sich eine offenkundige Verstärkung der inneren Verantwortlichkeit, was noch einmal die Vorherrschaft der Pflichten gegenüber den Rechten im deutschen Naturrecht belegt. Will man den philosophisch-rechtlichen Standpunkt – der dieser Phase der Entwicklung einer neuen bürgerlichen socialitas in Deutschland eigentümlich ist – beleuchten, so gebührt der engen Verbindung zwischen einerseits dem status de iure et de facto und andererseits der moralischen Verantwortung besondere Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang liegt das Hauptproblem darin begründet, die Vorschriften zu erkennen, die die Pflichten der einzelnen status bestimmen, so daß diese status das Subjekt nicht völlig aufheben und der
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Schutz des Subjekts zu der Natur des status oder der status, die er bekleidet, nicht in Widerspruch steht. Gerade durch diese Verbindung mit den status zeichnet sich die begriffliche Gestalt des Subjekts in seinen normativen Merkmalen aus. In diesem Zusammenhang nimmt das Verpflichtungssystem – als besonderes Kennzeichen der öffentlichen Natur der deutschen bürgerlichen Gesellschaft gedeutet – seine eigentlich rechtliche Gestalt an. Auch was die Beziehungen zur Regierung angeht, so ist es immer das Verhältnis zwischen dem Subjekt und seinem eigenen status (hierbei wird die spezifisch öffentliche Bedeutung des Subjekts von seinem eigenen status bestimmt), das die Grenzen der staatlichen Einmischung in den Bereich der individuellen Interessen festlegt. Und es ist dem moralisch-rechtlichen Charakter der persönlichen Verantwortung zu danken, die sich je nach bekleidetem status ändert, daß die These von der Nicht-Einmischung des Staates in die von den Privatbürgern abgeschlossenen Verträge gerechtfertigt wird. Diese These wird, unter anderen, auch von Wolff vertreten, der jedoch die einfache subjektive Verantwortung als ausreichend betrachtet, um für die Selbständigkeit der Vertragspartner zu bürgen. Auf den rechtlichen und moralischen Bedingungen der Verantwortung, die im frühen 18. Jahrhundert entwickelt worden sind, gründet gleichfalls die bürgerliche Freiheit, Schlüsselbegriff der sozialen und politischen Ordnung, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft Ausdruck findet, die von den gemeinhin eingeforderten Ansprüchen der politischen Freiheit revolutionären Ursprungs absieht. In der Ausübung der bürgerlichen Freiheit werden die Willensakte diesem moralischen Ansatz nach durch das Pflichtgefühl, durch die rechtlichen Normen, welche dies zum Ausdruck bringen, und durch die wirtschaftliche Selbstregulierung, wie sie vor allem von den Physiokraten gelehrt wird, abgemildert. Zeugnisse für das Zusammenfallen der wirtschaftlichen mit den rechtlichmoralischen Anschauungen liefern unter diesem Gesichtspunkt die Schriften von Isaak Jakob Iselin und von Johann August Schlettwein, der im Jahre 1784 seine Wirtschaftspolitik unter besonderer Hervorhebung der menschlichen Rechte vollendet.13 Mit ausdrücklichem Verweis auf die Lehren von John Millar, Ferguson und Smith werden es gerade die wirtschaftlichen Lehren sein, die den Aufruf zu Menschenrechten vorantreiben, auch wenn, juristisch betrachtet, jene Rechte den moralischen Geboten der Pflichten immer untergeordnet bleiben.
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Vgl. Isaak Jakob Iselin, Versuch über die gesellige Ordnung, Basel 1772; Johann August Schlettwein, Die Rechte der Menschheit oder der einzig wahre Grund aller Gesetze, Ordnungen und Verfassungen, Gießen 1784.
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In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß in Deutschland, und zwar im philosophischen Bereich mehr als im juristischen, die Lehre von den Menschenrechten sich von der französischen Staatsphilosophie herleitet. Dem Juristen können die so aufgefaßten Menschenrechte als eine ontologisierte Erweiterung des subjektiven Rechts erscheinen. Anders sind aber die Rechte zu interpretieren, wenn man sie von dem willentlichen Gesichtspunkt der Pflichten aus betrachtet. In diesem Fall können die Rechte als Erbe der deutschen Überlieferung der socialitas angesehen werden. Angesichts der in der Gewohnheit wurzelnden deutschen socialitas gründet die Theorie der subjektiven Rechte auf keinerlei Ontologisierung, sondern, was ihre rechtliche Natur angeht, vielmehr auf der Übereinstimmung zwischen den mit den status iuris zusammenhängenden rechtlich-moralischen Grundsätzen und dem erneuerten romanistischen Begriff des ius in re. Aus eben dieser Übereinstimmung entsteht jener besondere status des Subjekts und seiner Beziehungen, der zugleich privater und öffentlicher Natur ist und der de iure und de facto in sich selbst schon Merkmale der Öffentlichkeit beinhaltet. Genauer gesagt, zeichnen sich facultates und potestates ab, die nicht auf vorgesetzte und allgemeine Verordnungen beruhen, sondern diese werden nach der Natur der Sache, der Rolle der Person und den Umständen geübt, ohne Anspruch auf eine Verallgemeinerung des Subjekts, letztendlich nicht kraft des subjektiven Rechts. Mit anderen Worten: Juristisch wird kein Rechtssubjekt geschaffen, wohl aber die Beziehungen, die aus ihm entstanden sind und in denen es steht, so daß die Rechtsregel sich nicht auf das Subjekt als solches bezieht, sondern nur auf seine Beziehungen. Es ist nicht das allgemeine Menschsein, das ein Individuum normativ kennzeichnet, sondern seine Zugehörigkeit zu einem geregelten Umfeld, das seinen sozialen Kern auf dem Land vor allem in Haus und Hof und in der Stadt vor allem in den Zünften und Körperschaften hat. Das vorherrschende Vorbild bleibt dabei immer das des Hausherrn mit seinem Besitz; ein Vorbild, das in der Figur des römisch-rechtlichen pater familias offensichtliche Bestätigung findet. Innerhalb des künftigen ius civile wird die Auffassung dieser überarbeiteten Form des ius in re im Kern aufrechterhalten, welche im Rahmen des statusSystems ausgeübt worden war. Das Verbleiben dieser Auffassung wird unter anderem von der persönlichen Tendenz, die Vorschriften zu verinnerlichen, und der subjektiven Achtung vor dem Recht, aber vor allem von der deutschen Rechtsordnung dokumentiert, bei welcher das nicht völlige Zusammenfallen des Staatsrechts mit dem öffentlichen besonders bemerkenswert ist. Denn das öffentliche Recht, das als eine ‚Erweiterung‘ des Privatrechts in der Öffentlichkeit zu deuten ist, regelt vor allem die öffentliche Vereinigungstätigkeit der Bürger in der Gesellschaft, während das Staatsrecht ausschließlich die Regierungstätigkeit des Staates bestimmt.
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Grundsätzlich wird die juristische Persönlichkeit bestimmt, indem das Subjekt als unabhängig verstanden wird, und zwar sowohl von einer durch die Phantasie der Philosophen erdachten Ordnung der Natur, als auch von der staatlichen und fürstlichen Obrigkeit, sowohl von der allgemeinen Abstraktion der Vernunft, als auch von der Willkür der individuellen Willensäußerungen. Anhand dieser Auffassungen wird Heineccius aristotelisch behaupten können: „Persona est homo statu civili praeditus“.14 Erwägt man die oben behandelten Fragen, so ist es unvermeidlich, ab und zu in verallgemeinernde Behauptungen zu verfallen, auch wenn ein aufmerksames Lesen in der Lage ist, diese in ihren inhaltlichen Zusammenhang einzuordnen. Ich erachte es dennoch für nützlich, mögliche Mißverständnisse im Hinblick auf den wiederholt verwendeten Begriff ‚bürgerliche Gesellschaft‘ auszuräumen. ‚Bürgerliche Gesellschaft‘ ist ein Begriff mit einer vielfältigen Geschichte, auf die ich mich keineswegs einzulassen beabsichtige. Es ist bekannt, wie unterschiedlich seine Bestimmungen ausfallen, von den verschiedenen Auslegungen an, die das 17. Jahrhundert geliefert hat. Unter dem Einfluß der Übersetzungen des lateinischen Ausdrucks societas civilis durch die verschiedenen Aristotelismen und Antiaristotelismen, der Lehren von der Natürlichkeit oder der Unnatürlichkeit des menschlichen Zusammenlebens, des unterschiedlich konzipierten Naturrechts und der theologischen Auseinandersetzungen entzieht sich der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft schließlich auch nicht dem Einfluß, der vom Partikularismus der geltenden institutionalisierten Ordnungen ausgeht. Somit bleibt als Tatsache bestehen, daß der Begriff societas civilis bereits ab dem 17. Jahrhundert immer die Gesamtheit der Untertanen, der Institutionen und der Obrigkeiten sowie die Verflechtung von deren wechselseitigen Beziehungen mit allen ihren lokalen Eigentümlichkeiten umfaßt.15 Und eben dies ist der Grund dafür, daß die Wendung societas civilis, so wie sie in der naturrechtlichen Überlieferung üblich ist, dazu neigt, sich mit dem Begriff des Staates
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Vgl. Johann Gottlieb Heineccius, Elementa juris naturae et gentium, Leipzig 1738, II, 6, 105. 15 Manfred Riedel hebt die Immanuel Weber zu verdankende Übersetzung von Pufendorf besonders hervor, die das lateinische civitas mit dem Begriff Bürgerliche Gesellschaft wiedergibt: „der geehrte Leser wüßte, daß mit dem öfters vorkommenden Worte Bürgerliche Gesellschaft nichts anders zu verstehen gegeben und gemeint seie als die zusammen verbundenen Obrigkeiten und Untertanen, welche ein gewisses Reich, Republic u. dgl. ausmachen“: Samuel Pufendorf, Einleitung zur Sitten- und Staatslehre, übersetzt von Immanuel Weber, Leipzig 1691 (zit. aus: Manfred Riedel, [Art.] ‚Gesellschaft, bürgerliche‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Stuttgart 1979, Bd. 2, V, 1).
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oder besser mit dem der politischen Gesellschaft beziehungsweise der Policey zusammenzufallen. Gerade im 18. Jahrhundert stellt sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft immer stärker heraus. Dies vollzieht sich, in groben Zügen analysiert, in zwei verschiedenen Richtungen. In der einen Richtung verstärken sich die Wesenheiten des stark polarisierten französischen Vorbildes, bei dem die typisch öffentlichen Aufgaben dem staatlichen und jene typisch privaten hingegen dem gesellschaftlichen Bereich zugeordnet werden. Die andere Richtung bleibt dem deutschen Vorbild treu, bei dem die bürgerliche Gesellschaft als solche ihre öffentlich-privaten Merkmale aufrechterhält, so daß die eigenen individuellen Interessen unmittelbar in den Raum der nicht-staatlichen Öffentlichkeit einmünden können. Mit anderen Worten: Während das französische Vorbild die Öffentlichkeit dem staatlichen Monopol anvertraut, behält das deutsche – darin dem englischen ähnlicher – sie der bürgerlichen Gesellschaft vor. Während das französische Modell den Staat und dessen Gesetzgeber als Förderer der politischen Freiheit und der Bürgerrechte versteht, faßt das deutsche den Staat lediglich als eine übergeordnete Obrigkeit auf, welche die Freiheit und die sich aus der Selbstregulierung der bürgerlichen Gesellschaft ergebenen Rechte achten und seitens der Bürger achten lassen muß, wobei die bürgerliche vor der politischen Freiheit den Vorrang hat. Das französische Vorbild lehnt die sogenannten Zwischenkörper grundsätzlich ab, dagegen stützt sich das deutsche grundsätzlich auf diese. Als Beispiel des oben gezeichneten deutschen Modells gelten Auffassungen wie jene eines Heinrich Jung-Stilling, der die Unterscheidung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft unterstreicht, wobei er in der Gesellschaft die Fortsetzung einer durch die zentrale, öffentliche Rolle der Familie und des pater familias gekennzeichneten Gemeinschaft sieht. Die Familie (das Private im engeren Sinne), bürgerliche Gesellschaft (Öffnung des Privaten hin zum öffentlichen Bereich), Staat (übergeordneter Bereich, Bürge für die Achtung vor dem Recht) erzeugen die klassische Dreiteilung, die wir in den Werken von August Ludwig Schlözer oder von Gottlieb Hufeland und am Ende selbst bei Hegel wiederfinden. Die heutigen Wissenschaftler neigen trotzdem mehrheitlich noch immer dazu, die bürgerliche Gesellschaft nahezu aufklärerisch-napoleonisch zu begreifen, sie also verallgemeinernden und auf dem staatlichen Zentralismus beruhenden Verordnungen zu unterwerfen. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, erscheint Deutschland, das Deutschland der status, das den Mittelpunkt des gemeinschaftlichen Lebens vor allem in Hof, Haus und Heim, in die Körperschaften und in die freien Verbände stellte, zu Beginn des 18. Jahrhunderts als eine
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Welt, die unter allen Umständen durch die moderne bürgerliche Gesellschaft überwunden werden mußte.16 Dies mag zwar historisch kaum zu widerlegen sein, bedenkt man den allmählichen Verfall der herkömmlichen familia civilis, an deren Stelle die individuellen Interessen und die einzellige Familie treten, die sich eben diesen Interessen sehr einfach anpaßt, doch berücksichtigt man andere Besonderheiten, dann scheint dieser Vorgang gleich viel weniger plausibel zu sein. Eine erste Bemerkung: Trotz der Bedeutungsvielfalt des Begriffs ‚bürgerliche Gesellschaft‘ und vergleichbarer Begriffsbildungen (z. B. Civil Societät, Zivilgemeinde usw.) bleibt es unbestreitbar, daß die ursprüngliche Bezugnahme immer von einem gesellschaftlichen Zusammenhang ausgeht, der auf herkömmlichen und oftmals geradezu halbfeudalen Ordnungen gegründet ist. Eine zweite Bemerkung: Beurteilt man die Ordnungen des frühen 18. Jahrhunderts anhand von spät-aufklärerischen und rational-staatlichen Kategorien, so läuft man Gefahr, jenes auf Pflicht gegründete Gefühl von verantwortlicher Gemeinschaftszugehörigkeit zu vernachlässigen, das es der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht, den eigenen Zusammenhalt auch unabhängig von äußeren Strafmaßnahmen zu wahren und insbesondere öffentliche Zweckbestimmungen autonom auszuführen. Es handelt sich um ein Gefühl – soweit die hier von mir vorangetriebene These – das den Geist von Hof, Haus, Heim und Herrenhäusern fortsetzt und sich in den Kreisen ausbreitet, die zuvor aufgezeigt worden sind. Läßt man diese beiden Bemerkungen außer Acht, so schmälert man einerseits den typischen sittengemäßen Beitrag der deutschen socialitas zu den Wesensbestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft und andererseits begünstigt man eine rein ideologische Auslegung, nach der das politische System ausschließlich auf der oben erwähnten Gegenüberstellung von privaten und öffentlichen Interessen beruht. Diesen Überlegungen ließe sich anfügen, daß das französische Modell in einem Land wie Deutschland nicht dieselben Bedingungen vorfinden konnte wie in Frankreich, einem Land, das mit dem Begriff Nation jene Elemente wie Zusammenhalt und Zugehörigkeit verband, die der deutsche Raum hingegen in den der socialitas eigentümlichen Partikularismen sowie in der untergehenden Vorstellung vom Reich deutscher Nation liegen sah. Dieser strukturelle Unterschied wird leicht von jenen vergessen, die das französische Vorbild auf einen nichtfranzösischen Kontext anzuwenden versuchen, möglicherweise weil sie von den Idealen der ‚großen Revolution‘ zu sehr geblendet sind. Nebenbei gesagt, hän-
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Bezeichnend sind die sehnsüchtigen Nachrufe auf die alte soziale Ordnung in: Adolph v. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Darmstadt 1790.
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gen nicht wenige Widersprüchlichkeiten und Verzerrungen, die die deutsche Geschichte kennzeichnen – nicht zuletzt jene zwischen ‚Bildungswelt‘ und ‚Volkswelt‘ – zu großen Teilen von der Anwendung jenes ideologischen Dualismus ‚Staat-Gesellschaft‘ auf das institutionelle Gefüge des kollektiven Lebens ab; ein Dualismus, welcher mit Lorenz von Stein eine beispielhafte und radikale Theoretisierung erfährt. Ich schließe mit einer Zusammenfassung des Wesentlichsten: Mit Beginn des 18. Jahrhunderts nimmt der ‚unbestimmte‘ Mensch des 17. Jahrhunderts Form und Gestalt an, umhegt dabei die Seele und sucht deren ‚Schönheit‘. Der Wille, einst nahezu ausschließlich auf Beständigkeit zurückgeführt, sieht in der Suche nach dieser ‚Schönheit‘ sein oberstes Ziel und übernimmt die Aufgabe, eine innere Welt aufzubauen. Die Pflichtenlehre, im 17. Jahrhundert noch im Sinne einer vernünftig beschreibenden oder vernünftig vorschreibenden Auffassung aufgebaut und abgegrenzt, hat nunmehr ein wirkliches moralisches Subjekt, das die Pflichten erlebt: Es ist der Einzelne, der soeben im Begriff ist, sich als Subjekt zu bilden. Indem er dem Anderen die eigene innere Freiheit erschließt, kann der Einzelne eine erneuerte socialitas verwirklichen, die in die bürgerliche Freiheit, also in eine neue Ordnung mündet, welche dieselbe Freiheit als Gegenstand von Willen und Pflicht betrachtet. Um jemand zu sein und mit sich selbst und den anderen zusammenleben zu können, hat somit der als Subjekt gebildete Mensch fortan keinen Bedarf mehr an einer Maske, zu deren Anwendung er hingegen im 17. Jahrhundert noch gezwungen war;17 er kann sie fallenlassen, indem er doch nunmehr in der Lage ist, dem alten Gebot Gehalt zu verleihen: Sei Mensch!
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Vgl. G. M. Chiodi, Profili antropologici (wie Anm. 1).
Problematische Bindungswirkung: Zum ‚Epikureismus‘ im Naturrecht der deutschen Frühaufklärung
Thomas Ahnert Ein zentrales, explizit diskutiertes Problem im Naturrecht der Frühaufklärung war die Frage nach der praktischen Bindungswirkung des naturrechtlichen Normenbestandes. Angesichts des Umstandes, daß die dem Naturrecht zur Verfügung stehenden Sanktionen nicht immer hinreichend offensichtlich waren, mußte unklar bleiben, wie das Naturrecht die Menschen jenseits staatlicher Vorkehrungen zu moralischem Handeln verbinden konnte. Der Naturzustand als Zustand vor oder jenseits des Staates schien dann auf einen anarchischen Krieg aller gegen alle hinauszulaufen, wie ihn der Engländer Thomas Hobbes beschrieben hatte und ihn nahezu alle zeitgenössischen Autoren ablehnten. Als einzig wirksames Motiv, das menschliche Handlungen dann noch beeinflussen konnte, blieb das Eigeninteresse. Ein solches Naturrecht ohne wirksame Sanktionen wurde oft zusammenfassend als ‚epikureisch‘ kritisiert, weil es in wesentlichen Punkten dem zu entsprechen schien, was verkürzt unter ‚Epikureismus‘ verstanden wurde, nämlich die Leugnung göttlicher Vorsehung, Hedonismus sowie die egoistische Bevorzugung des eigenen Interesses vor dem anderer Menschen.1 Diese Anschuldigung wies dabei nicht unbedingt auf einen tatsächlichen Einfluß antiker epikureischer Schriften hin, sondern war eine Form der Beschimpfung mit polemischer Absicht. Es war keine sachliche Beschreibung, der der Betroffene selbst zugestimmt hätte.2 Einer der bekanntesten ‚Epikureer‘ dieser Art war Thomas Hobbes,3 aber auch in der Naturrechtslehre der deutschen Frühaufklärung fin___________ 1 Vgl. dazu Lawrence Klein, Introduction, in: Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, hrsg. v. Lawrence Klein, Cambridge 1999, S. xxvi. 2 Zu diesen methodischen Überlegungen siehe Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, Hamburg 2002, S. 1–40. 3 Dazu vgl. Horst Dreitzel, The reception of Hobbes in the political philosophy of the early German Enlightenment, in: History of European Ideas 29 (2003), S. 255–289, hier S. 277.
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den sich bedeutende Beispiele. Anhand dieser soll hier das Problem der naturrechtlichen Bindungswirkung mit Blick auf die Sanktionen des Naturrechts erörtert werden. Ich werde mit den Schriften Samuel Pufendorfs (1632–1694) beginnen, dessen Naturrecht von Zeitgenossen im beschriebenen Sinne epikureischer Tendenzen verdächtigt wurde, um mich dann dem Hallenser Philosophen und Juristen Christian Thomasius (1655–1728) zuzuwenden, der in seinen Institutiones Jurisprudentiae Divinae von 1688 Pufendorfs Naturrechtslehre in weiten Teilen übernahm und verteidigte, in einer zweiten Abhandlung, den Fundamenta Juris Naturae et Gentium von 1705, aber, bei allem Respekt vor Pufendorf, deutlich von dessen Prinzipien abrückte. Er formulierte dort ein Naturrecht, in dem moralische Handlungen ein Produkt der Leidenschaften, nicht des Verstandes waren, und in dem gute und schlechte Taten durch natürliche Lust- und Schmerzgefühle belohnt beziehungsweise bestraft wurden. Die dritte und letzte Gestalt, die hier betrachtet werden soll, ist Johann Jacob Schmauss (1690–1757), der in Halle bei Thomasius studierte und nach einer erfolgreichen Karriere als Diplomat ab 1734 als Professor an der neu gegründeten Göttinger Universität lehrte. Dort publizierte er 1740 eine kontroverse Sammlung von Dissertationen zum Naturrecht,4 der 1754 sein Neues Systema des Rechts der Natur folgte. Schmauss vertrat in diesen Werken die Ansicht, daß das Naturrecht auf dem individuellen Nutzen der Menschen gegründet und moralisches Handeln ein Produkt des menschlichen Instinkts oder Gefühls, nicht der Vernunft sei.5 Mehr noch als Thomasius bemühte sich Schmauss zu beweisen, daß das Naturrecht doch über Sanktionen verfügte, die, so Schmauss, sogar effektiver waren als die Strafen, die von der staatlichen Gewalt verhängt wurden. Nach Ansicht von Zeitgenossen gelang es Schmauss dabei allerdings nicht, seine Vorstellung von naturrechtlichen Sanktionen vom Epikureismus abzugrenzen.
___________ 4 Johann Jacob Schmauss, Dissertationes Iuris Naturalis Quibus Principia Novi Systematis Huius Iuris, Ex Ipsis Naturae Humanae Instinctibus Extruendi, Proponuntur, Göttingen 1740. 5 Siehe dazu auch Thomas Ahnert, Pleasure, Pain and Punishment in the Early Enlightenment: German and Scottish Debates, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics, hrsg. v. B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Band 12 (2004). Themenschwerpunkt: Zur Entwicklungsgeschichte moralischer Grundsätze in der Philosophie der Aufklärung. The Development of Moral First Principles in the Philosophy of the Enlightenment, Berlin 2004, S. 173–187.
Zum ‚Epikureismus‘ im Naturrecht der deutschen Frühaufklärung
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I. In Samuel Pufendorfs voluntaristischer Rechtslehre blieb die Wirkung der Sanktionen des Naturrechts weitgehend unklar. Jedes Gesetz, sagte Pufendorf, sei Ausdruck des Willens eines Oberen, der die Übertretungen dieses Gesetzes bestrafe. Im Fall des Naturrechts sei dies der göttliche Wille, insoweit er der natürlichen Vernunft des Menschen bekannt sei.6 Die Schwierigkeit bestand darin, daß die Strafen für die Verletzungen dieses Naturrechts nicht immer sichtbar waren. Zwar gab es einen gewissen Anreiz, sich an das Naturrecht und seine Pflichten zu halten, in Form der Schutzlosigkeit (imbecillitas) einzelner Menschen im Naturzustand und dem Nutzen, den diese Individuen vom friedlichen Zusammenleben mit anderen schöpfen konnten.7 Dieser Anreiz unterschied sich jedoch grundlegend von einem System von Belohnungen und Strafen.8 Verletzungen des Naturrechts mochten vor allem langfristig Nachteile mit sich bringen, aber die alltägliche Erfahrung legte nahe, daß einer Mißachtung des Naturrechts nicht unmittelbar eine göttliche Strafe folgte, die damit in einem eindeutigen Zusammenhang stand. Ein Dieb oder Mörder wurde nicht sofort aus heiterem Himmel vom Blitz erschlagen. Wenn aber nicht feststand, daß ein Übel, welches sich aus einer Übertretung des Naturrechts ergab, eine von einem Oberen verhängte Strafe war, erfüllte diese Strafe nicht ihre zentrale Funktion, dem Übeltäter Gottes Mißfallen deutlich zu machen und ihn damit von weiteren Verletzungen des Naturrechts abzuhalten. Gleichzeitig war Pufendorf nicht der Ansicht, daß Gott das Recht, Strafen zu verhängen, auf Individuen im Naturzustand übertragen hatte. Auf die damit zusammenhängenden Probleme hatte Pufendorf in seinem De Officio Hominis et Civis ausdrücklich hingewiesen: „wenngleich das Naturrecht hinreichend davor warnt, dass diejenigen, welche die Rechte anderer verletzen, nicht unbestraft bleiben werden, so vermag weder die Furcht Gottes noch das schlechte Gewissen das Böse im Menschen zu unterdrücken. Denn es gibt viele, die aufgrund ihrer Erziehung und ihrer Lebensart der Vernunft
___________ 6 Samuel Pufendorf, De Officiis Hominis et Civis juxta Legem Naturalem, Utrecht 1700, I. Buch, 3. Kapitel, S. 46. Zur Debatte über Strafen im Naturrecht, siehe zum Beispiel Vanda Fiorillo, Verbrechen und Sünde in der Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, in: Samuel Pufendorf und seine Wirkungen bis auf die heutige Zeit, hrsg. v. Bodo Geyer / Helmut Goerlich, Baden-Baden 1996, S. 90–116; Dieter Hüning, Hobbes and the Right to Punish, in: The Cambridge Companion to Hobbes’ Leviathan, hrsg. v. Patricia Springborg, Cambridge 2007, S. 217–240. Fiorillo und Hüning betonen, daß es im Naturzustand, laut Pufendorf, kein Recht gibt, Strafen zu verhängen. 7 S. Pufendorf, De Officiis (wie Anm. 6), S. 39. 8 Zum Zusammenhang zwischen Egoismus und Morallehre bei Samuel Pufendorf, siehe Knud Haakonssen, Natural law and moral realism, in: Studies in the Philosophy of the Scottish Enlightenment, hrsg. v. Michael A. Stewart, Oxford 1990, S. 61–85, hier S. 70.
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Thomas Ahnert wenig Beachtung schenken. Sie beachten nur die Gegenwart, ohne Sorge um die Zukunft, und werden nur beeinflusst von dem, was sie unmittelbar vor Augen haben. Das gestattet den bösen Menschen, die erlittenen Nachteile der Verbrecher anderen Ursachen zuzuschreiben, vor allem da sie oft sehen, dass sie mit all den Dingen ausreichend versorgt sind, an denen die Masse des Volkes das Glück misst. Es ist auch so, dass die Gewissensbisse, die einem Verbrechen vorausgehen, nicht so kräftig zu sein scheinen, wie die, die ihm nachfolgen, wenn das was getan worden ist, nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.“9
Damit wollte Pufendorf die Notwendigkeit staatlicher Gewalt für das menschliche Zusammenleben begründen. „Wahrlich, das Mittel, um böse Begierden zu unterdrücken, das Mittel, welches der Natur des Menschen angemessen ist, findet sich in Staaten.“10 Pufendorf hatte damit aber noch nicht erklärt, wie Gott das Naturrecht durchsetzen konnte, wenn es keine eindeutigen diesseitigen Strafen für dessen Übertretung gab. Eine mögliche Antwort war die, daß göttliche Strafen nicht immer sofort verhängt wurden, weil sie manchmal der Zeit nach dem Tode vorbehalten blieben. So räumte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) z. B. ein, daß die Verletzungen des Naturrechts nicht immer in diesem Leben geahndet würden. Dafür wüßten die Menschen auf der Grundlage ihrer Vernunft, daß Gott sie für ihre Verfehlungen im Jenseits bestrafen würde. „Es besteht kein Zweifel“, schrieb Leibniz in seinen Meinungen über die Prinzipien Pufendorfs, „dass der Herrscher der Welt, der zugleich allmächtig und allweise ist, den guten Menschen Belohnungen und den Bösen Strafen zugesprochen hat, und dass sein Plan in einem zukünftigen Leben in die Tat umgesetzt werden wird, da im gegenwärtigen Leben viele Verbrechen unbestraft und viele gute Taten unbelohnt bleiben.“11
Das setzte aber voraus, daß sich die Existenz eines Lebens nach dem Tode und die Unsterblichkeit der Seele aus der menschlichen Vernunft als Basis des ___________ 9
„Denique licet lex naturalis hominibus satis insinuet, non impune laturos, qui alios injuria affecerint: tamen neque metus divini Numinis, neque conscientiae morsus sat validam deprehenduntur vim habere quorumvis hominum malitiae coercendae. Nam apud multos educationis & consuetudinis vitio vis rationis velut obsurdescit. Unde fit ut illi praesentibus tantum immineant, futurorum parum curiosi; ac non nisi iis moveantur, quae in sensus incurrunt. Cum autem vindicta divina lento fere pede soleat incedere; inde pravis mortalium praebetur occasio ad alias causas impiorum mala referendi; praesertim cum saepe videant, improbis affatim adesse, queis vulgus felicitatem metitur. Accedit, quod stimuli conscientiae, quae facinus antecedunt, non ita validi videantur, quam qui idem subsequuntur, quando id, quod factum est, infectum amplius fieri nequit.“ (s. Pufendorf, De Officiis [wie Anm. 6], 2. Buch, 5. Kapitel, S. 245–246). Diese und alle folgenden Übersetzungen stammen vom Verf. 10 „Enimvero pravis cupidinibus reprimendis praesentaneum, & ad indolem hominum probe attemperatum remedium in civitatibus reperitur.“ (Ebd., S. 246). 11 Gottfried Wilhelm Leibniz, Opinion on the Principles of Pufendorf, in: Leibniz. Political Writings, hrsg. v. Patrick Riley, Cambridge, 1992, S. 64–76, hier S. 67.
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Naturrechts ableiten ließen und daß beide Annahmen damit Teil der natürlichen Religion wären. Laut Leibniz war dies der Fall. Das Wissen von der Unsterblichkeit der Seele sei rational begründet, und bestimmte heidnische Philosophen, wie zum Beispiel Sokrates, hätten schon vor dem Erscheinen Christi davon gewußt.12 Aber nicht alle von Leibniz’ Zeitgenossen stimmten mit ihm überein. Der Politiker und Gelehrte Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) z. B. schrieb, daß die weisesten Heiden zwar immer die Existenz eines Lebens nach dem Tode vermuteten, aber nie einen Beweis dafür besessen hätten. Die Existenz des Jenseits sei demnach keine Wahrheit, die sich aus der Vernunft herleiten ließe, sondern bedürfe der christlichen Offenbarung. Denjenigen Heiden, die tugendhaft handelten, auch wenn das vielleicht ihrem Eigeninteresse widersprach, fehlte die Gewißheit, daß ihre Taten letztendlich belohnt würden.13 Die meisten Heiden folgten daher ihrer verdorbenen Natur und gehorchten den Geboten der Moral nur aus Furcht vor den Strafen der weltlichen Richter.14 Wie Seckendorff, so meinten auch Samuel Pufendorf und Christian Thomasius, daß die Unsterblichkeit der Seele nicht innerhalb der Grenzen der natürlichen Vernunft erkannt werden könne. Die Konsequenz, so behauptete Leibniz in einem seiner Briefe, sei die Reduzierung der Moral auf typisch epikureischen Eigennutz: „Ich finde es sehr schlecht, dass bekannte Leute wie Pufendorf und [Christian] Thomasius lehren, dass man die Unsterblichkeit der Seele, sowie die Schmerzen und Belohnungen, die uns nach diesem Leben erwarten, nur aus der Offenbarung kennt [...]. Alle Lehren der Moral, der Gerechtigkeit, von Pflichten, die nur auf den Gütern dieses Lebens beruhen, können dann nur sehr unvollkommen sein. Ohne die [natürliche] Unsterblichkeit der Seele ist die Lehre von der göttlichen Vorsehung ohne jeglichen Nutzen, und hat nicht mehr Macht, die Menschen zu verpflichten, als die Götter Epikurs, die ohne Vorsehung sind.“15
Unmittelbarer Eigennutz und die Gebote der Moral widersprachen sich in bestimmten Fällen, doch ohne die Gewißheit einer Gerechtigkeit im Jenseits oder eindeutige göttliche Strafen im Diesseits mußte dieser Eigennutz als alleinig wirksames Motiv menschlicher Handlungen übrigbleiben. Die Aufgabe, die sich angesichts dieser Sachlage stellte, war die Vermittlung von Eigennutz und Moral, und zwar nicht um die Moral aufzuweichen, sondern um sie wirkungsvoll durchsetzen zu können. ___________ 12 Siehe zum Beispiel Patrick Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence, London 1996, S. 64–65. 13 Veit Ludwig von Seckendorff, Christen-Stat, Leipzig 1685, VIII, § 4. 14 Ebd., § 8. 15 Brief an Bierling (1713), zitiert in P. Riley, Leibniz’ Universal Jurisprudence (wie Anm. 12), S. 68.
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II. Obgleich Pufendorf und Thomasius sich selbst nicht als ‚Epikureer‘ bezeichneten und sich nicht in besonderem Maße auf epikureische Texte stützten, wurde ihre voluntaristische Naturrechtslehre also als epikureisch gedeutet. Pufendorf machte nie den Versuch, sein Naturrecht entsprechend zu modifizieren und damit solchen Vorwürfen zu begegnen. Thomasius hingegen arbeitete seine Naturrechtslehre im Laufe mehrerer Jahre grundlegend um und suchte damit unter anderem eine Antwort auf die problematische Frage nach der über Sanktionen herstellbaren Bindungswirkung des Naturrechts. In den Institutiones Jurisprudentiae Divinae von 1688 hatte Thomasius eine Rechtslehre vorgestellt, die der von Pufendorf in allen wesentlichen Hinsichten sehr ähnlich war: Gesetze waren Ausdruck des Willens eines Oberherrn, und das Naturrecht beruhte auf dem göttlichen Willen, den die Menschen, insoweit das für die Zwecke des Naturrechts nötig war, mit Hilfe ihrer Vernunft und aus der Beobachtung der Natur herleiten konnten.16 Eine Passage aus den Institutiones zeigt, daß Thomasius sich des möglichen Vorwurfs, ein ‚Epikureer‘ zu sein, bewußt war. Dort beschuldigte ihn ein fiktiver Gesprächspartner, die Meinung des antiken Skeptikers Carneades (214/13–129/8 v. Chr.) übernommen zu haben, der behauptet hatte, daß Gerechtigkeit auf Nutzen (utilitas) beruhe und es von Natur aus keinen Unterschied zwischen gerecht und ungerecht gebe. Diese Ansicht habe in der Gegenwart der „Epikureer Thomas Hobbes“ wiederbelebt.17 Thomasius sagte jedoch, das sei nicht seine eigene Meinung, und betonte, daß der Nutzen des einzelnen keine verläßliche Basis für die Pflichten des Naturrechts biete, weil das, was dem einzelnen nütze, nicht unbedingt moralisch gut oder mit dem allgemeinen Wohl der Menschheit zu vereinen sei: „Nicht alles, was [für einzelne Personen] nützlich ist, ist ehrlich, aber alles, was ehrlich ist, nützt [der Menschheit allgemein].“18 Der Eigennutz konnte also den Geboten des Naturrechts zuwiderlaufen. Wenn aber weder der Eigennutz noch eindeuti___________ 16 Christian Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae, Halle 1688, 1. Buch, 2. Kapitel, § 72. 17 „Est ipsa utilitas justi prope mater & aequi; nec natura potest secernere iniquum. Atqui hoc ipsum Carneades statuit, [...] recoxit maximam partem Epicureus Hobbesius“ (Ch. Thomasius, Institutiones [wie Anm. 16], I, II, § 95). Die Quelle für diese Ansicht des Carneades ist Horaz (siehe Horaz, Satires, I.III. 98 und 113, in: Horaz, Satires, Epistles and Ars Poetica, ins Englische übersetzt von Henry Rushton Fairclough [Loeb Classical Library], London, New York 1926). Zur Epikur-Rezeption bei Thomasius, vgl. Dorothee Kimmich, Lob der ‚ruhigen Belustigung‘. Zu Thomasius’ kritischer EpikurRezeption, in: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, hrsg. v. Friedrich Vollhardt, Tübingen 1997, S. 379–394. 18 „Non omne quidem quod utile est, honestum est, omne tamen honestum est utile“ (Ch. Thomasius, Institutiones [wie Anm. 16], I, II, § 96).
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ge Sanktionen das Naturrecht durchsetzten, dann waren die Beweggründe, sich an die Pflichten des Naturrechts zu halten, sehr schwach. In den folgenden Jahren begann Thomasius daher zwischen korruptem Eigennutz, wie er mit ‚Epikureismus‘ assoziiert wurde, und wahrem Selbstinteresse zu unterscheiden. Damit versuchte er zu beweisen, daß es nur scheinbar einen möglichen Konflikt zwischen Naturrecht und Eigennutz gab. In Wirklichkeit war moralisches Handeln immer im Interesse des einzelnen, weil „das Recht der Natur in der allgemeinen Glueckseeligkeit des Menschlichen Geschlechts gegruendet sey“, für jeden Menschen aber „unter der allgemeinen Glueckseeligkeit auch seine eigene mit begriffen wird“.19 Es gab somit ein eindeutiges Motiv für die Befolgung des Naturrechts. Der Grund, weshalb Menschen die Gebote des Naturrechts verletzten war nicht, daß ihr Selbstinteresse tatsächlich dem Naturrecht zuwiderlief, sondern daß sie eine verkehrte Vorstellung von ihrem Selbstinteresse hatten. Denn „alles wahrhaftig Gute“, schrieb Thomasius, „ist nuetzlich, weil es den Menschen in seiner Dauerhaftigkeit erhaelt. So ist es auch belustigend, wenn es der Mensch besitzet, weil die Freude, Lust und Vergnuegung nichts anders ist, als die Geniessung und Besitzung des verlangten Guten. Endlich ist es auch ehrbar oder zum wenigsten nicht unehrbar; denn die Erbarkeit gruendet sich in dem gemeinen Nutzen des menschlichen Geschlechts, und wir werden zu seiner Zeit bald darthun, daß der ein ehrbares Leben fuehret, auch alleine ein recht lustig und vergnuegt Leben empfinde.“20
Seit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Garten Eden neigten die Menschen aber fast ausschließlich dazu, ihr Wohl in so genannten Scheingütern zu suchen, die zwar Glückseligkeit verhießen, aber zu keinem dauerhaften und beständigen Glück führten. Bei diesen Scheingütern handelte es sich vor allem um materiellen Reichtum, sinnliche Begierde und Ehre, die der Ursprung der Laster des Geizes, der Lust und des Ehrgeizes waren.21 Das Streben nach diesen Gütern war mit der Geselligkeit des Naturrechts nicht zu vereinbaren und lief auch dem wahren Selbstinteresse der Menschen zuwider. Wie Thomasius in seiner Einleitung zur Sittenlehre erklärte, ___________ 19
Christian Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, Halle 1692, 1. Kapitel, § 85. Ebd., § 92. 21 Thomasius leitete diese Vorstellung von den drei der vernünftigen Liebe entgegenstehenden Hauptlaster ab, und zwar aus dem ersten Johannesbrief, Kapitel 2, Vers 16 („denn alles, was in der Welt ist, die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht vom Vater, sondern ist von der Welt“) und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 1095a, wo Lust, Ehre und Ruhm als zweitrangige Güter beschrieben werden (siehe dazu Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim / New York 1971, S. 212). 20
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Thomas Ahnert „wenn ein Mensch von der Erkaentniß der wahren Glueckseeligkeit verfehlet, und die Schein-Gueter fuer dieselbige annimmt, auch durch diese Betruegung seines Wahns an statt tugendhafter lieblicher Thaten alles sein Thun und Lassen nach seinem eigenen Interesse dieses Schein-Gut zu erlangen einrichtet, der kann nicht anders als hoechst elende seyn, in dem er sein Gemuethe hoechst verunruhiget, auch taeglich in dieser Unruhe als ein Wild im Garne sich mehr und mehr verwickelt.“22
Das Verlangen nach den wahren Gütern, die Selbstinteresse und Tugend in Einklang brachten, bezeichnete Thomasius als „vernuenfftige“ oder „raisonnable Liebe“. Dabei griff er auf die zeitgenössische französische Literatur zur amour raisonnable zurück, an der er seit Ende der 1680er Jahre zunehmend interessiert war.23 Im Januar 1688 veröffentlichte Thomasius einen Artikel, in dem er erklärte, daß „raisonnable Liebe“ keine korrupte Begierde sei, sondern eine tugendhafte Leidenschaft. Thomasius schätzte in diesem Zusammenhang auch die didaktischen Liebesromane der Madeleine de Scudéry,24 und nahm im Vorwort seiner Einleitung zur Sittenlehre von 169225 Bezug auf Molières Komödie über den Geizhals. Er schilderte die Person, die von dieser „raisonnablen“ oder vernünftigen Liebe geleitet wird als einen honnête homme,26 ein Ausdruck, den auch Jansenistische Autoren wie der Duc de la Rochefoucauld in seinen Maximes verwendeten.27 Diese Ideen waren in der Entwicklung von Thomasius’ Naturrechtslehre im Laufe der 1690er Jahre von zentraler Bedeutung. In seinem Fall waren sie mit einer heterodoxen Religiosität verknüpft, die an dieser Stelle allerdings nicht weiter erörtert werden soll.28 Thomasius glaubte zwar, daß die vernünftige Liebe nicht immer kräftig genug sei, um angesichts der verdorbenen menschlichen Natur seit dem Sündenfall moralisches Handeln zu garantieren. Das Konzept der vernünftigen Liebe lieferte aber ein Motiv, weshalb man in diesem Leben tugendhaft sein sollte, auch wenn man auf Grundlage der natürlichen Vernunft keine klare Kenntnis ___________ 22
Ch. Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre (wie Anm. 19), 2. Kapitel, § 125. Vgl. dazu Thomas Ahnert, Religion and the Origins of the German Enlightenment. Faith and the Reform of Learning in the Thought of Christian Thomasius, Rochester, NY 2006, Kapitel 7. 24 W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 21), S. 172. 25 Christian Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, „Unterthänigste Zuschrift“, S. XI. 26 Ebd. 27 Nannerl O. Keohane, Philosophy and the State in France, Princeton 1980, S. 283. Siehe auch Rolf Lieberwirth, Die französischen Kultureinflüsse auf den deutschen Frühaufklärer Christian Thomasius, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg (Gesell. Reihe), XXXIII (1984), S. 63–73. 28 Siehe Thomas Ahnert, Enthusiasm and Enlightenment. The Reform of Faith and the Reform of Philosophy in the Thought of Christian Thomasius, in: Modern Intellectual History 2,2 (2005), S. 1–25. Vgl. dazu ausführlicher Thomas Ahnert, Religion and the Origins of the German Enlightenment (wie Anm. 23). 23
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von den Strafen und Belohnungen im Jenseits hatte. Die Vor- und Nachteile, die jeweils mit der vernünftigen und der verdorbenen Liebe verknüpft waren, konnten sogar in gewissem Sinn als Belohnungen und Strafen gelten. „Der Mensch“, schrieb Thomasius, „kan auch aus dem Licht der Natur erkennen, daß Gott fuer seine Wohlfahrt Sorge trage, und daß er auch in diesem Leben (denn von dem zukuenfftigen weiß die Menschliche Vernunft nichts) ihn, nachdem er sein Leben anstellet, mit Guten oder Boesen belohnen oder bestraffen wolle.“29
Thomasius mußte sich dazu allerdings noch der Frage zuwenden, inwieweit die Nachteile der unvernünftigen Liebe in diesem Leben als Strafen gelten konnten, wenn sie offenbar nicht wirksam genug waren, um die meisten Menschen von Übeltaten abzuhalten. In seinem zweiten Hauptwerk zum Naturrecht, den Fundamenta Juris Naturae et Gentium von 1705, führte Thomasius daher einen abgeschwächten Begriff von Strafe ein.30 Das Naturrecht habe keine Sanktionen, die mit denen eines menschlichen Gesetzgebers vergleichbar seien. Gott zwinge die Menschen nicht durch Verhängung willkürlicher Strafen dazu, moralisch zu handeln. Wenn er das täte, wäre Tugendhaftigkeit auch kein Verdienst mehr. Stattdessen habe Gott die Natur so eingerichtet, daß diejenigen, welche die Gebote der Geselligkeit verletzten und ihren verdorbenen Leidenschaften folgten, faktisch auch elend seien, obwohl ihnen die Ursache ihres Elends nicht immer klar sei. Die Tatsache, daß Gott die Menschen nicht durch direkten Zwang dazu bewege, die Gebote des Naturrechts zu befolgen, sei kein Zeichen göttlicher Schwäche. Menschliche Gesetzgeber wandten Zwang an, weil die Befolgung ihrer Gebote zu ihrem eigenen Vorteil sei. Gott könne jedoch keinen eigenen Vorteil davon haben, Menschen zur Tugend zu zwingen. Die Gesetze des Naturrechts seien eher Ratschläge, deren Befolgung im eigenen Interesse der Menschen sei, nicht wirkliche Gesetze mit Zwangsgewalt.31 Gott habe stattdessen die Natur so geschaffen, daß alles Gute seine eigene Belohnung mit sich bringe und alles Schlechte seine eigenen Strafen. Die Übel, die auf schlechte Taten folgten waren natürliche Konsequenzen, nicht Strafen im strikten juristischen Sinn, weil „jede Strafe öffentlich sichtbar verhängt wird, aber die Übel, die Gott den Übertretern des Naturrechts auferlegt, kommen im ___________ 29
Ch. Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre (wie Anm. 19), Kap. 1, § 83. Thomasius’ Begriff der ‚vernünftigen Liebe‘ änderte sich ebenfalls in bestimmten Aspekten. Siehe T. Ahnert, Religion and the Origins of the German Enlightenment (wie Anm. 23), S. 38–40. Die dortige Interpretation unterscheidet sich von der in W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 21). 31 Christian Thomasius, Fundamenta Juris Naturae et Gentium, ND der vierten Auflage Halle 1718, Aalen 1979, 1. Buch, 5. Kapitel, § 40–41. 30
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Geheimen, das heißt, so, dass die Verbindung zwischen dem Übel und der Sünde nicht offensichtlich ist, auch wenn das Übel selbst offenbar ist“.32
III. Unter Thomasius’ Studenten an der Universität Halle befand sich auch Johann Jacob Schmauss.33 Von den drei hier betrachteten Naturrechtslehren kommt Schmauss’ auf den ersten Blick dem, was gemeinhin unter ‚Epikureismus‘ verstanden wurde, wohl am nächsten. Seine Ideen wurden auch von Zeitgenossen als Epikureismus ausgelegt. Ein anonymer Kritiker zum Beispiel schrieb, bei der Lektüre von Schmauss’ Systema Juris Naturae habe er erkannt, daß „es des Autoris rechter Ernst und wahre Meynung sey, uns Menschen in den Schwein-Orden herein zu setzen, und Thiere aus uns zu machen“,34 wobei ‚Schwein-Orden‘ ein gängiges Schimpfwort für Epikureer war.35 In einer Vorlesungsankündigung aus dem Jahre 1735 mit dem Titel „An ex utilitate jus ortum sit“ erklärte Schmauss tatsächlich, er wolle zeigen, daß das Naturrecht auf utilitas zurückzuführen sei. Er zitierte gleich zu Beginn seiner Schrift Carneades’ berüchtigten Satz aus Horaz’ Satiren, daß utilitas die Mutter der Gerechtigkeit und Billigkeit sei. Grotius, so Schmauss, habe in seinem Jus Belli ac Pacis zwar das Gegenteil behauptet, aber „nur in Worten geleugnet, dass die Gerechtigkeit aus dem Nutzen [ex utilitate] entsprungen sei. In der Sache hat er es jedoch zugegeben.“36 Laut Grotius wollte „der Urheber der Natur, dass wir als Einzelne ___________ 32
Ebd., § 39. Zu Schmauss’ Biographie, siehe Marcel Senn, Freiheit aus Instinkt. Zum anthropologisch begründeten Rechtspositivismus von Johann Jacob Schmauss (1690–1757), in: Johann Jacob Schmauss, Neues Systema des Rechts der Natur, eingeleitet von Marcel Senn, Goldbach 1999, S. VII – XV. Zu Schmauss’ Naturrechtslehre, siehe v. a. Frank Grunert, Das Recht der Natur als Recht des Gefühls. Zur Naturrechtslehre von Johann Jacob Schmauss, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics, hrsg. v. B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Band 12 (2004). Themenschwerpunkt: Zur Entwicklungsgeschichte moralischer Grundsätze in der Philosophie der Aufklärung. The Development of Moral First Principles in the Philosophy of the Enlightenment, Berlin 2004, S. 137–153. Siehe auch den Beitrag von Merio Scattola im vorliegenden Band. 34 Anon. (=Johann Friedrich Hombergk zu Vach), Gruendliches Examen über ein in Göttingen herausgekommenes Novum Systema Juris Naturae ex Instinctu Naturali Extruendum. Ausgestellet von einem Liebhaber der Wahrheit, Frankfurt / Leipzig 1748, „Vortrab“. 35 Die Quelle für diesen Ausdruck war Horaz. Siehe Horaz, Satires, Epistles and Ars Poetica (wie Anm. 17), „Epistula I“, iv, 16. 36 „[V]erbis tantum eum negare, ex utilitate natam esse justitiam, re autem ipsa idem concedere.“ (Johann Jacob Schmauss, An ex utilitate jus ortum sit? Inquirit, ac simul 33
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schwach seien und vieler Dinge bedürften, um unser Leben richtig zu führen, wodurch wir umso mehr dazu geführt würden, die Geselligkeit zu pflegen.“37 Es sei offensichtlich, behauptete Schmauss, daß Grotius eigentlich mit Horaz und Carneades einer Meinung sei: „Denn es ist sicher, dass der Mensch nichts anderes begehrt, als was ihm willkommen, angenehm, bequem und gut erscheint (welches wir alles unter dem Wort ‚Nutzen’ begreifen) und dass es in seinem Geist oder Verstand kein anderes Motiv gibt. Es folgt daraus, dass die menschliche Natur uns dazu antreibt, keine andere Gesellschaft anzustreben, als die, in welcher der private Nutzen eines jeden gefördert wird, und welche friedlich, bequem, angenehm und dem Geist eines jeden einzelnen angepasst ist.“38
Schmauss bezog sich dabei auf die Dubia Juris Naturae (1719) des Magdeburger Vice-Kanzlers und Marburger Ordinarius Johann Friedrich Hombergk zu Vach, der die bestehenden Naturrechtstheorien unter anderem als zu intellektualistisch kritisiert hatte. Die Befolgung dieses Naturrechts, so Hombergk zu Vach, setze eine Fähigkeit voraus, komplexe philosophische Beweisführungen zu verstehen, denen die meisten Menschen nicht gewachsen seien.39 Schmauss stimmte ihm bei. Das Problem der meisten vorhergehenden Theorien liege in ihrer Annahme, daß das Naturrecht in irgendeiner Weise in der menschlichen Vernunft begründet sei. Die Scholastiker hätten das Naturrecht in ewigen Vernunftwahrheiten gesucht. Samuel Pufendorf meinte, der Gehorsam vor dem Naturrecht sei das Ergebnis von Überlegungen der Vernunft, wenn Menschen im Naturzustand versuchten, Gottes Willen für die Menschheit zu ergründen und daraus die Pflichten des Naturrechts herleiteten. In seinen Dissertationes Juris Naturalis von 1740 hielt Schmauss dem entgegen, daß diese Pflichten stattdessen „mit einem inneren Sinn“ („interno sensu“) empfunden würden, denn „ihre Erkenntnis erfordert keine langwierige Beweisführung. Sie gehen jedem Vernunftschluss voraus und schmeicheln nicht der Vernunft, sondern üben Zwang auf sie aus. Sie gehören also zu den ersten Bestandteilen der menschlichen Natur, und nicht nur der menschlichen Natur, sondern derjenigen der meisten Le___________ lections academicas hoc semestri aestivo habendas indicit Jo. Jacobus Schmauss, Consiliar. Reg. et Jur. Nat. ac Gent. P. P. O., Göttingen 1735, S. 1). 37 „[V]oluisse naturae autorem nos singulos & infirmos esse & multarum rerum ad vitam recte ducendam egentes, quo magis ad colendam societatem raperemur.“ (Ebd.). 38 „Nam cum certum sit, hominem nihil umquam appetere, nisi quod ipsi gratum, jucundum, commodum, bonum, videtur, (quae omnia nos uno utilitatis nomine comprehendimus) neque aliam esse ingenii vel intellectus humani rationem; sequitur, non aliam societatem, ad quam nos appetendam natura humana ferat, intelligi posse, quam qua privata cujusque utilitas augetur, quaeve tranquilla, commoda, jucunda, & ad cujusvis ingenium apta sit & accommodata.“ (Ebd., S. 2). 39 Anon. (=Johann Friedrich Hombergk zu Vach), Dubia Juris Naturae ad Generosissimum Dominum ***, Douai 1719.
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bewesen, insoweit deren Natur uns bekannt ist.“40 Das Naturrecht sei nicht ein Produkt des Verstandes, sondern des menschlichen Gefühls oder Instinkts. Thomasius hatte zwar wie Schmauss moralisches Handeln aus Gefühlen abgeleitet. Ihre Ansichten unterschieden sich aber darin, daß Thomasius die vernünftige Liebe von der verdorbenen Liebe getrennt hatte. Die letztere erklärte Thomasius als Folge des Sündenfalls. Schmauss dagegen spielte die Folgen des Sündenfalls auf die menschliche Natur herunter. Die Mehrheit der Theologen behaupte zwar, durch den Sündenfall sei „des Menschen gantze Natur verändert, und insonderheit die Vernunft verderbt worden“.41 Die Bibel erwähne diese Veränderung der menschlichen Natur aber mit keinem Wort. Stattdessen sei der Mensch „noch heut zu Tage, wie ihn GOtt zum aller ersten mahl erschaffen hat“.42 Das sei aus den Worten des Apostels Paulus im Römerbrief ersichtlich.43 Dort sagte Paulus von den Heiden, also Menschen ohne göttliche Gnade, „daß des Gesetzes Werck beschrieben sey in ihren Hertzen“ und daß sie „ob sie gleich nichts von dem Gesetze wissen, sie doch von Natur thun des Gesetzes Wercke“.44 Schmauss machte daher auch keinen Unterschied zwischen wahren und falschen Gütern, wie Thomasius es getan hatte. Jeder Mensch, schrieb er, habe das natürliche Recht, die Güter anzustreben, die nach seinem Empfinden seinem Glück zuträglich seien. Es gebe deshalb viele verschiedene Formen des menschlichen Glücks, von denen eine jede der anderen gleichwertig sei. Um diese Argumentation aufrecht zu erhalten, mußte Schmauss zeigen, daß diese Vielfalt menschlicher Neigungen und Wünsche nicht zum Konflikt führte, wie Thomasius befürchtet hatte, geschweige denn zu einem Hobbes’schen Krieg aller gegen alle.45 Gerade die Vielfalt menschlicher Wünsche, so Schmauss, mache jeden Konflikt unnötig und unwahrscheinlich, weil keine zwei Personen das gleiche Gut zur gleichen Zeit in Anspruch nehmen würden: „Für mich scheint diese ___________ 40 „[N]ec ad ea cognoscenda longa argumentatione opus habet; antecedunt enim omnem ratiocinationem, & assensum rationis non adulantur sed necessitate quadam exprimunt. Ad prima humanae naturae elementa igitur sunt referenda, nec humanae solum, sed plerorumque fere animantium, quantum quidem horum natura nobis cognita est.“ (Johann Jacob Schmauss, Dissertationes Juris Naturalis, Göttingen 1740, Dissertatio I. De Instinctu Hominum Naturali, § XIV, S. 20–21). 41 Johann Jacob Schmauss, Neues Systema des Rechts der Natur, hrsg. v. Marcel Senn, Goldbach 1999, S. 414. 42 Ebd., S. 414–415. 43 Römer 2, 14. 44 J.J. Schmauss, Systema (wie Anm. 41), S. 415. 45 Siehe Ch. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 31), 1. Buch, 1. Kapitel, § 103. Siehe Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. v. Richard Tuck, Cambridge 1996, Part I, chapter 13.
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Vielfalt der Interessen selbst die Grundlage aller Geselligkeit und des friedlichen Verkehrs zwischen den Menschen zu sein“.46 Die Mittel zur Erlangung des Glücks seien zudem so reichlich in der Natur vorhanden, daß sie genügten, um die Grundbedürfnisse aller Menschen und sogar ihr Verlangen nach Annehmlichkeiten und Luxus zu befriedigen: „Daher ist es nicht möglich oder notwendig, dass alle Dinge von einem einzigen Menschen in Anspruch genommen werden, noch ist irgendjemand derartig gierig, wie gierig auch immer er sonst sein mag. Und wir haben bereits angemerkt, dass nicht nur Menschen, sondern alle lebenden Kreaturen auf das beste versorgt sind, und dass der Vorrat an Gütern, den sie für ihre Grundbedürfnisse, ihre Annehmlichkeiten und ihren Luxus benötigen, und ihr Nutzen unerschöpflich ist. Überdies gibt es eine so große Vielfalt von Geschmäckern, dass nicht jeder das gleiche begehrt, und wenn sie aus natürlicher Notwendigkeit das gleiche Gut gebrauchen, dann stellt sich heraus, dass die Natur dieses in großem Überfluss hervorgebracht und zum allgemeinen Gebrauch bereitgestellt hat.“47
Zudem erkannten Menschen intuitiv, daß andere das gleiche Recht wie sie selbst besaßen, ihrem Glück nachzugehen und daß jeder Versuch, anderen zu schaden, berechtigte Racheakte nach sich ziehen würde. Die Natur habe dem Menschen eine „Art Kühnheit, Ungeduld und Jähzorn“ eingepflanzt, „mit der er versucht, jeder Verletzung entgegenzutreten und sich ihr zu widersetzen und, sobald er meint verletzt worden zu sein, den Schaden zu beheben, sich selbst wieder in den vorherigen Zustand zu versetzen und für alle Verletzungen zu rächen.“48 Diese Rache war zwar keine Strafe im eigentlichen, juristischen Sinne,
___________ 46 „Mihi vero ipsa haec diversitas studiorum socialitatis omnis & commercii inter homines fundamentum esse videtur.“ (Johann Jacob Schmauss, Dissertatio I. De Instinctu Hominum Naturali, in: ders., Dissertationes Juris Naturalis quibus principia novi systematis huius juris, ex ipsis naturae humanae instinctibus extruendi, proponuntur, Göttingen 1740, S. 9). 47 „Deinde neque possibile neque necessarium est, universas res creatas occupari ab uno homine, neque habendi cupido, quanta quanta sit, tanta est in ullo; & supra iam notavimus, abundantissime provisum esse, non humano tantum generi, sed omnibus animantibus, copia omnium rerum, quibus ad necessitates suas, & ad commoditates & luxuriam quoque opus habere possint, quorundam etiam usus inexhaustus est; & tanta porro in singulis hominibus deprehenditur gustus differentia & gulae diversitas, ut eadem non semper appetantur a singulis, & si in idem genus rei alicuius creatae necessitate naturae fruantur, illud uberrime productum a natura, & usibus communibus expositum reperitur“ (Johann Jacob Schmauss, Dissertatio V. De Vero Jure Hominum Naturali eiusque Origine, in: ebd., S. 95–96). 48 „[Q]uendam quasi audaciam, impatientiam & iram [...] qua occurrere & resistere omni laesioni, & quam primum se laesum sentit reparare damna seque omnino illaesum praestare & vindicare ab omnibus iniuriis quovis modo conatur.“ (J.J. Schmauss, Dissertatio I [wie Anm. 46], S. 16).
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und Schmauss schrieb auch, daß das Naturrecht nur „improprie dicta“49 ein Gesetz (lex) sei. Denn eine „lex proprie dicta und in dem Verstand, wie ihn alle Juristen nehmen, supponirt einen Regenten und Obern, der den Unterthanen Gesetze und Ordnungen vorschreibt, nach welchen sie leben sollen. Weil wir nun mehrentheils heut zu Tag in statu civili und unter Regenten und Gesetzen leben, so ist uns diese Idee von Gesetzen von unserer zarten Kindheit an bekannt. Aber ein Mensch, der nur allein in seinem natuerlichen Zustand und Freyheit bleibt, kan sich von einem vorgeschriebenen und mit allerley Drohungen von Leibes- und Todes-Strafen bekraefftigten Gesetz, als einer gantz fremden unbekannten Sache, kaum eine rechte Idee machen. Wann er auch seine Instinctus als von GOtt eingegeben betrachtet, wird er GOtt hierinn nicht als einen Gesetzgeber, sondern vielmehr als seinen Schoepfer, der ihm eine solche Natur anerschaffen hat, ansehen.“50
Diese drohende Rache war aber laut Schmauss eine wirksame Sanktion, um die Befolgung der Gebote des Naturrechts zu gewährleisten, mehr noch als die Nachteile, die laut Thomasius aus der unvernünftigen Liebe folgten. „Man kan indessen die Vergleichung des Rechts der Natur mit einem menschlichen Gesetz, oder auch die Benennung selbst eines natuerlichen Gesetzes, gar fueglich beybehalten. Dann in der That hat das Recht der Natur und die Verbindlichkeit desselben eben die, und wohl noch staerckere Wuerckung, als ein menschliches formales Gesetz mit allen seinen haertesten Strafen haben kan.“51
Die Furcht vor Strafe durch andere Menschen im Naturzustand sei sogar viel unmittelbarer als im bürgerlichen Zustand. Positives Recht wirke nicht ebenso direkt auf den Menschen ein, wie die Furcht vor Rache im Naturzustand, und es sei leichter, den Strafen des bürgerlichen Rechts zu entgehen, als den Strafen im Naturzustand.52 Anders als Pufendorf und Thomasius war Schmauss also davon überzeugt, daß es im Naturrecht ein wirksames System von Sanktionen gab, das die Befolgung dieses Rechts garantierte. Diesem menschlichen Instinkt zuwider zu handeln ist fast unmöglich. Selbst die Androhung von Gewalt kann die Menschen normalerweise nicht davon abhalten, ihren Instinkten zu folgen, doch „Was mit offener und äußerer Gewalt kaum möglich war, wurde mit List erzielt. Die Menschen fanden im Menschen selbst einen leichten Weg, dies zu erreichen, indem sie den Wächter des menschlichen Lebens und der menschlichen Natur verdarben, der dem Menschen von der Vorsehung mitgegeben war, und der zwar klug und gesund, aber leicht zu verderben und der Urheber seines eigenen Verderbens war. Denn
___________ 49
J.J. Schmauss, Systema (wie Anm. 41), S. 528. Ebd., S. 529. 51 Ebd., S. 529–530. 52 Ebd., S. 531. 50
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die Natur gab dem menschlichen Geist die Vernunft, die wie das Auge für den Körper ist, und mit der der Mensch verstehen kann, was ihm nützt, und sich hüten kann vor dem, was ihm schadet.“53
Das Problem ist, daß die Vernunft neugierig und ungeduldig ist und sich fälschlicherweise für eine bessere Richtschnur zur Erlangung des Glücks hält. Daher erfand die Vernunft „fast unzählige Künste, mit denen sie den Menschen von der natürlichen Vorzüglichkeit und der Annehmlichkeit eines einfacheren Lebens ablenkt, oder sich aus Gutgläubigkeit leicht von anderen hinters Licht führen lässt.“54 Im Naturzustand waren Menschen in ihrem Verhalten nicht grundlegend anders als Tiere. Ihre Erkenntniskräfte waren vergleichbar und auf Gegenstände beschränkt, die ihren Sinnen unmittelbar gegenwärtig waren.55 Der Grund weshalb die Verstandeskräfte der Menschen erweitert wurden und schließlich überhand nahmen, war die Erfindung der Sprache. Sprache erlaubte es, Meinungen anzunehmen, die nicht auf der eigenen Erfahrung beruhten, und diese Meinungen einander mitzuteilen, welche Menschen dann auf Basis ihres Vertrauens in die Autorität anderer für wahr oder falsch hielten. Dies ermöglichte der Vernunft, den Instinkt in die Irre zu führen: „Dann beginnt die menschliche Vernunft derjenigen der Tiere überlegen zu sein und mehr Ideen und Propositionen zu begreifen als auf der Grundlage ihrer eigenen Sinne möglich ist, aber nicht alle von diesen sind nützlich oder notwendig, und sie beruhen nur auf der Autorität anderer und dem Vertrauen in sie. Das Resultat ist, dass sie [d.h., die Vernunft] Fehler für die Wahrheit hält, und die Wahrheiten, die sie selbst herausgefunden hat, wieder verwirft.“56
Mit der Furcht vor der Rache des in seinen Rechten verletzten anderen Menschen hatte Schmauss über die unmittelbare Wirksamkeit einer diesseitigen Sanktion die Bindungswirkung des Naturrechts sicherstellen wollen. Dem Vor___________ 53 „Quod autem hic vi aperta & externa peragi vix potuit, id dolo effectum est; eiusque rei facilem homines in ipso homine invenere viam, corrumpentes ipsum vitae atque naturae humanae custodem atque vigilem, a natura providentissime homini adiunctum, prudentem quidem, & sanum, sed maxime corruptibilem & corruptionis suae autorem. Rationem nempe natura menti humanae indidit, tanquam oculum corpori, qua intelligere, quae sibi conveniunt, quae laedunt prospicere & cavere homo possit“ (J.J. Schmauss, Dissertatio I [wie Anm. 46], S. 22). 54 „[I]nfinita fere artificia, quibus hominem a naturali vitae simplicioris praestantia & dulcedine abstrahat, vel credulitate sua facillime decipere se ab aliis patiatur.“ (Ebd., S. 22–23). 55 Johann Jacob Schmauss, Dissertatio II. De Ratione Humana, in: ders., Dissertationes Juris Naturalis (wie Anm. 46), S. 28–30. 56 „Itaque tum demum ratio humana brutorum intelligentiam superare incipit, & plures notions vel propositiones, quam propriis sensibus percipere ei licuit, cognoscit, sed nec omnes sibi utiles vel necessaries, nec nisi sola auctoritate fideque aliena subnixas, quin & errores pro veritatibus accipit, & veritates ipsas a se cognitas deserit“ (Ebd., S. 29–30).
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wurf des Epikureismus konnte er damit – wenn er es denn je gewollt hätte – nicht entgehen. Schon seine Betonung der utilitas mußte auf seine Zeitgenossen zutiefst epikureisch wirken. Schmauss’ eigene Einstellung zu Epikur war übrigens nicht eindeutig positiv. Epikurs Prinzipien machten deutlich, daß „er ein Recht der Natur, so des Menschen Hertzen eingepraeget ist, innerlich gefuehlet hat”. „[A]eusserlich“ habe er es aber verleugnet.57 Am ehesten billigte Schmauss vielleicht noch den „christianisierten Epikureismus“ Gassendis, den er in seinen Dissertationes pries.58 Diejenige antike Philosophenschule aber, die Schmauss scheinbar bevorzugte, waren die Stoiker, die auch das antike römische Recht beeinflußt hätten. Daher sei es „wohl zu bedauren, daß nicht allein so viel Schriften der alten Stoischen Philosophorum durch das Schicksal der Zeiten verlohren gegangen, sondern dass auch die vortreflichen Wercke der alten Roemischen ICtorum durch Iustinianum vertilget worden sind. Dann wenn alle diese Buecher biß auf unsere Zeiten geblieben waeren, so ist kein Zweifel, daß es um die Wissenschaft des Natur- und Voelcker-Rechts schon laengstens besser stehen wuerde.“59 Im Gegensatz zum klassischen Epikureismus leugnete Schmauss auch nicht die Existenz einer göttlichen Vorsehung, auch wenn religiöser Glauben keine Voraussetzung für moralisches Handeln ist und Atheisten natürlich ebenso tugendhaft sein können wie religiöse Menschen.60 Gleichwohl ging Schmauss aber davon aus, daß die natürliche Ordnung und das System der menschlichen Instinkte mit Bedacht von Gott so eingerichtet worden waren. Ein Epikureer in einem philosophisch sachhaltigen Sinn war Schmauss ebenso wenig wie Pufendorf oder Thomasius. Der zeitgenössische Vorwurf des Epikureismus fungierte in den oben beschriebenen Debatten um das Naturrecht vor allem als rhetorisches Mittel der Kritiker – das hat der Begriff mit anderen ‚ismen‘ der Zeit, wie ‚Spinozismus‘, ‚Fanatismus‘ oder ‚Deismus‘, gemein. Die drei hier betrachteten Autoren waren diesem Vorwurf ausgesetzt, weil sie nach Meinung ihrer Kritiker keine annehmbare Lösung für das Problem einer durch diesseitige Sanktionen zu gewährleistenden Bindungswirkung des Naturrechts bieten konnten. Anders als die Moralphilosophie von Leibniz zum Beispiel schlossen ihre Naturrechtslehren keinen vernunftbegründeten Glauben an ein Jenseits mit Belohnungen und Strafen ein, und insofern sie diesseitige Sanktionen im Naturrecht identifizierten, schienen diese sich nur unzureichend von ‚epikureischem‘ Nutzen zu unterscheiden. ___________ 57
J.J. Schmauss, Systema (wie Anm. 41), S. 57. J.J. Schmauss, Dissertatio V (wie Anm. 47), S. 98. Vgl. dazu Lynn Sumida Joy, Gassendi the Atomist. Advocate of History in an Age of Science, Cambridge 1987. 59 J.J. Schmauss, Systema (wie Anm. 41), S. 41. An anderen Stellen äußerte er sich allerdings kritischer über sie. Siehe J.J. Schmauss, Dissertatio I (wie Anm. 46), S. 3. 60 J.J. Schmauss, Systema (wie Anm. 41), S. 526. 58
Heinrich von Cocceji – ein zu Unrecht vergessener deutscher Staats- und Naturrechtslehrer
Christoph Link Heinrich (von) Cocceji, von seinen Zeitgenossen als einer der einflußreichsten Staatsrechtslehrer gefeiert, stand in der späteren rechtsgeschichtlichen Forschung bald im Schatten seines berühmteren (jüngsten) Sohnes Samuel (1679–1755), der es unter Friedrich dem Großen zum Großkanzler brachte und zum Reformator des preußischen Justizsystems wurde. Zum raschen Verblassen seines Ruhms trug nicht nur bei, daß er das deutsche Reichsstaatsrecht auf gewagte geschichtliche Hypothesen gründete und hier bald von solideren historischen Ansätzen überholt wurde; ein Grund ist auch, daß sein umfangreichstes Werk, ein vierbändiger Grotius-Kommentar, erst von seinem Sohn aus dem Nachlaß herausgegeben und ergänzt wurde,1 und daß damit „der Vater hauptsächlich durch den Sohn zu uns redet“.2 In der Tat ist schwer auszumachen, welche Teile von Heinrich und welche von Samuel von Cocceji stammen. Vieles spricht jedoch dafür, daß das dort in steter Auseinandersetzung mit Grotius entwickelte naturrechtliche System den Vater zum Autor hat.3 Und um dieses System soll es im folgenden gehen – ein System, dessen Bedeutung für die Geschichte des naturrechtlichen Denkens sich erst in verlängerter historischer Perspektive erschließt.
___________ 1 Grotius illustratus seu commentarius ad Hugonis Grotii De jure belli ac pacis, 4 Bände, Wratislavae 1744–52. 2 Ernst Landsberg, in: Robert Stintzing / Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt. 1. Halbbd., München / Leipzig 1898 (ND Aalen 1954), Anm. S. 66. 3 Dazu näher E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft (wie Anm. 2).
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Christoph Link
I. Zur Person4 Heinrich Cocceji, am 25. März 1644 in Bremen als Sohn eines städtischen Beamten geboren, studierte nach seiner Gymnasialzeit von 1667 bis 1669 in Leiden. Anschließend reiste er zu seinem Onkel Heinrich von Oldenburg nach London, der dort als Vertreter des Bremischen Senats ein großes Haus führte. 1671 wurde er in Oxford zum Dr. jur. promoviert. Auf der Rückreise gewann er in Heidelberg die Gunst des Kurfürsten Karl Ludwig und erhielt dort wegen seines schon durch die Doktordisputation begründeten wissenschaftlichen Rufs noch im gleichen Jahr als Nachfolger Pufendorfs die Professur für Natur- und Völkerrecht, 1680 diejenige für Lehn- und Pandektenrecht, und wurde Rektor der Universität. Nach der Zerstörung Heidelbergs im Pfälzischen Erbfolgekrieg folgte er zunächst einem Ruf nach Utrecht, ging dann aber auf ausdrücklichen Wunsch des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelms I. nach Frankfurt an der Oder. 1702 zum Geheimen Rat ernannt und geadelt, 1713 vom Kaiser in den erblichen Reichsfreiherrenstand erhoben, starb er hoch geachtet am 18. August 1719.
II. Das Staatsrecht Coccejis einflußreiches Lehrbuch, Juris publici prudentia von 1685, erlebte nicht nur zahlreiche Auflagen,5 nach ihm wurde auch in Halle, Jena und anderen Fakultäten gelesen. Noch ein Jahrhundert später wurde es von Pütter6 hoch gelobt. Wissenschaftsgeschichtlich sind darin zwei Grundsätze bedeutsam geworden. Mit beiden betritt Cocceji zwar kein Neuland, die präzise Formulierung der Maximen hat ihm aber die später gängige Bezugnahme auf seine Schrift gesichert. Die eine betrifft die Einordnung des Faches, nämlich dessen Trennung von der ‚Politik‘, genauer: der Politikwissenschaft (prudentia civilis): „Jus publicum Romano – Germanicum est [...] species et pars Jurisprudentiae, non ___________ 4 Dazu Robert Stintzing, [Art.] ‚Cocceji, Heinrich‘, in: ADB Bd. 4, 1876, S. 372 ff.; E. Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft (wie Anm. 2), S. 112 ff. (Text), S. 65 ff. (Noten); E. Döhring, [Art.] ‚Cocceji, Heinrich‘, in: NDB Bd. 3, 1956, S. 300ff.; Adalbert Erler, [Art.] ‚Cocceji, Heinrich‘, in: HRG Bd. 1, 1971, Sp. 616; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988, S. 246 f. 5 1700, 1705, 1718, 1723 (vgl. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, wie Anm. 4, S. 247, Anm. 144); im folgenden zitiert nach der Editio tertia, Francofurti ad Viadr. 1705. 6 Johann Stephan Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts, 3 Teile, Göttingen 1776–1783 (ND Frankfurt a. M. 1965), Tl. 1, S. 284 ff.; zurückhaltender Johann Jacob Moser, Bibliotheca iuris publici, 3 Bde., Stuttgardt [sic!] 1730–1734, Bd. 2, S. 631 ff.
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Politices“.7 Die Politik verblieb in der Artistenfakultät, die Reichspublizistik hatte als rechtswissenschaftliche Disziplin ihren Platz in den Juristenfakultäten.8 Wichtiger im hier zu behandelnden Zusammenhang ist die methodische Weichenstellung: „Quod in caeteris Juris disciplinis ratio praestat, id in jure publico Germaniae historia“.9 Gemeint ist, daß das, was in den anderen juristischen Disziplinen die ‚ratio‘, d. h. eine naturrechtliche Betrachtung leistet, im deutschen Staatsrecht versagen müsse, denn dieses gründe sich allein auf langdauerndes Gewohnheitsrecht (‚longaeva consuetudo‘), nicht auf eine feste, rationaler rechtlicher Auslegung zugängliche Gesetzesgrundlage. An das historisch überkommene Staatsrecht kann nicht in gleicher Weise der Maßstab jener Gerechtigkeitsidee angelegt werden, die von Natur aus allen Menschen eingepflanzt ist und die im Vernunftgebrauch zur Wirkung kommt.10 Es erschließt sich vielmehr allein in geschichtlicher Betrachtung. Damit war nicht nur ein scharfer Trennungsstrich zum Privatrecht gezogen, sondern auch die historische Methode zum Prinzip staatsrechtlicher Deduktion erhoben. Gerade hier lagen aber auch die Schwächen Coccejis, die später das vernichtende Urteil der Historischen Schule provozierten: ungenügende Quellenarbeit, Bau eines „Luftgebäudes“ auf der Basis „einiger zufällig aufgegriffener, kritiklos angenommener und phantastisch verwobener Notizen“.11 Solch herbe Kritik, die sich vor allem auf in der Tat unhaltbare Spekulationen Coccejis zur fränkischen Frühzeit stützt, darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß diese Schrift Coccejis in ihren aktuelleren Teilen eine solide, präzise und eingängige Darstellung der Reichs- und Territorialverfassung bietet, die zu zeitgenössischen Streitfragen12 verständig Stellung nimmt, namentlich in ihrer Behandlung der geistlichen13 ___________ 7 Heinrich von Cocceji, Juris publici prudentia, 1685 (im folgenden: JPP), cap. 1, § 1 (S. 19). 8 Dazu M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (wie Anm. 4), S. 231. 9 JPP, Monita ad Lectorem Nr. 1. 10 „Justitiae enim semina a natura hominibus insita, usu rationis excutiuntur“ (JPP, ebd.). 11 E. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft (wie Anm. 2), Text S. 114 f. 12 So wendet er sich (JPP, cap. 21, §§ 8 f. – S. 390 f.) vehement gegen Leibniz („Caesarinus Fuerstenerius“), der zwischen Landeshoheit (superioritas territorialis) und einem darüber hinaus gehenden ‚Supremat‘ (suprematus) unterschieden hatte. Letzterer sollte auch mächtigeren Reichsständen außerhalb des Kurkollegs zukommen und insbesondere die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit einschließen (dazu Hans-Peter Schneider, Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Staatsdenker in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Stolleis, München 31995, S. 197 ff., S. 206 ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, wie Anm. 4, S. 237). 13 So die Abgrenzung von herrscherlichem Zwangsrecht kraft Territorialhoheit und Gewissensfreiheit der Untertanen (JPP, cap. 18, §§ 1 ff. – S. 320 ff.).
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und weltlichen Majestätsrechte14 das methodisch-historische Korsett sprengt und auf naturrechtliche Begründungsmuster des ‚Allgemeinen Staatsrechts‘ zurückgreift. Das soll hier nicht vertieft werden.
III. Coccejis Naturrechtslehre Wichtiger ist die Bedeutung Coccejis für die Begründung des Naturrechts und dessen Verhältnisbestimmung zu den biblischen Geboten.
1. Vernunftrecht und Offenbarungsrecht in der staatsrechtlichen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts Das große Thema der vernunftrechtlichen Staatslehre ist die Begründung und Begrenzung der höchsten Gewalt im Staat, der summa potestas oder Souveränität. Obwohl hier durchgängig zugestanden wird, daß die erforderliche Einheit der Staatsgewalt auch durch ein Optimatengremium (Aristokratie) oder durch die jeweilige Volksmehrheit (Demokratie) gewährleistet sein könne, läuft die Argumentation im historischen Kontext doch auf die Legitimierung der absoluten Monarchie hinaus. Der Grund dafür ist freilich nicht nur die Affinität der Juristen zum Machthaber. Das Bündnis von Thron und Katheder gründete sich vielmehr auf die Hoffnung, daß nur eine starke Zentralgewalt das alte Gewebe kirchlich-ständischer Machtverflechtung zu zerreißen und den Staat durch Reformen im Sinne des Vernunftrechts umzugestalten im Stande war. Dazu gehörte auch, daß der Herrscher ‚legibus solutus‘, d. h. Herr über die Rechtsordnung des Landes war. Schon Bodin, mit dessen Namen sich diese Souveränitätslehre verband, hatte aber als Einschränkung hinzugefügt, daß dies nicht eine Freistellung von der Landesverfassung, dem Naturrecht und eben auch den Gesetzen Gottes bedeute, denen auch der ‚prince souverain‘ selbstverständlich unterworfen bleibe.15 Die Bindung an das Jus naturale und das Jus divinum wird damit für nahezu zwei Jahrhunderte zum festen Lehrtopos auch der vernunftrechtlichen Staatslehre, des ‚Allgemeinen Staatsrechts‘; gemeint ist damit die Pflicht, ___________ 14 Die Staatsgründung geschieht allein um des Schutzes der Gerechtigkeit willen (JPP, cap. 23, § 2 – S. 402 f.), deshalb ist die Wahrung des Rechts oberster Herrschaftszweck (ebd., § 1 – S. 402). Von diesem Ausgangspunkt erfolgt die systematische Gliederung der Hauptmajestätsrechte (Jura majestatis maiora) in solche, die dem inneren Frieden (ius pacis) und dem Schutz gegen äußere Bedrohung (ius belli) dienen (ebd., §§ 2 ff. – S. 403 ff.). 15 Jean Bodin, Les six livres de la République, Paris 1583 (ND Aalen 1961), livre 1, chap. 8 (S. 128 f.).
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die Gebote beider Rechtskreise in der staatlichen Rechtsordnung umzusetzen. Dabei unterlag es für die Vernunftrechtslehrer keinem Zweifel, daß auch das Naturrecht auf Gott zurückwies, der als Schöpfer den Menschen als vernunftbegabtes Wesen geschaffen hatte. Probleme bereitete indes das Jus divinum positivum, das Offenbarungsrecht, d. h. jene biblischen Rechtssätze, die allein aus menschlicher Vernunft nicht begründbar schienen.16 Eine besondere Bedeutung kam den biblischen Geboten naturgemäß im Staatskirchenrecht zu. Vor allem in den katholischen Territorien wurde der alte Konflikt zwischen landesherrlichem Kirchenhoheitsanspruch und den von der Kirche als unveräußerlich behaupteten Grundlagen des kanonischen Rechts im Jus divinum nun mit dem Begriffsinstrumentarium des Vernunftrechts ausgetragen. Namentlich die josephinischen Theoretiker machten dem kirchlichen Lehramt das Auslegungsmonopol für das Göttliche Recht streitig und reklamierten für den weltlichen Herrscher ein umfassendes Gestaltungsrecht für die ‚sphaera huius vitae‘ – und damit auch für die äußere Kirchenverfassung.17 Im Staatskirchentum der evangelischen Länder waren die Reibungsflächen geringer, aber auch hier sollte die Verpflichtung auf die biblischen Gebote eine bekenntniskonforme Gestaltung des evangelischen Kirchenwesens sicherstellen.18 Daß sich auch im protestantischen Bereich die naturrechtlichen Maximen mit den Bekenntnisforderungen nicht mit so einfachen Formeln wie der von Christian Thomasius: „Gott gebietet nichts Republicwidriges“19 auf einen Nenner bringen ließen, zeigen die vielfachen Kontroversen um Grund und Grenzen des landesherrlichen Kirchenregiments.20 Die damit verbundenen literarischen Kontroversen liegen indes außerhalb des hier zu behandelnden Themas. Aber auch im ‚weltlichen‘ Recht band das Jus divinum positivum die Gesetzgebung keineswegs nur in Randbereichen. Dazu gehörten insbesondere das ___________ 16 Dazu näher Christoph Link, ‚Jus divinum‘ im deutschen Staatsdenken der Neuzeit, in: Festschrift für Ulrich Scheuner, hrsg. v. Horst Ehmke u.a., Berlin 1973, S. 377 ff.; ders., Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit – Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien / Köln / Graz 1979, S. 232 ff. 17 C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 206 ff. 18 Ebd., S. 222 ff. 19 Christian Thomasius, Höchstnöthige Cautelen, Welche ein Studiosus Juris, der sich auf die Erlernung der Kirchen-Rechts-Gelahrtheit [...] vorbereiten will, zu beobachten hat, Halle 1713, S. 282, 284, 287. 20 Klaus Schlaich, Kirchenrecht und Vernunftrecht, jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze. Kirche und Staat von der Reformation bis zum Grundgesetz, hrsg. v. Martin Hekkel / Werner Heun, Tübingen 1997, S. 179 ff.; ders., Der rationale Territorialismus, jetzt ebd., S. 204 ff.; C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 291 ff.; ders., Souveränität – Toleranz – evangelische Freiheit, ZRG, Kan. Abt. 86 (2000), S. 414 ff. – alle mit weiteren Nachweisen.
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Gebot der Sabbatheiligung, das Wucher-21 und Konkubinatsverbot,22 die in 3. Mose 18 und 20 positivierten Ehehindernisse und die geforderte Poenalisierung der dort genannten Delikte, das Gebot der Einehe, das prinzipielle Scheidungsverbot Christi (mit Ausnahme des Ehebruchs),23 schließlich im Strafrecht das Talionsprinzip und die Verpflichtung des Herrschers, vorsätzliche Tötungsdelikte mit der Todesstrafe zu ahnden.24 Daraus folgte nach nahezu einhelliger Auffassung das Begnadigungsverbot bei Verbrechen gegen das menschliche Leben – und damit eine wesentliche Einschränkung des fürstlichen Jus vitae et necis, dessen integrierenden Bestandteil das Gnadenrecht bildete. Schon diese Beispiele zeigen die erhebliche soziale Relevanz einer Determination staatlichen Handelns durch die biblischen Gebote. Damit mußte aber das Jus divinum positivum einer Rechts- und Staatslehre zum Problem werden, die die Geltung überpositiver Rechtssätze gerade aus deren jeder gesunden Vernunft einleuchtendem Regelungsgehalt herleitete. Nur dann konnten sie Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen, während die Offenbarungsgebote formal schon mangels universaler Publikation, materiell wegen ihrer das Vernunftrecht transzendierenden Natur, Wirksamkeit nur im christlich-jüdischen Kulturkreis entfalten konnten. Aus diesem Dilemma hatte die Frühaufklärung mehrere Auswege gesucht. Einen davon wies die historisch-kritische Theologie, indem sie sich um den exegetischen Nachweis bemühte, daß die alttestamentlichen Gebote teils allgemein (und das heißt: naturrechtlich) gültige Sätze, im übrigen aber solche darstellen, die an eine bestimmte historische und soziale Verfassung des Volkes Israel geknüpft waren. Die Verhältnisse der „asiatischen Justiz“ – so erklärt der Göttinger Hebraist Johann David Michaelis (1717–1793) spöttelnd – seien nun einmal mit denen der „hannöverschen Justiz“ schlechthin unvergleichbar.25 Vielfach werden aber auch die alten Lehren formelhaft von der Reichspublizistik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts tradiert, freilich verbunden mit dem Bestreben, den Anwendungsbereich des Jus divinum positivum nach Möglichkeit einzuengen. Schon Pufendorf hatte versucht, die meisten der herkömmlich ___________ 21
3. Mose 25, 36; Lukas 6, 35. Gestützt auf die Ehe als einzige legitime sexuelle Verbindung und die neutestamentlichen Lasterkataloge (1. Korinther 7, 9 u. ö.). 23 Matthäus 19, 9; 5, 31 ff.; 1. Korinther 7, 10 ff. 24 Abgeleitet aus 1. Mose 6, 9; 2. Mose 21, 21; 3. Mose 24, 17; 4. Mose 35, 16 ff. 25 Johann David Michaelis, Mosaisches Recht, zuerst 2 Bde. Frankfurt am Mayn 1770 f., hier nach der 2. Aufl. (in 3 Bänden) Reutlingen 1793, Bd. 3, § 153 (S. 62), § 154 (S. 67), § 156 (S. 80). – Dazu im einzelnen C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 277 ff. 22
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biblisch begründeten Rechtsgebote als Naturrechtssätze auszugeben.26 In einem solchen reduktionistischen Verfahren erscheint dann das Jus divinum bei Johann Jacob Moser nur noch als „Nebenquelle des Teutschen Staatsrechts“ an letzter Stelle der Rechtsquellenhierarchie.27 Andererseits wird die Geltungskraft mit der reichsverfassungsrechtlichen Bekenntnisparität verknüpft und damit konfessionell relativiert. So sollten etwa Ehesachen katholischer Untertanen nach den ‚päpstlichen Rechten‘ zu behandeln sein, während gegenüber evangelischen die Regenten allein an Gottes Wort gewiesen seien.28 Im übrigen könnten auch ‚erdichtete Offenbarungen‘ Quellen besonderer Rechte sein – so etwa Johann Stephan Pütter, der als Beispiel ausdrücklich den Koran nennt.29 Tiefer und geistesgeschichtlich wirksamer setzt indes Christian Thomasius an. Noch in seinem ersten staatsrechtlichen Hauptwerk mit dem bezeichnenden Titel Institutiones Jurisprudentiae Divinae hatte er den Normenbestand des Offenbarungsrechts am schärfsten herausgearbeitet,30 damit aber zugleich auch deutlich gemacht, daß ein so verstandenes Jus divinum als Fremdkörper in einer allein rational begründeten Sozialordnung wirken mußte, die auch dem Streit der Konfessionen entzogen war. Der Umschwung in Thomasius’ Denken dokumentiert sich dann in seiner Neubearbeitung der Institutiones, die 1705 als Fundamenta Juris Naturae et Gentium31 erscheint. Hier entwickelt er einen neuen Rechtsbegriff: Recht ist nur die zwangsbewehrte menschliche Norm, die unmittelbar zu äußerem Handeln verpflichtet. Gott aber wirkt innerlich, ohne Zwang, er ist kein Gesetzgeber im juristischen Sinn, seine Strafen sind mit rechtlichen Sanktionen nicht vergleichbar. Das Jus divinum gehört deshalb in den Bereich christlicher Ethik (genauer: des Decorum). Zwar erzeugen die biblischen Gebote eine innere Verpflichtung für den Christen – auch im obrigkeitlichen Amt –, aber eine Verletzung dieser Pflicht berührt die Rechtsgeltung wi___________ 26
Nachweise bei C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 240 ff. Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht, Nürnberg 1737 ff., 2. Th., S 186 ff. – Dazu Martin Heckel, Parität I, jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Klaus Schlaich, Bd. 1, Tübingen 1989, S. 143 f.; Erwin Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jacob Mosers. Zur Entstehung des historischen Positivismus in der deutschen Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 248 ff. 28 Johann Stephan Pütter, Kurzer Begriff des Teutschen Staats-Rechts, Göttingen 1764, S. 263; weitere Nachweise bei C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 274 f. Anm. 104. 29 Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer Juristischen Encyklopädie und Methodologie, Göttingen 1767, S. 11 f. 30 Hier nach Ed. 7, Halae Magdeb. 1720 (ND 1963). – Dazu und zum folgenden C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 120 ff., 253 ff.; Klaus Luig, Christian Thomasius, in: Staatsdenker (wie Anm. 12), S. 227 ff. (S. 230 ff.); alle mit weiteren Nachweisen. 31 Ed. 4, Halae Magdeb. 1718 (ND 1963). 27
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dersprechender Normen nicht. Ein Verstoß gegen das Jus divinum ist Sünde, nicht Rechtsbruch.32
2. Die Einheit des göttlichen Rechtswillen bei Cocceji Gegenüber einer solchen – auch aus lutherischem Raisonnement gegen eine Vergesetzlichung der biblischen Botschaft gespeisten – Spiritualisierung des Jus divinum geht nun Cocceji einen ganz eigenen Weg. Für ihn haben Gottesrecht und Naturrecht ihre Einheit im göttlichen Rechtswillen, beide sind nur unterschiedliche Bezeichnungen für die gleiche Sache.33 Soweit die alttestamentlichen Gebote nicht ohnehin als jüdisches Nationalrecht34 anzusehen sind, ist für eine Zweiteilung zwischen Jus divinum positivum und Jus divinum naturale kein Raum. Beides entspringt dem freien Willen Gottes,35 zwischen beidem zu unterscheiden ist deshalb nicht nur glaubens-, sondern auch systemwidrig. Und in dieser Einheit bilden sie die gottgewollte Sozialordnung. Das Naturrecht schließt also auch alle für Christen verbindlichen biblischen Gebote ein. Obrigkeit und Untertanen müssen Gottes Gesetze halten, denn Gott straft ihre Übertreter zeitlich und ewig ohne Rücksicht auf Rang und Stand.36 Damit wird das so verstandene Naturrecht auch zur Grundlage des Staatslebens. Insbesondere geht es die Regenten an, die ja durch positives Recht (Jus ___________ 32
Nachweise bei Christoph Link, Besprechung des Neudrucks der ‚Fundamenta‘, ZRG, Kan. Abt. 51 (1965), S. 379 ff. 33 Grotius illustratus, lib. 1, cap. 1, § 15 (S. 4); ebenso Samuel v. Cocceji, Novum systema Justitiae naturalis et Justitae, Halae 1740, lib. 1, cap. 1, § 13 (S. 4). – Diese Schrift des Sohnes systematisiert lediglich die Grundsätze seines Vaters und zeigt die „Überzeugung, daß durch jene Grundsätze das Hauptproblem des Naturrechts endgültig gelöst und damit alles Recht überhaupt klargelegt sei“ [E. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft (wie Anm. 2), Text S. 215]. Wo er in Einzelheiten des Römischen Rechts – die hier nicht interessieren – vom Vater abweicht, macht er dies ausdrücklich kenntlich. Soweit dies nicht der Fall ist, reproduziert das ‚Novum systema‘ die Gedanken Heinrich v. Coccejis und kann deshalb auch diesem zugerechnet werden. Samuel v. Cocceji hat es darum später als 12. Dissertatio dem Einleitungsband des Grotius illustratus eingefügt (im folgenden zitiert nach der erneuten Separatausgabe, Halae 1750). 34 Grotius illustratus, ebd. (wie Anm. 33). – Das gilt selbst vom Dekalog, der nicht als solcher, sondern als Naturrecht verbindlich ist (ebd., § 14 – S. 114). 35 Grotius illustratus, ebd. (wie Anm. 33); ebenso Novum systema, lib. 1, cap. 1, § 11 (S. 3). Deshalb kritisiert Cocceji auch scharf das berühmte ‚etiamsi daremus‘ bei Grotius, wonach das Naturrecht auch dann gelten müsse, wenn es („quid sine summo scelere nequit“) keinen Gott gäbe. Das Gegenteil sei richtig: Das Naturrecht gilt nur, weil es Gott gibt. 36 Novum systema, lib. 1, cap. 1, § 14f. (S. 4 f.).
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civile) nicht gebunden werden können. Sie erkennen daraus, daß ihre Herrschaftsgewalt unmittelbar von Gott stammt,37 inwieweit sie und ihre Nachfolger durch Verträge verpflichtet sind und für Delikte haften, aus welchen Gründen ein gerechter Krieg geführt werden kann, daß sie von ihrem Gesetzgebungsrecht nicht naturrechtswidrig Gebrauch machen dürfen und inwieweit ihnen das Gnadenrecht bei Verbrechen zukommt.38 Die Untertanen aber lehrt das Naturrecht, daß sie dem Regenten wie Gottes Vikar Gehorsam schuldig sind, soweit dessen Rechtsgebote nicht dem Naturrecht und damit dem Willen Gottes widerstreiten. Wird das Naturrecht im Normalzustand durch den (rechtmäßigen) Herrscherbefehl in Gesetz und Einzelakt vermittelt, so gilt es in Ausnahmesituationen wie etwa im Krieg unmittelbar, so beispielsweise bei der Behandlung von Gefangenen und der Zivilbevölkerung.39 In diesem naturrechtlichen Gewande wird nicht nur die alte patriarchalische Staatsethik erneuert, sondern auch der Katalog der bisher dem Offenbarungsrecht zugerechneten Rechtssätze. Das Talionsprinzip – insbesondere bei Tötungsdelikten40 – ist deshalb naturrechtlich ebenso gefordert, wie die Verpflichtung, Inzest,41 Sodomie,42 Homosexualität43 und Selbstmordversuch44 zu bestrafen oder das Verbot der Mörderbegnadigung.45 Eine weitergehende Gestaltungsfreiheit räumt Cocceji dem Regenten nur im Bereich des Ehe- und des Scheidungsrechts ein. Neben den alttestamentlichen Ehehindernissen können aus staatspolitischen Gründen auch weitere eingeführt werden.46 Maßgeblich ist insofern der in der Schöpfung angelegte Zweck der Institution Ehe, der auf Reproduktion durch Nachkommenschaft gerichtet ist47 –, und diesem Zweck widersprechen alle Geschlechtsverbindungen, die nicht ___________ 37
JPP, cap. 21, § 2 (S. 388): Majestas est sacra Deique Vicaria vis. Novum systema, lib. 1, cap. 1, § 16 (S. 5 f.). 39 Ebd., § 17 (S. 6). 40 Grotius illustratus, lib. 1, cap. 3, §§ 6 ff. (S. 232 ff.); lib. 2, cap. 20, § 1, Prop. IV (S. 456 f.) u.ö. 41 Grotius illustratus, lib. 1, cap. 1, § 15 (S. 110); Novum systema, lib. 1, cap. 3, § 37 (S. 12). 42 Grotius illustratus, ebd.; Novum systema, lib. 2, cap. 2, § 95 (S. 52). 43 Novum systema, lib. 1, cap. 4, § 43 (S. 18), § 45 (S. 20). Erkenntnisquelle ist hier Sinn und Ziel der Schöpfung – ebenso wie beim Verbot der Tierquälerei (ebd.). 44 Grotius illustratus, ebd. (wie Anm. 41); Novum systema, ebd. (wie Anm. 42). 45 Grotius illustratus, ebd., S. 111; lib. 2, cap. 20, § 1, Prop. IV. (S. 456 f.): keine Begnadigung bei Mord und Ehebruch! 46 Novum systema, lib. 3, cap. 4, § 176, nr. 8 (S. 129), nr. 13 (S. 132); das schließt die Fortgeltung der ebenfalls durchaus naturrechtlich begründbaren alttestamentlichen Eheverbote nicht aus (ebd., Nr. 5 ff. – S. 126 f.). 47 Novum systema, lib. 1, cap. 4, § 43 (S. 18), § 45 (S. 20). 38
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der Kindererzeugung dienen.48 Aus dem gleichen Grunde ist der Gesetzgebung auch nicht die Anerkennung von Kinderlosigkeit als Scheidungsgrund versagt49 – wie überhaupt die strenge neutestamentliche Reduktion der Scheidungsmöglichkeit nicht in staatliche Rechtspraxis übersetzt werden muß, denn Christi Amt und Auftrag sind nicht die eines Gesetzgebers.50
3. Vernunft und Glaube Wenn Cocceji als Erkenntnisquelle für eine solcherart gottgewollte Sozialordnung die Vernunft nennt, so ist damit nicht die säkulare Ratio des Menschen als autonomem Individuum gemeint. Vernunfterkenntnis speist sich sicherlich primär aus der Einsicht in die Notwendigkeit bestimmter Regeln im menschlichen Rechtsverkehr und aus der Zweckbestimmung der Institutionen des Gemeinschaftslebens,51 aber auch aus menschlichem Instinkt52 und aus der allgemeinen Rechtsüberzeugung der Völker (gerade aus dieser erwächst das ius gentium, der wichtigste unmittelbare Geltungsbereich des Naturrechts).53 Das alles aber ist eingebettet in die vorausliegende Erkenntnis von Wesen, Sinn und Ziel der Schöpfung, für die Cocceji sich ganz unbefangen auf biblische Aussagen beruft. Dahinter steht die bis weit in die deutsche Aufklärung hineinwirkende Überzeugung, daß die Vernunft die Einsicht in Existenz und Allmacht Gottes ermöglicht, ja geradezu gebietet. Wer leugnet, daß Gott Schöpfer und Herr der Welt ist, stellt damit nicht nur das Naturrecht als Grundlage aller menschlichen Gemeinschaft in Frage, er begeht auch ein crimen laesae majestatis divinae. Atheismus ist deshalb ein besonders strafwürdiges Verbrechen.54 ___________ 48
Ebd., § 45 (S. 20). Ebd. 50 Grotius illustratus, lib. 1, cap. 1, § 15 (S. 111). Christi Gebote können auch nicht in Naturrecht umgedeutet werden, da aus ihnen keine wechselseitige (Rechts-) Pflichtenrelation folgt. Damit wendet er sich auch gegen Grotius, der in der Beachtung der neutestamentlichen Gebote ein Indiz für ein naturrechtlich wohlgeordnetes Gemeinwesen erblicken wollte (Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, Paris 1625 – hier nach der von Gronovius und Barbeyrac kommentierten Ausgabe Traiecti ad Rhen. 1773 – lib. 1, cap. 1, § 17, Nr. 3 f. – S. 26 f.): Zwar verfehlten die Principes ihren Auftrag nicht, wenn sie diesen Geboten in ihren Gesetzen folgten, aber eine Rechtspflicht, die Lehre des Heilands gesetzlich umzusetzen, ergebe sich daraus nicht (Grotius illustratus, ebd., § 17 – S. 124) – das hatte Grotius so freilich auch nicht behauptet. 51 Novum systema, lib. 1, cap. 4, § 45 (S. 20). 52 Ebd., § 44 (S. 20). 53 Ebd., § 47 (S. 22); JPP, cap. 1, § 5 (S. 21). 54 Novum systema, lib. 2, cap. 2, §§ 83 und 86 (S. 48 f.). 49
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Aber diese rigide Position dient nur der Sicherung der ‚natürlichen Religion‘ als unabdingbarer Basis menschlicher Sozialität. Sie gebietet lediglich die Anerkennung des ersten Glaubensartikels kraft dessen rationaler Evidenz. Nicht verfolgbar sind andere religiöse Fehlhaltungen, namentlich im Verständnis der christlichen Botschaft, ja selbst die Leugnung aller Offenbarungswahrheiten.55 Jedem Ketzerrecht ist damit der Boden entzogen. Die naheliegende Folgerung, daß dann den die ‚natürliche Religion‘ respektierenden Bekennergemeinschaften Toleranz zu gewähren ist, zieht Cocceji freilich noch nicht. Und noch eine andere Einschränkung entschärft seinen Rigorismus. Bestreiten des Naturrechts oder naturrechtswidriges Handeln muß nicht nur außenwirksam sein, um Sanktionen auszulösen;56 eine Bestrafung ist auch nur dann geboten, wenn dadurch die Rechte Dritter verletzt werden. Ist das nicht der Fall, so liegt es lediglich im Ermessen der Obrigkeit, ob und inwieweit sie im Staatsinteresse ein bewehrtes Verbot bestimmter Verletzungen gottgewollter Naturrechtspflichten für erforderlich hält.57 Von einer überpositiven dahingehenden Rechtspflicht ist bei Cocceji nicht mehr die Rede.
4. Naturrecht und Menschenrechte Aus der Identität von Naturrecht und göttlichem Recht folgt aber noch ein anderer, zukunftsweisender Grundgedanke Coccejis: es ist die Betonung der angeborenen, für den Staat unverfügbaren Rechte des Individuums als Konsequenz einer von Gott im Menschenbild angelegten personalen Würde. Dieses Jus quaesitum58 des Bürgers steht nicht außerhalb des Staates, begründet nicht allein eine staatlichem Eingriff unzugängliche Freiheitssphäre, wie es der gän___________ 55
Ebd., § 98 (S. 53). Ebd., lib. 2, cap. 6, § 1, nr. 1 (S. 93). 57 Als Beispiele werden genannt: Sodomie, Selbstkastration, Selbstmord, Blasphemie, Inzest (ebd., cap. 2, §§ 15 f. – S. 52 f.). 58 Cocceji gebraucht den Begriff des ‚Jus quaesitum‘ im weitesten Sinn. Hierher gehören nicht nur die wohlerworbenen Rechte im streng juristischen Verständnis, sondern das ius proprium des Menschen überhaupt – d. h. der diesem kraft Naturrechts zukommende Inbegriff von Menschen-, Freiheits- und Vermögensrechten. Davon ist z. B. sowohl seine potentielle Eigentumsfähigkeit umfaßt, wie auch das durch die Aktualisierung dieses Rechts Erlangte. Jus quaesitum ist auch die erstere insofern, als sie ihren Urgrund in dem in der Schöpfung angelegten Menschenbild hat (Novum systema, lib. 1, cap. 3, § 49 – S. 24). Jura a Deo quaesita sind freilich nur die elementaren Menschenrechte; nur sie können auch um des Gemeinwohls willen weder beschränkt noch entzogen werden (ebd., cap. 4, § 63 – S. 37). – Zur zeitgenössischen Diskussion über hoheitliche Eingriffsmöglichkeiten in wohlerworbene Rechte allgemein siehe C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 156 ff. 56
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gigen naturrechtlichen Doktrin entsprach. Diese gründete Freiheitsrechte auf die Grenzen des Staatsvertrags, durch den eben nur auf einen Teil der natürlichen Freiheit Verzicht geleistet werde.59 Anders klingt es bei Cocceji: Aus Gottes Schöpfung und deren Ziel, aus der damit im Menschen von seiner Natur her angelegten Beschaffenheit und aus seiner Gottebenbildlichkeit folgt zwingend der Wille Gottes, daß jeder Mensch ursprüngliche, von Gott verliehene Rechte hat. Sie sind von der Staatsgewalt ebenso wie von den Mitbürgern zu achten und dürfen ihm nicht entzogen werden.60 Sie begründen einen unverzichtbaren Anspruch auf die Gerechtigkeit obrigkeitlichen Handelns,61 ja hierin liegt überhaupt der tiefere Sinn aller menschlichen Herrschaftsordnung,62 sind die Regierenden doch dazu bestellt, als Vikare Gottes dessen (Naturrechts-)Gebote auszuführen63 – und das heißt: Gerechtigkeit zu üben und die Rechte der Untertanen zu schützen.64 Materielle Rechtsstaatlichkeit ist daher oberster Staatszweck.
IV. Zusammenfassung und Schluß Nicht alle der hier vorgestellten Gedanken Coccejis sind an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert neu, aber nirgends waren sie zuvor in solcher systematischer Geschlossenheit entwickelt worden. Ihre konkretisierende Ausformung erhalten sie auch vielfach erst durch Samuel v. Cocceji, den Sohn, der aber insoweit selbst nicht den Anspruch auf Eigenständigkeit erhebt, sondern nur die Systemgrundlagen seines Vaters ausformuliert und um Facetten bereichert. Die Palme der Originalität gebührt deshalb ohne Zweifel Heinrich von Cocceji.65 Indem dieser das Naturrecht auf die Einheit des göttlichen Rechtswillens gründete, blieb kein Raum mehr für ein davon zu unterscheidendes Jus divinum als staatsrechtlich umzusetzender Inbegriff von Offenbarungsnormen. Anders als Thomasius ließ er dabei keinen Zweifel an der Rechtsqualität eines dergestalt auch die biblischen Gebote umgreifenden Naturrechts. Und anders als die ___________ 59
Dazu grundlegend Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 33 ff., 43 ff.; siehe auch C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 144 ff. 60 Novum systema, lib. 1, cap. 5, § 49 (S. 24); § 52 (S. 27); cap. 6, § 56 (S. 30); siehe dazu auch oben Anm. 58. 61 Ebd., cap. 6, § 63 (S. 36). 62 JPP, cap. 1, § 8 („finis proximus est iustitia imperii ac reipublicae“). 63 Novum systema, lib. 1, cap. 6, § 61 (S. 35). 64 JPP, cap. 21, § 2 (S. 388); cap. 23, § 1 (S. 402). 65 Insofern korrigiere ich meine Zuschreibung in: C. Link, Herrschaftsordnung (wie Anm. 16), S. 282 ff.
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spätere historisch-kritische Theologie reduzierte er auch nicht den alttestamentlichen Normenbestand auf ein naturrechtlich allein verbindliches Minimum. Vielmehr ging es ihm darum, gerade die aktuelle Rechtsgeltung der bisher als gesondertes, durch Vernunfteinsicht nicht zu erschließendes Jus divinum positivum ausgegebenen alttestamentlichen Rechtsgebote unter einen erweiterten Begriff des Naturrechts zu fassen. Dies hatte freilich zur Voraussetzung, daß die erkennende Vernunft durch den biblischen Gottesglauben bestimmt blieb. Auf diesem Wege reproduziert Cocceji das alte lutherisch-patriarchalische, biblisch grundierte Staatsbild auf die Folie des frühneuzeitlichen Naturrechtsdenkens. Aber er füllt dabei auch neuen Wein in die alten Schläuche. Gerade die bei Cocceji im Zentrum stehende Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen begründet dessen Würde und verleiht ihm einen unentziehbaren Rechtsstatus. Damit gewinnt der Gedanke eines Kernbestands an unveräußerlichen Menschenrechten, den jedes rechtsstaatlich verfaßte Gemeinwesen zu wahren und zu schützen hat, – wie ich meine in dieser Deutlichkeit erstmals – in der deutschen Naturrechtslehre Gestalt. In dieser rechtsstaatlichen Bindung aller Hoheitsgewalt relativiert sich auch der Widerspruch zwischen den Grundsätzen des Großkanzlers und der Pointe seines Königs Friedrichs des Großen, daß nämlich „in Zukunft […] nach Meiner ordre und Vorschrift schlechterdings verfahren, keineswegs aber dabey Moyses und Propheten zu rathe gezogen werden sollen, als welche hier im Lande nichts zu suchen haben“.66
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Kabinettsordre v. 20.8.1751, zitiert nach Emil Friedberg, Beiträge zur Geschichte des Brandenburg-Preußischen Eherechts, in: Zeitschrift für Kirchenrecht 7 (1867), S. 56 ff. (100).
Die innere moralische Pflicht als obligatio perfectior externa in der Naturrechtslehre von Christian Thomasius
Gianluca Dioni
Diese Arbeit dreht sich um das so viel diskutierte Problem des Verhältnisses von Moral und Recht in Christian Thomasius’ Naturrechtslehre. Dabei soll gezeigt werden, daß der Hallenser Philosoph – obwohl er den ethischen vom rechtlichen Bereich trennt – dennoch von einer engen Verbindung dieser beiden ausgeht. Die Überlegungen zu diesem Problem, das in Thomasius’ gesamtem Werk eine Konstante darstellt, erfahren von den Institutiones seiner jungen Jahre bis zu den Fundamenta seiner Reifezeit eine erhebliche Entwicklung. In den Institutiones Jurisprudentiae Divinae1 unterscheidet Thomasius nämlich, hierin Grotius und Pufendorf folgend, das Naturrecht in jus perfectum und jus imperfectum.2 ___________ 1
Christian Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae, libri tres, in quibus fundamenta Juris Naturalis secundum Hypotheses illustris Pufendorffii perspicue demonstrantur, et ab objectionibus dissentientium, potissimum D. Valentini Alberti, professoris lipsiensis, liberantur, fundamenta itidem Juris Divini Positivi Universalis primum a Jure Naturali distincte secernuntur, et explicantur. Editio septima prioribus multo correctior, Halae Magdeburgicae 1720 (ND Aalen 1963). Historische Hinweise zum Werk von Christian Thomasius finden sich in: Rolf Lieberwirth, Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie, Weimar 1955. 2 Die von Thomasius in den Institutiones entfaltete Naturrechtslehre ist eng an die Pufendorfschen Auffassungen gebunden und führt daher zwar eine interessante, doch nicht in allen Punkten originelle Position vor. Die herausragendsten Ansätze dieses Werks zielen alle auf eine weltliche und säkularisierte Begründung des Rechts, wodurch „die Loslösungstendenz des Naturrechts von der Theologie, die der ganzen modernen Naturrechtslehre eigentümlich ist“, weitergeführt und vertieft wird. Hierzu vgl. Norberto Bobbio, Il diritto naturale nel secolo XVII, Turin 1947, S. 51–52: „Die zwei Grundmotive der Naturrechtslehre, die Trennung des Naturrechts von der Theologie und die Gründung des Naturrechts direkt auf der menschlichen Natur, sind in den Institutiones beide vorhanden [...]. Die Unterscheidung zwischen Theologie und Jurisprudenz gründet sich, wie bei Pufendorf, auf der Unterscheidung zwischen den Handlungen, die auf das jenseitige Leben ausgerichtet sind, und den Handlungen, die sich im diesseitigen Leben erschöpfen. Die Rechtssprechung zielt auf das zeitliche Glück, die Theologie auf das ewige. Hier sieht man nun, wie der Prozeß der Verweltlichung und Laisierung des
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Das Recht ist vollkommen, die facultas bei Grotius, wenn derjenige, der der Verpflichtung untersteht,3 mit Gewalt zu deren Befolgung gezwungen werden kann, und als unvollkommen, oder aptitudo, dagegen, wenn die Pflichterfüllung lediglich pudori ac conscientiae des Schuldners überlassen ist.4 Mit anderen Worten: In den Institutiones ist der Aspekt der Freiwilligkeit oder des Zwangs5 bei der Erfüllung der Pflicht das Kriterium zur Unterscheidung zwischen dem zwangsfreien moralischen und dem durch Erzwingbarkeit ausgezeichneten rechtlichen Bereich. Nach dem jungen Thomasius findet man nämlich im Naturrecht moralische Verpflichtungen ohne jede Zwangsgewalt neben ebenfalls moralischen Verpflichtungen, die dagegen mit vis cogendi ausgestattet sind.
___________ Rechts vollständig abgeschlossen ist. Man darf sich nicht davon trügen lassen, daß er von einer göttlichen Jurisprudenz spricht, der sein Werk Institutiones gewidmet ist. Diese göttliche Rechtsgelehrtheit steht der menschlichen Jurisprudenz entgegen, nicht bezüglich ihres Gegenstandes, der bei beiden die irdischen Handlungen des Menschen sind, sondern einzig bezüglich ihrer Quellen, da die erste sich auf die vom göttlichen Willen und die zweite auf die vom menschlichen Willen erlassenen Gesetze gründet“. Siehe auch Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim / New York 1971, S. 115–116: „Zwar ist ihm Grotius’ Differenzierung zwischen facultas und aptitudo seit langem geläufig, doch zieht er hier noch keine systematischen Konsequenzen daraus. [...] Innerhalb des Staates scheinen ihm vor allem die officia humanitatis ein bloß unvollkommenes Recht zu geben, nur durch pudor und conscientia gewährleistet, wenigstens in der societas aequalis [...]. [...] So bleiben die Naturrechtspflichten (wie auch die des jus divinum positivum universale) im Hinblick auf ihre rechtlichen und moralischen Aspekte noch weitgehend undifferenziert“; und schließlich Gioele Solari, La filosofia politica, Bari 1974, S. 292, der feststellt: „In den Institutiones fehlt eine deutliche Unterscheidung zwischen positivem göttlichen und menschlichem Recht, doch [man kann] schon hier die Tendenz [erkennen], das eine auf religiöse und moralische Sanktionen und das andere auf Einwirkung von außen zu gründen“. 3 Zum Begriff der Pflicht wird verwiesen auf Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg / München 1999, zu Thomasius S. 83–98. 4 „Jus dividitur in perfectum, quod Grotio facultas dicitur, et imperfectum, seu aptitudinem secundum eundem. Illud est, cujus vi alterum, qui obligationi suae non vult satisfacere, cogere possum ad implendum debitum. Hoc contra se habet et illius qui obligationem huic juri respondentem possidet, pudori ac conscientiae saltem relinquitur ejus adimpletio“, C. Thomasius, Institutiones (wie Anm. 1), liber I, caput I, § CIV, S. 20. 5 „Bereits in den Institutiones hatte Thomasius – in Übereinstimmung mit Pufendorf, aber auch in Anknüpfung an mittelalterliche Lehrtraditionen – das Zwangsmoment als Konstitutivum des Gesetzes bezeichnet“, Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, Wien / Köln / Graz 1979, S. 265.
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Im Bereich der Dreiteilung, die von Thomasius zwischen officia erga Deum, erga seipsum und erga alios6 vorgenommen wird, sind die ersten beiden Arten von Pflichten, d. h. die gegen Gott und gegen sich selbst, rein moralischer Natur. Man denke z. B. an die moralische Vorschrift, die die officia hominis erga seipsum begründet: „Conserva te, ut tranquillitatem communem promoveas“,7 oder, in der gleichen Kategorie von Pflichten, an die Regeln, die vorschreiben, daß die Pflege der Seele der des Körpers vorzuziehen ist,8 die Bildung des Willens der des Verstandes,9 oder auch an den Grundsatz, auf dem die eheliche Gemeinschaft beruht: „Ineundum esse matrimonium“.10 Doch es sind die officia erga alios,11 in denen sich die zitierte Dichotomie am deutlichsten zeigt. Der allgemeine Grundsatz solcher Pflichten, der die Wahrung der Gleichheit unter den Menschen vorschreibt,12 kann eine doppelte Verpflichtung erzeugen, und zwar ein jus perfectum, wenn man ihre Wirkung im Naturzustand betrachtet, und ein jus imperfectum, wenn sie dagegen mit Blick auf das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertan im Staat Anwendung findet.13 Es ist nun interessant zu beobachten, wie Thomasius bei der Analyse der Pflichten, die sich aus dem dritten Gebot der officia erga alios14 ergeben, wel___________ 6 Die Dreiteilung der Pflichten, die in den Institutiones dargelegt wird, stellt offensichtlich ein christlich-mittelalterliches Erbgut dar. Denn Thomasius behandelt, nachdem er die Pflichten erga Deum im ersten Kapitel des zweiten Buchs abgehandelt hat, die Pflichten erga seipsum und erga alios im zweiten und dritten Buch desselben Werks. Hierzu vgl. G. Hartung, Die Naturrechtsdebatte (wie Anm. 3), S. 83–84 und W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 97–116. 7 C. Thomasius, Institutiones (wie Anm. 1), liber II, caput II, § 7, S. 95. 8 „Culturam animae culturae corporis praefer“, ebd., § 14, S. 95. 9 „Culturam voluntatis praefer culturae intellectus“, ebd., § 15, S. 96. 10 Ebd., liber III, caput II, § IIIL, S. 304. 11 Thomasius, der die Pflichten den anderen Menschen gegenüber in speciales – sie bestimmen das Handeln eines Menschen in einer gegebenen Gesellschaft – und in communia unterteilt, unterscheidet letztere, die im Gegensatz zu ersteren in der von Raum und Zeit losgelösten menschlichen Natur liegen, noch weiter in absoluta vel connata und hypothetica vel acquisita, je nachdem, ob sie menschliche Vereinbarungen voraussetzen oder nicht. Vgl. ebd., liber II, caput III, §§ I–II, S. 114. 12 „Ex his itaque, quas hactenus diximus aequalitatibus, potissimum vero ex aequalitate juris oritur praeceptum generale, officia omnium hominum inter se dirigens: alium hominem tamquam aeque hominem tracta“, ebd., § 19, S. 116. 13 „Id tamen notandum, praeceptum nostrum inter eos, qui in statu naturali vivunt, plerumque mutuo producere jus perfectum, inter eos autem, qui vivunt in statu civili, illos, qui imperium habent, obligare saltem imperfecte“, ebd., § 26, S. 117. 14 „Tertium praeceptum speciale ex statu humanitatis et lege de custidienda aequalitate descendens, inter duo affirmativa vero primum est: alterius hominis utilitatem, quantum commode potes, promove“, ebd., caput VI, § 1, S. 128.
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ches die Beförderung der utilitas der Mitmenschen vorschreibt, den Begriff der summa neccessitas einführt, der das Wesen der Verpflichtung von jus imperfectum in jus perfectum auch im bürgerlichen Zustand umwandeln kann: „Inde ut perfecte quis obligetur, tria constituenda erunt requisita, ut is, qui officium humanitatis postulat, absque ejus consecutione sit interiturus, ut non aeque ab aliis hominibus possit ea, quae desiderat, consequi, ut is, a quo officium exigitur, non sit in pari necessitate constitutus; atque hoc est, quod supra diximus, summam necessitatem officia humanitatis mutare in jus perfectum“.15 Wie wir bisher gesehen haben, steht in den Institutiones die moralische Tugend nicht im Gegensatz, sondern neben der justitia im eng juristischen Sinne, eben weil sie „in sese virtutes continet omnes“.16 Mit anderen Worten: „die Jurisprudenz, die die Gerechtigkeit von Handlungen zu bestimmen versucht“, wird hier „offensichtlich noch ethisch verstanden, und die virtus moralis scheint sich ihrerseits ganz und gar in der Gerechtigkeit im weiten Sinn zu erfüllen“.17 Dieser Standpunkt wird in der reifen Lehre der Fundamenta18 weiterentwikkelt und verändert, die Thomasius’ originellere Beiträge zur Bestimmung des ___________ 15 Ebd., § 21, S. 130. Diejenigen Pflichten der Menschheit, die für das gesellschaftliche Zusammenleben unabdingbar sind, müssen notwendigerweise in erzwingbare juristische Pflichten umgesetzt werden. 16 Ebd., liber I, caput III, § LIX, S. 66–67. 17 W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 114. 18 Christian Thomasius, Fundamenta Juris Naturae et Gentium ex sensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia honesti, justi ac decori cum adjuncta emendatione ad ista fundamenta institutionum jurisprudentiae divinae, Halle 1705, ND der Ausgabe von 1718 Aalen 1963. In diesem Werk verwirklicht Thomasius „die Beseitigung des positiven göttlichen Rechts und die Bestimmung der Kategorie des Gerechten durch seine Unterscheidung von den verwandten Kategorien der Moral und der Wohlanständigkeit [...]. In dem neuen Werk macht er auch einen Schritt nach vorne auf dem Weg der Ausräumung jeglicher theologischer Überreste in der Rechtslehre und der immer deutlicheren Trennung zwischen dem, was zur Offenbarung und dem, was zur Vernunft und zu der menschlichen Welt gehört“, N. Bobbio, Il diritto naturale nel secolo XVII (wie Anm. 2), S. 56. Der gleichen Ansicht ist Felice Battaglia, der feststellt: „Obwohl in den Institutiones einige Aspekte des modernen Rechtsbegriffs ausreichend erfaßt worden waren und das Recht implizit von anderen ähnlichen Begriffen, z. B. der Moral, unterschieden worden war, blieb doch immer die Möglichkeit der Verwirrung in jenem gemeinsamen Bereich, den Thomasius dem Naturrecht und dem positiven göttlichen Recht zuerkennt, und schon allein in der Anerkennung eines positiven göttlichen Rechts, an das der Gesetzgeber sich anpassen muß, indem er es spezifiziert und bestimmt. Auf diese Weise erhielten viele rein religiöse Vorschriften Gesetzeskraft und konnten kraft öffentlicher Sanktionen durchgesetzt werden. Um diesen ‚toten Punkt‘ im Denken Thomasius’ zu überwinden, bedurfte es der Auslöschung des alten Begriffs des universalen positiven göttlichen Rechts und somit einer stärkeren Verfeinerung des Rechtsbegriffs in Unterscheidung von dem der Moral. Dies ist Gegenstand und Ergebnis der Fundamenta juris naturae et gentium“: Felice Battaglia, Cristiano Thomasio, filoso-
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Naturrechtsbegriffs, insbesondere zur systematischen Einordnung des praktischen Handelns, beinhaltet, das bekanntermaßen in die drei Bereiche honestum, decorum und justum gegliedert wird. In diesem Werk gründet Thomasius, der hier Pufendorf19 folgt, seine praktische Philosophie auf die obligatio „als ethische Bindung zu einem Zweck“.20 Recht wird dabei – wie es für die moderne deutsche Naturrechtslehre typisch ist – als ethisch-juristische Ordnung aufgefaßt, in der „jede Rechtsnorm im eigentlichen Sinne bindende Kraft, vis obligandi, hat, die zum Wesen des Rechts selbst gehört“.21 Wie wir sehen werden, vollbringt der Hallenser Philosoph, indem er die Unterscheidung zwischen vollkommener und unvollkommener Pflicht überwindet,22 das, was Bobbio als „sprachliche Läuterung“ definiert. Denn Thomasius „bestreitet nicht die Stichhaltigkeit der Unterscheidung zwischen jus perfectum et jus imperfectum (in dem Sinne, daß diese zwei verschie___________ fo e giurista, Rom 1936, S. 270. Vgl. hierzu C. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit (wie Anm. 5), S. 260–271; Hinrich Rüping, Theorie und Praxis bei Christian Thomasius, in: Christian Thomasius 1655–1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung, hrsg. v. Werner Schneiders, Hamburg 1989, S. 137–147; W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 268–281. 19 Die hier dargelegte These steht in diametralem Gegensatz zu den Ausführungen Welzels in: Hans Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1958, wo er bemerkt: „Mit überraschender Klarheit gelingt es hier Pufendorf, die Legalität von der Moralität zu trennen und damit das Recht im spezifischen Sinne von der Moral zu unterscheiden, weit schärfer und sachlich richtiger als später der wegen dieser Tat so gelobte Thomasius“, ebd., S. 55. Zu diesem Thema bemerkt Welzel weiter: „Thomasius löst Moral und Recht völlig voneinander ab, indem er dem Recht die ‚innerlich‘ oder sittlich verpflichtende Geltung des Wertes nimmt und ihm nur eine obligatio externa zugesteht, die auf der Furcht vor Zwang beruht […]. Eine derartige völlige Isolierung von Recht und Ethik ist übrigens bereits bei Grotius angedeutet“, ebd., S. 55, Anm. 14. Hans-Ludwig Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht. Quellenstudien zu seiner Geschichte, Berlin 1966, folgt Welzels Interpretation. 20 Vanda Fiorillo, Autolimitazione razionale e desiderio. Il dovere nei progetti di riorganizzazione politica dell’illuminismo tedesco, Turin 2000, S. 11. Vgl. hierzu auch Vanda Fiorillo, Politica ancilla juris. Le radici giusnaturalistiche del liberalismo di Wilhelm von Humboldt, Turin 1996, S. 14. 21 Karl Olivecrona, La struttura dell’ordinamento giuridico, ins Italienische übersetzt und hrsg. v. Enrico Pattaro, Mailand 1972, S. 67. Gegenteiliger Ansicht ist Hans Welzel, für den „die Naturgesetze […] echte Rechtsnormen [sind]; diesen Grundfehler der Naturrechtslehre übernimmt auch Pufendorf“, H. Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs (wie Anm. 19), S. 52. 22 Zu diesem Punkt vgl. C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput V, § XXIII, S. 150: „Patet porro, divisionem juris Grotianam in perfectum et imperfectum non bene se habere. Nam omne jus est perfectum et jus imperfectum non habet oppositam injuriam: jus imperfectum non ulterius tendit, quam ad ea, quae ab altero peto ex regulis decori, non justi“.
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dene Arten von Normen bestimmt), doch hält er es nicht für richtig, das sogenannte jus imperfectum als Recht zu bezeichnen, das die zu der Sphäre, die wir als ethische definieren können, gehörenden Normen bestimmt, und, daß im Gegenteil die Benennung ‚Recht‘ bloß dem jus perfectum zugeschrieben werden muß“.23 Entscheidend für Thomasius’ neues praktisches System ist also die Unterscheidung zwischen äußerer Pflicht, die sich aus dem jus perfectum ergibt, und innerer Pflicht, die dagegen aus dem jus imperfectum entsteht. Die Pflicht, die dem unvollkommenen Recht zuzuordnen ist, fällt dann mit einer inneren Verpflichtung zusammen, „quae est nobilissima obligationis species“.24 Der gemeinsame Fehler von Grotius und Pufendorf war der, daß die innere Pflicht „non fuerit distincta ab obligatione externa, sed sola haec posterior fere pro obligatione ventilata“.25 Anders gesagt: Indem Grotius und Pufendorf die moralische Verpflichtung als „unvollkommen“ bezeichneten, setzten sie diese im Vergleich zur spezifisch juristischen obligatio zu einer „geringeren“ Pflicht herab. Folglich definiert Thomasius, mit einer drastischen Umwälzung der bisherigen Naturrechtslehre, die moralische Verpflichtung dagegen als „nobilissima obligationis species“.26 Und, indem er sich weigerte, diese als imperfecta zu betrachten, erhob er sie, gerade weil sie als obligatio perfectior externa27 aufgefaßt wurde, zum Prototypen jeglicher Pflicht. Zusammenfassend kann man bemerken, daß für Thomasius die innere Verpflichtung das Modell der Pflicht schlechthin darstellt, da sie vollkommener als die äußere Verpflichtung ist, wie wir anhand einer vergleichenden Analyse von Thomasius’ Kategorien der Moral (honestum), der Wohlanständigkeit (decorum) und des Rechts (justum) feststellen können, die wir im folgenden vornehmen werden. Es ist diese sorgfältige Unterscheidung zwischen moralischer Pflicht und juristischer Pflicht, die es ermöglicht, die Dreiteilung des praktischen Handelns systematisch zu erfassen und den Fehler zu korrigieren, der nach Thomasius’ Ansicht den Doctores Scholastici und Pufendorf gemeinsam war, welche näm___________ 23 Norberto Bobbio, Il positivismo giuridico. Lezioni di filosofia del diritto, Turin 1996, S. 149–150. 24 C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), Caput Proemiale, § XI, S. 6. 25 Ebd. 26 Ebd., liber I, caput V, § XXIV, S. 150 (die kursive Hervorhebung stammt von mir). 27 „Nam nec datur obligatio imperfecta. Et cum obligatio interna sit perfectior externa, ea non potest dici imperfecta, haec perfecta“, ebd. Zu diesem Punkt vgl. auch C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput IV, § LXIII, S. 135: „Obligatio enim intrinseca inter stultos fere non habetur pro obligatione“.
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lich die Unterscheidung der Bereiche der Moral, der Sitten und des Rechts nicht zu einem soliden und schlüssigen System auszuarbeiten imstande gewesen waren.28 Kurz gefaßt, erneut der Interpretation Bobbios folgend29, äußert sich in der praktischen Philosophie, die in den Fundamenta dargelegt ist, das vollkommene Recht, das mit der Kategorie des justum zusammenfällt, als äußere Pflicht, während das unvollkommene Recht in interiore hominis (honestum) oder auch im gesellschaftlichen Bereich (decorum) Gestalt annehmen kann, indem es eine innere Verpflichtung schafft. Diese innere Verpflichtung regelt freilich nicht nur die Innerlichkeit des Individuums, sondern kann als Verhaltensnorm in die gesellschaftliche Sphäre eingreifen (da die moralische Verpflichtung die beiden praktischen Kategorien der Moral und der Wohlanständigkeit kennzeichnet). Auf diese Weise regelt das justum nur die zwischenmenschlichen Beziehungen, während das honestum die nicht erzwingbaren (inneren) moralischen Pflichten zum Gegenstand hat, die mit den officia erga seipsum und einem Teil der officia humanitatis30 zusammenfallen, d. h. mit denjenigen ethischen Pflichten nicht erzwingbarer Art, die von Thomasius als die „officia quae indefinite dicuntur praestari“31 bezeichnet werden. Schließlich bestimmt das decorum32 die Pflichten der gesellschaftlichen Schicklichkeit, die auch nicht erzwingbar sind, sondern von Neigungen wie der Dankbarkeit und dem Wohlwollen gegenüber den Mitmenschen angetrieben wer-
___________ 28 „Porro cum sine hac obligationis utriusque exacta differentia non possit accurate concipi differentia justi a decoro, vel etiam ab honesto, quae differentia tamen ad primaria capita disciplinae moralis pertinet, & Doctores Scholastici fere unanimiter justum & honestum confuderint, de decoro vero plane non cogitaverint; idem error & a me fuit commissus, praeprimis cum & Pufendorffius justum & honestum, seu jus naturae & doctrinam ethicam miscuerit“, ebd., Caput Prooemiale, § XII, S. 7. 29 Vgl. wieder N. Bobbio, Il positivismo giuridico (wie Anm. 23), S. 149–150. 30 Thomasius unterscheidet die officia humanitatis, zu denen man nach den Normen des „justum, sed honesti et decori, adeoque non posse cogi ad ea“ nicht verpflichtet ist, in vulgaria, deren Verletzung als inhumanitas betrachtet wird, und beneficia, welche die gratitudo des Mitmenschen zu erlangen trachten. Erstere, d. h. die vulgaria, zu denen wir die officia quae indefinite dicuntur praestari zählen können, gehören zur Kategorie des honestum, während die zweiten, die beneficia, die auf die gratitudo abzielen, zum Bereich der Wohlanständigkeit gehören. Zu diesem Punkt vgl. C. Thomasius, Institutiones (wie Anm. 1), liber II, caput VI, S. 127–135 und C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber II, caput VI, S. 217–219. 31 Ebd., liber II, caput VI, § VIII, S. 218. 32 Felice Battaglia unterstreicht, wie gerade das decorum das innovativste Element in Thomasius’ Lehre darstellt; dank dieser Kategorie „wird aus dem praktischen Dualismus der Naturrechtstradition eine Dreiteilung“, ders., Cristiano Thomasio, filosofo e giurista (wie Anm. 18), S. 226.
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den. Diese Pflichten sind also dazu geeignet, Freundschaftsbeziehungen zu fördern, indem sie mit einem anderen Teil der officia humanitatis übereinstimmen.33 Dies darf jedoch nicht den Eindruck einer strengen Spaltung zwischen den Sphären der Moral und der Wohlanständigkeit einerseits und dem rechtlichen Bereich andererseits erwecken, denn es ist gerade die enge Verbindung von honestum, decorum und justum34 und ihr gemeinsamer Ursprung in dem jus naturae35 – das somit zur „praktischen Kategorie par excellence“36 wird – die dazu führen, daß auch für die Fundamenta37 gilt, was Schneiders bezüglich der Institutiones bemerkt hat, nämlich daß Recht „offensichtlich noch ethisch verstanden“ wird.38 Aus der Lektüre der Fundamenta wird nämlich klar ersichtlich, daß die Bereiche des praktischen Handelns, auf einheitliche Weise begriffen,39 zu einem überwiegend didaktischen Zweck unterschieden werden, da der „sapiens in consulendo et imperando se applicat ad capacitatem stultorum neque iis consilia dat secundum ___________ 33
Vgl. oben Anm. 29. Thomasius geht sogar so weit zu behaupten: „Posses igitur sano sensu etiam dicere, et haec tria unum sunt!“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput VI, § XXXIII, S. 175. 35 All dies wird von Thomasius in seinen letzten Lebensjahren besonders deutlich und wirkungsvoll in seinen Lectiones de prudentia legislatoria ausgedrückt, wo es heißt: „Legem naturalem sumi generaliter pro omnibus regulis actionum moralium ex dictamine rectae rationis proficiscentium, seu pro omnibus dogmatibus moralibus, sive respiciant bonum internum, sive externum, sive regulas honesti, sive justi, sive officia hominis erga se ipsum, sive erga alios homines, sive determinent intuitu aliorum hominum bonum absolutum et malum absolutum, sive comparationem graduum inter res bonas et malas“, Christian Thomasius, Lectiones de prudentia legislatoria cum praefatione Gottlieb Stollii, Francofurti et Lipsiae 1740, caput V, §§ 124–125, S. 47. 36 Thomasius betrachtet das Naturrecht nicht mehr als juristische Kategorie, sondern als „die praktische Kategorie par excellence“, F. Battaglia, Cristiano Thomasio, filosofo e giurista (wie Anm. 18), S. 284; nicht zufällig wird das oberste Naturgesetz zur Norm, die jegliches praktische Handeln regelt, das sich für Thomasius im Rahmen der Dreiteilung von honestum, justum und decorum abspielt. 37 „Die Naturrechtslehre ist das Verbindungsglied zwischen Sitten- und Rechtslehre. Sie gibt die normativen Grundlagen für das positive Recht und verweist darauf, daß durch Rechtssetzung die moralischen Normen nicht veränderbar sind“, G. Hartung, Die Naturrechtsdebatte (wie Anm. 3), S. 96. Hierzu vgl. auch Lewis White Beck, Early German Philosophy. Kant and his predecessors, Cambridge 1969, S. 254. 38 W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 114–115. 39 „Neque tamen separanda haec tria, quia amica conspiratione natura sua unita sunt: quemcumque etiam respectum ex modo dictis attendas. [...] Sed postulat tamen methodi ratio, ut haec tria intime unita sapiens iterum mente separet; i.e. ut principia honesti, decori, justi distincte proponat, ne animum dicendi cupidum eorum confusione turbet“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput VI, §§ XXXVI–XXXIX, S. 176–177. 34
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capacitatem propriam“,40 und, in seiner Funktion als Seelenarzt, „ad palatum insipientis insinuabit medicinam universalem contra vitia universalia“.41 Genauer: Der Weise wird von Thomasius als derjenige dargestellt, der zunächst seine eigene Torheit erkennt und der, über seine normativen Einsichten und indem er mit Hilfe der Vernunft die drei Bereiche des Handelns unterscheidet, in der Lage ist, die von Natur aus törichten Menschen mit Rücksicht auf deren capacitates bei der Erkenntnis und der Umsetzung der praktischen Normen zu unterstützen. Der sapiens ist das normative Vorbild, dem zu folgen ist, eben weil er in seinem Handeln die drei praktischen Kategorien vereint, „neque enim sapiens est, qui non simul honeste, decore et juste vivit“.42 Anders ausgedrückt, muß „die ‚norma actionum humanarum‘ […] den Narren, da sie von ihnen nicht gefunden werden kann, gegeben werden. Und dies ist die Aufgabe des Weisen“.43 Unter diesen Voraussetzungen kann sich der Mensch bei Thomasius in seinem praktischen Handeln an die Vorschriften der Dreiteilung halten, indem er moralische Handlungen ausführt, die den Grundsätzen des honestum entsprechen, schickliche Handlungen ausübt, die der Kategorie des decorum eigen sind, und gerecht handelt, indem er die juristischen Normen des justum nicht verletzt. Erstere zielen auf das Erreichen des inneren Friedens, d. h. die Mäßigung und Beherrschung des störenden Einflusses der drei concupiscentiae primae;44 die schicklichen Handlungen dienen dagegen dem Erreichen des äußeren ___________ 40
Ebd., caput IV, § XLVI, S. 132. Ebd., caput VI, § XXXIII, S. 175. 42 Ebd., caput IV, § XCI, S. 141. 43 W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 256. Zu dem Begriff des Weisen als ‚Normgeber‘ vgl. auch Frank Grunert, Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2000, S. 208–217; und Klaus-Gert Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 121–128. 44 Bezüglich der Mäßigung der passiones voluntatis (voluptas, ambitio und avaritia) als Mittel zur emendatio des Menschen auf dem Weg zur sapientia rät eine Vorschrift aus der Kategorie des honestum: „Fugies occasiones quae irritant cupiditates tuas, quaeres occasiones, quae eas supprimunt“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput VI, § XLVIII, S. 178. Zu Thomasius’ Affektenlehre wird verwiesen auf Georg Braungart, Sprache und Verhalten. Zur Affektenlehre im Werk von Christian Thomasius, in: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, hrsg. v. Friedrich Vollhardt, Tübingen 1997, S. 365–375; K.-G. Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff (wie Anm. 42), S. 103–120; W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 211–214; und Friedrich Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von 41
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Friedens, d. h. dem Streben nach dem Wohlwollen und der Freundschaft des Mitmenschen; die Handlungen, die die Vorschriften des justum durch Unterlassen von Handlungen, die die politische Ordnung stören könnten, befolgen, vermeiden schließlich das Verderben der gesamten Menschheit.45 Der Weise, bei dem Versuch diese drei Ziele zu erreichen, „non poterit promiscue uti consilio et imperio, sed considerare debet gradus stultitiae“.46 In diesem Zusammenhang sind für Thomasius extreme stulti diejenigen, die die Freiheit anderer beeinträchtigen und deswegen der Disziplinierung durch das sich auf Zwang stützende imperium bedürfen.47 Medii in stultitia sind diejenigen, die, obschon sie den äußeren Frieden nicht stören, ihr Handeln nicht nach den Grundsätzen der Wohlanständigkeit ausrichten, während diejenigen infimi in stultitia sind, die nach den Normen des justum und des decorum handeln und gleichwohl deswegen unmoralisch sind, weil sie ihre Affekte nicht mäßigen können.48 Aus Thomasius’ Sicht verhindern die Regeln des justum das malum summum, das die Ursache von Haß und Krieg ist,49 die des decorum das malum medium, das zwar nicht selbst extremen Haß erzeugt, doch eine Vorstufe dazu darstellen kann, während die Vorschriften des honestum das malum infimum verhindern, das die utilitas publica nicht beeinträchtigt.50 Insofern fördern, vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, die Normen des justum das „bonum infimum, quia parum juvat, nullos habere inimicos, si ___________ naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001, S. 170–196. 45 „Porro cum stulti actionibus suis indicent, iis deesse quietem internam, adeoque non aptos esse eos ad procurandam aut conservandam quietem externam, sed potius ipsosmet ansam dare ad turbationem quietis externae, ideo patet, quod sapientis norma, intendens stultos ab infelicitate ducere ad felicitatem, ad tria summa capita respiciat; ad acquirendam quietem internam, hoc est, ad moderandas stultitias concupiscentiarum trium primarum; ad procurandam quietem externam actionibus pacificis; ad evitandam turbationem quietis externae omissione actionum pacem turbantium“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput IV, § LXXIII, S. 137; und: „Regulae justi magis sunt necessariae, quia sine iis genus humanum interiret“, ebd., caput VI, § LXXIX, S. 185. 46 Ebd., caput IV, § LXXIV, S. 138. 47 Vgl. ebd., §§ LXXV–LXXVI, S. 138. 48 Ebd. 49 „Vornehmstes Ziel des Rechtes ist es, jenen status pacis voll zu verwirklichen und zu erhalten. Als unentbehrliches Mittel hierzu dient der äußere Zwang, der die Durchsetzbarkeit des ius positivum garantiert“, C. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit (wie Anm. 5), S. 267. 50 Vgl. C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput VI, § LXXII, S. 183–184.
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non sint et amici“.51 Die Grundsätze des decorum fördern ein „bonum medium, quia ostendunt, quomodo parandi sint amici. Sed hoc tamen bonum nondum est summum. Nam quid juvat habere amicos, si inimicus summus intra cor nostrum lateat“52; die Regeln des honestum führen umgekehrt zu einem „bonum summum, quia monstrant, quomodo fons omnis stultitiae sit mutandus in fontem sapientiae“.53 Aus Thomasius’ Dreiteilung des bonum in summum, medium und infimum geht hervor, daß die menschlichen Handlungen als gut bezeichnet werden können, wenn sie nach dem inneren Frieden streben, und als schlecht, wenn sie den äußeren Frieden stören. Sie befördern ein mittleres Gut, wenn sie ohne die äußere Ordnung zu verletzen, diese doch nicht ausreichend fördern, oder wenn sie sich beim Streben nach äußerem Frieden nicht angemessen um den inneren Frieden sorgen.54 Genauer gesagt, in Thomasius’ Naturrechtslehre schaffen die Normen des honestum und des justum – indem sie die für das individuelle und gesellschaftliche Leben notwendigen Handlungen in der doppelten Sphäre der Moral und des Gerechten regeln – jeweils den inneren Frieden, die ‚Gemütsruhe‘ und den gesellschaftlichen Frieden. Daher kommt diesen gegenüber den Vorschriften des decorum eine größere Bedeutung zu, die sich mit den Pflichten befassen, welche das gesellschaftliche Leben besser und angenehmer gestalten sollen und daher die mittleren Handlungen regeln.55 ___________ 51
Ebd., § LXXIII, S. 184. Ebd. 53 Ebd. 54 „Fluit etiam ex dictis distinctio actionum in bonas, malas et medias. Extreme bonae sunt, quae tendunt ad acquirendam pacem internam, extreme malae, quae turbant pacem externam, mediae, quae quidem non turbant pacem externam, nec tamen eam promovent, vel quae etiam quaerunt pacem externam, sed sine debita cura internae“, ebd., caput IV, § LXXXVII, S. 141. 55 „Der Wohlanständigkeit kommt also eine komplexe Bedeutung zu: an sich ist sie kein Gutes, denn das wahre Gute ist nur das innere Glück, das man durch die vernünftige Liebe erreicht, und sein Fehlen kann daher das Erreichen der sittlichen Vollkommenheit und den Genuß der ungetrübten inneren Tugend nicht beeinträchtigen; trotzdem, aufgrund der Umstände, in denen sich die Menschen befinden, die von der Erbsünde verdorben wurden und Gesellschaft suchen müssen, kann das Fehlen von Wohlanständigkeit indirekt den inneren Frieden stören oder die Erreichbarkeit dieses Zieles einschränken und ist somit in der Lage, das Erlangen des Glücks zu beeinflussen. Die Wohlanständigkeit muß also indifferent sein, jedoch auch ein etwaiges Gutes in sich tragen und ist daher doppelter Natur: von Gutem und Nicht-Gutem gleichzeitig. Auf diese Weise müssen wir die Existenz eines indifferenten Bösen und eines indifferenten Guten annehmen“, Merio Scattola, Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna, Mailand 2003, S. 477. Zum decorum zwi52
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Dennoch hat das decorum mit dem honestum gemeinsam, daß es nicht erzwingbar ist,56 denn beide „dirigantur a virtute in genere, et ab iis homo dicatur virtuosus, non justus“.57 Die beiden Kategorien unterscheiden sich dagegen dadurch, daß das decorum ausschließlich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen bezogen ist, während das honestum sich vor allem im Inneren des Menschen vollzieht. „Scilicet decorum est qualitas moralis actionis humanae, secundum quam homo cum ratione intendit sibi amicos parare“. Daher, schließt Thomasius, „extra societatem non est accurata denominatio decori et indecori“.58 Die allgemeine Regel des decorum schreibt vor, sich den anderen gegenüber so zu verhalten, wie wir erwarten, daß die anderen sich uns gegenüber verhalten,59 und enthüllt so das Kennzeichen von gesellschaftlicher Tugend, die diesem Begriff eigen ist. Innerhalb des decorum unterscheidet Thomasius weiterhin allgemeine Prinzipien, die der gesamten Menschheit gemeinsam sind, die von ihm als decorum juris naturalis bezeichnet werden, von den Prinzipien des decorum politicum. Der Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Wohlanständigkeit gründet, neben der Unwandelbarkeit, die nur die Vorschriften des decorum juris naturalis kennzeichnet, darauf, daß letzteres den Menschen in dem allgemeinen Zustand der natürlichen Gleichheit betrachtet,60 während das decorum politicum ___________ schen justum und honestum vgl. auch K.-G. Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff (wie Anm. 42), S. 133–139. 56 „An ergo jus saltem ex regulis justi oritur, uti videtur ex terminis, an etiam ex regulis decori? Sane regulae decori etiam respiciunt hominem in relatione ad alium hominem. Sed nihilominus ad decorum nemo cogi potest, et si cogetur, amplius decorum non est. At vero obligatio juri correspondens semper externa est, metuens coactionem aliorum hominum. Ergo jus etiam non oritur ex regulis decori“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput V, § XXI, S. 149. 57 Ebd., § XXV, S. 149. 58 Christian Thomasius, Cautelae circa Praecognita Jurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani, Halle 1710, caput XV, §§ IX–XXV, S. 238–242. 59 „Quod vis ut alii tibi faciant, tu ipsis facies“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput VI, § XLI, S. 177. 60 Zu diesem Punkt vgl. C. Thomasius, Institutiones (wie Anm. 1), liber II, caput III, § XXII, S. 116–117: „Non confundere autem cum ea, quam hactenus exposuimus, aequalitate debemus aequalitatem libertatis seu potestatis, per quam hactenus omnes homines naturaliter ita aequales intelliguntur, quod citra antegressum factum aut pactum humanum nemo potestatis quid in alterum habeat, sed quilibet suarum actionum et virium sit moderator“; C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput V, § XII, S. 149: „Juris connati exemplum est libertas et communio primaeva. Acquisiti imperium et dominium“.
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vom Menschen als einem Wesen ausgeht, das in eine bestimmte historische Zeit und in eine bestimmte politische Gesellschaft eingefügt ist,61 die natürlich eine Rangordnung von Herrschern und Beherrschten mit sich bringt.62 Mit Blick auf das decorum politicum läßt sich behaupten, daß dieses relativiert wird, da es infolge seiner Anpassung an die Vielgestaltigkeit des menschlichen Handelns geschichtlichen Veränderungen unterworfen ist. Das decorum politicum scheint bei Thomasius daher nicht unerhebliche Ähnlichkeiten mit den Rechtsgebilden des hypothetischen jus naturae aufzuweisen, die von Samuel Pufendorf erarbeitet wurden.63 Es gelingt Thomasius also, die Hauptvorschriften des decorum juris naturalis festzulegen, obwohl er die Schwierigkeiten bei der Einordnung der Grundsätze der Wohlanständigkeit hervorhebt, die auf die unendlich vielen Unterschiede der menschlichen Natur64 ebenso zurückzuführen sind, wie auf die erhebliche Willkür, die hinsichtlich der gesellschaftliche Bräuche herrscht.65 Diese am Prinzip der socialitas inspirierten Hauptvorschriften des decorum juris naturalis sind auf die Förderung des gesellschaftlichen Lebens in all seinen Beziehungen ausgerichtet und implizieren – im Gegensatz zum justum, das durch den Zwangscharakter seiner Normen gekennzeichnet ist – die Freiwilligkeit der an den Mitmenschen gerichteten Handlung. Dies ist z. B. der Fall bei der Vorschrift, die befiehlt „remittes sponte de jure tuo. Hoc est, praestabis indigentibus, ad quae jure cogi non poteris, condonabis, si opus sit, ad quae jure cogere poteras alios. [...] Abstinebis ab actionibus etiam justis et licitis, si sentias, illis aliorum passiones irritari“.66 ___________ 61
Vgl. C. Thomasius, Cautelae (wie Anm. 57), caput XV, § XI, S. 239. In der Naturrechtslehre der Neuzeit wird die Ungleichheit unter den Menschen endgültig durch die politische Gesellschaft eingeführt. Zu diesem Punkt vgl. C. Thomasius, Institutiones (wie Anm. 1), liber II, caput III, § XXIII, S. 117: „Haec enim aequalitas non est inter omnes homines, sed eos saltem, qui vivunt in statu naturali“. 63 Zum hypothetischen oder bedingten Naturrecht bei Pufendorf vgl. Vanda Fiorillo, Tra egoismo e socialità. Il giusnaturalismo di Samuel Pufendorf, Neapel 1992, S. 201– 212. 64 „In eo homo a bestiis quam maxime differt, ut cum illae, si congeneres sint, vultum habeant proportione membrorum ac figura et situ simillimum, homines contra habeant facies ita dissimiles, ut pro miraculo habeatur, si duorum hominum facies conveniant omnino. Quinimo crediderim, numquam talem duarum facierum convenientiam exstitisse, ut vel ex faciebus ipsis homines non potuerint dignosci a valde attentis et familiari conversatione illorum utentibus“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput I, § CIX, S. 57. 65 „Regulae decori respiciunt diversos gradus bonitatis et malitiae intermediae, qui infiniti sunt“, ebd., caput V, § XLVIII, S. 155. 66 Ebd., caput VI, §§ LVI–LX, S. 179–180. 62
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Wie man aus dieser Feststellung erkennen kann, geht der Mensch bei Thomasius sogar so weit, auf die eigenen subjektiven Rechte zu verzichten, „ut vitam cum aliis tranquillam promoveas“.67 Man kann daher feststellen, daß „das decorum […] jene gesellschaftlichen Beziehungen leitet, die nicht zwingend sind, d. h. die gesellschaftlichen Beziehungen von gegenseitigem Nutzen, das tägliche Beziehungsleben, die kollektiven Sitten“.68 „Quod vis, ut alii sibi faciant, tute tibi facies“69 ist dagegen das allgemeine Prinzip, das die Kategorie des honestum regelt. Diese Kategorie, welche „non semper supponit alios homines“,70 regelt das menschliche Handeln mit Blick auf den inneren Frieden, der von Thomasius als das höchste Gut71 betrachtet wird. Die für das Verhalten des sapiens kennzeichnende Kategorie des honestum ist so vom justum unterschieden, denn als spezifisch juristische Grundsätze stellen die dem justum zugehörigen Normen das ‚Heilmittel‘ gegen das größte Übel – die Störung des gesellschaftlichen Friedens – dar.72 Man kann daher behaupten, daß die Zielsetzungen der Moral und des Rechts die gleichen sind, auch wenn sich die ersteren vor allem im Inneren des Individuums vollziehen, die anderen dagegen im sozialen Leben. Denn den innerlichen und den gesellschaftlichen Zielen liegt das gleiche Motiv zugrunde, nämlich Frieden. Und diese beiden Zielsetzungen sind eng miteinander verbunden, da der innerliche Frieden des Einzelnen ohne den äußeren für Thomasius nicht aufrechtzuerhalten ist. Deshalb liegt der grundlegende Unterschied zwischen honestum und justum ausschließlich im Zwang, mit dem das positive Recht versehen ist, denn „lex coercet eos, qui ratione tranquilla carent, et aliorum rationem irritant“.73 ___________ 67
C. Thomasius, Institutiones (wie Anm. 1), liber II, caput II, § VII, S. 95. F. Battaglia, Cristiano Thomasio, filosofo e giurista (wie Anm. 18), S. 228. 69 C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput VI, § XL, S. 177. 70 Ebd., caput V, § XVIII, S. 149. 71 Es ist wichtig hervorzuheben, daß das Erreichen des höchsten Guten durch die moralischen Vorschriften des honestum für Thomasius unauflöslich mit einer beständigen und fortdauernden Beziehung zu den Mitmenschen verbunden ist, da „die vernünfftige Liebe anderer Menschen das einzige Mittel sey zu der wahren Gemüts-Ruhe zu gelangen“, Christian Thomasius, Einleitung zur Sittenlehre, Halle 1692 (ND Hildesheim 1968), Hauptstück 4, § 60, S. 187–188. 72 „Das honestum zielt auf den inneren Frieden und regelt die inneren Handlungen, das justum zielt auf den äußeren Frieden und regelt die äußeren Handlungen“, W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 2), S. 275. 73 C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput V, § XL, S. 153. 68
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Hier kennzeichnet Thomasius – indem er dabei Wolffs Thesen vorwegnimmt74 – das Gesetz als Zwangsmittel, das auf diejenigen angewendet werden kann, die keinen richtigen Gebrauch von ihrer Vernunft machen und somit den ordentlichen Ablauf des kollektiven Lebens beeinträchtigen.75 Die officia hominis erga seipsum76 und einen Teil der officia humanitatis77 mit der praktischen Kategorie des honestum zusammenfallen zu lassen, bedeutet also, die moralische Handlung auf die menschliche Vernunft zu gründen und gleichzeitig das Merkmal der Nicht-Erzwingbarkeit der inneren Verpflichtung hervorzuheben. Auch aus historisch-politischen Gründen unterstreicht Thomasius die Merkmale der Innerlichkeit und der Nicht-Erzwingbarkeit des moralischen Handelns. Denn „während die Kirche [gleich welcher Konfession] die Ethik auf gesetzlichen Konformismus reduziert hatte, um sie einfacher dem äußeren Zwang zu unterwerfen, und die Reaktion Pufendorfs, mit dem Dualismus von forum internum und forum externum am Ende im Inneren des Individuums nur die religiösen Vorschriften übrig gelassen hatte, um die Moral ganz der öffentlichen Gewalt auszusetzen, wodurch sie von außen erzwingbar geworden war, will Thomasius eine im wesentlichen individuelle Moral, die der Zwangsgewalt sowohl der Kirche als auch des Staates entzogen ist“.78 ___________ 74 Christian Wolff unterscheidet die moralische Führung durch die Vernunft, die in der Deutschen Ethik (Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, Halle 1720) behandelt wird, von der politischen Führung durch Zwang, der für die „Unvernünfftigen“ notwendig ist und von dem in der Deutschen Politik (Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen, Frankfurt / Leipzig 1736) die Rede ist. 75 „Das Recht steht da mit seiner Existenz, uns von einem ‚Versagen‘ zu sprechen; es ist das Zeichen einer ‚Niederlage‘. Die Unausweichlichkeit des Rechts hebt die ‚endliche‘ Struktur des ‚Mensch-Seins‘ hervor“, Antonio Villani, Christiano Thomasius, illuminista e pietista, Neapel 1997, S. 91. 76 „Nam jam supra monitum, quod officia hominis erga se ipsum nonnisi per longas ambages deducantur ex socialitate. Proprius et magis sensibiliter deducuntur ex principiis honesti“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber II, caput II, § II, S. 209. 77 „Ad officia humanitatis homines non obligari ex regulis justi, sed honesti et decori, adeoque non posse cogi ad ea“, ebd., caput VI, § IV, S. 217. 78 F. Battaglia, Cristiano Thomasio, filosofo e giurista (wie Anm. 18), S. 232. Hinsichtlich Battaglias Standpunkt in Bezug auf Pufendorf muß jedoch angemerkt werden, daß bei diesem Naturrechtler die Notwendigkeit, die moralisch-sittlichen Pflichten, d. h. die officia humanitatis seu charitatis, erzwingbar zu machen, von der bitteren Feststellung des Mangels an Vernunft im Menschen herrührt, der die Erfüllung dieser Pflichten „ex sola humanitatis lege“ unsicher macht. Zu diesem Punkt vgl. V. Fiorillo, Tra egoismo e socialità (wie Anm. 62), S. 169–195.
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Der Prozeß der Verinnerlichung des honestum wird also zum Mittel, um die Unverletzbarkeit und Nicht-Erzwingbarkeit der moralischen Sphäre zu behaupten.79 Auch wenn sich bei Thomasius das honestum auch in äußeren Handlungen niederschlägt, wobei es, wie wir gesehen haben, einen Teil der officia humanitatis umfaßt, kann man dennoch feststellen, daß bei diesem Denker die Moral vorherrschend subjektiv und innerlich ist, eben weil sie nicht erzwingbar ist und umgekehrt. Somit bemüht sich Thomasius darum, das Innere des Menschen gegen die Zwangsbefugnisse jeglicher äußeren Autorität – sei es die der Kirche oder die des Staates – abzuschirmen.80 Dieser Ansatz, der die Moral in der Freiwilligkeit und nicht im Zwang wurzeln läßt, kennzeichnet die gesamte Entwicklung von Thomasius’ Lehre, von den Institutiones bis zu den Fundamenta, und prägt auch das strafrechtliche Denken des Naturrechtlers.81 In der Tat wird schon in den Institutiones die Strafbarkeit der inneren Handlungen ausgeschlossen, auch wenn sie Dritten zur Kenntnis gelangt sind: „Inde poenis humanis regulariter eximuntur actus mere interni, i.e. cogitatio delectabi___________ 79
Hierzu bemerkt Christoph Link: „Es zeigte sich, daß der staatsrechtliche Absolutismus, sollte er nicht in eine unerträgliche geistige Tyrannei einmünden, eines korrigierenden und limitierenden Prinzips bedurfte, das seinen grundsätzlichen Totalitätsanspruch auch im Bereich des Geistigen (un roi – une loi – une foi!) zu begegnen imstande war: Der Ausklammerung der religiösen Direktionsbefugnis aus dem Staatszweck. Das Grundrecht der Religionsfreiheit rückte in den Rang einer fundamentalen staatstheoretischen Maxime auf“, C. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit (wie Anm. 5), S. 262. 80 Folglich „ist [Thomasius’] Einsatz für die Schaffung einer neuen kulturellen Identität, die sich von der scholastischen Philosophie und Theologie emanzipiert hat, die sich um die konkrete Erfahrung des Menschen dreht und auf eine Veränderung des gesellschaftlichen Lebens und eine entschiedene Toleranz ausgerichtet ist, in einen europäischen Zusammenhang eingebunden“, Francesco Tomasoni, Christian Thomasius. Spirito e identità culturale alle soglie dell’Illuminismo europeo, Brescia 2005, S. 15. Zu diesem Thema vgl. Georges Gusdorf, Les sciences humaines et la pensée occidentale, Paris 1972, Bd. V, S. 408, der feststellt: „L’homme revendique son autonomie dans un univers où, de plus en plus, il se reconnaît comme le maître des significations. [...] L’homme ne prend forme que dans la mesure où il fixe lui-même la figure de sa propre réalité“. Vgl. auch: Gerard Simson, Einer gegen alle. Die Lebensbilder von Christian Thomasius, Georges Picquart, Cesare Lombroso, Henri Dunant, Fridtjof Nansen, München 1960, S. 10–17. 81 Zu Thomasius’ Strafrechtstheorie vgl. Mario A. Cattaneo, Delitto e pena nel pensiero di Christian Thomasius, Mailand 1976; und ders., Alcune riflessioni sul problema penale nel pensiero di Christian Thomasius, in: Il diritto naturale della socialità. Tradizioni antiche ed antropologia moderna nel XVII secolo, Akten der Internationalen Tagung, Neapel 24.–25. Oktober 2003, hrsg. v. Vanda Fiorillo / Friedrich Vollhardt, Turin 2004, S. 161–171.
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lis de peccato aliquo, cupiditas, desiderium, destinatio citra effectum; etsi postea per subsequentem confessionem ad notitiam aliorum perveniant. Nam cum ejusmodi motu interno nemini noxa inferatur, nullius quoque hominis interest, ut ob eundem quispiam puniatur“.82 Thomasius schließt so die juristische Relevanz innerer Handlungen aus, die dank ihres moralischen Wertes von äußerem Zwang weder erreicht, noch geregelt werden können. Dies vermag gleichwohl das consilium des Weisen, das dem Toren den Weg zur Tugend aufzeigt.83 Und eben weil das consilium nur unter denjenigen ausgetauscht wird, „qui sunt pares“,84 da es sich der Überzeugungskraft und nicht des Zwangs bedient,85 herrscht im moralischen Bereich ein Zustand der Gleichheit86. In dieser Hinsicht unterscheidet sich dieser Bereich vom rechtlichen, in dem dagegen „imperium absque superioritate concipi nequit“.87 Unter solchen Voraussetzungen unterscheidet sich die moralische Pflicht von der juristischen so wie das consilium vom imperium. Das consilium bezieht sich bei Thomasius ausschließlich auf den Nutzen des Empfängers, während das imperium entweder auf den gemeinsamen Nutzen abzielt, wie z. B. das „imperium maritale“, oder auf den Nutzen dessen, der den Befehl ausspricht, wie im Falle des „imperium dominicum“.88 Auch aus diesen Gründen ist es unangemessen, die obligatio interna als eine von jeglicher Verbindlichkeit freie Pflicht zu betrachten: „Et adeo falsum est, vel certe non recte exponitur“, bemerkt Thomasius, „quod communiter dicitur, consilium non habere vim obligandi“.89 Es ist eindeutig, daß für Thomasius – der sich hierin der vorherrschenden Ausrichtung der deutschen Naturrechtslehre ___________ 82
C. Thomasius, Institutiones (wie Anm. 1), liber III, caput VII, § CIII, S. 424. „Regulae honesti procurant bonum summum, quia monstrant, quomodo fons omnis stultitiae sit mutandus in fontem sapientiae“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput VI, § LXXIII, S. 184. 84 Ebd., caput IV, § LI, S. 133. 85 Denn nach Thomasius gilt, daß derjenige, der Ratschläge erteilt, „intendit persuadere, nec vim habet cogendi“, ebd., § LV, S. 134. 86 „Consilium est inter eos, qui sunt pares“, ebd., § LI, S. 133. 87 Ebd. 88 Vgl. ebd., § L, S. 133: „Differt consilium stricte dictum ab imperio, quod illud semper respicere debeat; primario ad utilitatem consilium quaerentis, (etsi stulti communiter respiciant primario utilitatem propriam) imperium vero etiam ex natura negotii et non insipienter partim respicere soleat primario utilitatem parentis, ut imperium paternum, partim utilitatem communem, ut imperium maritale, partim utilitatem imperantis, ut imperium dominicum“. 89 Ebd., § LIX, S. 135. 83
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anpaßt – die obligatio interna zwar von der nur die juristische (äußere) Pflicht kennzeichnenden vis cogendi frei ist,90 nicht aber von der vis obligandi, d. h. von einer Verbindlichkeit moralischer Art. Wie wir bereits gesehen haben, ist die innere Pflicht sogar die edlere Art der Verpflichtung, da sie dem Verhalten des Weisen eigen ist, d. h. demjenigen, der des äußeren Zwangs nicht bedarf, welcher die Anwendung des positiven Rechts auf dem Weg zur emendatio begleitet. Denn der sapiens kennt die Normen, die den gesellschaftlichen Frieden wahren, und ist daher in der Lage, sie auf sein eigenes Handeln anzuwenden. Im Zusammenhang dazu faßt Thomasius die Moral als eine Gesetzgebung auf, die nur in einer Gesellschaft gültig sein kann, deren Mitglieder imstande sind, den Vorschriften der recta ratio91 zu folgen und damit die Zwangsfunktion des Staates überflüssig machen.92 Auf dieser Grundlage paßt der Weise, im Gegensatz zu den ‚Toren‘, das eigene Verhalten den consilia bzw. den mit ihrer Hilfe kommunizierten Normen an, ohne sich den mit imperium versehenen Normen unterwerfen zu müssen, da er die von der inneren Verpflichtung abgeleiteten Gebote gegenüber denen, die von äußerem Zwang herrühren, als gewichtiger betrachtet.93 Zusammengefaßt ist hier offenkundig, daß Thomasius’ Naturrechtslehre, dank der Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Verpflichtung, die sich in der Gliederung der praktischen Kategorien (honestum, decorum und justum) widerspiegelt, eine von den Stoikern inspirierte Duplizität impliziert,94 die dem Be___________ 90 „Per vim cogendi hic intelligitur stricte potestas insipienti inferendi dolorem sensibilem, dependentem ab arbitrio inferentis“, ebd., § LVII, S. 134. 91 „Obligatio sapientis magis interna est. […] Sapientes magis consilio reguntur“, ebd., §§ LXIV–LXV, S. 135–136. 92 Vgl. L.W. Beck, Early German Philosophy. Kant and his predecessors (wie Anm. 37), S. 254: „The goals of morality and law are the same: the moral ideals for happiness and peace of mind become, in law, those of general happiness and external peace“. 93 „At sapiens obligationem internam habet pro nobilissima specie, quia timet malum necessarium et sperat bonum necessarium. Unde et obligatio sapientis magis interna est, quam externa. [...] Stulti magis imperio, sapientes, i.e. etiam ii, qui sapere incipiunt, magis consilio reguntur“, C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput IV, §§ LXIV–LXV, S. 135–136. 94 „Schon bei Zenon zeichnet sich […] eine innere Duplizität des Begriffs kathèkon ab: einerseits das, was schicklich, angemessen, den Lebewesen im allgemeinen eigen ist (die ‚Pflicht‘), andererseits das, was dem Menschen eigentümlich ist, und zwar dem Weisen als dem einzigen Wesen, das imstande ist, die Tugend in die Tat umzusetzen. Diese Art von ‚Pflicht‘ wäre das tèleion kathèkon, die ‚vollkommene Pflicht‘, die einen ersten weiteren Schritt hin zum Begriff der ‚Pflicht‘, wie wir sie verstehen, darstellt, voll von ethischer Bedeutung. Der wesentliche Unterschied in Bezug auf den Menschen würde, etwas vereinfacht ausgedrückt, der typisch stoischen Dichotomie Narr/Weiser entsprechen: während die einfache ‚Pflicht‘ die zweckgemäße ‚schickliche‘ Handlung wäre, die auch vom Narren ausgeführt werden könnte, wäre die ‚vollkommene Pflicht‘
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griff der Pflicht selbst innewohnt, und zwar der Gegensatz zwischen dem moralischen Gebot, das alle Menschen zu befolgen imstande sind, und dem, das ausschließlich dem Weisen eigentümlich ist. Diese letztere dem sapiens eigene Art der Pflicht, die als vollkommen angesehen werden kann, ist durch ihre große ethische Bedeutung gekennzeichnet, da „während die einfache Pflicht die zweckmäßige, ‚schickliche‘ Handlung [darstellt], die auch von dem Narren durchgeführt werden kann, [ist] die vollkommene Pflicht [nur] diejenige, der der Weise bewußt und nicht unter Zwang nachkommt“.95 Unter diesen Voraussetzungen fällt bei Thomasius – der feststellt: „Virtus est sui ipsius praemium: vitium est sui ipsius poena“96 – der freie und freiwillige ethische Bereich, gerade weil er von jeglichem äußeren Zwang unabhängig ist, mit dem Gebiet der „vollkommenen“ Pflichten zusammen. Damit nimmt Thomasius die deutschen Utopien des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts von einer Gesellschaft ohne Staat vorweg, d. h. von einer Gesellschaft, die sich selbst einzig und allein durch eine moralische Gesetzgebung regelt und daher das Zwangseingreifen der politischen Einrichtungen überflüssig macht. Die bekannteste dieser Utopien ist sehr wahrscheinlich jener „ethische Staat“, jenes „Reich der Tugend“, das Kant in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft97 behandelt. ___________ diejenige, die der Weise bewußt und nicht unter Zwang erfüllen würde. Für diese zweite Art von Pflicht wurde erst mit der weiteren Entwicklung der stoischen Lehre, mit Krysipp, der neue Ausdruck katòrthoma eingeführt“, Luca Fonnesu, Dovere, Florenz 1998, S. 10. Zu den antiken Stoikern vgl. Stoici antichi, hrsg. v. Margherita Isnardi Parente, Turin 1989; zum Begriff der Pflicht siehe neben dem bereits zitierten Luca Fonnesu auch Claudio Bonvecchio, Apologia dei doveri dell’uomo, Mailand 2002, S. 41–42; Giulio M. Chiodi, Precedenza dei doveri sui diritti umani, che peraltro è meglio definire diritti fondamentali, in: I diritti umani. Un’immagine epocale, hrsg. v. Giulio M. Chiodi, Neapel 2000; ders., Improprietà dei diritti umani, in: Filosofia e politica dei diritti umani nel terzo millennio, Akten des V. Kongresses der italienischen Staatsphilosophen, Lecce 13.–15. April 2000, hrsg. v. Antonio Tarantino, Mailand 2003, S. 67–93; zur Entwicklung dieses Begriffs in der deutschen politischen Kultur vgl. G. Hartung, Die Naturrechtsdebatte (wie Anm. 3) und H.-L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht (wie Anm. 19); zum Begriff der Pflicht in der Aufklärung vgl. schließlich V. Fiorillo, Autolimitazione razionale e desiderio (wie Anm. 20). 95 L. Fonnesu, Dovere (wie Anm. 94), S. 10. 96 C. Thomasius, Fundamenta (wie Anm. 18), liber I, caput IV, § LXVII, S. 136. 97 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, A 129. Zum Begriff der Utopie wird verwiesen auf Ernst Bloch, Geist der Utopie, Frankfurt a. M. 1964; Giulio M. Chiodi, Utopia: il luogo ectopico del pensiero e del potere, in: ders., Tacito dissenso, Turin 1990; Lucian Hölscher, [Art.] ‚Utopie‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Stuttgart 1990, Bd. 6, S. 733–788; Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929.
Die Bedingungen der ‚absoluten Gemeinschaft‘ bei Fichte
Claudio Cesa Johann Gottlieb Fichte gehört jener außergewöhnlichen Epoche der deutschen Philosophie an, die mit Leibniz beginnt und mit Hegel endet, wobei sie alle Phasen der Aufklärung durchläuft. Der reife Fichte war ein strenger Kritiker der Aufklärung1 und hatte außerdem schon früh Abstand von ihr genommen, wie die originellen Denker seiner Generation in Deutschland und anderswo. Es ist übrigens eine Tatsache, daß die reformerische Kraft der Aufklärung in den letzten 30 Jahren des 18. Jahrhunderts abgenommen hatte, noch bevor die Französische Revolution Perspektiven eröffnet hat, mit denen kaum jemand gerechnet hatte. Das außergewöhnlich Interessante an Fichtes Denken besteht darin, daß es fast sofort auf die verschiedenen Situationen, die in diesen so bewegten Jahren aufeinander folgten, reagierte, jedes Mal in der Bemühung, sie zu verstehen, sie philosophisch zu interpretieren und Verfassungsprojekte auszuarbeiten, die dazu beitragen sollten, dort wieder eine Ordnung herzustellen, wo die alte Ordnung durch die bloße Tatsache ihres Zusammenbruchs ihre Schwäche offenbart hatte, die letztlich in nichts anderem bestand als in ihrer Unrechtmäßigkeit. Eine Frage, die sich fast unmittelbar stellt, ist die nach Fichtes Beziehung zur Tradition der Aufklärung in Fragen des Rechts.2 Und hier stößt man auf große Schwierigkeiten aufgrund der Dürftigkeit der Nachrichten, die man von seinen Studien hat, seit er die Landesschule zu Pforta3 verlassen hatte (1780) bis zu je___________ 1 Zum Thema ist jetzt ein Band erschienen, der die Beiträge eines Kolloquiums in Bologna (April 2003) versammelt: Fichte und die Aufklärung, hrsg. v. Carla De Pascale / Erich Fuchs / Marco Ivaldo / Günter Zöller, Hildesheim 2004. 2 Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen zum Thema möchte ich nur eine herausgreifen, die trotz ihres Titels sehr erhellend ist: Marcel Thomann, Les sociétés secrètes politiques d’Europe continentale au XVIIIe siècle et l’idéologie réformiste, in: Modèles et moyens de la réflexion politique au XVIIIe siècle, tome IIIe, Lille 1979, S. 95–114. 3 Über die erste Periode des intellektuellen Lebens Fichtes vgl. Stefano Bacin, Fichte in Schulpforta (1774–1780), Stuttgart-Bad Cannstatt 2007.
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ner Art geistiger Wiedergeburt („ich lebe in einer neuen Welt“), die er im Sommer 1790 erlebte, als er die Kritik der praktischen Vernunft las.4 Nach 1780 hatte er die Theologische Fakultät in Jena, Leipzig, Wittenberg besucht, bis 1783, aber dann „drückte mich der herbste Mangel zu Boden“, und er mußte sich viele Jahre lang mit dem armen Leben des Hauslehrers abfinden, in Deutschland und in der Schweiz. Seinen Gönnern, die ihn drängten, wenigstens einen akademischen Grad zu erwerben, gestand er, daß seine Studien zu unregelmäßig gewesen waren – und einmal sagte er, er fühle sich besser ausgebildet im Recht als in der Theologie. Aber die Informationen über seine juristischen Lektüren sind auch dürftig. In Leipzig hatte er von Karl Ferdinand Hommel Notiz genommen, dem Übersetzer von Beccaria; er hatte sicher Rousseau gelesen und sehr wahrscheinlich auch Montesquieu. Danach hatte er während seines Aufenthalts in Königsberg Anfang der neunziger Jahre gute persönliche Beziehungen zum Juristen Theodor Schmalz, der fast zwanzig Jahre später sein Kollege in Berlin wurde; er verkehrte mit den Hörern der Vorlesungen von Kant und es ist nicht unwahrscheinlich, daß er von den Kursen in Naturrecht erfahren hat, die Kant bis 1788 gehalten hatte, und von dem Handbuch von Gottfried Achenwall, das Kant regelmäßig als Grundlage für seine Vorlesungen benutzte.5 Als er einige Jahre später selbst Professor in Jena wurde, begann er (Mitte 1795), sich intensiv mit der Theorie des Rechts zu beschäftigen. Seine Lektüren stammten alle von zeitgenössischen Juristen: Er hatte wahrscheinlich die beiden Werke von Gottlieb Hufeland gelesen und die Schriften von Anselm Feuerbach. Aber es interessierten ihn auch die Philosophen und Publizisten der Aetas Kantiana: Reinhold, Maimon, Johann Benjamin Erhard, Verfasser einer Apologie des Teufels und Rezensent des ‚Beitrags‘ von Fichte über die Französische Revolution. Es gibt keine Spur einer direkten Lektüre der ‚Klassiker‘ des Naturrechts, was übrigens nicht verwunderlich ist, weil diese auch von den berufsmäßigen Juristen, wie Anselm Feuerbach gestand, fast nicht mehr gelesen wurden. Viele Elemente ihrer Lehren konnte Fichte jedoch aus zweiter Hand erhalten.6 1795 erschien der erste Band der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre; im Jahr darauf erschien der zweite Band; auf der Basis dieses Handbuchs hielt Fichte seine Kurse ab, zuerst in Jena und dann in ___________ 4
Für die Lebensdaten Fichtes verweise ich auf die Fichte-Chronik, hrsg. v. Erich Fuchs (= Fichte im Gespräch), Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, Bd. V, S. 201–385. 5 Viele Parallelen zwischen Fichte und Achenwall in Alain Renaut, Le système du droit. Philosophie et droit dans la pensée de Fichte, Paris 1986, passim. 6 Unter der vielen Literatur verweise ich nur auf die Dissertation von Richard Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1963, und auf Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, hrsg. v. Michael Kahlo / Ernst A. Wolff / Rainer Zaczyk, Frankfurt a. M. 1992.
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Berlin. Naturrecht ist für ihn gleichbedeutend mit Vernunftrecht: Eine Theorie des Naturrechts möchte zeigen, wie eine Gesellschaft freier Menschen möglich ist – wobei er sofort klarstellt, daß Freiheit hier nicht so sehr als moralische zu verstehen sei, sondern als Unabhängigkeit von der Willkür der anderen; zum Schutz vor der Willkür der anderen sind äußere Gesetze nötig. Wer äußere Gesetze sagt, meint Zwang. Was für die kantianischen Juristen, die vor der Veröffentlichung der Rechtslehre Kants meinten, daß das Recht direkt aus der praktischen Vernunft abzuleiten wäre, ein Problem darstellte: Wie wäre die Freiheit, verstanden als „Abhängigkeit des Willens nur von dem reinen Sittengesetze“, mit einer äußeren Gewalt in Einklang zu bringen?7 Es ist einigermaßen kennzeichnend, daß z. B. Hufeland das Zwangsrecht unter der Überschrift „Art zu schützen“ anführte.8 Auch Fichte ging in seinem Beitrag von einer individualistischen Position aus, für die das Recht eines jeden alles das ist, was vom Sittengesetz erlaubt wird. Man muß allerdings unterstreichen, daß er seit seinen ersten Überlegungen den Menschen als Teilhaber an zwei Welten versteht, an der empirischen und an der übersinnlichen, und sich fragt, ob die vernünftigen Argumente der moralischen Unterweisung, d. h. der Vernunft, in der Lage seien, das Widerstreben der Sinnlichkeit zu überwinden. Die Antwort, die er gibt, lautet, daß es „bei der gegenwärtigen Lage der Menschheit“ „gar nicht wahrscheinlich“ ist. Das ist der Grund, warum er in seiner Erstlingsschrift die Offenbarung einführte als „Gegengewicht“ zur „sinnlichen Natur des Menschen“, als eine „Verstärkung“ der „gehemmten Freiheit“.9 Religion und Moralität wären verschiedene Anwendungen desselben Prinzips, während Legalität und Moralität (nach der Lehre Kants) zwei verschiedenen Sphären angehörten. Und doch hat Fichte manchmal geschrieben, daß einige Jahrzehnte einer gerechten Verfassung genügten, um die Neigung zur Illegalität vollkommen auszumerzen. Die gute äußere Ordnung genügt offensichtlich nicht, damit die Menschen auch „im Herzen“ gut werden; aber sie wird jedenfalls verhindern, daß derjenige, der nach Maßstäben reiner Moralität handelt, Opfer der Ungerechten wird. Diese Ordnung herbeizuführen, ist die Aufgabe des äußeren Gesetzes; und die Gesellschaft, in der alle freien Handlungen der Menschen unter dem Schutz des Gesetzes stattfinden, wird von Fichte an einer Stelle des Naturrechts „absolute ___________ 7
Vgl. Carla De Pascale, Die Vernunft ist praktisch. Fichtes Ethik und Rechtslehre im System, Berlin 2003, S. 210–220; vgl. auch die drastische Stellungnahme von KarlHeinz Ilting in seinem Naturrechtsartikel, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 300–301. 8 Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts, Jena 1790, § 159. 9 Fichtes Werke werden in der üblichen Weise zitiert nach der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962 ff. Die im Text zitierten Stellen finden sich in GA I, 1, 53; 67–68.
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Gemeinschaft“10 genannt, offensichtlich um sie von der primitiven und noch teilweise illegitimen Form des Zusammenlebens zu unterscheiden, die er in der Sittenlehre „Notstaat“ nennt; ein Ausdruck, den er wahrscheinlich von Schiller entlehnt.11 Aber auch der Begriff ‚absolute Gemeinschaft‘ ist nicht von ihm geprägt worden: Er kehrt mehr als einmal auf den letzten Seiten des ersten großen Werks von Reinhold, dem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, wieder und bezeichnet den „freien Staat der vernünftigen Wesen“.12 Es wäre nicht angebracht, mich über Reinhold auszulassen, vor allem da er hier fast nichts spezifisch Juristisches sagt; aber außer dem Ausdruck lohnt es sich hervorzuheben, daß für ihn die Idee der absoluten Gemeinschaft eine Stufe war auf der Leiter, die zur Idee „des allerersten Wesens“ führte. Diese Auffassung findet man in wesentlich ausgearbeiteter Form auch bei Fichte: Es ist allgemein bekannt, daß für ihn „kein rechtliches Verhältnis zwischen Menschen möglich [ist], außer in einem gemeinen Wesen und unter positiven Gesetzen“, „denn der Staat selbst wird der Naturzustand des Menschen, und seine Gesetze sollen nichts anderes sein, als das realisierte Naturrecht“.13 Und doch besteht die höchste Legitimation des Staates darin, daß er eine Station auf dem Weg zur Moralität darstellt: „die Menschheit sondert sich ab vom Bürgerthume, um mit absoluter Freiheit sich zur Moralität zu erheben; dies aber nur, inwiefern der Mensch durch den Staat hindurchgeht.“14 Diese beiden theoretischen Figuren, der vernunftgemäße Staat als höchste irdische Lebensform der jetzigen Welt und die Menschheit als Endzweck des Gelehrten, des Philosophen, bleiben Fixpunkte im gesamten Verlauf von Fichtes Denken. In einer seiner letzten Berliner Vorlesungen, der Sittenlehre von 1812, wird gar von der „allgemeinen Menschenliebe“ als Merkmal des Gelehrten gesprochen und von der Liebe als Erfüllung der sittlichen Bildung. In diesem Zusammenhang taucht ein Wort auf, das bei ihm selten ist: Geselligkeit. Und als Warnung vor einer irrigen Auffassung derselben stellt er fest: „Was nun die gewöhnlich so genannte Geselligkeit, das zwecklose Umtreiben untereinander betrifft, um die Langeweile in Gesellschaft zu genießen: so wäre es für die Studien kein schlimmer Vor___________ 10
GA, I, 3, 385. Für die Geschichte des Begriffs ‚Notstaat‘ vgl. Claudio Cesa, Considerazioni su un termine della filosofia di Hegel, in: Scritti per Mario Delle Piane, Napoli 1986, S. 135–151. 12 Karl Leonhard Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag / Jena 1789 (ND Darmstadt 1963), S. 522 ff. und 575 ff.; es ist zu bemerken, daß der Begriff bei Reinhold eine kategoriale und keine juristische Bedeutung hat: Er bezeichnet jedoch, wenn er auf die vorstellenden Subjekte bezogen ist, „die Idee der moralischen Welt“. 13 GA I, 3, 432. 14 GA I, 4, 17. 11
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wurf, wenn sie davon abhielten“.15 Der Gelehrte hat das Recht, sich zu isolieren, um seine Kräfte zu sammeln und sie dann zu nutzen, um „das Gemeine zur Sittlichkeit zu bilden“; „Denn die Zurückziehung ist bloß das Mittel einer recht kräftigen Geselligkeit, und geht aus auf dieselbe“.16 Als Synonym von Geselligkeit in seiner positiven Bedeutung hatte Fichte in seinen Jenaer Vorlesungen Über die Bestimmung des Gelehrten „Gesellschaftlichkeit“17 benutzt. Ich habe schon auf Fichtes Interesse für die sinnliche Seite des Menschen hingewiesen; nun werde ich etwas darüber sagen, was er von der Anthropologie dachte. Seine Schriften sind voller anthropologischer Bemerkungen, aber die kantianische oder die transzendentale Denkart hielt ihn davon ab, die Anthropologie zu den Wissenschaften zu zählen, die sein System ausmachten.18 Sie ist weder in der Hypothetischen Eintheilung der WL (1794) genannt noch im folgenden, womit er aber nicht ausschloß, daß die Anthropologie eine „wissenschaftliche“ Funktion haben könnte. Ausgerechnet im ersten Band des Naturrechts präsentiert er sie als eine Disziplin, der die Aufgabe zukäme zu beweisen, wie der Körper des Menschen gedacht werden müsse, d.h. als „der Leib eines vernünftigen Wesens“.19 Zu einer solchen Wissenschaft habe er, wie er ausdrücklich sagt, nur die Voraussetzungen geschaffen. Dieselbe Erklärung gab er in der Rechtslehre 1812: Nachdem er nochmals bestätigt hatte, daß die „persönliche Freiheit des Menschen“ jedem Vertrag vorausgeht, denn „darüber hat die Natur uns geschieden“, macht er deutlich, daß „eine Lehre von der Freiheit des Menschen allenthalben hin in die Anthropologie gehören würde“,20 und daß er sie behandeln werde, insofern sie mit dem Recht zu tun habe. Es sieht so aus, als ob die Anthropologie als systematische oder wenigstens wohlgeordnete Disziplin sowohl der Rechts- als auch der Sittenlehre vorausgehen bzw. diese begleiten müsse. Tatsächlich hat Fichte nie ausdrücklich davon gehandelt, vielmehr hat er sie ersetzt durch eine Lehre, die in den letzten Jahrzehnten, ausgehend von einem bahnbrechenden Artikel von Reinhard Lauth (1962), ausführlich untersucht und diskutiert worden ist: die Theorie der Inter___________ 15
GA II, 13, 373. GA II, 13, 374. 17 GA I, 3, 38. 18 Vgl. Reinhard Lauth, Zur Idee der Transzendentalphilosophie, München 1965, S. 77. Was selbstverständlich nicht heißt, daß Fichte der großen Diskussion über die ‚Anthropologie‘ der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts gleichgültig gegenüberstand; siehe hierzu Luca Fonnesu, Antropologia e Idealismo. La destinazione dell’uomo nell’etica di Fichte, Roma / Bari 1993, und Faustino Fabbianelli, Antropologia trascendentale e visione morale del mondo, Milano 2001. 19 GA I, 3, 377. 20 GA II, 13, 208. 16
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subjektivität.21 Erst nachdem Fichte diese ausgeführt hatte, hat er die berühmte Ableitung des Körpers „als die Sphäre der freien Handlungen“, „als Umfang aller möglichen freien Handlungen der Person“ vorgenommen.22 Und wenn man „Person“ sagt, muß man sofort hinzufügen, daß diese nicht denkbar ist ohne eine andere Person, die ebenfalls körperlich ist, „ausser ihr“. Man weiß, daß es nie einfach war (nicht einmal für Kant), in nur einer Formel die Bedeutung von „transzendental“ zusammenzufassen. In den Monaten, in denen Fichte an seiner Theorie des Rechts arbeitete, präsentierte er in dem theoretischen Substrat der Intersubjektivität den transzendentalen Charakter seiner Philosophie: Dabei nahm er Abstand sowohl von den „Materialisten“ als auch von gewissen „Idealisten“. Er erklärte, daß er es für absurd halte, das „Daseyn einer Sinnenwelt“ zu leugnen; das war nicht seine Theorie, auch wenn sie ihm oft zugeschrieben wurde, sondern die andere: „Es ist nämlich gar nicht der Gedanke, das Daseyn der Sinnenwelt ohne vernünftige Wesen zu zeigen, sondern nur für solche. So gewiss nämlich ein vernünftiges Wesen ist, so gewiss ist eine Sinnenwelt“.23 Das objektivistische Vorurteil einer physischen Welt, wovon der Mensch ein Element sei, wird umgekehrt – aber die Beziehung der beiden Begriffe (subjektiv und objektiv) bleibt unverändert. Die Hemmung oder die Beschränkung, die das „Ich“ in seiner Tätigkeit „findet“, ist nichts Illusorisches, das nur von dem allmächtigen Ich überholt werden müsse; es handelt sich vielmehr gerade um das, was das Bewußtsein ermöglicht: „eine bloße Intelligenz [d.h. ohne Streben und ohne Schranken] würde kein Bewußtsein haben“.24 Ich habe diesen grundlegenden Punkt in Fichtes Denken angeführt, weil er auf eine Frage hindeutet, die die Grundlage des Rechts betrifft: Wie kann das Subjekt sich selbst erkennen als praktisch-sittliches Wesen? Die Antwort ist sehr eindeutig: nicht durch das Zeugnis des eigenen Bewußtseins und auch nicht durch das Gefühl der Achtung gegenüber einem moralischen Verhalten eines anderen, sondern durch die Aufforderung, die das Subjekt von einem anderen Wesen empfängt, das ihm ähnlich ist, „mit menschlichem Angesicht“. Man kann die Aufforderung selbstverständlich nicht als wörtliche Mitteilung verstehen. Es handelt sich vielmehr um das Handeln eines anderen, der dasselbe Vermögen, sich freie Zwecke zu setzen, und dieselbe Macht hat wie ich. Wenn ich mit ihm zusammentreffe, muß ich wählen (wobei der Verzicht auf eine Wahl schon eine Wahl darstellt), ob ich ihn als materielles Wesen betrachte – das mir ___________ 21 Reinhard Lauth, Le problème de l’interpersonnalité chez J. G. Fichte, in: Archives de philosophie XXV (1962), S. 325–344. 22 GA I, 3, 361–363. 23 GA IV, 3, 61–62. 24 GA IV, 3, 68; vgl. GA I, 2, 262–263.
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einen nur körperlichen Widerstand entgegensetzt und das ich mit körperlichen Mitteln angreifen kann – oder als vernünftiges Wesen: Diese Wahl ist der Beginn meines Bewußtseins als Teil des Menschengeschlechts. In der Theorie der Intersubjektivität fehlen nicht die Schwierigkeiten,25 um so mehr als sich in ihr zwei unterschiedliche Probleme ausmachen lassen. Eines ist das, wie das Subjekt „sich selbst zu finden“ vermag;26 das andere besteht darin, wie ich die Gegenwart anderer vernunftbegabter Wesen außer mir verstehen soll: „Der Mensch [...] wird nur unter Menschen ein Mensch; und da er nichts anderes sein kann [...] sollen überhaupt Menschen sein, so müssen mehrere sein“.27 Und welche Wichtigkeit Fichte diesem Punkt zuspricht, wird von einer Stelle der Jenaer Vorlesungen Nova Methodo bezeugt: „Über diesen Punkt – wie komme ich zur Annahme vernünftiger Wesen außer mir – hat sich Kant nie erklärt, daher ist auch sein kritisches System nicht vollendet.“28 Fichte wußte natürlich nur zu gut, daß Kant sich an mehreren Stellen seiner Schriften über die Menschen, im Plural, und über die Gesellschaft ausgelassen hatte; allerdings war es gerade die allzu naturalistische Art, in der er es getan hatte, die Fichte nicht überzeugte. Viele werden sich an den berühmten Artikel von Kant über die „allgemeine Geschichte“ (1784) erinnern, in dem als natürliche Beziehung unter den Menschen die „ungesellige Geselligkeit“ bestimmt wurde; ein kurzes Zitat: „der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht“; und der „Antagonismus“ verschwand noch nicht einmal unter einer „gerechten bürgerlichen Verfassung“: „Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit ziert [...] sind Früchte der Ungeselligkeit“.29 Es gibt einige Stellen, an denen Fichte sich scheinbar dieser Position annähert – aber seine Auffassung ist ganz anders: Für ihn sind die Menschen zur Zusammenarbeit bestimmt – und für diese These werden sowohl traditionelle Gründe angeführt (z. B. daß nur die gemeinsame Anstrengung die widerstrebende Natur überwinden kann) als auch Gründe, die seiner eigenen Philosophie entstammen.30 ___________ 25 Vgl. Reinhard Lauth, Transzendentale Entwicklungslinien, Hamburg 1989, S. 196–208. 26 GA I, 3, 343. 27 GA I, 3, 347. 28 GA IV, 2, 142. 29 Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VIII, Berlin 1923, S. 21–22. 30 Will man die Frage unter dem Blickwinkel der Ideengeschichte betrachten, so läßt sich feststellen, daß Fichte den Leidenschaften keine positive Rolle im Gemeinschaftsleben zugesteht – wie das im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert gerne getan wurde; vgl. dazu Albert O. Hirschman, The Passions and the Interests, Princeton 1977; Hegels Position ist in diesem Punkt ganz anders als die von Fichte: Für Hegel sind die Leidenschaften „das Bethätigende“.
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Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich betonen, daß Fichte in Rechtsfragen „Individualist“ bleibt; aber der ursprüngliche Sinn dieser Position liegt darin, daß niemand gezwungen ist, eine Rechtsordnung anzunehmen, wenn in ihr seine Wesensart als „Individuum“ nicht garantiert wird. Dieses Wort, das er in Jena als terminus technicus, und zwar in positiver Bedeutung, anführt, bedeutet „Einzelner“, der die eigene „freie Wirksamkeit“ ausübt, welche wiederum, nach der theoretischen Anlage der Wissenschaftslehre, nicht unbegrenzt sein kann. Mir sei ein flüchtiger Hinweis auf § 3 der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre erlaubt: Nach der Ausführung der Entgegensetzung von Ich und Nicht-Ich (die den Kategorien ‚Realität‘ und ‚Negation‘ entsprechen) führt er zur „Vereinigung“ der beiden Begriffe den dritten Grundsatz ein, den „materiellen“ (der neben der Kantschen Kategorie ‚Limitation‘ dem Satz vom zureichenden Grund entspricht). Das kann man solcherart formulieren: „das Ich sowohl als das Nicht-Ich [werden] teilbar gesetzt“.31 Übersetzen wir diese Aussage in die Sprache der Vorlesungen über das Naturrecht: „das Ich, d.h. jedes Vernunftwesen soll notwendig als Individuum, als Einzelner in einer Sphäre mehrerer“ gedacht werden.32 Jedes Individuum ist also ein Teil, mit seiner Willkür, mit seinem eigenen Leib und mit jener Erweiterung des Körpers, die das „Eigentum“ darstellt – definiert (1800) als „das ausschließende Recht auf Handlungen, keineswegs auf Sachen“;33 und schon im Beitrag hatte Fichte gesagt: „Wir sind unser Eigentum“.34 Auf der Grundlage dieser Umformung des Begriffs von Eigentum muß man das Fichtesche Modell vom wahren Staat beurteilen. Wie ich schon gesagt habe, bezeichnet Eigentum die Reihe der Handlungen, die jedes Individuum mittels des Werkzeugs seines Leibes ausführt; und seinen Leib erhalten, d. h. leben, ist das Grundrecht eines jeden. In einer bürgerlichen Vereinigung genießt man das Lebensrecht dank der Früchte der eigenen Arbeit, so daß der wesentliche Inhalt des Bürgervertrags in der gegenseitigen Garantie besteht, daß die Sphäre des Handelns eines jeden nicht von dem Handeln der anderen gestört wird. Aber man hüte sich davor, eine liberalistische Anwendung dieser Aussage zu machen, weil Fichte, im Gegenteil, das Bestehen der Zünfte in Schutz nimmt: „Die allgemeine Freigebung dieser Erwerbszweige läuft geradezu gegen den ursprünglichen Eigentumsvertrag“.35 Ein wirtschaftliches System des freien Wettbewerbs wäre letztlich sogar das genaue Gegenteil von Gerechtigkeit. Und da die ge___________ 31
GA I, 2, 270. GA IV, 3, 70. 33 GA I, 7, 55. 34 GA I, 1, 266. 35 GA I, 4, 38. 32
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rechte Ordnung nicht der bona fides der Vertragspartner überlassen werden kann und man immer das „Gelüst nach dem unrechtmäßigen“36 durch irgend jemanden zu fürchten hat (unrechtmäßig wäre hier die Übertretung der Grenzlinie, die das Tätigkeitsgebiet eines jeden bezeichnet), ist eine Zwangsanstalt notwendig, der Staat, der in jedem Moment die gestörte Ordnung wieder herstellt. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, wenn ich die verfassungsmäßige Entstehung und die soziale bzw. politische Verfassung des Staates darlegte (außerdem ist das ein Thema, das in jedem guten Buch über Fichtes politisches Denken zu finden ist). Ich will hier nur feststellen, daß jeder Bürger die Pflicht hat, der Obrigkeit anzugeben, welches Gewerbe er auszuüben gedenkt. Die Genehmigung, die er dazu erhält, bedeutet, daß er das Recht hat, daraus die Mittel für eine würdige Existenz zu ziehen. Die Aufteilung der Aufgaben ist folglich sehr starr: Wer die Oberfläche der Erde bearbeitet, der Bauer, muß den Untergrund derselben dem Minenarbeiter überlassen. Beide sind „Produzenten“ und müssen anderen, den Künstlern (artifices) die Aufgabe überlassen, den Rohstoff zu bearbeiten. Sie können sich beispielsweise nicht selbst ihre Kleider schneidern: Einer speziellen Klasse, für die Fichte keine großen Sympathien zu hegen scheint, kommt es zu, sich um den Handel zu kümmern, und es sind natürlich auch Kategorien der Staatsdiener vorgesehen, um die Anwendung der Gesetze sicherzustellen. Die Starrheit, mit der Fichte sein Modell entwirft, kann in seinen eigenen Worten beschrieben werden: „Kein Erwerb im Staat ohne Vergünstigung derselben. Jeder muß seinen Erwerb ausdrücklich angeben, und keiner wird sonach Staatsbürger überhaupt, sondern tritt zugleich in eine gewisse Klasse der Bürger, sowie er in den Staat tritt. Nirgends darf eine Unbestimmtheit sein“.37 Ein Satz wie dieser mag den Eindruck erwecken, daß jeder in die absolute Gemeinschaft durch eine sehr enge Tür eintritt, die dem Gewerbe entspricht, das er wählt oder das ihm zugewiesen wird (in dem Geschlossenen Handelsstaat, drei Jahre nach dem Naturrecht entstanden, scheint die zweite Möglichkeit zu überwiegen). In dieser Hinsicht scheint die Bezeichnung „Staatsbürger“, die natürlich mehr als Bürger bedeutete, viel von ihrem Nimbus zu verlieren. Man fühlt sich an die Kritik erinnert, die Hegel im Naturrechtsaufsatz von 1802 formulierte und die sich folgendermaßen zusammenfassen läßt: Nach dem Fichteschen Modell gibt es nur „Privatpersonen“, unfähig sich „zum Bewusstsein des gemeinsamen Willens“ zu erheben: nicht „Volk“, sondern „Pöbel“.38 Oder aber, in anderer Hinsicht: In dem Fichteschen Modell fehlt nicht nur der Wett___________ 36
GA I, 3, 427. GA I, 4, 23. 38 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Bd. 4, Hamburg 1968, S. 445. 37
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bewerb im wirtschaftlichen Bereich sondern auch das freie Spiel der Kräfte im politischen Bereich – was erstaunlich ist angesichts der Tatsache, daß Fichte 1793 die Rechtmäßigkeit der Revolution behauptete und 1813 zum Volkskrieg aufgerufen hatte. Ich glaube aber nicht, daß das, was Fichte als Philosoph theoretisch ausarbeitet, im Gegensatz steht zu dem, was er als politischer Schriftsteller predigte. Es ist nicht zu leugnen, daß in seinem Staatsmodell ein Raum für ständige politische Debatten schwer zu finden wäre. Um die Position Fichtes dazu zu charakterisieren, genügte es, einen Vergleich mit einigen konstitutionellen Entwürfen Rousseaus anzustellen; eine direkte Demokratie ist für Fichte genauso wie der Despotismus zu verwerfen, weil sie „dem Privatwillen ränkevoller und ehrsüchtiger Parteien“39 Tür und Tor öffnen würde. Aber Fichte hat auch niemals empfohlen, sich einem schlechten Regenten gegenüber passiv zu verhalten. Eine Handlung außerhalb der Legalität, wenn die Rechtsordnung nicht gerecht ist, kann ungeeignet oder unklug oder zu früh an der Zeit sein – aber dabei handelt es sich um eine Frage, die die Klugheit betrifft und nicht das Recht. Nun steht im Vordergrund des Gesellschaftsmodells, wie es im Naturrecht dargelegt wurde, eine radikale Kritik an den bestehenden Systemen; keines von ihnen ist legitim, weil sie alle auf dem „Ohngefähr“ und auf der Ungleichheit gründen. Im Handelsstaat liest man: „Im neuen [neueren] Europa hat es eine geraume Zeit hindurch gar keine Staaten gegeben. Man steht gegenwärtig noch bei den Versuchen, welche zu bilden“.40 Um es klarzustellen: Wenn Fichte sagt, daß das Eigentum sich nicht auf die Sachen bezieht, meint er, daß die materiellen Grundlagen der Produktion – Grund, Minen, Wälder, Wasserläufe – dem Staat gehören müssen: Nur unter dieser Bedingung ist eine gerechte Aufteilung der Arbeitssphäre eines jeden möglich und genauso die nachfolgenden Korrekturen, die verhindern sollen, daß sich die Ungleichheit wieder einstellt. Die „sibi sufficientia“ aller durch die Arbeit beseitigt den Unterschied zwischen aktiven und passiven Staatsbürgern, der dagegen von Kant behauptet worden war,41 weil niemand von einem anderen abhängig sein soll; vielmehr wird unter bestimmten Umständen auch den Frauen das Wahlrecht42 zuerkannt, da auch sie arbeiten. Und man muß hinzufügen, daß die Arbeit nicht der Endzweck des Menschen ist; ein berühmter Absatz lautet folgendermaßen: „der Mensch soll arbeiten; ___________ 39
GA I, 3, 448. GA I, 7, 95. 41 I. Kant, Gesammelte Schriften (wie Anm. 29), Bd. VI (1907), S. 314–315. 42 GA I, 4, 132. Auf diesen Punkt hat Bernard Bourgeois hingewiesen in: Philosophie et droits de l’homme, Paris 1990, S. 57. 40
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aber nicht wie ein Lasttier. Er soll angstlos arbeiten [...], und Zeit übrig behalten, seinen Geist und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist“.43 Hüten wir uns davor, zu glauben, es handle sich um eine religiöse „Flucht“. Fichte hat in der Tat mehrmals wiederholt, daß für den, der „sich zur Anschauung des Übersinnlichen erhebt“, die Sinnenwelt nicht verschwindet, da „das Erscheinen Gottes im Wissen [...] ein unendliches Bilden“44 ist, das in jedem Moment neue Aufgaben auferlegt. Und in der Gegenwart sah Fichte die Zeit reif dafür, daß der Staat „wahrhafter und frei“ werde und seiner Aufgabe nachkomme, „jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen“,45 also Gerechtigkeit einzuführen. Zu diesem Zweck war es unerläßlich, die Anarchie, bestehend aus dem internationalen Handel und der Geldwirtschaft, radikal auszumerzen. Daher die Theorie von der „Geschlossenheit“ des Staates,46 was schließlich die Errichtung von staatlichen Einheiten bedeutet, die anders als die bestehenden wären, wirtschaftlich sich selbst genügend und daher von der Angst des Niedergangs befreit. Unter diesen wahren Staaten würde es keine Kriege mehr geben. Die Gleichheit der Rechte, eine garantierte soziale Ordnung und – man muß hinzufügen, da es sich um ein Motiv handelt, das in Fichtes Denken immer anzutreffen ist – die Freiheit, die eigenen Überzeugungen mitzuteilen, das sind die Bedingungen der „absoluten Gemeinschaft“. Die Beschränkungen, die sie für die Wünsche der Einzelnen mit sich brachte, schienen ihm nicht so schwerwiegend, daß sie sein Modell untauglich machten. Auf einen möglichen Einwand, der ihm hätte gemacht werden können im Namen der Vorteile dessen, was wir heute globale Konsumgesellschaft nennen, und der etwa lautete: „Warum soll ich die Ware nicht in derjenigen Vollkommenheit haben, in welcher sie etwa in einem anderen Lande verfertigt wird?“, hätte er entgegnet: „ist gerade so viel, als ob der Eichenbaum fragen wollte, warum bin ich nicht ein Palmbaum, und umgekehrt. Mit der Sphäre, in welche ihn die Natur setzte, und mit allem, was aus dieser Sphäre folgt, muss jeder zufrieden sein“.47 Ich sagte zu Anfang, daß wir wenig über Fichtes Lektüren zu Fragen des Rechts wissen; man muß sagen, daß man noch weniger über seine ‚ökonomi___________ 43
GA I, 7, 71. GA II, 12, 318. 45 GA I, 7, 95. 46 Für eine erste Orientierung in der Fichteschen Wirtschaftslehre vgl. die umfangreiche Einleitung von Hans Hirsch zu seiner Ausgabe von Der geschlossene Handelsstaat, Hamburg 1979; wert gelesen zu werden ist auch das Kapitel über den Handelsstaat in Marc Maesschalck, Droit et création sociale chez Fichte, Louvain / Paris 1996, S. 159– 183. 47 GA I, 7, 62. 44
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sche‘ Belesenheit weiß, die allerdings recht groß gewesen sein muß. Was seine Stellung innerhalb der Diskussionen der Epoche betrifft, kann man ihn zumindest nicht den Physiokraten und genauso wenig den Merkantilisten zuschlagen. Schleiermacher hatte ihm eine „gleichsam physiokratische Sittenlehre“ zugeschrieben,48 mehr in einem symbolischen als in einem spezifischen Sinn. Es ist vielmehr daran zu erinnern, daß ihm von den Zeitgenossen sogar der schwerwiegende Vorwurf gemacht wurde, von dem Radikalismus der französischen Revolutionäre angesteckt zu sein – diese Behauptung wurde später von der Sekundärliteratur eingehend erörtert. Anfang des vorigen Jahrhunderts hatte die Gemahlin Max Webers, Marianne Weber, einen Vergleich zwischen Fichte und Gracchus Babeuf – dem Anstifter der „conspiration pour l’égalité“, zum Tode verurteilt im Jahre 1797 – angestellt;49 ein Vierteljahrhundert danach, in seiner großen, noch heute maßgebenden Fichte-Biographie, hatte X. Léon die These eines möglichen Einflusses Babeufs auf Fichte vertreten,50 und nicht wenige sind ihm später gefolgt. Aus mehreren Gründen halte ich diese Annahme für unwahrscheinlich51 und würde vielmehr eine gewisse Abhängigkeit Fichtes von der kameralistischen Tradition vorschlagen, z. B. von Johann Heinrich Justi,52 einem weitschweifigen aber intelligenten Publizisten, der manchmal auch von Achenwall zitiert worden war. Es war Justi, der nicht ohne eine gewisse Ironie die „Absonderung“ eines Volkes vom Welthandel als den „philosophischen Weg zur Glückseligkeit“53 gepriesen hat, ohne die möglichen negativen Folgen zu vernachlässigen; es war Justi, der das Verderben der Staaten auf die Nichtbeachtung der Gesetze zurückführte und der Polizei (im alten Sinn des Wortes) die Aufgabe zusprach, alle wirtschaftlichen Transaktionen zu überwachen;54 es war Justi, der mehrmals wiederholte, daß alle Bereiche der Wirtschaft „Leitung ___________ 48 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. I, Leipzig 1928, S. 295. 49 Marianne Weber, Fichtes Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx’schen Doktrin, Tübingen 1900, S. 10–18 und S. 40–56. 50 Xavier Léon, Fichte et son temps, t. II, 1, Paris 1924, S. 101–116. 51 Mit Recht ist bemerkt worden, daß die Analogien zwischen Fichte und Babeuf „ihren Ursprung in von beiden benutzten Quellen haben können“; vgl. Manfred Buhr, Revolution und Philosophie, Berlin 1965, S. 79. 52 Es fehlt an einer modernen umfassenden Arbeit über Justi, weswegen man immer noch auf Ferdinand Frensdorff zurückgreifen muß: Über das Leben und die Schriften des Nationalökonomen J. H. G. von Justi. (Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen: phil.-histor. Klasse) Göttingen 1903, S. 355–503. 53 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten, Königsberg 1760, Bd. I, S. 28. 54 Z. B. ders., Natur und Wesen der Staaten, Mitau 1771 (ND Aalen 1969), S. 589: „und in allen diesen Dingen [dem verarbeitenden Gewerbe und dem Geldumlauf] muß die Policey unverrückt das Augenmerk haben“.
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und Vorsorge der Regierung“ nötig hätten;55 es war Justi, der eine Behörde, „Gesetzverwahrung“ genannt, die von dem Fichteschen Ephorat nicht allzu verschieden ist, vorgeschlagen hatte.56 Unnütz zu sagen, daß Justi Mitte des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben hatte und Fichte nach der Revolution. Wichtiger als die möglichen Übereinstimmungen, bzw. Verschiedenheiten, ist jedoch die Tatsache, daß Justi und Fichte darin einig sind, daß der Staat als Wirtschaftseinheit sozusagen ‚konstruiert‘ werden müsse und nicht nur verwaltet so wie er ist. Aber dieses Thema bedürfte einer gründlicheren Untersuchung als diejenige, die ich hier habe anstellen können.
___________ 55
J. H. G. von Justi, Die Grundfeste (wie Anm. 53), Bd. I, S. 18. F. Frensdorff, Über das Leben und die Schriften des Nationalökonomen J. H. G. von Justi (wie Anm. 52), S. 471. 56
II. Praktische Anwendungen: Politische Reform und Strafrechtstheorie
Naturrecht, Gesellschaftsvertrag und Widerstandsrecht Zum politisch-juristischen Denken im Großherzogtum Toskana in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Frank Jung Bernardo Tanucci, der selbst mehr als zehn Jahre an der Universität Pisa gelehrt hatte,1 antwortete 1741, nachdem ihn Fürst Bartolomeo Corsini gefragt hatte, welche Ausbildung für einen jungen Adligen zu empfehlen sei: Noch bevor der junge Mann die Universität besuche, sei es wichtig, ihm unter anderem Pufendorfs De officio hominis und Hobbes’ De cive zu verstehen zu geben. Dann, an der Universität in Pisa, beschäftige sich der junge Adlige „nel dritto [!] pubblico“ mit Grotius, Pufendorf und Thomasius.2 Für die Kavalierstour durch Europa, die dem Studium folgen solle, empfahl Tanucci, unter anderem Pufendorfs De officio hominis und Grotius De jure belli ac pacis mit auf die Reise zu nehmen.3 Wie Tanuccis Ausführungen zeigen, gehörte die Kenntnis der erwähnten naturrechtlichen Autoren zur Allgemeinbildung eines Adligen und zum Lehrinhalt der juristischen Fakultät in Pisa. Die nachfolgenden Ausführungen gliedern sich – im wesentlichen – in zwei Abschnitte. Hintergrund und Ausgangspunkt der juristisch-historischen Stel___________ 1
Vgl. Danilo Barsanti, I docenti e le cattedre dal 1543 al 1737, in: Storia dell’ Università di Pisa, Bd. 1.2, Pisa 1993, S. 505–567, hier S. 535. Bernardo Tanucci (1698– 1783), der seit 1734 in Neapel dem Bourbonen Carlos III. als Minister des Königreichs beider Sizilien diente, stammte aus dem toskanischen Stia und ein Großteil seiner Korrespondenten weilte nach wie vor im Großherzogtum Toskana. An der Universität Pisa war Tanucci 1719 nach seiner Promotion zunächst als lettore di istituzioni civili und dann bis 1733 als straordinario di diritto civile tätig gewesen, sodaß er wußte, wovon er sprach. 2 Vgl. Tanucci an Bartolomeo Corsini, 8.12.1741, in: Bernardo Tanucci, Epistolario, vol. I: 1723–1746, hrsg. v. R. P. Coppini / L. del Bianco / R. Nieri, Roma 1980, S. 508– 517, hier S. 509–512. Außerdem schrieb Tanucci, in Pisa lehre De Soria mittels seiner Rationalis philosophiæ institutiones den jungen Adligen die Logik und Physik zu würdigen; im Zusammenhang mit dem Studium in Pisa riet Tanucci außerdem zur Lektüre von Pietro Giannones Istoria civile del Regno di Napoli. 3 Vgl. Tanucci an Bartolomeo Corsini, 8.12.1741, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. I (wie Anm. 2), S. 508–517, hier S. 514.
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lungnahmen Giuseppe Averanis und Bernardo Tanuccis war die Frage der toskanischen bzw. mediceischen Thronfolge, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts virulent geworden war. Beide befaßten sich mit den Rechtsbeziehungen zwischen Reich und Toskana bzw. Italien, die sie als eine völkerrechtliche, nicht aber als eine staatsrechtliche Beziehung betrachteten. Sowohl für Averani als auch für Tanucci galt, daß die Souveränität ihren Ursprung in der Zustimmung der Beherrschten (‚popoli‘) habe. An Averanis Mémoire sur la liberté de l’État de Florence läßt sich ferner zeigen, in welcher Weise Grotius’ De jure belli ac pacis in Toskana rezipiert und mit den römischrechtlichen Traditionen verknüpft wurde. Der zweite Teil knüpft an die vorangegangenen Bemerkungen an: Zum einen ist im Falle des Responsums von Pompeo Neri der Einfluß seines akademischen Lehrers Averani sichtbar, nämlich in der Verschränkung von römisch-rechtlichen und naturrechtlichen Argumenten. Zum anderen zeigt sich in den Texten von Giuseppe Maria Buondelmonti, Pompeo Neri und Giovanni Gualberto De Soria eine antidespotische Haltung, die aus ihrer Auffassung des Gesellschaftsvertrages resultierte.
I. Die Frage der toskanischen Thronfolge im Widerstreit: Lehensrechtlicher Anspruch und republikanische Freiheit Die Frage nach der Lehenshoheit des Kaisers über Italien war seit Beginn des 18. Jahrhunderts eine Frage der europäischen Gleichgewichtspolitik geworden, als sich abzeichnete, daß außer den Farnese auch die Dynastie der Medici auszusterben drohte.4 Das Großherzogtum Toskana wurde zu einem Spielball in der Diplomatie der europäischen Mächte, um vor allem in Italien jenes Gleichgewicht zu wahren, das eine einseitige Hegemonisierung unterband. Die Frage der toskanischen Thronfolge wird hier nur insofern betrachtet, als sie ein wesentlicher Anlaß war, daß die republikanische Vergangenheit von Florenz, die Anfänge des mediceischen Prinzipats und vertragsrechtliche Vorstellungen in den Blickpunkt des Interesses gerieten.5 ___________ 4 Zu den jeweiligen Ansprüchen, die seitens der Bourbonen sowie der Habsburger erhoben wurden, siehe – aus deutscher Perspektive – Karl Otmar von Aretin, Das Reich. Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht 1648–1806, Stuttgart 1986, S. 127– 143, sowie – aus italienischer Sicht – Furio Diaz, Il granducato di Toscana. I Medici, Torino 1976, S. 511–524. 5 Langfristig war die Folge ein bewußtes Anknüpfen an stadtrepublikanische Traditionen, wie sich während der 1740er Jahre im Vorfeld des Gesetzes über den Adel zeigen sollte; begünstigt wurde vor diesem Hintergrund Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls die Rezeption von Montesquieus Esprit des Lois.
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Die Söhne des toskanischen Großherzogs Cosimo III., Francesco und Gian Gastone, waren kinderlos und sollten es bleiben. Seine Tochter Anna Maria, Gemahlin des Kurfürsten von der Pfalz, Johann Wilhelm von Neuburg, war als Frau aus der dynastischen Ordnung ausgeschlossen.6 Im Umfeld des großherzoglichen Hofes konkretisierte sich daher diese Idee: Um sich aus der Nachfolgefrage zu befreien, sollten die Medici dem toskanischen Staat seine Freiheit zurückgeben und somit die alte (florentinische) Republik als natürliche Erbin der Medici anerkennen; zumal der Senat de facto in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts die neue politische Ordnung der Medici gestützt hatte und – wenn auch nur formal – immer noch bestand.7 Der toskanische Gesandte Carlo Rinuccini versuchte 1710 auf der Konferenz im Haag insbesondere die Seemächte Holland und England für eine republikanische Lösung zu gewinnen. Eine solche Lösung schien kurze Zeit möglich, da Holland und England einer Wiederherstellung der alten Republik zunächst aufgeschlossen gegenüberstanden.8 Karl VI., der 1711 den Thron bestieg, war jedoch bestrebt, die politische Autorität des Reiches wieder über jene italienischen Gebiete herzustellen, die angeblich unter die kaiserliche Souveränität fielen. Diese Position nahm der Kaiser auch gegenüber den diplomatischen Bemühungen Cosimos III. ein, der versuchte, Karl VI. für eine weibliche Erbfolge im toskanischen Großherzogtum zu gewinnen.9 Als 1713 der Frieden von Utrecht dem toskanischen Großherzog das Recht zugestand, einen Thronfolger zu benennen, versuchte Cosimo III. – nach dem Tod Francescos – im November 1713 Fakten zu schaffen, indem er – sollte die männliche Linie aussterben – seine Tochter Anna Maria zur einzigen Erbin erklärte. Ende November bestätigte der florentinische Senat den großherzoglichen Beschluß.10 ___________ 6
Vgl. K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 130. Vgl. F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 512. 8 Ebd., S. 512 ff., sowie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 133 f. Auch in Wien war man nicht grundsätzlich abgeneigt, in Florenz die Republik wieder herzustellen; abgelehnt wurde eine weibliche Erbfolge, bei der die Gefahr bestand, daß Toskana in die Hände Frankreichs oder Spaniens fiel aufgrund der Erbansprüche Ludwigs XIV., des Enkels von Maria Medici, bzw. der Erbansprüche von Elisabetta Farnese. Vgl. K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 131 und S. 133. 9 Vgl. F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 515, sowie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 131. 10 Vgl. F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 515 f., sowie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 130 f. 7
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Im Frieden von Rastatt und Baden, der 1714 geschlossen wurde, blieb die Frage der toskanischen Erbfolge unberührt.11 Gleichwohl erklärte Karl VI. dem pfälzischen Kurfürsten, dem Schwiegersohn Cosimos, daß er das gesamte Großherzogtum, Florenz und ihr Territorium eingeschlossen, als Reichslehen betrachte und daß sämtliche Lehen von den römischen Herrschern nur der männlichen Linie verliehen würden.12 Um die Jahreswende 1713/14 gab Wien mehrere Gutachten in Auftrag, ob Toskana zum Reich gehöre oder nicht. Allerdings war diese Frage keineswegs eindeutig zu beantworten – was in Florenz bekannt wurde.13 Mit dem Londoner Abkommen der Quadrupelallianz wurde am 2. August 1718 im Artikel VIII auch die toskanische Erbfolge geregelt. Das Großherzogtum wurde als zum Reich gehörig erklärt und nach dem Eintritt des Erbfalles sollte der Bourbone Don Carlos – angesichts der Erbansprüche seiner Mutter Elisabetta Farnese14 – das Großherzogtum als Reichslehen empfangen.15 In den Kreisen des florentinischen Adels, der auf eine Rückkehr zur Republik gehofft hatte, rief der Vertrag von London lebhafte Reaktionen hervor. Cosimo III. protestierte ebenfalls energisch gegen die Londoner Entscheidung und hielt an der Unabhängigkeit Toskanas vom Reich fest; dabei wies er auf den Senatsbeschluß aus dem Jahr 1713 hin, der die weibliche Erbfolge bestätigt hatte.16 Zur gleichen Zeit bemühte sich Karl VI., das Einverständnis der habsburgischen Länder wie der europäischen Großmächte für die Anerkennung der Pragmatischen Sanktion zu gewinnen.17 In dieser Situation wurde Giuseppe Averani damit beauftragt,18 mit einem Gutachten die imperialen Ansprüche Karls VI. zurückzuweisen und die floren___________ 11
Ebd., S. 130. Ebd., S. 136. 13 Vgl. F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 516 f., sowie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 131 f. und S. 134 f. 14 Vgl. Mirella Mafrici, Fascino e potere di una regina. Elisabetta Farnese sulla scena europea (1715–1759), Cava de’ Tirreni 1999. 15 Vgl. F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 518, sowie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 128, 138 und S. 140 f. 16 Vgl. F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 518 f. und S. 521 f., sowie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 139 f. 17 Ebd., S. 140. Die Reichslehensordnung, auf die sich Karl VI. bei seinen Ansprüchen auf das toskanische Großherzogtum bezog, kannte keine weibliche Erbfolge. 18 Die Mémoire sur la liberté de l’État de Florence erschien 1721 anonym und kurz darauf eine etwas umfangreichere, im Anhang mit zahlreicheren Dokumenten versehene lateinische Fassung. Im Aufbau sind die beiden Texte identisch, vor allem die historische Argumentation ist in De libertate civitatis Florentiæ eiusque Dominii (Pisis 1721) ausführlicher. Siehe Mario Benvenuti, L’erudizione al servizio della politica: la polemi12
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tinische Freiheit zu verteidigen, indem er zeigte, daß aus historischer und juristischer Sicht der florentinische ‚Staat‘ kein Reichslehen war.19 Eine politische und diplomatische Frage erwies sich als eine historisch-juristische Frage. 1723, zwei Jahre nachdem die von Averani verfaßte Mémoire sur la liberté de l’État de Florence anonym erschienen war,20 bemühte sich Kaiser Karl VI. um einen Reichstagsbeschluß, der schließlich am 7. Dezember das toskanische Großherzogtum zum Reichslehen erklärte.21
II. Giuseppe Averani und die Mémoire sur la liberté de l’État de Florence Der 1662 geborene Giuseppe Averani war einer der renommiertesten Juristen, die an der Universität Pisa lehrten,22 zunächst lettore di istituzioni civili, dann straordinario und schließlich seit 1697 bis zu seinem Tod 1738 ordinario di diritto civile,23 war Averani Mitglied verschiedener Akademien, darunter der Royal Society.24 Cosimo III. ernannte Averani zum Erzieher seines Sohnes Gian Gastone in Sachen des Zivilrechts und beauftragte ihn, den späteren Großherzog in die physikalischen Wissenschaften einzuführen.25 Auf Initiative Hendrik Benkmans wurden die ersten beiden Bücher von Averanis Interpretationes iuris ___________ ca per la successione in Toscana, in: Nuova rivista storica 42 (1958), S. 484–506. Unzutreffend ist die Zuschreibung von De libertate civitatis an Neri Corsini, die Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 140, vornimmt. 19 Vgl. F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 513 und S. 520 f. „In der Frage der Abhängigkeit Toskanas vom Reich entstand ein Federkrieg, der eigentlich überflüssig war, weil keine Hoffnung bestand, gegen das Votum der Großmächte aufzukommen“, wie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 140, zutreffend schrieb. 20 Die Mémoire sur la liberté de l’État de Florence hatte Averani mithilfe von Giovanni Bonaventura Neri Badia verfaßt, der Auditore der Consulta und Consigliere per gli affari di giustizia e grazia des Großherzogs war. Vgl. Enrico Spagnesi, Il diritto, in: Storia dell’Università di Pisa, Bd. 1.1, Pisa 1993, S. 191–257, hier S. 252, sowie M. Benvenuti, L’erudizione (wie Anm. 18), S. 487. 21 Vgl. K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 140. 22 Zu Averani siehe Memorie e notizie spettanti alla vita di Giuseppe Averani avvocato fiorentino, in: Lezioni toscane dell’avvocato Giuseppe Averani accademico della Crusca. Tomo primo. Firenze MDCCXLIV, S. XIII–XXXVIII, sowie Niccola Carranza, [Art.] ‚Averani, Giuseppe‘, in: DBI (= Dizionario biografico degli Italiani), vol. 4, Roma 1962, S. 658 f. 23 Vgl. D. Barsanti, I docenti (wie Anm. 1), S. 507. 24 Vgl. Anton Francesco Gori, Lettera dedicatoria, in: Averani, Lezioni (wie Anm. 22), S. III–VIII, hier S. V. 25 Vgl. Memorie (wie Anm. 22), S. XXII.
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1716 in Leiden gedruckt, und sowohl Cornelius van Bynkershoek als auch Gérard Noodt wandten sich in Fragen des ius exponendi an Averani.26 Die Wertschätzung für Averanis juristisch-historische Gelehrsamkeit brachte der marchese Antonio Niccolini in seiner Trauerrede auf Averani zum Ausdruck, die er am 28. April 1745 während einer Versammlung der florentinischen Accademia della Crusca im Palazzo der Fürsten Corsini hielt. Über seinen verstorbenen Lehrer berichtete Niccolini: „Egli avanti a tutti ci additò, quanto facilmente al possesso della Ragione della natura, e delle genti si possa pervenire, purché […] di buona Filosofia […] voglia l’uomo guernirsi, profittando degli utilissimi lumi, che in gran copia incontrandosi nel corpo delle Romani Leggi […], ad esso ci stradano“.27 Eine genaue Kenntnis der Geschichte habe Averani als unerläßlich betrachtet, um antike Gesetze angemessen interpretieren zu können.28 An der Universität Pisa habe Averani eine ganze Generation toskanischer Juristen ausgebildet, sie eingeführt „nella scienza del giusto, e dell’ingiusto“,29 und wie Antonio Niccolini weiter ausführte, „c’inalzò dallo studio delle Leggi Romane alla contemplazione della Ragione della natura, e delle genti, per cui l’uomo non tanto delle Leggi perito, quanto di nuove, e buone Leggi creatore può divenire“.30 Das Naturrecht diente Averani dazu, die ___________ 26
Vgl. E. Spagnesi, Il diritto (wie Anm. 20), S. 251 f. Delle lodi di Giuseppe Averani. Orazione funerale del march[ese] Antonio Niccolini accademico della Crusca. Detta da lui pubblicamente in essa Accademia il dì 28. Aprile 1745, in: Lezioni toscane dell’avvocato Giuseppe Averani accademico della Crusca. Tomo secondo. Firenze MDCCXLVI, S. I–XXXIX, hier S. XXIV [„Er hat uns vor allen anderen gezeigt, wie einfach man zum Besitz des Natur- und des Völkerrechts gelangen kann, vorausgesetzt, daß der Mensch sich mit guter Philosophie ausrüste, indem er von den sehr nützlichen Erkenntnissen profitiere, die sich in großer Anzahl im Corpus der Römischen Gesetze befinden und uns zu jenem (Besitz des Natur- und des Völkerrechts) führen“]. 28 Vgl. A. Niccolini, Delle lodi (wie Anm. 27), S. XXII–XXIV. 29 Ebd., S. XXI [„in die Wissenschaft des Gerechten und des Ungerechten“]. 30 Ebd., S. XXIII [„er erhob uns vom Studium des Römischen Rechts zur Betrachtung des Natur- und des Völkerrechts, sodaß der Mensch weniger ein Experte der Gesetze, als vielmehr der Schöpfer neuer und guter Gesetze werden kann“]. Als Niccolini – der den neuen Machthabern in Toskana ablehnend gegenüberstand – anschließend über die Ausbildung sprach, mit der Averani seine Studenten auf ihre Tätigkeit nach der Promotion vorbereitet habe, mündeten seine Ausführungen in der Bemerkung: „Così dalla sua scuola, come dal Cavallo Trojano, poterono sortire quegl’infiniti valorosi campioni, che molto oprando col senno, e colla mano, gloriosamente combatterono, e tuttavia combattono in varie delle più illustri Città dell’Italia, per l’amministrazione della giustizia.“ A. Niccolini, Delle lodi (wie Anm. 27), S. XXVI. Niccolini war voll des Lobes für Montesquieus Esprit des Lois, und Tanucci, der mit Niccolini korrespondierte, bezeichnete ihn als „quel pregio repubblicano“. 1748, nach einem Wien-Aufenthalt, wurde Niccolini mit großherzoglichem Reskript untersagt, nach Toskana zurückzukehren. 27
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Legitimität der leges positivae zu überprüfen, und für Averani war in den römischen Texten, den Glossen und Kommentaren jene Freiheit enthalten, die sich willkürlicher und despotischer Gewalt entgegenstellte.31 Bereits in Averanis Disputatio de iure belli et pacis, die 1703 in Florenz gedruckt wurde, war der Einfluß Grotius’ deutlich sichtbar. Daß Grotius’ De jure belli ac pacis in Toskana und insbesondere an der juristischen Fakultät der Universität Pisa erfolgreich rezipiert wurde, hing auch damit zusammen, daß sich Grotius’ naturrechtliche Definitionen mit den bestehenden römischrechtlichen Traditionen verknüpfen ließen, sodaß mit Grotius’ Definition des Naturrechts die Gültigkeit des römischen Rechts legitimiert werden konnte.32 In der Vorrede zu De jure belli ac pacis hieß es, wenn viele zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten dasselbe als gewiß behaupten, müsse dies entweder auf einen allgemeingültigen Grund zurückgehen oder eine allgemeine Übereinkunft sein. Während ein allgemeingültiger Grund – der aus der richtigen Schlußfolgerung resultiere, die sich aus der Natur der Sache ergebe – das Naturrecht anzeige, so zeige hingegen eine allgemeine Übereinkunft (communis consensus) das Völkerrecht an.33 Und die allgemeine Übereinkunft war eine der Argumentationsfiguren, mittels derer Averani in der Mémoire sur la liberté de l’État de Florence versuchte, die imperialen Ansprüche Karls VI. zurückzuweisen. „On ne peut douter“,34 wie Averani einleitend feststellte, daß die einzige Grundlage, die gesamte Toskana zum Reichslehen zu erklären, die irrige Annahme des Kaisers sei, irgendein Recht auf den toskanischen ‚Staat‘ zu besitzen. In der Mémoire unternahm es Averani, nicht ohne polemische Untertöne, mit historisch-juristischen Argumenten zu zeigen, daß die Quadrupelallianz gegen jede Gerechtigkeit und sämtliche Gesetze handele.35 Die Ausführungen, die der Einleitung des Mémoire folgen, lassen sich in drei Teile gliedern: Während im ersten die Unabhängigkeit der florentinischen Republik in den Jahrhunderten vor der Errichtung des ___________ 31 Vgl. E. Spagnesi, Il diritto (wie Anm. 20), S. 257. Siehe in diesem Zusammenhang auch Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1, München 1985, S. 31. 32 Für Grotius gründeten alle Rechtsbeziehungen – auch die staatsrechtlichen und die völkerrechtlichen – auf einem System des natürlichen Privatrechts. 33 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, in quibus jus naturæ & gentium, item iuris publici præcipua explicantur. Cum annotatis auctoris, ex postrema ejus ante obitum cura. Accesserunt ejusdem dissertatio de mari libero, & libellus singularis de æquitate, indulgentia, & facilitate, nec non Joann. Frid. Gronovii v. c. notæ in totum opus de jure belli ac pacis. Editio novissima, Amstelædami MDCCXII, prol., § 40, S. XXII. 34 [Giuseppe Averani], Mémoire sur la liberté de l’État de Florence, o.O. o.J. [1721], S. 1. 35 Ebd., S. 1 f.
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Prinzipats im Jahre 1531 dargelegt wird, folgt im zweiten Teil die historischjuristische Begründung, daß mit der Errichtung des meidiceischen Prinzipats die florentinische Freiheit gewahrt blieb. Im Anschluß daran findet sich eine Widerlegung der Argumente, mit denen der Kaiser seine lehensrechtlichen Ansprüche begründete. Von Anbeginn, schrieb Averani, sei die Republik Florenz unabhängig vom Reich gewesen,36 absolute Herrscherin in ihrem Dominium, nachdem der populus fiorentinus nach dem Untergang des Römischen Reiches seine Freiheit wieder erlangt habe.37 Unter Rückgriff auf Grotius führte Averani aus, daß aus dem Niedergang des Römischen Reiches auch eine veränderte Beziehung zum Kaiser resultiere. Auch wenn der deutsche Kaiser im Grunde Nachfolger der Römischen Kaiser sei, hätten sich jedoch die Besitzverhältnisse im Laufe der Jahrhunderte verändert, sodaß zahlreiche alte Rechtsansprüche erloschen seien.38 Die florentinische Republik habe sich durch ihre eigenen Gesetze und Magistrate regiert; die Magistratsmitglieder seien vom populus fiorentinus gewählt gewesen, ihre Autorität habe aus dieser Wahl resultiert, die durch keine andere Staatsgewalt bestätigt worden sei.39 Demnach basierte die Herrschaft der städtischen Magistrate auf der Zustimmung des populus fiorentinus, der durch die Wahl den betreffenden Magistraten die entsprechende Souveränität übertragen hatte. Der ganzen Welt sei die Freiheit der florentinischen Republik bekannt, und um dies zu belegen, führte Averani neben historischen Argumenten ebenfalls Stellungnahmen römisch-rechtlicher Kommentatoren von Paolo di Castro bis Filippo Decio und ihre consilia an. Darin hieß es: „Populus fiorentinus [...] non recognoscit superiorem“, oder: „Imperator nullam exercet jurisdictionem in civitate Florentiæ, neve in territorio Dominorum Florentinorum.“40 Sämtliche Rechtsgelehrte sprächen für die Zeit vor der Errichtung des Prinzipats von der Freiheit der Republik Florenz und ihrer Unabhängigkeit vom Reich, denn daran habe kein Zweifel bestanden.41 Da es sich hier um eine allgemeine Übereinkunft (communis consensus) der Rechtsgelehrten handelte, war die florentinische Republik folglich – entsprechend der grotianischen Definition des Völkerrechts – in den Jahrhunderten vor Errichtung des mediceischen Prin___________ 36
Ebd., S. 4. Ebd., S. 18. 38 Ebd., S. 23 f., sowie H. Grotius, De jure (wie Anm. 33), lib. II, cap. 22, § 13.2, S. 589. 39 Vgl. [G. Averani], Mémoire (wie Anm. 34), S. 2. 40 Ebd., S. 5 ff. 41 „Rien sans doute n’est plus précis, que le témoignage de ces Auteurs, & rien aussi n’est moins sujet à contestation“, wie Averani schrieb. Ebd., S. 7. 37
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zipats ein souveräner ‚Staat‘. Es ist ein durchgängiges Argumentationsmuster in Averanis Mémoire, mit einer möglichst großen Zahl von zeitgenössischen – historischen wie juristischen – Aussagen diese allgemeine Übereinkunft über die Unabhängigkeit des florentinischen ‚Staates‘ zu dokumentieren.42 Nachdem Averani gezeigt hatte, daß an der florentinischen Unabhängigkeit vor 1531 kein Zweifel bestanden habe, wandte er sich der Frage zu, wie die Intervention Karls V. zugunsten der Medici zu bewerten sei und welche Rolle der Kaiser bis zur Ernennung Cosimos I. gespielt habe. Um den Medici die Rückkehr nach Florenz zu ermöglichen, habe der Kaiser dem Papst militärische Unterstützung zugesagt, aber keine Souveränität über Florenz angestrebt, wie der Vertrag von Barcelona (1529) zeige.43 Die neue Regierungsform – und damit der Übergang von der Republik zum Prinzipat – sei zwar unter Vermittlung Karls V. zustande gekommen, aber durch diese Funktion des Kaisers habe sich der Rechtsstatus von Florenz nicht geändert.44 Ein Vermittler, so Averani, besitze nur die Rechte, die ihm seitens der interessierten Parteien zugestanden werden.45 Die Wahl Cosimos I. – nach dem Tod Alexanders – liefere einen weiteren Beweis für die Freiheit von Florenz, denn: „le Senat, en qui residoit alors toute l’autorité de la Republique, & qui subsiste encore aujourd’huy, s’assembla pour déliberer sur le Gouvernement“. Nach mehreren Beratungen sei schließlich Cosimo zum Nachfolger Alexanders gewählt worden. Dabei habe sich der Senat seiner Freiheit bedient und Giulio de’ Medici von der Nachfolge ausgeschlossen, obwohl er – dem Schiedsspruch Karls V. zufolge – als nächster Verwandter Alexanders diesem als Staatsoberhaupt hätte nachfolgen sollen. Doch weder der Kaiser noch sein Gesandter hätten Beschwerde gegen diese oder andere Entscheidungen erhoben, die von der Republik ohne deren Zustimmung getroffen ___________ 42 Die Liste seiner Zeugen erweiterte Averani im Anhang der Mémoire. Größtenteils zitiert wurden dort – getrennt voneinander – diejenigen, die von der florentinischen Freiheit vor bzw. nach Errichtung des mediceischen Prinzipats sprachen; gesondert aufgeführt wurden außerdem die deutschsprachigen Autoren, die geschrieben hatten, Florenz sei unabhängig vom Reich. Vgl. ebd., S. 45–50 und S. 52–57. 43 Ebd., S. 8 f. 44 Ebd., S. 18. 45 Ebd., S. 13. Tatsächlich enthielt der Unterwerfungsvertrag vom 12. August 1530 neben der Zusage, die traditionelle kommunale Freiheit zu wahren, die Bestimmung, daß binnen vier Monaten durch den Kaiser die künftige Regierungsform der Republik bestimmt werde. Vgl. Danilo Marrara, Studi giuridici sulla Toscana medicea. Contributo alla storia degli stati assoluti in Italia, Milano 1965, S. 4, sowie Arnaldo D’Addario, Alle origini dello Stato moderno in Italia. Il caso toscano, Firenze 1998, S. 149 [zuerst: Lecce 1976].
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worden seien.46 Es sei der Senat gewesen, der sich frei versammelt und Cosimo die Souveränität übertragen habe.47 Wiederholt hatte Averani betont, daß der Senat Inhaber der Souveränität sei, diese aber den Medici übertragen habe. Daher fiele – sollte die Linie der Medici ausstreben – die Souveränität an den Senat zurück. Die Freiheit der Wahl Cosimos werde von allen Historikern bescheinigt und der Titel eines Großherzogs sei Cosimo von Papst Pius V. verliehen worden.48 Die Verleihung eines Titels impliziere weder eine Hoheit noch irgendeine Jurisdiktion über die betreffende Person, wie Averani unter Hinweis auf Besold, Lampadius und andere ausführte.49 Vor der Errichtung des Prinzipats habe die florentinische Republik weder dem Kaiser noch dessen Legaten je einen Treueschwur geleistet und nach der Errichtung des Prinzipats hätten auch die Medici den Kaiser nie als ihren Souverän anerkannt. Averani verwies an diesem Punkt auf Kaspar Klock, der geschrieben hatte, wenn der Kaiser ein Lehensrecht besäße, hätte er die Republik unterworfen.50 Die Beziehung zwischen Reich und Florenz nach der Errichtung des Prinzipats deutete Averani als ein Schutzverhältnis. Unter Hinweis auf Grotius schrieb Averani,51 wie das private Patronatsverhältnis die Freiheit der Person nicht aufhebe, so hebe das öffentliche Patronatsverhältnis nicht die Freiheit eines Staates auf, die ohne die volle Staatsgewalt unmöglich sei. Mit Arthur Duck war Averani der Meinung, daß sich die besten Juristen darin einig seien, „que les Grand Ducs de Toscane sont Maître absolus & Souverains dans l’État de Florence“.52 Daß Privilegien oder den Schutz des Kaisers in Anspruch zu nehmen, keineswegs die Souveränität eines ‚Staates‘ schmälere, führte Averani unter Hinweis auf Rechtsgelehrte wie Menochio, Besold oder Reinkingk aus.53 Es sei lächerlich, aus einem Schutzverhältnis auf eine Abhängigkeit („dépendance“) und Unterordnung („subjection“) Florenz’ zu schließen, denn aus einem Schutzverhältnis resultiere keine Jurisdiktion des Patrons über den Klienten.54
___________ 46
Vgl. [G. Averani], Mémoire (wie Anm. 34), S. 14. Ebd., S. 34. Siehe auch F. Diaz, Il granducato (wie Anm. 4), S. 512 und S. 521. 48 Vgl. [G. Averani], Mémoire (wie Anm. 34), S. 15 f. 49 Ebd., S. 40. 50 Ebd., S. 12 f. 51 Vgl. H. Grotius, De jure (wie Anm. 33), lib. I, cap. 3, § 21.3, S. 120. 52 Vgl. [G. Averani], Mémoire (wie Anm. 34), S. 15. 53 Ebd., S. 30–33. 54 Ebd., S. 32 f., sowie H. Grotius, De jure (wie Anm. 33), lib. I, cap. 3, § 21.5, S. 121. 47
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Daher sei es höchst ungerecht, aus einem freien und unabhängigen Staat ein Reichslehen zu machen; darin unterschieden sich die vertragschließenden Parteien der Quadrupelallianz von Karl V.55 Grundlos solle nun die Verfassung eines freien ‚Staates‘, über den das Reich keinerlei Rechte besitze, zum Leidwesen seiner Bevölkerung geändert werden.56 Das Bemühen, die kaiserlichen Ansprüche als haltlos zu beweisen, war letztlich vergeblich, denn mit dem Vertrag von London waren machtpolitische Fakten geschaffen worden. Wenn Reichsjuristen es ihrerseits unternahmen, die Ansprüche Karls VI. zu belegen, so ging es in erster Linie darum, wie Mario Benvenuti schrieb, den Anschein zu wahren.57
III. Bernardo Tanucci oder die Herrschaftsansprüche des Königs von China Nachdem Carlo Rinuccini 1726 erfahren hatte, daß Bernardo Tanucci vor Freunden die These von der „libertà fiorentina“ vertreten hatte, beauftragte er ihn, mehrere Dissertationen zu verfassen, um die habsburgischen Antworten auf die Schriften Averanis zu widerlegen.58 Tanuccis Dissertationen blieben unpubliziert, verbreitet wurden sie in Manuskriptform, unter anderem an die Mitglieder der Quadrupelallianz. Zeit seines Lebens vertrat Tanucci – wie auch in seinen Briefen sichtbar wird, in denen er sich wiederholt auf seine Dissertationen bezieht – die These der „Libertà della Toscana dalla Feudalità imperiale“. Die politisch-juristische Formationsphase Bernardo Tanuccis fiel in die Zeit der Auseinandersetzung um die florentinische Freiheit; sie prägte Tanuccis Ablehnung des Kaisers und des Feudalsystems. Zu Zeiten der Quadrupelallianz, als die Frage der mediceischen Thronfolge und die angebliche Zugehörigkeit Toskanas zum Reich heftig diskutiert wurde, hatte Bernardo Tanucci unter anderen bei Giuseppe Averani in Pisa studiert. 1719 – nach seiner Promotion in utroque iure und Gerichtspraktika bei Giovanni Bonaventura Neri Badia – wurde er ___________ 55
Vgl. [G. Averani], Mémoire (wie Anm. 34), S. 18 f. Ebd., S. 43 f. 57 Vgl. M. Benvenuti, L’erudizione (wie Anm. 18), S. 486, sowie K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 140. 58 Vgl. Mario D’Addio, Impero, feudalesimo e storia d’Italia nel pensiero civile di Tanucci, in: Bernardo Tanucci statista letterato giurista. Atti del convegno internazionale di studi per il secondo centenario, 1783–1983, Napoli 1986, S. 23–56, hier S. 29 f. Neben diesem Tagungsband siehe ebenfalls Bernardo Tanucci e la Toscana. Tre giornate di studio, Pisa Stia 28–30 settembre 1983, Firenze 1986, sowie Bernardo Tanucci nel terzo centenario della nascita, 1698–1998, Pisa 1999. 56
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zum lettore di istituzioni civili an der Universität Pisa ernannt.59 Noch Jahre später schrieb Tanucci, „che il trattato di Londra, senza riguardo al dritto [!] dei popoli di Toscana, stabilì la feudalità di quel paese“.60 In einer seiner Dissertationen habe er, wie Tanucci 1739 schrieb, mit geometrischer Methode bewiesen, daß Italien und Deutschland durch einen gewählten Herrscher regiert worden seien, bis diese Praxis mit Friedrich I. ihr Ende gefunden habe. Die Reaktion der Italiener, „di mettersi in libertà“, sei daher „giustissima“ gewesen. Alle späteren Investituren seien bloße Ansprüche gewesen, denen aber die Zustimmung der Italiener gefehlt habe.61 Der Kampf der italienischen Kommunen gegen Friedrich Barbarossa war in den Augen Tanuccis der sichere historische Beweis, daß die italienischen Städte unabhängig vom Reich waren, denn das Reich habe in Italien keine Staatsgewalt besessen. Als Friedrich I. nämlich Korsika und Sardinien unterwerfen wollte, habe er feststellen müssen, daß sich sein Anspruch auf eine bloße Meinung gründete und die Inhaber der tatsächlichen Herrschaftsgewalt, Pisa und Genua, nicht bereit gewesen seien, eine Eroberung preiszugeben, die zahlreiche Kämpfe und Opfer erfordert habe.62 Ein Gutachten, das Tanucci im Oktober 1742 verfaßte, enthielt die Argumentationslinie der betreffenden Dissertation. Bis zu Friedrich I., so Tanucci, seien alle Herrscher, die Italien regierten, – von den Langobarden über die Karolinger bis zu den Staufern – gewählt worden. Mit dem Ende der italienischen Reichsversammlung von Roncaglia (1158) hätten die Italiener Republiken gebildet, ohne jemals wieder einen König oder Kaiser zu wählen: „e perciò per dritto [!] naturale rimasi nella nativa antica libertà“.63 In der Folgezeit habe kein Deut___________ 59
Vgl. E. Spagnesi, Il diritto (wie Anm. 20), S. 250. Tanucci an José Joaquin Guzman de Montealegre, 12.10.1742, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. I (wie Anm. 2), S. 630–633, hier S. 632 [„daß der Vertrag von London, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht von Toskana, die Lehensabhängigkeit dieses Landes festlegte“]. 61 Tanucci an Salvatore Ascanio, 17.3.1739, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. I (wie Anm. 2), S. 342 f. [„sich in Freiheit zu begeben (...) höchst gerecht“]. Siehe auch die Schreiben Tanuccis an Giovanni Fogliani, 28.7.1746, sowie an Michelangelo Giacomelli, 9.9.1746, in: Bernardo Tanucci, Epistolario, vol. II: 1746–1752, hrsg. v. R. P. Coppini / R. Nieri, Roma 1980, S. 86 ff., insb. S. 87, und S. 113–118, insb. S. 116 f. 62 [Bernardo Tanucci], Del dominio antico pisano sulla Corsica, in: Saggi di dissertazioni accademiche pubblicamente lette nella nobile accademia etrusca dell’antichissima città di Cortona, tomo VII, Roma MDCCLVIII, S. 173–198, hier S. 193 f. 63 Tanucci an José Joaquin Guzman de Montealegre, 23.10.1742, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. I (wie Anm. 2), S. 633 ff., hier S. 634 [„und deshalb – aufgrund ihrer natürlichen Rechte – erlangten sie die ursprüngliche Freiheit zurück“]. Siehe auch Ta60
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scher jemals irgendeine Souveränität in Italien inne gehabt oder länger als zehn aufeinanderfolgende Jahre irgendeinen Teil Italiens friedlich besessen; Souveränitätsrechte seien aber immer an die tatsächlich ausgeübte Macht gebunden.64 Mit explizitem Verweis auf seine Dissertationen brachte Tanucci 1746 seine fundamentale kaiserkritische Haltung in der Formulierung auf den Punkt: „il re di Germania abbia in Italia il medesimo impero che vi possa pretendere il re della Cina.“65 Die universale Ordnung, auf die sich das Reich mit seinen imperialen Ansprüchen berief, besaß in den Augen Tanuccis keine Entsprechung in der Wirklichkeit der zwischenstaatlichen Beziehungen, zumal es zahlreiche, inzwischen vom Reich längst unabhängige Staaten wie Frankreich gab. „I sovrani sono uguali nella potenza interiore. Quale e quanto è uno nel suo paese, tale e tanto è l’altro nel suo.“66 Auf der Basis dieses Prinzips hatten Grotius und Pufendorf ein europäisches Staatsrecht definiert. Der Anspruch auf eine überstaatliche imperiale Gewalt war – politisch und juristisch – eine archaische Konzeption, die das moderne politisch-juristische und staatsrechtliche Denken überwunden hatte. Daher konnte Tanucci jene Politiker und Juristen als vorsintflutlich bezeichnen, die sagten: „Imperator est dominus totius mundi.“ Und mehr noch: Eine solche Gelehrtenmeinung sei wie die Lage der Medizin vor der Erforschung der Anatomie und des Blutkreislaufes; diesen triumphreichen und grundlegenden Entdeckungen entspreche in der Jurisprudenz das „Ius pubblico“ des Grotius.67 Es sei das Naturrecht der Völker, wie Tanucci – Pufendorf zitierend – schrieb, wenn eine Dynastie aussterbe oder eine Herrschaft ende, eine neue Regierungsform und neue Herrscher zu wählen.68 Herrschaft basiere, so Tanucci, ___________ nucci an Michelangelo Giacomelli, 9.9.1746, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. II (wie Anm. 61), S. 113–118, insb. S. 117. 64 Tanucci an José Joaquin Guzman de Montealegre, 23.10.1742, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. I (wie Anm. 2), S. 633 ff. 65 Tanucci an Michelangelo Giacomelli, 9.9.1746, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. II (wie Anm. 61), S. 113–118, hier S. 117 [„der König von Deutschland hat in Italien die gleiche Herrschaftsgewalt, die der König von China beanspruchen kann“]. Ebd. heißt es: „Non pensate ch’io non abbia esaminato bene le cose; tra l’anno 1726 e l’anno 1731 stesi ventiquattro dissertazioni che sarebbono state stampate, s’io non fossi allor divenuto cortigiano.“ 66 Tanucci, 29.6.1747, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. II (wie Anm. 61), S. 273–279, hier S. 274 [„Die Souveräne sind gleich in ihrer Gewalt nach innen. Wieviel der eine in seinem Land ist, soviel ist der andere in seinem“]. 67 Tanucci an Francesco Maggi, 1.3.1746, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. I (wie Anm. 2), S. 905 ff., hier S. 906. 68 [Bernardo Tanucci], Diritti della Corona di Napoli sopra Piombino, o. O. o. J., S. LXII–LXIII. Immer wieder bezog sich Tanucci in seinen Ausführungen auf Grotius
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auf der Zustimmung der Untertanen,69 und gegen eine Regierung, die aufgrund einzelner Gesetze und Privilegien zur Despotie werde, sei jede Rebellion gerecht, „poiché con tali passi ha già il governo dichiarata la guerra al popolo.“ Ein Herrscher, der mit stillschweigender oder ausdrücklicher Zustimmung regiere, „deve stare alle leggi fondamentali della nazione, la quale ha sempre la potestà di riprendere il suo [diritto].“70 Auch wenn Tanucci die Bewunderung Antonio Niccolinis für Montesquieus Esprit des Lois nicht uneingeschränkt teilte, so schrieb er dennoch unter Hinweis auf Montesquieu, daß der Souverän, der an seinen eigenen Nutzen denke, auch erkenne, daß es zu seinem Vorteil sei, den Untertanen die Freiheit zu gewähren und zu bewahren. Und Tanucci fuhr fort: „La liberta secondo le leggi che sien fatte colla vera sapienza e co’ rappresentanti del popolo, è la vera felicità, sicurezza e potenza del sovrano.“71
IV. Giuseppe Maria Buondelmonti oder der verpflichtende Charakter des Gesellschaftsvertrags Carlo Rinuccini war einer der treibenden Kräfte gewesen, nach dem Aussterben der Medici wieder die alte florentinische Republik zu errichten,72 und der ___________ und Pufendorf, aber ebenso auf die Kommentare von Barbeyrac. Siehe u. a. Tanucci, Epistolario, vol. II (wie Anm. 61), S. 80, 280, 443, 667, 670 f. und S. 749. 69 Vgl. Tanucci an Giovanni Fogliani, 28.7.1746, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. II (wie Anm. 61), S. 86 ff., hier S. 88. 70 Vgl. Tanucci an Francesco Nefetti, 20.3.1752, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. II (wie Anm. 61), S. 748 ff., hier S. 749 [„denn mit solchen Schritten hat bereits die Regierung dem Volk den Krieg erklärt [...] muß sich an die Grundgesetze der Nation halten, die immer die Gewalt besitzt, ihr (übertragenes) Recht zurückzunehmen“]. Siehe in diesem Zusammenhang das Kapitel über ‚Obbedienza, ribellione, diritto di resistere‘ in Angela De Benedictis, Politica, governo e istituzioni nell’Europa moderna, Bologna 2001, insb. S. 315–326, sowie – im Hinblick auf Grotius – Frank Grunert, Sovereignty and Resistance: The Development of the Right of Resistance in German Natural Law, in: Natural Law and Civil Sovereignty. Moral Right and State Authority in Early Modern Political Thought, hrsg. v. Ian Hunter / David Saunders, Hampshire 2002, S. 123–138, hier S. 125 ff. 71 Tanucci an Francesco Nefetti, 20.3.1752, in: B. Tanucci, Epistolario, vol. II (wie Anm. 61), S. 748 ff., hier S. 750 [„Die Freiheit gemäß den Gesetzen, die mit wahrer Weisheit und den Repräsentanten des Volkes entstanden sind, ist das wahre Glück, die Sicherheit und Macht des Herrschers“]. Allerdings folgte darauf die ernüchternde Feststellung: „Ma i sovrani sono ignoranti, si lasciano ingannare da pochi favoriti che voglion presto ingrandirsi col favore del principe e vogliono per ciò l’uso del potere arbitrario“. 72 Vgl. K. O. v. Aretin, Das Reich (wie Anm. 4), S. 133. Rinuccini, der bereits unter Gian Gastone als Segretario della Guerra gedient hatte, übte dieses Amt auch nach 1737
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Onkel von Giuseppe Maria Buondelmonti.73 Buondelmonti entstammte einer der führenden Familien des florentinischen Patriziats, genoß die einem Adligen entsprechende Erziehung und Bildung und widmete sich – möglicherweise auch aufgrund seiner schwachen Gesundheit – zeitlebens juristischen und literarischen Studien;74 dazu gehörte ebenfalls die – für das zweite Drittel des 18. Jahrhunderts und das toskanische Großherzogtum charakteristische – Auseinandersetzung mit der (Erkenntnis-)Philosophie John Lockes.75 Giovanni Gualberto De Soria, der selbst zur Verbreitung der Lockeschen Philosophie beigetragen hatte, nannte Buondelmonti „il più gran dotto e il più gran genio della nobiltà fiorentina“.76 Buondelmonti gehörte – wie auch der marchese Antonio Niccolini – zu einer Gruppe gesellschaftlich einflußreicher Personen, die – auch wenn sie keine Ämter in der toskanischen Staatsbürokratie innehatten oder an der Universität Pisa lehrten – einen nicht zu unterschätzenden intellektuellen Einfluß ausübten. Kennzeichnend waren dabei die Betonung des Naturrechts und eine antidespotische Haltung, die sich in einer ‚republikanischen‘ Lektüre Machiavellis77 und der Rezeption des Esprit des Lois Montesquieus niederschlugen.78 ___________ im Consiglio di Reggenza bis zu seinem Tode 1748 aus. Vgl. Furio Diaz, I Lorena in Toscana. La Reggenza, Torino 1988, S. 11 und S. 14 f. 73 Buondelmonti gehörte in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts der florentinischen Freimaurerloge an, in deren Kreisen auch Pompeo Neri verkehrte. Zur florentinischen Freimaurerloge siehe Carlo Francovich, Storia della massoneria in Italia dalle origini alla rivoluzione francese, Firenze 21975, S. 49–85; Giovanni Targioni Tozzetti, Selva di notizie spettanti all’origine dei progressi e miglioramenti delle scienze fisiche in Toscana, in: B.N.C.F. (= Biblioteca Nazionale Centrale, Firenze), Manoscritti Palatini, Targioni Tozzetti 189/1, S. 54, sowie die Bemerkungen in Notizie dei senatori Fiorentini e degl’Impiegati ne’ diversi Tribunali della Città di Firenze intorno all’Anno MDCCXLI, in: A.S.F. (= Archivio di Stato di Firenze), Segreteria di Gabinetto, n. 121. 74 Zu Buondelmonti (1713–1757) siehe Furio Diaz, [Art.] ‚Buondelmonti, Giuseppe Maria‘, in: DBI, vol. 15, Roma 1972, S. 212–215; Eric Cochrane, Giuseppe Maria Buondelmonti. Nota introduttiva, in: Politici ed economisti del primo Settecento, hrsg. v. Raffaele Ajello, Marino Berengo u. a., Milano, Napoli 1978, S. 537–542, sowie Marcello Verga, Da ‚cittadini‚ a ‚nobili‘. Lotta politica e riforma delle istituzioni nella Toscana di Francesco Stefano. In appendice: le relazioni di Pompeo Neri sul codice (1747), la nobiltà (1748) e le magistrature fiorentine (1745–1763), Milano 1990, ad indicem. 75 Siehe im Falle Buondelmontis seine Lettera sopra la misura e il calcolo dei piaceri e dei dolori, die erstmals 1749 gedruckt wurde. 76 Giovanni Gualberto De Soria, Raccolta di opere inedite, vol. 1, Livorno 1773, S. 125, zit. nach Giulio Natali, Il Settecento, vol. I, Milano 31929, S. 298 [„der größte Gelehrte und das größte Genie des florentinischen Adels“]. 77 Das, was Diderot am Ende seines Encyclopédie-Artikels ‚Machiavélisme‘ bereits andeutete, nämlich die antidespotische Haltung Machiavellis, die sich unter anderem in der Darstellung des Brutus zeige, unterstrich der Kommentar des 1767 in Lucca erschienenen Nachdrucks der Encyclopédie; laut Francesco Raimondo Adami war Machiavelli ein Verteidiger der Freiheit. Vgl. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences,
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Die antidespotische Grundüberzeugung Buondelmontis läßt sich in dessen Ragionamento sul diritto della guerra giusta sowie den drei Leichenreden ablesen, die er zwischen 1737 und 1755 hielt und in denen er sich argumentativ des Naturrechts bediente, dem er eine grundlegende Bedeutung beimaß, ohne jedoch seine Vorstellungen systematisch darzulegen. Das Naturrecht, „che ha sì stretta connessione colla vera politica, e che ne contiene le cognizioni preliminari“,79 war für Buondelmonti eine vernunftethische Norm, dem sich die politischen Notwendigkeiten anzupassen hatten. In der societas civilis verlören die „primi immutabili principii di quella invariabil regola anteriore a tutte le leggi civili, e fondata sulla natura istessa degli uomini, che legge naturale si appella,“80 nicht ihre Gültigkeit. Buondelmonti sprach immer wieder von der „eterna invariabil regola“81 und erhob so das Naturrecht gleichzeitig zum überpositiven Rechtfertigungsgrund seiner ethisch-politischen Auffassungen. Es ist die entscheidende Argumentationsfigur, derer sich Buondelmonti bediente, um seine antidespotische Position gegenüber den neuen Machthabern zum Ausdruck zu bringen. In Übereinstimmung mit Grotius, Hobbes und Montesquieu, aber im Unterschied zu Aristoteles,82 waren Buondelmonti zufolge die Menschen im status ___________ des arts et des metiers, vol. IX, [Lucca] 1767, S. 643, sowie Mario Rosa, Dispotismo e libertà nel Settecento. Interpretazioni ‚repubblicane‘ di Machiavelli, Bari 1964, S. 49. Zu Adami siehe Giovanni Miccoli, [Art.] ‚Adami, Francesco Raimondo‘, in: DBI, vol. 1, Roma 1960, S. 233 f. 78 Vgl. Paola Berselli Ambri, L’opera di Montesquieu nel Settecento italiano, Firenze 1960, ad indicem. In den letzten zwanzig Jahren ist wiederholt die These vertreten worden, Buondelmontis Ausführungen zielten gegen den neuen Großherzog Franz Stephan und dessen Statthalter. Vgl. F. Diaz, I Lorena, (wie Anm. 72), S. 35; M. Verga, Da ‚cittadini‘ (wie Anm. 74), S. 58; Maria Augusta Morelli Timpanaro, Per una storia di Andrea Bonducci (Firenze, 1715–1766). Lo stampatore, gli amici, le loro esperienze culturali e massoniche, Roma 1996, S. 77. 79 Giuseppe Maria Buondelmonti, Ragionamento sul diritto della guerra giusta letto nell’Accademia della Crusca dall’illustrissimo signore Giuseppe Buondelmonti patrizio fiorentino e cavalier commendatore del sacro ordine gerosolimitano. Edizione seconda in cui trovasi aggiunta una lettera dell’istesso autore sopra la misura ed il calcolo dei dolori e dei piaceri. Firenze MDCCLVII, S. 4 [„welches so sehr mit der wirklichen Politik verbunden ist und deren Grundvoraussetzungen enthält“]. Auszugsweise auch in Politici (wie Anm. 74), S. 559–668. 80 Giuseppe Maria Buondelmonti, Delle lodi dell’Altezza Reale del Serenissimo Gio. Gastone, VII Gran Duca di Toscana: Orazione funerale, in: Politici (wie Anm. 74), S. 543–558, hier S. 550 [„die ersten, unveränderlichen Prinzipien jener unveränderlichen Regel, welche schon vor allen bürgerlichen Gesetzen bestand, sich auf der Natur des Menschen selbst gründet und Naturgesetz genannt wird“]. 81 Vgl. G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 545, 547 u. ö. 82 Vgl. Montesquieu, De L’Esprit des Lois, liv. I, chap. 2, sowie liv. VIII, chap. 3, in: id., Œuvres complètes, publiées sous la direction de M. André Masson, tome I, Paris
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naturalis gleich.83 Grundannahme und Ausgangspunkt von Buondelmontis Überlegungen waren die schon im Naturzustand vorhandenen gegenseitigen Verpflichtungen der Menschen untereinander;84 sie hätten ihre Ursache in der sociabilità universale und bestünden unabhängig von der göttlichen Schöpfung, wie Buondelmonti betonte. Er betrachtete die Menschen, wie es die klassische politische Philosophie seit Aristoteles behauptete, als ursprünglich gesellige Wesen, d.h., der Mensch war bereits im Naturzustand und nicht erst in der Gesellschaft ein humanes Wesen.85 Aus dieser sociabilità universale resultierten – ähnlich wie bei Grotius – gewisse unverletzliche Regeln des Naturgesetzes, und zwar: „Che non deesi far male, o cagionar danno ad alcuno ingiustamente; che ciascheduno dee esercitare inverso gli altri, per quanto da lui dipende, i doveri d’umanità; e che gli uomini eseguir debbono senza forza quello, a cui si sono obbligati per qualche libera convenzione. La pratica di questi doveri produce quel pacifico insieme e felice stato, che Pace propriamente si chiama“.86 ___________ 1950, S. 1–430, hier S. 5 und S. 152, sowie Thomas Hobbes, Leviathan, or the Matter, Form, and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil, part I, chap. XIII und XV, in: id., The English Works. Now First Collected and Edited by Sir William Molesworth. Vol. III. Reprint of the edition of 1839, Aalen 1962, S. 110 und S. 141. Hobbes bezieht sich ebd., part I, chap. XV, S. 140 f., ausdrücklich auf Aristoteles, von dem er sich abgrenzt, indem er mit der Vernunft und der Erfahrung argumentiert. 83 Vgl. G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 552. 84 So sprach Buondelmonti auch hier von den „regole certe e inviolabili della Legge naturale“. Vgl. G. M. Buondelmonti, Ragionamento (wie Anm. 79), S. 7. Zum Verpflichtungscharakter der Naturgesetze, von dem auch Hobbes ausging, siehe T. Hobbes, Leviathan (wie Anm. 82), part I, chap. XIV, S. 116 ff. 85 Siehe in diesem Sinne auch H. Grotius, De jure (wie Anm. 33), prol., § 6, 9 und 16, S. V, VII–VIII und S. XI, sowie Montesquieu, De L’Esprit (wie Anm. 82), liv. I, chap. 1 und 2, S. 3 und S. 6. Das Verlangen, in Gesellschaft zu leben, bezeichnete Montesquieu als viertes Naturgesetz. 86 G. M. Buondelmonti, Ragionamento (wie Anm. 79), S. 7 [„daß ich keinem (Menschen) ungerechtfertigt Böses antun oder Schaden zufügen soll, daß jeder den anderen gegenüber, soweit dies von ihm abhängt, zur Menschlichkeit verpflichtet ist, und daß die Menschen ohne Zwang dem folgen sollen, wozu sie sich aus freier Übereinkunft verpflichtet haben. Die Umsetzung dieser Pflichten ergibt jenen zugleich friedvollen und glücklichen Zustand, der im eigentlichen Sinne Friede genannt wird“]. Siehe in diesem Sinne auch ebd., S. 11, wo es heißt: „è indubitato, come io penso, che la tranquillità universale del genere umano sia lo scopo primario degli originali e naturali doveri dell’Uomo.“ Obwohl er eigentlich Montesquieu folgte, der geschrieben hatte, „la paix seroit la première loi naturelle“, war Buondelmonti, wie er selbst feststellte, wieder bei Hobbes angekommen, denn bereits im Leviathan hieß es, „the first, and fundamental law of nature […] is, to seek peace, and follow it.“ Montesquieu, De L’Esprit (wie Anm. 82), liv. I, chap. 2, S. 5, sowie Hobbes, Leviathan (wie Anm. 82), part I, chap. XIV, S. 117. Siehe auch ebd., part I, chap. XV, S. 138, wo es heißt: „the condition of war [...] is contrary to the first and fundamental law of nature, which commandeth men to seek peace“, sowie Montesquieu, De L’Esprit (wie Anm. 82), liv. X, chap. 2, S. 182 f.
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Die Menschen begäben sich aus dem utilitaristischen Grund in die societas civilis, um ihre Freiheit rechtlich zu sichern und friedlich zu genießen.87 Doch dieser Frieden, in dem die Menschen zu leben strebten, sei nur dann ein wirklicher (und glücklicher) Frieden, so Buondelmonti, wenn er mit der Freiheit des Menschen einhergehe. Wenn der Frieden hingegen das Ergebnis von Unterdrückung oder willkürlicher Herrschaft sei, dann handele es sich nicht um Frieden im eigentlichen Sinn, sondern um eine traurige Ruhe, um Knechtschaft und Elend.88 Und so sprach Buondelmonti im Hinblick auf die Regierungszeit des 1737 verstorbenen Großherzogs Gian Gastone de’ Medici von „quella beata libertà cui egli ci fé durante il suo placido governo gustare; innocente libertà, per cui ognuno di noi, che la pubblica tranquillità o potenza non avesse offesa, poté la sua privata felicità liberamente procacciarsi ed il legittimo possesso de’ suoi reali o immaginari beni sicuramente godere.“89 Die Erwartung, daß sich der neue Großherzog Franz Stephan an dem Beispiel seines Vorgängers orientiere,90 brachte Buondelmonti am Ende seiner Leichenrede für Gian Gastone unmißverständlich zum Ausdruck.91 Es waren die lothringischen Statthalter, die Buondelmonti ersucht hatten, während der Trauerfeier am 9. Oktober 1737 die Leichenrede auf den verstor-
___________ 87 Vgl. G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 545, 550 und S. 556. Siehe dahingehend auch H. Grotius, De jure (wie Anm. 33), prol., § 16, sowie lib. I, cap. 1, § 14, S. XI und S. 16 f. 88 Vgl. G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 552, und ders., Ragionamento (wie Anm. 79), S. 7 f. 89 G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 544 [„jener seligen Freiheit, die er uns während seiner Regentschaft kosten ließ; eine unschuldige Freiheit, sodaß jeder von uns, der nicht den öffentlichen Frieden oder die Macht verletzt hatte, sich sein privates Glück beschaffen und den legitimen Besitz seiner wirklichen oder imaginären Güter sicher genießen konnte“]. 90 Durch den Vorfrieden von Wien war 1735 Franz Stephan von Lothringen, der Gemahl Maria Theresias und spätere Franz I., dazu bestimmt worden, nach dem Tode Gian Gastones als Großherzog von Toskana zu regieren. Vgl. Karl Otmar von Aretin, Italien im 18. Jahrhundert, in: Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 4, hrsg. v. Theodor Schieder, Stuttgart 1968, S. 585–633, hier S. 593, sowie Renate Zedinger, Hochzeit im Brennpunkt der Mächte. Franz Stephan von Lothringen und Erzherzogin Maria Theresia, Wien / Köln / Weimar 1994. 91 „Questa sì lagrimevol perdita più aspro e più durevol senso di tristezza avrebbe in noi certamente prodotto, […] se non fossero le presenti nostre speranze appoggiate su quelle sublimi, chiarissime qualità che adornano l’animo dell’Altezza Reale del Serenissimo Francesco III duca di Lorena e di Bar, ed ora nostro clementissimo sovrano, qualità che chiaramente promettono di farci sicuramente godere i dolci effetti di un giusto, placido e felicissimo governo.“ G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 544.
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benen Großherzog Gian Gastone de’ Medici zu halten.92 Daß das Bild, das Buondelmonti von Gian Gastone zeichnete, keineswegs in allem den Tatsachen entsprach, muß nicht eigens betont werden; die Leichenrede enthielt vielmehr eine knappe Skizze dessen, was in den Augen Buondelmontis eine gute Regierung auszeichnete – und diese Skizze breitete er vor den Repräsentanten des neuen Großherzogs aus, die bei der Trauerfeier zugegen waren.93 Schon die Einleitung der Leichenrede kreiste immer wieder um die Begriffe ‚libertà‘, ‚equità‘ und ‚felicità‘.94 Daß Gian Gastone in geradezu vorbildlicher Weise regiert habe, es sich hier um ein lehrreiches Beispiel handele, unterstrich Buondelmonti am Ende seiner Redeeinleitung, als er feststellte: „da niun altro metodo di governare dipendono la felicità dei popoli e la sicurezza dei sovrani.“95 Die allgemeinen Kriterien, nach denen eine Herrschaft zu bewerten sei, benannte Buondelmonti anschließend und leitete sie aus den, wie er es nannte, unveränderlichen Regeln menschlichen Handelns ab. Später in seiner Leichenrede kam er abermals auf die Kriterien einer guten Regierung zurück, als er davon sprach, daß die gebildete wie die ungebildete Bevölkerung (‚popolo‘) eine
___________ 92 Während der besagten Feierlichkeiten kam der politischen und gesellschaftlichen Elite von Florenz eine herausgehobene Stellung zu. Vgl. M. Verga, Da ‚cittadini‘ (wie Anm. 74), S. 53. 93 Wenn der florentinische Patrizier Giuseppe Maria Buondelmonti in seiner Trauerrede, die eine Lobrede war, Gian Gastone de’ Medici als „giustissimo principe“ bezeichnete, „che noi abbiamo teneramente amato, perché egli con sincero affetto ama noi; principe a cui noi ci facemmo gloria e piacer di obbedire, perché egli non comandò giammai per vana ambizione di comandare“, dann war eine hierarchische Beziehung bezeichnet, die dennoch Anklänge an eine Rede des Senators Neri Dragomanni enthielt. Knapp drei Monate zuvor, am 12. Juli 1737, hatte Dragomanni anläßlich des Treuegelöbnisses für den neuen Großherzog Franz Stephan im Hinblick auf das mediceische Prinzipat ausgeführt: „Essi governavano per Noi, e Noi governavamo per loro, ci amavano come Concittadini, e come tali gradivano di essere da Noi venerati“. G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 543, sowie Rede des Senators Neri Dragomanni, zu diesem Zeitpunkt Luogotenente des Magistrato Supremo, gehalten am 12. Juli 1737 aus Anlaß des Treuegelöbnisses für Franz Stephan, in: Legislazione toscana raccolta e illustrata da Lorenzo Cantini, vol. XXIV, Firenze 1806, S. 37. 94 Siehe in diesem Sinne G. M. Buondelmonti, Delle lodi (wie Anm. 80), S. 545. 95 Ebd. , S. 545 [„von keiner anderen Regierungsweise hängen das Glück der Völker und die Sicherheit der Herrscher ab“]. Und in diesem Sinne heißt es auch gegen Ende der Ausführungen: „Dalle cose narrate chiaro apparisce quanto egli fosse attaccato a quelli inviolabili doveri che riguardano l’interno reggimento di uno stato ed a quelli ancora che, sotto il nome di giustizia compresi, ai sovrani […] impongono l’obbligazion di osservargli“. Ebd., S. 554. Auch Antonio Niccolini sprach in Delle lodi (wie Anm. 27), S. XVI, von der vorbildlichen Regierung Gian Gastones.
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Regierung anhand ebendieser Maßstäbe messe.96 Die ewige unveränderliche Regel menschlichen Handelns, so Buondelmonti, bestehe „nella libera e saggia direzione della potenza di un uomo in vantaggio proprio e degli altri uomini“;97 es entsprach dem, was Buondelmonti bereits für den Naturzustand als sociabilità universale bezeichnete. Angesichts dieser „eterna invariabil regola delle azioni umane“ sei der Verdienst eines Menschen ebenso wie der eines Herrschers danach zu bemessen, was er zum Vorteil der menschlichen Glückseligkeit unternommen habe. Folglich war jegliche herrscherliche Handlung hinsichtlich ihres allgemeinen Nutzens zu beurteilen und am allgemeinen Nutzen hatten sich wiederum die Regierungsentscheidungen zu orientieren.98 Buondelmonti brachte wiederholt mittels der Vergleichspartikel „siccome [...] così“, die eine formalgrammatische Gleichheit zweier Satzglieder betonen, (inhaltlich) den gleichen Grad an Verbindlichkeiten und Verpflichtungen zum Ausdruck, die sowohl für den Herrscher99 als auch für die Untertanen gelten.100 Das Gemeinwohl einer societas civilis, so Buondelmonti, hänge nicht in erster Linie nur davon ab, daß die Untertanen den Gesellschaftsvertrag beachteten, sondern auch der Herrscher habe peinlich genau den Vertrag zu erfüllen, den er ausdrücklich oder stillschweigend mit seinen Untertanen geschlossen hatte; infolgedessen habe der Herrscher auch jede seiner öffentlichen wie privaten Entscheidungen im Hinblick auf das Gemeinwohl abzuwägen.101 Demnach war der Gesellschaftsvertrag ein Herrschaftsvertrag und begründete ein Vertragsverhältnis und wechselseitige Verpflichtungen zwischen Herrscher und Untertanen; ___________ 96
Vgl. ebd., S. 545 f. und S. 550, wo es heißt: „da una gran parte del dotto non meno che dell’inerudito popolo sovente si parli delle regole generali colle quali misurar si dee il buono e il cattivo governo“. 97 Vgl. ebd., S. 545 [„in der freien und weisen Richtung, die ein machtvoller Mensch zum eigenen und zum Vorteil der anderen Menschen einschlägt“]. 98 Vgl. ebd., S. 550. 99 Buondelmonti zufolge konnte die Herrschaftsgewalt in einem Staatsgebilde bei einer oder mehreren Personen liegen, wie er mehrfach feststellte. Vgl. ebd., S. 550 u. ö. 100 Vgl. ebd., S. 546 und S. 550. 101 Nachdem Buondelmonti über die Kriterien gesprochen hatte, nach denen sich der Verdienst eines Menschen bzw. Herrschers bemesse, führte er aus: „Quindi ne segue che, siccome dall’osservanza di ciò che con espresso o tacito consenso si sono gli uomini legittamente obbligati di fare o di astenersi gli uni in verso gli altri, principalmente e generalmente dipendono l’unione e il comun bene per cui si sono formate le particolari società, sì considerate nello stato civile come nello stato naturale; così coloro che rivestiti sono della suprema potenza, che sovranità si chiama, se al fine del loro stabilimento e all’utilità del genere umano le loro azioni indirizzar vogliono, debbono religiosamente osservare il contratto che tacitamente o espressamente han fatto coi popoli loro governati di mantenere e d’accrescere per quanto da essi giustamente si può la loro pubblica felicità.“ Ebd., S. 545 f.
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und der alleinige Zweck der Herrschaftsgewalt bestand fürderhin darin, das allgemeine Wohl zu erhalten und zu vermehren.102 Aus seiner Bestimmung des Gesellschaftsvertrages deduzierte Buondelmonti, daß der Herrscher in seinem Handeln an den Gesellschaftsvertrag gebunden war, der somit gleichsam zu einer Art ‚Staatsgrundgesetz‘ wurde. Da die Menschen ihr Verhalten nicht einem Gesetz anpassen können, das sie nicht kennen, liege es außerhalb der herrscherlichen Gerichtsbarkeit, die Untertanen für etwas zu bestrafen, das keinerlei Beziehung zum Gemeinwohl der societas civilis bzw. des ‚Staates‘ habe.103 Da das Gemeinwohl der Zweck und der Gesellschaftsvertrag und die aus dem Gesellschaftsvertrag resultierende societas civilis das Mittel waren, war jede herrscherliche Handlung, die nicht darauf zielte, das allgemeine Wohl zu erhalten und zu vermehren, eine Verletzung der Rechte anderer – und somit despotisch.104 Angelegt war damit ein Gedanke, der später von anderen für Italien weiter ausformuliert werden sollte: die wechselseitige Bindung von Herrscher und Untertanen durch den Gesellschaftsvertrag, der ein Herrschaftsvertrag war und die Freiheiten der Untertanen als Freiheitsrechte definierte. Daß es Buondelmonti mit seinem vertragsrechtlichen Denken ernst war, zeigte sich in seiner Trauerrede auf Karl VI., die zu Lebzeiten Buondelmontis nur in Abschriften kursierte und erst im 19. Jahrhundert gedruckt wurde,105 denn eine der Präsuppositionen dieser Trauerrede war die Frage der mediceischen Thronfolge, und infolgedessen besaß sie möglicherweise eine gewisse politische Brisanz. Buondelmontis Trauerrede auf Karl VI. ist in mehrfacher Weise interessant; entworfen wurde ein Idealbild, dem der Kaiser aus toskanischer Sicht nicht entsprach, denn das Großherzogtum wurde aufgrund des kaiserlichen Bestrebens zum Reichslehen. Buondelmonti erwähnte dies in seiner Trauerrede mit keinem Wort, obwohl er von der – auf Frieden zielenden – Italienpolitik Karls VI. sprach. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen Realität und Darstellung ließe eine ironische Lesart zu, der jedoch Buondelmontis Bewertung der Pragmatischen Sanktion entgegensteht.106 ___________ 102
Vgl. ebd., S. 545 f. und S. 550. Ebd., S. 550 ff. 104 Ebd., S. 553 f. 105 Vgl. Orazione funerale dell’abate Giuseppe Buondelmonti in lode dell’ Augustissimo Imperadore [!] Carlo VI, in: Nuova collezione di opuscoli e notizie di scienze ed arti, Firenze 1820, vol. I, S. 133–162. 106 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde über die Trauerrede kolportiert, die nur in Manuskriptform zirkulierte, sie sei wegen ihrer bissigen Bemerkungen bislang nicht gedruckt worden. Vgl. M. Rosa, Dispotismo (wie Anm. 77), S. 12. 103
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Das Bild, das Buondelmonti in seiner Trauerrede auf Karl VI. zeichnete, war das eines gemäßigten Monarchen, der jene falsche und verderbliche Regierungskunst verabscheute, mithilfe derer der Herrscher im Schatten der Gesetze ungerecht, aber auch verhaßt sei.107 Vielmehr habe die Regierung des verstorbenen Kaisers den „regole invariabili di una solida prudenza, di un’esatta giustizia, di un’estesa beneficenza“ entsprochen. Regeln, die er als unveränderliche und unverletzliche Gesetze betrachtet habe.108 Bedenkt man, was Buondelmonti an anderer Stelle – wie oben erwähnt – ausführte, dann hätte die Herrschaft Karls VI. also durchaus den unverletzlichen Regeln der Naturgesetze entsprochen. Die Pragmatische Sanktion bezeichnete in den Augen Buondelmontis den Höhepunkt der Regierung Karls VI., denn in ihr kam es zur Willensübereinstimmung zwischen Fürst und Untertanen. Nicht nur die Abgeordneten von Nieder- und Oberösterreich, sondern in Böhmen, Ungarn und den Niederlanden „tutti unanimemente, e volontariamente accettarono un sì vantaggioso regolamento, come legge perpetua ed irrevocabile; ed in tal maniera resero quest’atto pubblico più valido, e più invariabile.“109 Gleichwohl dürfte den meisten Anwesenden, als Buondelmonti seine Trauerrede hielt, bekannt oder in Erinnerung gewesen sein, daß 1713 – als der Kaiser offiziell das Pactum mutuæ successionis verlesen ließ – auch Cosimo III. mit Zustimmung des florentinischen Senats die weibliche Erbfolge beschlossen hatte. Angesichts der umfassenden Reformbestrebungen, die seitens des Consiglio di Reggenza im Namen des neuen Großherzogs seit 1737 unternommen wurden, diente Buondelmonti der Lobpreis Karls VI. dazu, dessen Schwiegersohn und den Regentschaftsrat zu mahnen, die toskanische Staatsverfassung nicht ohne Zustimmung der Bevölkerung (‚popolo‘) umzugestalten.
V. Pompeo Neri oder über das Widerspruchsrecht bei Grotius Pompeo Neri war der am 17. Januar 1706 geborene Sohn Giovanni Bonaventura Neri Badias und stammte aus einer Familie großherzoglicher Fürstendiener. 1726 wurde er von dem bereits erwähnten Giuseppe Averani in utroque iure promoviert, und im November desselben Jahres erhielt Neri – aufgrund der ___________ 107 Vgl. G. M. Buondelmonti, Orazione (wie Anm. 105), S. 137. Siehe auch ebd., S. 145. 108 Ebd., S. 149 [„unveränderlichen Regeln einer sicheren Umsicht, einer präzisen Gerechtigkeit, einer großzügigen Wohltätigkeit“]. 109 Ebd., S. 158 ff., hier S. 160 [„alle nahmen einstimmig und aus freien Stücken ein solch vorteilhaftes Regelwerk als ewiges und unwiderrufliches Gesetz an; und auf diese Weise verliehen sie diesem öffentlichen Akt mehr Wert und mehr Beständigkeit“].
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Verdienste seines Vaters – an der Universität Pisa „una lettura de iure pubblico“, um dort Naturrecht zu lehren.110 Nachdem 1737 das toskanische Großherzogtum an den Lothringer Franz Stephan fiel, wurde Neri zum Segretario des Consiglio di Reggenza ernannt, der – abgesehen von auswärtigen Angelegenheiten – die Regierungsgewalt in Toskana wahrnahm. In seinem Amt als Segretario wurde Pompeo Neri aufgrund seiner juristischen Ausbildung immer wieder damit betraut, unterschiedliche Gutachten wie das Responsum anzufertigen, das er Ende 1737 verfaßte und in dem er sich zu einigen Grenzberichtigungen in der Romagna zwischen Kirchenstaat und toskanischem Großherzogtum äußerte.111 Das politisch-juristische Denken von Pompeo Neri besaß seine Wurzeln in der romanistisch-juristischen Tradition, wie sie von Averani vertreten wurde, ebenso wie in naturrechtlichen Argumenten und vertragsrechtlichen Theorien, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die politische Debatte in Toskana bestimmt hatten.112 Das römische Recht war – für Neri wie bereits für Averani – vielfach Ausdruck der Gerechtigkeit, die aus der rechten Vernunft geschöpft worden war.113 Dies war Grotius’ De jure belli ac pacis zu entneh___________ 110 Vgl. Giuseppe Pelli Bencivenni, Efemeridi (1776), fol. 661v., in: B.N.C.F., Manoscritti nuovi acquisti, 1050, serie II, tomo IV, sowie Novelle letterarie, vol. VII, n. 43, 25 ottobre 1776, coll. 689; Danilo Marrara, Pompeo Neri e la cattedra pisana di ‘diritto pubblico’ nel XVIII secolo, in: Rivista di Storia del Diritto Italiano 59 (1986), S. 173– 202, hier S. 173–176 und S. 200, sowie Niccola Carranza, Monsignor Gaspare Cerrati provveditore dell’Università di Pisa (1733–1769), in: Bollettino storico pisano 30 (1961), S. 103–290, hier S. 260. Ausführlicher zu Neri (1706–1776) siehe Frank Jung, „In una perfetta monarchia […] niuno ha diritti propri“. Bemerkungen zum politischjuristischen Denken des toskanischen Aufklärers und ‚Beamten‘ Pompeo Neri, in: ¿Rechtsgeschichte(n)? Europäisches Forum Junger Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker Zürich 28.–30. Mai 1999, Frankfurt a. M. 2000, S. 73–89. 111 Vgl. Pompeo Neri, Responsum I. In causa ravennatensi. Finium regundorum inter serenissimum M. Etruriae Ducem, et Statum Pontificium, in: Joannis Bonaventuræ Neri Badia, regiæ celsitudinis serenissimi Magni Ducis Etruriæ in signatura libellorum supplicum gratiæ et iustitiæ consiliarii Decisiones et responsa juris tomus secundus continens ejusdem responsa quibus accedunt Pompeii filii decisiones responsa et discursus legales cum indice argumentorum. Et in calce Operis appositus est alter Index locuplettisimus Materiarum, Florentiæ MDCCLXXVI, S. 383–392. 112 Vgl. Salvatore Rotta, Montesquieu nel Settecento italiano: note e ricerche, in: Materiali per una storia della cultura giuridica 1 (1971), S. 55–209, hier S. 165. 113 Es seien die römischen Rechtsgelehrten gewesen, die auf vortrefflichste Weise das Natur- bzw. Völkerrecht mit ihrem Bürgerrecht verknüpft und damit den philosophischen Teil der Jurisprudenz mit dem positiven Recht verbunden hätten. Für Neri waren im römischen Recht „i principi universali e perpetui della giustizia“ enthalten, „quelle materie, che hanno origine dal diritto di natura o delle genti“. Vgl. Pompeo Neri, Relazione sul codice (1747), in: M. Verga, Da ‚cittadini‘ (wie Anm. 74), S. 313–402, hier S. 328 und S. 348.
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men gewesen, und demzufolge enthielt das römische Recht einen dem Naturrecht angemessenen Rechtskatalog. Von Grotius hatte Neri gelernt, daß ein natürliches Privatrecht die Grundlage aller Rechtsbeziehungen sei, und so schrieb er in seinem Responsum in causa ravennatensi, was für die (einträchtigen) Beziehungen zwischen Privatpersonen gelte, besitze für zwischenstaatliche Beziehungen ebenfalls Gültigkeit.114 In dem Responsum befaßte sich Neri auch mit der Frage, ob es einem Souverän gestattet sei, einzelne Territorien des Staatsganzen zu veräußern. Um dies zu beantworten, bezog er sich auf Grotius,115 der in De jure belli ac pacis der Frage nachgegangen war, ob den Menschen noch ein gemeinsames Recht auf Sachen zukomme, die schon in das Eigentum eines einzelnen übergegangen seien, denn eigentlich habe das Eigentum alle Rechte aus dem früheren Zustand der Gütergemeinschaft aufgehoben. „Sed non ita est“, wie Grotius betonte, vielmehr lebe in der höchsten Not das Recht des Gebrauchs wieder auf, als wären die Güter noch gemeinsam.116 Während Grotius eine privatrechtliche Frage erörtert und beantwortet hatte, hob Neri seine Antwort auf eine staatsrechtliche Ebene, wenn er schrieb, ein Souverän könne ohne die Zustimmung der Bevölkerung (‚popoli‘) keinen Teil des Landes veräußern. Da eine Veräußerung eines Territoriums mit einer Regierungsänderung einhergehe, besitze der Souverän nicht die Macht, „di far mutar governo ai Popoli, che hanno consentito solamente nel governo presente, e possono contradire alla mutazione, che si pretendesse fare“.117 Einerseits beruhte ___________ 114 Vgl. P. Neri, Responsum (wie Anm. 111), S. 386, wo es u. a. heißt, das römische Recht ebenso wie eine aus dem Naturrecht abgeleitete Überlegung sprächen dafür, die geplante Grenzveränderung vorzunehmen: Um ein friedliches Zusammenleben und Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden, seien Grenzen genau zu definieren. Wenn dies niemandem schade, sondern nütze, dann sei eine Grenzberichtigung nicht abzulehnen. Ansonsten würden die ersten Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit verletzt, die das Axiom: „Quod tibi non nocet, et alteri prodest, faciendum est“ verlange. Die Verschränkung von Römischem Recht und Naturrecht, wie sie das Responsum enthielt, fand sich ebenfalls in der Relazione sul codice, die Neri 1747 vorlegte und in der er die Grenzen bezeichnete, die von der fürstlichen Gesetzgebung nicht überschritten werden dürften. Am Kern der Argumentationen von Neri vorbei gehen die Ausführungen von M. Rosa, Dispotismo (wie Anm. 77), S. 13 f., sowie Giovanni Tarello, Storia della cultura giuridica moderna, I: Assolutismo e codificazione del diritto, Bologna 1976, S. 211–215. 115 Vgl. H. Grotius, De jure (wie Anm. 33), lib. 2, cap. 2, § 6 f., S. 188 f. 116 H. Grotius, De jure (wie Anm. 33), lib. 2, cap. 2, § 6, S. 188. Siehe im vorliegenden Zusammenhang auch F. Grunert, Sovereignty (wie Anm. 70), S. 125 ff. 117 P. Neri, Responsum (wie Anm. 111), S. 391 f. [„die Regierungsform für die Untertanen zu ändern, die nur der gegenwärtigen Regierung zugestimmt haben und der Änderung widersprechen können, die man beabsichtigt“]. Herrscherliche Gewalt war – aus Sicht Neris – auch Franz Stephan als Nachfolger der mediceischen Großherzöge nur
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demnach Herrschaft auf der Zustimmung, andererseits aber besaß nur die gegenwärtige Regierung bzw. Regierungsform die Zustimmung der Bevölkerung (‚popoli‘). Während Grotius sich dafür ausgesprochen hatte, daß dem Mißbrauch des Eigentumsrechts vorgebeugt werden solle, erweiterte Neri dies, um einem möglichen Mißbrauch der Souveränitätsrechte vorzubeugen.118 Für Neri – wie für Buondelmonti – stellte die gemäßigte Monarchie die gegenwärtig beste Staatsform dar. In seinem Responsum hatte Neri aus der Tatsache, daß laut Pufendorf die Souveränität bei einer oder mehreren Personen liegen könne, den Schluß gezogen: „per moderare lo arbitrio de Sovrani, si sogliono eccetuare dalla loro autorità certi punti essenziali del Governo, [...] perché in questi il Sovrano non possa risolvere da sé, e debba adoperare il consenso, o il consiglio d’alcune persone“.119 In der zweiten Hälfte der 1760er Jahre legte Neri schließlich dem toskanischen Großherzog Pietro Leopoldo, dem späteren Kaiser Leopold II., zwei Denkschriften vor, die den Entwurf eines Repräsentations- bzw. Regierungsmodells enthielten, demzufolge die steuerzahlenden Grundbesitzer an der Verwaltung der toskanischen Provinzen beteiligt werden sollten.120 Am deutlichsten – und ähnlich wie Tanucci – beantwortete in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts der schon erwähnte Giovanni Gualberto De Soria die Frage nach den Grenzen monarchischer Gewalt.
VI. Ausblick: Giovanni Gualberto De Soria oder das Widerstandsrecht der Untertanen Es war De Soria,121 der mit seinen Rationalis philosophiæ institutitiones wesentlich zur Verbreitung der Lockeschen Erkenntnistheorie in Italien beigetra___________ mit der Auflage übertragen worden, die Prinzipien der Gerechtigkeit und somit die natürlichen Freiheiten des einzelnen zu wahren. 118 Da es sich im vorliegenden Fall, wie Neri schrieb, lediglich um einige unbewohnte Landstriche handele, die rechtliche Notwendigkeit jedoch diese Grenzänderung erfordere, könne man die Zustimmung der „popoli“ vermuten. Vgl. P. Neri, Responsum (wie Anm. 111), S. 391. 119 Ebd., S. 389 [„um den Willen des Souveräns zu mäßigen, sollte man von dessen alleiniger Gewalt bestimmte wesentliche Regierungsgegenstände ausnehmen, [...] denn in diesen kann der Herrscher nicht von sich aus entscheiden, sondern muß sich um die Zustimmung oder den Rat einiger Personen bemühen“]. 120 Vgl. F. Jung, In una perfetta monarchia (wie Anm. 110), S. 84–88. 121 De Soria (1707–1767) wurde zunächst von Jesuiten erzogen. Nach seinem Studium in Pisa, wo Averani und Grandi zu seinen Lehrern gehört hatten, lehrte er an der dortigen Universität zunächst Logik und seit 1735 Philosophie bzw. Physik. Mit seinen
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gen hatte und der aus der wechselseitigen Verpflichtung von Herrscher und Untertanen, die aus dem Gesellschaftsvertrag resultierte,122 die radikalsten Konsequenzen zog. In De’ doveri del principe verso i sudditi e di questi verso di quello (1744), einem Fragment seiner Filosofia morale, schrieb De Soria, die umfassende Staatsgewalt sei dem Souverän nur zu dem Zweck übertragen worden, um das Gemeinwohl und die Glückseligkeit der societas civilis zu erhalten und zu vermehren.123 Bereits mit der Überschrift De’ doveri del principe verso i sudditi e di questi verso di quello machte De Soria deutlich, daß eine wechselseitige Verpflichtung zwischen Herrscher und Untertanen bestand. Um zu gewährleisten, daß ein Herrscher die ihm übertragenen Rechte nicht mißbrauche, gestand De Soria den Untertanen ein Widerstandsrecht zu.124 Allerdings sei in jedem Fall abzuwägen, was das geringere Übel mit sich bringe: ein ungerechtes Gesetz zu befolgen oder die Rebellion. Der sicherste Weg, möglichst nützliche Verordnungen zu erlassen, sei es, wenn der Souverän in den Städten und Provinzen legitime Versammlungen zulasse und den Bürgern das Recht zugestehe, in aller Freiheit das vorzuschlagen, was für das Staatsganze von größtem Vorteil sei.125 Konkretere Gestalt nahmen die politischen Vorstellungen De Sorias schließlich in der zweiten Hälfte der 1740er Jahre an, als er ebenso wie andere pisanische Gelehrte und genuesische Patrizier im Haus des ___________ Schriften trug er einerseits zu einer Verbreitung der Locke’schen Philosophie bei, andererseits erfuhren in Della esistenza e degli attributi di Dio Newtons Principia eine deistische Deutung. Zu De Soria siehe Ugo Baldini, [Art.] ‚De Soria, Giovanni Gualberto‘, in: DBI, vol. 39, Roma 1991, S. 408–416; Vincenzo Ferrone, Scienza, natura, religione. Mondo newtoniano e cultura italiana nel primo Settecento, Napoli 1982, S. 651–667, Simone Contardi, Giovanni Gualberto De Soria. Determinismo naturale e apologetica newtoniana nel primo Settecento toscano, in: Annali del Dipartimento di Filosofia 4 (1988), S. 37–66, sowie Ornella Ponzellini, Giovanni Gualberto (Alberto) De Soria e la ‚Cosmologia‘: L’impellibilità della materia e la gravità tra fisica newtoniana e metafisica leibniziana, in: Scienza, filosofia e religione tra ‘600 e ‘700 in Italia, hrsg. v. Maria Vittoria Predaval Magrini, Milano 1990, S. 261–325. 122 Vgl. Antonio Rotondò, Il pensiero politico di Giovanni Gualberto De Soria, in: L’età dei lumi. Studi storici sul Settecento europeo in onore di Franco Venturi, vol. 2, Napoli 1985, S. 987–1043, hier S. 999. 123 Vgl. ebd., S. 1000. 124 Vgl. ebd., S. 1001. 125 Vgl. ebd., S. 1002. Siehe auch ebd., S. 1010 f. 1768 schrieb Cosimo Amidei: „Il miglior regolamento per diminuire gl’inconvenienti politici credo che sarebbe quello che, prima di deliberare sopra cose concernenti il pubblico, si desse la libertà ad ognuno di esporre i suoi sentimenti in carta, perché allora gli stabilimenti si approssimerebbero alla volontà generale.“ Die öffentliche Meinung war – für Amidei – ein geeignetes Tribunal, dem eine geplante obrigkeitliche Entscheidung vorgelegt werden sollte, um kritisiert zu werden oder öffentliche Zustimmung zu erlangen. Cosimo Amidei, La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti, in: Opere, hrsg. v. Antonio Rotondò, Torino 1980, S. 151–254, hier S. 244.
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marchese Giovanni Battista Negroni in Pisa verkehrte. Diskutiert wurde dort darüber, wie die institutionelle Ordnung der Republik Genua – nach der Revolte von 1746 – am besten zu reformieren sei.126 Seine Vorschläge formulierte De Soria 1748 in den Notti alfee:127 Auf der Grundlage des Zensus sei zukünftig in der Republik Genua die politische Partizipation zu ermöglichen und, um Zugang zu den verschiedenen Ämtern der Republik zu erlangen, solle neben dem Besitz die Bildung eine weitere notwendige Voraussetzung sein. Die Souveränität und damit die Legislative, die von der Judikative zu trennen sei,128 habe künftig allein bei einem Consiglio zu liegen, nämlich der Versammlung aller Familienoberhäupter, die älter als 30 Jahre seien, über ein Jahreseinkommen von mindestens 6000 Lire und eine entsprechende (Aus-)Bildung verfügen.129 Gleichzeitig solle auf Korsika den Provinzversammlungen eine beratende Funktion zukommen, lokale Ämter seien von Korsen auszuüben und ihnen – bei entsprechenden Voraussetzungen – der Zugang zum genuesischen Patriziat zu ermöglichen.130 VII. Schlußbemerkung Gemeinsam war allen, von denen die Rede war und die einander alle in unterschiedlicher Weise verbunden waren, daß die Souveränität aus dem Gesellschaftsvertrag resultierte und daß Herrschaft und Regierungsform auf der Willensübereinstimmung – als bindender Vertragsgrundlage – zwischen Souverän und populus beruhte. So mag es konsequent erscheinen, daß als Resultat der wechselseitigen Verpflichtungen von Souverän und Untertanen aufgrund des Gesellschaftsvertrages den Untertanen letztlich auch ein Widerspruchs- bzw. Widerstandsrecht zugestanden wurde. ___________ 126
Vgl. A. Rotondò, Il pensiero (wie Anm. 122), S. 991 f.; Claudio Costantini, La Repubblica di Genova, Torino 1986, S. 435–447, sowie Carlo Bitossi, ‚La Repubblica è vecchia‘. Patriziato e governo a Genova nel secondo Settecento. Con appendici di testi e documenti, Roma 1995. 127 „Le sue proposte miravano non tanto a rettificarlo [l’ordinamento della Repubblica], quanto a dargli un impianto radicalmente diverso“, wie C. Bitossi, La Repubblica (wie Anm. 126), S. 155, schrieb. 128 Vgl. Giovanni Gualberto De Soria, Notti alfee, in: C. Bitossi, La Repubblica (wie Anm. 126), S. 204–237, hier S. 207 f. 129 Vgl. G. G. De Soria, Notti alfee (wie Anm. 128), S. 213 f. und S. 227 ff. 130 Vgl. ebd., S. 211 f. Nach Bitossi wäre dies eine Maßnahme gewesen, die zu Beginn der 1730er, aber nicht mehr in der zweiten Hälfte der 1740er Jahre die Lage auf Korsika hätte befrieden können, da Genua zu diesem Zeitpunkt nur noch Küstenplätze kontrollierte. Vgl. C. Bitossi, La Repubblica (wie Anm. 126), S. 157.
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Nachdem Franz Stephan von Lothringen 1737 als Nachfolger der mediceischen Großherzöge die Herrschaft in Toskana durch seine Repräsentanten Craon und Richecourt angetreten hatte, war in dem Großherzogtum der Wunsch nach einem eigenen Regenten, zu dem ursprünglich der Bourbone Don Carlos ausersehen war, ebenso wenig verschwunden wie die vage Hoffnung auf die Wiederherstellung der Republik. Von Anbeginn stießen Franz Stephan und seine Repräsentanten auf Ablehnung und Widerstand.131 Obwohl Toskana während des Österreichischen Erbfolgekrieges neutral blieb,132 befürchtete Richecourt Anfang 1742 eine spanische Besetzung und daß er das Großherzogtum verlassen müsse.133 Außerdem war eine antihabsburgische Revolte wie 1746 in Genua nicht gänzlich auszuschließen: Nachdem österreichische Truppen die Republik besetzt hatten, kam es zum Aufstand und die habsburgischen Truppen wurden wieder aus Genua vertrieben.134 Die republikanischen und antidespotischen Einstellungen, von denen hier wiederholt die Rede war und die in den Kreisen der politischen und gesellschaftlichen Elite von Florenz verbreitet waren, mögen der Grund dafür gewesen sein, daß 1746 während des österreichischen Erbfolgekrieges – auf Betreiben des französischen Außenministers d’Argenson135 – ein Plan pour établir ___________ 131 Vgl. Franco Venturi, Settecento riformatore, vol. I: Da Muratori a Beccaria, Torino 1998 [zuerst 1969], S. 49 f. und S. 299–306, sowie F. Diaz, I Lorena (wie Anm. 72), S. 3 und S. 12 f. Durch das 1743 erlassene Zensurgesetz sollte dann unter anderem der mögliche Druck und Verkauf antihabsburgischer und probourbonischer Pamphlete in Toskana unterbunden werden. Vgl. Frank Jung, Zensur, Buchmarkt und öffentliche Meinung im Großherzogtum Toskana während des 18. Jahrhunderts, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 82 (2002), S. 702–729, hier S. 705, Anm. 10. 132 Vgl. F. Diaz, I Lorena (wie Anm. 72), S. 35–42. 133 Vgl. Niccolò Rodolico, Stato e chiesa in Toscana durante la Reggenza lorenese (1737-1765), Firenze 1910 [ND 1972], S. 211; F. Venturi, Settecento riformatore (wie Anm. 131), S. 300, sowie Alessandra Contini, La reggenza lorenese tra Firenze e Vienna. Logiche dinastiche, uomini e governo (1737–1766), Firenze 2002, S. 157–176. 134 In Parma und Piacenza war dies – unter anderem aufgrund französischer und spanischer Einflußnahme – geschehen und auch die Republik Genua erfuhr nach der Revolte französische Unterstützung. Vgl. F. Venturi, Settecento riformatore (wie Anm. 131), S. 300; ders., Utopia e riforma nell’illuminismo, Torino 82000 [zuerst 1970], S. 48 ff.; M. Verga, Da ‚cittadini‘ (wie Anm. 74), S. 67–70, sowie C. Costantini, La Repubblica (wie Anm. 126), S. 435–438. 135 Zu d’Argenson siehe Venturi, Utopia (wie Anm. 134), S. 93 ff.; M. Verga, Da ‚cittadini‘ (wie Anm. 74), S. 70–74, sowie René Louis Marquis d’Argenson, Politische Schriften (1737). Übersetzt und kommentiert v. Herbert Hönig, München 1985. Wie ein Schreiben Tanuccis aus dem Jahre 1769 zeigt, waren d’Argensons Considérations sur le gouvernement ancien et présent de la France, die 1764 erstmals gedruckt wurden, in Italien bekannt. Vgl. M. Rosa, Dispotismo (wie Anm. 77), S. 36, Anm. 74. Siehe hinsicht-
Naturrecht, Gesellschaftsvertrag und Widerstandsrecht
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une République en Toscane abgefaßt wurde, um die politische Lage in dem Großherzogtum zu destabilisieren. Der Entwurf enthielt die Umrisse einer republikanischen Verfassung, der zufolge legislative und exekutive Gewalt getrennt und, aufgrund von Bürgerrecht, Mindestalter und Eigentum, die politische Partizipation möglich sein sollte. Die dafür erforderliche Mindestsumme ist in dem Plan offen gelassen; suggeriert wurde der Besitz, der auch bislang erforderlich gewesen war, um Zugang zu den städtischen Ämtern zu erhalten.136
___________ lich des Plan auch F. Venturi, Settecento riformatore (wie Anm. 131), S. 304 f., sowie F. Diaz, I Lorena (wie Anm. 72), S. 175, Anm. 1. 136 Vgl. Plan pour établir une République en Toscane conformement aux ordre que j’eus du M.is d’Argenson en 1746, in: Archivio di Stato di Torino, Corti straniere. Toscana, 2. addizione, mazzo 3. Der Vorschlag, exekutive und legislative Gewalt zu trennen, geschah unter ausdrücklichem Hinweis auf John Lockes Two Treatises of Government.
Die politische Funktionalität des italienischen Naturrechts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Christof Dipper Die Erforschung des aufgeklärten Naturrechts in Italien steht in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen – politischen, nicht rechtstheoretischen – Bedeutung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es harrt also noch seiner Entdeckung. Am mangelnden Interesse für die italienische Aufklärung liegt das ganz gewiß nicht. Diese profitierte vielmehr zunächst in ganz außergewöhnlichem Maße vom Erbe der Resistenza, deren Repräsentanten dem Nationalstaat und seinen Fehlentwicklungen das laizistisch orientierte Reformprojekt der italienischen Aufklärung entgegenhielten und ihm ihre ganze Schaffenskraft widmeten.1 An erster Stelle ist hier natürlich Franco Venturi zu nennen,2 ferner seine Mitstreiter Guido Quazza, Sergio Bertelli und Marino Berengo, später dann Giuseppe Ricuperati.3 Sie vermittelten der italienischen Aufklärungsforschung einen stark geistesgeschichtlichen Akzent. Die Sozialgeschichte führte dagegen lange Zeit ein Schattendasein, hatte aber immerhin einflußreiche Vertreter in ___________ 1 Verglichen mit Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (Amsterdam 1947) näherte sich der italienische Antifaschismus diesem Thema also genau von der entgegengesetzten Seite. Es hat angesichts von Venturis Arbeitskraft und Deutungsherrschaft gute vierzig Jahre gebraucht, bis sich in Italien ein weniger naiver oder mindestens kritischer Blick auf die Aufklärung durchzusetzen begann, der sie nicht länger als interesselose Ausprägung eines benevolenten Reformismus betrachtete. Zu diesem Umbruch, der vor allem an der Revolutionszeit bzw. der napoleonischen Ära ansetzte und dann nach rückwärts ‚voranschritt‘, siehe meinen inzwischen schon älteren Forschungsüberblick, der seither nicht ergänzt worden ist: Christof Dipper, Aufklärung und Revolution in Italien, in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), S. 379–438. Neuerdings und sehr kritisch zu Venturi Marcello Verga, Le XVIIIe siècle en Italie: le „Settecento réformateur“? in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 45 (1998), S. 89–116. 2 Zu ihm Christof Dipper, Franco Venturi und die Aufklärung, in: Das 18. Jahrhundert 20 (1996), S. 15–21. 3 Einen aktuellen, aber sehr knappen und eher additiven Forschungsüberblick von Giuseppe Ricuperati, Les recherches italiennes sur le dix-huitième siècle. Tendances et problèmes, in: La ricerca sul XVIII secolo. Un panorama internazionale, hrsg. v. Alberto Postigliola, Rom 1998, S. 7–29. Dort etliche Hinweise auf frühere Forschungsberichte.
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Christof Dipper
Gestalt Furio Diaz’ und Pasquale Villanis. Dasselbe läßt sich für den Staat, seine Institutionen und die politische Geschichte nicht behaupten, doch bieten die vor allem von Venturi zusammengestellten Quellensammlungen zur italienischen Aufklärung einen gewissen Ersatz.4 In der Forschungsliteratur sind diese Bereiche erst in den 1980er Jahren wieder zu Ehren gekommen. Was hier gründliche Untersuchungen an Neuem zutage fördern können, belegt die erste politische Biographie Pietro Verris, des politischsten Kopfes der italienischen Aufklärung; sie stellt forschungsgeschichtlich einen wahren Durchbruch dar und verdankt das neben der Meisterschaft ihres Autors auch dem endlich eröffneten Zugang zum Archiv der Familie.5 Diese mehr als knappe Skizze sei mit dem Hinweis auf die 1978 erfolgte Gründung einer italienischen Gesellschaft für die Geschichte des 18. Jahrhunderts beendet, die der in die Krise geratenen Aufklärungsforschung zu einem neuen Aufschwung verhelfen sollte. Diese Hoffnung hat sich erfüllt, aber eben nicht für den Bereich der Rechtsgeschichte. Hier herrscht immer noch das Interesse an der Dogmengeschichte vor, und dieses kann der Aufklärung wenig abgewinnen. Forschungsinteresse und Realbedeutung bleiben damit nahezu ohne Kontakt. Den letzten Beweis liefert der bis heute neueste rechtsgeschichtliche Forschungsbericht, in dem das Stichwort ‚Naturrecht‘ nicht ein einziges Mal fällt, obwohl vom 18. Jahrhundert viel die Rede ist.6
I. Rahmenbedingungen Jeden Tag schreite man auf dem Wege von der Metaphysik zu den mechanischen Künsten, von der Erörterung sittlicher Systeme zu den Erfindungen, von sterilen Schuldebatten zu Gegenständen der Wirtschaft, vom Naturrecht zu den positiven Gesetzen der Völker im Interesse privaten und öffentlichen Glücks ___________ 4 Illuministi italiani, Bd. 3: Riformatori lombardi, piemontesi e toscani, hrsg. v. Franco Venturi, Mailand, Neapel 1958. Dass., Bd. 5: Riformatori napoletani, hrsg. v. Franco Venturi, ebd., 1962. Dass., Bd. 7: Riformatori delle antiche repubbliche, dei ducati, dello Stato pontificio e delle isole, hrsg. v. Giuseppe Giarrizzo / Gianfranco Torcellan / Franco Venturi, ebd. 1965. 5 Carlo Capra, I progressi della ragione. Vita di Pietro Verri, Bologna 2002. Nahezu zeitgleich kam auch die Werkausgabe des Protagonisten endlich in Gang: Edizione nazionale delle opere di Pietro Verri. Prima serie, Bd. 3, Rom 2004, Bd. 5, Rom 2003. Auch die kritische Edition von Beccarias weltberühmtem Buch, das durch und durch naturrechtlich argumentiert, liegt inzwischen vor: Edizione nazionale delle opere di Cesare Beccaria, Bd.1: Dei delitti e delle pene, hrsg. v. Gianni Francioni, Mailand 1984. 6 Aldo Mazzacane, Neuere Rechtsgeschichte in Italien, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 14 (1992), S. 243–259.
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weiter voran, und mit Hilfe genauer Beobachtungen und scharfsinniger Erörterungen komme man den Geheimnissen des Naturrechts täglich mehr auf die Spur – so bilanzierte 1783 ein Medizinprofessor der Universität Padua in einer Broschüre sein Zeiterleben.7 Gerade weil es sich um die Feststellung eines nicht zu den intellektuellen Spitzen zählenden Mannes handelt, ist dieser geraffte Überblick glaubwürdig und belegt die Breitenwirkung, die die Aufklärung mittlerweile auf der italienischen Halbinsel erreicht hatte. In der Tat hatte nach zögerlichen, weitgehend auf Neapel beschränkten Anfängen um 1750 ein Umbruch eingesetzt, dessen Urheber eine neue, in den 1730ern und 1740ern geborene Generation war, die ihre wichtigste Prägung von der deutlich zunehmenden kulturellen Hegemonie Frankreichs bezog, aber anders als dort in die Praxis drängte. Entstehung einer Öffentlichkeit mit den Mitteln moderner Publizistik und Beginn einer im Laufe der Zeit immer enger werdenden Zusammenarbeit mit den Monarchen waren weitere Kennzeichen des Wandels mit dem Ergebnis, daß die Aufklärung in Italien den Charakter einer entschiedenen Reformbewegung annahm, wie sie allenfalls noch in den führenden Territorien des Reiches, in Schottland und eventuell in Schweden, ganz zuletzt schließlich und mit wenig dauerhaftem Erfolg auf der Iberischen Halbinsel zu beobachten war. Die Zentren dieser Symbiose politischer und intellektueller Eliten befanden sich nunmehr in Mailand, das Neapel an die zweite Stelle verwiesen hatte, und in der Toskana. Venedig war nur als Pressestandort wichtig, Modena ein aufgeklärter Kleinstaat. In Piemont und im Kirchenstaat mußten die Aufklärer mit Verfolgung rechnen. Anders als das Venturi sehen wollte, richtete der aufgeklärte Reformismus seinen Blick wie überall in Europa sogleich auf das Problem der Herrschaft. ‚Bloße Macht‘ hatte in seinen Augen die Legitimation verloren, die Autorität sollte in die Schranken der Vernunft gewiesen werden, d. h. hatte sich vor ihr zu rechtfertigen. Damit waren drei Politikfelder angesprochen: das Verhältnis von Staat und Kirche, die wirtschaftliche Entwicklung und die Gesetzgebung als Instrument gesellschaftlicher Steuerung. Bei allen dreien war der Kontakt mit dem Naturrecht unvermeidlich, weil die Abkehr von der Tradition am ehesten unter Berufung auf den Naturzustand, abzulesen am Gesellschaftsvertrag als der ‚ei___________ 7
„Oggi giorno si vola animosamente dalla metafisica alle arti meccaniche, dalla morale alle invenzioni destinate ad incontrare i sensi e fare illusione allo spirito, dalle dispute delle scuole agli oggetti di commercio, dalla legge naturale alle leggi positve delle Nazioni, traendo dai principi scientifici applicazioni utilissime alla pubblica e privata felicità [e] colla scorta di esatte osservazioni e per mezzo di sagaci esperienze si rintracciano senza presunzione le arcane leggi della natura“; zitiert in Piero Del Negro, Italia, in: L’Illuminismo. Dizionario storico, hrsg. v. Vincenzo Ferrone / Daniel Roche, Rom / Bari 1997, S. 432.
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gentlichen‘ Grundlage menschlichen Zusammenlebens, begründet werden konnte. Der Naturrechtsdiskurs fungierte also als eine politische Sprache im Sinne Pococks,8 die allein schon durch ihren Gebrauch den Dingen ein anderes Gesicht verlieh. Dabei ist offensichtlich, daß die einen Aufklärer ‚zweisprachig‘ blieben, d. h. ihre positiv-rechtlichen Erörterungen lediglich mit einem dünnen naturrechtlichen Firnis überzogen, während die anderen so radikal Neues dachten, daß sie dies ausschließlich naturrechtlich begründen konnten. Filangieri steht für die gemäßigte Mehrheit, Beccaria für die radikale Minderheit, ohne daß dieser Unterschied etwas über die Rezeption ihrer Werke besagen würde; beide erfreuten sich internationalen Renommees, beide landeten gleichermaßen auf dem Index. Damit ist die Rolle der Kirche angesprochen. Eigentlich müßte man für jedes Territorium eine eigene Geschichte schreiben, da der Grad der Selbständigkeit gegenüber dem Papsttum von Staat zu Staat sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Neapel und Venedig hatten sich seit langem erhebliche Freiräume erkämpft, was Zensur und Wissenschaftsbetrieb betrifft, wurden aber, als die habsburgischen Gebiete ab den 1760er Jahren ihren Kampf gegen die Kirche als politischem Stand begannen, von diesen rasch überholt. Die eifrigsten Verfechter dieses nachholenden (wenn man transalpine, insbesondere protestantische Länder zum Maßstab nimmt) Prozesses innerer Staatsbildung waren die Anhänger des Naturrechts, bei denen deshalb durchgängig antikuriale Grundsätze vorausgesetzt werden können. Die großen Erfolge, die aus der Sicht der aufgeklärten Reformer gerade in kirchenpolitischen Angelegenheiten erreicht wurden, blieben jedoch trügerisch angesichts der Weigerung maßgeblicher Kräfte innerhalb der Kirche, sich auf den spirituellen Teil ihres universalen Anspruchs zu beschränken. Von einer laizistischen Kultur jenseits der schmalen Schicht von Aufgeklärten kann jedenfalls im Italien des 18. Jahrhunderts keine Rede sein. Die Aneignung naturrechtlichen Denkens durch jene bereits angesprochene Generation der nach 1730 Geborenen ist angesichts dieser Rahmenbedingungen ein Thema, dem die Forschung wenigstens gelegentlich nachgeht. An den Universitäten wurde modernes Naturrecht so gut wie nicht gelehrt. Eine Ausnahme machte lediglich die in dieser Hinsicht zum deutschen Bildungskreis zählende Lombardei und für eine kurze Zeit in napoleonischer Zeit die Universität Parma. Wir finden daher in Italien kaum Lehrbücher insbesondere des Staats- und Völkerrechts und die aus Deutschland bekannten abstrakten Naturrechtssysteme, die wie dasjenige etwa von Wolff das gesamte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft naturrechtlich zu durchdringen suchen. ___________ 8 James G.A. Pocock, The History of Political Thought, in: Philosophy, Politics and Society, hrsg. v. Peter Laslett / W.G. Runciman, Oxford 51972, S. 195 ff.
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Trotzdem konnten sich interessierte Leser mit entsprechenden Büchern versorgen. Die europaweit wohl renommiertesten Standardwerke, durchweg aus protestantischer Feder, vermochte die bis in die 1760er, vielerorts sogar bis in die 1770er Jahre nahezu allmächtige Inquisition nicht zu unterdrücken. Grotius, Pufendorf und Heineccius konnte man legal zitieren, sie wurden in Italien gedruckt, allerdings auffallend lange auf lateinisch, also nur für ein gelehrtes Publikum.9 Die in dieser Hinsicht von Klaus Luig zu Recht festgestellte „Verspätung Italiens“10 bedeutete aber natürlich nicht, daß man diese Autoren oder gar die politischen Traktate Lockes, Montesquieus, Voltaires und selbst Rousseaus nicht gekannt hätte. Auch über die Verbreitung der Enzyklopädie – sie wurde unter anderem auch in Livorno gedruckt, und zwar mit Widmung an den Großherzog – ist seit langem vieles bekannt. Die Italiener waren, wie Venturi in seinem leider Torso gebliebenen „opus magnum“11 nachgewiesen hat, und zwar vor allem mittels Analyse der zeitgenössischen Zeitschriften, bestens darüber informiert, was in Europa vor sich ging, und fanden jederzeit Mittel und Wege, sich die ‚verbotene‘ Literatur zu besorgen.12 Einen Diskussionsrückstand hat es allen Anstrengungen der Kirche zum Trotz nicht gegeben, jedenfalls nicht mehr nach den 1760er Jahren. ___________ 9
Die Verbreitung und Verwendung fiel in den geistigen Landschaften der Halbinsel sehr unterschiedlich aus. Wenn festgestellt worden ist, daß Pufendorf in Neapel durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch von außerordentlicher Bedeutung gewesen ist (Imbruglia [s. u., Anm. 18], S. 103, Anm. 10), so hängt das mit der alten antikurialen Tradition und der vorsichtigen Reformpolitik der dortigen Eliten zusammen. Einen anderen Weg beschritten die überwiegend in Oberitalien beheimateten Kreise der Anhänger Muratoris, die Pufendorf gewissermaßen resakralisierten, indem sie das Naturrecht an die göttliche Offenbarung wieder zurückbanden. Dazu Diego Quaglioni, Pufendorf in Italia. Appunti e notizie sulla prima diffusione della traduzione italiana del „De iure naturae et gentium“, in: Il pensiero politico 32 (1999), S. 235–250. Musterbeispiel ist der Übersetzer und Kommentator Pufendorfs Giovambattista Almici, der auch Schriften gegen Beccaria und Voltaire verfaßte. Zu ihm bzw. zu seiner auf Barbeyrac fußenden Pufendorf-Ausgabe von 1757/59 jetzt der im Titel irreführende Aufsatz von Stefania Stoffella, Assolutismo e diritto naturale nell’Italia del Settecento, in: Annali ISIG 26 (2000), S. 137–175. In der viel radikaleren Mailänder Aufklärung dagegen wurde Pufendorf oft nur zitiert, um ihn zu kritisieren. Dasselbe gilt für Heineccius, der gleichfalls in Neapel hoch geschätzt wurde, wie man aus der dort erschienenen Gesamtausgabe seiner Werke ersehen kann (Io. Gottl. Heineccii Opera omnia, 12 Bde., Neapel 1759–1777; Bd. 7 enthält das Pufendorfsche, Bd. 9 das Grotiussche Naturrecht), der aber von der „école de Milan“ nichts als geschmäht worden ist. 10 Klaus Luig, Zur Verbreitung des Naturrechts in Europa, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 40 (1972), S. 539–557. 11 Franco Venturi, Settecento riformatore, 5 Bde. in 7 Teilen, Turin 1969–1990. 12 Zur Lesegeschichte im 18. Jahrhundert Lodovica Braida, Censure et circulation du livre en Italie au XVIIIe siècle, in: Journal of Modern European History 3 (2005), S. 81– 99. In Anm. 7 f. Literaturhinweise zur Geschichte der Zensur.
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Wie gefährlich es gleichwohl war, modern argumentierende, also naturrechtlich fundierte Kampfschriften zu publizieren, zeigt eine Reihe von Beispielen. Erstens die anonyme Erscheinungsweise der wichtigsten Werke, oftmals noch zusätzlich verfremdet durch falsche Ortsangabe. Amidei, Beccaria, Gorani, Pilati, Vasco, Verri und viele andere haben selten oder niemals unter ihrem Namen publiziert. Zweitens sei auf die große Verfolgungsangst Beccarias mindestens zwischen 1764 und 1766 hingewiesen. Obwohl Dei delitti e delle pene 1764 anonym erschienen war, setzte seitens der Kirche und der ihr nahestehenden Autoritäten sofort eine intensive Suche nach dem Autor ein und der ohnedies etwas ängstliche Beccaria trug sich lange mit dem Gedanken, einen Ruf nach St. Petersburg anzunehmen, um der erwarteten Verfolgung zu entgehen. Um die aus seiner und aus der Sicht seines Freundeskreises unsinnigen Vorwürfe abzuwehren, verfaßten die Brüder Verri in wenigen Tagen auf die erste kirchliche Gegenschrift eine „Risposta“, die begreiflicherweise auf die Kirche und ihre Zensur um so weniger Eindruck machte, als sie aus Sicherheitsgründen ebenfalls anonym erscheinen mußte. Beccaria jedenfalls hat sich damals vorgenommen – und sich daran gehalten –, niemals wieder ein solch brisantes Werk zu publizieren. Dank der vor kurzem erfolgten Öffnung des Archivs der Inquisition wissen wir nunmehr auch, wie diese Institution die Verfolgungsjagd auf Autoren wie Beccaria, Verri und viele andere betrieben hat.13 Wie weit sie damit kam, hing sehr von den politischen Rahmenbedingungen ab. In der Lombardei, der Toskana und dem Königreich Neapel konnte man von ca. 1770 an vergleichsweise sicher sein. Völlig anders war die Lage in Piemont, ganz zu schweigen vom Kirchenstaat selber. Der piemontesische Aufklärer Francesco Dalmazzo Vasco, immerhin ein hoher Adliger, wurde mehrfach inhaftiert, zuletzt 1791. Seine Papiere überantwortete der piemontesische Staat der Kirche, die monierte, daß Vasco sich stets auf den Gesellschaftsvertrag berufe und die „unsinnigen Ideen Pufendorfs“ zitiere.14 Vasco verstarb wenige Jahre später verbittert und vereinsamt in der Haft.
___________ 13 Girolamo Imbruglia, Il conflitto e la libertà. Pietro Verri da „Il Caffè“ alla „Storia di Milano“, in: Pietro Verri e il suo tempo, hrsg. v. Carlo Capra, Bd. 1, Mailand 1999, S. 460 f. 14 Aus dem Gutachten des Abate Berta – „le idee malsane di Puffendorf“ – zitiert Venturi in seiner „Nota introduttiva“ zur Werkausgabe Vascos: Illuministi italiani (wie Anm. 4), Bd. 3: Riformatori lombardi, S. 818.
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II. Naturzustand und Gesellschaftsvertrag Eine kursorische Lektüre der wichtigsten15 naturrechtlichen Texte führt zu dem Eindruck, daß im Vergleich zu Deutschland diese beiden Stichworte eher nebensächlich sind. Es ist dies ohne Zweifel eine Folge der Praxisorientierung und der entsprechend pragmatischen, auf praktische Politik zielenden Autoren, die offensichtlich nur selten Anlaß haben, sämtliche Elementarbestandteile der Naturrechtstheorie auszubreiten. Den aufgeklärten Naturrechtsvertretern ist es um den Staat zu tun, nicht um die persönliche Freiheit – mit der großen Ausnahme Beccarias –, oder um Erziehung, kaum um Menschenrechte. Reformen der politischen Institutionen und Instanzen sowie der verschiedenen Rechtsbereiche sind die vordringlichsten Anliegen der Autoren und ihre Schriften sind in der Regel kurz und eher essayhaft, am französischen Beispiel geschult. Ein gutes Beispiel für die Spannbreite, die der Gesellschaftsvertrag bei italienischen Aufklärern hatte, sind Beccaria auf der einen und der vierzehn Jahre jüngere Filangieri auf der anderen Seite. Für Beccaria ist er die einzige Grundlage, von der aus sich staatlicher Herrschaftsanspruch, individuelle Freiheit und das gesamte Rechts- und Strafsystem begründen lassen, wobei hinzugefügt werden muß, daß bei Beccaria die Menschen nur jene „minima porzion possibile“16 ___________ 15 Man verzeihe diese kühne Aussage, sie ist nichts anderes als eine arbeitshypothetische Behauptung angesichts knapper Ressourcen. Herangezogen wurden folgende Autoren: Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene (1764), und zwar in der Ausgabe der Edizione nazionale delle opere di Cesare Beccaria. Dort ist auch die so gut wie nie benutzte Urfassung Beccarias abgedruckt, die zwar für die Wirkungsgeschichte unerheblich, aber zur Entschlüsselung seines radikalen – und deshalb von den Redaktoren Alessandro und vor allem Pietro Verri unterdrückten bzw. geglätteten – Naturrechtsdenkens unentbehrlich ist; Pietro Verri, Discorso / Meditazioni sulla felicità (1763/81), in: Opere filosofiche e di economia pubblica, hrsg. v. Pietro Custodi, Bd. 1, Mailand 1835; ders., Meditazioni sull’economia politica (1771), in: Scrittori classici di economia politica. Parte moderna, Bd. 15, hrsg. v. Pietro Custodi, Mailand 1804 – alle diese Werke sind nun bequem in der neuen Werkausgabe (s.o., Anm. 5) greifbar, die bei der Abfassung dieses Aufsatzes noch nicht zur Verfügung stand; Giuseppe Gorani, Il vero dispotismo (1770), auszugsweise in: Illuministi italiani (wie Anm. 4), Bd. 3; Francesco Dalmazzo Vasco, Delle leggi civili (1766), auszugsweise in: ebd.; ders., Suite du Contrat social (1765), auszugsweise in: ebd.; ders., Note all’Esprit des loix (1780er Jahre), auszugsweise in: ebd.; Francesco Maria Gianni, Meditazione sul dispotismo (1781?), auszugsweise in: ebd.; Memorie sulla costituzione di governo immaginata dal Granduca Pietro Leopoldo da servire all’istoria del suo regno in Toscana (1805), auszugsweise in: ebd.; Cosimo Amidei, La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti (1768), in: Opere di Cosimo Amidei, hrsg. v. Antonio Rotondò, Turin 1980; Gaetano Filangieri, La scienza della legislazione, (1780–1788), 5 Bde., Mailand 21784–1791. 16 C. Beccaria, Dei delitti (wie Anm. 15), S. 139. Das folgende Zitat S. 145. Aus Gründen der Tarnung, d. h. nach den zunächst gefährlich erscheinenden Angriffen kirchlicher Gegner versuchte Beccaria im Vorwort der sog. 5. Auflage von 1766 so zu tun, als rede er überhaupt nicht vom modernen und als interessiere er sich erst recht
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an natürlicher Freiheit abgetreten haben, die zum Funktionieren des Staates unabdingbar ist. Der Staat hat entsprechend geringe Befugnisse, der Souverän ist nur der Depositar des allgemeinen Willens und kann folglich nur jene „minima delle [autorità] possibili“ beanspruchen, die zur Aufrechterhaltung der gesellschaftsvertraglichen Zwecke nötig sind; alles andere wäre „tirannia“.17 Nur weil er so strikt am maximalen Umfang des in die bürgerliche Gesellschaft hinübergeretteten Naturzustands festhält, kann Beccaria die Todesstrafe ablehnen. Filangieri ist dagegen nur insoweit Naturrechtler, als er die Gesetze einem transzendenten Prinzip unterworfen wissen und damit von der Übermacht der Tradition und vom alleinigen Willen des Monarchen befreien will. Unmittelbar nach dieser Gedankenoperation argumentiert er dann kontextabhängig: historisch, politisch, sozialkulturell, klimatisch. Wie sein Vorbild Montesquieu favorisiert auch Filangieri eine durch Adel gemäßigte Monarchie, die er zwar, wie den Staat überhaupt, auf „tranquillità“ und „conservazione“ – sinngemäß mit ‚Freiheit‘ und ‚Eigentum‘ zu übersetzen – verpflichtet, doch hat sein Staat zur Durchsetzung dieser Ziele erhebliche Befugnisse, denn der Naturzustand habe gerade hierin gewissermaßen versagt, könne also kein Maßstab sein.18 Aus gutem Grunde, wie man gleich sehen wird, hat sich diese zweite Richtung durchgesetzt, für die das Naturrecht eigentlich eine Zweitsprache ist, auf die man bei gewissen Anlässen zurückgreift, in der man sich aber nicht wirklich heimisch fühlt.
___________ nicht für das scholastische Naturrecht: A chi legge, in: Dei delitti, S. 20 (in der deutschen, von Wilhelm Alff besorgten Übersetzung [Frankfurt 1966] S. 46). Wohlweislich gab er diesen Text nicht seinem französischen Übersetzer, um nicht im Mutterland der Aufklärung als Renegat zu gelten, nachdem d’Alembert und Voltaire ihm höchste Anerkennung für seine intellektuelle Brillanz ausgesprochen hatten. Vgl. dazu den Kommentar G. Francionis, Dei delitti (wie Anm. 5), S. 302. 17 Ebd., S. 145. ‚Tirannia‘ ist das Schreckwort, nicht ‚dispotismo‘. Mehr dazu in Abschn. 3. 18 G. Filangieri, La scienza (wie Anm. 15), Bd. 1, S. 47 u.ö. Näheres dazu bei Dino Fiorot, Alcune considerazioni sulle idee sociali ed economiche di Gaetano Filangieri, in: Gaetano Filangieri e l’Illuminismo europeo, eingel. v. Antonio Villani, Neapel 1991, S. 337–359. Muß man nach allem Gesagten noch hinzufügen, daß Filangieri die Todesstrafe befürwortet, allerdings für maßvollen Umgang mit ihr ist? Als Grund, weshalb man im Neapel Genovesis und Filangieris mit Beccarias Naturrechtsentwurf so wenig anfangen konnte, nennt Imbruglia genau dessen Verzicht auf einen starken Staat. Im chaotischen, durch Volksaufstände gefährdeten Neapel habe man Policey, nicht Grundrechte gebraucht, um zurechtzukommen. Girolamo Imbruglia, Riformismo e illuminismo. Il ‚Dei delitti e delle pene‘ tra Napoli e Europa, in: Cesare Beccaria. La pratica dei lumi. Atti del Convegno, hrsg. v. Vincenzo Ferrone / Gianni Francioni, Florenz 2000, S. 99–126.
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III. Naturrecht und Staat Nach 1750, genauer: von den 1760er Jahren an machen die Spannungen zwischen den aufgeklärten Wortführern und den Monarchen einem Prozeß der Annäherung Platz, der bis zum Eintritt namhafter Repräsentanten der Aufklärung, übrigens in unserem Falle durchweg Adlige, in den Staatsdienst reicht. Von den hier untersuchten Autoren verweigern nur Gorani und Vasco diesen Schritt, was nicht heißen soll, daß alle übrigen mit ihren Karrieren zufrieden waren; für Verri und Filangieri gilt das ausdrücklich nicht. Gleichwohl bewirkt dieser Schritt ein Zusammengehen der Interessen von Monarchen und Aufklärern – mindestens aus der Perspektive der letzteren, die sich denn auch, wie in Frankreich die Physiokraten, als die legitimen Berater, ja im Grunde als die eigentlich zur Herrschaft Berufenen fühlen. Der Schritt in die politisch-administrative Praxis hat natürlich Konsequenzen für die Ausgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft. Oberstes Ziel der Naturrechtsanhänger ist, wie man in Anlehnung an Nipperdey sagen könnte, der ‚starke Staat‘. Er soll erreicht werden durch seine Befreiung aus den Bindungen an die Stände (also an Adel und Kirche) und an die Tradition (vornehmlich an das römische Recht), ohne aber deshalb an eine aus dem Naturzustand herübergerettete Freiheit der Untertanen gebunden zu sein. Die Auslegung des Gesellschaftsvertrags dient daher fast ausschließlich diesem Ziel. Als Folge davon ist eine originelle Staatstheorie in der Regel nicht sichtbar. Viele Aufklärer, besonders die ober- und mittelitalienischen, pflegen deswegen gerne auf den „despotisme éclairé“ der Physiokraten zurückzugreifen. Was der „vero despota“ ist, wird ausführlich erörtert. Anders als insbesondere in der zeitgenössischen deutschen Debatte handelt es sich dabei nicht um einen Schreck-, sondern um einen positiv besetzten Begriff. Alles läuft auf den „savio legislatore“19 hinaus, der, im Dienste der Aufklärung stehend (d. h. von Aufklärern beraten), radikale Reformen in Staat und Gesellschaft durchsetzt. Aus Gründen, die nicht einfach zu entscheiden sind, ist in der Lombardei das dabei verwendete Vokabular besonders radikal: man spricht gerne vom ‚despota‘, ja sogar vom ‚dittatore‘, und alles ist positiv, im Blick auf Josef II. gemeint; kein Wunder, daß dann gerade dort auch die Enttäuschung um so größer ist, als sich herausstellt, daß dieser ‚despota‘ sich zunehmend weniger von den Mailänder Aufklärern beraten läßt.20 ___________ 19
G. Gorani, Il vero dispotismo (wie Anm. 15), S. 497. Dazu Christof Dipper, ‚Despotie‘ und ‚Verfassung‘: Zwei Freiheitskonzepte der Mailänder Aufklärung, in: Beiträge zur Begriffsgeschichte der italienischen Aufklärung im europäischen Kontext, hrsg. v. Helmut C. Jacobs / Gisela Schlüter, Frankfurt a. M. 2000, S. 23–59. 20
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Mehr Einsicht in die politischen Zusammenhänge, man könnte auch sagen: weniger naiv argumentiert man in der Toskana und im Königreich Neapel – teils weil die Autoren bereits hohe Beamte sind, teils aber auch – dies gilt insbesondere für Süditalien – weil das Vertrauen in den Monarchen nicht besonders groß ist. Filangieri etwa macht die Wortspiele um „despota“ und „dispotismo“ zu keiner Zeit mit.21 Sowohl die politische Wirklichkeit seiner Heimat als auch seine Abhängigkeit von der politischen Theorie und Sprache Montesquieus hindern ihn am positiven Gebrauch des Wortes ‚Despotie‘. So oder so – kein Autor vermag dem Staat eine klare, unübersteigbare Grenze seiner Kompetenzen zu ziehen. Von Menschenrechten ist zwar immer wieder die Rede, doch handelt es sich hierbei in aller Regel um eine rhetorische Floskel, die dem emphatischen Sprachgebrauch dienen soll. Ein gutes Beispiel ist Filangieri. „I sacri diritti dell’umanità“ verlangten ebenso wie die Not seines Vaterlandes, daß er über die Feudalität spreche, obwohl das, wie er hinzufügt, gegen seine eigenen materiellen Interessen verstoße. Der ‚Nachweis‘, daß der Adel zwar wichtig sei, aber keine politischen Prärogativen besitzen dürfe, schon gar keine erblichen, wird dann aber nicht naturrechtlich, d. h. aus dem Grundsatz allgemeiner Gleichheit auch in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern pragmatisch-politisch geführt: Eine moderne Behördenverfassung stelle ganz einfach eine bessere Sicherung „contro gli abusi dell’autorità del monarca“ dar als ein Feudaladel.22 Die Sicherung der Freiheit – der bürgerlichen und erst recht der politischen – ist in theoretischer Hinsicht unter diesen Umständen ein ungelöstes Problem, solange nicht über eine Verfassung nachgedacht wird. Die italienische Aufklärung unterscheidet sich hier in nichts von der kontinentaleuropäischen insgesamt (allerdings gibt es hier wie dort Ausnahmen, auf die wir noch zurückkommen). Das ist um so erstaunlicher, als der gesamte Naturrechtsdiskurs, den man mit Recht „die herrschende Sozialphilosophie der Zeit von 1600 bis 1800“ genannt hat,23 diese Frage stets als sein wichtigstes Anliegen bezeichnet und Freiheit nur im Staat, also als Ergebnis des Gesellschaftsvertrags für möglich erach___________ 21
G. Filangieri, La scienza (wie Anm. 15), hier zitiert nach Illuministi italiani (wie Anm. 4), Bd. 5, S. 718. 22 Ebd., S. 717 f. 23 K. Luig, Verbreitung (wie Anm. 10), S. 539. Man sollte jedoch die enorme Spannbreite dieser Sozialphilosophie nicht übersehen. So konnte die alteuropäische Ständegesellschaft ebenso in die Sprache des Naturrechts übersetzt werden – das dann nichts anderes als ein umfassender Pflichtenkatalog christlich-patriarchalischer Herkunft für Herrscher, vor allem aber für Untertanen war, wofür Christian Wolff das beste Beispiel abgibt –, wie das Ziel einer radikal egalitären Gesellschaftsordnung bei Beccaria. Wolffs altertümliche Naturrechtslehre hat keiner der hier herangezogenen Autoren übernommen, obwohl Wolff nicht unbekannt war (s. Anm. 30).
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tet hat. Nach nahezu allgemeiner Ansicht kann es, von England abgesehen,24 Freiheit nur im reformorientierten Staat des (aufgeklärten) Absolutismus geben. Es bestand unter den italienischen Aufklärern keine Einigkeit, wie dieses Ziel zu erreichen sei. Beim Blick auf die Halbinsel als Ganzes kann man idealtypisch von drei Denkschulen sprechen, von denen zwei bei näherem Hinsehen rein politisch-pragmatisch argumentierten, aber, um besser gehört zu werden, ihre Aussagen mit naturrechtlicher Patina versahen, während die dritte, allerdings sehr im Verborgenen, politische Freiheit zum staatlich geschützten Naturrecht erhob und eine entsprechend revolutionäre politische Neuordnung entwarf. Die Mailänder Aufklärung empfiehlt, mit der erwähnten Ausnahme Beccarias, das Rezept unbedingter Stärkung der monarchischen Prärogative: Je absoluter der Herrscher, desto besser steht es um die Freiheit der Untertanen. Da die Mailänder den fürstlichen Absolutismus zur Durchsetzung ihrer Ziele zu benötigen glauben, verzichten sie bewußt auf alle weitergehenden politischen Ansprüche oder Sicherungen, die aus dem Theorem des Gesellschaftsvertrags hergeleitet werden könnten. Daher der provokatorische Sprachgebrauch von „despota“, daher auch das von einigen theoretisch geradezu in Abrede gestellte Recht auf Eigentum und daher schließlich die Weigerung Verris, die „politische“ als eine von „bürgerlicher“ unterschiedene Freiheit zu betrachten.25 Filangieri setzt in Neapel dagegen ganz auf die Gesetzgebung. Werde sie ‚wissenschaftlich‘ betrieben, so erfülle sie eine doppelte Maxime: Erstens naturrechtliche Grundsätze – das sei die „bontà assoluta delle leggi“ –, die jedermann einsichtig sind, wie z. B. Moral, Elternliebe, Schamgefühl usw. als Grenze gesetzgeberischer Befugnisse; zweitens dann aber die den jeweiligen Umständen angepaßten Grundsätze – die „bontà relativa delle leggi“ –, die sich nur von Fall zu Fall konkretisieren lassen.26 Ein schwieriges Unterfangen, wie Filangieri nicht müde wird zu betonen, und hier schlägt folglich die Stunde der aufgeklär___________ 24 Allerdings mußte sich England seit den 1780er Jahren bei vielen Beobachtern eine Abwertung als politisches Vorbild auf Kosten Nordamerikas gefallen lassen. Für Italien dazu Franco Venturi, Settecento riformatore, Bd. 4/1: La caduta dell’Antico regime (1776–1789). I grandi stati dell’Occidente, Turin 1984, Kap. 2. 25 Näheres dazu bei Christof Dipper, Politischer Reformismus und begrifflicher Wandel. Eine Untersuchung des historisch-politischen Wortschatzes der Mailänder Aufklärung 1764–1796, Tübingen 1976, S. 64 ff., S. 125 ff. 26 G. Filangieri, La Scienza (wie Anm. 15), Buch I, Kap. 4 und 5. Der deutsche Rezensent schrieb, die „absoluten Gesetze“ seien „mit dem allen Menschen faßlichen Naturrecht“ identisch. Johann Christian Siebenkaes, in: Allgemeine Juristische Bibliothek 4 (1784), S. 21; zitiert in Paolo Becchi / Kurt Seelmann, Gaetano Filangieri und die europäische Aufklärung, Frankfurt a. M. 2000, S. 103.
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ten Experten. Denn neben Aufklärung und Erziehung des Volkes bedarf es zur institutionellen Sicherung der Qualität der Gesetzgebung nicht nur einer „Versammlung der Angesehenen“, die die Gesetze mitberaten, sondern ihnen vorgeschaltet denkt sich Filangieri einen „Zensor“, der den Alterungsprozeß und Geltungsverlust der Gesetze beobachtet und zur allgemeinen Kenntnis bringt (ohne freilich selbst legislative Befugnisse zu besitzen).27 Filangieri brachte hier eine Montesquieu ergänzende und offensichtlich viele Leser überzeugende Vorstellung aufgeklärten Regierens auf den Punkt, denn er erfuhr mit seinem Werk sogleich internationale Zustimmung, wurde mehrfach übersetzt und zum Ziel europäischer Reisender.28 Das Naturrecht war bei ihm zwar präsent, aber weit in den Hintergrund gerückt. Wenn es um die Praxis ging, spielten weder Naturzustand noch Gesellschaftsvertrag ernstlich eine Rolle, sondern die jeweiligen Gegebenheiten. Beiden Optionen liegt eine angenommene Identität der Interessen von Untertanen und Monarchen zugrunde, deren einzige empirische Grundlage der Kampf gegen die sog. „Zwischengewalten“ ist. Die Wirklichkeit sah anders aus und das erklärt die zunehmenden Schwierigkeiten bzw. Spannungen zwischen Aufklärung und politischer Führung, auch wenn diese durchaus reformorientiert war. Die ganz große Ausnahme in dieser Hinsicht ist Beccaria. Ihn interessiert weniger der Staat als die Gesellschaft. Sein radikaler Ordnungsentwurf zielt auf Sicherung eines Maximums an individueller Freiheit durch eine Strafrechtsreform, in der zwischen den Zeilen eine egalitäre, republikanisch lesbare (so jedenfalls in der Revolutionszeit) Gesellschafts- und Staatsordnung enthalten ist, befreit von aller Tradition. Beccaria geht es nicht ums Naturrecht als solches, sondern dieses benützt er als Instrument zur Aushebelung des gemeinen oder, wie man gerade im Hinblick auf Italien sagen müßte, römischen Rechts. Er machte damit, und zwar keineswegs ungewollt, die positivistischen Tendenzen der aufgeklärten Rechtsdiskussion so stark, daß Tarello in Josef II., Leopold II. und noch in Napoleon seine wahren Schüler sieht.29 ___________ 27
G. Filangieri, La Scienza, Buch I, Kap. 8. Zu Deutschland Paolo Becchi, Die Anfänge der Wirkungsgeschichte Filangieris in Deutschland und seine Bedeutung für die europäische Aufklärung, Saarbrücken 1982; ders., Gaetano Filangieri und die neapolitanische Schule, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 71 (1985), S. 199–217. Ferner zu Filangieri als deutschem Reiseziel und zum positiven zeitgenössischen Neapel aus deutscher Sicht (und zu dessen Verkehrung ins Gegenteil nach 1800) Kai Kufeke, Himmel und Hölle in Neapel. Mentalität und diskursive Praxis deutscher Neapelreisender um 1800, Köln 1999, S. 117 f. 29 Giovanni Tarello, Storia della cultura giuridica moderna, Bd. 1: Assolutismo e codificazione del diritto, Bologna 1976, S. 480. Gemeint sind das toskanische Strafgesetz28
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Während sich also Beccaria, innerhalb des hier beleuchteten Ausschnitts der einzig wirklich originelle Kopf im damaligen Italien, in der Praxis durchsetzt – begrenzt aufs Strafrecht natürlich, und auch da nur zu mehr oder minder großen Teilen –, kann man im Hinblick auf die beiden politischen Optionen feststellen, daß sich keine bewährt hat. Pietro Verri mußte am eigenen Leibe erfahren, wie wenig ein absolut gewordener Monarch sich die spezifischen Interessen des Herzogtums Mailand oder, deutlicher noch, die Sichtweisen und Ratschläge aufgeklärter Mailänder Patrizier zu eigen machte30 (aus Wiener Sicht zu Recht übrigens), und rückte deshalb allmählich von seiner pro-absolutistischen Naturrechtstheorie ab. Filangieri gelingt erst gar nicht der Beginn einer administrativen und Beraterkarriere. Verbittert zog er sich in die Einsamkeit der kampanischen Provinz zurück. Sein früher Tod bewahrte ihn vor noch größerer Desillusionierung, vor allem vor der die neapolitanischen Intellektuellen tödlich bedrohenden Katastrophe des Jahres 1799. – Die dritte Option, wie die Freiheit der Bürger in der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern sei, ging im Gegensatz zu den beiden anderen vom tiefen Mißtrauen nicht nur gegenüber einer erneuerten, im Grunde aber traditionellen ‚Gesetzgebungswissenschaft‘ aus, sondern auch gegenüber dem Absolutismus in seiner modernen Form. Ihr gilt unser nächster Abschnitt.
IV. Verfassung Wenn wir mit Klippel31 die entscheidende Schranke, die das ‚jüngere‘ vom ‚älteren‘ Naturrecht trennt, im Konstitutionalismus sehen wollen, dann setzte die Überwindung dieser Schranke in Italien nicht nur früher ein als in Deutschland,32 sondern er kam, jedenfalls auf dem Papier, auch ein gutes Stück weiter ___________ buch von 1786, das altertümlichere österreichische von 1787 und der Code Pénal von 1810. Hinzufügen könnte man den allerdings gescheiterten Versuch, in der Lombardei ein modernes Strafgesetzbuch einzuführen. Beccaria war Mitglied der damit befaßten Kommission. Die Todesstrafe sollte nicht vollständig abgeschafft werden. 30 Zur vielleicht schlichteren, jedenfalls deutschen Version naturrechtlichen Reformismus bei den eigentlichen Trägern der habsburgischen Verwaltung in Mailand, den gehobenen Beamten bürgerlicher Herkunft, Carlo Capra, Lo sviluppo delle riforme asburgiche nello Stato di Milano, in: La dinamica statale austriaca nel XVIII e XIX secolo, hrsg. v. Pierangelo Schiera, Bologna 1981, bes. S. 179 ff. Capra nennt Wolff, Thomasius, Justi und Sonnenfels als die in diesen Kreisen am meisten gelesenen Autoren. 31 Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976. 32 Das ergibt sich aus einem Blick in: Die Anfänge des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, hrsg. v. Horst Dippel, Frankfurt a. M. 1991; dort sind nur Entwürfe aus den 1790ern abgedruckt, die alle folgenlos geblieben sind.
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voran. Gewiß blieb er ein Randphänomen. Die große Mehrheit der naturrechtlich argumentierenden Denker im späten 18. Jahrhundert hat noch lange von einer geschriebenen Verfassung mit Grundrechtskatalog und anderen Sicherungen der Freiheit der Bürger nichts wissen wollen – ob aus politischem Unverständnis, aus Vertrauen in die Monarchen oder aus Mißtrauen gegenüber dem ‚Volk‘. Das war freilich ein gemeineuropäisches Phänomen. Die von den Aufklärern unterstellte Interessenidentität mit ihren Monarchen endete meistenorts schon bei der Erörterung politischer Tagesfragen. Man konnte sie nur in Briefen, klandestin natürlich und allenfalls noch in Reiseberichten riskieren.33 Wer offen über die Verfassung als Mittel zur Begrenzung und Reformierung der königlichen Prärogative schrieb, hatte scharfe Verfolgung zu gewärtigen. Vasco, der piemontesische Adlige, von dem bereits die Rede war, verbrachte deshalb Jahre im Gefängnis, nachdem die piemontesischen Behörden schon seine Erörterung der korsischen Frage mit großem Mißtrauen verfolgt hatten. Tatsächlich hat der korsische Aufstand zu einer Reihe von Verfassungsentwürfen aus italienischer Feder in den Jahren 1765 und 1766 geführt: Gorani, Pauli und Vasco lieferten – ganz abgesehen von Rousseau – entsprechende Projekte, die damals allerdings kaum bekannt wurden. Vasco legte einen ganz ungewöhnlich progressiven Text vor. Um die „liberté naturelle et civile“, wie er schrieb,34 so weit als möglich zu erhalten, entwirft er eine Fülle von ‚checks and balances‘, denn er mißtraut im Gegensatz zu seinem Vorbild Rousseau der direkten Demokratie. „La liberté n’est pas aliénable. La souveraineté ne l’est pas plus. Le roi n’est donc qu’un gouverneur. Il suit de ceci que le pouvoir législatif ne peut appartenir qu’au peuple, qui est le véritable souverain et, au contraire, le pouvoir exécutif ne peut appartenir qu’au roi, qui est le gouverneur“.35 Die verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien erhalten daher besondere Bedeutung: Gewaltenteilung natürlich, ferner Wahlmonarchie, Parlament, allgemeines Wahlrecht der Familienväter und sogar die Möglichkeit von, modern formuliert, ‚impeachments‘. ___________ 33
Das sind die Quellen, neben diplomatischen Berichten vor allem englischer Provenienz, aus denen Venturi seine Informationen zu den zeitgenössischen Stimmen über den korsischen Aufstand und die damit im Zusammenhang stehenden Verfassungsprojekte schöpfte. Franco Venturi, Settecento, Bd. 5/1: L’Italia dei lumi (1764–1790). La rivoluzione di Corsica. Le grandi carestie degli anni sessanta. La Lombardia delle riforme, Turin 1987, Kap. 1. 34 F.D. Vasco, Suite, in: Illuministi italiani (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 833. Es folgt das ganze, sich angeblich strikt an Rousseaus Vorgaben haltende konstitutionelle Programm, das laut Venturi eines der interessantesten italienischen Verfassungsprojekte des 18. Jahrhunderts darstellt; ebd., S. 816. 35 Zitiert in F. Venturi, Settecento, Bd. 5/1 (wie Anm. 33), S. 83.
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Keiner der Verfassungsentwürfe für Korsika kam aus der Mitte der Korsen selber.36 Es war die typisch aufgeklärte Volksbeglückung von oben, dabei ein ‚Volk‘ voraussetzend, das es empirisch gar nicht gab. Kein Wunder, daß eine Erfolgschance nicht einmal ansatzweise bestand. So gesehen, gehört auch das toskanische Verfassungsprojekt in diese Kategorie, denn es entsprach erkennbar so wenig der eigentlich vorauszusetzenden ‚volonté générale‘,37 daß man es sogar vor den eigenen Untertanen geheimhalten mußte. Die politische Selbstentmannung eines absoluten Monarchen im Namen des Naturrechts zeigt wahrscheinlich besser als vieles andere den außerordentlichen Nimbus dieser regulativen Idee im späten 18. Jahrhundert. 1779 gab der toskanische Großherzog Pietro Leopoldo, den Martini in Wien im Naturrecht unterrichtet hatte,38 bei seinen höchsten Beamten die Ausarbeitung einer Verfassung in Auftrag, nachdem er selbst seine Gedanken über eine Ständeverfassung, wie er es nannte,39 zu Papier gebracht und dafür etliches Material zu den nordamerikanischen Verfassungen, zu Turgots Munizipalitätenentwurf von 1775 und anderes durchgearbeitet hatte. Ihr liegt gewissermaßen ein „Gefährdungsbewußtsein“ ‚von oben‘40 zugrunde, gespeist aus der großherzoglichen Sorge vor dem „dispotismo ministeriale“41 einerseits und den angekündigten Eingriffen seines in Wien regierenden Bruders Josef II. andererseits. Diese Verfassung sollte, wie es in § 11 der Version von 1787 heißt, den Untertanen ihre „piena libertà naturale“42 zurückgeben und damit das toskanische Reformwerk ___________ 36 Das gilt auch für die von Pasquale Pauli verfaßte und von den korsischen Aufständischen 1755 verabschiedete sog. Konstitution, in Wahrheit ein Organisationsstatut der Provinzialrepräsentanten, der ‚Dieta generale‘. Sie ist abgedruckt bei Gerda Graf, Der Verfassungsentwurf aus dem Jahr 1787 des Granduca Pietro Leopoldo di Toscana. Edition und Übersetzung. Das Verfassungsprojekt, Berlin 1998, S. 281 f., A. 21. 37 Man war sich dessen durchaus bewußt (vgl. den undatierten Brief Giannis an den Großherzog; zitiert in: Illuministi italiani (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 1039, Anm. 1), sah aber keine Alternative. 38 Karl Anton von Martini, Lehrbegriff des Natur-, Staats- und Völkerrechts, Wien 1783/84 (ND Aalen 1969), Vorwort. Der Inhalt dieses Buches war Gegenstand des Prinzenunterrichts Anfang der 1760er Jahre. 39 Idea sopra il progetto della creazione dei stati, abgedruckt bei Joachim Zimmermann, Das Verfassungsprojekt des Großherzogs Peter Leopold von Toskana, Heidelberg 1901, Beilage 6. 40 D. Klippel, Politische Freiheit (wie Anm. 31), S. 200, nennt das „Gefährdungsbewußtsein gegenüber Herrschaft und staatlicher Tätigkeit“ als Auslöser für die Suche nach naturrechtlicher Sicherung der Freiheit. 41 M. Gianni, Memorie (wie Anm. 15), in: Illuministi italiani (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 1049. 42 Abgedruckt in: G. Graf, Verfassungsentwurf (wie Anm. 36), S. 23.
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krönen sowie nicht zuletzt einer „absolut gerechtfertigten Rebellion“ zuvorkommen, wie Gianni, ihr Autor, formulierte.43 Zahlreiche Gutachten der Berater und drei Textentwürfe von 1782, 1787 und 1789 liegen vor, deren verfassungsgeschichtliche Bedeutung hier um so weniger zur Diskussion steht, als das Vorhaben unausgeführt blieb und die Öffentlichkeit davon überhaupt erst 1825, auch dann noch an sehr versteckter Stelle, erfuhr.44 Im Vergleich zu diesen beiden Frühstartern bedurfte das Gros der italienischen Naturrechtsanhänger, wie gesagt, mindestens der Französischen Revolution, um dem Gedanken einer geschriebenen Verfassung im Interesse der Sicherung von Grund- und Menschenrechten näherzutreten. Mit dem Blick auf die in den 1790er Jahren entstandenen Verfassungsprojekte, in denen es dann auch schon, insbesondere im 1796 von der franko-lombardischen Zivilverwaltung ausgerufenen Wettbewerb,45 zugleich um die nationale Einheit ging, verlassen wir jedoch den Boden spezifisch italienischer Naturrechtsdiskussion und treten in die Anfänge der italienischen Verfassungsgeschichte ein. Diese ist hier jedoch nicht das Thema.46
V. Die Stellung der Kirche im Staat Im Interesse der richtigen Größenordnung muß einleitend daran erinnert werden, daß den naturrechtlich argumentierenden Autoren die Frage der Verfassung der Kirche bzw. das Verhältnis zwischen ihr und dem Staat wichtiger war als die Verfassung des Staates im grundrechtlichen Sinne. Auch muß vor___________ 43
Giannis wohl 1781 verfaßte Denkschrift ist voller naturrechtlicher Kernbegriffe und argumentiert, der politische Naturzustand sei die Demokratie, die es deshalb wiederherzustellen gelte, sonst drohe eben „la più legittima ribellione“; M. Gianni, Meditazione (wie Anm. 15), in: Illuministi italiani (wie Anm. 4), Bd. 3, S. 1068. 44 Insider hatten natürlich davon Kenntnis, so z. B. der 1790 mit Leopold aus Florenz zurückkommende Mathematiklehrer seiner Kinder, Andreas Freiherr von Riedel. Er legte 1791 dem nunmehrigen Kaiser einen Verfassungsentwurf vor, der freilich altertümlichere Züge trug als die in der Toskana ausgearbeiteten Texte. Abdruck: Alfred Körner, Die Wiener Jakobiner, Stuttgart 1972, S. 19–30. Riedel wurde 1795, also nach dem Tode seines Gönners, wegen eines „Aufrufs an alle Deutsche zu einem antiaristokratischen Gleichheitsbund“ von 1792 zu sechzig Jahren Gefängnis verurteilt. 45 Die Preisfrage lautete: „Quale dei governi liberi meglio convenga alla felicità d’Italia?“ Die 57 Zuschriften sind abgedruckt in: Alle origini del Risorgimento. I testi di un „celebre“ concorso (1796), hrsg. v. Armando Saitta, 3 Bde., Rom 1964. 46 Zur (oberitalienischen) Verfassungsgeschichte ausführlich Carlo Zaghi, L’Italia di Napoleone dalla Cisalpina al Regno, Turin 1986. Einen zeitlich sich vom Ancien Régime bis 1848 erstreckenden Überblick legte Carlo Ghisalberti, Dall’antico regime al 1848, Rom / Bari 1974, vor.
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ausgeschickt werden, daß der Antikurialismus älter ist als das aufgeklärte Naturrecht und namentlich in Neapel und Venedig, wo er eigentlich zu Hause war, einige Erfolge erreicht hatte, die dann aber, sobald man sie durch die naturrechtliche Brille betrachtete, plötzlich als völlig unzureichend galten. Denn nun ging es nicht mehr um das Nebeneinander von (katholischer) Kirche und Staat, sondern, da es nur eine bürgerliche Gesellschaft geben kann und alle anderen Gesellschaften ihr nach- bzw. untergeordnet sind, um die Unterwerfung der Kirche unter den Staat. Die Stellungnahmen hierzu sind kaum überschaubar, aber sie variieren das Thema lediglich auf vielfältige Weise. Die grundlegenden Programmschriften erschienen 1767 (Pilati47) und 1768 (Amidei48) und lieferten Argumente und Rezepte im antikurialen Kampf, der auf der politischen Ebene bereits seit einigen Jahren tobte. Beide Verfasser waren Beamte und nahmen das kirchenreformatorische Programm der Habsburger auf, das in der Mailänder und Florentiner Bürokratie eine feste Stütze hatte. Die intellektuellen Eliten dagegen gefielen sich eher im Antijesuitismus bourbonischer Prägung (er wurde in Parma und Neapel auch von den Dynastien gestützt), der zwar einige spektakuläre Erfolge verbuchen konnte – am spektakulärsten war sicherlich das beim Papst 1773 durchgesetzte Verbot des Jesuitenordens –, auf Dauer aber längst nicht so nachhaltig wirkte wie das habsburgische Staatskirchentum. Während Beccaria etwa nur für eine Laisierung des Strafrechts als Folge der Trennung von Offenbarung, Vernunft und positivem Recht plädierte und außerdem das Klosterleben attackierte, hielten Amidei und Pilati die Umwandlung der katholischen Kirche in eine Staatsanstalt naturrechtlich für erlaubt, ja für geboten – gingen also viel weiter. Praktisch wurde in der Toskana sogar der Umbau einer besonders reformfreudigen Diözese – Pistoia – in eine vereinsrechtlich strukturierte Organisation versucht, doch scheiterte dies alsbald am vielfachen Protest bzw. der Verweigerung von Klerus und Gläubigen, vom Widerstand des Papstes ganz zu schweigen.49 Mit dem Argument, daß im Gesellschaftsvertrag keine Bestimmungen über die Kirche als Institution enthalten sein könnten, hatte Amidei eine Art naturrechtlicher Generalklausel formuliert. ___________ 47 Carlantonio Pilati, Di una riforma d’Italia, ossia dei mezzi per riformare i piú cattivi costumi e le piú perniciose leggi d’Italia, Villafranca [Chur] 1767. 48 [Cosimo Amidei], La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti, o. O. [Lucca] 1768. Wiederabdruck s. Anm. 15. Wiederum ist Venturi der ausführlichste Chronist dieses Themas in jener Zeit: Franco Venturi, Settecento riformatore, Bd. 2: La chiesa e la repubblica dentro i loro limiti 1758–1774, Turin 1976. 49 Dazu zuletzt in deutscher Sprache der knappe Überblick von Peter Hersche, Zum zweihundertsten Jahrestag der Synode von Pistoia (1786), in: Internationale kirchliche Zeitschrift 78 (1988), S. 243–251.
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Der ‚Rest‘ war eine Frage der Opportunität und politischen Möglichkeiten. So variierten die Staatseingriffe von Land zu Land (im Kirchenstaat fehlten sie naturgemäß weitgehend), leiteten aber insgesamt – so Venturi – die Laisierung der italienischen Kultur ein.
VI. Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung Wer die Dogmengeschichte der ökonomischen Analyse nicht einfach in eine auf Adam Smith zulaufende und dann von ihm ausgehende und heute weltumspannende Entwicklung einteilt, wird feststellen, daß das fachliche Niveau im Italien des 18. Jahrhunderts außerordentlich hoch war, teilweise an der Spitze lag.50 Tatsächlich weiß man ja heute, daß Smiths Wirkung in erster Linie auf seine Fähigkeit zurückgeht, die Ideen, die er vorfand, in ein geschlossenes System von hoher Überzeugungskraft zu bringen. Was die Beurteilung der italienischen Theoretiker erschwert, ist der Umstand, daß sie damals mehrheitlich auf einem Gebiet brillierten, das für die klassische Schule lange Zeit am Rande lag: die Geldtheorie. Galiani, Carli und Pietro Verri fanden zu ihrer Zeit allerdings internationale Beachtung.51 Weniger gilt das für Beccaria, denn sein Hauptwerk ließ er unveröffentlicht52 und seine ökonometrische Beweisführung vom Sinn und Unsinn der Schmuggelbekämpfung von 1764 war bei aller Originalität kein Beitrag, der die Aufmerksamkeit einer Wirtschaftslehre finden konnte, die damals noch recht deutlich ihre Herkunft von der Ethik zu erkennen gab. Das förderte andererseits den Ruhm Genovesis, der tatsächlich als theologisch ausgebildeter Ethiker 1751 in Neapel den ersten europäischen Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaft erhielt.53 ___________ 50 So das Urteil von Joseph A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Göttingen 1965, S. 236 ff., S. 371, S. 625. 51 Genannt sei lediglich Ferdinando Galiani, Della moneta, Neapel 1751. Wiederabdruck in: Opere, hrsg. v. Furio Diaz und Luciano Guerci, Mailand 1975. 52 Die Elementi di economia pubblica wurden erstmals 1804 gedruckt. 53 Genau genommen war es eine Professur für ‚Mechanik und Handel‘, aber das Entscheidende war, daß hier keine Merkantilistik gelehrt wurde, sondern, wie Genovesis Vorlesung belegt, ‚Handel‘ im Sinne vor allem von Privatwirtschaft. Antonio Genovesi, Lezioni di commercio o sia di economia civile, 2 Bde., Neapel 1765/67. Genovesi hat den Begriff ‚Mechanik‘ alsbald erfolgreich unterschlagen. – Beccaria erhielt 1768 in Mailand einen nach neapolitanischem Vorbild neugeschaffenen, aber nach deutschem, also altertümlichem Vorbild benannten Lehrstuhl für ‚Kameralwissenschaft, Staats- und Privatwirtschaft‘. Er behielt ihn nur zwei Jahre und erwies sich als wenig origineller, stark physiokratisch inspirierter Reformer, wie aus seiner Vorlesung hervorgeht. Cesare Beccaria, Elementi di economia pubblica, in: ders., Opere, hrsg. v. Sergio Romagnoli,
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Zeitgenossen fiel jedenfalls auf, daß Kenntnisse in wirtschaftlichen Dingen von den 1760er Jahren an selbst für Salongespräche als unabdingbar galten.54 Entsprechend intensiv wurden Wirtschaftsfragen in der zeitgenössischen Literatur behandelt. Der Hintergrund war die anhaltende Knappheitskrise, gipfelnd in schweren Hungersnöten, die praktisch die gesamte Halbinsel zwischen 1758 und 1764/66 in ihrem Griff hatte. Aber was besagt dies über den Einfluß naturrechtlichen Denkens auf wirtschaftliche Ordnungsentwürfe oder Einzelmaßnahmen? Die Wissenschaftsgeschichte schweigt sich dazu so gut wie vollständig aus.55 Halten wir zunächst die Rahmenbedingungen fest. Kaum irgendwo sonst in Europa waren wirtschaftliche Aktivitäten auch nur annähernd so umfassend reguliert wie in den italienischen Territorien: Produktion und Verteilung von Getreide (‚Annona‘) war im Grunde seit römischen Zeiten besonders strikt geregelt in der Weise, daß das Land den Bedürfnissen der Stadt vollständig ausgeliefert war. Die Aus-, Ein- und Durchfuhr von Waren jeglicher Art war ebenfalls reglementiert, was bis zu totalen Verboten reichen konnte. Natürlich gab es durch fideikommissarische Bindung und Tote Hand so gut wie keinen Bodenmarkt, was die Jagd auf die Gemeindeländereien zu erklären hilft. Und nicht zuletzt war das städtische Gewerbe zünftisch und daher von zahlreichen Ge- und Verboten durchsetzt. Protoindustrialisierte Landschaften, die ja eine halbwegs freie Verbindung zum Weltmarkt voraussetzen, waren deshalb nur in oberitalienischen Randzonen zu finden. Reformen, die dieses überregulierte System aufbrechen sollten, wurden spätestens seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges als unvermeidlich angesehen. Sie setzten tatsächlich auch in den meisten Territorien, hier entschlossener, dort zaghafter, ein. Aber reformieren konnte man natürlich auch im Namen des Gemeinwohls, man benötigte dazu keine universalen, naturrechtlichen Grundsätze und Schlagworte. Am radikalsten krempelte Pietro Leopoldo sein Großherzogtum um, dessen Regentschaft er unmittelbar nach der großen Hungersnot übernommen hatte; genannt seien nur wegen ihrer mindestens begrifflichen Nähe zum Naturrecht die Einführung der Freiheit des Getreidehandels 1767/75 und der Gewerbefreiheit 1770/81. In einigem Abstand folgte die ebenfalls habsburgische Lombardei.
___________ Bd. 1, Florenz 1958 (Die Edizione nazionale der Werke Beccarias hat diesen Text noch nicht ediert). 54 Für Mailand C. Dipper, Politischer Reformismus (wie Anm. 25), S. 58 ff. 55 Ich muß daher auf ein ungedrucktes Manuskript meinerseits hinweisen: Christof Dipper, Politische Ökonomie und Reformbewegung in Oberitalien (1989).
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Vieles spricht dafür, daß jedenfalls das jüngere Naturrecht mit seinen bisweilen radikalliberalen Tendenzen den Gang der Entwicklung nur in Ausnahmefällen bestimmte. Erstens begegnet man selbst in aufgeklärten Texten auffallend wenig dem Schlagwort der ‚Gewerbefreiheit‘. Zweitens ist von anderen naturrechtlichen Schlüsselbegriffen wie z. B. ‚Harmonie‘, ‚Konkurrenz‘ und ‚Markt‘ ebenfalls nur selten die Rede. Drittens und vor allem ist von einer gegenüber Ethik und Politik verselbständigten Ökonomik so gut wie nichts zu spüren. Das sollte übrigens noch lange so bleiben. Das Hauptproblem des Naturrechts war und blieb jedoch der Widerspruch zwischen dessen freiheitlichem Menschenbild und dem ‚starken Staat‘, den es zur Durchsetzung seiner Ziele brauchte. Genovesi hat dafür jene Lösung gefunden, die ihn theoretisch aus der Masse der Autoren heraushob, praktisch aber nicht eingelöst wurde: Um dem Bürger als ‚homo oeconomicus‘ zu seinem Recht zu verhelfen, soll sich der Staat auf die Schaffung jener Rahmenbedingungen beschränken, die dem wirtschaftenden Menschen den Genuß seiner Früchte garantiert.56 Eingriffe in die Wirtschaftsverfassung waren offensichtlich mit Hilfe des Naturrechts nicht oder jedenfalls nicht wirkungsvoller zu legitimieren als mit anderen Begründungen. Um so einfacher war es für die Naturrechtsanhänger, das Verhältnis von Staat und Individuum im Hinblick auf die angestrebte Gesellschaftsordnung neu zu bestimmen. Rechtliche Gleichheit war naturrechtlich einfach zu begründen und versprach zudem aus utilitaristischer Sicht – sie fehlte in keinem Text – große, jedermann einsichtige Vorteile. Dabei richtete sich der Blick zunächst auf die Adelsprivilegien, die neben denen der Kirche unter den gesellschaftlichen wie politischen Gegebenheiten auf der Halbinsel für den Ausbau der staatlichen Souveränität das größte Hindernis bildeten.57 Da politi___________ 56
„I coltivatori delle terre, i pastori, i manufattori, i trafficanti, e tutte le classi degli uomini, che esercitano qualche mestiere producitore di rendite, sieno intimamente persuasi esser padroni de’ loro beni e faticare per sé principalmente, e per le loro famiglie; non per altro portare i pesi pubblici che per esser meglio sicuri de’ loro beni e diritti, ma esserne poi liberi dispositori, salvo il diritto pubblico. [...] Brievemente, esser sicuri all’ombra della legge, e della sovranità, di sé e de’ loro averi e diritti“. A. Genovesi, Lezioni (wie Anm. 53), Bd. 1, S. 338 f.; zitiert in Eluggero Pii, Antonio Genovesi. Dalla politica economica alla „politica civile“, Florenz 1984, S. 176. Die wirtschaftlichen Bestimmungen im toskanischen Verfassungsentwurf nehmen sich im Vergleich hierzu theoretisch und praktisch ziemlich bescheiden aus; sie beschränken sich auf das Verbot der Monopole und Garantie der „attuale libertà“ beim Getreidehandel (Art. 38 f.); G. Graf, Verfassungsentwurf (wie Anm. 36), S. 31. 57 In Sardinien-Piemont und Neapel-Sizilien existierte noch die Feudalität unter einer vergleichsweise absoluten Monarchie, im übrigen Italien, vom Kirchenstaat abgesehen, war der Adel eigentlich Patriziat (die Nobilitierten hatten es entsprechend schwer), jedes Territorium im Grunde nach wie vor Adelsrepublik bzw. gar eine Ansammlung von Adelsrepubliken unter einem Landesfürsten oder Dogen. Die Adelskritik hatte darum also sehr verschiedene Stoßrichtungen.
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sche (Ämterzugang) und besitzrechtliche Privilegien (Fideikommiss und Primogenitur) miteinander verschränkt und aufeinander angewiesen waren, zu denen selbstverständlich die gesellschaftlichen noch hinzutraten, standen die Kritiker vor großen Schwierigkeiten, wenn sie bestimmen sollten, bis zu welchem Grade die Gleichheit naturrechtlich geboten sei. Montesquieu war natürlich für alle der Bezugspunkt, der mit Blick auf England dem Adel unverzichtbare politische Aufgaben zugewiesen hatte. Aber war das ein gangbarer Weg für die patrizisch dominierten Gebiete Italiens? Deshalb stieß Montesquieu, jedenfalls in Mailand, auf entschiedenen Widerspruch. Das Naturrecht erlaubte nach Meinung der Mailänder Aufklärer, unter ihnen nicht wenige Patriziersöhne und einige davon sogar Erstgeborene (Pietro Verri, Beccaria), nurmehr unterschiedlichen Besitz und gesellschaftlichen Rang. In Turin und Neapel wäre man schon froh gewesen, wenn man den Adel zum intermediären Stand im Sinne Montesquieus hätte umbauen können. In der Toskana wollte der Großherzog Patriziat und Feudaladel mittels seiner Verfassung ‚domestizieren‘. Das naturrechtliche Gleichheitspostulat wurde also durchaus verschieden ausgelegt. Wenn aber in so gut wie allen italienischen Staaten außerordentliche Anstrengungen zur Einführung eines mehr oder minder modernen Katasters unternommen wurden58 – eine Errungenschaft, zu der das nordalpine Europa erst im 19. Jahrhundert befähigt sein sollte –, so zeigt dies, daß das Fernziel allenthalben die Eigentümergesellschaft war. Sie wollte an Stelle der erblichen nurmehr durch Besitz bedingte Vorrechte anerkennen, die natürliche Gleichheit also auf Glück, Sicherheit und Eigentumserwerb beschränken, politische Rechte aber weiterhin an Grundbesitz binden – so explizit der toskanische Verfassungsentwurf und die Texte der Mailänder Aufklärer. Hier ist die intellektuelle – und übrigens auch personelle – Basis der ‚Moderati‘, also jener sozialkonservativen Liberalen, die aus den damals eingeleiteten Reformen hervorgingen und knapp hundert Jahre später den italienischen Nationalstaat gründen und eine Zeit lang tragen sollten. Eine ebenfalls aus dem Gesellschaftsvertrag abgeleitete, aber ungleich egalitärere Sozialordnung tritt uns, worauf bereits hingewiesen wurde, bei Beccaria entgegen. Seine aus Vorsicht verschleiernde Sprache erlaubt keine präzise Beschreibung seiner gesellschaftlichen Utopie. Klar ist aber jedenfalls, daß er in
___________ 58 Näheres dazu bei C. Dipper, Aufklärung (wie Anm. 1), S. 398 ff. Da der Kataster stets ein Kampfinstrument gegen Adel und Kirche gleichermaßen war, hing seine Durchführung und erst recht seine Durchsetzung von Konkordaten mit der Kurie ab und machte das Vorhaben entsprechend verwundbar. Erst von den 1780er Jahren an konnte der kirchliche Widerstand als überwunden gelten.
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Christof Dipper
den 1760er Jahren59 keine Eigentümergesellschaft anstrebte, sondern wohl eher so etwas wie die ‚heureuse médiocrité‘, wie sie bei Rousseau und später bei Linguet und Mably vertreten wird, freilich ohne die bei jenen zur Voraussetzung gemachten weitreichenden, quasi-diktatorischen Befugnisse der Staatsgewalt. Viele der radikalen italienischen Spätaufklärer, meist unzutreffend als ‚Jakobiner‘ bezeichnet, sind ihm hier gefolgt, wie überhaupt seine egalitäre Vision Beccaria auch im Frankreich der Revolution einen bleibenden Platz sicherte.60
VII. Wirkungen Das Naturrecht war in Italien weniger „die herrschende Sozialphilosophie der Zeit“ (Luig), als vielmehr die Sozialphilosophie der Herrschenden. So erklärt sich ihre enorme Wirkung in der kurzen Zeit, die ihr bemessen war, aber auch der Haß der großen Bevölkerungsmehrheit, die der überlieferten normativen Ordnung treu blieb. Die neue Ordnung nahm die Ständegesellschaft von zwei Seiten her in die Zange: durch die Steigerung der staatlichen Vollmachten und den Entwurf einer neuen Gesellschaft. In den habsburgischen Territorien, wo das Reformbündnis zwischen Eliten und Monarchen lange Zeit am engsten war, wurden daher bereits im 18. Jahrhundert wichtige Grundlagen für die Überlegenheit Oberitaliens im 19. gelegt. Andererseits kann kaum übersehen werden, wie brüchig diese neue Ordnung war. Vielerorts ging das Ancien Régime in einer Welle von Volksaufständen unter, deren Ziel der Agrarindividualismus und die liberalisierte städtische Ökonomie waren. Für beide stand das Naturrecht. Da außer in den habsburgischen Territorien nur eine winzige Minderheit von Geistlichen bereit war, die ständisch-barocken Frömmigkeitsformen zugunsten der „devozione regolata“ ___________ 59 Diese Einschränkung ist wichtig. An der Radikalität Beccarias in jungen Jahren besteht kein Zweifel – was für die Weitsicht Firmians in Mailand und Kaunitz’ in Wien spricht, die ihn trotzdem anstellten –, aber ebenso klar ist auch sein Meinungswandel als habsburgischer Beamter beispielsweise in Sachen Geld- oder Getreidepolitik; 1777 verkaufte er gar seine in den frühen 1760ern mit erheblichen Opfern eingerichtete Bibliothek. Capra deutet dies nicht nur wie viele andere psychologisch, sondern als Wirkung eines Professionalisierungsschubes, den die habsburgische Bürokratie damals durchmachte, dem sich aber beispielsweise Pietro Verri und andere seiner Jugendfreunde letztlich verweigerten. Carlo Capra, Il gruppo del ‚Caffè‘ e le riforme, in: Cesare Beccaria, (wie Anm. 18), S. 63–78. 60 Von Ovationen, die Beccarias Tochter 1797 in Paris erhielt, berichtet die Textzusammenstellung Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene. Con una raccolta di lettere e documenti, hrsg. v. Franco Venturi, Turin 1965, S. 650. Weitere Belege zu Beccarias Nachruhm ebd., S. 524 ff.
Die politische Funktionalität des italienischen Naturrechts
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Muratoris aufzugeben, fehlten den Regierungen die wohl entscheidenden Vermittler zu den illiteraten, verarmten Massen. Erst recht gilt das für das Ende der französischen Herrschaft, die noch viel entschiedener das aufgeklärt-naturrechtliche Reformprogramm fortsetzte und sich dafür auf die nächste Generation nun auch wirklich politisierter Aufklärer stützen konnte. Die ‚jakobinische‘ Phase endete 1799 in einem regelrechten Kreuzzug, der unter Führung von Kardinal Ruffo Jagd auf die Anhänger der Moderne machte und in Neapel eine ganze Generation Gebildeter aufs Schafott brachte. 1814 waren es eher Steuerdruck und Korruption, mit der Kirche hatten die Franzosen – sie hatten auf der gesamten Halbinsel die Schlüsselpositionen inne – inzwischen einen, wenn auch brüchigen Frieden gemacht. Es wiederholten sich gleichwohl diese Szenen; in Mailand wurde Finanzminister Prina gelyncht. Am Siegeszug des Naturrechts konnte das alles jedoch nichts ändern, denn in napoleonischer Zeit wurde der naturrechtlich begründete Gesellschaftsentwurf in positives Recht gegossen: Der Code Napoléon galt ab 1808 auf der gesamten Halbinsel, aber seine vielerorts 1815 vorgenommene Beseitigung änderte nichts an der mit seiner Hilfe inzwischen hergestellten modernen Gesellschaftsordnung. Gerade dadurch verlor jedoch das Naturrecht nach der Jahrhundertwende rasch den Rang einer Leitwissenschaft. Es hatte sich gleichsam zu Tode gesiegt. Seine politischen Implikationen fielen dagegen der Restauration zum Opfer.
Naturrecht und Reichspublizistik in Reformdiskussionen der Spätphase des Heiligen Römischen Reiches
Horst Carl Das polare Begriffspaar ‚Reichspublizistik‘ und ‚Naturrecht‘ stellt für einen Frühneuzeithistoriker, zumal wenn er sich mit der Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches beschäftigt, keine periphere Materie dar. Zunächst einmal markieren diese beiden Begriffe den Horizont des frühneuzeitlichen Staatsdenkens1 bis hin zur Verfassungsdiskussion um eine Reform des Alten Reiches gegen Ende seines Bestehens, in der die Protagonisten sich um eine Coincidentia oppositorum bemühten – um die Vereinbarkeit von geschichtlich legitimiertem Herkommen des Reiches und vernunftgemäßer Reorganisation, die dieses Reich zukunftsfähig machen sollte.2 Doch darüber hinaus wird der deutsche Frühneuzeithistoriker auf diesem Feld auch mit der Wissenschaftsgeschichte und damit den Wurzeln des eigenen Faches konfrontiert, war doch die ‚Reichspublizistik‘ historiographiegeschichtlich ein Markstein auf dem Weg zu einer eigenständigen Wissenschaft und zur Grundlegung eines eigenen methodischen Selbstverständnisses.3 Das historische Spannungsfeld von ‚Naturrecht‘ und ‚Reichspublizistik‘ verweist aber für jemanden, der sich speziell mit Reichsverfassungsgeschichte beschäftigt bzw. einen verfassungsgeschichtlichen ___________ 1 Michael Stolleis, Reichspublizistik – Politik – Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert, in: Staatsdenker in der frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Stolleis, München 31995, S. 9–28; vgl. auch ders., Jus publicum und Aufklärung, in: Universitäten und Aufklärung, hrsg. v. Notker Hammerstein, Göttingen 1995, S. 181–190, hier S. 182–184. 2 Thomas Würtenberger, Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wendemarken in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 1993, S. 85–108, hier S. 90–92; Barbara Dölemeyer, Carl von Dalbergs ‚Vorschläge zum Besten des deutschen Reiches‘ (1787), in: Mitteilungen des Stadt- und Stiftsarchivs Aschaffenburg, 7,3 (2002–2004), S. 112–123, hier S. 112–114. 3 Grundlegend Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991.
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Ansatz zur Erforschung des Alten Reiches verfolgt, auch auf durchaus aktuelle Probleme des Faches. Die Reichspublizistik als jene juristische Disziplin, die sich dem Jus publicum des Heiligen Römischen Reiches widmete,4 festigte gerade dank der Impulse, die von Thomasius und seinen Schülern ausgingen, ihren Rang als integraler Bestandteil der universitären Rechtsgelehrtheit,5 partizipierte aber damit auch an einer Wissenschaftsauffassung, in deren Gefolge die Jurisprudenz sich immer mehr zu einer systematischen Wissenschaft des zwischenmenschlich geordneten Zusammenlebens wandelte. Davon profitierten nicht zuletzt die Universitäten im Reich,6 die – mit Halle und Göttingen als Flagschiffen, aber auch mittleren Universitäten wie Jena und Gießen im Schlepptau7 – mit einer öffentlichkeitswirksamen Leitwissenschaft wie der ‚Publizistik‘ ihre partielle Modernisierungsfähigkeit und damit ihre Attraktivität als Bildungsanstalten im 18. Jahrhundert einigermaßen bewahren konnten. Für die Wissenschaftsgeschichte der Universitäten in Deutschland ist der Anteil gerade der Reichspublizistik an methodischer Innovation und institutioneller Selbstbehauptung kaum hoch genug einzuschätzen.8 Kern dieser wissenschaftsgeschichtlichen Innovation war die konstitutive Bedeutung der Historie für das Jus Publicum, denn gerade in der Beschäftigung mit dem Reichsrecht vollzog sich die Erkenntnis des Rechts als eines historischen Phänomens. Dem folgte die methodische Analyse, und der Nachweis der geschichtlichen Faktizität von Recht und Staat rückte in den Vordergrund des juristischen Interesses. Die Historie profitierte von dieser zeitweiligen Symbiose: Sie gelangte zu einem nahezu säkularisierten Verständnis ihrer selbst und verfügte über einen fundierten handwerklichen Apparat, der ihr wie dem Vor___________ 4 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 126 ff. 5 Notker Hammerstein, Thomasius und die Rechtsgelehrtheit, in: Studia Leibnitiana 11 (1979), S. 22–44; M. A. Cattaneo, Delitto e pena nel pensiero di Christian Thomasius, Milano 1976; Klaus Luig, Christian Thomasius, in: M. Stolleis, Staatsdenker (wie Anm. 1), S. 227–257; Frank Grunert, Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2000. 6 Einen Überblick bietet M. Stolleis, Geschichte (wie Anm. 4), S. 237–252. 7 Peter Moraw, Kleine Geschichte der Universität Gießen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Gießen 1990, S. 82–87; Notker Hammerstein, Eine deutsche Universität im 18. Jahrhundert: Gießen, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hrsg. von Paul-Joachim Heinig u. a., Berlin 2000, S. 583– 597. 8 Notker Hammerstein, Zur Geschichte und Bedeutung der Universitäten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 287–328; Anton Schindling, Bildung und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit 1650–1800, München 1994, S. 54–60.
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bild der Jurisprudenz den Anschein gesicherter Beweisführung gab.9 Die Emanzipation zu einer eigenständigen Wissenschaft gelang der deutschen Historiographie des 18. Jahrhunderts zwar noch nicht, doch mit der Anbindung an die Rechtswissenschaft wurde in Gestalt der juristisch-historischen Methodik eine der wesentlichen Grundlagen für die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung im Zeichen des Historismus gelegt. Von der Reichspublizistik und der von ihr angestoßenen ‚Reichsgeschichte‘10 führen aber auch noch andere Verbindungen zur Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, denn die Frühneuzeitforschung hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ganz wesentlich als Verfassungsgeschichte, und zwar konkret als ‚revisionistische‘ Verfassungsgeschichte des Alten Reiches etabliert. Im Zentrum dieser verfassungsgeschichtlichen Forschung stand das Bestreben, die politische und soziale Ordnung des Alten Reiches angemessen aus ihrem historischen Kontext heraus – und das hieß: ohne die Verfälschung durch die nationalgeschichtliche und nationalstaatliche Brille des 19. und 20. Jahrhunderts – zu beschreiben und zu analysieren.11 Die Aufwertung des Alten Reiches seit den 1960er Jahren ist mit Namen wie Karl Otmar von Aretin, Friedrich Hermann Schubert, Volker Press oder Peter Moraw verbunden. Wenn eine der methodischen Maximen dieser Reichsverfassungsgeschichte die enge Verknüpfung von Reichs- und Landesgeschichte gewesen ist12 – die Kenntnis der jeweiligen Landesgeschichte bleibe ohne die des politischen Rahmensystems ‚Reich‘ defizitär –, dann werden schon die engen Bezüge zu Johann Jakob Moser und seinem Teutschen Staatsrecht bzw. Neuen Teutschen Staatsrecht deutlich. Auch Mosers Gesamtwerk suchte das Reich als Synopse seiner Glieder zu beschreiben und traktierte neben den Reichsinstitutionen intensiv auch die jeweiligen Territorien bis hinunter auf die Ebene der Reichsritterschaft oder der Reichsstädte.13 ___________ 9
N. Hammerstein, Jus (wie Anm. 3), S. 377 f. Notker Hammerstein, Reichs-Historie, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erich Bödeker u. a., Göttingen 1986, S. 82–104. 11 Als Überblick vgl. Helmut Neuhaus, Das Reich in der Frühen Neuzeit, München 1997, S. 59–61. Gießen spielt hier im übrigen eine durchaus prominente Rolle, da das Gespann Volker Press / Peter Moraw der Diskussion wesentliche Impulse verliehen hat: Peter Moraw / Volker Press, Probleme der Sozial- und Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (13.–18. Jahrhundert). Zu einem Forschungsschwerpunkt, in: Zeitschrift für historische Forschung 2 (1975), S. 95–107. Zur älteren deutschen Verfassungsgeschichte grundlegend: ErnstWolfgang Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 1961. 12 P. Moraw / V. Press, Probleme (wie Anm. 11), S. 107. 13 Zu seinen diversen ‚Territorialstaatsrechten‘ vgl. die Zusammenstellung bei Reinhard Rürup, Johann Jakob Moser – Pietismus und Reform, Wiesbaden 1965, S. 262. 10
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Man wird den Vertretern der Reichsverfassungsgeschichte wohl nicht zu nahe treten, wenn man den älteren Moser als einen ihrer Patrone bezeichnet – kaum ein Historisches Seminar, das nicht den kostspieligen Nachdruck des zwischen 1737 und 1754 erschienenen fünfzigteiligen Teutschen Staats-Rechts oder des Nachfolgeprojektes, des zwischen 1766 und 1782 in zahlreichen Bänden und Zusätzen erschienenen Neuen Teutschen Staatsrechts angeschafft hätte.14 Die Aufwertung des Alten Reiches, das nunmehr als genuines politisches System in all seiner historisch gewachsenen Eigenartigkeit analysiert wurde, war nicht zuletzt die Frucht einer intensiven, oder besser: abundanten Lektüre des Moserschen Œuvres, das als Pfadfinder durch das undurchdringliche Dickicht der historisch gewachsenen Strukturen diente. Mit der Orientierung an der positivistischen Reichspublizistik, die im älteren Moser ihren Gipfelpunkt erreichte, wiederholte sich allerdings für die neuere Reichsverfassungsgeschichte auch das Rezeptionsproblem, das bereits der Reichspublizistik selbst nicht fremd gewesen ist. Mit ihrer Fixierung auf ihren deutschen Gegenstand ist bereits die Reichspublizistik ein genuin deutsches Phänomen geblieben, das nur bedingt Anregungen aus anderen Ländern und Wissenschaftskulturen aufgenommen hat, vor allem aber mit seinen Erkenntnissen kaum exportierbar gewesen ist.15 Ähnlich ist es auch der Reichsverfassungsgeschichte des 20. Jahrhunderts ergangen: Wie beispielsweise sollte man französischen oder englischen Historikern zumuten, Mosers Kompendien zu rezipieren, um einen Zugang zum Alten Reich in all seinen Verästelungen zu gewinnen? Ein Blick auf die internationale Forschungslage zur Reichsverfassungsgeschichte belegt bis heute eine deutliche Zurückhaltung namentlich der französischen Forschung, der zum Teil die Erkenntnisinteressen, aber auch die ___________ 14 Johann Jacob Moser, Teutsches Staats-Recht. Theil 1–50, 1 Reg.-Bd., 2 Erg.-Bde., Nürnberg u. a. 1737–54 (ND Osnabrück 1968); ders., Neues Teutsches Staatsrecht, 20 Bde., 3 Zusatz-Bde., Stuttgart u.a. 1766–1782 (ND Osnabrück 1967/68). Bezeichnenderweise ist das Werk Johann Stephan Pütters, des bedeutendsten Lehrers des öffentlichen Rechts in Deutschland im 18. Jahrhundert, in sehr viel geringerem Umfang Gegenstand von Nach- bzw. Neudrucken gewesen. 15 Zur durchaus intensiven, von Anfang an aber auch umstrittenen Rezeption der Reichspublizistik in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Martin Wrede, Das Reich und seine Geschichte in den Werken französischer Staatsrechtler und Historiker des 18. Jahrhunderts, in: Francia 27/2 (2000), S. 177–211; ders., Die Reichsverfassung in der Perzeption französischer Staatsrechtler und Historiker des 18. Jahrhunderts, in: Deutschlandbilder – Frankreichbilder 1700–1850. Rezeption und Abgrenzung zweier Kulturen, hrsg. v. Thomas Höpel, Leipzig 2001, S. 29–56; Klaus Malettke, Die Perzeption des Alten Reiches in der Enzyklopädie, in: Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Klaus Malettke / Olaf Asbach / Sven Externbrink, Berlin 2001, S. 279–298.
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Kategorien fremd geblieben sind, um sich mit diesem Thema zu beschäftigen.16 Mit Abstrichen gilt dies auch für die angloamerikanische Geschichtswissenschaft,17 lediglich die italienische Forschung bietet hier eine Ausnahme, hat sie doch bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts grundlegende Studien zum frühneuzeitlichen Jus Publicum des Reiches beigesteuert. Ihr kam dabei die Vertrautheit mit den frühneuzeitlichen Traditionen deutscher politischer Philosophie zugute, um auf diesem Feld sogar eine Art Pionierfunktion wahrzunehmen.18 Die nationale Eigenart der Reichspublizistik ist in der Verfassungsgeschichte des Alten Reiches offenbar noch einmal historiographisch reproduziert worden. Wenngleich Moser die Reichsterritorien in seine Zusammenschau des Reichskörpers zu integrieren suchte, markierte doch schon für die Zeitgenossen das Modernitätsgefälle zwischen dem auf Herkommen und Tradition verpflichteten Heiligen Römischen Reich und den Neuerungen, die in den Territorien zum Tragen kamen, die Dichotomie von Reichspublizistik und Naturrecht, zumal die Reformansätze in den Territorien häufig mit der Rezeption naturrechtlicher Vorstellungen einhergingen.19 In seiner Funktion als kritischer Maßstab für Vernünftigkeit und Funktionalität überkommener Rechtsbestände mußte gerade das sogenannte jüngere Naturrecht als Gegenpol und Gefährdung des zum System verstetigten Reichsherkommens erscheinen. Ob diese Dichotomie aller___________ 16
Sowohl die Konzeption von ‚Verfassungsgeschichte‘ als politischer Strukturgeschichte wie auch zentrale Begrifflichkeiten aus dem föderativen Erbe des Alten Reiches sind in der französischen Forschung nicht rezipiert worden. Vgl. die instruktiven Bemerkungen von Olivier Béaud, La notion de pacte fédérativ. Contribution à une théorie constitutionelle de la Fédération, in: Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindung in Rechtsgeschichte und Philosophie – Liberté sociale et lien contractuel dans l’histoire du droit et la philosophie, hrsg. v. Jean-François Kervégan / Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 1999, S. 197–270, v. a. S. 249 ff. Darstellungen des Alten Reiches und seines Verfassungsgefüges, die den Verfassungsgeschichten deutscher Prägung an die Seite gestellt werden können, liegen beispielsweise erst seit jüngster Zeit auch in französischer Sprache vor: Jean Schillinger, Le Saint-Empire, Paris 2002. 17 Ausnahmen sind z.B. John E. Gagliardo, Reich und Nation. The Holy Roman Empire as idea and reality, 1763–1806, Bloomington 1980; Mack Walker, Johann Jakob Moser and the Holy Roman Empire of the German nation, Chapel Hill 1981. 18 Emilio Bussi, Il diritto pubblico del sacro Romano Impero alla fine del XVIII secolo, 2 Bde., Padova / Milano 1957–1959. 19 Für Preußen und darüber hinaus grundlegend: Eckart Hellmuth, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985; Barbara Dölemeyer, Kodifikationspläne in deutschen Territorien des 18. Jahrhunderts, in: Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel, Berlin 1998, S. 201–223; Reformabsolutismus und ständische Gesellschaft. Zweihundert Jahre Allgemeines Landrecht, hrsg. v. Günter Birtsch, Berlin 1998.
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dings wirklich so unversöhnlich gewesen ist, wie dies beispielsweise die Gegenüberstellung von reformbereiten Territorien und Exempeln eines aufgeklärten Absolutismus in Preußen oder der josephinischen Habsburgermonarchie mit dem notorisch reformunfähigen Reich nahelegt, bedarf genaueren Hinsehens. Dazu bieten sich am ehesten Beispiele an, in denen – im Kontext von Bestrebungen um eine Reform des Reiches – Proben aufs Exempel einer Unverträglichkeit von Reichspublizistik und Naturrecht gemacht worden sind.
I. Reichspublizistik und Naturrecht – Abstufungen der Unverträglichkeit Der ältere Moser ist bekanntlich derjenige, der das Ius publicum programmatisch als ausschließlich rechtspositivistisch argumentierende Wissenschaft definierte bzw. betrieb und allen Einflüssen naturrechtlicher Provenienz ablehnend gegenüber stand. Diese Opposition kommt in seinen Schriften zum Völkerrecht, mit denen er die politische Praxis gegenüber der Frage nach der prekären Legitimation dieser Rechtsmaterien aufwertete,20 nicht minder zum Ausdruck wie in seinen Schriften zum Reichsstaatsrecht. Polemisch zugespitzt finden sich die Abgrenzungen gegen das Naturrecht etwa in seiner 1767 publizierten Schrift Gedanken über das neu-erfundene vernünftige Staatsrecht des Teutschen Reichs, in der er sich vor allem mit Wolff und dessen Schülern auseinander setzte.21 Aufgrund seiner Skepsis gegenüber naturrechtlicher Argumentation in der Staatswissenschaft lagerte er die Beiträge der naturrechtlichen Autoritäten und Klassiker Grotius, Pufendorf und Wolff zur Staatsrechtslehre in eine Propädeutik des Rechtsstudiums aus – in den Bereich von Logik, Metaphysik, Sittenlehre und Recht der Natur. Das allgemeine Staatsrecht war für Moser ___________ 20 Johann Jacob Moser, Grund-Säze des jetzt üblichen Völcker-Rechts in KriegsZeiten, Tübingen 1752; ders., Erste Grundlehren des jetzigen Europäischen VölckerRechts in Friedens- und Kriegszeiten, Nürnberg 1778. Zum naturrechtlich fundierten Völkerrecht v. a. die zahlreichen neueren Studien von Heinhard Steiger, Völkerrecht und Naturrecht zwischen Christian Wolff und Adolf Lasson, in: Naturrecht im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Diethelm Klippel, Goldbach 1997, S. 45–74; ders., Vom Völkerrecht der Christenheit zum Weltbürgerrecht. Überlegungen zur Epochenbildung der Völkerrechtsgeschichte, in: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, hrsg. v. Paul-Joachim Heinig u . a., Berlin 2000, S. 171–187; ders., ‚Occupatio bellicaµ in der Literatur des Völkerrechts der Christenheit (Spätmittelalter bis 18. Jahrhundert), in: Die besetzte res publica. Zum Verhältnis von ziviler Obrigkeit und militärischer Herrschaft in besetzten Gebieten vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. v. Markus Meumann / Jörg Rogge, Berlin 2006, S. 201–240. 21 Zu dieser Schrift Erwin Schömbs, Das Staatsrecht Johann Jakob Mosers (1701– 1785). Zur Entstehung des historischen Positivismus in der deutschen Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts, Berlin 1968, S. 272–274.
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ein Teil des Naturrechts und infolgedessen der Philosophie zuzuordnen.22 Wenn sich einer von diesen Philosophen in die Domäne des Reichsrechts hineindrängte, konnten daraus nur gelehrte, aber weltfremde Chimären resultieren: Selbst wenn sich die Theoretiker auf eine verbindliche Theorie einigten, würden sie doch damit die bestehenden Reichsgesetze nicht aufheben können. Hinter diesem strikten Rechtspositivismus stand allerdings weniger eine systematische, als vielmehr eine politische Begründung, woran Moser in seiner Polemik gegen die Naturrechtsvertreter von 1767 keinen Zweifel ließ: Das Natur- oder Vernunftrechtsdenken mache sich in der Regel zur Magd der politisch Mächtigen, denn die ‚witzige Vernunft‘ finde allemal einen Nachweis, daß der Sinn eines Gesetzes „dem legi supremae salutis rei publicae (auf teutsch: Den Passionen des Regenten) angemessen sei; und hat man die Macht, es mit Gewalt durchzusetzen, wer darf sich unterstehen zu sagen, es sei Unrecht?“23 Wenn Vernunft entscheide, könne man es immer so drehen und wenden, daß der Stärkere Recht behalte. Auch Thomasius wurde von diesem Verdikt nicht ausgenommen, schaute hinter seiner Stellungnahme in reichsrechtlichen Materien wie der, daß der Reichshofrat grundsätzlich keine Reichsstände in Erster Instanz vor sich zitieren könne, allzu deutlich das politische Interesse seines preußischen Landesherrn Friedrich Wilhelms I. in seiner Auseinandersetzung mit den renitenten Ständen in Magdeburg und Halberstadt hervor.24 Gegen diesen Zugriff der Macht errichtete Moser seinen Damm aus klar abgesicherten, weil historisch erwiesenen und begründeten Rechtspositionen in der Rechtswirklichkeit des ständisch aufgebauten Reiches.25 Die Rechtswirklichkeit des Reiches diente so als Surrogat eines Rechtsstaates, an dessen naturrechtlich fundierte Realisierung der Skeptiker Moser nicht glaubte. Entfernt man sich freilich von der dominierenden Figur des älteren Moser, so wird rasch deutlich, daß die von ihm verfochtene Polarisierung eine Extremposition markiert, die durchaus nicht repräsentativ für das gesamte Spektrum des Verhältnisses von Reichspublizistik und Naturrecht im 18. Jahrhundert gewesen ist. Gerade die Forschungen von Notker Hammerstein haben deutlich gemacht, daß die Reichspublizistik keineswegs eine naturrechtsfreie Zone gewesen ist. Vielmehr habe – so die These Hammersteins – eine naturrechtlich begründete Fundierung der Rechtsanwendung mit einem historischen Rechtsverständnis bei ___________ 22
Ebd., S. 274. Anon. [Johann Jacob Moser], Gedanken über das neu-erfundene vernünftige Staatsrecht des Teutschen Reichs, Frankfurt 1767, S. 25 f. 24 Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland, Köln 1976, S. 142–145. 25 E. Schömbs, Staatsrecht (wie Anm. 21), S. 279. 23
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Thomasius erst den Weg für eine historisch argumentierende Reichspublizistik freigemacht.26 Wenn alles positive Recht Ausdruck einer im allgemeinen Naturrecht verankerten Rechtsidee war, wurden die Grenzen fließend und ließ sich das Naturrecht als notwendiges Regulativ für den Einzelnen wie für den Staat dem positiven Recht zuordnen. Da der Einzelne im Gesellschaftsvertrag die abstrakte Freiheit eines angstbesetzten Urzustandes zugunsten einer realen und rechtlichen Freiheit der Gemeinschaft eintauschte, blieb auch das Gemeinwesen an dieses Regulativ gebunden. Umgekehrt wurde damit auch der Einzelne wiederum als notwendig gesellschaftliches Wesen auf die Normen des positiven Rechts verwiesen. Die naturrechtliche Konstruktion einer solchen Bindung an Gesellschaft und Staat wertete folglich die positive Rechtsordnung auf.27 Auch die Bemühungen um ein Ius publicum universale als allgemeines Staatsrecht mit universalen Geltungsansprüchen vertrugen sich durchaus mit der in Halle und dann Göttingen gepflegten historischen Perspektive. Denn indem die Entstehung des Gemeinwesens einschließlich des Gesellschaftsvertrages und aller weiterer Entwicklungen nicht als logische Fiktionen zur gedanklichen Konstruktion der Gegenwart, sondern als historische Prozesse verstanden wurden, ergaben sich Möglichkeiten des Übergangs zum Reichsstaatsrecht. Ein solches Ius publicum universale, das sich ebenso wie das Naturrecht theologischer Rückbindungen entledigte, konnte im öffentlichen Recht die Lücke füllen, die das positive Recht ließ, oder dem Gesetzgeber durchaus allgemeine Richtlinien für seine konkrete Rechtspolitik an die Hand geben.28 Mochte der Grad dieser Inanspruchnahme des ‚natürlichen Staatsrechts‘ als Lückenfüller quantitativ und qualitativ höchst variabel sein, so schuf dies doch in jedem Falle Spielräume für eine naturrechtliche ‚Infiltration‘ des positiven Rechts. Für die Werke katholischer Provenienz zum Reichsstaatsrecht bot etwa das vorgeschaltete natürliche Staatsrecht die Möglichkeit, normative Aussagen aus dem Fundus scholastischer Rechtsphilosophie in einen rationalistischen Kontext zu überführen. In den Reichsstaatsrechten kaiserlicher Provenienz wie etwa in den Vorträgen Christian August von Becks für den zukünftigen Kaiser Joseph II. Ende der 1750er Jahre diente das allgemeine Staatsrecht dazu, die Rolle des Kaisers als Oberhaupt eines komplexen Reichsgefüges zu fixieren, damit dessen Stellung und Funktion von den Reichsständen nicht weiter nivelliert werden konnte. Hier wie in der übrigen Reichspublizistik wurde das besondere Staatsrecht eines jeden Staates – wie eben des Reiches – als Adaption des allgemeinen Staatsrechts an die ‚Grundverfassung‘ eines Landes aufgefaßt. ___________ 26
Ebd., S. 72–81. Ebd., S. 74 f. 28 M. Stolleis, Geschichte (wie Anm. 4), S. 294–297. 27
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Im Deutschen Reich sei dies deshalb eine solch wichtige und intensiv traktierte Materie, weil der Kaiser als Herrscher nicht souverän sei und es beiden Teilen – Kaiser wie Ständen – sehr daran liege, daß das Band zwischen Haupt und Gliedern nicht zerrissen werde, sondern nach Maßgabe der Gesetze und Verträge regiert werde. Das deutsche Staatsrecht aber sei eben der Inbegriff aller dieser Gesetze und Verträge.29 Diese Argumentation konnte freilich auch für die Stellung der Territorien im Reich in Anspruch genommen werden. Aus deren partikularer Warte konnte ein allgemeines Staatsrecht des deutschen Reiches sogar „die letzte staatswissenschaftliche Klammer der staatsrechtlichen Einheit des Reiches“ bilden, indem es „die allen deutschen Territorialstaatsrechten gemeinsamen Elemente unter einem Dach als ‚gemeindeutsches Staatsrecht‘ versammelte“.30 Freilich überwog bis zum Ende des Alten Reiches in der Wissenschaft vom Reichsrecht die Anlehnung an Historie und positives Recht. Noch in einem der letzten Lehrbücher zur alten Reichsverfassung, Johann Ludwig Klübers Einleitung zu einem neuen Lehrbegriff des teutschen Staatsrechts von 1803 wurde das Verhältnis von natürlichem Staatsrecht und Reichsrecht ganz im Sinne Mosers bestimmt: „Das teutsche Staatsrecht ist keine rationale, sondern eine teils historische, teils positive Wissenschaft, in der nur einige Lücken aus dem natürlichen Staatsrecht ausgefüllt werden [...]. Bei einem so verschiedenartig zusammengewachsenem Stoffe würden, wie überhaupt im positiven Recht, sogenannte höchste Prinzipien höchst mißlich sein.“31
II. Die Reformdiskussionen in der Spätphase des Reiches als Probe aufs Exempel der Vereinbarkeit von Reichs- und Naturrecht Die Diskussion um den Grad der Vereinbarkeit naturrechtlich orientierter Ansätze mit reichspublizistischer Orientierung am Herkommen blieb keine theoretische Debatte, sondern konkretisierte sich schließlich in den Diskussionen um eine Reform des Reiches, die im Vorfeld der Französischen Revolution noch einmal eine außerordentliche Intensivierung erfuhr.32 ___________ 29
Hermann Conrad, Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnsrecht, Köln 1964, S. 400. 30 Ebd., S. 296 f. unter Verweis auf Ch. F. Cotta, Einleitung in das allgemeine Staatsrecht der teutschen Lande, Tübingen 1786. 31 Zitiert nach E. Schömbs, Staatsrecht (wie Anm. 21), S. 272. 32 Grundlegend ist die große Studie von Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich deutscher Nation im
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In der Debatte um den Nationalgeist in den späten 1760er und 1770er Jahren betonte deren Protagonist Karl Friedrich v. Moser die Vereinbarkeit von positivem Reichsrecht und natürlichem Vernunftrecht, um den spezifisch reichischen Verfassungspatriotismus, der sich gerade in der Reichspublizistik Göttinger Prägung äußerte, auf eine breitere Basis in Gestalt der deutschen Nation zu stellen.33 Er zielte damit durchaus auf eine Reformulierung der Reichsgesetze im kaiserlichen Sinne und gegen einen preußischen Separatismus ab. Ganz im Sinne einer Rezeption Montesquieus sollte der Geist der solcherart reformierten Reichsgesetze zum Geist der Nation werden. Intellektuelles Substrat dieser Reform sollte ein naturrechtlich inspirierter Begriff der ‚deutschen Freiheit‘ sein, der von der reichsfürstlichen ‚teutschen Libertät‘ immer mehr zur Untertanenfreiheit mutierte.34 Wenn er auch in seinen Reformansätzen keine vollkommen neuen Gesetze propagieren wollte, war der jüngere Moser in den konkreten Reformvorschlägen doch durchaus bereit, den Boden der tradierten Reichsverfassung zu verlassen – so, wenn er beispielsweise 1768 vorschlug, ein Unterhaus wie in Großbritannien einzuführen, das gegen den partikularen Egoismus der großen Fürsten die Einhaltung der Gesetze durch Kaiser und Reichsstände kontrollieren sollte.35 Da der jüngere Moser patriotische Gesinnung und Nationalgeist höher bewertete als die konkrete Verfassungsordnung – hierin durchaus nicht mehr in den Fußstapfen seines Vaters –, konnte er die Grenzen des überkommenen Reichsrechts überschreiten. Zwar blieb auch seine Propagierung eines deutschen Nationalgeistes letztlich an die Bemühungen um eine Reform von Reich und Reichsverfassung rückgebunden, denn eine solche Reform deklarierte Moser als konkreten Inhalt patriotischer Pflicht. Aber die vom jüngeren Moser offerierten Ansätze, positives Reichsrecht mit naturrechtlichen Ansätzen zu harmonisieren, ermöglichten es den Teilnehmern an der Debatte um eine Re___________ politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998, v. a. S. 256–474. Zur Einordnung in die Reichsgeschichte Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, S. 285–325. 33 Friedrich Carl von Moser, Von dem deutschen Nationalgeist, Frankfurt 1766; zum Kontext der Moserschen Schrift W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 194–205; ders., ‚Reichsnationalismus‘ gegen ‚Territorialnationalismus‘. Phasen der Intensivierung des nationalen Bewußtseins in Deutschland, in: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum ersten Weltkrieg, hrsg. v. Dieter Langewiesche / Georg Schmidt, München 2000, S. 157–190, hier S. 169–177. 34 W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 219 f.; allgemein dazu jetzt Georg Schmidt, Die Idee ‚deutsche Freiheit‘. Eine Leitvorstellung der politischen Kultur des Alten Reiches, in: Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), hrsg. v. Georg Schmidt / Martin van Gelderen / Christopher Snigula, Frankfurt a. M. 2006, S. 159–190. 35 T. Würtenberger, Staatsverfassung (wie Anm. 2), S. 98.
Naturrecht und Reichspublizistik
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form des Reiches, Anschluß an den zeitgenössischen Stand politischer Theorie zu finden.36 Diese Reichsreformdiskussion fand ihren publizistischen Höhepunkt in der Diskussion um eine Reform der Reichsverfassung im Gefolge der Gründung des antikaiserlichen Fürstenbundes von 1785. Obwohl Preußen diesen Bund von Beginn an propagandistisch und politisch zu vereinnahmen und für seine Zwecke zu instrumentalisieren suchte,37 verbanden die beteiligten kleineren Fürsten des Dritten Deutschland mit ihrem Bündnis ernsthafte Hoffnungen auf eine von den Reichsständen selbst getragene Reichsreform.38 Entferntes Vorbild war der Wormser Reichstag von 1495, in dessen Vorfeld Einungen der Reichsstände wie der Schwäbische Bund den Reformbemühungen gemeinsam mit dem Kaiser überhaupt erst einen nachhaltigen Erfolg beschert hatten.39 Gegenüber der politischen Öffentlichkeit legitimierten die Mitglieder ihren Zusammenschluß reichspatriotisch und betonten die Kontinuität zum geltenden Reichsrecht, denn in der Gründungserklärung beriefen sich die Unterzeichner dieses Fürstenbundes – unter anderem die Kurfürsten von Sachsen, Brandenburg und Braunschweig, schließlich aber auch der Erzkanzler, der Mainzer Kurfürst – auf die Reichsgrundgesetze von der Goldenen Bulle bis zum Westfälischen Frieden. Daß solche Verfassungstexte als ‚Grundgesetze‘ und damit Hauptquellen eines deutschen Staatsrechts anzusehen seien, war communis opinio aller Reichspublizisten seit dem frühen 17. Jahrhundert.40 ___________ 36
Wolfgang Zorn, Reichs- und Freiheitsgedanken in der Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts (1763–1792), in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, hrsg. v. Paul Wentzke, Heidelberg 1959, S. 11–66, hier S. 20. Vgl. dazu auch die allgemeine Einordnung bei T. Würtenberger, Staatsverfassung (wie Anm. 2), S. 92–94, 104. 37 Volker Press, Friedrich der Große als Reichspolitiker, in: ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, in Verbindung mit Stephanie Blankenhorn, Horst Carl, Gabriele Haug-Moritz und Michael Kaiser hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1997, S. 260–288, hier S. 285 f. 38 Seine klassische Abhandlung: Die deutschen Mächte und der Fürstenbund, 2 Bde., Leipzig 1871f. veröffentlichte Leopold von Ranke bezeichnenderweise in den Jahren der Reichsgründung. Zur reichhaltigen Literatur zum Fürstenbund vgl. Helmut Weigel, Der Dreikurfürstenbund zwischen Brandenburg-Preußen, Hannover und Sachsen vom Jahr 1785. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des deutschen Fürstenbundes, Leipzig 1924; Karl Otmar Frhr. von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745–1806), Stuttgart 1997, S. 299–369; Dieter Stievermann, Der Fürstenbund von 1785 und das Reich, in: Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Volker Press, bearb. v. Dieter Stievermann, München 1995, S. 209–226. 39 Horst Carl, Der Schwäbische Bund. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, Leinfelden 2000, S. 79–82. 40 Zu den grundlegenden Editionen Melchior Goldasts, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Kanonisierung von Verfassungstexten des Reiches in die Wege leiteten
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Dahinter standen mithin durchaus traditionelle Konzepte, das Reich auf der Grundlage einer Einung zu organisieren.41 Solche Gedankenspiele waren auch unmittelbar vor Gründung des Fürstenbundes in der Diskussion gewesen, allerdings für unrealistisch gehalten worden.42 Nahm man den Anspruch des Fürstenbundes von 1785 ernst, das Reich föderal zu organisieren, dann ließ sich dies abstrakt als Realisierung eines Ideals interpretieren, das im naturrechtlich fundierten allgemeinen Staatsrecht formuliert wurde. Immerhin hatte selbst der ältere Moser grundsätzliche Änderungen nicht ausgeschlossen, wenn eine Reform der Reichsverfassung aufgrund einer Vereinbarung zwischen Kaiser und Reichsständen auf den Weg gebracht werden könne. Dafür aber wiederum war ein Zusammenschluß der Reichsstände Voraussetzung, zumal wenn er – wie dies beim Fürstenbund der Fall war – überkonfessionell angelegt war. Der Reichstag jedenfalls schied als ein solches Forum aus, da die Reichsstände unmittelbar zuvor noch einmal vorexerziert hatten, daß er sich durch die Instrumentalisierung konfessionspolitischer Auseinandersetzungen jederzeit lahm legen ließ.43 Von daher wird verständlich, daß dieser Fürstenbund von 1785 sowohl ‚positivistische‘ Reichspublizisten wie auch allgemeine Staatsrechtler in seinen Bann schlagen konnte, offerierte er doch Wege aus der zunehmend als Sackgasse empfundenen Situation des Reiches. In der Geschichte des Alten Reiches bildet der Fürstenbund deshalb noch einmal einen markanten Einschnitt. Er war 1785 für die Deutschen der letzte bedeutende Anlaß, ihre politische Verfassung zu überdenken, bevor die Französische Revolution politisches Denken und politische Praxis auf eine neue ___________ und der entstehenden Reichspublizistik die Quellengrundlage schufen, nunmehr Gundula Caspary, Späthumanismus und Reichspatriotismus. Melchior Goldast und seine Editionen zur Reichsverfassungsgeschichte, Göttingen 2006, S. 40–45. 41 Reinhart Koselleck, [Art.] ‚Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner Werner Conze / Reinhart Koselleck, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 582–671, hier S. 609–624; Volker Press, Die Bundespläne Karls V. und die Reichsverfassung, in: ders., Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1997, S.67–127. 42 Zu dieser Diskussion der Staatsrechtler vgl. R. Koselleck, [Art.]‚Bund‘ (wie Anm. 41), S. 634. Der führende Vertreter eines allgemeinen Staatsrechts, der Jenenser Professor Scheidemantel, stellte 1782 fest, daß ein allgemeiner ‚Reichsfürsten-Verein‘ sich nur als Ideal formulieren lasse – also: Bestandteil von Erwägungen des allgemeinen Staatsrechts sein könne –, während in der Realität solche Fürstenvereine stets partikular geblieben seien. Heinrich Gottfried Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform, Bd. 2, Jena 1782, S. 146. 43 Johannes Arndt, Das Niederrheinisch-Westfälische Reichsgrafenkollegium und seine Mitglieder (1653–1806), Mainz 1992, S. 169–186; W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 247–254.
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Grundlage stellen sollte.44 Für unser spezielles Thema – das Verhältnis von Reichspublizistik/Reichsstaatsrecht und Naturrecht – liegt seine Bedeutung darin, daß die Verfassungsdebatte, die durch ihn angestoßen wurde, sich durch Bemühungen auszeichnet, überkommenes Reichsstaatsrecht und naturrechtliche Theoreme für eine Reform des Reiches miteinander zu kombinieren. Die Frage nach der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit dieser beiden Denkansätze wurde also hier von den Zeitgenossen noch einmal exemplarisch zur Diskussion gestellt. Wenn sich diese Debatte über den aktuellen politischen Anlaß hinaus schließlich zur Grundsatzdebatte über eine Reformierbarkeit des Reiches überhaupt auswuchs, dann verlieh auch die Rezeption neuer naturrechtlicher Ansätze in der Rezeption der französischen Aufklärungsdenker der Diskussion eine grundsätzlichere Dimension als die juristischen Spezialdiskussionen der etablierten Reichspublizistik. Die Qualität der Diskussion resultierte darüber hinaus aus dem intellektuellen Niveau der Teilnehmer, denn es waren klangvolle Namen der deutschen Aufklärung, die sich hier engagierten: Christian Wilhelm von Dohm, der Verfasser der epochemachenden Schrift zur Judenemanzipation von 1781,45 trat als erster mit einer propreußischen Schrift zum Fürstenbund 1785 hervor; beteiligt waren ebenfalls der Staatsrechtler und Historiker Johannes von Müller,46 der Gießener Kameralistik-Professor Schlettwein47 als prominentester Vertreter der Physiokratie in Deutschland sowie der spätere Reichserzkanzler Dalberg. Bei aller politischen Parteinahme dieser Publizistik – Dohm und Müller schrieben auf Veranlassung und im Sold des preußischen Ministers Hertzberg – brachte sie doch durch die Integration naturrechtlicher Theoreme bei gleichzeitiger Verpflichtung auf Erhalt des Reiches in seiner überkommenen Gestalt einige der interessantesten publizistischen Äußerungen zu einer Reform ___________ 44 Matthias Pape, Revolution und Reichsverfassung – Die Verfassungsdiskussion zwischen Fürstenbund und Rheinbund, in: Verfassung und Revolution. Hegels Verfassungskonzeption und die Revolutionen der Neuzeit, hrsg. v. Elisabeth Weisser-Lohmann / Dietmar Köhler, Hamburg 2000, S. 40–84. 45 Christian Wilhelm von Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin / Stettin 1781, 1783. Zur Person des Verfassers und zum publizistischen Werk vgl. Max Braubach, Christian Wilhelm von Dohm, in: ders., Diplomatie und geistiges Leben im 17. und 18. Jahrhundert. Gesammelte Abhandlungen, Bonn 1969, S. 695–709; Ilsegret Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1974; Heike Wüller, Systemkrise als Handlungschance. Christian Wilhelm von Dohm und die Lütticher Revolution von 1789, Berlin 2004, S. 25–87. 46 Mathias Pape, Johannes von Müller. Seine geistige und politische Umwelt in Wien und Berlin 1793–1806, Bern / Stuttgart 1989. 47 Diethelm Klippel, Johann August Schlettwein and the Economic Faculty at the University of Gießen, in: History of Political Thought 15 (1994), S. 203–227.
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des Alten Reiches in dessen langer Geschichte hervor.48 Für die Frage nach der Synthese von reichspublizistischen und naturrechtlichen Argumentationslinien konzentriere ich mich im folgenden auf drei der wichtigsten Publikationen: Dohms Schrift Über den Fürstenbund vom Dezember 1785, die die Diskussion eröffnete, das im Sommer 1787 entstandene Memorandum Karl Theodor von Dalbergs mit dem Titel Vorschläge zum Besten des Reiches sowie Johannes von Müllers im gleichen Jahr erschienene Darstellung des Fürstenbundes, die als Höhepunkt der Debatte gilt. Dohms Schrift war diejenige, die am politischsten argumentierte, weil sie auf eine im Sommer 1785 erschienene Schrift des in Wiener Diensten stehenden Freiherrn von Gemmingen in preußischem Sinne replizierte.49 Dohm verteidigte den Fürstenbund vor allem gegen den Vorwurf, er zersetze das Reich und führe zu dessen Auflösung. In seiner Perspektive war es Joseph II., der mit seiner Politik gegen das Reich handelte – vor allem, weil dieser 1785 noch einmal den Plan eines Tauschs der Niederlande gegen Bayern lancierte. Um die kaiserliche Politik nun ihrerseits als Gefahr für den Bestand des Reiches zu erweisen, bemühte er das Theorem des Gleichgewichts. Als Feindbild diente einmal mehr das in der antikaiserlichen Publizistik immer wieder beschworene Gespenst einer ‚monarchia universalis‘,50 das nunmehr im Gewand des Schreckgespenstes einer kaiserlichen Despotie einher kam. Das durch den Fürstenbund garantierte Gleichgewicht im Reich und darüber hinaus in Europa diene mit der Abwehr kaiserlicher Despotie im Reich der Freiheit der Reichsstände. Mit dieser Einführung der ‚Freiheit‘ steuerte Dohm allerdings nur einen weiteren Beitrag zu den heterogenen Signifikaten der Freiheit bei, denn er argumentierte strikt mit der Freiheit der Fürsten bzw. Reichsstände und weitete den Freiheitsbegriff nicht im naturrechtlichen Sinne zu einer allgemeinen Untertanenfreiheit aus. Schon von den Zeitgenossen wurde er getadelt, weil er Freiheit und Vaterlandsliebe lediglich bei den Fürsten suche. Dies verkennt jedoch die Unterscheidung, die Dohm zwischen ‚bürgerlicher‘ und ‚politischer Freiheit‘ machte und die sich im übrigen auch bei anderen Teilnehmern der Debatte wie Johannes von Müller findet: „Bürgerliche Freiheit ist, wo Gesetze einen jeden Menschen wider alle willkürliche Gewalt bei Ehre, Leib und Gut sichern. Die politische Freiheit be___________ 48
Die Diskussion im Umkreis des Fürstenbundes ist grundlegend aufgearbeitet bei W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 256–351. 49 Christian Wilhelm von Dohm, Ueber den deutschen Fürstenbund, Berlin 1785; I. Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm (wie Anm. 45), S. 153–167; W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 269–272; H. Wüller, Systemkrise (wie Anm. 45), S. 79–87. 50 Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit, Göttingen 1988.
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steht in dem, daß Fundamentalverordnungen und Friedensverträge einem jeden Staat seine Verfassung und seine Besitzung gewähren“.51 Als Verfechter bürgerlicher Freiheit hatte Dohm sich mit seiner Schrift zur Judenemanzipation 1781 ohnedies hinreichend profiliert. In seiner Fürstenbundschrift von 1785 aber war es dem Kontext der Gleichgewichtsdiskussion geschuldet, daß er die politische Freiheit als Staats- und Fürstenfreiheit in den Vordergrund stellte. Die in einer langen Tradition stehende ständisch geprägte Perspektive einer ‚teutschen‘ Freiheit im Sinne reichsfürstlicher Libertät52 war im Sinne des propagierten Status quo anschlußfähig, denn solcher Konservatismus entsprach der Intention des Fürstenbundes, die Föderation als eine Veranstaltung zur Sicherung von Reich und Reichsverfassung hinzustellen. Karl Theodor von Dalberg ging dabei in vielerlei Hinsicht weiter. Sein Memorandum an den Kaiserhof vom Sommer 1787 Vorschläge zum Besten des Deutschen Reiches skizzierte nämlich Grundzüge einer umfassenden Reichsreform, die in der Tat sehr weitgehend naturrechtliche Ideen in die Debatte einfließen ließ, ohne das Gefüge des Reiches selbst zur Disposition stellen zu wollen.53 Dies wäre schon von seinem eigenen Status her nicht sehr zielführend gewesen: 1787 war Dalberg zum Mainzer Koadjutor gewählt worden,54 er schrieb also als Mainzer Kurfürst und Reichserzkanzler in spe. Hier äußerte sich jemand, der künftig als Reichsvizekanzler eine der Schlüsselpositionen der Reichsverfassung besetzen würde. Es ist deshalb auch nicht der Verbreitungsgrad seiner Denkschrift, der den Rang seiner zunächst nur für den Kaiserhof gedachten Schrift ausmacht – sie wurde nicht gedruckt, zirkulierte allerdings schnell an den deutschen Höfen –, sondern das politische und intellektuelle Profil des Verfassers.
___________ 51
Johannes von Müller, Darstellung des Fürstenbundes (Leipzig 1786), in: ders. Sämtliche Werke, Teil 9, Tübingen 1811, S. 13–310, hier S. 24. Das Zitat auch bei W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 289, Anm. 176. 52 G. Schmidt, Idee (wie Anm. 34), S. 161–176. 53 Abgedruckt bei Karl Frhr. von Beaulieu-Marconnay, Karl von Dalberg und seine Zeit. Zur Biographie und Charakteristik des Fürsten Primas, 2 Bde., Weimar 1879, Bd. 1, S. 353–363. Zu dieser Schrift vgl. Antje Freyh, Karl Theodor von Dalberg. Ein Beitrag zum Verhältnis von politischer Theorie und Regierungspraxis in der Endphase des Aufgeklärten Absolutismus, Frankfurt a. M. u. a. 1978, S. 149–162; Klaus Rob, Karl Theodor von Dalberg (1744–1817). Eine politische Biographie für die Jahre 1744– 1806, Frankfurt a. M. u. a. 1984, S. 209–237; W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 323–338; B. Dölemeyer, Dalbergs ‚Vorschläge‘ (wie Anm. 2), S. 116–120. 54 Karl Otmar Frhr. von Aretin, Höhepunkt und Krise des deutschen Fürstenbundes. Die Wahl Dalbergs zum Coadjutor von Mainz (1787), in: Historische Zeitschrift 196 (1963), S. 36–73.
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Dalbergs Entwurf geht von einer naturrechtlich orientierten Freiheitskonzeption aus:55 Grundpfeiler einer „gerechten Freiheit“ sind Eigentumsrecht und gesetzliche Formen. Ein deutsches Staatsrecht habe sich an der „Glückseligkeit“ als Staatszweck zu orientieren, die „im ruhigen Genuß des Eigentums und in gesetzmäßiger Freiheit“ bestehe. Konkret schloß dieser auf die Eigentumsfreiheit rekurrierende Freiheitsbegriff, der dem jüngeren Naturrecht nahe stand, nicht nur die Herrschaftsrechte der Reichsstände, sondern auch Freizügigkeit, das Ende von Leibeigenschaft und Zunftzwang sowie die Idee persönlicher Rechtssicherheit vor willkürlicher Verhaftung ein. Auch in den konkreten Agenden seiner Reformvorschläge läßt sich unschwer der Einfluß des jüngeren Naturrechts erkennen. Sie setzten bei einer Reform der Reichsjustiz an, die auf der Grundlage einer allgemeinen Gesetzeskodifikation für das Reich, so etwa einem an Beccaria orientierten modernen Strafgesetzbuch geschehen sollte.56 Die Forderung nach einer ‚Justiz auf deutsche Art‘ nahm Forderungen von Vertretern des jüngeren Naturrechts auf, die im Zuge der Kodifikationsdebatten ähnliches formulierten. Konsequenterweise sollten in diese Reichskodifikationen die schon weit fortgeschrittenen Ansätze zum preußischen Allgemeinen Landrecht einfließen – und dieses dadurch im übrigen überflüssig machen.57 Auch in Dalbergs Plädoyer für Gewerbefreiheit lassen sich unschwer physiokratische Einflüsse erkennen. Die spezifischen staatsrechtlichen Vorschläge zeigen besonders deutlich, wie das Reichsrecht unter naturrechtlichen Vorgaben weiter entwickelt werden sollte. Dalberg knüpfte dabei an ein zentrales Thema der Reichsverfassung und der Reichspublizistik an, das Projekt einer ‚ewigen Wahlkapitulation‘, einer capitulatio perpetua, das seit den negotia remissa des 17. Jahrhunderts auf der Agenda der Reichspolitik und der Reichspublizistik stand. Dalberg wünschte diese Diskussion wieder aufzunehmen, jedoch nicht im Sinne der Festschreibung partikulärer kurfürstlicher Rechte, sondern als Ausgangspunkt für eine rationale, geschriebene Verfassung des Reiches. Der Reichstag sollte eine solche perpetuierliche Wahlkapitulation als ein „dauerhaftes Grundgesetz“ des Reiches verabschieden.58 Für das zukünftige Verhältnis von Kaiser und Reichsständen schlug der Koadjutor gleichfalls das Modell eines Bundes vor: Ihm schwebte allerdings nicht ein Bund vor, in dem sich die Stände gegen den Kaiser verbündeten – wofür im Kontext des Fürstenbundes stets der Schmalkaldische Bund Pate stand –, sondern ein solcher Bund sollte Kaiser und Reich vereinen. ___________ 55 G. Schmidt, Geschichte (wie Anm. 32), S. 303 f.; W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 329–332. 56 B. Dölemeyer, Dalbergs ‚Vorschläge‘ (wie Anm. 2), S. 117 f. 57 W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 330. 58 Ebd., S. 332.
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Diese Vorstellungen konnten durchaus als Reminiszenzen an frühere kaiserliche Reforminitiativen gelesen werden, hatte doch im 16. Jahrhundert Karl V. nach seinem Sieg über die Schmalkaldener gleichfalls Pläne lanciert, das Reich als einen kaiserlichen Bund zu reorganisieren.59 Mit Joseph II. jedoch waren solche Planspiele nicht zu machen, er lehnte eine solche Bundeskonstruktion als Zumutung und „bloße Hirngespinste“ brüsk ab.60 Dies aber wurde Dalbergs Konzeption nicht gerecht: Indem er Elemente, die zum festen Repertoire der frühneuzeitlichen Diskussion um die Reichsverfassung und deren Weiterentwicklung gehörten, mit zeitgenössischen Konzeptionen, die in den Territorien und Westeuropa staatliche Modernisierung stimulierten, miteinander zu verbinden suchte, formulierte er den ausgewogensten und ambitioniertesten Reichsreformplan der gesamten Spätphase des Alten Reiches. Die bedeutendste Schrift dieser Debatte, von der historischen Forschung als „glänzendes Beispiel politischer Publizistik“61 in Deutschland im 18. Jahrhundert gewürdigt, stammte freilich aus Schweizer Feder. Die Schrift Darstellung des Fürstenbundes des Kurmainzer Hofrats und Bibliothekars Johannes von Müller aus dem Jahr 1787 war in ihrem Bemühen um eine Reform der Reichsverfassung durchtränkt von naturrechtlichem Gedankengut und berief sich für seine Urteile auf „Natur und Recht, Historie und Vernunft“. Müllers Verteidigung des Fürstenbundes kreiste gleichfalls um Fragen der Sicherung der „teutschen“ Freiheit, die allerdings von der ständischen Libertät zur Untertanenfreiheit ausgeweitet wurde, sowie um die Diskussion der Funktion eines Bundes als Ausdruck eines funktionierenden Gleichgewichts. Aber im Zentrum seiner Schrift stand doch eine andere Thematik, nämlich die des ‚Bundes‘ selbst als einer auch naturrechtlich legitimierten föderativen Einheit des Reiches. Der Schlüsselbegriff dafür ist bei Müller ‚Assoziation‘. „Jede Verfassung, welche eine Erneuerung ihrer Kräfte nötig hat, findet sie am besten in der Natur ihres Grundsatzes [...]. Die Teutschen haben sich in allen Krisen durch Associationen geholfen [...]. Unschuldigere, der menschlichen Gesellschaft angemessenere, löblichere Maßregeln als Associationen für Freiheit und Frieden gibt
___________ 59
V. Press, Die Bundespläne Karls V. (wie Anm. 41). W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 335. 61 Rudolf Vierhaus, Johannes von Müller, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 263–269, hier S. 265; zu dieser Schrift liegt eine umfangreiche Literatur vor. Vgl. v. a. W. Zorn, Darstellungen (wie Anm. 36), S. 49–55; W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 276–278; M. Pape, Revolution (wie Anm. 44), S. 47–50; Werner Kirchner, Johannes von Müller über den Fürstenbund. Aus dem Nachlaß mit einer Einleitung von Otto Pöggeler hrsg. v. Christoph Jamme, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 419–456. 60
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es nicht. Sie sind gemeiniglich ungeschickt sich zu vergrößern; das verschiedene Interesse lös’t sie alsdann auf. Man sieht es an den Schweizern“.62
Dieser Assoziationsbegriff63 steht in der Mitte der 1780er Jahre im Schnittpunkt ganz unterschiedlicher Reformvorstellungen. Zum einen löste Müller mit seiner Darstellung des Fürstenbundes eine Forderung Justus Mösers ein: Die Geschichte des Reiches solle nicht juristisch, sondern moralisch und politisch als eine Geschichte der Assoziationen geschrieben werden, kraft derer bisher alle Krisen des Reiches – und darüber hinaus sogar Europas – überwunden worden seien.64 Beim Historiker Möser dient Konföderation bzw. Assoziation als eine Art Formel für eine Historie des Reiches, die einzig und allein in der „Naturgeschichte seiner Vereinigung“ bestehen kann. Schon diese Entwicklungsperspektive führt über die föderale Betrachtungsweise der Reichspublizistik des 18. Jahrhunderts hinaus, die sich mit einer rechtsquellenmäßigen Bestandsaufnahme des Status quo ohne theoretische Perspektive begnügt hatte. Zugleich aber stand Müllers Fürstenbund-Schrift damit auch in unmittelbarer Nähe zu einem naturrechtlich orientierten Gemeinschaftsverständnis, das ausgehend von Thomasius’ Sozialitätstheorem bei Wolff in die Idee der civitas maxima mündete, die nicht nur eine auf dem Geselligkeitstrieb fußende moralische oder gedankliche Einheit war, sondern als politisch organisierte Einheit gedacht war, die alle bindet und deshalb auch ein Interventionsrecht gegen Mitglieder eröffnete. In dieser Form floß sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts in die Völkerrechtsentwürfe Wolffs und auch noch Vattels ein.65 Im Lager der Naturrechtler hatte einer der führenden deutschen Naturrechtler der Zeit, Daniel Nettelbladt, 1785 in seinem Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis den Begriff der Vereinigung ins Zentrum einer allgemeinen Staatslehre gestellt. Sein Anliegen war dabei eine allgemeine Systematik von zusammengesetzten Staaten und Staatenvereinigungen, deren Spektrum von einfachen temporären Staatenverbindungen bis hin zu „ewigen“ Unionen unter gemeinsamem Oberhaupt reichte.66 Auf das Reichsrecht übertrug der führende Reichspublizist Pütter diese Sicht in der 1787 veröf-
___________ 62
J. v. Müller, Darstellung (wie Anm. 51), S. 100. Grundlegend für diese Frage Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997, S. 21–43; vgl. auch R. Koselleck, [Art.] ‚Bund‘ (wie Anm. 41), S. 644. 64 Ebd., S. 643 f. 65 Heinhard Steiger, [Art.] ‚Völkerrecht‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 41), Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 97–140, v.a. S. 114–118. 66 R. Koselleck, [Art.] ‚Bund‘ (wie Anm. 41), S. 632 f. 63
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fentlichten 4. Auflage seiner Institutiones iuris Publici, wo er das Reich als „foedus perpetuum non temporale“ definierte.67 Diese föderative Perspektive auf das Reich, die im gleichen Jahr Johannes von Müller ins Zentrum seiner Verteidigung des Fürstenbundes stellte, war jedoch keine plane Wiederaufnahme der protestantischen Reichstheorie eines Boguslaw Chemnitz oder eines Pufendorf gegen ein dominierendes katholisches Kaiserhaus. Auch bei Müller sollte schließlich der Kaiser in einen solchen Bund einbezogen werden. Vor allem aber ließen sich die traditionellen Elemente reichischer Einungspolitik, die immer noch Reminiszenzen an die ‚freien‘ Einungen des Spätmittelalters mit ihren Charakteristika Freiwilligkeit und Zweckgebundenheit beinhalteten, nahezu mühelos in die Sprache des modernen Naturrechts übersetzen. Auch die naturrechtlich orientierte Staats- und Rechtsphilosophie betonte bei ihrer Verwendung des Vereins- oder Assoziationsbegriffs gegen die korporativen Zwänge der altständischen Gesellschaft das Moment der Freiwilligkeit sowie das der Verbindung ursprünglich getrennter Kräfte zu einem gemeinsamen Zweck. Das Endziel eines allgemeinen Bundes im Zuge einer Reichsreform war deshalb bei Müller auch keineswegs mehr das überkommene ständisch gegliederte Reich. Werde schließlich ein echter Reichszusammenhang auf der Basis einer solchen Assoziation, deren Anfang der Fürstenbund darstelle, gestiftet, dann werde sich auch endlich ein alle Partikularitäten übergreifender gemeinsamer Vaterlandsgeist einstellen, „damit auch wir endlich sagen dürfen: Wir sind eine Nation!“68 Reich, Bund und Nation werden so schließlich identisch, und in der Fluchtlinie von Müllers Argumentation zeichnet sich damit nicht ein reformiertes Reich, sondern ein föderativer Nationalstaat als spezifisch deutsche Variante des Nationalstaates ab.69
III. Konkrete Verfassungsoptionen – Die Verfassungsdiskussionen im Kontext der ‚Aachener Mäkelei‘ Trotz des hohen Niveaus blieb diese Reichsreformdebatte letztlich auf der Ebene abstrakter Entwürfe stecken, da die mächtigeren Reichsstände einschließlich des Kaisers nicht bereit waren, Einbußen ihrer Autonomie in einem solchen ___________ 67 Johann Stephan Pütter, Institutiones iuris publici Germanici, 4. Aufl., Göttingen 1787, S. 36. 68 J. v. Müller, Darstellung (wie Anm. 51), S. 273. 69 Dieter Langewiesche, Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: D. Langewiesche / G. Schmidt, Föderative Nation (wie Anm. 33), S. 215–242.
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Bund zu akzeptieren. Sucht man nach Beispielen, wo die Fürstenbund-Debatte und ihre naturrechtlich inspirierten Ansätze in politische Konkretion mündete, muß man die Ebene von hoher Reichspolitik und Reichspublizistik verlassen und sich ins regionale bzw. lokale Detail begeben. Fündig wird man schließlich bei der Verfassungsdiskussion in einer Reichsstadt, der Reichsstadt Aachen. Die Fallhöhe zwischen der Fürstenbund-Debatte und einer solch lokalen Verfassungsdebatte erscheint dabei nur auf den ersten Blick gewaltig. Denn diese Verfassungsdiskussion zwischen 1786 und 1792 ist nicht nur die intensivste innerhalb des Reiches gewesen,70 in der es um eine Umsetzung von modernen Verfassungsformen geht, sie steht politisch und personell zudem in engster Verbindung zum Fürstenbund. Ohne diesen wäre eine solch grundsätzliche Verfassungsdiskussion auf dem Boden des Reichsrechts nicht zustande gekommen. Reichsstädtische Unruhen zwischen Rat und Bürgerstadt waren in der frühen Neuzeit häufig, ab 1770 jedoch wurden sie endemisch – fast keine der über 50 Reichsstädte blieb von diesen inneren Verfassungskämpfen verschont.71 Wenn diese innerhalb der Reichsstadt nicht gelöst werden konnten, schaltete eine der beiden Parteien eines der beiden obersten Reichsgerichte ein – fast durchweg war dies für die Reichsstädte der Reichshofrat als Gericht des kaiserlichen ___________ 70 Verfassungskonflikt und Verfassungsdiskussion der sogenannten ‚Aachener Mäkelei‘ haben mittlerweile breiten Eingang in die regionale und überregionale Forschung gefunden. Schon Georg Forster hat in seinen Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Juni 1790 (1790), Berlin 1793, die Aachener Vorgänge breit berücksichtigt. I. Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm (wie Anm. 45), S. 204–269; Klaus Müller, Studien zum Übergang vom Ancien Régime zur Revolution im Rheinland. Bürgerkämpfe und Patriotenbewegung in Aachen und Köln, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 46 (1982), S. 102–160; Horst Carl, Die Aachener Mäkelei 1786–1792. Konfliktregelungsmechanismen im alten Reich, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 92 (1985), S. 103–187; Hans Erich Bödeker, Menschenrechte im deutschen publizistischen Diskurs vor 1789, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hrsg. v. Günter Birtsch, Göttingen 1987, S. 392–433, hier S. 429–433; H. Wüller, Systemkrise (wie Anm. 45), S. 87–112. Auf die exemplarische Bedeutung der Aachener Verfassungsdiskussionen hat auch T. Würtenberger, Staatsverfassung (wie Anm. 2), S. 95, hingewiesen. Im Windschatten der großen Politik – und damit sowohl des preußischösterreichischen Gegensatzes wie auch der Auswirkungen der Französischen Revolution – sind die Aachener Verfassungsdiskussionen im Kontext der Reichsverfassung grundsätzlicher geführt worden als die sehr viel bekannteren und politisch ungleich bedeutenderen Auseinandersetzungen um die Lütticher Revolution. Zum Zusammenhang vgl. neben der neuen Studie von H. Wüller auch Monika Neugebauer-Wölk, Preußen und die Revolution in Lüttich. Zur Politik des Christian Wilhelm von Dohm 1789/90, in: Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789, hrsg. v. Otto Büsch / Monika Neugebauer-Wölk, Berlin 1991, S. 59–76. 71 Volker Press, Reichsstadt und Revolution, in: Stadt und wirtschaftliche Selbstverwaltung, hrsg. v. Bernhard Kirchgäßner / Eberhard Naujoks, Sigmaringen 1987, S. 9– 58.
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Stadtherrn. Dieser hatte geradezu ein Monopol für die rechtliche Konfliktregelung reichsstädtischer Konflikte, die er bei strikt systemkonservativer Haltung meist im Sinne einer Modifikation einzelner umstrittener Bestimmungen der mittelalterlichen Verfassungen weniger löste denn regelte. Im Gefolge des Fürstenbundes kam es zu Abweichungen von dieser Präferenz, weil das Reichskammergericht gegen den Kaiser aufgewertet werden sollte. Die Aachener Bürgeropposition rief deshalb 1786 gegen den Rat das Reichskammergericht an, das damit zur Entscheidungsinstanz in diesem reichsstädtischen Verfassungskonflikt wurde. Unverkennbar wurde die Opposition in der Reichsstadt dabei von der Hoffnung geleitet, daß das Kammergericht bei der rechtlichen Regelung städtischer Verfassungskonflikte zu neuen und zukunftsweisenderen Lösungen als der Reichshofrat schreiten würde. Die zweite Kontinuitätslinie zu den Reformdebatten um den Fürstenbund war personeller Art, denn den Protagonisten dieser Aachener Verfassungsdiskussion kennen wir bereits aus der Fürstenbund-Debatte: Als preußischer Reichskreisgesandter wurde nämlich Christian Wilhelm von Dohm in die Reichsstadt geschickt, der sich zudem mit dem befreundeten Johannes von Müller über die Chancen eines solchen Verfassungsexperiments austauschte. Beide sahen im Verfassungskonflikt in der Reichsstadt die Chance exemplarisch vorzuführen, was für das ganze Reich nur publizistische Theorie geblieben war: unter den Bedingungen der Reichsverfassung eine an den Maximen von Aufklärung und Naturrecht orientierte Verfassungsreform zu realisieren.72 Seit 1788 entfaltete sich in der Reichsstadt eine vom Reichskammergericht ausdrücklich ermunterte Verfassungsdiskussion über eine neue Verfassungsordnung der Reichsstadt.73 Den Höhepunkt bildete dabei Dohms Verfassungsentwurf, den er im Kreis seiner aufgeklärten Korrespondenten zirkulieren ließ und schließlich 1790 publizierte.74 Der Entwurf orientierte sich noch nicht an den ersten Errungenschaften der Französischen Revolution, sondern resultierte aus naturrechtlichen Erwägungen, wobei die Spannung daraus resultierte, daß Dohm den Boden der bestehenden altertümlichen Verfassung nicht gänzlich verlassen durfte. Allein schon die Form der städtischen Verfassung in Dohms Entwurf als einer rationalen geschriebenen Verfassung anstelle des Konglome___________ 72
I. Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm (wie Anm. 45), S. 219; H. Carl, Mäkelei (wie Anm. 70), S. 172 f. 73 Ebd., S. 168–173. Reminiszenzen dieser Diskussion finden sich beispielsweise bei Forster, Ansichten vom Niederrhein (wie Anm. 70), S. 85 f. 74 Christian Wilhelm von Dohm, Entwurf einer verbesserten Verfassung Constitution der Kayserlichen freyen Reichsstadt Aachen, ihren patriotischen Bürgern, Aachen 1790. Ausführliche Analyse bei I. Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm (wie Anm. 45), S. 233–259, und H. Wüller, Systemkrise (wie Anm. 45), S. 331–347.
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rats altständischer Rechtstitel bedeutete eine grundlegende Innovation, die den aufklärerischen Anspruch auf eine normative Grundordnung einzulösen suchte. Der Verfassungsentwurf reihte sich damit in die konstitutionelle Diskussion dieser Jahre ein, auch wenn er für das Reich avantgardistisch anmutete. Wäre er realisiert worden, wäre dies im übrigen noch vor der polnischen und französischen Verfassung des Jahres 1791 die erste geschriebene Verfassung des europäischen Kontinents geworden. Auch in inhaltlicher Hinsicht betrat Dohm Neuland: Um seinem Entwurf einen über den Einzelfall hinaus weisenden exemplarischen Charakter zu verleihen, stellte er ihm nach dem Vorbild der amerikanischen Verfassung einen Katalog der Bürgerrechte – sowie auch der Bürgerpflichten – voran; auch dies läßt angesichts der zeitgleichen intensiven Diskussionen in der Französischen Nationalversammlung den Verfassungsentwurf auf der Höhe der Zeit und ohne Vorbild auf deutschem Boden erscheinen. In der Substanz wollte Dohm vor allem die politischen Repräsentationsmechanismen der Reichsstadt ändern. Zwar behielt er die althergebrachte Regierungsform einer Zunftdemokratie bei, doch wandelte er die 14 bevorrechtigten Zünfte in ohne Maßgabe der Handwerkszugehörigkeit jedermann zugängliche politische Wahlkörperschaften um, deren Größe einander angeglichen wurde. Alleinige Basis der politischen Partizipation war somit das Bürgerrecht, das an einen niedrigen Zensus gebunden wurde. Der neue Lykurgos und seine Mitstreiter scheiterten schließlich zum einen an den selbstgesetzten Voraussetzungen, denn eine neue Verfassung sollte den Untertanen nicht aufoktroyiert werden. Daß die Diskussion um eine Verfassung öffentlich zu führen sei, war gerade ein in den Diskussionen der Reichsreformprojekte des Fürstenbundes formuliertes Credo. An der Aachener Diskussion um den Dohmschen Entwurf beteiligten sich deshalb alle Korporationen und selbst Privatleute der Stadt, was die wohl intensivste Verfassungsdebatte, die jemals in einer Reichsstadt geführt worden ist, zur Folge hatte. Ergebnis war jedoch, daß der Mehrheit der Reichsstädter Dohms Reformen viel zu weit gingen. Zum anderen misslangen Dohms Ambitionen, weil das Reichskammergericht die Verfassungsreform in einem reichsverfassungsgemäßen, justizförmigen Verfahren in der Reichsstadt durchsetzen sollte – gleichsam als Verfassungsgericht des Reiches. Das Gericht folgte dabei inhaltlich durchaus der Dohmschen Linie, denn die Kammergerichts-Assessoren waren seinen vernunft- und naturrechtlichen Argumenten gegenüber aufgeschlossen. Fatal aber wurde das immer mehr zum Droh- und Schreckensbild mutierende Vorbild der Französischen Revolution, das schließlich allzu entschiedenen Reformeifer auch am Reichskammergericht bremste. Immerhin verkündete das Gericht in einem Schlußurteil 1792 der Reichsstadt die Annahme einer abgespeckten Variante des Dohmschen Verfassungsentwurfs – ohne Bürgerrechtskatalog, aber mit der Transformation der Zünfte in egalitäre Wahlkörperschaften. Die Mehrheit der Bürgerschaft stimmte
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jedoch in einer Abstimmung der Zunftbürger gegen die Annahme der Verfassung und blockierte die Umsetzung, bis im Herbst dieses Jahres die französischen Revolutionstruppen die ganze Diskussion endgültig zur Makulatur werden ließen.75 Das Scheitern dieses Verfassungsexperimentes zeigt die Grenzen auf, die naturrechtlich orientierten, auf Modernisierung der Reichsverfassung zielenden Intentionen gezogen waren. Dies gab Skeptikern wie Christoph Martin Wieland nachträglich recht, der schon 1780 in satirischer Form – unter dem sprechenden Namen ‚Teutobold von Alt Eich‘ – gegen eine Identifizierung von Reichsverfassung und alter deutscher Freiheit polemisiert hatte und deren Transformation in eine moderne Verfassung skeptisch beurteilt hatte. Die Reichsverfassung stehe „jedem Vorschlag, jeder Bestrebung, die auf allgemeines Nationalbestes, allgemeinen Nationalruhm, allgemeine Nationalreformen abzweckt, im Wege [...]. Diese Staatsverfassung ist es, die uns immer verhindern wird, ein anderes allgemeines Nationalinteresse zu haben als die bloße Erhaltung derselben“.76 Auch Dohm hatte bei seinen Verfassungsreformprojekten die Reichsverfassung letztlich als Fessel empfunden: Bezeichnenderweise stellte er seinem Aachener Entwurf, der sich vom Boden der Reichsverfassung gerade nicht lösen wollte, ein lateinisches Motto voran: „ubi ad optima emergere non possumus inter meliora subsistere fas est“ (wo wir nicht zum Besten vordringen können, ist es notwendig, zumindest Besseres zu realisieren). Als diese Fesseln in den 1790er Jahren fielen, schwand auch die Notwendigkeit, die eigenen Reformprojekte noch am historisch Gewachsenen der Reichsverfassung zu justieren. Bemerkbar machte sich dies auch in einem Aufschwung des Naturrechts in den 1790er Jahren. Die Zentralbegriffe der Reformdiskussion konnten sich folglich von diesem Hintergrund emanzipieren, entwickelten sich allerdings in sehr unterschiedliche Richtungen.77 Elemente der Diskussion um die naturrechtlichen Schlüsselbegriffe societas oder civitas maxima flossen in den Nationsbegriff ein, der sich im Zeichen des Nationalismus der Befreiungskriege in Deutschland zur Verbindung mit unbedingtem Geltungsanspruch und zum ideologischen Letztwert entwickelte. Der Verfassungsbegriff wurde zur zentralen Kategorie rationaler Neugestaltung des Staates und des Konstitutionalismus der Rheinbundzeit und Restauration. Der Assoziationsbegriff schließlich wurde im Zeichen der Freisetzung der Rechtsfähigkeit naturrechtlich gleichgestellter Individuen als freiwilli___________ 75
H. Carl, Mäkelei (wie Anm. 70), S. 180–187. Zitiert nach W. Burgdorf, Reichskonstitution (wie Anm. 32), S. 210. 77 Legitimation, Kritik und Reform. Naturrecht und Staat in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Diethelm Klippel, Wien 2000. 76
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ger, zeitlich begrenzter Zusammenschluß einzelner zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke zur vorherrschenden Rechts- und Organisationsform privater wie öffentlicher Aktivitäten und zu einem Schlüsselbegriff der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.78
___________ 78
W. Hardtwig, Genossenschaft (wie Anm. 63), S. 43 f.
Die Begründung des Strafrechts in Christian Wolffs Naturrechtslehre1
Dieter Hüning Die Strafrechtstheorie Christian Wolffs hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen2, wie auch andere Aspekte seiner politischen Philosophie bisher in der Forschungsliteratur nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Das liegt zum Teil sicherlich darin begründet, daß Wolff in dieser Hinsicht nicht als origineller Denker bezeichnet werden kann. Sowohl was die naturrechtliche Fundierung des jus puniendi als auch die Lehre vom Strafzweck bzw. vom Strafmaß angeht, stützt sich Wolff auf die Lehren seiner Vorgänger, insbesondere auf Grotius. Dennoch verdient seine Strafrechtslehre Beachtung, weil in ihr bestimmte begründungstheoretische Probleme, die mit der naturrechtlichen Fundierung des Strafrechts in der Aufklärungsphilosophie und ebenso mit der konsequenten Durchführung des Abschreckungsgedankens verknüpft sind, besonders deutlich hervortreten. Ich werde im folgenden zunächst (I.) die naturrechtliche Begründung der Strafgewalt bei Wolff skizzieren. Im Anschluß daran (II.) werden die Prinzipien von Wolffs Strafrechtslehre erörtert und dann (III.) das Verhältnis von Zurechnung und Determinismus thematisiert. Schließlich (IV.) möchte ich einen besonderen Aspekt der Wolffschen Straftheorie, nämlich die Schrankenlosigkeit des jus puniendi, näher beleuchten. Dieser letzte Aspekt betrifft die Frage, wa-
___________ 1 Dieser Aufsatz entstand in wesentlichen Teilen während eines von der Fritz Thyssen Stiftung gewährten Stipendiums an der Forschungsbibliothek Schloß Friedenstein in Gotha. Für die kritische Lektüre einer früheren Fassung danke ich Dr. Frank Dietmeier (Düsseldorf), Dr. Frank Grunert (München, jetzt Halle/Saale) und Dr. Klaus-Gert Lutterbeck (Greifswald). 2 Reinhard Frank, Die Wolff’sche Strafrechtsphilosophie und ihr Verhältnis zur criminalpolitischen Aufklärung im XVIII. Jahrhundert, Göttingen 1887; Hanns-Martin Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs, Berlin 1977. Wichtige Hinweise auf Wolffs Strafrechtslehre finden sich auch bei Gottfried Boldt, Johann Samuel Friedrich von Böhmer und die gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft, Berlin / Leipzig 1936.
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rum nach Wolffs Auffassung das jus puniendi ein jus infinitum ist, dem a priori keine rechtlichen Schranken gezogen werden können.
I. Naturrechtslehre und Strafrechtsbegründung Zunächst sind einige einführende Bemerkungen zu der systematischen Stellung des Strafrechts innerhalb der Wolffschen Naturrechtslehre vorauszuschicken.3 Seit Grotius wurde in der Naturrechtslehre über den Ursprung bzw. den Geltungsgrund des Strafrechts, somit über das Verhältnis des Naturrechts zum Strafrecht gestritten.4 Grotius und seine Anhänger in dieser Frage waren der Auffassung, daß es sich bei dem jus puniendi um eine Kompetenz handelt, die von Natur aus jedem einzelnen Menschen zukommt und die deshalb bereits im Naturzustand von jedermann ausgeübt werden kann. Demgegenüber betont Pufendorf, daß aus dem ursprünglichen natürlichen Recht von jedermann zwar sehr wohl das Recht der Notwehr und des Schadensersatzes und auch ein Recht zukünftiger Sicherheitsleistung abgeleitet werden können, aber derartige, durch das natürliche Recht gedeckte, Zwangshandlungen könnten nicht als Strafe im eigentlichen Sinne betrachtet werden. Der Naturzustand ist deshalb für Pufendorf der Zustand, in welchem jeder Rechtsstreit nur „per modum belli, non per modum poenae proprie dictae“ entschieden werden kann. Wer andererseits im Naturzustand seinen Zwang über die Grenzen des Schadensersatzes und der möglichen Sicherheitsleistung hinaus ausdehnt, verwandelt sich in einen ungerechten Angreifer, während der ursprüngliche Verbrecher bei der Abwehr solchen Zwangs einen gerechten Krieg führt.5 Um von einem Strafrecht im ei-
___________ 3 Christian Wolffs Schriften werden zitiert nach der von Jean École, Joseph Ehrenfried Hoffmann, Marcel Thomann, Hans Werner Arndt und Charles A. Corr besorgten Ausgabe der Gesammelten Werke, Hildesheim / New York 1962 ff. 4 Dieter Hüning, „Nonne puniendi potestas reipublicae propria est“ – Die naturrechtliche Begründung der Strafgewalt bei Hugo Grotius, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, hrsg. v. B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Bd. 8 (2000), Berlin 2001, S. 93–124; ders., „Is not the power to punish essentially a power that pertains to the state?“ The Different Foundations of the Right to Punish in Early Modern Natural Law Doctrines, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2004, S. 43–60; Elke Tießler-Marenda, Einwanderung und Asyl bei Hugo Grotius, Berlin 2002, bes. S. 219 ff. 5 Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium, hrsg. von Frank Böhling, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 4, Berlin 1998, VIII, 3, § 2: Der Zwang geschieht „per modum belli, non per modum poenae proprie dictae“. − Zu Pufendorfs Strafrechtstheorie siehe Vanda Fiorillo, ‚Salus populi suprema lex esto‘: il potere punitivo, come ‚officium regis‘, nel giusnaturalismo di Samuel Pufendorf, in: Samuel Pufendorf, filosofo del Diritto e della Politica. Atti del Convegno Internazionale Milano, 11–12 novembre 1994, hrsg. v. Vanda Fiorillo, Neapel 1996, pp. 139–169.
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gentlichen Sinne sprechen zu wollen, ist nach Pufendorf die Unterwerfung aller unter einen souveränen gesetzgebenden Willen und damit die Existenz einer staatlich garantierten Rechtsordnung vorausgesetzt. Die Bestrafung unterstellt somit die herrschaftskonstituierende Unterwerfung des Täters unter die Rechtsgewalt des Staates bzw. unter das Rechtsurteil einer anderen Person, von solchen Herrschafts- bzw. Unterwerfungsverhältnissen könne aber im Naturzustand, der ein Zustand der Freiheit und Gleichheit ist und in dem niemand dem Rechtsurteil eines anderen unterliegt, keine Rede sein. Das jus puniendi ist für ihn deshalb eine hoheitliche Kompetenz, die ausschließlich dem Inhaber der souveränen Staatsgewalt zukommt. Umgekehrt kann im Naturzustand keine Zwangshandlung jemals den Charakter einer Bestrafung haben. Wolff dagegen bewegt sich in diesem Punkt in den von Grotius vorgezeichneten Bahnen der naturrechtlichen Begründung des jus puniendi, die im wesentlichen dazu dient, die rechtliche Möglichkeit der Strafe wie auch die damit eng verknüpfte Bestimmbarkeit des Verbrechens von der Institutionalisierung der justitia humana unabhängig zu machen. Deshalb behauptet Wolff wie schon Grotius, daß die Erkenntnis der Verbindlichkeiten des natürlichen Gesetzes jederzeit und für jeden einzelnen, auch im Naturzustand, gewiß ist. Aus dieser sicheren Erkenntnis der naturgesetzlichen Verbindlichkeiten folgt ein korrespondierendes vollkommenes Recht, den Unrechtshandlungen anderer nicht nur Widerstand zu leisten (‚jus defensionis‘), sondern auch ein Recht der Sicherheit und der Vorbeugung gegen künftige Unrechtshandlungen (‚jus læsiones præcavere‘).6 Vor allem aber folgt Wolff der von Grotius7 vertretenen Auffassung, daß das jus puniendi schon im ursprünglichen natürlichen Recht jedes einzelnen enthalten sei8, also eine ursprünglich individuelle, jedem Menschen im Naturzustand zukommende naturrechtliche Befugnis darstellt, die schon vor der Errichtung des Staates ausgeübt werden kann.9
___________ 6 Christian Wolff, Institutiones juris naturæ et gentium, Halle 1750 (ND Hildesheim 1969), §§ 89 ff. 7 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, ed. Jean Barbeyrac, Amsterdam 1720, II, 20, § 1; Wolff beruft sich ausdrücklich auf diese Passage, siehe Christian Wolff, Jus naturæ methodo scientifica pertractatum I, Halle 1740 (ND Hildesheim / New York 1972), § 1058 Anm. 8 Chr. Wolff, Jus naturæ I (wie Anm. 7), § 1061; ders., Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 93: „Natura igitur homini competit jus puniendi eum, qui ipsum laesit“. Gleichwohl erklärt Wolff an anderer Stelle: „natura nemini jus in actiones alterius competit“ (ebd. § 76); Jus naturæ I, §§ 81 ff., 138, 143, 146. Wolffs Ableitung des jus puniendi wird z. B. von Filangieri übernommen, vgl. Gaetano Filangieri, System der Gesetzgebung, vierter Band, Anspach 1787, 29. Kapitel, S. 38 (Anm.). 9 Die Strafgewalt zählt deshalb zu den jura connata, vgl. Chr. Wolff, Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 73.
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Aus diesem Grunde wird die von Pufendorf vertretene Lehre vom Ursprung des Strafrechts ausdrücklich zurückgewiesen. Wenn nämlich das Strafrecht ‚ex jurisdictione‘ und nicht aus dem Naturrecht abgeleitet würde, dann sei dies gleichbedeutend damit, jedermann im Naturzustand mit einer Befugnis zu beliebigen Gewalthandlungen (‚licentia lædendi‘) auszustatten und dadurch das jus securitatis aufzuheben. Die ‚fons juris omnis puniendi‘ müsse folglich „ex ipsa hominis natura derivatur, in qua jus naturale omne rationem sufficientem habet“.10 Diese naturrechtliche Strafgewalt bezieht sich aber ausdrücklich nur auf die Rechtsverletzungen, die der Geschädigte selbst oder ein anderer erlitten hat, nicht aber auf lasterhafte Handlungen, durch die kein anderer geschädigt wird.11 Mit dem Zusammenschluß der einzelnen zum Staat geht die Strafgewalt auf den Herrscher über; das jus puniendi gehört nunmehr zu den Majestätsrechten.12 Mit dieser Übernahme der Grotianischen Strafrechtsbegründung ignoriert Wolff die oben genannten Einwände, die Pufendorf gegen die Vorstellung einer ursprünglich im natürlichen Recht von jedermann enthaltenen Strafgewalt erhoben hatte. Daß Wolff trotz dieser Einwände Pufendorfs der Grotianischen Begründung des Strafrechts folgt, hängt u. a. mit seiner Grundsatzentscheidung in bezug auf die philosophia practica universalis zusammen. Diese Grundsatzentscheidung richtet sich gegen die (in Deutschland von Thomasius und seiner Schule unternommenen) Versuche, die Naturrechtslehre von der Ethik abzulösen bzw. das Naturrecht auf die Lehre von den äußeren Pflichten (insbesondere denen der Gewährleistung der Rechtssicherheit) einzuschränken. Insbesondere aber wendet sich Wolff gegen die von Hobbes und dann von Pufendorf vorgebrachte Kritik an der traditionellen, auf die Stoa zurückgehende Naturrechtslehre, in welcher die − teleologisch verstandene − Natur den Maßstab der Bestimmung der Rechte und Pflichten der Menschen abgeben sollte. Hobbes hatte mit seiner Lehre vom Naturzustand als ‚bellum omnium contra omnes‘ versucht, dieser Lehre den Boden zu entziehen, indem er zeigte, daß die Natur in ihrer
___________ 10 Chr. Wolff, Jus naturæ I (wie Anm. 7), § 1058 Anm. Zwar erklärt Wolff ausdrücklich, daß das jus puniendi nicht „a potestate legislatoria“ abtrennbar sei (Christian Wolff, Jus naturæ methodo scientifica pertractatum VIII, Halle 1748 [ND Hildesheim 1968], § 832 Anm.) und auch durch einen „bellum privatum“ nicht aufgehoben werden könne, weil ohne diese Strafgewalt das „imperium civile“ nicht ausgeübt werden könne. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die staatliche Strafgewalt in begründungstheoretischer Hinsicht wie bei Grotius nur abgeleiteter Natur ist. 11 Chr. Wolff, Jus naturæ methodo VIII (wie Anm. 10), § 652: „In statu naturali nemini competit jus puniendi alterum ob actum vitiosum qualemcunque, quo aliis non nocet“. 12 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 832: „Jus puniendi jus majestaticum esse, seu partem imperii“.
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vermeintlichen Zweckmäßigkeit in bezug auf die vernünftigen Bedürfnisse der Menschen überhaupt kein Prinzip enthalte, das als Grundlage der Bestimmung eines subjektiven Rechts im juridischen Sinne dienen könnte. „Natura dedit omnia omnibus“13 lautet die Hobbessche Botschaft an die Adresse der traditionellen Naturrechtslehre: Die Natur gibt jedermann das gleiche Recht, sich der natürlichen Dinge als Mittel seiner Bedürfnisbefriedigung zu bedienen, aber sie sagt nichts darüber aus, wie jemand zu einem bestimmten Recht auf den ausschließlichen Gebrauch dieser Dinge gelangen kann. Die Natur verleiht mit anderen Worten also jedermann ein Nutzungsrecht, d. h. ein Recht, Dinge zweckmäßig in bezug auf seine vernünftigen Bedürfnisse zu gebrauchen, aber sie enthält kein Kriterium für die Bestimmung von Rechten in sensu stricto, d. h. von solchen Rechten, die andere vom Gebrauch der Dinge ausschließen und die zugleich zwangsweise durchgesetzt werden können. Soll deshalb von der juridischen Bestimmung des äußeren Mein und Dein die Rede sein, müssen die Geltungsgründe rechtlicher Normen an einer anderen Stelle als in der vermeintlichen Zweckmäßigkeit der Natur gesucht werden. An die Stelle des traditionellen Naturrechts tritt deshalb bei Hobbes das Vernunftrecht, in welchem die ratio als der Bestimmungs- und Geltungsgrund von Rechten und Pflichten fungiert.14 Wolff betrachtete diese von Hobbes und von Pufendorf vorgebrachte Kritik an der Naturrechtstradition − wie viele seiner Zeitgenossen − ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Destruktion der Möglichkeit der Naturrechtslehre im Sinne einer Theorie, die von überpositiven Geltungsgründen des Rechts ausgeht. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht seine Polemik gegen Pufendorf.15 Dieser wird von Wolff als Urheber einer irreführenden obligationstheoretischen
___________ 13
Thomas Hobbes, De cive (The Latin version, ed. by Howard Warrender, Oxford 1983), I, 10. Hobbes erklärt die Bedeutung dieses Satzes folgendermaßen: „Hoc est, in statu merè naturali, siue antequam homines vllis pactis sese inuicem obstrinxissent, vnicuique licebat facere quæcunque & in quoscunque libebat, & possidere, vti, frui omnibus quæ volebat & poterat“. 14 Ich habe an anderer Stelle diese ‚geltungstheoretische Revolution‘ des Thomas Hobbes, also den Übergang von einer naturrechtlichen hin zu einer vernunftrechtlichen Begründung der staatlichen Herrschaft, ausführlich untersucht, siehe Dieter Hüning, Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes, Berlin 1998, bes. S. 42. 15 Zum systematischen Verhältnis der Lehren Pufendorfs und Wolffs vgl. die wichtige Studie von Gerald Hartung, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert, Freiburg, München 21999, S. 126 ff.; sowie Dieter Hüning, Gesetz und Verbindlichkeit. Zur Begründung der praktischen Philosophie bei Samuel Pufendorf und Christian Wolff, in: Gedächtnisschrift für Dieter Meurer, hrsg. v. Eva Graul / Gerhard Wolff, Berlin 2002, S. 525–544; ders., Christian Wolffs ‚allgemeine Regel der menschlichen Handlungen‘, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, hrsg. v. B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Bd. 12, Berlin 2004, S. 91–113.
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Konzeption angegriffen: Pufendorf habe nicht nur die philosophisch bewährte, auch von der überwiegenden Mehrheit der Theologen verfochtene Lehre von der moralitas objectiva bzw. der bonitas et malitia actionum intrinseca verworfen16, sondern darüber hinaus einen Gesetzesbegriff aufgestellt, in welchem die Verbindlichkeit des Gesetzes mit seinem Befehlscharakter zusammenfalle.17 Dadurch aber sieht Wolff das Fundament der praktischen Philosophie insgesamt in Frage gestellt. In der Tat war Pufendorf in der Nachfolge von Hobbes als entschiedener Gegner der Lehre von der ‚perseitas boni et maliµ aufgetreten.18 Nach dieser Lehre sind bestimmte Handlungen an sich, d. h. unabhängig vom gesetzgebenden Willen eines Oberherrn moralisch gut oder böse, so daß z. B. Mord, Diebstahl, Ehebruch, Inzest usw. auch unabhängig von einer gesetzlichen Bestimmung ‚an sich und ihrer Natur nach‘ schlecht seien.19 Pufendorf hatte die Per-
___________ 16 Christian Wolff, Philosophia practica universalis methodo scientifica pertractata, I, Halle 1738 (ND Hildesheim, New York 1971), § 63 (scholion): „Enimvero non mirabuntur amplius, ubi perpenderint, postquam Puffendorfius bonitatem & malitiam actionum intrinsecam rejecit, & utramque nonnisi arbitrariam esse voluit, ab abritrio superioris unice fluentem, plurimosque hodie inter nos nactus asseclas, bonitatem & malitiam actionum intrinsecam, antehac a Theologis & Philosophis unanimiter assertam & magno fervore initio contra Puffendorfium defensam, tanquam impiam & religione bonisque moribus adversam, traduci ab hominibus, qui dicendi autoritate sibi pollere videntur, temerario fastu damnantes, quæ olim a magistris suis non accepere tanquam vera. Qunta vero sit vis præjudiciorum istiusmodi, nemo acutiorum est, qui nesciat.“; Christian Wolff, Philosophia moralis sive Ethica, methodo scientifica pertractata, III, Halle 1751 (ND Hildesheim, New York 1970), § 91: „Intrinsecam actionum bonitatem & malitiam agnoverunt antiquissimi Philosophi, ipsa natura jus omne constitutum affirmantes, eandemque deferenderunt ad Puffendorfii usque tempora unanimiter etiam Theologi. Et Sineses, qui Deum ignorarunt, Philosophiam tamen moralem atque civilem, seu Ethicam & Politicam præ aliis Gentibus excolerunt summo studio, optimumque subditos obligandi modum non a sanctione pœnali, sed ab exemplo Imperatoris derivarunt“. 17 Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, § 131: „Vulgo definiunt legem per jussum superioris promulgatum ipsumque obligantem; sed hæc non est definitio legis in genere. Hæc definitio illorum est, qui obligationem naturalem tollunt, bonitatem ac malitiam intrinsecam actionum negantes & antecedenter ad voluntatem Dei tanquam superioris actiones in universum omnes pro indifferentibus habentes. Cum igitur intrinsecam actionum malitiam atque bonitatem in anterioribus stabiliverismus, probatam & philosophis antiquis, & Theologis; legem quoque in genere definimus, quemadmodum fert diversa obligatio ad actiones quasdam committendas, quasdam vero omittendas“. 18 Vgl. zur Lehre der ‚perseitas boni et mali‘ die Ausführungen von Stephan Buchholz, Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1988, S. 42–59. 19 Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. v. Günther Bien, Hamburg 41985, II, 6; Thomas von Aquin, Summa Theologica (Deutsche Thomas-Ausgabe, hrsg. v. der Albertus-Magnus-Akademie Walberberg bei Köln, Bd. 18, Heidelberg, München 1977,
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seitas-Lehre abgelehnt, weil sie nach seiner Auffassung u. a. zu einer künstlichen und irreführenden Unterscheidung zwischen dem ius naturale und dem ius divinum positivum führt: „Aliqui objectum juris naturalis constituunt actus illi, quibus per se inest moralis necessitas aut turpitudo, quique adeo in sua natura sunt debiti aut illiciti, eoque à DEO necessario praecepti aut vetiti intelliguntur. Qua nota distare tradunt jus naturale non ab humano tantum jure, sed & à divino voluntario seu positivo; quod non ea praecipit aut vetat, quae per se ac suapte natura debita sunt aut illicita, sed vetando illicita, praecipiendo debita facit. Lege enim naturali quae vetantur, non ideo turpia esse, quia DEUS vetuit, sed ideo DEUM ista vetuisse, quia in se erant turpia. Sic & quae eadem lege praecipiuntur, non ideo honesta aut necessaria fieri, quia à DEO praecipiuntur, sed ideo praecipi, quia in se sint honesta.“20
Pufendorf erklärt statt dessen, daß die moralische Qualität einer Handlung von ihrer Zusammenstimmung mit dem Willen des zur Gesetzgebung berufenen Oberen abhängt, so daß „honestas sive necessitas moralis, & turpitudo sint affectiones actionum humanarum, ortae ex convenientia aut disconvenientia à norma seu lege; lex vero sit jussum superioris; non adparet, quomodo honestas aut turpitudo intelligi possit ante legem, & citra superioris impositionem.“21
Für Pufendorf wird also der Unterschied zwischen gut und böse durch die göttliche Gesetzgebung konstituiert, während Gott selbst hierin durch keinerlei vorgegebene Inhalte gebunden ist. Die ‚ratio formalis‘ der moralischen Güte bzw. Schlechtigkeit einer Handlung besteht daher in ihrer Übereinstimmung mit dem, was durch das Gesetz geboten bzw. verboten wird.22 Wie man Wolffs
___________ S. 9 f.) II, 2, qu. 57 a, 2 ad 2; H. Grotius, De iure belli ac pacis libri tres (wie Anm. 7), I, 1, § 10, 5. Zur Kritik dieser Auffassung vgl. schon T. Hobbes, De cive (wie Anm. 13), VI, 19. 20 S. Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 5), II, 3, § 4. Pufendorf verweist in diesem Zusammenhang auf Grotius (De iure belli ac pacis [wie Anm. 7], I, 1, § 10). 21 S. Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 5), I, 2, § 6. Zu Pufendorfs Kritik an der ‚perseitas‘-Lehre siehe Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 41962, S. 137 f.; Thomas Behme, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995, S. 54 f.; Horst Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, München 1972, S. 51–54, 139 f.; Vanda Fiorillo, Tra Egoismo e Socialità. Il Giusnaturalismo di Samuel Pufendorf, Neapel 1992, p. 145 f.; Jerome B. Schneewind, The Invention of Autonomy, Cambridge 1998, p. 123 f. 22 S. Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 5), I, 7, § 3. – Zur voluntaristischen Geltungsbegründung im frühmodernen Naturrecht vgl. Klaus-Gert Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff. Eine historische Untersuchung in systematischer Absicht, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Forschungen
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Ausführungen unschwer entnehmen kann, sieht er in dieser Lehre Pufendorfs einen gefährlichen Präzedenzfall einer Lehre, die gerade deshalb, weil sie primär auf das Willensmoment bei der Begründung der Moralität abstellt, dem Atheismus Vorschub leiste. Weil bei Pufendorf Gott als Geltungsbedingung von Gesetz und Verbindlichkeit und der aus ihm hervorgehenden Verbindlichkeit fungiert23, sind beide − Gesetz und Verbindlichkeit − durch atheistische Winkelzüge gefährdet.24 Denn Atheisten würden sich der Auffassung, daß etwas nur deshalb verbindlich oder moralisch gut bzw. böse sein sollte, weil eine übergeordnete Instanz dies befohlen oder verboten habe, nur allzu gerne anschließen, um mit der Leugnung der Existenz Gottes auch die Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes aufzugeben.25 Sie hätten daher auch ein besonderes Interesse an der Lehre, daß es keine andere Tugend gäbe als diejenige, „quæ sanctione pœnali superioris in civitate extorquetur“.26 Wolff kehrt zu der von Hobbes und Pufendorf in Frage gestellten Lehre von der moralitas objectiva, die auch Grotius in diesem Punkt verteidigt hatte, zu-
___________ und Materialien zur deutschen Aufklärung, hrsg. v. Norbert Hinske / Lothar Kreimendahl / Clemens Schwaiger, II. Abt., Bd. 16), S. 36 ff., mit weiteren Nachweisen. 23 Frank Grunert, Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung (Frühe Neuzeit 57), Tübingen 2000, S. 161. 24 G. Hartung, Naturrechtsdebatte (wie Anm. 15), S. 132, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Ziel der Wolffschen Moralphilosophie die „interne Stabilisierung dieser Grundstruktur von natura hominis, lex naturalis und obligatio naturalis innerhalb der praktischen Philosophie“ ist und daß gerade hier die Pointe von Wolffs Pufendorf-Kritik liegt: „Weil Pufendorf die obligatio naturalis nicht an der essentia & natura hominis festgemacht hat, sondern aus dem unergründlichen göttlichen Willensentschluß deduziert, hat er sich für die Lösung des Problems moralischer und politischer Stabilität eine prinzipielle Instabilität eingehandelt, die seine Konzeption insgesamt fragwürdig macht. Der Pufendorf’sche Voluntarismus erklärt moralische Obligation durch den Hinweis, daß Gott es befiehlt und entzieht sie dadurch dem rationalen Zugriff.“ 25 Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, § 245: „Lex naturæ subsistit etiam in hypothesi impossibili athei; hoc est, ex eo, quod atheus ponit non dari Deum, minime sequitur, non dari legem naturæ. Etenim lex naturæ ponitur posita hominis rerumque natura atque essentia (§ 136) & ejus obligatio rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura habet (§ 143). Quamobrem etsi atheus neget dari Deum (§ 411. part II, Theol. nat.); non tamen ideo negare potest, hanc esse hominis rerumque essentiam, quam independenter a cogitatione Dei cognoscimus. Admittere igitur tenetur legem naturæ, stante hypothesi impia, consequenter Lex naturæ subsistit etiam in hypothesi impossibili athei. Nimirum non valet consequentia, si atheus ita argumentetur: Non datur Deus. Ergo non datur lex naturæ, seu nulla datur obligatio ad actiones alias committendas, alios vero omittendas, nisi quae a lege humana venit. [...] Non nego, dari atheos, qui negant legis naturalis existentiam; sed ratio, cur negant, non desumitur ab impia eorum hypothesi, si rem curatius spectes [...]“. 26 Chr. Wolff, Philosophia moralis sive Ethica (wie Anm. 16), § 91.
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rück, wonach „die Handlungen der Menschen an sich nothwendig gut oder böse sind, keines Weges aber erst durch den Befehl oder das Verboth eines Oberen gut oder böse werden“.27 Wolff wird deshalb nicht müde zu betonen, daß sowohl die moralische Qualität der Handlungen28 als auch der Grund möglichen Verpflichtetseins keineswegs in einer wie auch immer gearteten impositio, d. h. in der Auferlegung durch einen übergeordneten Gesetzgeber und Befehlshaber liegt, sondern in der teleologisch gedachten, auf Verwirklichung der Vollkommenheit abzielenden Natur als solcher. Der Grund der Möglichkeit, zu einer Handlung als Pflicht verbunden zu werden, beruht mit anderen Worten auf der natürlichen Ausrichtung des Willens auf das Gute: „appetitus in genere est inclinatio animæ ad objectum pro ratione boni in eadem percepti“.29 Wolff macht hierbei von dem traditionellen Konzept des appetitus rationalis Gebrauch, unter dem Wolff wie schon die Scholastiker den Willen „im engeren Verstande“ verstanden wissen will.30 Dieses Konzept besagt, daß der Wille natürlicherweise das Gute erstrebt und das Böse verabscheut. Daß der Wille in dieser Weise auf das Gute ausgerichtet ist, hängt aber von der angemessenen Erkenntnis durch den Verstand ab, d. h. es sind die jeweiligen ‚Vorstellungen‘ des Guten bzw.
___________ 27
Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (Deutsche Ethik), Frankfurt a. M. 41733 (ND Hildesheim / New York 1996), Vorrede zur zweiten Auflage; vgl. auch Chr. Wolff, Philosophia moralis sive Ethica (wie Anm. 16), III, § 91: „Discrimen actionum liberarum bonarum & malarum non nascitur a voluntate superioris, qui potens est ut meta pœnarum obligationem introducere valeat; sed ex ipsa hominis natura, ita ut non homo sit, qui exlex esse cupit, quemadmodum sufficienter demonstravimus in parte prima Philosophiæ practicæ universalis.“ − Riedel hat mit Recht bemerkt, daß Wolff die Annahme, „daß aus der Natur des Menschen wirklich eine Verbindlichkeit abgeleitet werden könne, [...] noch gar nicht zweifelhaft geworden zu sein“ scheint, siehe Manfred Riedel, Moralität und Recht im vorkantischen Naturrecht, in: ders., Metaphysik und Metapolitik, Frankfurt a. M. 1975, S. 237–253, hier S. 242 f.; Karl-Heinz Ilting, Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien, Stuttgart 1983, S. 93: Wolff verfahre mit seiner Rückwendung zu den überkommenen Lehren so, „als ob die gesamte Entwicklung des rationalen Naturrechts von Grotius bis Thomasius gar nicht stattgefunden hätte“. 28 Chr. Wolff, Philosophia moralis sive Ethica (wie Anm. 16), III, § 91: „Discrimen actionum liberarum bonarum & malarum non nascitur a voluntate superioris, qui potens est ut meta pœnarum obligationem introducere valeat; sed ex ipsa hominis natura, ita ut non homo sit, qui exlex esse cupit“. 29 Christian Wolff, Psychologia empirica, methodo scientifica pertractata, Frankfurt a. M. / Leipzig 1738 (ND Hildesheim 1968), § 579. 30 Christian Wolff, Der Vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, anderer Theil, bestehend in ausführlichen Anmerckungen, Frankfurt a. M. 1740 (ND Hildesheim / Zürich / New York 1983), § 155 (ad § 492 der Deutschen Metaphysik).
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des Bösen, die in uns ein Gefühl der Lust bzw. des Abscheus hervorbringen.31 Die Beziehung zu den pflichtgemäßen Handlungen ist dem Willen daher nicht äußerlich, sondern vermittels der Erkenntnis immanent. Nach dieser intellektualistischen Auffassung ist der Wille der Menschen so beschaffen, daß die Erkenntnis des Guten, das mit einer Handlung verknüpft ist, einen „BewegungsGrund des Willens [...], daß wir sie wollen“, darstellt, so wie umgekehrt die Erkenntnis des Bösen „ein Bewegungs-Grund des nicht Wollens, oder des Abscheues für einem Dinge“ ist.32 In dieser Hinsicht ist zugleich die Verbindlichkeit mit der Motivierung des Willens durch die Vorstellung des Guten bzw. Bösen, das mit einer Handlung verknüpft ist, identisch. Dementsprechend definiert Wolff die obligatio naturalis als diejenige Verbindlichkeit „quæ in ipsa hominis rerumque essentia atque natura rationem sufficientem habet“.33 Weil folglich alle Moralität unmittelbar in der Natur des Menschen verankert ist, tut ein vernünftiger Mensch Gutes und unterläßt das Böse nicht „in Ansehung der Belohnung und aus Furcht der Straffe“, sondern weil er sich selbst das Gesetz des Handelns gibt, ohne außer der Erkenntnis in die moralische Qualität einer Handlung eines weiteren Motivs zu bedürfen34: „Weil wir durch die Vernunfft erkennen, was das Gesetze der Natur haben will; so braucht ein vernünftiger Mensch kein weiteres Gesetz [als das natürliche], sondern vermittels seiner Vernunft ist er ihm selbst ein Gesetz“.35 Was gerecht ist, ist also von Natur aus, d. h. aufgrund der ontologischen Verfaßtheit der Natur des Menschen, oder an sich gerecht. Deshalb sind die Normen des natürlichen Gesetzes für die Menschen auch unabhängig von der Existenz eines staatlichen Institutionensystems als Rechtsnormen verbindlich. Und deshalb ist auch der Naturzustand, d. h. der Zustand der Menschen unter den Bedingungen der alleinigen Geltung des natürlichen Gesetzes, bereits ein, wenngleich prekärer Rechtszustand, in welchem nicht nur zwischen Recht und Unrecht unterschieden werden kann, sondern auch
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Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, 1, § 88: „Determinatio voluntatis & noluntatis ab intellectu dependet“; § 89: „Rectitudo actionis humanæ quoad voluntatem & noluntatem a rectitudine ejusdem quoad intellectum dependet“. – In diesem Konzept der Bestimmbarkeit des Willens durch den Verstand liegt der Grund, warum der Willensbegriff in Wolffs Grundlegung der praktischen Philosophie keine zentrale Rolle spielt. 32 Chr. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 27), §§ 6 f. 33 Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, 2, § 129. 34 Chr. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 27), § 38. 35 Ebd. § 24. Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, § 268: „Homo ratione valens & utens sibimetipsi lex est“.
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Strafen gegen diejenigen, die das natürliche Gesetz übertreten, exekutiert werden können.36 Der Aufwand an ontologischer Fundierung, den Wolff zur Grundlegung seiner praktischen Philosophie betreibt, ist beachtlich: Die immer wieder beschworene „essentia & natura hominis atque rerum“, aus der die Normen des Naturrechts abgeleitet werden sollen37, ist ihrerseits nur ein Sonderfall der allgemeinen, von Gott geschaffenen natürlichen Ordnung der Dinge, sodaß die Ontologie bei Wolff in viel stärkerem Ausmaß als bei den übrigen Naturrechtstheoretikern des 17. und 18. Jahrhunderts die systematische Grundlage der praktischen Philosophie bildet.38 Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß sich für Wolff das Recht und die legitime Herrschaft „nicht als eine durch das ‚natürliche Sittengesetz‘ bereits vorgegebene Ordnung menschlicher Zwecksetzungen“ ergibt, sondern daß die naturrechtlichen Normen und die durch sie begründeten staatlichen Institutionen von ihm „auf der Grundlage der Pflicht zur Selbstvervollkommnung und auf dem Wege rein rationaler Deduktion“ erst entwickelt werden.39
II. Die Prinzipien des Strafrechts Was den Begriff der Strafe angeht, so folgt Wolff gleichfalls der naturrechtlichen, auf Grotius zurückgehenden Tradition, nach welcher die Strafe ein ma-
___________ 36 In seiner Abhandlung über Grotius’ Methode hatte Wolff erklärt, daß die Zielsetzung von Grotius, die „Meinung des Carneades“ zu bekämpfen, weiterhin aktuell sei. Dessen Begründung des Rechts durch den Nutzen führe nämlich zu einer empiristischen Theorie, in welcher − so die Formulierungen der deutschen Übersetzung dieser Einleitung − die Macht „zur Richtschnur der Gerechtigkeit“ gemacht wird, mit der Folge, „daß wer keinen Oberherrn hat, als die Völker und ihre Regenten, der könne sich das Recht nach seiner Willkühr denken, dabey die Klugheit es nur mit der Macht dergestalt einrichten darf, daß sie des Nutzens, welchen sie zum Zwecke hat, nicht verfehle“, siehe Christian Wolff, Von der Lehrart, welche Hugo Grot in seinem Buch vom Recht des Krieges und Friedens gebrauchet hat, in: ders., Gesammelte kleine philosophische Schrifften, Bd. III, Halle 1737 (ND Hildesheim / New York, 1981), S. 335 f. 37 Chr. Wolff, Jus naturæ I (wie Anm. 7), § 2: „Quæ in Jure Naturæ traduntur, demonstranda sunt, ex ipsa essentia & natura hominis atque rerum“; ders., Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, § 135: „Lex naturalis est, quæ rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura agnoscit“. 38 Vgl. hierzu Bénédict Winiger, Das rationale Pflichtenrecht Christian Wolffs. Bedeutung und Funktion der transzendentalen, logischen und moralischen Wahrheit im systematischen und theistischen Naturrecht Wolffs, Berlin 1992, S. 109 ff., 129 ff., 174 ff. 39 Georg Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung. Ein Beitrag zum Problem der Legitimation, Tübingen 1974, S. 41 f.
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lum physicum sei, das dem Täter wegen des moralischen Übels seiner Tat zugefügt wird.40 Die Strafübel können entweder „mala fortunæ, vel corporis“ sein. Während die Glücksübel den Entzug von Besitztümern oder Rechten bedeuten, bestehen die Körperstrafen „in faciendo dolores in corpore“.41 Dieser Begriff der Strafe führt unmittelbar zu der Frage, worin denn das sittliche Übel, das die Veranlassung der Strafe bildet, besteht. Wir sind es heute gewohnt, von dem Prinzip auszugehen, daß nur diejenigen Handlungen bestraft werden können, die eine gesetzlich bestimmte Verletzung eines Rechtsgutes zum Inhalt haben. Der klassische Fall einer solchen Rechtsgutsverletzung ist die Läsion der gleichen Rechte anderer.42 Auch für Wolff bezeichnet das Unrecht (‚injuria‘) eine „Violatio Juris perfecti alterius“.43 Die Möglichkeit der Bestrafung einer solchen Rechtsverletzung ist schon im Naturzustand gegeben, weil jeder einzelne ursprünglich im Rahmen des natürlichen Gesetzes über das jus puniendi, also das Recht der Bestrafung verfügt. Dagegen erklärt Wolff ausdrücklich, daß es im Naturzustand keine Strafbarkeit lasterhafter Handlungen gäbe.44 Wer hier vom Pfad der Tugend abweicht, wie z. B. Prostituierte, Trin-
___________ 40 Vgl. Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, § 285; ders., Theologia naturalis methodo scientifica pertractata I, Franfkurt a. M. / Leipzig 1739 (ND Hildesheim / New York 1978), § 1077; ders., Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 93. Grotius definiert die Strafe in ihrer allgemeinen Bedeutung als „malum passionis quod infligitur ad malum actionis“ (H. Grotius, De iure belli ac pacis [wie Anm. 7], II, 20, § 1). Die Grotianische Definition der Strafe wird von der Mehrheit der späteren Naturrechtslehrer übernommen, vgl. auch S. Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 5), VIII, 3, § 4: „In genere poena describi potest per malum passionis, quod infligitur ob malum actionis“; Gottfried Achenwall, Iuris naturalis pars posterior, Göttingen 51763, in: Immanuel Kant’s gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. XIX, Berlin / Leipzig 1934, § 40 (S. 347); noch Kant wird in seinen Vorlesungen zur praktischen Philosophie von diesem Begriff der Strafe Gebrauch machen, vgl. Immanuel Kant, Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII/1, S. 150; Moralphilosophie Collins, AA XXVII/1, S. 286; Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA XXVII/1, S. 552; Immanuel Kant, Vorlesung zur Moralphilosophie (Nachschrift Kaehler), hrsg. v. Werner Stark, Berlin 2004, S. 84. 41 Chr. Wolff, Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 1048; vgl. auch ders., Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 588. 42 Zum Begriff des Unrechts als Rechtsgutverletzung siehe Eberhard Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil. Studienbuch, unter Mitwirkung von Heiner Alwart, Tübingen 1982, Nr. 5/24 ff., S. 81 ff. 43 Chr. Wolff, Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm, 6), § 87. Das jus perfectum ist diejenige Befugnis, die mit dem Recht, einen anderen zu zwingen, verbunden ist. Bei dem jus imperfectum fehlt diese Befugnis, vgl. Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, §§ 235, 237. 44 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 652: „In statu naturali nemini competit jus puniendi alterum ob actum vitiosum qualemcunque, quo aliis non nocet“; vgl.
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ker, Kuppler oder Verschwender, werde allerdings zum Gegenstand der Verachtung, den man nur durch das eigene Beispiel zu bessern hoffen könne.45 Denn im Naturzustand stehe die natürliche Freiheit eines jeden einem derartigen Zwang entgegen.46 Man könnte nun vermuten, daß die Definition des Unrechts zugleich als Prinzip für die Bestimmung der Strafbarkeit von Handlungen fungiert und somit eine Schranke der rechtlich möglichen staatlichen Strafgewalt bezeichnet. Eine derartige Erwartung, daß Wolff aufgrund seines eigenen Unrechtsbegriffs die Strafbarkeit von Handlungen auf die Verletzung eines vollkommenen Rechts eines anderen eingeschränkt hätte, wird allerdings enttäuscht. Wolff betont nämlich − auch hier in der Nachfolge von Grotius47 −, daß eine Strafbarkeit von Handlungen − jedenfalls wenn die Größe des Schadens absehbar sei − „ante legem“, also unabhängig von der Existenz eines (vorhergehenden) Strafgesetzes, das die Straftatbestände sowie die entsprechenden Strafen bestimmt, möglich sei.48 Der Grundsatz ‚nulla poena sine lege‘, der ja gewissermaßen die Quintessenz der Strafrechtstheorie der Aufklärung und des Rechtsstaatsgedankens auf strafrechtlichem Gebiet bildet, hat in Wolffs Naturrechtslehre keinen Platz. Überhaupt löst Wolff das Strafrecht des Staates von der Bindung an den Unrechtsbegriff im engeren Sinne ab. Zwar macht Wolff im Zusammenhang mit der Frage der Strafbarkeit wie seine Vorgänger Grotius und Pufendorf von der Unterscheidung von inneren und äußeren Handlungen Gebrauch und erklärt nach dem Motto „Gedancken sind Zoll-frey“49 die bloß innerlichen Handlungen (also das, was wir heute als Vorstellungen, Meinungen und Überzeugungen bezeichnen würden) für schlechterdings unstrafbar. Auch Irrtümer und abweichende Glaubensüberzeugungen, ja selbst der Atheismus bleiben unstrafbar, jedenfalls solange sie in der Innerlichkeit des Subjekts verbleiben. Dagegen kann die Ausbreitung von Irrtümern (oder was die Staatsgewalt dafür hält) als Äuße-
___________ Emanuel Stipperger, Freiheit und Institution bei Christian Wolff (1679–1754). Zum Grundrechtsdenken in der deutschen Hochaufklärung, Frankfurt a. M. u. a. 1984, S. 93. 45 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 652 Anm., 654 Anm. 46 Ebd., § 653: „vi autem compellere alterum libertati naturali omnino repugnat“. 47 H. Grotius, De jure belli ac pacis (wie Anm. 7), II, 20, § 22, 1: „Ante legem pœnalem constitutam dubium tamen non est quin pœnæ locus esse possit, quia naturaliter qui deliquit in eo statu est, ut puniri licite possit.“ 48 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 663; vgl. hierzu H.-M. Bachmann, Die Staatslehre Wolffs (wie Anm. 2), S. 229. 49 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen zur Beförderung des menschlichen Geschlechts (= Deutsche Politik), Frankfurt / Leipzig 41736 (ND Hildesheim 1996), § 356.
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rungsdelikt sehr wohl sanktioniert werden.50 Aber im status civilis wird das Strafrecht von der Bindung an den Unrechtsbegriff im engeren Sinne abgekoppelt. Im achten Band seines Jus naturae erklärt Wolff ausdrücklich, daß nicht nur Verstöße gegen die vom Herrscher erlassenen Gesetze, sondern auch Verstöße gegen das natürliche Gesetz Gegenstand staatlicher Strafen sein können. Er betont sogar, daß im Staat lasterhafte Handlungen selbst dann bestraft werden können, wenn kein Dritter durch diese Handlungen einen Schaden erleidet oder wenn durch sie kein Recht eines anderen verletzt würde.51 Wolff macht deshalb keinen Unterschied zwischen der Strafbarkeit eines Verstoßes gegen gesetzlich bestimmtes staatliches Recht und eines Verstoßes gegen das natürliche Gesetz, wie er z. B. in einem lasterhaften Lebenswandel zum Ausdruck kommt. Das Laster kann bestraft werden, weil hierdurch jemand seine eigene Vervollkommnung beeinträchtigt oder anderen ein schlechtes Beispiel gibt. Rechtsbruch und Laster sind gleichermaßen Handlungsweisen, deren Ausbreitung die Staatsgewalt nach Wolff durch Strafandrohung zu verhindern befugt ist. Sittenlosigkeit kann deshalb bestraft werden, weil ein lasterhafter Lebenswandel anderen als schlechtes Vorbild dienen könnte. Das im Strafrecht enthaltene Droh- und Abschreckungspotential betrachtet Wolff als eines der zentralen Instrumente zur Realisierung dieses Staatszwecks.
III. Sozialschädlichkeit und allgemeine Wohlfahrt Der entscheidende Gesichtspunkt der Bestrafung ist für Wolff nicht die geschehene Rechtsverletzung, sondern die Sozialschädlichkeit der Tat52 als Störung der allgemeinen Wohlfahrt, deren nähere Bestimmung durch Wolff wiederum auf die tugendethische Staatszweckbestimmung53 verweist.54 Auf der
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Vgl. H.-M. Bachmann, Die Staatslehre Wolffs (wie Anm. 2), S. 226 f. Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 653: „In civitate puniri possunt actus vitiosi, unde malum quoddam derivatur in universitatem, etsi iisdem alius non lædetur, seu non committatur quidpiam, quo violatur jus alterius cujusdam.“; Jus naturæ VIII, § 654: „ne plures scelera quædam committant, aut vitio cuidam se dedant, rei in civitate poenis coërceri possunt, etiamsi iisdem non lædatur alius“; vgl. ders., Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 1052. 52 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 625: „Unde gravitas delicti æstimanda. Gravitas delicti atque criminis æstimanda est ex nocumento, quod affertur & periculo, quod inde imminet.“ Vgl. hierzu G. Boldt, Böhmer und die gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft (wie Anm. 2), S. 155 f. Anm. 44. 53 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 3: „Den ungehinderten Fortgang in Beförderung des gemeinen Bestens, das man durch vereinigte Kräffte zu erhalten gedencket, nennet man die Wohlfahrt der Gesellschafft“; vgl. auch ders., Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 17. 51
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Grundlage der naturrechtlichen Forderung der Verwirklichung des bonum commune durch die Staatsgewalt bzw. der Beförderung allgemeiner Glückseligkeit durch allseitige Vervollkommnung der Individuen gelangt Wolff zu einer umfassenden Erweiterung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben, zu denen nicht nur die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung bzw. die Gewährleistung der Rechtssicherheit gehören, sondern die Befolgung der Religions- und Tugendpflichten.55 Das bonum commune auf der einen und die Beförderung der individuellen Moralität durch staatliche Strafandrohungen auf der anderen Seite sind die korrespondierenden Prinzipien der Wolffschen Staatszwecklehre.56 Schon in der Deutschen Politik hatte Wolff betont, daß die Beförderung der Tugend eine zentrale Staatsaufgabe darstellt: „Das gemeine Wesen wird zu dem Ende angerichtet, damit man in dem Stande ist dem höchsten Gute desto sicherer nachzustreben. Derowegen, da dieses durch die Tugend befördert wird; so hat man im gemeinen Wesen auch davor zu sorgen, daß die Leute tugendhafft werden.“57
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Zum Staatszweck der Beförderung der Glückseligkeit vgl. Walther Merk, Der Gedanke des allgemeinen Besten in der deutschen Staats- und Rechtsentwicklung, Darmstadt 1968, bes. S. 54 ff.; Michael Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, Meisenheim am Glan 1972, S. 42 ff.; Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der GörresGesellschaft, NF, 23), Paderborn 1976, S. 52–54; Ulrich Engelhardt, Zum Begriff der Glückseligkeit in der kameralistischen Staatslehre des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für historische Forschung, 8 (1981), S. 37–79; E. Stipperger, Freiheit und Institution (wie Anm. 44), S. 81 ff.; Frank Grunert, Die Objektivität des Glücks. Zur Eudämonismusdiskussion in der deutschen Aufklärung, in: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Frank Grunert / Friedrich Vollhardt, Tübingen 1998, S. 351–368. 55 Vgl. Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), §§ 426, 655. Lutterbeck (Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff [wie Anm. 22], S. 201) spricht mit Recht davon, daß der „als moralische Person dem Vollkommenheitsprinzip unterliegende aufgeklärte Wohlfahrtsstaat [...] in den aufklärenden Vormundschaftsstaat“ umkippt. 56 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 456: „Curæ esse debet Rectori civitatis, ut subditi sint virtute dediti, & ne a virtutis tramite ad vitia deflectant, & qui deflectunt a vitiis revocentur & in viam rectam reducantur“. 57 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 316. Zu dem „erheblichen Rückschritt“, den Wolffs Strafrechtslehre gegenüber Pufendorf und Thomasius dadurch bewirkt, daß sie moralisches Fehlverhalten als strafrechtlich relevant betrachtet und entsprechende Laster – insbesondere die Sexual- und Religionsdelikte (Institutiones juris naturæ et gentium, § 1052) − kriminalisiert, vgl. Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien / Köln / Graz 1979, S. 143.
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Die Auffassung, daß der Staatszweck allein in der Gewährleistung der Rechtssicherheit bestehe, so daß man sich „im gemeinen Wesen [...] an der äusserlichen Zucht (begnüge) und [...] sich nicht umb das innere, welches zur Tugend mit hauptsächlich gehöret“, bekümmere, wird ausdrücklich als Irrtum bezeichnet, der daraus resultiere, daß man die Frage der Strafbarkeit, gemäß welcher „bloß das äusserliche Thun und Lassen der Menschen“, nicht aber ihre Gedanken bestraft würden, mit der Frage nach den Staatsaufgaben verwechsle: „Es ist aber gantz etwas anders, wenn man fraget, was in dem gemeinen Wesen zu bestraffen ist, und gantz was anders, wenn man fraget, zu was für Handlungen man die Menschen im gemeinen Wesen bringen soll.“ Auf diese Weise übernimmt die Staatsgewalt die Rolle eines paternalistischen obersten Tugendwächters bzw. eines „Agenten der Vervollkommnung“58, der in umfassender Weise reglementierend in den Alltag seiner Untertanen eingreift59 und der deshalb auch keine vom Vervollkommnungszweck unabhängige rechtliche Freiheit der Willkür anerkennt.60 Auf diese Ausweitung der Staatsaufgaben im Dienste der Vervollkommnung war der Vorwurf Kants gemünzt, dies sei der „größte denkbare Despotismus“.61
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So die treffende Formulierung von K.-G. Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff (wie Anm. 22), S. 192 ff. 59 Wolffs Zweifel an der Rationalität des Durchschnittsbürgers und an dessen Moralität bringen ihn dazu, die Durchsetzung religiöser Überzeugungen für eine Aufgabe zu halten, derer sich der Staat zur Sicherung der öffentlichen Ordnung in verstärktem Maße widmen muß. Aus der staatlichen Aufgabe, die Wohlfahrt der Gesellschaft zu befördern, leitet Wolff dementsprechend auch die aus der Sorge um Frömmigkeit und Religiosität (Jus naturæ VIII [wie Anm. 10], § 457 f.; Deutsche Politik [wie Anm. 49], § 366) erwachsenden religionspolitischen und kirchenrechtlichen Maßnahmen der Staatsgewalt ab. Z. B. folgt aus der sittlichkeitsbildenden Wirkung des Gottesdienstes die Pflicht der einzelnen Bürger zur Teilnahme am Gottesdienst, während andererseits der Herrscher verpflichtet ist, dafür zu sorgen, daß Gott verehrt wird, daß die kirchlichen Feiertage eingehalten werden und alle Untertanen an diesen Tagen am Gottesdienst teilnehmen (Jus naturæ VIII, § 471). 60 K.-G. Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff (wie Anm. 22), S. 198, der betont, daß „das [rechtlich, D.H.] Erlaubte keinen Restbereich der Individualfreiheit [...] [markiert], sondern den eigentlichen Bereich kreativer Staatstätigkeit [...]“; Frank Grunert, Absolutism(s). Necessary Ambivalences in the Political Theory of Christian Wolff, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 73,1 (2005), S. 141–152. 61 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, S. 290 f.: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt).“
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Fragt man nach den Gründen, die bei Wolff zu dieser deutlichen Moralisierung des Strafrechts geführt haben, so liegen sie darin, daß Wolff die in der neuzeitlichen Naturrechtslehre vorbereitete und dann insbesondere bei Thomasius und seiner Schule in Ansätzen durchgeführte Unterscheidung von Recht und Moral bzw. von erzwingbaren Rechtspflichten, die den eigentlichen Gegenstand des Naturrechts bilden, und den nicht erzwingbaren Tugendpflichten, die zur Ethik gehören, wieder rückgängig macht.62 Unter ‚Naturrecht‘, das innerhalb der Systematik der praktischen Philosophie deren theoretische Abteilung bildet (im Unterschied zu denjenigen Teilen, die ihre Anwendung thematisieren), versteht Wolff die „scientia actionum bonarum atque malarum“, d. h. diejenige Wissenschaft, die den Unterschied von guten und bösen Handlungen und demnach die pflichtmäßigen Handlungen lehrt.63 Der Bezugspunkt dieser Unterscheidung der moralischen Qualität von Handlungen ist selbstverständlich der Begriff der Vollkommenheit. Es liegt auf der Hand, daß Wolff wegen dieser − Ethik, Politik und Ökonomie umfassenden − theoretischen Grundlegungsfunktion seiner Naturrechtslehre kaum ein Interesse daran hat, den Gegenstands- bzw. Normierungsbereich des Naturrechts einzugrenzen. Zwar macht auch er, wie schon angeführt, von der Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten Gebrauch, aber diese Unterscheidung wird nicht zur Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Moral benutzt.64 Statt dessen behandelt Wolff unter dem Titel Naturrecht die Gesamtheit pflichtmäßiger Handlungen, also auch die Tugendpflichten.65 Und deshalb übernimmt Wolff auch nicht die Lehre des Thomasius, daß die staatliche Herrschaft auf den Regelungsbereich des jus strictum bzw. der Zwangspflichten eingeschränkt ist. Wenig überraschend ist deshalb Wolffs kritische Stellung zu den Bemühungen seiner Vorgänger, die Reichweite der staatlichen Strafgewalt zu bestimmen.
___________ 62 Vgl. hierzu Werner Frauendienst, Christian Wolff als Staatsdenker, Berlin 1927, S. 93, Gertlieb Gmach, Staat und Kirche bei Christian Wolff, jur. Diss. München 1975, S. 29 f., Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, Hildesheim / New York 1971, S. 319 f., die von dem diesbezüglichen wissenschaftlichen Rückschritt Wolffs sprechen. 63 Christian Wolff, Discursus præliminaris de philosophia in genere, in: ders., Philosophia rationalis sive Logica methodo scientifica pertractata, Pars I, Frankfurt a. M. / Leipzig 31740 (ND Hildesheim / New York 1972), § 68; ders., Ratio prælectionum Wolfianarum, Halle 1735 (ND Hildesheim / New York 1972), VI, § 1, PPU I, § 6. Vgl. hierzu M. Riedel, Moralität und Recht (wie Anm. 27), S. 237 f.; Gertrud Scholz, Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie, Diss. Köln 1972, S. 225. 64 W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik (wie Anm. 62), S. 320 f.; G. Scholz, Das Problem des Rechts (wie Anm. 63), S. 225. 65 Julius Ebbinghaus, Der Begriff des Rechts und die naturrechtliche Tradition, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hariolf Oberer / Georg Geismann, Bd. 1: Sittlichkeit und Recht, Bonn 1986, S. 346.
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Die von ihnen erreichte Einschränkung der Strafgewalt auf die Sanktion des Verbrechens im engeren Sinne (d. h. des Verbrechens als einer Verletzung des vollkommenen Rechts eines anderen) wird von Wolff wieder rückgängig gemacht. Man braucht in diesem Zusammenhang nur an die Hobbessche Strafrechtstheorie66 zu erinnern, in welcher die Bindung der Strafgewalt an den Verbrechensbegriff schon systematisch durchgeführt worden war. Im Leviathan hatte Hobbes deshalb strikt zwischen der Sünde (peccatum) und dem Verbrechen (crimen) unterschieden. Mit dem Begriff ‚peccatum‘ bezeichnet Hobbes alle Arten der Abweichung von einem Gesetz.67 Demgegenüber bezeichnet der Terminus ‚crimen‘ in Übereinstimmung mit dem Römischen Recht bloß solche Vergehen, die vor Gericht angeklagt werden können. Grundlage der Strafbarkeit von Handlungen ist „the Committing (by Deed, or Word) of that which the Law forbitteth, or the Omisssion of what it hath commanded“, d. h. der Verstoß gegen einen gesetzlich bestimmten Tatbestand und dem eine gesetzlich bestimmte Androhung von Strafe im Falle der Übertretung des Gesetzes entspricht. Die wichtigste Konsequenz aus dieser Hobbesschen Unterscheidung zwischen peccatum und crimen besteht aber darin, daß die Strafbarkeit einer Handlung nicht davon abhängt, ob sie den Normen des natürlichen Gesetzes widerspricht. Verstöße gegen das natürliche Gesetz sind deshalb für Hobbes zwar unmoralisch, aber nicht im engeren Sinne unrechtmäßig. Vielmehr erklärt Hobbes ausdrücklich, daß Sünden, d. h. Verstöße, die sich nur auf das natürliche Gesetz beziehen, vor einem irdischen Gerichtshof nicht klagbar sind; der einzige Ort, wo sie angeklagt werden ist vielmehr das eigene Gewissen von jedermann.68 Damit eine Handlung klag- bzw. strafbar ist, bedarf es eines positi-
___________ 66
Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Naturrecht und Strafgewalt. Die Begründung des Strafrechts in Hobbes’ Leviathan, in: Der lange Schatten des Leviathan. Vorträge des internationalen Arbeitsgesprächs „350 Jahre Leviathan“ an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel im Oktober 2001, hrsg. v. Dieter Hüning, Berlin 2005, S. 235–276. 67 Thomas Hobbes, Leviathan, ed. by Richard Tuck, Cambridge 1991, XXVII, p. 202: „Peccatum, which is Sinne, signifie all manner of deviation from the Law“. 68 T. Hobbes, Leviathan XXVII (wie Anm. 67), p. 202: „From this relation of Sinne to the Law, and of Crime to the Civill Law, may be inferred, First, that where Law ceaseth, Sinne ceaseth. But because the Law of Nature is eternall, Violation of Covenants, Ingratitude, Arrogance, and all Facts contrary to any Morall vertue, can never cease to be Sinne. Secondly, that the Civill Law ceasing, Crime cease: for there beeing no other Law remaining, but that of Nature, there is no place for Accusation; every man being his own Judge, and accused onely by his own Conscience, and cleared by the Uprightnesse of his own Intention. When therefore his Intention is Right, his fact is no Sinne: if otherwise, his fact is Sinne; but not Crime. Thirdly, That when the Soveraign Power ceaseth, Crime also ceaseth: for where there is no such Power, there is no protection to be had from the Law; and therefore every one may protect himself by his own power: for no man in the Institution of Soveraign Power can be supposed to give away the Right of preserving his own body“.
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ven Gesetzes, in welchem die Tatbestände ebenso wie die angedrohten Strafen deutlich bestimmt werden. Was die Lehre vom Strafzweck angeht, so hat Wolff in Übereinstimmung mit dem Großteil der neuzeitlichen Naturrechtslehrer in seinem Jus naturae das Strafprinzip der Wiedervergeltung abgelehnt.69 Wolff beruft sich in diesem Zusammenhang auf Grotius’ Grundsatz, daß keine Missetat ihrer Natur nach die Notwendigkeit ihrer Bestrafung nach sich ziehe: „malum in se tale non est, ut puniri debet“.70 Eine Bestrafung bloß aus Gründen der Vergeltung bzw. der Rache, d. h. ohne einen in der Zukunft liegenden Zweck, ist durch das natürliche Gesetz verboten. Mit der Ablehnung der Talion folgt Wolff dem von den wichtigsten Vertretern der neuzeitlichen Naturrechtslehre71 vorgezeichneten Weg: Der Zweck der Strafe liegt in der Zukunft, d. h. in der Verhinderung zukünftiger Verbrechen durch Androhung oder Vollstreckung von Strafen. Wolff erweist sich als Verfechter der sog. ‚negativen Generalprävention‘72: „Weil die Straffen, auch, wo es die Noth erfordert, am Leben der Verbrecher, vollzogen werden, damit jedermann den Ernst der Obrigkeit siehet, und dadurch eine Furcht erwecket wird; so geschehen sie nicht allein zur Besserung derer, die sie ausstehen, daß sie sich künfftig nicht mehr auf dergleichen Unthaten, als sie ausgeübet, betreten lassen, sondern hauptsächlich, ja die Lebens-Straffen einig und allein, zum Exempel anderer, daß sie sich daran spiegeln.“73
IV. Zurechnung und Determinismus Wolff liefert in seiner Philosophia practica universalis eine ausführliche Diskussion der Fragen der Verbindlichkeit, der moralischen Freiheit und des Zurechnungsproblems. Die entscheidende Innovation seiner Moralphilosophie ist nach Wolffs eigener Auffassung die Etablierung eines neuartigen Begriffs der (natürlichen) Verbindlichkeit, durch den er sich von der naturrechtlichen
___________ 69 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 640; ders., Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 1049. 70 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 642; vgl. auch ders., Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 1049; H. Grotius, De iure belli ac pacis (wie Anm. 7), II, § 20, § 1. 71 T. Hobbes, De cive (wie Anm. 13), III, 11; S. Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 5), VIII, 3, § 8; Christian Thomasius, Institutiones Jurisprudentiæ Divinæ Libri Tres, Halle 71720 (ND Aalen 1994), III, 7, § 37. 72 H.-M. Bachmann, Die Staatslehre Wolffs (wie Anm. 2), S. 223. 73 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 346; vgl. auch ders., Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 585: „Legibus tales ac tantæ addendæ sunt poenæ, quae ad cohibendam legum transgressionem quantum datur, sufficiunt“.
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Verbindlichkeitstheorie bei Pufendorf abzugrenzen versuchte.74 Der zentrale Aspekt dieses Verbindlichkeitsbegriffs ist die Ausblendung des Zwangs: Während Pufendorf die Verbindlichkeit einer Norm darauf zurückführt, daß ein überlegener Wille den Willen des Normadressaten zur Ausrichtung an einer aufgestellten Gesetzesnorm zwingt75, begreift Wolff die Verbindlichkeit ohne jeden Bezug auf eine übergeordnete normsetzende und sanktionierende Instanz: Er habe „erwiesen“, so erklärt Wolff, „daß die Handlungen der Menschen an sich nothwendig gut oder böse sind, keines Weges aber erst durch den Befehl oder das Verboth eines Oberen gut oder böse werden.“76 Das Ideal der praktischen Philosophie ist deshalb der Weise, der sich aufgrund seiner Erkenntnis des natürlichen Gesetzes und desjenigen, was von diesem geboten bzw. verboten ist, selbst zur Ausführung tugendhafter Handlungen und zur Unterlassung der moralisch schlechten Handlungen bestimmt. Moralität ist also für Wolff die Ausrichtung des eigenen Willens in Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz. In diesem Sinne erklärt Wolff in der Deutschen Ethik: „Weil wir durch die Vernunfft erkennen, was das Gesetze der Natur haben will; so braucht ein vernünftiger Mensch kein weiteres Gesetz [als das natürliche], sondern vermittels seiner Vernunft ist er ihm selbst ein Gesetz“.77 Der vernünftige Mensch, der ei-
___________ 74
Chr. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 27), Vorrede zur zweiten Auflage: „Ich habe einen allgemeinen Begriff von der Verbindlichkeit gegeben, dergleichen man bisher nicht gehabt, und, da er wie alle wahre und deutliche Begriffe fruchtbar ist, daß sich daraus alles herleiten lässet, was von der Verbindlichkeit erkandt werden mag, daraus erwiesen, daß in der Natur des Menschen und der Beschaffenheit der freyen Handlungen eine Verbindlichkeit gegründet sey, welche ich die natürliche nenne, und die auch derjenige erkennen muß, welcher entweder GOTT nicht erkennet, was er für ein Wesen ist, oder wohl gar leugnet, daß ein GOTT sey“; siehe auch ders., Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, Frankfurt a. M. 21733 (ND Hildesheim / New York 1996), § 137. 75 Vgl. hierzu die komprimierte Lehre von der Verbindlichkeit des natürlichen Gesetzes im zweiten Kapitel von Pufendorfs Naturrechtskompendium: Samuel Pufendorf, De officio [hominis et civis juxta legem naturalem libri duo], hrsg. v. Gerald Hartung (Samuel Pufendorf, Gesammelte Werke 2, hrsg. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann), Berlin 1997, cap. II: „De norma actionum humanarum, seu de lege in genere“. 76 Chr. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 27), Vorrede zur zweiten Auflage. 77 Chr. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 27), § 24; ebd., § 38: „Da ein vernünftiger Mensch ihm selbst ein Gesetz ist und ausser der natürlichen Verbindlichkeit keine andere brauchet (§ 24); so sind auch weder Belohnungen, noch Straffen bey ihm BewegungsGründe zu guten Handlungen, und zu Vermeidung der bösen (§ 36). Und vollbringet dannenhero ein Vernünftiger das Gute, weil es gut ist, und unterlässet das Böse, weil es böse ist: in welchem Falle er GOtt ähnlich wird, als der keinen Oberen hat, der ihn verbinden kan das Gute zu thun, und das Böse zu lassen (Met. § 947); sondern bloß jenes thut, dieses unterlässet durch die Vollkommenheit seiner Natur (Met. § 981)“; ders., Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, § 268: „Homo ratione valens & utens sibimetipsi lex est“.
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nen angemessenen Begriff des natürlichen Gesetzes und seiner Verbindlichkeiten hat, bedarf deshalb in keiner Weise der handlungsmotivierenden Androhung der Strafe, noch wird er überhaupt ein Motiv haben, dieses Gesetz zu übertreten. Wolff gründet somit seine Moralphilosophie zwar nicht auf den Gedanken der Autonomie im Kantischen Sinne (d. h. auf die Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft), aber doch auf denjenigen der Selbstbindung an das natürliche Gesetz. Wie verhalten sich nun diese ethische Theorie der Verbindlichkeit und die mit der moralphilosophischen Grundlegung der philosophia practica universalis verknüpften Grundsätze mit der Wolffschen Strafrechtslehre? Die Antwort auf diese Frage könnte eigentlich nur im Rahmen einer ausführlichen Erörterung der Systematik der praktischen Philosophie Wolffs erfolgen. An dieser Stelle möchte ich mich jedoch mit einigen wenigen Bemerkungen begnügen. Da Wolff erklärtermaßen gegen die bei Pufendorf und Thomasius zu findende Zurückdrängung der Moralphilosophie zugunsten einer eigenständigen Rechtslehre opponiert, werden die zaghaften Versuche zur Unterscheidung von Moralund Rechtslehre von ihm ignoriert. Wolffs praktische Philosophie erweist sich als eine Ethik (d. h. eine Tugendlehre), in welcher die verschiedenen Klassen der Pflichten, darunter eben auch die Rechtspflichten, abgehandelt werden. Der Gesamtheit dieser Pflichtenlehre, zu der neben der Ethik im engeren Sinne (philosophia moralis) auch die Naturrechtslehre und die Ökonomie gehören, liegt die philosophia practica universalis zugrunde. Das Gemeinsame aller Pflichten ist der moralische Verbindlichkeits- und Befolgungsmodus, d. h. das Prinzip der vernünftigen Selbstbindung an das Gesetz. In Wolffs praktischer Philosophie ist deshalb für eine Theorie einer spezifisch rechtlichen Verbindlichkeit kein Platz. Aus diesem Grunde wird auch der Zwangscharakter des Rechts nicht moralphilosophisch begründet, sondern als Surrogat für diejenigen, die es an moralischer Selbstbestimmung fehlen lassen, eingeführt: Wo es auf seiten des Individuums an moralischer Einsicht fehlt, kann der Zwang an die Stelle der vernünftigen Einsicht treten. Das bedeutet aber keineswegs, daß es eine von der moralphilosophischen Begründung der Verbindlichkeit unabhängige oder unterscheidbare Theorie der Zwangspflichten gäbe. Daß Zwang moralisch möglich ist, wird von Wolff vielmehr ohne weiteres vorausgesetzt. Somit beruht auch die Verbindlichkeit der Rechtsnormen bei Wolff auf dem in der Philosophia practica universalis entwickelten Begriff der moralischen (bzw. natürlichen) Verbindlichkeit. An sich, nämlich mit Bezug auf die Erklärung ihrer Verbindlichkeit, ist den Rechtspflichten das Zwangsmoment äußerlich. Daß es notwendig ist, Zwang anzuwenden, hängt nur von den moralischen Defiziten des Individuums ab.
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Dies wird an Wolffs Ausführungen zum Verhältnis von Strafbarkeit und Zurechnung deutlich. Zunächst bezieht sich das Strafrecht offenbar auf das Handeln von Menschen, die solcher moralischer Selbstbestimmung nicht fähig sind. Aufgrund seiner pessimistischen Einschätzung der moralischen Möglichkeiten der menschlichen Natur, nach welcher der Durchschnittsmensch sich im Zustand der Sklaverei der Sinne befindet78, wird in Wolffs Politik und Staatslehre die autonome Begründung der Verbindlichkeit, nach welcher die Einsicht des einzelnen in die moralische Güte bzw. Schlechtigkeit der Handlungen zum Bestimmungsgrund des Willens wird, relativiert zugunsten der staatlichen Zwangsgesetzgebung. Obwohl also die Pflichten der Menschen begründungstheoretisch insgesamt auf einer natürlichen Verbindlichkeit beruhen, ist dieselbe als solche für die Praxis „nicht hinlänglich“, um die Menschen zur Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten: „so muß daher noch eine neue Verbindlichkeit im gemeinen Wesen dazu kommen, die da durchdringet, wo die natürliche unkräfftig erfunden wird. Es kan aber diese Verbindlichkeit auf zweyerley Weise bewerckstelliget werden, theils wenn man auf die Ubertretung dessen, was man geordnet, Straffen setzet, oder auch mit desselben Erfüllung Belohnungen verknüpffet, theils wenn man sie mit äusserlichem Zwange (welcher die Hülffe genennet wird) bedrohet, woferne sie sich nicht gutwillig bequemen wollen. Nehmlich sowohl die Furcht für der Straffe und Hoffnung der Belohnung, als auch die Furcht vor der Hülffe ist ein Bewegungs-Grund zu thun, was befohlen wird (§ 496 Met.) und solchergestalt werden wir dadurch solches zu thun verbunden (§ 8 Mor.).“79
___________ 78
Chr. Wolff, Deutsche Metaphysik (wie Anm. 30), § 491; ders., Deutsche Ethik (wie Anm. 27), §§ 180 ff. Josef Schmucker (Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan 1961, S. 41) spricht in diesem Zusammenhang davon, daß bei Wolff „die Erfahrung der tatsächlichen sittlichen Beschaffenheit des Menschen den Sieg über die Konsequenzen der metaphysischen Theorie davongetragen“ hat. 79 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 341. Vgl. auch ders., Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 832 Anm., wo Wolff erklärt, daß durch die Gesetzgebung nichts anderes bewirkt werde, als durch die Furcht vor Strafe diejenigen zum Gehorsam zu verpflichten, „qui sua sponte obligationi suæ satisfacere nolunt“. – Zum Problem der Unzulänglichkeit der bloß natürlichen Verbindlichkeit und zur Notwendigkeit positiver Gesetze vgl. auch ders., Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 401: „Von den bürgerlichen Gesetzen: Nothwendigkeit der bürgerlichen Gesetze. Es sind zwar alle Handlungen der Menschen durch das natürliche Gesetze determiniret, ob sie gut oder böse sind und ist eben dieses Gesetze das allervollständigste, so daß es nichts übrig lässet, welches erst durch andere Gesetze dörffte determiniret werden, ob es gut oder böse sey (Moral § 27). Und dennoch sollte man meinen, man könne mit dem natürlichen Gesetz allein auskommen und habe kein anderes weiter von nöthen. Allein es finden sich doch allerhand Ursachen, warumb man im gemeinen Wesen auch noch andere Gesetze gebrauchen muß, welche man die bürgerlichen zu nennen pfleget, weil sie im bürgerlichen Leben nöthig sind. Nemlich anfangs ist schon oben (§ 341) angemercket worden, daß die na-
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Diese Zwangsgesetzgebung betrifft die Unvernünftigen, die nur durch den Zwang des positiven Rechts gelenkt werden können. Während die natürliche Verbindlichkeit für den vernünftigen Menschen ein zureichendes Motiv des gerechten Handelns bildet, bedarf der Unvernünftige, wenn er in Übereinstimmung mit dem natürlichen Gesetz leben soll, einer anderen Handlungsmotivation: Bei dem unvernünftigen Menschen sind „die Belohnungen und Straffen Bewegungs-Gründe die guten Handlungen zu vollbringen, und die bösen zu unterlassen (§ 36). Und dannenhero vollbringet ein Unvernünftiger das Gute, und unterlässet das Böse aus Furcht für der Straffe, und in Ansehung der Belohnung: worinnen sie den Kindern gleich sind, die durch Straffen und Belohnungen zum guten angetrieben und von dem Bösen abgehalten werden, weil sie aus Mangel der Vernunft der natürlichen Verbindlichkeit keinen Platz einräumen. Ja Kinder und sie sind mit einander dem unvernünftigen Viehe gleich, welche bloß durch Schläge dazu gebracht werden, wozu sie sonst nicht zu bringen sind.“80
Nur am Rande sei bemerkt, daß es sich bei dieser Unterscheidung zwischen der Selbstgesetzgebung des Weisen einerseits, der aufgrund seiner Einsicht das natürliche Gesetz zur Richtschnur seines Handelns macht, ohne durch die
___________ türliche Verbindlichkeit nicht hinlänglich ist die Menschen zur Erfüllung des Gesetzes der Natur zu bringen und man dannenhero im gemeinen Wesen noch eine neue Verbindlichkeit einführen müßte, die da durchdringet, wo die natürliche unkräfftig gefunden wird. Die Natur verbindet uns durch dasjenige, was aus unseren Handlungen veränderliches für uns und unseren Zustand erfolget (Moral § 9). Da nun dieses durch die Vernunfft beurtheilet werden muß (Moral § 23), nicht aber jedermann den Grad der Vernunfft besitzet, welcher zu dieser Beurtheilung erfordert wird, absonderlich wo es sich nicht deutlich zeiget, daß etwas aus diesen, oder jenen Handlungen entsprungen, absonderlich da die Natur öffters nach langen Zeiten sich erst zeiget, was durch eine Handlung angestifftet worden; so kan auch nicht jedermann durch die natürliche Verbindlichkeit zu Beobachtung seiner Pflichten gebracht werden. Wenn man nun im gemeinen Wesen durch eine besondere Art die Unterthanen zu dem verbindet, was das Gesetze der Natur erfordert; so wird das natürliche Gesetze zu einem bürgerlichen Gesetze (Moral §§ 17 f.). Unterweilen geschiehet es, daß das Gesetze der Natur sich nicht genau beobachten lässet, weil es dadurch zu vielem Streite und Uneinigkeit würde Anlaß geben, nachdem man im gemeinen Wesen verbunden ist einem jeden, dem Unrecht geschiehet, Recht zu verschaffen (Politik, §§ 330, 400). Derowegen ist nöthig an stat des natürlichen Gesetzes ein anderes zu geben, dabey zwar unterweilen einiges Unrecht erduldet, jedoch aber dadurch zugleich mehrerem Unheile vorgebeuget wird. [...] Und also haben wir bürgerliche Gesetze nöthig, die in einigen Fällen von den natürlichen abweichen. Man findet ferner, daß unterweilen die natürlichen Gesetze einerley Handlung nach den gar verschiedenen Fällen, die sich dabey ereignen können, auf gantz verschiedene Weise determiniren. Wenn nun wiederumb im gemeinen Wesen daher viele unvermeidliche Weitläuffigkeiten aus vorhin angegebenen Ursachen entstehen: so muß man sie entweder überhaupt auf einerley Art determiniren, oder doch auf wenigere Fälle bringen. Und solchergestalt bekommen wir abermahl bürgerliche Gesetze, die von dem natürlichen unterweilen abweichen“. 80 Chr. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 27), § 39.
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Furcht vor Strafe dazu motiviert zu werden, und der Zwangsgesetzgebung für den unvernünftigen Großteil der Menschheit andererseits um eine alte, schon bei Aristoteles, genauer gesagt im Schlußkapitel der Nikomachischen Ethik, zu findende Vorstellung handelt, die zugleich eine der Grundpositionen der stoischen Ethik bildete.81 Im Hinblick auf die psychologische Wirkung der Strafandrohung und des Strafvollzugs auf die Strafe ist es notwendig, einige Bemerkungen zu Wolffs Theorie der Motivation zu machen. Wolff selbst hebt hervor, daß seine Lehre vom Strafzweck der Abschreckung im engen Zusammenhang mit seiner empirischen Psychologie und der dort formulierten Handlungs- und Motivationstheorie steht. Durch die Androhung von Strafen bzw. durch die mit ihnen verbundenen Strafübel soll motivierend auf das Gemüt des Täters Einfluß genommen werden82 – Wolff selbst gebraucht in diesem Zusammenhang die Formulierung ‚animum mutare‘.83 Da der Mensch zu einer Handlung durch die Vorstellung des mit ihr verbundenen Gutes motiviert wird, geht es bei der Strafandrohung darum, in dem Willen des Verbrechers ein psychologisches Gegengewicht gegen die Vorstellung des Gutes, die er mit seiner Tat verknüpft, zu schaffen.84 Wie schon Hobbes85, Bayle86 und Leibniz87 ist auch Wolff der Auffassung, daß es möglich sei, sich die Wirkungsweise der Motivation auf die Willensent-
___________ Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. v. Günther Bien, Hamburg 41985, X, 10: „Denn die Menge läßt sich ihrer Natur gemäß nicht durch sittliche Scheu, sondern durch Furcht bestimmen und enthält sich des Schlechten, nicht weil es schimpflich ist, sondern weil darauf Strafe steht. [...] Denn in der Mehrzahl fügen sich die Menschen mehr dem Zwang als dem Wort und mehr der Strafe als dem Gebot der Pflicht“. 82 Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, § 287: „Pœnæ sunt motiva actionum committendarum ad ommittendum“; ders., Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 585: „Legibus tales ac tantæ addenda sunt pœnæ, quæ ad cohibendam legum transgressionem, quantum datur, sufficiunt“. 83 Chr. Wolff, Jus naturæ I (wie Anm. 7), § 1062; vgl. R. Frank, Die Wolff’sche Strafrechtsphilosophie (wie Anm. 2), S. 34. 84 Chr. Wolff, Deutsche Ethik (wie Anm. 27), § 36: „Das Übel, so der Gesetzgeber mit einer Handlung verknüpffet, als einen Bewegungsgrund sie zu unterlassen, heisset Strafe.“ 85 T. Hobbes, De cive (wie Anm. 13), XIII, 16. 86 Pierre Bayle, Response aux questions d’un provençal, in: ders., Oeuvres diverses, Tome troisième, seconde partie, Den Haag 1727 (ND ed. par Elisabeth Labrousse, Hildesheim 1966), p. 782–785: „La liberté comparée à une balance“. 87 Gottfried Wilhelm Leibniz, Fünftes Schreiben an Clarke, § 3, in: ders., Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhard, Bd. 7, Berlin 1890 (ND Hildesheim 1965), S. 389: „Il est vray que les Raisons font dans l’esprit du sage, et les Motifs dans quelque esprit que ce soit, ce qui répond à l’effect que les poids font dans une balance. On objecte, que cette motion mene à la necessité et à la fatalité.“ 81
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scheidungen in Analogie zur Funktionsweise der Waage vorzustellen. Allgemein dient dieses, bis weit in das 18. Jahrhundert beliebte Gleichnis88 zur Illustrierung der These von der Bestimmung des Willens durch den Willensinhalt und darüber hinaus im besonderen zur Verdeutlichung der Geltung des Satzes vom zureichenden Grund bezüglich der Willensentscheidungen89: So wie die Waage nur nach der einen oder anderen Seite ausschlagen kann, wenn ein entsprechendes Gewicht vorhanden ist, das den Ausschlag gibt, so kann sich auch der Wille als eine „Neigung des Gemütes gegen eine Sache um des Guten willen, das wir bei ihr wahrzunehmen vermeinen“90, nur nach der einen oder anderen Seite neigen, wenn ein entsprechender Beweggrund vorliegt: „[...] Nehmlich [...] wenn wir wollen; so wird unser Gemüthe gegen die Sache geneiget: wenn wir nicht wollen, wird sie von ihr zurücke gezogen: wenn wir das Wollen unterlassen; so bleibet es gleichsam aufgerichtet und unbeweglich, daß es weder gegen die Sache geneiget, noch von ihr zurücke gezogen wird. Man kan es durch das Gleichniß von einer Wage erläutern. Wenn das Zünglein inne stehet; so ist es derjenige Zustand, welcher dem Zustande des Gemüthes gleichet, da wir weder wollen, noch nicht wollen. Giebet die Wage einen Ausschlag auf eine Seite, und das Zünglein neiget sich herüber; so ist es eben so, als wenn wir etwas wollen. Hingegen von der andern Seite, davon sich das Zünglein wegwendet, wird der Zustand vorgestellet, da wir nicht wollen. Und hiervon hat man die Redens-Arten genommen, wenn man von dem Willen redet.“91
Das Problematische an der Verwendung dieses Gleichnisses besteht darin, daß Wolff hierdurch in eine– in den Augen seiner Zeitgenossen – gefährliche Nähe zu deterministischen Positionen gerät. Denn in der Tat impliziert das Gleichnis die Vorstellung, daß die Motive (bzw. das stärkste Motiv, das die Entscheidung des Willens letztlich bestimmt bzw. die Überlegung abschließt92) in Analogie zur Mechanik der Waage als Realgründe, d. h. als Ursachen der
___________ 88
Es findet sich auch noch bei Johann David Michaelis, Mosaisches Recht, Sechster Theil, Frankfurt a. M. 1775, S. 64 f. 89 Zur Kritik am Gleichnis der Waage und Wolffs deterministischer Psychologie vgl. Andreas Dorschel, Die idealistische Kritik des Willens. Versuch über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel, Hamburg 1992 (Schriften zur Transzendentalphilosophie 10), S. 86, 96 f. 90 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, zu besserem Verstande und bequemeren Gebrauch desselben, Frankfurt a. M. / Leipzig 1751 (ND Hildesheim / New York 1997), § 492. 91 Ebd., § 494. 92 Das Prinzip des stärksten Motivs bildet ein Konstituens der späteren deterministischen Willenslehre, vgl. hierzu Paul Thiery d’Holbach, Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral (1770), ed. par Yvon Belaval, Hildesheim 1966, tome I, p. 230: Die Handlungen sind „des effets du motif qui se trouvera le plus puissant et qui agira le plus fortement sur la volonté“.
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Willensentscheidung gedacht werden. Deshalb legt dieses Gleichnis, ähnlich wie dasjenige von Buridans Esel, eine deterministische Theorie des Willens nahe, so daß die Inhalte des Willens (die Motive) als durch das Objekt verursachte Neigungen desselben behandelt werden.93 Der vorgebliche Determinismus der Wolffschen Willenstheorie, der zu einer ‚mechanischen Moral‘ führe, bildete bekanntlich einen der zentralen Streitpunkte Wolffs mit den Halleschen Theologen. Der Gebrauch von Gleichnissen und Beispielen aus der Mechanik, wie demjenigen der Waage, zur Erklärung psy-
___________ 93 Chr. Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen (wie Anm. 90), § 509: „So lange die Gewichte in beyden Wage-Schaalen gleich sind; so stehet die Wage inne, und kan auf keine Seite einen Ausschlag geben. Soll der Ausschlag erfolgen; so muß dem Gewichte auf der einen Seite etwas zugeleget werden. Die Wage stellet in diesem Gleichnisse die Seele vor, und die Gewichte sind auf die Bewegungs-Gründe zu deuten.“ – Im darauffolgenden Paragraphen § 510 behandelt Wolff selbst den Einwand, daß das Gleichnis der Waage die Determination des Willens durch die Motive voraussetze und deshalb mit der Annahme der Willensfreiheit unvereinbar ist: „Ich weiß wohl, daß einige in den Gedancken stehen, als wenn das Gleichniß von der Wage sich auf den Willen nicht schickte. Denn die Wage bewege sich nothwendig; hingegen die Seele sey im Wollen und nicht Wollen frey. Derowegen lasse sich nicht von dem nothwendigen auf das freye schliessen. Allein lieber! Wer schliesset von dem nothwendigen auf das freye? Wer sich dies einbildet, der verstehet das Gleichniß nicht. Die Vergleichung des Ausschlages der Wage mit dem Willen gehet nicht weiter, als in soweit sowohl jener als dieser einen zureichenden Grund haben muß (§. 30). Nehmlich so lange die beyden Gewichte gleich sind, wäre kein Grund vorhanden, warum die Wage vielmehr zur Rechten, als zur Linken einen Ausschlag geben solte. Und gleichergestalt verhält sichs mit dem Willen. So lange von beyden Theilen die Bewegungs-Gründe gleichgewichtig sind, wäre kein Grund vorhanden, warum man vielmehr das eine, als das andere erwehlete. Wie nun vermöge des zureichenden Grundes kein Ausschlag bey der Wage erfolgen kan, woferne nicht das eine Gewicht durch eine Zulage verstärcket wird; so kan auch von der Seele keines von beyden gewehlet werden, woferne nicht zu den bereits vorhandenen Bewegungs-Gründen von einer Seite noch etwas hinzu kommet. So weit gehet die Vergleichung, und bekümmert man sich wenig, ob bey der Wage der Ausschlag eine Nothwendigkeit hat: hingegen bey der Seele die Bewegungs-Gründe sie nicht nöthigen. Denn es ist nicht die Frage, ob die Bewegungs-Gründe ein Zwang sind, sondern ob einer von ihnen stärcker ist als der andere. Es schicket sich aber das Gleichniß von der Wage deswegen sehr wohl hieher, weil der Wille oben erkläret worden durch eine Neigung gegen die Sache vermöge des Guten, das wir in ihr wahrnehmen (§. 492). Denn diese Redens-Art ist genommen von einem Cörper, der durch eine Kraft von der senckrechten Linie gegen die Horizontal-Linie auf der einen Seite geneiget wird: welches auch bey dem Ausschlage der Wage geschiehet, wie bereits oben (§. 494) umständlich gezeiget worden. Unerachtet nun freylich dieses Wort eine besondere Bedeutung haben muß, wenn es von der Seele gebrauchet wird, weil die Begriffe der cörperlichen Dinge sich vor sie nicht reimen; so hebet doch dieses nicht die Aehnlichkeit auf zwischen demjenigen, was in der Seele zu finden, und dem cörperlichen, als welche der Grund der Benennung ist. Worinnen aber die Neigung der Seele bestehe, kan alsdenn erst gezeiget werden, wenn ich die Natur der Seele werde erkläret haben.“
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chologischer Sachverhalte, hatte diesem Vorwurf beträchtlich Vorschub geleistet. Dennoch würde man zu kurz greifen, wenn man annähme, Wolff hätte seine Position zu dieser Frage bloß unglücklich formuliert. Die systematischen Probleme seiner Willenslehre liegen tiefer: Ähnlich wie Leibniz laboriert Wolff an dem Problem, daß die aus metaphysischen bzw. kosmologischen Gründen vertretene Annahme der durchgängigen Geltung des Satzes vom Grunde mit der aus Gründen der Aufrechterhaltung der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit des handelnden Subjekts erforderliche Annahme der Willensfreiheit kollidiert, ohne daß Wolff über die begrifflichen Mittel verfügt, diese Schwierigkeit seiner Metaphysik aufzulösen. Der von Leibniz übernommene Lösungsversuch, zwischen der absoluten und der hypothetischen Notwendigkeit zu unterscheiden, wobei die letztere im Unterschied zur absoluten bzw. metaphysischen Notwendigkeit „incline sans necessiter, c’est à dire, sans imposer une necessité absolue“94, reproduziert in Wahrheit nur das Problem. Es ist hier nicht der Ort, um der Berechtigung des Determinismus-Vorwurfs gegen Wolff nachzugehen.95 Es ist aber nicht zu übersehen, daß Wolff selbst im Rahmen seiner Strafrechtslehre zu weitgehenden Zugeständnissen an den Determinismus bereit ist, sodaß Wolff seinen Gegnern selbst das Material ihrer Einwände liefert. Wolff war zu solchen – in den Augen seiner Gegner verräterischen und desaströsen – Zugeständnissen bereit, weil er darauf verzichtete, seine Strafrechtstheorie mit dem von ihm selbst in der Philosophia practica universalis entwickelten Begriff der imputatio moralis96 zu verknüpfen. Sowohl die
___________ 94 Gottfried Wilhelm Leibniz, 5. Schreiben an Clarke, § 8, in: ders., Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1880 (ND Hildesheim 1965), S. 390. 95 Vgl. hierzu Kurt Schröder, Das Freiheitsproblem bei Leibniz und in der Geschichte des Wolffianismus, phil. Diss. Halle 1938; Bruno Bianco, Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff, in: Zentren der Aufklärung, hrsg. v. Norbert Hinske, Bd. 1: Halle, Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 15), S. 111–155. Zur Vorherrschaft deterministischer Willenslehren in der Strafrechtsbegründung des 18. Jahrhunderts vgl. demnächst Dieter Hüning, Die Debatte um das Verhältnis von Willensfreiheit und Strafrecht in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, hrsg. von B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Bd. 16 (2008). 96 Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, §§ 528 ff. Im Unterschied zur imputatio physica, die nur in Betracht zieht, ob jemand aufgrund seiner Handlung überhaupt als Verursacher eines Ereignisses anzusehen ist (sie betrachtet den Handelnden bloß insofern er „sit causa libera ejus, quod ex actione ipsius sequitur“), stellt die imputatio moralis auf das schuldhafte Verhältnis der Handlung zu einem Gesetz ab: „Imputatio moralis est, qua actiones agenti imputantur, quatenus ex iis sequitur quidpiam, quod agenti vel aliis bonum aut malum, ob earum cum lege convenientiam vel disconvenientiam“ (Chr. Wolff, Philosophia practica universalis [wie Anm. 16], I, § 642). Die Voraussetzung für die Schuldfähigkeit des Täters ist selbstverständlich die
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Bestimmung der (juridischen) Strafbarkeit von Verbrechen als auch die Lehre vom Strafzweck der Abschreckung werden von Wolff von der moralphilosophischen Frage der Willensfreiheit und der moralischen Imputation völlig abgetrennt, womit offenbar zugleich das Problem der Begründung der Strafe entschärft werden soll: Strafe ist, jenseits der Entscheidung der Frage der Willensfreiheit, zulässig und vernünftig. Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen über die imputatio moralis betont Wolff zwar, daß dem Menschen nur die willentlichen Handlungen, d. h. diejenigen „actiones liberæ“, die im Unterschied zu den actiones necessariæ aus dem Willen hervorgehen, zugerechnet werden können.97 Aber er weigert sich, aus diesem Begriff der moralischen Imputation „Schlüsse auf die strafrechtliche Bewertung menschlichen Tuns“ zu ziehen98, weil er überhaupt (wie schon gezeigt) die Schwere eines Delikts nach seiner Sozialschädlichkeit, nicht aber nach der Schwere der Schuld bemessen will. Der „Grund der Straffe“ ist nicht die subjektive Verschuldung und die damit verknüpfte „Freyheit der Handlungen, sondern ihre Schädlichkeit im gemeinen Wesen“.99 Dementsprechend erklärt Wolff, daß Handlungen auch dann bestraft werden könnten bzw. daß Strafen auch dann stattfinden könnten, wenn die Handlungen insgesamt notwendig wären, und deshalb, „wie einige Gelehrte vorgeben, [...] alle unsere Handlungen keine wahre Freyheit hätten“.100 Denn auch Tiere, denen die Freiheit der Handlungen fehlt, könnten gestraft werden.101 Deshalb kann die Frage nach der „jus-
___________ Freiheit des Willens, während diese für die imputatio physica unerheblich ist. − Zur äußerst verwickelten Geschichte des Zurechnungsbegriffs in der neuzeitlichen Naturrechtslehre und in der Strafrechtstheorie seit Pufendorf siehe die detaillierten Studien von Joachim Hruschka, Ordentliche und außerordentliche Zurechnung bei Pufendorf. Zur Geschichte und zur Bedeutung der Differenz von actio libera in se und actio libera in sua causa, in: ZStW 96 (1984), S. 661–702; ders., Zurechnung und Notstand. Begriffsanalysen von Pufendorf bis Darjes, in: Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philosophie vom 16. bis 18. Jahrhundert, hrsg. v. Jan Schröder, Stuttgart 1998, S. 163–176; ders., Zur Interpretation von Pufendorfs Zurechnungs- und Notstandslehre in der Rechtslehre der Aufklärung, in: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. v. Manfred Beetz / Giuseppe Cacciatore, Köln / Wien / Weimar 2000, S. 181–195. 97 Chr. Wolff, Philosophia practica universalis (wie Anm. 16), I, §§ 528–530. 98 G. Boldt, Böhmer und die gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft (wie Anm. 2), S. 155. Boldt ist – soweit ich sehe – der einzige Interpret, der den Umstand, daß Wolff die Relevanz der Zurechnungslehre auf die Ethik im engeren Sinne einschränkt, bemerkt hat. 99 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 360; ebenso ders., Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 714: „Poenis in civitate esset locus, etiamsi homo in agendo tantummodo apparet, non vero esset liber.“ 100 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 360.
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titia poenarum civilium“ und ebenso diejenige nach der Strafbarkeit unabhängig von solchen spezifisch moralphilosophischen Aspekten der Willensfreiheit, der moralischen Zurechnung bzw. der subjektiven Verschuldung beantwortet werden, − eine Behauptung, zu deren Unterstreichung sich Wolff ausdrücklich auf die Verfechter deterministischer Willenstheorien beruft.102 Diese Unabhängigkeit der Strafbarkeit von dem Problem der Willensfreiheit und der moralischen Zurechnung gilt − wie Wolff an anderer Stelle betont − jedoch nur „von bürgerlichen Gesetze, Straffen und Belohnungen im gemeinen Wesen [also nicht auch vom natürlichen Gesetz, D. H.] [...], wodurch bloß eine bürgerliche Zucht, aber keine wahre Tugend erhalten wird“. Gerade weil das Recht auf der Androhung von Zwang beruht, die Vorstellung des Zwangs bzw. der Zufügung von Übeln als Motiv auf den Willen der Bösen wirken soll, ist es
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Dies war z. B. die Auffassung von Hobbes, der behauptet hatte, daß die Strafe unabhängig davon, ob die Handlungen des Verbrechers determiniert waren, verhängt werden könne. Ebenso wie Tiere getötet werden können, „when we do it in order to our own preservation“, so könne man auch rechtmäßig Verbrecher wegen der Schädlichkeit ihrer Handlungen bestrafen (siehe Thomas Hobbes, Of Liberty and Necessity, in: ders., The English Works, ed. by William Molesworth, vol. IV, London 1840, pp. 252 f.; ähnlich argumentierte Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique, tome troisième, Rotterdam 1740, Art. ‚Rorarius‘, Anm. F: Une difference specifique entre l’ame humaine & celle des bêtes, pp. 2604–2606). – Es war demnach nur völlig konsequent, daß Karl Ferdinand Hommel auf der Grundlage einer empirischen Psychologie, die gleichfalls mit dem Gleichnis der Waage operierte, eine rein deterministische Straftheorie entwickelte, siehe Karl Ferdinand Hommel, Über Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen, hrsg. v. Heinz Holzhauer (ND der 2. Auflage von 1772), München 1970, bes. S. 98 ff. Erst spätere Strafrechtstheoretiker werden deutlich zwischen Strafe und bloß ‚thierischer Züchtigung‘ unterscheiden, vgl. Ernst Ferdinand Klein, Ueber die Schätzung des Menschen und seiner Handlungen in politischer, moralischer und rechtlicher Hinsicht, als Einleitung in die Lehre von der rechtlichen Zurechnung, in: Archiv des Criminalrechts. Vierten Bandes viertes Stück, Halle 1802, S. 36 f.: „Ich unterscheide nämlich thierische Züchtigung von der menschlichen Strafe, obgleich auch die erstere nicht selten beim Menschen angebracht werden muß. Bei der thierischen Züchtigung lasse ich die Würdigkeit des Subjects ganz dahin gestellt seyn; es ist dabei nicht die Frage, was der Gezüchtigte verdient hat, sondern was der Züchtigende thun muß, um den Gezüchtigten dahin zu bringen, daß er von einem gewissen Vorsatze ablasse. [...] Selbst den Rasenden züchtigen wir, um ihn von äußerlichen Handlungen, die ihm schädlich werden könnten, abzuhalten, ob wir ihn gleich nicht für strafbar halten. Wir strafen nur den, welchen wir als Menschen ehren [...].“ S. 38: „[...] ich will nur, daß man diese Handlungsweise [diese ‚thierische Züchtigung‘] nicht mit der eigentlichen Strafe verwechseln soll.“ 102 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 714 Anm. Wolff erklärt dort, daß schon Hobbes, dieser schreckliche „materialismi instaurator & libertatis in agendo destructor“ (und ebenso Spinoza) dennoch mit Recht die Schlußfolgerung zurückgewiesen hätte, daß die Leugnung der Willensfreiheit das Strafrecht aufheben und alle staatlichen Strafen ungerecht machen würde. Diese Schlußfolgerung sei deshalb falsch, weil die „metus pœnæ“ auch dann, wenn es keine Freiheit des Willens gäbe, als Motiv die Handlungsweise der Menschen wirkungsvoll bestimmen würde.
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in bezug auf die bürgerlichen Gesetze nicht notwendig, die Willensfreiheit vorauszusetzen, denn „was man bloß durch den Zwang äusserlicher Straffen thut, das thut man wieder seinen freien Willen, und hat hierinnen nichts voraus vor einem Viehe, das dort hinaus will, aber durch die Schläge oder Bedrohungen dahinaus gelencket wird.“103
Das Strafübel soll also als Gegengewicht zu den rechtswidrigen Beweggründen, durch die der Täter bestimmt wird, als Motiv zur Unterlassung des Verbrechens fungieren. In dieser psychologischen Einwirkung auf den Willen des Täters durch Androhung und Zufügung eines Strafübels, „ex quo tædium seu molestiam percipit“, sieht Wolff das allgemeine Prinzip der Strafen.104 Die Beantwortung der Frage nach dem Strafmaß, das ausreicht, um die „libido peccandi“105 des Täters in Schach zu halten, fällt auf diese Weise schließlich ganz in die psychologischen Betrachtungen bzw. in die sog. ‚Criminalpsychologie‘ und wird von den dort thematisierten psychologischen Abschreckungseffekten der Strafandrohung bzw. des Strafvollzugs bearbeitet.106
___________ 103 Christian Wolff, Nöthige Zugabe zu den Anmerckungen über Herrn D. Buddens Bedencken von der Wolffischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1724 (ND Hildesheim / New York 1980), § 17 (S. 57 f.). − In der einschlägigen Studie von Heinz Schärtl, Die Zurechnungslehre Christian Wolffs, Diss. jur. München 1970, sucht man vergeblich nach Aufklärung über das Verhältnis 1.) der Willensfreiheit und der Strafbarkeit und 2.) der moralischen und der juridischen Zurechnung. Ebensowenig wird Wolffs weitgehendes Zugeständnis an den Determinismus problematisiert. Schärtl (S. 6) spricht nur davon, daß Wolff die „Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit der Freiheit [...] in seiner praktischen Philosophie nicht mehr gestellt“ habe, weil er das „Problem der Willensfreiheit“ schon in der Psychologie behandelt habe. 104 Chr. Wolff, Jus naturæ I (wie Anm. 7), § 1060 und Anm. 105 So die Formulierung von S. Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 5), VIII, 3, § 24, die sich auch bei Johann Gottlieb Heineccius, Elementa iuris naturae et gentium, Genf 31744, II, 8, §§ 164 f. findet. 106 Obwohl die ‚Criminalpsychologie‘ als eigenständige Disziplin erst gegen Ende des 18. Jahrhundert entsteht, finden sich die zentralen Überlegungen schon zuvor in der Strafrechtstheorie der Aufklärung; zur Rolle der ‚Criminalpsychologie‘ und ihrem Zusammenhang mit der naturrechtlichen Straftheorie vgl. Ylva Greve, Naturrecht und „Criminalpsychologie“, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 22 (2000), S. 69–94, sowie die ausführliche Darstellung in Ylva Greve, Verbrechen und Krankheit. Die Entdeckung der ‚Criminalpsychologie‘ im 19. Jahrhundert, Köln 2004.
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V. Das jus puniendi als jus infinitum107 Eine Besonderheit der Wolffschen Strafrechtstheorie besteht in der Behauptung, das jus puniendi sei ein jus infinitum, also eine Rechtskompetenz, der im Hinblick auf das Strafmaß schlechterdings keine gesetzlich bestimmten Schranken gezogen werden können. Diese Schrankenlosigkeit des jus puniendi bzw. die Unbestimmtheit des Strafmaßes ist die Konsequenz der strikten Durchführung des strafrechtlichen Abschreckungsgedankens. Wie schon angeführt, lehnt Wolff die Vergeltung als Strafprinzip ab. Aus diesem Grunde kann das Strafmaß nicht durch die juridische Qualität der Tat selber, d. h. durch die Schwere der Willensschuld108, bestimmt werden. Die Schwere des Verbrechens ergibt sich vielmehr aus dem Maß seiner Sozialschädlichkeit109, sodaß das Strafmaß dementsprechend bestimmt werden muß. Zwar hält auch Wolff an der vernunftrechtlichen Forderung, daß die Strafe dem Verbrechen entsprechen müsse, fest. Aber da sich die Schwere des Verbrechens aus dem Maß seiner Sozialschädlichkeit ergibt, betrifft das „Prinzip der Proportionalität“110 bei Wolff nur das Verhältnis der Strafe zur Sozialschädlichkeit der Tat111 bzw. zu den Erfordernissen der Abschreckung. Die Forderung nach der Verhältnismäßigkeit der Strafen fungiert als kritischer Maßstab gegen die richterliche Willkür, bedeutet aber keine Annäherung an das Talionsprinzip bzw. an die Bemessung der Strafe nach der Schwere der Schuld.112 Daß Gesichtspunkte
___________ 107
Siehe hierzu Dieter Hüning, Die Schrankenlosigkeit des jus puniendi in Wolffs Naturrechtslehre, in: Christian Wolff und die Europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, hrsg. v. Jürgen Stolzenberg / Oliver-Pierre Rudolph, Halle (Saale), 4.–8. April 2004, Hildesheim / New York 2007, S. 293–310. 108 Die Schuld (‚culpa in genere‘) definiert Wolff rein formal als „defectus rectitudinis actionis vincibilis“ (Chr. Wolff, Philosophia practica universalis [wie Anm. 16], I, § 696). 109 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 625: „Gravitas delicti atque criminis æstimanda est ex nocumento, quod affertur & periculo, quod inde imminet“; ders., Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 343. 110 Zur vernunftrechtlichen Forderung der Proportionalität vgl. Hinrich Rüping, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, München 21991, S. 59; Bettina Straub, Der Einfluß der Aufklärung auf die Todesstrafe, jur. Diss. Zürich 1973, S. 122 ff.; Kurt Seelmann, Gaetano Filangieri und die Proportionalität von Straftat und Strafe. Imputation und Prävention in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung, in: ZStW 97 (1985), S. 241–267; sowie ders., Zum Verhältnis von Strafzwecken und Sanktionen in der Strafrechtsliteratur der Aufklärung, in: ZStW 101 (1987), S. 335–351. 111 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 625: „Unde gravitas delicti æstimanda. Gravitas delicti atque criminis æstimanda est ex nocumento, quod affertur & periculo, quod inde imminet.“ 112 Dies ist schon in der älteren Forschungsliteratur mit Recht hervorgehoben worden, vgl. Louis Günther, Tommaso Natale, Marchese di Monterosato, ein in Deutsch-
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der Schuld bei der Bestimmung des Strafmaßes nur eine untergeordnete Rolle spielen, zeigt sich ganz deutlich bei Wolffs Behandlung der Frage, ob das Strafübel dem Schuldübel entsprechen müsse.113 Diese Frage wird von Wolff mit dem Hinweis auf die funktionalen Erfordernisse des staatlichen Abschreckungsinteresses beantwortet: Es sei nicht notwendig, daß das durch die Strafe zugefügte Übel genauso groß wie das Schuldübel sei, sondern das Strafübel könne gemäß den Erfordernissen der Abschreckung größer oder kleiner sein, kann also je nach Bedarf das Maß der Schuld des Täters bald unterschreiten oder bald übersteigen.114 Noch deutlicher wird diese Problematik bei dem Wolff-Schüler Regner Engelhard, der in seinem Lehrbuch Versuch eines allgemeinen peinlichen Rechtes115 eine Strafrechtslehre ganz im Geiste des Wolffschen Naturrechts und unter ständiger Berufung auf Wolffs (deutsche) Schriften entwickelt hat. Engelhard bekennt sich zu der naturrechtlichen Forderung der Proportionalität, daß „die Größe der Strafe nach der Größe der Beleidigung eingerichtet“ werde116, zugleich aber zu dem Strafzweck der Abschreckung, nach welchem „die Absicht der Strafen in der künftigen Abwendung der Verbrechen bestehe“117. Engelhards weitere Diskussion hinsichtlich der Bestimmung des Strafmaßes macht deutlich, daß die naturrechtliche Proportionalitätsforderung kein Sicherungsmittel gegen das kriminalpolitische Interesse des Staates an Strafverschärfungen aus Gründen der Abschreckung darstellt. In diesem Sinn erörtert Engelhard z. B. die Frage, ob auch der einfache Diebstahl mit der Todesstrafe geahndet werden könne. Der aus der Proportionalitätsforderung gewonnene Einwand gegen die Verhängung der Todesstrafe, „daß Geld und Gut nicht mit dem Leben eines Menschen in Vergleichung kommen; Und daher ein Dieb, der nur Geld und Gut genommen hat, nicht dafür des Lebens beraubet werden könne“, wird von Engelhard zurückgewiesen, „weil bey Bestimmung der Strafen nicht das
___________ land vergessener Vorläufer Beccaria’s, in: Archiv für Strafrecht und Strafprozeßrecht 48 (1901), S. 21 ff.; Ferdinand Willenbücher, Die strafrechtsphilosophischen Anschauungen Friedrichs des Grossen. Ein Beitrag zur Geschichte der kriminalpolitischen Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert, Breslau 1904, S. 17 ff. 113 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 641: „An malum poenæ æquale esse debeat malo culpæ“. 114 Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 641. 115 Regner Engelhard, Versuch eines allgemeinen peinlichen Rechtes aus den Grundsätzen der Weltweisheit, und besonderst des Rechtes der Natur hergeleitet, Frankfurt a. M. / Leipzig 1756 (ND Goldbach 1996); vgl. hierzu R. Frank, Die Wolff’sche Strafrechtsphilosophie (wie Anm. 2), S. 17 ff., sowie meine Rezension des Reprints von Regner Engelhard: Versuch eines allgemeinen peinlichen Rechts, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 87 (2001), S. 595–597. 116 R. Engelhard, Versuch (wie Anm. 115), § 8. 117 Ebd., § 170.
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Übel, welches durch das Verbrechen zugefügt wird, mit dem, worinnen die Strafe bestehet, zu vergleichen ist; Sondern die Nothwendigkeit das Verbrechen abzuwenden, mit dem Mittel dagegen gebrauchet wird: So erhellet, daß auch dieser Einwurf von keiner Erheblichkeit seye“.118 Als Prinzip der Bestimmung des Strafmaßes bleibt somit nur die Absicht des Gesetzgebers übrig, durch Androhung bzw. Vollstreckung von Strafen von der Begehung von Straftaten abzuschrecken. Wegen der unterschiedlichen Wirksamkeit der tatabschreckenden Motive, die durch die Strafandrohung in der Vorstellung des einzelnen erzeugt werden sollen, bleibt es aber a priori unbestimmbar, ob ein bestimmtes Strafmaß auch tatsächlich einen Menschen vom Vorsatz der Tat abschrecken kann. Die Konsequenz dieser Unbestimmbarkeit, daß überhaupt kein allgemein gültiges Prinzip der Strafbestimmung aufgestellt werden kann, wird von Wolff dann auch ganz folgerichtig gezogen: Wenn es empirisch zufällig bleibt, welches Strafmaß zureichend ist, um vom Verbrechen abzuschrecken, dann folgt daraus, daß das Strafrecht nur als ein jus infinitum gedacht werden kann, weil das Strafmaß gemäß den jeweiligen Anforderungen einer effektiven Abschreckung variiert werden muß. Dementsprechend heißt es im ersten Band des Jus naturae: „Jus puniendi infinitum est. Etenim cum jus puniendi illud sit, quod tibi competit in eum, qui te læsit (§ 1061), in hunc vero tantumdem tibi liceat, quantum ad avertendum periculum læsionis futuræ, sive ab eodem tibi atque aliis, sive ab aliis ejus exemplum secutis tibi metuendæ sufficit (§ 1059); juri puniendi in genere non præscribi possunt limites, sed ei demum ex circumstantiis præsentibus præsigendi. Quoniam itaque jus infinitum est, cui in genere præscribi limites non possunt, sed cui demum ex circumstantiis præsentibus præfigendi (§ 977); jus puniendi infinitum est.“119
Das Strafmaß muß deshalb aus Gründen der Effektivität der Abschreckung variabel gehandhabt werden: „Wenn der Diebstahl nicht sehr gemein ist, sondern in vieler Zeit kaum etwas davon gehöret wird; so kan man mit einer geringeren als einer Lebensstraffe zufrieden seyn; hingegen wo viele sich auf das Stehlen legen und die gelinden Straffen nicht mehr zureichen wollen dem Ubel zu steuren, da muß man biß an das Leben kommen. Ja wenn man sich auch an die übliche Lebens-Straffe nicht mehr kehret; so muß man eine härtere setzen. Z. E. Wenn die Diebe sich nicht mehr vor dem Strange fürchten, wäre es nicht unrecht, wenn man sie mit dem Rade verfolgete.“120
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Ebd., § 299. Chr. Wolff, Jus naturæ I (wie Anm. 7), § 1063; siehe auch ders., Institutiones juris naturæ et gentium (wie Anm. 6), § 94. – Vgl. hierzu R. Frank, Die Wolff’sche Strafrechtsphilosophie (wie Anm. 2), S. 82 f. 120 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 344. 119
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Der Inhaber der Staats- bzw. der obersten Strafgewalt hat also ein unbegrenztes Recht, diejenigen, die im Widerspruch mit den von ihm als notwendig erachteten Bedingungen des äußeren Freiheitsgebrauchs handeln, mit Strafübeln zu bedrohen, um sie auf diese Weise von ihrem Ungehorsam gegen die staatlichen Gesetze abzuschrecken. Das Strafrecht erweist sich deshalb als derjenige Teil der politischen Philosophie Wolffs, in welchem das Verhältnis von Herrscher und Untertan, Staatsgewalt und Bürger am deutlichsten hervortritt. Zwar bildet das Schuldprinzip auch bei Wolff die Voraussetzung für die Zurechnung der Tat und für die Bestimmung ihrer Strafbarkeit, aber die Schwere der Schuld dient nicht als Maßstab der Bestrafung. Die Höhe der Strafe richtet sich vielmehr nach den Abschreckungseffekten, die sich der Herrscher von seinen Strafandrohungen verspricht. Um diesen Zweck zu erreichen, erscheint dann jedes Mittel recht: „In eum, qui te læsit, tantundum tibi licet, quantum ad avertendum periculum læsionis futuræ [...] sufficit“.121 An die Stelle irgendwelcher Gesichtspunkte, welche die Gerechtigkeit oder Humanität der Strafbestimmung zum Gegenstand haben, tritt – entgegen den erklärten Absichten der Wolffschen Staatslehre – die als politische Zweckmäßigkeitserwägung verbrämte Willkür des Inhabers der Staatsgewalt, der das Strafmaß an den Erfordernissen der Abschreckung ausrichtet. Damit soll nicht behauptet werden, daß Wolff ein Fanatiker einer Politik der Strafverschärfung gewesen sei.122 Vielmehr macht er in diesem Zusammenhang immer wieder Gründe der Strafmilderung geltend.123 Das Problem liegt vielmehr darin, daß seine Straftheorie in diesem Punkt – d. h. im Hinblick auf die Strafzumessung – der kriminalpolitischen Willkür der staatlichen Organe Tür und Tor öffnet. Gerade die konsequente Durchführung des Abschreckungsprinzips als dominierendem Strafzweck führt bei Wolff letztlich dazu, den Täter zu einem bloßen Objekt der staatlichen Abschreckungsmaschinerie zu degradieren. Denn das Interesse des Herrschers an einer effektiven Strafjustiz, an der Durchsetzung der Gesetze bzw. am Gehorsam der Untertanen, das dem Abschreckungszweck zugrunde liegt, enthält selbst überhaupt kein Prinzip zur Bestimmung der Angemessenheit der jeweils angedrohten Strafen. Dies wird besonders deutlich bei Wolffs Ausführungen bezüglich des Strafvollzugs, der eben-
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Chr. Wolff, Jus naturæ I (wie Anm. 7), § 1059. Wolff erklärt jedoch, daß es rechtlich möglich sei, daß die Staatsgewalt zum Mittel der Strafverschärfung greift, wobei dem Strafzweck der Besserung des Täters keinerlei Begrenzungsfunktion zukommt, weil die Strafe in erster Linie anderen „zum Exempel dienen“ soll (Chr. Wolff, Deutsche Politik [wie Anm. 49], § 347). 123 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 345: „Derowegen ist viel rathsamer gelindere Straffen zu setzen, und sie biß auf das allergeringste ohne alle Gnade und Barmhertzigkeit zu vollstrecken, als mit harten Straffen drohen“. 122
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falls abschreckend wirken soll, weshalb dieser öffentlich stattfinden muß.124 In Übereinstimmung mit der gemeinrechtlichen Praxis will Wolff die Hinrichtung eines Verbrechers durch Strafverschärfungen und durch besonders entwürdigende „Ceremonien“ zu einem ‚Theater des Schreckens‘125 ausgestalten: „Da eine grosse Menge das klägliche Bezeigen des Ubelthäters sowohl bey der Ausführung, als auf der Gerichtsstätte sehen soll (§ 349); so soll die Gerichtsstätte von dem Orte, wo er verurtheilet wird, weit abliegen, damit er durch viele Leute bequem kan durchgeführet werden, auch ihm dadurch die Angst des Todes gemehret wird und er durch seine erbärmliche Gestalt einen desto grössern Eindruck in das Gemüthe der Zuschauer machet.“126
Man sieht zugleich an den beschriebenen strafverschärfenden Vorschlägen, daß Wolff zum einen die Strafjustiz vor allem als ein Mittel der „Sozialdisziplinierung“127 der Untertanen betrachtet, daß aber zum anderen bei ihm die Strafbestimmung auf der Grundlage general- und spezialpräventiver Absichten „die Rechtlosigkeit des Staatsuntertans gegenüber dem Machthaber zum Prinzipe ihrer Möglichkeit“ hat128, was angesichts des überwiegenden Selbstverständnisses der publizistischen Verfechter des Reformabsolutismus nicht überraschend ist.129
___________ 124 Die Öffentlichkeit des Strafvollzugs liegt somit in der Konsequenz des Abschreckungsgedankens, vgl. hierzu schon S. Pufendorf, De jure naturae et gentium (wie Anm. 5), VIII, 3, § 11. 125 Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 21988. 126 Chr. Wolff, Dt. Politik (wie Anm. 49), § 351. Sollte der Angeklagte vor der Vollstreckung der Todesstrafe gestorben sein, so erklärt Wolff auch den Vollzug der Strafe als poena exemplaria an dessen Leichnam für zulässig, siehe Chr. Wolff, Jus naturæ VIII (wie Anm. 10), § 705; die Möglichkeit einer derartigen Vorgehensweise entsprach der gemeinrechtlichen Praxis, vgl. hierzu Samuel Friedrich Willenberg, Dissertatio de poena post mortem dvrante, Leipzig 1751. – Frank (Die Wolff’sche Strafrechtsphilosophie [wie Anm. 2], S. 21) spricht angesichts solcher Ausführungen mit Recht davon, daß Wolff in der ‚Deutschen Politik‘ den „Standpunkt der Abschreckung durch den Strafvollzug in der crassesten Form“ eingenommen habe. Zur Leichnamsstrafe vgl. Harald Maihold, „Ein Schauspiel für den Pöbel“ − Zur Leichnamsstrafe und ihrer Überwindung in der Aufklärungsphilosophie (Rechtsgeschichtliche Vorträge 29, hrsg. v. Barna Mezey), Budapest 2005; URL: http://www.ius.unibas.ch/maihold/hm-pub-budapest.pdf. 127 Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968), S. 329 ff. 128 Julius Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Georg Geismann / Hariolf Oberer, Bd. 2: Philosophie der Freiheit, Bonn 1988, S. 306. 129 Vgl. hierzu Martin Fuhrmann / Diethelm Klippel, Der Staat und die Staatstheorie des aufgeklärten Absolutismus, in: Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, hrsg. v. Helmut Reinalter / Harm Klueting, Wien / Köln / Weimar 2002, S. 236: „Es ging den Publizisten des Reformabsolutismus nicht darum, den Staat in den Dienst
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Dieter Hüning
VI. Das Elend der Wolffschen Strafrechtslehre Wolffs Strafrechtstheorie faßt die in der älteren Naturrechtslehre vorherrschenden Standpunkte bezüglich des Strafrechts − die Lehre vom Strafzweck der Abschreckung, die Vorstellung des psychologischen Zwangs, die Unbestimmbarkeit bzw. Schrankenlosigkeit der staatlichen Strafgewalt, die Unterordnung der Strafgerechtigkeit unter die Staatszwecke der Wohlfahrt und Sicherheit − noch einmal systematisch und symptomatisch zusammen. Aber in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung, weniger in der juristischen „Criminalrechtswissenschaft“, setzte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein Prozeß des Umdenkens bezüglich des Strafrechts ein, dessen signifikantester Ausdruck die Forderung nach Rationalisierung der Straftatbestände130, nach Milderung der Strafen und vor allem nach Abschaffung der Folter131 sind. Unter dem Eindruck der Schriften von Hobbes, Pufendorf, Montesquieu, Rousseau u. a. hatte Beccaria nur wenige Jahre nach Wolffs Tod in seiner Schrift Dei delitti e delle pene die zentralen Lehrstücke der zeitgenössischen Strafrechtsdoktrinen radikal in Frage gestellt. Der ungeheure Erfolg des Buches, insbesondere in Frankreich, das zur gleichen Zeit durch eine Reihe von Justizskandalen erschüttert wurde, die Voltaire zum Anlaß publizistischer Kampagnen nahm, signalisiert ein allgemeines Bewußtsein von der Unangemessenheit sowohl der herrschenden Strafrechtstheorie als auch der grausamen und oftmals willkürlichen Strafpraxis. Die damit einhergehenden Reformbestrebungen und -projekte dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es weniger Forderungen der Gerechtigkeit als Fragen der politischen Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit waren, die den Ausschlag für die Zurückdrängung bestimmter nunmehr als „überflüssig“, „abscheulich“ oder „unmenschlich“ empfundenen Justiz- und Strafpraktiken gaben.
___________ des Menschen zu stellen, sie bezweckten im Gegenteil, die Fähigkeiten und Kräfte des Menschen für den Staat nutzbar zu machen, den einzelnen also in den Dienst des Staates zu stellen, damit der Staat reich, mächtig und angesehen werde. Der Mensch wurde in dieser Konzeption letztlich nicht als Zweck, sondern als Objekt staatlicher Politik gedacht.“ 130 Hierzu gehört insbesondere die Forderung nach Abschaffung der Hexenprozesse wie überhaupt nach Einschränkung der Religions- und Sittendelikte. 131 Wolff selbst hält die Folter − unter gewissen Einschränkungen (der Angeklagte muß hinreichend verdächtig, männlich, gesund und kräftig sein) − für unverzichtbar (siehe Chr. Wolff, Jus naturæ VIII [wie Anm. 10], §§ 677 ff.; ders., Institutiones juris naturæ et gentium [wie Anm. 6], § 1032), obwohl auch er ihrer beweisrechtlichen Effektivität skeptisch gegenübersteht (Jus naturæ VIII, § 681). Zum Problem der Folter und ihrer allmählichen Abschaffung im 18. Jahrhundert siehe die umfassende rechtshistorische Untersuchung von Mathias Schmoeckel, Humanität und Staatsraison. Die Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozeßund Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, Köln / Weimar / Wien 2000 (zu Wolffs Stellung zur Folter, siehe 170 f.).
Die Begründung des Strafrechts in Wolffs Naturrechtslehre
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Wolff war von jedem Gedanken an die Reform des Strafrechts und der Strafpraxis weit entfernt. Die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts, die sich in Wolffs Anspruch, das Naturrecht132 ‚methodo scientifica‘ abgehandelt zu haben, manifestiert, führt nicht zu einer kritischen Sondierung dessen, was nach Gründen der praktischen Vernunft überhaupt begründet und gerechtfertigt werden kann und was nicht, obwohl Wolff selbst den Anspruch erhebt, „als ein Weltweiser“ nur von demjenigen zu reden, „was mit Vernunfft geschehen kan und sol“.133 Vielmehr stehen seine Ausführungen oftmals im Dienst einer unkritischen Affirmation der bestehenden gemein- bzw. römisch-rechtlichen Praktiken. Gemessen an dem Kantischen Verständnis des Naturrechts als einer „natürliche[n] Rechtslehre“, welche „zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Principien hergeben muß“ und die als solche nicht fragt, „was rechtens sei (quid sit iuris), d.i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben“, sondern die ein „allgemeine[s] Kriterium“ aufstellt, „woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne“134, liefert Wolff in weiten Teilen seines Jus naturae nur eine methodische Systematisierung des vorhandenen, historisch kontingenten Rechtsstoffes.135 Der Rationalitätsanspruch des Wolffschen Naturrechts macht
___________ 132
Wobei zugleich noch betont werden muß, daß auch Wolffs Begriff der Naturrechtslehre insgesamt problematisch ist, weil er keinen Anknüpfungspunkt für die Unterscheidung von Rechts- und Tugendlehre bzw. von Rechts- und Tugendpflichten bietet. Vielmehr war das Naturrecht bei Wolff keineswegs − wie bei Thomasius und seinen Schülern − auf die Rechtspflichten im engeren Sinne, d. h. diejenigen Pflichten, deren Einhaltung erzwungen werden kann, eingeschränkt und umfaßte deshalb auch die Tugendpflichten. Bekanntlich war das Naturrecht für Wolff überhaupt der theoretische Teil der praktischen Philosophie, die Ethik, Politik und Ökonomie umfaßt, und den Wolff in der lateinischen Reihe seiner Schriften nur aus Zweckmäßigkeitsgründen von den Anwendungsteilen der praktischen Philosophie abgelöst hat, siehe hierzu Chr. Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere (wie Anm. 63), § 68. 133 Chr. Wolff, Deutsche Politik (wie Anm. 49), § 370. 134 Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, AA Bd. VI, S. 229. Ich habe an anderer Stelle den Nachweis versucht, daß Kants Rehabilitierung des jus talionis und die Betonung der Forderungen der Strafgerechtigkeit eine Antwort auf die Probleme der Abschreckungslehre und auf die Behauptung von der Schrankenlosigkeit des jus puniendi darstellen, siehe hierzu meinen Aufsatz: Kants Strafrechtstheorie und das jus talionis, in: Aufklärung durch Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Dieter Hüning / Karin Michel / Andreas Thomas, Berlin 2004, S. 333–360. 135 Obwohl Wolff selbst diese Gefahr gesehen und die bloße Affirmation des Römischen Rechts als Untergang des Naturrechts bezeichnet hat: „Ne somniando quidem Jurium vere peritus affirmaverit, Jus Romanum esse ipsum Jus naturæ“ (Christian Wolff, Jus naturæ IV, Halle 1744 [ND Hildesheim 1968], Praefatio). Zum Problem der ‚abgestuften Rationalisierung des positiven Rechts‘ vgl. E. Stipperger, Freiheit und Institution (wie Anm. 44), S. 131 ff.
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deshalb auch vor der ‚wissenschaftlichen Grundlegung‘ des Lehnswesens oder der Sklaverei nicht halt. Daß eine derartige Rationalisierung historisch kontingenter Rechtsverhältnisse nur dadurch möglich ist, daß die methodisch abgesicherte Deduktion aus obersten naturrechtlichen Prinzipien in ein Verfahren umschlägt, in welchem Wolff „induktiv von einer historisch nachweisbaren [...] Institution auf eine ultima ratio, von der aus – über Freiheit und Vertrag – zurück zur Institution“ geschlossen wird, liegt auf der Hand.136 Die in der Wolff-Forschung verschiedentlich aufgeworfene Frage, ob Wolff angesichts seiner Lehre von den „jura connata“ ein frühliberaler Denker gewesen sei137 kreist primär um zwei Aspekte: zum einen um den Status der jura connata in Wolffs Naturrechtslehre, zum anderen um die von Wolff angeblich bevorzugte republikanische Staatsverfassung.138 Was den angeblichen Liberalismus Wolffs angeht, so dürfte im Hinblick auf seine Strafrechtslehre deutlich geworden sein, daß Wolff der Gedanke einer wie auch immer gearteten, prinzipientheoretisch und nicht bloß pragmatisch begründeten Einschränkung der Staatsgewalt stets fremd geblieben ist, daß seine Strafrechtstheorie vielmehr im Dienst der Durchsetzung des Staatsinteresses an einem geordneten Gemeinwesen steht. Der Despotismus der Wolffschen Naturrechtslehre liegt jedoch weder in irgendeinem vordergründigen apologetischen Interesse Wolffs, sich durch eine wohlfeile Rechtfertigung absolutistischer Machtinteressen bei den zeitgenössischen Potentaten beliebt zu machen, noch im bloßen Fehlen einer hinreichenden Wertschätzung für die Rechte des Individuums. Der illiberale Charakter der Wolffschen Rechtstheorie liegt in ihrem heteronomen Moralprinzip der Vollkommenheit und des daraus abgeleiteten Begriffs subjektiver Rechte begründet.
___________ 136
E. Stipperger, Freiheit und Institution (wie Anm. 44), S. 73. Bejahend haben diese Frage beantwortet Marcel Thomann, Christian Wolff, in: Staatsdenker in der frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Stolleis, München 31995, der Wolff zu einem „frühe[n] Verfechter des modernen Rechtsstaats“ (S. 259) erklärt, ähnlich Jörn Garber, Vom „ius connatum“ zum „Menschenrecht“. Deutsche Menschenrechtskonzeptionen der Spätaufklärung, in: ders., Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft. Studien zur deutschen Staats- und Gesellschaftstheorie im Übergang zur Moderne, Frankfurt a. M. 1992, S. 158-191. 138 Vgl. hierzu Uwe Wilhelm, Der Deutsche Frühliberalismus. Von den Anfängen bis 1789, Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 75 ff. (mit entsprechenden Nachweisen). – Zur Kritik der ‚liberalistischen Mißdeutung‘ der Wolffschen Lehre vgl. Diethelm Klippel, Persönlichkeit und Freiheit. Das ‚Recht der Persönlichkeit‘ in der Entwicklung der Freiheitsrechte im 18. und 19. Jahrhundert, in: Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, hrsg. v. Günter Birtsch, Göttingen 1987, S. 278 ff.; K.-G. Lutterbeck, Staat und Gesellschaft bei Christian Thomasius und Christian Wolff (wie Anm. 22), bes. S. 194 ff., der zu Recht betont, daß „für eine Beurteilung des Charakters von Wolffs Staatslehre [...] die Verfassungstheorie [...] von zweitrangiger Bedeutung“ ist (S. 195). 137
Die Begründung des Strafrechts in Wolffs Naturrechtslehre
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Es ist dieses Prinzip, das bewirkt, daß Wolff nicht nur keine Antwort auf die Frage nach den Grenzen der Legitimität staatlicher Herrschaft geben kann, sondern das dazu führt, daß diese Frage selbst völlig außerhalb seines Gesichtskreises liegt. Die Erkenntnis, daß materiale Prinzipien in der Rechtstheorie notwendig zu despotischen bzw. absolutistischen Konsequenzen führen, hat erst Kant gewonnen.139 Zusammenfassend ist zu sagen, daß das grundsätzliche rechtsphilosophische Problem, an welchem Wolffs Strafrechtstheorie leidet, nicht in seinem Verhältnis zu den historischen Gegebenheiten seiner Zeit, nicht in seiner unkritischen Affirmation traditioneller Rechtsverhältnisse besteht, sondern in dem Umstand, daß er glaubt, die Frage, was Recht bzw. Unrecht sei, auf der Grundlage eines materialen ethischen Prinzips, nämlich desjenigen der Vollkommenheit, beantworten zu können. Er erkennt nicht, daß es gerade dieses Prinzip ist, das es unmöglich macht, die rechtlichen Grenzen legitimer Herrschaft zu bestimmen.140 Das materiale Prinzip der Vollkommenheit taugt deshalb nicht zur Bestimmung der Rechte und Pflichten, weil die Frage, welche Handlungen zur Realisierung des Zwecks der Vollkommenheit erforderlich sind, immer nur aufgrund von Erfahrung beantwortet werden kann. Es gibt dementsprechend kein apriorisches Prinzip zur Beantwortung dieser Frage. Das von Wolff zugrunde gelegte Prinzip der Vollkommenheit schließt somit die Möglichkeit der gesetzlichen Übereinstimmung der Menschen in bezug auf den äußeren Gebrauch ihrer Willkür aus, eben weil die Frage, was der Vollkommenheit zuträglich ist und was nicht, immer nur empirisch beantwortet werden kann. Die Vollkommenheit ist mit anderen Worten kein Prinzip, in bezug auf welches es „eine universale Übereinstimmung über den Gebrauch der freien Willkür“ geben könnte.141
___________ 139
Vgl. hierzu die grundsätzliche Erörterung der Folgen des Gebrauchs materialer Prinzipien in der Rechts- und Staatslehre von G. Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung (wie Anm. 39), insbesondere S. 20 ff. 140 G. Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung (wie Anm. 39), S. 147 f., F. Grunert, Absolutism(s) (wie Anm. 60), p. 150, spricht mit Recht davon, daß Wolffs „orientation towards public welfare and security leads to unlimited possibilities of state intervention“. 141
G. Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung (wie Anm. 39), S. 44.
Spezialprävention und Rechtssicherheit in der humanistischen Strafrechtslehre Karl Grolmans
Mario A. Cattaneo Der 1775 in Gießen geborene und später an der dortigen Universität lehrende Kriminalist Karl Ludwig Grolman ist bisher nur selten zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht worden.1 Dies im Gegensatz zu seinem Freund und wissenschaftlichen Gegner Paul Johann Anselm Feuerbach, der allgemein deswegen als Begründer der modernen Strafrechtswissenschaft betrachtet wird, weil man in seinem Denken einen graduellen Übergang von einer naturrechtlichen Grundlegung zu rechtspositivistischen Methode beobachten kann.2 Beide, Feuerbach und Grolman, waren Kantianer, obwohl sie nicht die Kantische Strafrechtstheorie der Vergeltung übernommen haben: Feuerbach hat die Theorie der Generalprävention (durch Strafandrohung im Gesetz) und Grolman die Theorie der Spezialprävention entwickelt. Im Strafdenken Grolmans bemerkt man ein tiefes Humanitätsgefühl; zwei Stellen aus seinen Werken möchte ich hier am Anfang erwähnen, um diesen Humanismus zu illustrieren. Einerseits eine Stelle aus den Grundsätzen der Criminalrechtswissenschaft, seinem ersten wichtigen Werk, das 1797 zum ersten Mal in Giessen veröffentlicht wurde. Gleich auf den ersten Seiten dieses Werkes findet man diesen einfachen, aber wichtigen Satz: „Die Strafe darf nicht grausam seyn“. Grolman behauptet, daß man von den Übeln, welche zum Zweck der Strafe führen, „das möglichst geringste“ wählen soll.3
___________ 1
Vgl. zu Grolman: Mario A. Cattaneo, L’umanesimo giuridico di Karl Grolman, Pisa 1996; dt.: Karl Grolmans strafrechtlicher Humanismus, übers. v. Thomas Vormbaum, Baden-Baden 1998. 2 Siehe zu Feuerbach die Akten einer im März 2002 in Jena veranstalteten Tagung: Die Bedeutung P.J.A. Feuerbachs (1775–1833) für die Gegenwart, hrsg. v. Rolf Gröschner / Gerhard Haney, Wiesbaden 2003. 3 Karl Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der Deutschen Criminalgesetze, Gießen 1970, § 26, S. 12.
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Mario A. Cattaneo
Eine zweite Stelle findet man in dem Buch Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung.4 Im dritten Kapitel des zweiten Abschnitts dieses Werkes schreibt Grolman, daß der Staat nicht widerrechtlich handele, „wenn er die Strafe der Ausschliessung von dem Staate die Todesstrafe seyn lässt“. Aber sofort fügt er hinzu: „Allein! ganz davon abgesehen, daß, wenn auch keine Verbindlichkeit vorhanden ist, dem Verbrecher, welchem alle künftigen Illegalitäten unmöglich gemacht werden sollen, welchem also alle freie Wirksamkeit in dem Staate entzogen werden muß, das Leben zu lassen, dennoch es der Sittlichkeit, also der Pflicht, widerstreiten könne, denselben zu tödten“. Deswegen schließt Grolman diese Bewertung folgendermaßen: „Aus diesem Grunde wird sich die Todesstrafe nicht als dasjenige Mittel empfehlen, welches der Staat in der Regel wählen könnte, um dadurch die Strafe der gänzlichen Ausschließung (der Aufhebung der freyen Wirksamkeit im Staate) zu realisieren“.5 Hier treffen wir einen sehr wichtigen Punkt im Werke Grolmans. Einerseits schließt Grolman nicht die juristische Legitimität der Verhängung der Todesstrafe aus, unterstreicht aber andererseits sofort den Widerstreit der Todesstrafe mit der moralischen Pflicht. Grolman hat nicht – noch nicht – den entscheidenden Schritt von Beccaria vollzogen: er hat nicht die juristische Unzulänglichkeit der Todesstrafe behauptet. Aber andererseits ist er auch nicht Kant und Feuerbach gefolgt, welche sehr einfach und klar die vollkommene Zulässigkeit der Todesstrafe, als Werkzeug der Widervergeltung (Kant) oder der allgemeinen Abschreckung (Feuerbach) behauptet haben. Grolman hat das Problem der Fragwürdigkeit der Todesstrafe gestellt: Er hat den wichtigsten Teil dieses Problems unterstrichen, nämlich den moralischen Standpunkt. Einerseits ist es wichtig, daß Grolman den Nicht-Gebrauch der Todesstrafe seitens des Staates empfohlen hat; aber andererseits ist es bedeutungsvoll, daß er die moralische Verweigerung der Todesstrafe ausgedrückt hat. Ein anderer Aspekt der hier vorzustellenden Strafrechtstheorie Karl Grolmans betrifft das Problem der Rechtssicherheit in bezug auf den Strafzweck. Hier finden wir eine bemerkenswerte Diskussion zwischen Grolman und Feuerbach. In der Vorrede seiner Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft schreibt Grolman, daß, wenn man „vergißt, nach dem Geiste der Gesetze und Gesetzgebung – dieser reichen Quelle fester Bestimmungen – zu forschen“, dann kann „nichts anderes entstehen [...], als eine wahre Richterdespotie, eine der fürchterlichsten, welche es giebt“.6 In diesem Satz kann man vielleicht den Einfluß von Montesquieu spüren: ___________ 4 Karl Grolman, Ueber die Begründung des Strafrechts und die Strafgesetzgebung nebst einer Entwicklung der Lehre von dem Maasstabe der Strafen und der juridischen Imputation, Gießen 1799, ND Frankfurt a. M. 1968. 5 Ebd., Abschnitt II, Kapitel III, S. 156 f. 6 K. Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft (wie Anm. 3), Vorrede, S. VI.
Spezialprävention und Rechtssicherheit
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Einerseits in bezug auf den „Geist“ der Gesetze (Esprit des Lois), andererseits hinsichtlich der von Montesquieu verwendeten Bezeichnung des Richters als „bouche de la loi“.7 Gleichwohl räumt Grolman bei der theoretischen Entwicklung der Spezialprävention dem Richter einen gewissen Ermessensspielraum ein. In der Tat, wenn der Zweck der Strafe darin besteht, den einzelnen Täter von der Begehung künftiger Verbrechen abzuschrecken, erfordert das einzelne Urteil eine weitgehende Berücksichtigung der besonderen Umstände des konkreten Falls. In den Grundsätzen der Criminalrechtswissenschaft schreibt Grolman, daß der Gesetzgeber die Strafe so einrichten muß, „daß sie den Zweck derselben erreicht, ohne grausam zu seyn“. Und er fügt hinzu: „Hierin gehört die wichtige Regel: ‚Die Strafe soll im Geiste des Verbrechens liegen.‘“8 Auch dieser Satz erinnert an Montesquieu, welcher geschrieben hatte: „C’est le triomphe de la liberté, lorsque les lois criminelles tirent chaque peine de la nature particulière du crime. Tout l’arbitraire cesse; la peine ne descent point du caprice du législateur, mais de la nature des choses, et ce n’est point l’homme qui fait violence a l’homme“.9Auf diesen Standpunkt bezieht sich noch eine andere Stelle Grolmans: „Die Strafe soll zweckmäßig, ohne Grausamkeit, seyn – dieses heißt nichts anders, als: sie soll, dem Grade nach, genau dem Verbrechen angemessen seyn“.10 Dann schreibt Grolman (und hier finden wir den Punkt, auf den ich früher anspielte): „Nach diesem Maasstab muß die Strafe, da nicht alle, welche dasselbe Verbrechen begehen, gleich strafbar sind, für jeden einzelnen Fall bestimmt werden. Dieses kann nun freylich von dem Gesetz nicht geschehen, denn wie könnte der Gesetzgeber zum voraus alle möglichen Fälle sich denken? Daraus wird es klar, daß hier der sogenannten richterlichen ‚Willkür‘, welche ich lieber ‚Ermessen‘ nennen möchte, – immer sehr viel überlassen bleiben, und der Gesetzgeber sich damit begnügen müsse, die Richter auf sorgfältigen Gebrauch des bey der Gesetzgebung zum Grunde liegenden Maasstabs zu verweisen, und höchstens an einem oder einigen angenommenen Fälle ein Beyspiel der Anwendung desselben zu geben.“11 In diesem Paragraph erklärt Grolman, daß, insofern der Zweck der Strafe den einzelnen Verbrecher betrifft, der Richter das passende Strafmaß für den konkreten Fall wählen muß. Gleichzeitig sehen wir, daß Grolman die Idee einer vollkommenen Willkür des Richters ablehnt und die ___________ 7
Montesquieu, Esprit des Lois, XI, 6. K. Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft (wie Anm. 3), § 130, S. 60. 9 Montesquieu, Esprit des Lois, XII, 4. 10 K. Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft (wie Anm. 3), § 132, S 60. 11 Ebd., § 133, S. 61. 8
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Idee eines beschränkten Ermessens des Richters vorzieht. Es handelt sich um eine vernünftige, beschränkte Wahl des Maßstabs der Strafe in bezug auf die Erfordernisse des einzelnen Falls. Feuerbach hatte bekanntlich die Spezialpräventionslehre Grolmans gerade vom Standpunkt der Rechtssicherheit aus kritisiert. Dabei behauptet er, daß, wenn man vom Strafbegriff der Spezialpräventionslehre ausgehe, der Staat keiner bestimmten Strafgesetze bedarf. Nach Feuerbach sind die Strafgesetze dann nicht möglich, wenn der Zweck der zuzufügenden Strafe die Sicherung ist. Der Kern der Feuerbachschen Kritik besteht in der Behauptung, daß die Straflehre Grolmans nicht nur die Rechtssicherheit verletze, sondern sogar die Strafgesetzgebung nichtig mache. Feuerbach schließt seine Kritik mit der Bemerkung, „daß, unter Voraussetzung der Präventionstheorie, die Strafgesetzgebung eine Chimäre, und ein Criminalcodex ein Luftgebäude und eitel Thorheit ist.“12 Grolmans Antwort ist insofern wichtig, als er – beim Versuch die Strafpräventionslehre mit der Rechtssicherheit zu versöhnen – eine Weiterentwicklung der Straftheorie und der Strafgesetzgebungslehre erreicht hat. In seiner Replik – welche in dem Buch Über die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung enthalten ist – versucht Grolman, die zentrale Stellung des Strafgesetzes mit der Spezialprävention als Zweck der Strafe zu vereinbaren. Grolman schreibt, daß der „Zweck der gesetzlich angedrohten Strafe ‚Abschreckung aller‘“ ist; und, „insofern die Strafe gesetzlich angedroht ist, ist dieses ihr ‚einziger‘ Zweck. Aber Zweck der Strafe an und für sich [...] ist keineswegs Abschreckung Aller, sondern [...] Verhinderung der Ausführung der von einem Individuum geschehenen Drohung, durch Abschreckung desselben, oder Unmöglichmachung der Ausführung“.13 Nachher fragt Grolman, „wie eine Strafgesetzgebung nach der Präventionstheorie möglich sey?“ und behauptet, daß die Beantwortung dieser Frage besonders schwierig und kompliziert sei.14 Zumal – wie Grolman wenig später zu bedenken gibt – daß, wenn die Gesetzgebung verbunden wäre, jeden einzelnen denkbaren Fall „namhaft zu machen und die dadurch denselben nothwendig gemachte Strafe zu bestimmen“, man gezwungen wäre, sich der Gesetzgebung zu enthalten, wegen der Unmöglichkeit, „einen vollständigen Catalog aller möglichen objectiv verschiedenen Fälle“ vorauszusehen.15 ___________ 12 Paul Johann Anselm Feuerbach, Ist Sicherung vor dem Verbrecher Zweck der Strafe und ist Strafe Präventionsrecht?, in: Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde, 1798, S. 30–32. 13 K. Grolman, Über die Begründung des Strafrechts (wie Anm. 4), Abschnitt II, Kapitel II. 14 Ebd., S. 118. 15 Ebd., S. 171.
Spezialprävention und Rechtssicherheit
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Aber diese Schwierigkeit kann überwunden werden. In der Tat, so Grolman, könne die Gesetzgebung „ihre Pflicht, alle möglichen künftigen Fälle zu umfassen, erfüllen, ohne daß sie deshalb nöthig hätte, jedes einzelnen dieser Fälle speciell zu erwähnen. Sie kann nämlich eine große Menge solcher objectiv verschiedenen Fälle einer und derselben Art durch feste Grenzen bezeichnen, wo ihr alsdann nichts zu thun übrig bliebe, als die Strafen für die beyden Extreme zu bestimmen; denn es ist klar, daß wenn die Strafe für diese Extreme bestimmt ist, alsdann zugleich die Strafe aller binnen diesen Grenzen enthaltenen Fälle mitbestimmt sey, indem diese Strafe nun selbst mit mathematischer Strenge und Gewißheit sich berechnen läßt. Der in der Mitte zwischen den beyden Extremen liegende Fall würde nun natürlich mit derjenigen Strafe bedroht seyn, welche zwischen den beyden bestimmten gleichfalls in der Mitte liegt; und je weiter ein Fall sich von der Mitte zu einem der beyden Extreme hinneigt, desto mehr würde auch die Strafe sich zu der für dieses Extrem bestimmten hinneigen müssen.“16 Wir können hier von den typischen Straftatklassifikationen Grolmans (z. B. „Verbrechen gegen die Sicherheit einzelner Bürger“, „Verbrechen gegen den Staat“) absehen. Wir sehen hier jedoch klar, daß Grolman für jeden Typ und jede Klasse von Verbrechen zwei Extreme bestimmt, denen ein ‚Minimum‘ und ein ‚Maximum‘ des Strafmaßes entsprechen; er hat also die Möglichkeit erreicht, innerhalb dieser zwei Extreme zu bestimmen, welche, den besonderen Umständen des konkreten Falls gemäß, der Schwere des einzelnen Versprechens entspricht. Diese Lösung hat viele Vorteile: Sie erlaubt einerseits, die Unsicherheit des Strafrechtssystems des ‚ancien régime‘ zu vermeiden, welches allzu große Willkür dem Richter zuschrieb; andererseits erlaubt sie auch, die Starrheit des französischen Strafgesetzbuchs von 1791 zu vermeiden, welches für jedes Verbrechen nur eine Strafe festsetzte, ohne eine an den konkreten Umständen orientierte Änderung des Strafmaßes zu erlauben. Die Lösung war eine gute und scharfsinnige Versöhnung der Spezialprävention mit der Rechtssicherheit. Die zwei Extreme, ‚Minimum‘ und ‚Maximum‘, garantieren die Rechtssicherheit; man darf die Grenzen nicht überschreiten. Die erlaubte Wahlfreiheit in der Strafzumessung ermöglicht die richtige Proportion zwischen der Strenge der Strafe und der Schwere des Verbrechens. Es sei daran erinnert, daß Feuerbach diese Lösung Grolmans zunächst kritisiert hatte, weil sie nach seiner Meinung „eine bloß negative Schranke der rich-
___________ 16
Ebd., S. 171 f.
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terlichen Willkür war, und von einem Gesetze, und zwar von einem bestimmten Gesetze [...] fordern wir etwas mehr als dies“.17 Später jedoch griff Feuerbach Grolmans Idee auf, indem er diese Lösung in das bayerische Strafgesetzbuch von 1813 (dessen Verfasser er war) einführte. In seiner Schrift Strafgesetzbuch von 1813 behauptet Feuerbach: „Die ordentliche Strafe für jeden gesetzlich ausgezeichneten Grad des Verbrechens ist in dem Gesetze bestimmt, sowohl in der Ansehung der Straftat, als auch in Ansehung des Grades, jedoch, was den letzten betrifft, nach einem feststehenden ‚Minimum‘ und ‚Maximum‘, so daß nun zwar der Richter innerhalb dieser Grenzen nach Erwägung der besonderen Umstände eines jeden Falles die Strafe mehren oder mindern, jedoch niemals eigenmächtig über das ‚Maximum‘ oder unter das ‚Minimum‘ herabsteigen darf“.18 In diesem Satz wird Grolmans Auffassung zwar ausdrücklich anerkannt, doch bleibt bemerkenswerterweise unerwähnt, daß Grolman der Vater dieser strafrechtlichen Lösung war. Grolman war der Begründer dieser Form der Strafmaßbestimmung, die von fast allen modernen Strafgesetzbüchern übernommen worden ist, so daß man in diesem Sinne Grolman als den Begründer der modernen Strafgesetzgebung im Rechtsstaat bezeichnen darf. Seinem Vorschlag haben sich nur zwei Extreme widersetzt: Zum einen, wie gesagt, das französische Strafgesetzbuch von 1791, ein Ergebnis der französischen Revolution, welches die gute Absicht hatte, auf die vollkommene Willkür des ‚ancien régime‘ zu reagieren; seine schlechten Folgen hat später Victor Hugo in seinem Roman Les Misérables gezeigt. Und zum anderen steht der Grolmanschen Lehre der Entwurf eines Strafgesetzbuchs entgegen, den N.V. Krylenko während der zwanziger in der Sowjetunion vorgelegt hatte. Darin werden ohne Strafmaßbestimmungen nur allgemeine Verbrechen gegen die sozialistische Gesellschaft aufgeführt. Während das Gesetzbuch von 1791 fast nur aus einem Besonderen Teil bestand, verfügte demgegenüber der Entwurf Krylenkos nur über einen Allgemeinen Teil. Grolmans Versöhnung von Spezialprävention als Strafzweck mit der Rechtssicherheit als Garantin der Freiheit und Schutz vor Willkür schuf ein Maß von strafrechtlicher Gerechtigkeit, das selbst als Ausdruck von Grolmans Humanismus angesehen werden kann.
___________ 17 Paul Johann Anselm Feuerbach, Über die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers. Nebst einer näheren Prüfung der Kleinischen Strafrechtstheorie, Chemnitz 1800, S. 78. 18 Paul Johann Anselm Feuerbach, Geist des Strafgesetzbuchs von 1813, posthum publiziert im Biographischen Nachlaß, hrsg. v. Ludwig Feuerbach, Leipzig 1853, Bd. I, S. 219 f.
III. Ende des Naturrechts? Geschichte und ‚absolute Sittlichkeit‘
Das Naturrecht der Triebe, oder das Ende des Naturrechts: Johann Jakob Schmauß und Johann Christian Claproth
Merio Scattola
I. Eine Bedingung des modernen Naturrechts Es gehört zu den ersten und wesentlichsten Postulaten des modernen Naturrechts, daß sein Prinzip rein intellektueller Natur sein soll. Das Prinzip des Naturrechts ist ein Grundsatz oder ein Lehrsatz, auf jeden Fall ein ‚Satz‘, der nur im Bereich des Verstandes, des vernunftmäßigen Kalküls, des Logischen existiert. Es ist ein Satz, der sich in der Welt der Gedanken, aber nicht in der Welt der Dinge oder des Willens bewegt. Die Welt der Gedanken ist nämlich von der Welt der Leidenschaften aufs strengste getrennt, obwohl sie einander auf verschiedene Weise bedingen können. Darin ist der Grundsatz das Ergebnis einer aufsteigenden Kette von Gedanken und ist gleichzeitig der Ausgangspunkt einer neuen absteigenden Reihe von Schlußfolgerungen, an deren Ende eine Handlung, das ist eine Wirkung auf die andere Welt, auf die Welt der Dinge und der Leidenschaften, veranlaßt wird.1 Diese Zentralstelle des Grundsatzes im Bereich der Gedanken hat Thomas Hobbes am ausführlichsten im sechsten Kapitel seines De corpore (Elementa philosophiae pars prima) beschrieben, wo er den ‚regressus‘ oder den doppelten Weg der Methode gründlich erklärt.2 Der erste Schritt der naturrechtlichen ___________ 1
Dazu vgl. Merio Scattola, Principium oder principia? Die Diskussion über den Rechtsgrundsatz im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Recht und Ethik. Annual Review of Law and Ethics, hrsg. v. B. Sharon Byrd / Joachim Hruschka / Jan C. Joerden, Band 12 (2004). Themenschwerpunkt: Zur Entwicklungsgeschichte moralischer Grund-Sätze in der Philosophie der Aufklärung. The Development of Moral First Principles in the Philosophy of the Enlightenment, Berlin 2004, S. 3–26, hier S. 3–10. 2 Vgl. Friedrich Otto Wolf, Die neue Wissenschaft des Thomas Hobbes. Zu den Grundlagen der politischen Philosophie der Neuzeit. Mit Hobbes’ Essayes, StuttgartBad Cannstatt 1969, S. 19–24; Malte Dießelhorst, Naturzustand und Sozialvertrag bei Hobbes und Kant. Zugleich ein Beitrag zu den Ursprüngen des modernen Systemdenkens, Göttingen 1988, S. 5–8. Zum Doppelweg der Analysis und Synthesis, der eigent-
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Merio Scattola
Erkenntnis muß dementsprechend die Reduktion sämtlicher menschlichen Erfahrungen auf die Einheit eines meßbaren Gedankens, also auf die Einheit des Begriffs sein. Erfahrung ist nämlich nur Erinnerung, und man wird erst dann denken, das heißt mit seinen Erinnerungen arbeiten, wenn man sie miteinander addiert oder voneinander subtrahiert. „Per ratiocinationem autem intelligo computationem.“3 Diese Gleichsetzung von Erkenntnis und Begriff ist besonders in der politischen Wissenschaft erfolgreich, weil alles, was sich dort abspielt, Meinungen und Gedanken sind, oder ein Produkt ihrer Verknüpfung ist. Im wirklichen Leben hat man nämlich immer mit komplexen Zusammenhängen zu tun, die oft eine Entscheidung, sei es im sittlichen, sei es im politischen, sei es im juridischen Bereich, erfordern. Man soll also zuerst den gegebenen Zusammenhang in seine Bestandteile durch die analytische oder auflösende Methode zergliedern und dasselbe Verfahren so lange wiederholen, bis keine Teilung mehr möglich ist und all die ersten Elemente vorliegen. Nachdem man auf diesem äußersten Punkt angelangt ist, ist es möglich, von dorther wiederum durch die synthetische oder kompositive Methode die ersten Elemente derart miteinander zusammenzusetzen, daß sie wieder jenen Zusammenhang hervorbringen, von dem man ausgegangen war.4 Man könnte zwar glauben, daß dieser doppelte Weg zu einem Nullresultat führt, und daß der Ertrag – wie Gereon Wolters und Jürgen Mittelstraß sagen – nur ein „Beweistheoretischer“ sei,5 denn man wisse am Ende eben dasselbe, was man am Anfang gewußt habe. Dies ist aber nicht der Fall, denn am Ende dieser Argumentation kennt man die einzelnen Bestand___________ lich schon längst unter dem Namen des regressus bekannt war, vgl. Giovanni Papuli, La teoria del regressus come metodo scientifico negli autori della scuola di Padova, in: Aristotelismo veneto e scienza moderna. Atti del 25° Anno Accademico del Centro per la storia della tradizione aristotelica nel Veneto, hrsg. v. Luigi Olivieri, Padova 1983, vol. 1, S. 221–277; Angelo Crescini, La teoria del regressus di fronte all’epistemologia moderna, in: Aristotelismo veneto e scienza moderna, hrsg. v. L. Olivieri (wie Anm. 2), vol. 2, S. 576–590; Rudolf Schicker, Einführung in Jacopo Zabarella, Über die Methoden (De methodis). Über den Rückgang (De regressu). Eingeleitet und übersetzt v. Rudolf Schicker, München 1995, S. 15–80, hier S. 63–76. Zu den methodologischen Auseinandersetzungen zwischen den politischen Autoren des frühen siebzehnten Jahrhunderts vgl. Merio Scattola, Arnisaeus, Zabarella e Piccolomini: la discussione sul metodo della filosofia pratica alle origini della disciplina politica moderna, in: La presenza dell’aristotelismo padovano nella filosofia della prima modernità, hrsg. v. Gregorio Piaia, Roma / Padova 2002, S. 273–309, hier S. 307–308. 3 Thomas Hobbes, Elementorum philosophiae sectio prima. De corpore, in: ders., Opera philosophica quae Latine scripsit omnia, hrsg. v. Gulielmus Molesworth, London 1839–1845, ND Aalen 1961, I, 2–3, S. 2–3, hier S. 3. 4 Ebd., VI, 7, S. 65–66. 5 Gereon Wolters / Jürgen Mittelstraß, [Art.] ‚Methode, analytische‹, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, hrsg. v. Jürgen Mittelstraß, Mannheim 1984, Bd. 2, S. 879a–881b, hier S. 880a.
Das Naturrecht der Triebe
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teile und die besonderen Verhältnisse, aus denen eine menschliche Angelegenheit besteht, und man kann also auch die Folgen oder Verpflichtungen voraussehen, die aus jenen hervorgehen. Wenn der ursprüngliche Zusammenhang schon am Anfang des Beweisvorgangs korrekt zusammengestellt war, hat man ihn am Ende richtig erklärt; wenn er aber falsch erdacht war, wird der analytisch-synthetische Doppelweg ihn verbessern oder ihn gegebenenfalls für nichtig erklären. Setzen wir zum Beispiel den Fall, daß man über das Widerstandsrecht gegen den souveränen Herrscher diskutiert; nachdem man die ersten Prinzipien der politischen Wissenschaft eingesehen hat, wird man zugeben, daß solch ein Gebilde unmöglich ist. Wirksam und erfolgreich ist dieser Beweisvorgang aber nur insofern, als er sich rein in der Sphäre des Denkens bewegt, denn dort gilt die Kongruenz als das einzige Kriterium der Wahrheit. Zu erklären bleibt selbstverständlich, wie sich ein Vorgang, der sich rein im Gedanklichen abspielt, auf die Leidenschaft, auf das Nicht-Gedankliche auswirken kann. Man kann die Prinzipien, zu denen die analytische Methode kommt und von denen die synthetische Methode ausgeht, so weit miteinander vergleichen und assimilieren, daß nur eines von ihnen am Ende bleibt, das in einer Disziplin als Fundamentalsatz wirkt. Wenn man diese Grundformel erreicht hat und sie ein für allemal gesichert hat, kann man ganz auf die erste Hälfte des wissenschaftlichen Weges, auf die Findung, verzichten und sich ausschließlich deren zweitem Teil, der Demonstration, widmen, was besonders ertragreich ist, wenn es um die Ableitung einer gesamten Disziplin geht.6 Dies ist auch beim Naturrecht der Fall, in dem also folgende Bedingungen gelten: 1. Man kann in ihm einen ersten Grundsatz festlegen; 2. Aus diesem sind alle anderen Sätze zu deduzieren; er enthält in sich also alle weiteren Elemente des Systems; 3. Er ist rein intellektueller Natur. Diese Beschaffenheit des Prinzips wurde sehr deutlich von Samuel Pufendorf erkannt und mit folgenden Worten beschrieben: „Nachdem ich mich dazu entschieden hatte, das Naturrecht in der richtigen Form einer Disziplin zu gestalten, so daß alle ihre Teile konsequent angeordnet sind und sich einander bedingen, war meine erste Sorge, eine passende Grundlage oder einen Grundsatz zu finden, der alle anderen Regeln in sich kompendierte und umfaßte;
___________ 6 Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium. Erster Teil: Text (Liber primus– Liber quartus), hrsg. v. Frank Böhling, Berlin 1998, I, 2, 2–3, S. 27–29 und I, 2, 8, S. 33–34. Vgl. Thomas Behme, Samuel von Pufendorf: Naturrecht und Staat. Eine Analyse und Interpretation seiner Theorie, ihrer Grundlagen und Probleme, Göttingen 1995, S. 31–34; Andrea Schrimm-Heins, Gewißheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe ‚certitudo‘ und ‚securitas‘. Teil II, in: Archiv für Begriffsgeschichte 35 (1992), S. 154–170.
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durch eine einfache und eindeutige Subsumierung sollte man von jenem Grundsatz alle anderen Regeln deduzieren und sie in ihn wiederum auflösen.“7
Auch an einer anderen Stelle in seinem erfolgreichen Lehrbuch Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers wiederholte Pufendorf denselben Gedanken einer Koimplikation aller systematischen Schlußfolgerungen des Naturrechts in dessen Prinzip: „Die übrigen Gebote seynd gleichsam nur gewisse unter diesem allgemeinen Gesetze enthaltene Subsumtiones, deren Deutligkeit das allen Menschen angebohrne natürli8 che Licht ihnen helle genug vor Augen stellet.“
Diese ausgesprochen ‚intellektualistische‘ Einstellung ist nicht allein den rationalistischen Strömungen und Autoren des modernen Naturrechts – zum Beispiel Leibniz oder Wolff – eigen, sondern wird auch von ‚Voluntaristen‘ wie Hobbes und Pufendorf vertreten. Sie ist ein Grundzug des modernen Naturrechts, der gleichsam zu dessen Wesen gehört. So auch Christian Thomasius und Nikolaus Hieronymus Gundling, die vielleicht am heftigsten die Überlegenheit des Willens über den Verstand vertraten, bestanden wie alle ihre Zeitgenossen auf der intellektuellen Natur des Grundsatzes und auf dem „logischen Aufbau“ des Naturrechts.9 ___________ 7
Samuel Pufendorf, Specimen controversiarum circa ius naturale ipsi nuper motarum, 1678, in: ders., Eris Scandica und andere polemische Schriften, hrsg. v. Fiammetta Palladini, Berlin 2002, cap. 4: De fundamentali propositione legis naturalis, S. 142: „Postquam constitutum mihi fuerat ius naturale in iustae formae disciplinae redigere, cuius partes inter se bene cohaererent, et ex se evidenter fluerent; prima cura fuit circa constituendum idoneum fundamentum, seu propositionem fundamentalem, quae videlicet omnia eiusdem praecepta compendio complectetur, et ex qua ista facili et perspicua subsumtione deduci, in eamque resolvi possent.“ Vgl. Wolfgang Röd, Geometrischer Geist und Naturrecht. Methodengeschichtliche Untersuchungen zur Staatsphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1970, S. 97. 8 Samuel Pufendorf, Einleitung zur Sitten- und Stats-Lehre/ Oder Kurtze Vorstellung der Schuldigen Gebühr aller Menschen/ und insonderheit der Bürgerlichen StatsVerwandten/ nach Anleitung Derer Natürlichen Rechte; aus dem Lateinischen übersetzet durch Immanuel Webern, [Leipzig] 1691, in: ders., De officio, hrsg. v. Gerald Hartung, Berlin 1997, I, 3, 9, S. 127. 9 Vgl. Nikolaus Hieronymus Gundling, Ius naturae ac gentium connexa ratione novaque methodo elaboratum et a praesumtis opinionibus aliisque ineptiis vacuum. Editio secunda auctior et emendatior, Halae 1728, (1. Aufl. 1714), II, 5, S. 27: „Quia iam in Ethica totius philosophiae moralis ambitum circumspeximus, non erit iam res magni negotii, receptae insistere methodo, et sectari et invenire axioma, in quo conclusiones omnes contineantur, placuitque haec methodus in scholis, ut paullo citius absolverent sphaeram suam docentes. Illi vero non minus falluntur, qui uno filo ex uno axiomate et principio universas deduci conclusiones posse negant. Possunt utique, si quis vim demonstrandi intelligat, et, quid in tali enunciatione lateat, ordine detegere queat.“
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Dies ist gleichsam die innere Grenze des Naturrechts, und wenn man sie überschreitet, wird das Naturrecht als Wissenschaft, als universitäres Fach, als moralphilosophische Theorie überflüssig und unmöglich. Aus ihr ergeben sich zwei wichtige Folgen. Zum ersten, um die scholastische Terminologie Johann Kleinschmidts, eines Zeitgenossen von Pufendorf, zu benutzen,10 können wir sagen, das Prinzip dieser Disziplin sei ausschließlich ein ‚principium cognoscendi‘, weil das Naturrecht kein eigentliches ‚principium essendi‘ anerkenne, und sein erster Grundsatz nur insofern auch als ‚principium essendi‘ gelte, als er ein reines ‚principium cognoscendi‘ sei. Anders gesagt, die Verpflichtung und der Zwang können nur einen intellektuellen Ursprung haben. Zum zweiten muß man aus dem System des Naturrechts alle jene Elemente ausschließen, die eine direkte, nicht intellektuell vermittelte Wirkung beanspruchen. Daher der wahre Abscheu des Naturrechts vor der Lehre der angeborenen Ideen mit allen ihren theologischen Folgen. „Daß man insgemein saget/ es sey denen Menschen dieses Gesetze von Natur bekannt/ das ist nicht also auszudeuten/ als ob in der Gemüthern/ so bald sie zur Welt kommen/ von ihren Thun und Lassen deutliche und würckliche Propositiones vorhanden wären; sondern es hat vielmehr damit diese Meynung/ theils/ daß vielgedachtes Gesetze durch das Licht der Vernunfft aufgesuchet werden können; theils auch/ daß zum wenigsten die allgemeinen und vornehmsten Haupt-Stücke derer Natürlichen Rechte so helle und klar seyn/ daß man denenselben allsogleich beyfallen muß/ und sie sich in unsern Gemüthe dermassen feste einsetzen/ daß es ohnmöglich ist/ sie ganz wieder daraus zu vertilgen/ ob auch schon ein gottloser Mensch die Fühlung deroselben/ zu Besänfftigung seines sonst nagenden Gewissens/ mit allen Fleiß zu ertödten trachtet.“11
II. Johann Jakob Schmauß 1. Das Programm von Schmauß Der radikale Zweifel an der intellektuellen Beschaffenheit des Grundsatzes, den der gemäßigte Voluntarismus nicht aufkommen lassen konnte, weil man sonst ___________ 10
Johann Kleinschmidt, Tractatus de principiis et studio iuris. Sive praecognita iurisprudentiae, Marpurgi Cattorum 1660, (1. Aufl. Herbornae Nassoviorum, 1652), IV, 1, 1, S. 184: „Principia iurisprudentia alia sunt essendi sive rei, alia cognoscendi sive cognitionis. Essendi principia sunt, a quibus praecepta mediorum ad finem ordinatorum dependent“ und IV, 2, 1, S. 199: „Principia iuris cognoscendi sunt, ex quibus conclusiones et praecepta systematis iuridici cognoscuntur, demonstrantur et probantur.“ 11 Samuel Pufendorf, Einleitung zur Sitten- und Stats-Lehre (wie Anm. 8), I, 3, 12, S. 127 = ders., De officio (wie Anm. 8), I, 3, 12, S. 23. Vgl. auch ders., De iure naturae et gentium. Erster Teil (wie Anm. 6), II, 13, S. 144; ders., Specimen controversiarum (wie Anm. 7), IV, 23–24, S. 161–165.
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damit das Naturrecht zerstört hätte, wurde ab den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts von Johann Jakob Schmauß ausdrücklich formuliert.12 Er radikalisierte die Positionen von Christian Thomasius13 und zeigte dadurch sowohl die innere Beschaffenheit von System und Prinzip als auch die logischen Grenzen der Disziplin.14 Schmauß warf konsequent jene Frage auf, die wir bei Thomas Hobbes am Ende des methodischen Rückgangs erwähnt haben: Angenommen, daß Prinzip und Deduktion des Naturrechts immer und ausschließlich im Bereich des Gedankens bleiben, wie können sie den Willen und die Leidenschaften steuern, die außer jenes Bereichs liegen? Für Schmauß, der aus der Schule von Thomasius kam,15 war dieses Problem unabwendbar und gleichsam schicksalhaft; es war, ___________ 12
Johann Jakob Schmauß, 1690 in Lindau geboren, war in Halle Schüler von Thomasius und Gundling. An derselben Universität hielt er Vorlesungen über Reichshistorie, bis ihn Adolf Gerlach von Münchhausen 1734 nach Göttingen berief und mit der Lehre von Reichsstaatsrecht, Naturrecht, Völkerrecht und Geschichte beauftragte. 1742 mußte er nach Halle zurückgehen, kam jedoch nach zwei Jahren nach Göttingen zurück, wo er 1757 starb. Zur Biographie von Schmauß vgl. Johann Matthias Gesner [Pseud. Jeremias Nicolaus Eyring], Biographia academica Gottingensis, Halae 1768, to. 1, S. 109–130; Götz von Selle, Die Georg-August Universität zu Göttingen 1737–1937, Göttingen 1937, S. 52–54; Ferdinand Frensdorff, [Art.] ‚Schmauß, Johann Jakob‘, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1890, Bd. 31, S. 628–631; Wolfgang Sellert, Johann Jakob Schmauss – ein Göttinger Jurist, in: Juristische Schulung 25 (1985), S. 843–847. Seinen akademischen Ruhm verdankte Schmauß seinen Handbüchern des Reichsstaats- und Völkerrechts. Vgl. Johann Jakob Schmauß, Corpus iuris publici Sacri Romani Imperii academicum, enthaltend des Heiligen Römischen Reiches GrundGesetze, 4. Aufl., Leipzig 1745, (1. Aufl. 1730). 13 Johann Jakob Schmauß, Vorstellung des wahren Begriffs von einem Recht der Natur, Göttingen 1748, auch in ders., Neues ‚Systema‘ des Rechts der Natur. Nachdruck der Ausgabe Göttingen 1754 und von zwei verwandten Schriften. Eingeleitet von Marcel Senn, Goldbach 1999, S. 9. Vgl. Hinrich Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule, Bonn 1968, S. 100–102; Gottfried Zieger, Die ersten hundert Jahre Völkerrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Vom ‚Ius naturae et gentium‘ zum positivem Völkerrecht, in: Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, hrsg. v. Fritz Loos, Göttingen 1987, S. 32–74, hier S. 39–44. 14 Diethelm Klippel und Frank Grunert sehen in dieser Radikalisierung auch den Ansatz einer liberalen Freiheitslehre. Vgl. Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 86; Frank Grunert, Das Recht der Natur als Recht des Gefühls. Zur Naturrechtslehre von Johann Jacob Schmauß, in: Jahrbuch für Recht und Ethik (wie Anm. 1), S. 137–153, hier S. 149. Vgl. auch Marcel Senn, Freiheit aus Instinkt. Zum anthropologisch begründeten Rechtspositivismus von Johann Jacob Schmauß (1690–1757), in: J.J. Schmauß, Neues ‚Systema‘ (wie Anm. 13), S. VII–XXV. 15 F. Grunert, Das Recht der Natur als Recht des Gefühls (wie Anm. 14), S. 145– 151.
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wie wir jetzt in den Zeitungen trotz der Warnungen der Grammatiker lesen, „vorprogrammiert“. Er stellte sein Vorhaben folgendermaßen vor: „Er ist hier nicht die Frage, ob man durch ratiocinationem ein oder andere propositiones universales erfinden könne, aus welchen allerley Schlüsse von Pflichten der Menschen hergeleitet werden mögen [...]. Diß alles macht kein ius naturae, proprie sic dictum [...]. Es bringt nur eine blose Erkänntnüß, cognitionem, daß diese oder jene propositiones vernünftig sind, daß diese oder jene conclusiones daraus folgen et c. Aber es afficirt den Willen des Menschen nicht, und würckt innerlich in demselben keine obligation; sondern es heißt allezeit dabey: video meliora proboque, deteriora sequor.“16
Wenn aber der Gedanke auf den Willen nicht wirken kann, dann muß das Prinzip des Naturrechts nicht im Bereich des Denkens, sondern im Bereich des Willens gesucht werden. Mit anderen Worten, nicht der vernunftmäßige Mensch, sondern der natürliche Mensch und seine unmittelbare Natur sind Ursprung des Rechtes. So muß Schmauß weitere Fragen stellen: „Es folgt daraus noch weiter, daß es hier nicht erlaubt ist, aus seinem Kopf principia und propositiones primas zu erdencken, z. E. socialitatis, voluntatis divinae, benevolentiae, utilitatis, perfectionis et c., aus welchen man durch allerley raisonnements officia der Menschen gegen einander deduciren kan. Es fragt sich nicht, wie etwas seyn könte, sondern ob und wie es würcklich seye; und zwar ob und was dem Menschen vor ein Recht in seiner Natur angebohren ist, und nicht was durch mühsames und künstliches Nachsinnen kan erdacht werden.“17
Man muß das Naturrecht nicht im Verstande, sondern im Willen des Menschen suchen, oder, wie Schmauß sagt, in seinem Herzen. „Wann man also sich einen rechten wahren Begriff von dem Recht der Natur formiren will, so muß man sich ein solches Recht vorstellen, das dem Hertzen und Willen der Menschen angebohren ist, und innerlich in dem Hertzen selbst empfunden und gefühlet, nicht aber erst aus allerley Vernunftschlüssen erdacht wird“.18
Das Hauptproblem des Naturrechts ist es dann, zu untersuchen „ob antecedenter ad omnen ratiocinationem hominis, et praescindendo a ratione humana, in der Natur des Menschen und absonderlich des menschlichen Willens, als der wahren Quelle aller menschlichen Vornehmungen und Thathandlungen principia aequitatis connata stecken, die eine vim obligandi connatam haben.“19
___________ 16
J.J. Schmauß, Vorstellung (wie Anm. 13), 5, S. 15–17. Johann Jakob Schmauß, Neues ‚Systema‘ des Rechts der Natur, Göttingen 1754, auch in ders., Neues ‚Systema‘ (wie Anm. 13), III, 1, 6, S. 454. 18 J.J. Schmauß, Vorstellung (wie Anm. 13), S. 15. 19 Ebd., 5, S. 17. Dies sei auch der ursprüngliche Sinn des Naturrechts, der von Cicero (Pro Milone, IV, 10), den römischen Juristen (Digesta, I, 1, 1, 3) und dem Apostel Paulus (Römer, II, 14–15) richtig anerkannt, aber von den Kirchenvätern, den Schola17
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2. Die Dubia iuris naturae Diese Zweifel und die daraus entspringenden Aufgaben waren aber zur Zeit von Schmauß nicht ganz unbekannt, und in der Tat entlieh er seine kritischen Argumentationen von den Dubia iuris naturae des Johann Friedrich Hombergk zu Vach,20 einer 1719 anonym erschienenen Schrift, die Schmauß als einen der wichtigsten Beiträge in der Diskussion über das Naturrecht schätzte und in kommentierten Exzerpten auch in sein Neues ‚Systema‘ des Rechts der Natur aufnahm. Die Dubia iuris naturae, welche wegen ihrer scharfen und negativen Thesen bald Anlaß einer heftigen Kontroverse gaben, an der sich unter anderen auch Adam Friedrich Glafey, Michael Christoph Hanov und Johann Christian Claproth beteiligten21, setzten sich den Zweck, eine kritische Prüfung aller naturrechtlichen Begründungen durchzuführen. Sie untersuchten, in wieweit die Begriffe von Recht und Natur konsistent sind, und ob sie miteinander widerspruchsfrei verbunden werden können, und kamen dabei zu dem Ergebnis, daß sämtliche Begründungen des Rechtes durch die Natur, das heißt durch die Fiktion des Naturzustands, unhaltbar sind. Ob man sich auf die ‚existentia Dei‘, den ‚consensus gentium‘ oder die ‚natura societatis‘ (Hugo Grotius),22 auf die ‚auctoritas‘ (Richard Cumberland) oder auf die ‚voluntas divina ex facti eius‘ (Heinrich von Coccejus) beruft, melden sich immer Zweifel, die die Konstruktion des Naturrechts schwanken oder sogar kippen lassen. Was man durch die Idee des Naturzustands begründen kann, ist nur das Recht jedes Menschen auf bestimmte natürliche Güter; man kann aber dadurch keineswegs die Verteilung der Güter, die „distincta dominia“,23 das Eigentum, begründen, woraus folgt, daß alle Menschen dasselbe Recht auf dieselben Güter haben. Im Naturzustand wird man also zwar Recht, aber keine Verbindlichkeit anerkennen, was aber ___________ stikern, Grotius und Wolff völlig verdorben worden sei, bis Pufendorf und Thomasius die Wahrheit wiederhergestellt hätten. Vgl. ders., Neues ‚Systema‘, (wie Anm. 17), I, 7, S. 25–27 (Cicero); I, 15–16, S. 73–154 (Kichenväter und Scholastiker), I, 21, S. 211– 220; I, 27, S. 256–268 (Pufendorf); I, 32, S. 312–316 (Thomasius). Vgl. ders., Vorstellung, (wie Anm. 13), 1–4, S. 1–15; Johann Jakob Schmauß, Kurze Erleuterung und Vertheydigung seines Systematis iuris naturae, Göttingen 1755, auch in ders., Neues ‚Systema‘ des Rechts der Natur (wie Anm. 13), 5–8, S. 19–27. 20 [Johann Friedrich Hombergk zu Vach], Dubia iuris naturae ad generosissimum dominum ***, Duaci 1719. 21 Adam Friedrich Glafey, Vollständige Geschichte des Rechts der Vernunft, Leipzig 1739, (1. Aufl. 1723), S. 270–274; Michael Christoph Hanov, Examen dubiorum contra existentiam atque essentiam iuris naturae motorum [...], resp. Iohannes Carolus Weiss Gedanensis, Lipsiae 1720. 22 [J.F. Hombergk zu Vach], Dubia iuris naturae (wie Anm. 20), I, 2–16, S. 1–7. 23 Digesta, I, 1, 5.
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widersprüchlich ist. Der einzig mögliche Begriff des Naturrechts ist daher dasjenige von Hobbes, der in der Tat die Existenz des Rechtes im Naturzustand leugnete.24 Aus diesem eher düsteren Befund, daß eine natürliche Verbindlichkeit unmöglich ist, wird aber nicht folgen, daß jede Verbindlichkeit undenkbar ist, denn auch der bloße Nutzen kann die Menschen zu einer Vereinbarung leiten, die dann durch Verträge gefestigt wird. Die rechtliche Verpflichtung kann daher nur in einem sozialen Zustand und als Produkt des Zivilrechts gelten. Am Ende ihrer Argumentation müssen die Dubia iuris naturae also feststellen, daß weder Recht noch Natur und daher auch kein Naturrecht existiert, aber auch, daß sowohl das Zivilrecht als auch seine Verbindlichkeit unabhängig vom Naturrecht sind und daher auch ohne letzteres bestehen können.
3.Voluntarismus und empirische Deduktion Aus den Dubia iuris naturae entlehnt Schmauß zwei Elemente: zum einen die Kritik gegen die rationale Deduktion des Naturrechts und zum anderen die Trennung von Natur- und Zivilrecht. Denselben radikalen Zweifel, den Hombergk zu Vach gegen sämtliche Systeme des modernen Naturrechts gehegt hatte, konnte Schmauß gegenüber den Dubia iuris naturae selbst aufkommen lassen, denn auch ihre Kritik bewegte sich immer innerhalb der Grenzen einer intellektualistischen Idee des Naturrechts. Was auch die Dubia iuris naturae bei jeder geprüften Lehre vermißten, war nämlich eine vernunftgemäß vermittelte Begründung des Rechtes in der Natur. Aus der Tatsache, daß sich kein intellektueller Grundsatz, wie Hombergk zu Vach glaubte, im Naturzustand finden läßt, darf man nicht folgern, daß jedes Prinzip unmöglich ist, denn man kann auch ein nicht-intellektuelles Prinzip erdenken. Im Gegenteil: Geht man von der Beobachtung aus, daß der Wille dem Verstand überlegen ist, bleibt eben die Erklärung durch eine unvermittelte Ursache die einzig mögliche. Eine weitere Frage muß hier erwähnt werden, denn solch eine unmittelbare Begründung des Moralgesetzes kann auf zweierlei Weise geschehen, indem die Menschen jenes unvermittelte Gesetz entweder als vernünftiges Gebot einsehen oder als nicht-vernünftigen Trieb empfinden können. Erklärungen der ersteren Art waren der Moralphilosophie seit der Antike in der Lehre der angeborenen Ideen bekannt, die annahm, daß einige Kenntnisse unmittelbar, ‚actualiter‘, im Inneren aller Menschen vorhanden sind und das sittliche Handeln steuern. Wie ___________ 24
[J.F. Hombergk zu Vach], Dubia iuris naturae (wie Anm. 20), I, 17–22, S. 8–11.
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schon Pufendorf ausführlich argumentierte, kann man aber keinen empirischen Beweis über die Existenz solcher ‚notitiae inditae‘ aufstellen, und daher wird es nötig, an der Maxime „Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu“ festzuhalten. Empirisch sind dann die Leistungen der menschlichen Vernunft im Naturzustand kaum von denen der übrigen Tiere zu unterscheiden.25 Nicht die individuelle Vernunft, sondern die Sprache, die Kommunikation und die soziale Verarbeitung gemeinsamer Bedürfnisse sind das, was den Menschen von den Tieren unterscheidet, sodaß die menschliche Überlegenheit, die ‚dignitas hominis‘, in der Gesellschaft, in der Sprache und in der Geschichte zu suchen ist. Man muß also die Lehre der angeborenen Ideen ablehnen und an ihrer Statt annehmen, daß das Prinzip des Naturrechts etwas Unmittelbares und NichtVernünftiges, ein Produkt des Willens, eine Form des Instinktes ist. Wenn aber das Prinzip ein Trieb ist, muß man auch die benutzte Methode ändern. Das ‚klassisch moderne‘ Naturrecht eines Hobbes oder Pufendorf setzte nämlich eine vollständige Vernunftmäßigkeit aller Schritte der Argumentation voraus und unter dieser Bedingung konnte die analytische Methode zur Auffindung des Prinzips einsetzen. In der Tat, wenn man einen vernunftmäßigen Zusammenhang in seine einzelnen Bestandteile so weit auflöste, bis man auf den ersten Grundsatz hinaufstieg, ließ sich dieses Konglomerat konsequent und restlos zergliedern, weil er in allen seinen Teilen homogen rational war. Wenn aber der Ursprung des Naturrechts nicht vernunftgemäß ist, wird diese Kontinuität zwischen den Stufen der Argumentation jäh unterbrochen, und die Auffindung durch die auflösende Methode wird nutzlos: Nichts und niemand kann uns nämlich dafür bürgen, daß der nächste Schritt in der Kette der Triebe und Leidenschaften mit dem vorangegangenen konsistent sein wird. Die nächste Triebäußerung ist in der Tat frei und kann immer eine unerwartete Richtung einschlagen. Wer mit Trieben argumentiert, muß daher sowohl die analytische als auch die synthetische Methode ablehnen, auf den ganzen ‚regressus‘ verzichten, und sich ausschließlich auf die Induktion stützen. Man kann nur feststellen, daß dieser oder jener Trieb wirkt, und diese Ermittlung ist die einzig mögliche Beweisführung. So, um die Existenz der menschlichen Grundverpflichtungen zu begründen, greift Schmauß zu einem empirischen Beweis und entwickelt durch Introspektion eine Art Gedankenexperiment. „Ich setze den Fall: ich begegne auf einer weiten Landstraße einem unbekandten Menschen, der unbewaffnet und schwach ist, vor dem ich nichts zu fürchten habe,
___________ 25
Johann Jakob Schmauß, Dissertationes iuris naturalis quibus principia novi systematis huius iuris, ex ipsis naturae humanae instinctibus extruendi, proponuntur, Gottingae 1740, II, 3, S. 28–29; ders., Neues ‚Systema‘ (wie Anm. 17), III, 1, 9, S. 460–461.
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zum Exempel einem Kind, von dessen Tod ich auch keinen Nutzen oder Vortheil zu erwarten habe. Gegen einen solchen Menschen fühle ich in mir keine Neigung, ihm das geringste Leyd zuzufügen, sondern vielmehr eine benevolenz; ich grüße ihn, ich frage ihn, wo er herkomme, wo er hin wolle, ich wünsche ihm Glück auf die Reise et c. und das alles mit aller Freundlichkeit; oder wann ich ihn auch gar nicht anrede, so bezeuge ich mich wenigstens gantz indifferent gegen ihn. Treffe ich ihn an in einem schlechten, krancken, elenden Zustand, so fühle ich in mir ein Mitleyden, ich übe nach den Umständen opera charitatis und officia humanitatis an ihm aus. Diß sind meine Neigungen, und ich glaube, es seyen die Neigungen aller Menschen.“26
Mit fast denselben Worten begründete August Ludwig Schlözer vierzig Jahre später sein Allgemeines Stats-Recht.27 Als Beweis gilt hier die Evidenz eines natürlichen oder triebhaften Handelns; in der Innerlichkeit und in der Perspektive der Selbstbeobachtung äußert sich aber nur das Gefühl, das die wahrnehmbare Seite eines Triebes ist. Wo man also ein Gefühl gewahrt, da ist auch der Instinkt wirksam, und die Frage, ob eine gewisse Norm zum Naturrecht gehöre oder nicht, kann nur mit der Selbstanalyse entschieden werden, indem man das entsprechende Gefühl findet. „Aus diesem allen folget dann weiter, daß zu einem Beweiß, daß ein natürliches Recht existire, oder daß dieses oder jenes assertum iuris naturae obligatorii seye oder nicht? principaliter nur die innerliche Fühlungen des Willens, und entweder gar keine Vernunftschlüsse oder nur solche die necessario und gezwungener Weise sich 28 geben müssen, erfordert werden.“
___________ 26
Ebd., III, 3, 2, S. 506. August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793, ND Goldbach 1970, S. 38: „Zwei oder merere erwachsne vollbürtige Menschen begegnen sich zum erstenmal. Was werden, was dürfen sie mit einander anfangen? I. Quid facient? Sie werden sich balgen (Hobbes). Sie werden kalt, one Notiznemung, vor einander vorüber gehen (Rousseau). Sei werden sich auf der Stelle freundlich zusammengesellen (Pufendorf). – Man solle doch wol das letzte glauben. Fast im ganzen TierReiche ‚similis simili gaudet‘. Der Mensch wird sich nicht verläugnen können, daß der andre Mensch ein Wesen seiner Art sei; folglich wird er ihn, d. i. sich selbst in seinem andern Ich, lieben; er wird sich bei dessen Schmerz und Lust interessieren.“ Vgl. Merio Scattola, La nascita delle scienze dello stato. August Ludwig Schlözer (1735– 1809) e le discipline politiche del Settecento tedesco, Milano 1994, S. 87–90. 28 J.J. Schmauß, Vorstellung (wie Anm. 13), S. 20. Mit ähnlichen Worten beendet Schmauß sein Buch. Vgl. J.J. Schmauß, Neues ‚Systema‘ (wie Anm. 17), III, 4, 8, S. 534–535: „Ein jeder aber muß sich nun selbst prüfen, ob er dergleichen instinctus, als ich supponirt habe, in seinem Gemüthe fühlet, und ob er alles dessen, was ich davon gesagt habe, innerlich vollkommen und ohne den geringsten Zweifel convinciret seye. Ich habe geschrieben nach denen Neigungen, die ich in mir selbst fühle, und die ich vor angebohren und allen Menschen gemein halte. Wer nun davon urtheilen will, darf nur in sich selbst forschen, ob die angeführte principia aequitatis naturalis sich in seinem Gemüthe auch so finden, oder nicht; so wird sichs leicht ausmachen lassen, ob mein Systema das eigentliche rechte angebohrne Recht der Natur aller Menschen in sich begreiffe.“ 27
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Aus diesem empirischen Beweisvorgang ergeben sich zwei wichtige Folgen. Einerseits kehren alle Schwierigkeiten zurück, die man im Falle der angeborenen Ideen feststellen mußte. Auch hier handelt es sich nämlich um eine Art der Induktion, und, um mit ihr den höchsten Grad der Gewißheit zu erreichen, sollte man zeigen können, daß dieselben Gefühle bei allen Menschen vorhanden sind. Andererseits wird die tiefe Spaltung des Verstands und des Willens, die Schmauß allen naturrechtlichen Systemen der Vergangenheit vorwirft, nicht aufgehoben, sondern einfach umgekehrt. Vorher bewegte man sich im Kreis der Gedanken und konnte keinen Einfluß auf den Willen ausüben; jetzt ist man im Bereich der Triebe eingeschlossen, ohne den Verstand zu berühren. In solch einer Welt aber könnte sich ergeben, daß der Wille dem Verstand oder sogar sich selbst widerspricht, denn zwei nicht-rationale Triebe könnten wohl unterschiedliche und entgegengesetzte Inhalte haben. Aus der Perspektive des Willens und seiner Unvernünftigkeit kann diese Frage niemals entschieden werden, und man benötigt dazu eine externe Instanz. So setzt Schmauß voraus, daß sowohl der Wille als auch der Verstand des Menschen letzten Endes Schöpfungen Gottes sind, der aber nicht dulden kann, daß sie einander widersprechen. Gott wird daher die Welt derart geschaffen haben, daß die menschlichen Triebe nie von den Schlüssen der Vernunft abweichen, sondern im Gegenteil immer mit ihnen übereinstimmen. Die Allmacht Gottes bürgt uns also dafür, daß die Ordnung der Triebe auch die Ordnung der Vernunft ist. „Es concurrirt also bey allen actionibus die ursprünglich aus dem [S. 19] Willen herkommen, der Verstand mit seinen Vernunftschlüssen, und bestättiget diejenigen Sentiments und Empfindungen, die Gott eigentlich dem Willen eingepräget hat; ist auch unmüglich, daß der von Gott erschaffene Verstand des Menschen die von eben dem Gott zugleich erschaffene Natur des Willens, die auf Gerechtigkeit gehet, mißbilligen oder derselben wiedersprechen kan; woraus dann folget, daß das Recht der Natur, ob es gleich ursprünglich nicht aus dem Verstand herkomt, sondern in dem Gemüth, Hertzen und Willen selbst gegründet ist, dennoch in so hohem Grad vernünftig ist, daß die menschliche Vernunft gezwungen ist, und absolute nicht anders kan, als solches mit allen ihren Kräften zu bestärcken. Sie ist aber hierbey nur als pars accessoria und keineswegs principalis anzusehen, und mag auf allen Fall bey diesem oder jenem Menschen in individuo aus allerley accidentellen Ursachen affirmieren oder negiren, was sie will, so bleiben doch die Fühlungen des Menschen innerlich so starck, daß diese ex sensu interno entstehende convinctiones die Oberhand behal29 ten.“
Mit diesen methodischen Mitteln unternimmt Schmauß seine Beschreibung des Naturrechts, die sämtliche Rechte und sämtliche Verbindlichkeiten der Menschen im Naturzustande umschließen soll.30 Seine Erklärung geht nicht auf ___________ 29 30
J.J. Schmauß, Vorstellung (wie Anm. 13), 5, S. 18–20. Ders., Neues ‚Systema‘ (wie Anm. 17), III, 2–3, S. 470–535.
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alle Einzelheiten ein, sondern begnügt sich mit der Auflistung von elf Grundbefugnissen, auf die sich alle juridischen Institute, wie Selbstverteidigung, Eigentum, Familie, Erbrecht, Vertrag, begründen. Sein System bietet daher trotz des Titels eine eher lakonische Darstellung, die methodisch gleichsam das Gegenstück zu den minuziösen und überdetaillierten Deduktionen von Christian Wolff abgibt. Schmauß ist in der Tat überzeugt, daß die Naturrechtslehre nur ein klares Prinzip aufstellen muß und sich auf keine weiteren Deduktionen einlassen soll, denn man kann alle vorkommenden Fälle durch die systematische Anwendung jenes ersten Grundsatzes lösen. „Man möchte einwenden, das Recht der Natur, wie ich es abgehandelt habe, seye gar zu kurtz und also nicht sufficient, so viele Rechtsfragen und Streitigkeiten, die unter den Menschen in statu naturali vorfallen können, zu entscheiden. Darauf antworte ich, daß eben darinn einer der grösten Vorzüge dieses Rechts bestehe. Dann es ist nicht allein das Recht selbst, sondern auch die Application desselben auf alle und jede vorkommende Fälle, so deutlich, so leicht, und so universaliter allen gelehrt und ungelehrten Menschen bekannt, daß man nur allemahl seine eigene angebohrne Neigungen in sich selbst prüfen und schliessen darf: Was du nicht wilst, daß dir gesche31 he, das solst du einem andern nicht thun.“
Klarheit des Prinzips und Umfang der Deduktionen stehen nämlich in einem umgekehrten Verhältnis. Je klarer und einleuchtender ein Prinzip ist, desto weniger Erklärungen benötigt man, sodaß das allerbeste Prinzip überhaupt keine Erklärung erfordern wird. Die Entdeckung des Triebes als des wahren Prinzips des Naturrechts fällt daher bei Schmauß mit dem Ende des Naturrechts als Disziplin zusammen, das keine Begründung mehr leisten kann und höchstens nur noch als pädagogisches Hilfsmittel eingesetzt werden kann: „Was ich in dem obigen bißher zur Erleuterung beygebracht habe, ist ein Überfluß, und vornehmlich zur Überzeugung derer, denen dieses Systema noch neu vorkommt, und insonderheit der studirenden Jugend, so weitläufftig ausgeführet worden. Dann sonst wäre es nicht einmahl nöthig, das Recht, so einem jeden Menschen in das Hertz 32 geschrieben worden, in formam artis zu bringen oder zu dociren“.
___________ 31
Ebd., III, 3, 7, S. 533–534. Ebd., III, 3, 7, S. 534. Insofern übt die wissenschaftliche Behandlung keine Wirkung auf die reale Existenz der naturrechtlichen Gebote aus. Vgl. Heinrich Gottfried Scheidemantel, Anmerkungen, in: Johann Heinrich Gottlob Justi, Die Natur und das Wesen der Staaten als die Quelle aller Regierungswissenschaften und Gesezze, mit Anmerkungen hrsg. v. D. Heinrich Godfried Scheidemantel, Mitau 1771, VIII, 2, 173, Anm. o., S. 383: „Ein anders ist ein künstliches Naturrecht (ius naturae systematicum), ein anders das Recht, welches uns die Natur giebt, ob wir gleich nicht solches durch Vernunftschlüsse beweisen können. Ersteres ist eben nicht notwendig; der Irokese weiß, daß er das Recht hat, sich zu erhalten, er kan es aber nicht als ein Magister demonstrieren.“ 32
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Trotz der äußerlichen Ähnlichkeiten mit den üblichen Systemen jener Zeit – auch hier werden zum Beispiel Eigentum und Familie gerechtfertigt –, stellt die Lehre von Schmauß einen Schnittpunkt in der Geschichte der Disziplin dar, der neue Perspektiven ahnen läßt. Sie wirkt aber auch gleichzeitig in dreierlei Hinsicht als ein Endpunkt in der Geschichte des Naturrechts. Zum ersten erkennt sie kein rationales Prinzip im gewohnten Sinne an; zum zweiten verläßt sie in methodischer Hinsicht die vernunftmäßige Deduktion zugunsten der empirischen Induktion; zum dritten ist ihr System nur scheinbar systematisch, denn seine innere Konsistenz wird nur durch den externen Eingriff der göttlichen Allmacht gewährleistet und ist also willkürlicher Natur. Durch den Zugriff auf die Triebe verzichtet Schmauß auf die drei traditionellen Ideen des Prinzips, der Methode und des Systems, also auf die Grundvoraussetzungen des systematischen Naturrechts und umreißt statt dessen eine empirische Wissenschaft des menschlichen Handelns im Naturzustand.
III. Johann Christian Claproth und die Geschichte der menschlichen Vernunft Der Ansatz von Schmauß wurde von Karl Ferdinand Hommel und Johann Christian Claproth weiter geführt. Schon 1747, also sieben Jahre vor dem Neuen ‚Systema‘ von Schmauß und nur auf der Grundlage von dessen lateinischen Dissertationen aus dem Jahre 1740,33 veröffentlichte Hommel sein Propositum de novo systemate iuris naturae, in dem er sich ausdrücklich auf Schmauß berief und versuchte, die schon 1717 von Michael Heinrich Gribner formulierten Einwände zu beantworten.34 Angesichts der Unterschiede zwischen Natur- und Zivilzustand hatte dieser behauptet, daß man es hier eigentlich mit zwei verschiedenen Gegenständen zu tun hat, die unterschiedliche Prinzipien voraussetzen. Hommel eignete sich diese Idee an und zog daraus den Schluß, daß man mehrere Prinzipien im Naturrecht einführen muß: den Nutzen für das Naturrecht und die Geselligkeit für das Völkerrecht.35 ___________ 33
H. Rüping, Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius (wie Anm. 13), S. 102–
104. 34 Michael Heinrich Gribner, Principiorum iurisprudentiae naturalis libri IV, Vitembergae 1717, Prolegomena, IV, 12, S. 37 und II, 1, 3, S. 155–156. Vgl. Merio Scattola, Models in History of Natural Law, in: Ius commune 28 (2001), S. 91–159, hier S. 154– 155. 35 Karl Ferdinand Hommel, Propositum de novo systemate iuris naturae et gentium ex sententia veterum iurisconsultorum concinnando sive de iure, quod omnia animalia docuit commentatio, Lipsiae 1747, 56–61, S. 48–51 und 88–89, S. 70–71. Vgl. Merio
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Eine andere Richtung nahm der Ansatz von Schmauß durch Johann Christian Claproth, der die Thematik der Triebe vertiefte und mit der Idee einer Zivilisierungsgeschichte der Menschheit verband. Sein Grundriß des Rechts der Natur wurde postum 1749 veröffentlicht, also kurz nach der Vorstellung des wahren Begriffs von einem Recht der Natur (1748) von Schmauß, dessen Name im historischen Kapitel des Grundrisses erwähnt wird. Claproth hatte sich aber schon 1743 mit dem Thema der menschlichen Triebe in seinem Schreiben von den natürlichen Trieben des Menschen ausführlich befaßt.36 Claproth geht von einer völlig empirischen und säkularisierten Vorstellung des Menschen aus. Die allgemeine Erfahrung lehrt nämlich, daß wir äußere und innere Empfindungen erleben, die mit unserem Körper oder mit unserer Seele verbunden sind.37 Das Vermögen, welches die Empfindungen miteinander verknüpft, ist der Verstand; das Vermögen, welches Verlangen oder Abscheu ausübt, ist der Wille.38 Der Wille kann aber entweder durch eine unmittelbare Empfindung oder durch eine vernünftige Vorstellung bewegt werden: Im ersteren Fall hat man einen Trieb, eine Passion, einen Affekt, eine Leidenschaft; im letzteren eine Willensäußerung im engeren Sinne.39 „Beide Arten des Willens stimmen darinn mit einander völlig überein, daß wir blos das Angenehme wollen und das Unangenehme verabscheuen. Wir haben noch keine lebendige empfindende Creatur angetroffen, bey welcher man das Gegentheil wahrgenommen hätte. Dem menschlichen Geiste ist dies Grundgesetz des Willens so feste eingepräget, daß es jederman zur Natur desselben rechnet, die man nimmer ver40 läugnen oder ablegen kann.“
Da also die unvermittelt-unbewußte und die vermittelt-bewußte Form des Willens, der Trieb und die Vernunft, demselben allgemeinen Gesetz unterworfen sind, wird man zwischen diesen, zwischen Trieb und Vernunft, keinen qualitativen, sondern nur einen quantitativen Unterschied finden. Sie sind daher nur zwei Abstufungen oder zwei Grade, zwei Mittel in der Suche nach der Seligkeit, das heißt nach einem Zustand ununterbrochenen Vergnügens.41 ___________ Scattola, Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna, Milano 2003, S. 363–365. 36 Johann Christian Claproth, Schreiben von den natürlichen Trieben des Menschen, in: ders., Sammlung iuristisch-, philosophisch- und critischer Abhandlungen, Göttingen 1743, Stück 3, pp. 404–524. 37 Johann Christian Claproth, Grundriß des Rechts der Natur, Göttingen 1749, II, 34–35, S. 18–21. 38 Ebd., II, 36–37, S. 21–22. 39 Ebd., II, 38, S. 22. 40 Ebd., II, 39, S. 22–23. 41 Ebd., II, 41, S. 23.
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Aus dieser prinzipiellen Identität von Trieb und Vernunft ergeben sich zwei wichtige Folgen im Hinblick auf die Deduktion eines naturrechtlichen Systems. Zum ersten kann man kein Naturrecht ausschließlich auf das eine oder das andere Prinzip begründen, sondern man muß immer beide gleichzeitig als gleichberechtigt anerkennen.42 Die Vernunft allein wird keine ausreichende Begründung ermöglichen, wenn man nur erwägt, daß ein beträchtlicher Teil des menschlichen Lebens verfließt, ohne daß man von der Vernunft Gebrauch macht, und trotzdem werden unsere Handlungen auch in solchem dunklen Zustand zweckmäßig gesteuert.43 Aber auch der Trieb allein kann kein passendes Prinzip abgeben, denn man wird bald ins Verderben stürzen, wenn man blindlings seinen Instinkten folgt.44 Eine richtige Formulierung dieses doppelten Grundsatzes, der beide Elemente des inneren Lebens umfassen soll, ist der Spruch der Alten: „Lebe deiner Natur gemäß!“45 Zum zweiten muß man auch bedenken, daß die Grenzen zwischen Trieb und Vernunft fließend sind, und daß das eine in das andere übergeht. Der Versuch von Schmauß und Hommel, die eine klare Linie zwischen dem Naturzustand der Triebe und dem Zivilzustand der Vernunft ziehen wollten, ist daher als ein Irrtum zu betrachten, und es ist vielmehr anzunehmen, daß die Vernunft erst aus den Trieben gewachsen ist. Dementsprechend muß man sich auch die menschliche Natur keinesfalls als etwas Starres vorstellen, denn sie ist erst im Laufe der Zeit das geworden, was sie sein sollte.46 „Es ist falsch, daß uns alles angebohren seyn müsse, was zum natürlichen Zustande des Menschen gehören soll.“47 ___________ 42 Ebd., II, 58, S. 35: „Wir sind aber so eingerichtet, daß unsere Handlungen theils von gewissen Trieben, theils von Entschliessungen des Willens, welcher von der Vernunft geleitet wird, herkommen. Folglich haben wir Ursache beydes, so wol die Triebe, als die Vernunft, bey der Ausführung des Rechts der Natur zum Grunde zu legen.“ 43 Ebd., II, 59–60, S. 35–37. 44 Ebd., II, 61, S. 37–38. 45 Ebd., II, 62, S. 40: „Uns gefällt es am besten, wenn man bey der alten Einfalt bleibet, und den Menschen in dem Recht der Natur den Rath giebet, seiner Natur gemäs zu leben. Aus den obigen ist bekannt, daß dieses nichts anders bedeuten kann, als der Mensch soll seinen durch die Vernunft gemäßigten und in Ordnung gebrachten Trieben folgen.“ Zu Epikur und den Stoikern, welche die richtigen Prinzipien des Naturrechts entdeckt hätten, vgl. J.C. Claproth, Grundriß des Rechts der Natur (wie Anm. 37), I, 10–11, S. 7–8. Unter die Haupttriebe des Menschen zählt Claproth den Trieb zur Selbsterhaltung, zur Schönheit, zur Neugier und zur Geselligkeit, aus denen der Edelmut, die Dankbarkeit, die Freundschaft, die Rache, die Neigung von Mann und Frau zueinander, die Suche nach Sicherheit und die Erziehung der Kinder entsteht. Vgl. ders., Grundriß des Rechts der Natur (wie Anm. 37), III, 69–92, S. 48–73. 46 Ebd., V, 135–136, S. 98–99. 47 Ebd., V, 137, S. 99–100.
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Die übliche Auffassung des Naturzustands als einer zeitlosen Lage, in der die Menschen keine Veränderungen erleben, ist daher abzulehnen, denn gerade damals, in jener Art Vorgeschichte, hat sich die wichtigste Geschichte der menschlichen Gattung ereignet, als der Trieb durch die Vernunft allmählich ersetzt wurde, und die Menschen die Sprache und viele Formen der Gesellschaft erfanden. Dies ist die Geschichte der menschlichen Zivilisation; sie fand im Naturzustand statt, der also direkt in seinem Wesen historisch ist.48
IV. Die Göttinger Schule des Naturrechts: Johann Heinrich Gottlob Justi, Gottfried Achenwall, August Ludwig Schlözer Schmauß zweifelte Prinzip, Methode und System des Naturrechts an und formulierte sie entschieden empirisch um; Claproth fügte dazu noch ein wichtiges Element hinzu, indem er dieses empirische Anliegen in die historische Dimension projizierte. Aus dem Naturrecht der Triebe ist damit eine empirische und historische Disziplin geworden. Dieselbe Entwicklung wurde auch von anderen Göttinger Professoren fortgeführt, und man könnte gleichsam von einer Göttinger Schule des Naturrechts reden. Wir können zwei Beispiele dieser Linie erwähnen. Johann Heinrich Gottlob Justi, der zwischen 1755 und 1758 die venia legendi an der GeorgiaAugusta genoß, verfaßte 1760 eine Einleitung zur politischen Wissenschaft, die mit einer Beschreibung der Fortschritte der menschlichen Gattung im Naturzustand begann.49 Justi nannte diese historische Beschreibung „politische Metaphysik“50 und berief sich darin ausdrücklich auf Schmauß.51 Darin beschrieb er, ___________ 48 Ebd., V, 141, S. 105–106: „Die Historie muß es uns eigentlich sagen, wie unser Geschlecht nach und nach in die gegenwärtige Verfassung gerathen ist, wie unsere Vorfahren zur Sprache und zu bürgerlichen Gesellschaften gelanget sind [...]. Man nehme nur an, daß zwey Personen beyderley Geschlechts in einer Gegend sich zusammen gefunden [...]. Ihre Verbindung hat die Vermehrung ihres Geschlechts verursachet [...]. Die Kinder haben wieder eben das gegeneinander empfunden, was ehedessen ihre Eltern zur Verbindung brachte, und sie haben ihr Geschlecht unter eben den Umständen fortgepflanzet [...]. Auf die Weise ist die Familie nach und nach zu einer grösseren Gesellschaft erwachsen, ohne daß es nöthig gewesen wäre, durch eine langweilige Überlegung ausfündig zu machen, daß es gut sey, daß die Menschen ihre Kräfte zusammen setzen und an ihrer Wolfarth gemeinschaftlich arbeiten.“ 49 Johann Heinrich Gottlob Justi, Die Natur und das Wesen der Staaten, Berlin / Stettin / Leipzig 1760, I: Von dem Ursprunge der Republicken, S. 3–30, besonders I, 4, S. 7–9. 50 Ders., Die Natur und das Wesen der Staaten (wie Anm. 49), Vorbericht, Bl. 3v–4r. Dazu vgl. Marcus Obert, Die naturrechtliche ‚politische Metaphysik‘ des Johann Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), Frankfurt a. M. 1992, S. 77–102.
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wie die Menschheit vier Gesellschaftsformen, von der Sammlung über die Jagd und die Viehzucht bis zu der Landwirtschaft durchlief, und zeigte, daß der Ackerbau die Voraussetzungen für die Errichtung stabiler politischer Gesellschaften schuf und den wesentlichen Unterschied des Privateigentums einführte.52 Er zeigte auch, daß diese Geschichte der Menschheit gleichzeitig auch eine Geschichte der Gesellschaftsformen und eine Geschichte der Fortschritte des menschlichen Verstands mit einschließt.53 Die europäischen Beiträge von Rousseau,54 Goguet,55 Montagu und Turpin,56 Iselin57, Ferguson,58 Millar,59 und dann auch Turgot60 und Condorcet61 ließen in ___________ 51 Vgl. J.H.G. Justi, Die Natur und das Wesen der Staaten (wie Anm. 49), VIII, 184, S. 306, wo Justi seine Schuld auf eine merkwürdige Weise bekennt: „Der Hauptbegriff des verstorbenen Hofrath Schmauß in Göttingen von dem natürlichen Recht war demnach, ohngeachtet des heftigen Widerspruchs, den er gefunden hat, allerdings richtig. Vielleicht fehlte ihm nur ein genugsam philosophischer Kopf, um die richtige Folge seiner Sätze deutlich zu zeigen, und die Anwendung derselben solchergestalt vorzustellen, daß sie weniger anstößig schien. Ich habe fast zu gleicher Zeit mit ihm, ehe ich noch seinen Tractat gesehen hatte, einen Grundriß des natürlichen Rechts ausgearbeitet, das noch in Manuscript vorhanden ist, das sich gleichfalls auf die natürlichen Triebe gründete, und welches, wenn es dereinst zum Vorschein kommen sollte, bey Vernünftigdenkenden sowohl in Ansehung der Grundsätze, als der Anwendung, wie ich hoffe, keinen Anstoß erregen würde.“ Heinrich Gottfried Scheidemantel vervollständigte Justis Trieb zur Selbsterhaltung durch den „Trieb zur Vergrößerung“. Vgl. H.G. Scheidemantel, Anmerkungen (wie Anm. 32), VIII, 2, 173, Anm. l, S. 383: „Giebt es denn nur allein Triebe zur unsrer Erhaltung und keine Triebe zur Vergrößerung unserer Vorteile und Vollkommenheiten?“, siehe auch Anm. q, S. 385. 52 Vgl. auch A.L. Schlözer, Allgemeines StatsRecht, (wie Anm. 27), S. 46. 53 J.H.G. Justi, Die Natur und das Wesen der Staaten (wie Anm. 49), I, 3, S. 5–6: „Die Menschen werden nicht mit Erkenntniß, sonden bloß mit dem Vermögen zur Erkenntniß geboren. Diese Fähigkeit zur Erkenntniß kann nicht eher wirksam werden, als bis sie bearbeitet wird. Dieses kann nur nach und nach, stufenweise, und, wenn uns nicht die Erkenntniß anderer Menschen zu statten kommt, gewiß sehr langsam geschehen. Die Menschen können also in dem allerersten Zustande ihrer natürlichen Freyheit gar wenige Begriffe gehabt haben und wahrscheinlich von dem Viehe nicht sehr unterschieden gewesen seyn.“ 54 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755), hrsg. und übers. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1998, Teil 2, S. 80–84. 55 Antoine Yves Goguet, De l’origine de loix, des arts et des sciences, et de leurs progrès chez les anciens peuples, Paris 1758, to. 1–3; deutsche Übersetzung: Untersuchung von dem Ursprung der Gesezze, Künste und Wissenschaften wie auch ihrem Wachsthum bei den alten Völkern, übers. v. Georg Christoph Hamberger, Lemgo 1760–1762, Teil 1–3. 56 Edward Wortley Montagu, Reflections on the Rise and Fall of the Antient Republicks. Adapted to the present state of Great Britain, London 1759; deutsche Übersetzung: Betrachtungen über die Aufnahme und den Verfall der Alten Republiken oder freyen Staaten: mit einer Anwendung auf den gegenwärtigen Zustand von Großbritan-
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Europa die Idee der Zivilisierungsgeschichte der Menschheit populär werden; in Göttingen wurde sie von Gottfried Achenwall62 und besonders von dessen Schüler und Nachfolger August Ludwig Schlözer vertreten. Dieser baute die Beschreibung der Menschheit im Naturzustand zu einer autonomen Disziplin aus und nannte sie ‚Metapolitik‘.63 Sie erklärt, wie die Menschen lebten, bevor sie die Staaten gründeten, welche Stadien sie durchliefen (Sammlung, Jagd, Viehzucht, Ackerbau),64 welche Formen von Gesellschaft sie eingingen und welche intellektuellen Fertigkeiten sie in jeder Epoche entwickelten. Die Meta___________ nien, Breßlau 1761; französische Bearbeitung: François Henri Turpin, Histoire du gouvernement des anciennes republiques. Où l’on décovre les causes de leur élevation et de leur dépérissement, Paris 1769; deutsche Übersetzung: Geschichte der Regierungen in den alten Republiken: worinn man die Ursachen ihrer Erhebung und ihres Unterganges aufdecket, [übers. v. Johann Hermann Groot], Mietau / Leipzig 1770. 57 Isaak Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, Frankfurt, Leipzig 1764, Buch II–III (Stand der Natur und Stand der Wildheit), Bd. 1, S. 79–243, besonders II, 27, Bd. 1, S. 161–162. Dazu vgl. Ulrich Im Hof, Isaak Iselin und die Spätaufklärung, Bern / München 1967, S. 77–100 und S. 295–298. 58 Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society, London, Edinburgh, 1767; deutsche Übersetzung: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Leipzig 1768. 59 John Millar, Observations concerning the Diversity of Rank in Civil Society, Dublin 1771; deutsche Übersetzung: Bemerkungen über den Unterschied der Stände in der bürgerlichen Gesellschaft, Leipzig 1773. 60 Anne Robert Jacques Turgot, Philosophische Darstellung der allmählichen Fortschritte des menschlichen Geistes, Paris 1750, in: ders., Über die Fortschritte des menschlichen Geistes, hrsg. v. Johannes Rohbeck / Lieselotte Steinbrügge, Frankfurt a. M. 1990, S. 140–163. 61 Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain. Ouvrage posthume de Condorcet, Paris, Agasse, an III. [1795], époque 1–3, S. 20–68. 62 Gottfried Achenwall, Die Staatsklugheit nach ihren ersten Grundsätzen, Göttingen 1763, (1. Aufl. Göttingen 1761), II, 1–18, S. 12–17. 63 Vgl. A.L. Schlözer, Allgemeines StatsRecht, (wie Anm. 27), S. 13–14: „Metapolitik, ein Abstract aus dem NaturRechte: Untersuchung des Menschen vor dem Stat, und seines physischen und geistigen Wesens; Betrachtung über seine daraus entspringende Rechte und Anlässe zum Übergang in die drei häuslichen und in die bürgerliche Gesellschaft“; Gottlieb Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts, Leipzig 1785, S. 21; Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, Jena 1790, ND Glashütten 1973, II, 1, 2, 358–364, S. 176–178, besonders 358, S. 176; Theodor Schmalz, Das natürliche Staatsrecht, Königsberg 1794, S. 15–43. Vgl. M. Scattola, La nascita delle scienze dello stato, (wie Anm. 27), S. 69–74. 64 A.L. Schlözer, Allgemeines StatsRecht, (wie Anm. 27), Metapolitik, 10: Verschiedenheit der Lebens- oder NahrungsArten, S. 44–46. Vgl. Richard Saage, August Ludwig Schlözer als politischer Theoretiker, in: Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft. Methoden, Inhalte und soziale Prozesse im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Georg Herrlitz / Horst Kern, Göttingen 1987, S. 13–54, hier S. 25–38.
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politik ist zwar mit dem Naturrecht verwandt – Schlözer nennt sie ein „Abstrakt aus dem Naturrecht“65 –, hat aber in sich nichts Systematisches, sondern ist rein historisches Wissen. Und da die Menschen des Naturzustands in einer „bürgerlichen Gesellschaft“ leben – wie sie Schlözer nennt –, ist die Metapolitik die erste Form einer ‚Gesellschaftswissenschaft‘, ein Wissen, das die sozialen Verhältnisse vor dem Staat und unabhängig von ihm betrachtet. Der Zerfallsprozeß des Naturrechts begann mit der Triebtheorie von Schmauß und wurde durch die geschichtliche Vernunft Claproths beschleunigt. Aus ihm hat sich gleichsam eine Soziologie entwickelt; die ist aber gerade das Gegenteil und das Ende des Naturrechts.66
___________ 65
Vgl. A.L. Schlözer, Allgemeines StatsRecht, (wie Anm. 27), S. 13–14. Horst Kern, Schlözers Bedeutung für die Methodologie der empirischen Sozialforschung, in: Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft (wie Anm. 64), S. 55–71; Karl Heinrich Kaufhold / Wieland Sachse, Die Göttinger ‚Universitätsstatistik‘ und ihre Bedeutung für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Anfänge Göttinger Sozialwissenschaft (wie Anm. 64), S. 72–95. 66
Die Pflicht als Heteronomie der Vernunft. August Wilhelm Rehbergs Kritik an der Abstraktheit 1 der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte Vanda Fiorillo I. Methodologische Vorbemerkung: ‚die Theorie aus Erfahrung‘ Gegenstand dieser Abhandlung ist die Überprüfung der Stellung, die August Wilhelm Rehberg2 innerhalb der politischen Debatte in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts zu den Rechten und Pflichten von Mensch und Bürger eingenommen hat. Diese Stellung ist in die konservativ ausgerichtete Kritik3 ein___________ 1 Der vorliegende Text geht auf Studien zurück, die ich in Zusammenhang mit der italienischsprachigen Ausgabe von Rehbergs Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis angestellt habe. Vgl. August Wilhelm Rehberg, Sul rapporto fra teoria e prassi [Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis], hrsg. u. ins Ital. übers. v. Vanda Fiorillo, Mailand 2004, S. 11–77. 2 August Wilhelm R. Rehberg (geb. am 13. Jan. 1757 in Hannover, gest. am 10. Aug. 1836 in Göttingen) war Publizist und Verwaltungsbeamter in Hannover. Zu einem biographischen Porträt dieses Denkers verweise ich auf Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1973, S. 639–661; Ferdinand Frensdorff, [Art.] ‚Rehberg, August Wilhelm‘, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Berlin 1883, XXVII, S. 571–583; Hans-Christof Kraus, [Art.] ‚Rehberg, August Wilhelm‘, in: Lexikon des Konservativismus, hrsg. v. Caspar v. SchrenckNotzing, Graz / Stuttgart 1996, S. 445 f.; Kurt Lessing, Rehberg und die französische Revolution. Ein Beitrag zur Geschichte des literarischen Kampfes gegen die revolutionären Ideen in Deutschland, Freiburg i. Br. 1910, S. 1–10; Sandro Mezzadra, [Art.] ‚Rehberg, August Wilhelm‘, in: Enciclopedia del pensiero politico, hrsg. v. Roberto Esposito / Carlo Galli, Rom / Bari 2000, S. 588; Lukas K. Sosoe, August Wilhelm Rehberg. L’homme et l’œuvre. Notice biographique, Einl. zu Rehberg, Recherches sur la Révolution Française [Untersuchungen über die Französische Revolution], hrsg. u. ins Frz. übers. v. L. K. Sosoe, Paris 1998, S. 27. 3 Unter den von Klaus Epstein ermittelten Idealtypen konservativen Verhaltens stelle Rehberg sicherlich nicht den „Verteidiger des status quo“ oder den „Reaktionäre[n]“ dar, sondern den „Reformkonservativ[en]“, welcher „die Unvermeidlichkeit bestimmter Veränderungen [akzeptiert], obgleich er keine Begeisterung für sie vorschützt“. Bei seinem eifrigen Engagement, „die Kontinuität in Institutionen und Ideen“ zu bewahren, wäre der Reformkonservative – nach der Äußerung von Burke – durch die „Neigung
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zuordnen, welche der Autor gegen die rationalistische Staatsphilosophie des revolutionären Frankreich und deren naturrechtliche Grundlagen vorbrachte. Zu diesem Zweck muß vorausgeschickt werden, daß Rehberg das theoretische Rüstzeug, welches zu seiner Kritik an der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen dient, verfeinert, indem er versucht – in offener Auseinandersetzung mit dem Kant des Über den Gemeinspruch4 –, die grundlegende methodologische Frage nach der Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis zu lösen. In diesem Rahmen entwickelt Rehberg seinen Haupteinwand gegen die Kantische These, derzufolge in der Moral das, was in der Theorie richtig ist, es auch in der Praxis sein muß,5 wesentlich aus der Frage, wie die Pflicht ins Sein gelangt. Der Kritiker Kants stellt also die Grundfrage nach der Art und Weise des Übergangs von der Vernunft zur Sinnlichkeit, von der Welt des Noumenon zu der der Erscheinungen.6 ___________ zum Bewahren zugleich mit dem Bedürfnis zu verbessern“ charakterisiert: vgl. K. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland (wie Anm. 2), S. 19 ff., bes. S. 21. Zu einer ersten Einordnung der Ideologie des deutschen Konservativismus verweise ich auf Martin Greiffenhagen, [Art.] ‚Konservativismus‘, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim / Wien / Zürich 1975, Bd. 14, S.157–161; Hans-Christof Kraus / Karlheinz Weissmann, [Art.] ‚Deutscher Konservativismus‘, in: Lexikon des Konservativismus (wie Anm. 2), S. 119–128; Manfred G. Schmidt, [Art.] ‚Konservativismus‘, in: Wörterbuch zur Politik, hrsg. v. Manfred G. Schmidt, Stuttgart 1995, S. 505 f.; Alberto Tettamanti, Il fenomeno storico del conservatorismo tedesco: interpretazioni e problemi, in: ‚Filosofia Politica‘, III, Nr. 1 (Juni 1989), S. 137–172; Rudolf Vierhaus, [Art.] ‚Konservativ, Konservatismus‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Stuttgart 1982, Bd. 3, S. 531–565. 4 Zu den polemischen Reaktionen von Rehberg und Friedrich von Gentz auf diese Kantische Schrift verweise ich auf Dieter Henrich, Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat, Einl. zu Kant / Gentz / Rehberg, Über Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1967, S. 9–36. 5 Vgl. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: ‚Berlinische Monatsschrift‘, hrsg. v. Johann-Erich Biester (September 1793), S. 201–284; zitiert nach Kant / Gentz / Rehberg, Über Theorie und Praxis (wie Anm. 4), S. 43: „Allein in einer Theorie, welche auf dem Pflichtbegriff gegründet ist, fällt die Besorgnis wegen der leeren Idealität dieses Begriffs ganz weg. Denn es würde nicht Pflicht sein, auf eine gewisse Wirkung unsers Willens auszugehen, wenn diese nicht auch in der Erfahrung (sie mag nun als vollendet, oder der Vollendung sich immer annähernd gedacht werden) möglich wäre; und von dieser Art der Theorie ist in gegenwärtiger Abhandlung nur die Rede“. 6 Zum entscheidenden Problem des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis bei Rehberg vgl. D. Henrich, Über den Sinn vernünftigen Handelns im Staat (wie Anm. 4), bes. S. 16–25, und vor allem Eberhard Günter Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik. Eine Untersuchung ihrer Grundlagen, ihrer Berücksichtigung durch Kant und ihrer Wirkungen auf Reinhold, Schiller und Fichte, Köln / Wien 1975, S. 9–76; L.K. Sosoe, August Wilhelm Rehberg. L’homme et l’œuvre (wie Anm. 2), S. 27–48;
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Dieses Problem stellt sich durch die Rehbergsche Deutung des kategorischen Imperativs als principium diiudicationis oder cognoscendi der Sittlichkeit: Für den Hannoveraner Denker kann das Kantische Du mußt nur als formales Kriterium der Erkenntnis und Beurteilung der Sittlichkeit gelten, aber sicherlich nicht unmittelbar praktisch sein. Demnach habe Kant also nicht beweisen können, wie die reine Vernunft den menschlichen Willen bestimmen kann. Die Unmöglichkeit, die Vernunft in die Praxis umzusetzen, werde durch die Tatsache offenbar, daß „das Selbstbewußtseyn als reiner Vernunft existirt nirgends“,7 während die Idee des absolut Guten, welche durch die Form der Gesetzlichkeit unserer Maximen bestimmt wird, nur mit dem „vernunftmäßige[n]“8 zusammenfalle. Aus dieser Übereinstimmung entnimmt Rehberg daher die AufSich-Selbstbezogenheit der Vernunft, die „sich immer nur in sich selbst herumdreht; sich schlechterdings nicht aus sich selbst herausdenken [...] kann“.9 Das ist das gleiche, als wenn man Kants kategorischem Imperativ die Funktion des Grundsatzes der Ausübung der Sittlichkeit (principium executionis) abstreiten würde. Für Rehberg ist der kategorische Imperativ eher eine bloße petitio principii, und zwar gerade deshalb, weil dem absolut Guten keine synthetischen Grundsätze zugrundeliegen können, sondern ausschließlich eine Aussage, deren Prädikat nichts anderes tut als in einem auf den Satz des Widerspruchs gestützten analytischen Verfahren deutlich zu machen, was bereits im Subjekt implizit enthalten ist: Der kategorische Imperativ gründet sich also auf einen analytischen Grundsatz.10 Infolgedessen bestimmt – nach Rehbergs Ansicht – das höchste Kriterium der analytischen Erkenntnis: d. h. der Satz des Widerspruchs, am Ende den Inhalt des kategorischen Imperatives selbst: „Der Satz des Widerspruchs [ist] das ___________ Michael Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, Meisenheim am Glan 1972, S. 78 ff.; zu Rehberg und Garve bes. S. 91–93, wobei Stolleis nicht nur die von Kant und Rehberg, sondern auch die von Friedrich Gentz und Christian Garve vertretenen Positionen bezüglich der Verbindung von Theorie und Praxis rekonstruiert, und zwar mit der Zielsetzung, die „damaligen Standpunkte zu einer Ethisierung der Politik“ (ebd., S. 86) zu klären. Zu diesem Thema vgl. schließlich Ursula Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution. August Wilhelm Rehberg, Darmstadt / Neuwied 1972 , bes. S. 77–95. 7 August Wilhelm Rehberg, Rezension der Kritik der praktischen Vernunft, in: ‚Allgemeine Literatur-Zeitung‘, Nr. 188 (1788), zit. nach dem I. Anhang zu E.G. Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik (wie Anm. 6), § 17, S. 242. 8 Vgl. ebd., § 18, S. 243. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd.: Für Rehberg kann die Vernunft „nicht [...] für sich selbst synthetische Grundsätze entdecken“.
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oberste principium cognoscendi der reinen Sittlichkeit“.11 Überdies hat die Übereinstimmung zwischen kategorischem Imperativ und dem Satz des Widerspruchs erhebliche Auswirkungen auf den Begriff der Pflicht, und zwar gerade deshalb, weil nach Rehberg die sittliche Notwendigkeit einer Maxime oder einer Handlung allein dadurch anerkannt wird, daß deren Unterlassung dem Sittengesetz widerspricht. Dies würde beweisen, daß die Form der Allgemeinheit der Maximen nichts anderes wäre als eine leere Hülle, durch die eine willkürlich bestimmte Materie des Wollens den Anschein von moralischer Verbindlichkeit erhält.12 Zusammengefaßt erfüllt der kategorische Imperativ – weit davon entfernt als objektiver Bestimmungsgrund menschlicher Handlungen zu fungieren – für Rehberg eine bloße Modellfunktion, um sich in der Praxis zurechtzufinden. Genauer gesagt, wird „der transscendente Gebrauch der reinen praktischen Vernunft“ nur als „Idee“, nicht aber als „Ursache“ „immanent“.13 Unter dieser Voraussetzung gelangt Rehberg in seiner polemischen Schrift Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis dazu, der auf Prinzipien a priori beruhenden Kantischen Theorie (die Theorie aus Prinzipien) eine auf die Erfahrung gründende Theorie (die Theorie aus Erfahrung) gegenüberzustellen, die „allein von der Beobachtung und Erfahrung über die Bedürfnisse und das Betragen des Menschen in bürgerlichen Verhältnissen“14 ausgeht. Dennoch muß letztere, obwohl sie von der Erfahrung lebt, immer den Orientierungswert der theoretischen Prinzipien gebührend berücksichtigen, um in die Wirklichkeit Ordnung zu bringen, ohne dabei in ständigen Widerspruch zu geraten.15
___________ 11
Ebd., § 23, S. 249. Zu diesem Punkt vgl. ebd. Zu Rehbergs Kritik an der Kantischen Pflichtenethik verweise ich auf die Anmerkungen von E.G. Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik (wie Anm. 6), bes. S. 35–37. 13 Vgl. A.W. Rehberg, Rezension der Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 7), § 20, S. 246. 14 August Wilhelm Rehberg, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis, in: ‚Berlinische Monatsschrift‘, Bd. I (Februar 1794), S. 114–143; zit. nach Kant / Gentz / Rehberg, Über Theorie und Praxis (wie Anm. 4), S. 127. 15 Vgl. ebd.: „Die Ausbildung positiver Bestimmungen der Grundgesetze der bürgerlichen Gesellschaft ist allein von der Beobachtung und Erfahrung über die Bedürfnisse und das Betragen des Menschen in bürgerlichen Verhältnissen zu erwarten; und die Theorie aus Prinzipien muß hier nicht der blinden Praxis (welche bloßen Naturtrieben und Gewohnheitsregeln folgt), sondern der Theorie aus Erfahrung“. Zu Rehbergs methodologischem Ansatz in Gestalt der „auf Erfahrung gegründeten Theorie“ verweise ich auf U. Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution (wie Anm. 6), S. 92– 95. 12
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II. Die Nichtanwendbarkeit des Naturrechts auf die bürgerlichen Verhältnisse Gerade vom Gesichtspunkt der Theorie aus Erfahrung legt Rehberg die Kantische Antithese Vernunft-Verstand neu aus, um seine theoretisch bewußt konservative Antwort auf die – von ihm für ‚spekulativ‘ gehaltene – Staatsphilosophie des revolutionären Frankreichs und auf die in ihm wurzelnden naturrechtlichen Grundlagen auszuarbeiten. Wie wir sehen werden, polemisiert er besonders mit den Popularisatoren der Rousseauschen demokratischen Theorie, die er pauschal als ‚Physiokraten‘ bezeichnete.16 Bei der Untersuchung der Rehbergschen These über das Verhältnis zwischen den Menschen- und Bürgerrechten und den Menschen- und Bürgerpflichten gehen wir also von den Definitionen der Vernunft und des Verstandes aus, die uns der Philosoph auf den ersten Seiten seines Hauptwerkes liefert. Vor allem sieht die – zur Leitung der anderen Menschenkräfte bestimmte reine Vernunft von der Erfahrung ab und wirkt ausschließlich (wie gesagt) aufgrund des logischen Satzes des Widerspruchs. Sie ist also zuständig für die Entscheidung darüber, „ob etwas in den Vorstellungen der andern Seelenkräfte widersprechend sey, oder nicht“.17 Daher ist die Vernunft nicht abstufbar: Was das rationale Gefüge anbetrifft, sind alle Menschen gleich.18 Infolgedessen kann kein vernünftiges Wesen ein anderes dazu zwingen, das zu tun, was ihm die eigene Vernunft verbietet.19
___________ 16
Die physiokratische Schule von Quesnay sei nach Rehberg nämlich nicht in der Lage, die Rousseausche Staatstheorie zu verstehen, denn sie habe die Lehre Rousseaus „vergröbert und schließlich ein Zerrbild aus ihr gemacht“. Auf jeden Fall erkennt Rehberg in der „metaphysischen Politik“ der Physiokraten, in ihrem „Streben nach völliger Freiheit, nach Aufhebung aller Vorrechte und besonders aller korporativen Verbände die geistige Basis der Revolution“. Und hier ist es erwähnenswert, daß Rehberg unter anderem eine Position einnahm, „die Tocqueville später wieder zu Ehren brachte“: vgl. K. Lessing, Rehberg und die französische Revolution (wie Anm. 2), S. 38. 17 August Wilhelm Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution, nebst kritischen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften, welche darüber in Frankreich erschienen sind, Hannover / Osnabrück 1793, I. Theil, I. Abschnitt, S. 5. Über Rehbergs Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand verweise ich auf den weiterhin gültigen Beitrag von K. Lessing, Rehberg und die französische Revolution (wie Anm. 2), S. 40 ff. 18 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 5: „Die Vernunft eines Menschen ist der Vernunft eines jeden andern gleich. [...] die Vernunft ist keiner Grade fähig“. 19 Vgl. ebd.
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Umgekehrt ist „das Maaß des Verstandes, und aller anderen Fähigkeiten der Menschen […] sehr verschieden“:20 und gerade weil der Verstand in der Erfahrung wurzelt und auf die einzelnen Menschen in unterschiedlichem Maße verteilt ist, stellt er sich als das diskriminierende Kriterium dar, welches unter den Menschen Ungleichheit schafft, insofern diese auch an der Sinnenwelt teilhaben. Da es, kurz gesagt, in der Praxis einen besseren und einen schlechteren Intellekt gibt, so begründet der Verstand ein Prinzip gesellschaftlicher Rangordnung, insofern als bei Fragen des Verstandes ein Mensch immer einem anderen Menschen untergeben sein kann. Mit Hilfe der so erklärten Antithese Vernunft-Verstand übt Rehberg heftige Kritik an der „metaphysischen Politik“; ein Ausdruck, mit dem der Philosoph die Staatslehre des zeitgenössischen revolutionären Frankreich bezeichnete, die ihm als das Ergebnis reiner Spekulation erschien, denn sie beachtete nach ihm nicht die wirkliche Welt. Rehberg ist in der Tat davon überzeugt, daß wer nicht „von der Krankheit der speculativen Politik“ geheilt sei, „der wird schwerlich aus dem Abgrunde wieder hervorkommen, in den er sich immer tiefer hineinarbeitet; weil es immer dickere Nacht wird, wenn man ausgeht, um Principien von Dingen aufzusuchen, die der menschlichen Natur nach, von unserm Verstande nicht erkannt werden können“.21 Trotz seiner Abneigung gegen eine auf eine „Art Vergötterung der Vernunft“22 gegründete Politik, weist Rehberg der politischen Weisheit oder natürlichen Pflichtenlehre dennoch eine gegenüber der Wirklichkeit kritische Rolle zu: Daß es gelungen sei, die Vorurteile zu beseitigen, ist für ihn das Verdienst einer sorgfältigen Analyse „der Begriffe, der Begebenheiten des gemeinen bürgerlichen Lebens, und der Anordnungen derselben“23 seitens der „speculativen Theoretiker“. Bei der Anwendung des theoretischen Schemas, das bereits zur Berichtigung des Kantischen Moralsystems gebraucht wurde, auf den philosophischpolitischen Bereich gibt Rehberg tatsächlich zu, daß „die ganze Moralität, alle ___________ 20
Ebd. Ebd., I. Theil, II. Abschnitt, S. 55. 22 Vgl. ebd., I. Theil, I. Abschnitt, S. 26. 23 Ebd., II. Theil, Anhang von einigen Schriften über die französische Revolution, welche außerhalb Frankreichs erschienen sind, I. Abschnitt, S. 375: „Durch ihre [ = der speculativen Theoretiker] sorgfältige Analyse der Begriffe, der Begebenheiten des gemeinen bürgerlichen Lebens, und der Anordnungen derselben, haben sie die Vorurtheile vernichtet“. Zur Aufklärung als Kritik des Vorurteils vgl. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983. 21
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Vorstellung von Recht und Unrecht“ auf der Vernunft „beruhet“.24 Dennoch stellt er sich, auch bei der Deutung des zeitgenössischen politischen Lebens, mit aller Kraft das Problem der Grenzen der praktischen Wirksamkeit der Moraltheorie. Beim Versuch, dieses Problem zu lösen, unterstreicht Rehberg vor allem, daß der zu seiner Zeit geläufige und von Kant 1793 widerlegte ‚Gemeinspruch‘,25 nach dem „die Theorie manches lehre, was sich in Praxi anders finde“,26 sich für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen theoretischer und praktischer Ebene an und für sich nicht von Nachteil erweist, sondern vonnutzen ist, um die „Anmaßungen [der Theorie] auf dasjenige einzuschränken, was sie zu leisten vermag“.27 Demgemäß veranlaßt Rehberg das für ihn durch die Vernunft nicht zu begründende Problem des Übergangs von der Ideen- zu der Sinnenwelt und der daraus sich ergebenden Schwierigkeit, die Forderungen nach objektiver Wirksamkeit der Theorie zu begrenzen, dazu festzustellen: „die Grundsätze des Naturrechts, welche in der Abstraktion ganz evident und demonstrativ sind, können [...] in dieser evidenten abstrakten Reinheit auf die wirkliche Welt nicht ganz genau angewendet werden: der menschliche Verstand muß allemal zu Hülfe kommen“.28 Infolgedessen meint Rehberg, daß die Naturrechtsnormen, für sich allein genommen, nicht ausreichend seien, um aus ihnen auf deduktive Weise die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft entstehen zu lassen,29 weil die Vernunft sich zu den politischen Verhältnissen in Schweigen hülle und diesbezüglich auf den Verstand und die Willkür des Menschen verweise.30 Wenn daher die Vernunft zur Reglementierung des bürgerlichen Lebens unangemessen ist, so werden der Staat und die gesellschaftspolitischen Einrichtungen von Rehberg als „Erfindungen des menschlichen Verstandes“ gefaßt, die „auf die Nothwendigkeit evidenter Vernunftwahrheiten keinen Anspruch machen können“.31 Mit anderen Worten: Anders als die deduktive Staatsphilosophie französischer Prägung – die nach der den Vernunftwahrheiten eigentümli___________ 24
A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 12. Vgl. I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (wie Anm. 5). 26 A.W. Rehberg, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis (wie Anm. 14), S. 116. 27 Ebd. 28 A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 14. 29 Vgl. ebd., S. 12: „Die Gesetze der Vernunft sind durchaus nicht hinlänglich, Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft daraus abzuleiten“. 30 Vgl. ebd., I. Theil, II. Abschnitt, S. 44: „Es ist im vorigen Abschnitte gezeigt worden, daß die Vernunft, [...], über die bürgerlichen Verhältnisse schweigt, und uns in Absicht derselben, auf die Ueberlegung und Willkühr des Menschen verweiset“. 31 August Wilhelm Rehberg, Über den deutschen Adel, Göttingen 1803, Einleitung, S. 8 f. 25
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chen Notwendigkeit, Gleichförmigkeit und Unveränderlichkeit strebte – geht die gesellschaftspolitische Praxis für den Hannoveraner Denker aus der „Willkühr“ hervor. Dieser für Rehbergs Auffassung wesentliche Begriff wird von ihm nicht explizit definiert; dennoch kann die Willkür a contrario nicht als „das Zufällige, sondern das Nicht-Vernunftnotwendige“,32 man könnte sagen, als das durch die Erfahrung Gegebene, erklärt werden. Das bedeutet, daß die politische Praxis denjenigen Bereich eingrenzt, innerhalb dessen der Verstand in den verwickelten und unbeständigen bürgerlichen Verhältnissen Ordnung schafft, ohne sich selbst zu widersprechen.
III. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger: Rehbergs Kritik am natürlich-vernünftigen Menschen Im anthropologischen Bereich führt die Anwendung der Kantischen Antithese Vernunft-Verstand Rehberg dazu, bei der Bewertung des Menschen einen stark dualistischen Standpunkt einzunehmen:33 anders gesagt wird das Individuum von ihm zugleich als an der intelligiblen Welt teilhabendes vernünftiges Ens und als sinnliches Wesen gesehen, das an der räumlich-zeitlichen Dimension beteiligt ist. Und gerade diese betont dualistische Auffassung des Menschen veranlaßt Rehberg dazu, den im Zentrum der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen stehenden Begriff des ‚Vernunftmenschen‘ als unbestimmt und abstrakt zu kritisieren. Auf politischer Ebene trifft Rehberg nämlich die grundlegende Unterscheidung zwischen Mensch und Bürger,34 wobei er das wesentliche politische Subjekt nicht im Menschen als solchem ermittelt – eine Kategorie, die auch Verbrecher, Geistesgestörte und Kinder umfassen würde –, sondern im „Bürger mit Rechten proportional zu seiner Verfügungsgewalt über Eigentum“.35 ___________ 32 Franz Uhle-Wettler, Staatsdenken und Englandverehrung bei den frühen Göttinger Historikern, Phil. Diss., Marburg 1956, S. 188. 33 Vgl. Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, mit einem Nachwort von Jörn Garber, Kronberg Ts. / Düsseldorf 1978. Valjavec stellt fest, daß im Vergleich zu den anderen Strömungen der deutschen Aufklärung die Konservativen „in der Wertung des Menschen stärker dualistisch“ sind. „Dem Konservativen widerstrebt die rationale Reflexion und Analyse. Er respektiert nicht nur die Kräfte des Unterbewußten, sondern läßt sich von ihnen auch stärker beeinflussen“: Ebd., S. 256. 34 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, II. Abschnitt, S. 49 f.: „Der Bürger muß also vom Menschen ganz getrennet werden, wenn von politischen Verhältnissen die Rede ist“. 35 K. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland (wie Anm. 2), S. 666.
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Wie an vielen anderen Stellen der Rehbergschen Staatsphilosophie, so stellt sich auch in diesem Falle die Identifizierung der grundlegenden politischen Einheit im Bürger – und nicht im Vernunftmenschen – als direkte Folge der Verneinung des Zusammenhangs objektiver Kausalität zwischen Theorie und Praxis dar. Für den Kritiker Kants existiert der natürlich-vernünftige Mensch – als Subjekt der französischen Menschenrechtserklärung gedacht – nämlich überhaupt nicht, gerade weil die Vernunft „zwar wohl in jedem Menschen wohnt, aber nirgends ganz rein anzutreffen ist“.36 Aus diesem Grunde leiten sich die Bürgerrechte, aus Rehbergs Sicht, nicht aus einer undefinierten allgemeinen menschlichen Natur ab, sondern werden durch das Zusammenwirken von Verstand und Willkür bestimmt, also von der stets veränderlichen und dynamischen Erfahrung. Um es mit Rehbergs Worten zu sagen: „Die Eigenschaft des Bürgers, und die ihr anklebende Rechte, entspringen gar nicht aus den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Natur: sie werden vom menschlichen Verstande erdacht, und willkührlich ertheilt, und haben also auch mit den allgemeinen Rechten, welche dem Menschen vermöge seiner Natur ankleben, nichts gemein“.37 Unter dieser Voraussetzung erwirbt der Rehbergsche Mensch eine eigene Identität, da er in eine politische Gemeinschaft hineingeboren wird und sich „durch unzählige Bande mit andern Menschen“38 ‚bildet‘. Denn in Rehbergs Konservativismus führen die besondere Betonung der Leidenschaften des Individuums und die daraus folgende Verneinung seiner unbestimmten ‚allgemeinen Natur‘ dazu, die Bedürfnisse und Schwächen des Menschen höher zu bewerten als seine Autonomie.39 Dafür spricht, daß vom Individuum besonders dessen konstitutive Verbindung mit dem althergebrachten gesellschaftspolitischen Kontext betont wird, in den es von Geburt an einbezogen ist: „Abhängigkeit ist das Loos der Menschheit; Abhängigkeit vom Schicksale, vom Gesetze der Natur, Abhängigkeit von andern Menschen“.40 ___________ 36
A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 8. Vgl. ebd., II. Abschnitt, S. 50. 38 Vgl. August Wilhelm Rehberg, Prüfung der Erziehungskunst, Leipzig 1792, S. 194. 39 Vgl. Hans Erich Bödeker, [Art.] ‚Menschheit, Humanität, Humanismus‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 1103. 40 A.W. Rehberg, Prüfung der Erziehungskunst (wie Anm. 38), S. 167. Das Thema der menschlichen Abhängigkeit wird von Rehberg auch in seiner Rezension von dem Handbuch der allgemeinen Staatenkunde von Carl Ludwig von Haller behandelt: vgl. August Wilhelm Rehberg, v. Haller’s Handbuch der Staatenkunde, in: ders., Sämmtliche Schriften: Politisch-historische kleine Schriften, Hannover 1829, Bd. IV, S. 142 ff. 37
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In der Praxis erwirbt der Rehbergsche Mensch also eine Bedeutung kraft seiner Abhängigkeit von denjenigen gesellschaftlich-institutionellen Beziehungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte gebildet haben und die ihn als Angehörigen einer bestimmten Familie, Mitglied einer besonderen Zunft oder Vertreter eines bestimmten Standes ausweisen. Innerhalb seiner konkreten Lebensverhältnisse ist der Mensch – genauso wie der Staat und die gesellschaftspolitischen Gebilde41 – ein einmaliges Individuum, und als solches ist er ein Produkt der Geschichte. Damit bestätigt Rehberg, daß im deutschen Frühkonservativismus gerade die Geschichte – im Gegensatz zur Vernunft – zum grundlegenden Prinzip zur Erklärung und Rechtfertigung der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit erhoben wird, in der der Mensch seinen konkreten Standort findet. Genauer gesagt, bringt der Konservativismus eine Auffassung der Geschichte als eine bereits ‚vollendete‘42 hervor, die durch das Goethesche Zusammenfließen von „Vergangenheit und Gegenwart in Eins“43 charakterisiert ist. Als solche ist die konservative Auffassung überwiegend anti-utopisch, eben weil sie kritisch gegenüber einer Vorstellung der Geschichte als eine ‚geplante‘ und auf die Zukunft ausgerichtete ist, die das zeitgenössische Fortschrittsdenken der Aufklärung vertrat.44 Insofern faßt die konservative Strömung der Aufklärung die Gegenwart nicht so sehr als Beginn der Zukunft auf, sondern eher als letzte Etappe einer durch altherkömmliche Sitten und Gebräuche übermittelten Vergangenheit.45 Daher stellt die Überlieferung nicht mehr den unbeweglichen Hintergrund der Gegenwart dar, sondern wird mit der Geschichte selbst identifiziert, also mit einer „Bewegung [...], welche aus der Vergangenheit in die Gegenwart und weiter in die Zukunft führt[…]“.46 Auf diese Weise wird die Dynamik des Lebens und ___________ 41 Nicht nur der Mensch, sondern auch die bürgerlichen Verhältnisse entstehen nämlich nach Rehberg „aus den Umständen früherer Zeiten [...], beziehen sich auf ihre Bedürfnisse, zeugen von ihrer Denkungsart, ihren Sitten“: A.W. Rehberg, Über den deutschen Adel (wie Anm. 31), S. 8. 42 Vgl. Jörn Garber, Die politische Literatur des gegenrevolutionären Frühkonservatismus, in: ders., Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft. Studien zur deutschen Staats- und Gesellschaftstheorie im Übergang zur Moderne, Frankfurt a. M. 1992, S. 316. 43 Friedrich Meinecke, Geschichte und Gegenwart (1930/39), in: ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, hrsg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1965, S. 92. 44 Vgl. noch einmal J. Garber, Die politische Literatur des gegenrevolutionären Frühkonservatismus (wie Anm. 42), S. 316. 45 Vgl. Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1984, hrsg. u. ins Ital. übers. v. David Kettler / Volker Meja / Nico Stehr, mit einem Vorwort von Giuseppe Bedeschi, Rom / Bari 1989, bes. S. 118. 46 U. Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution (wie Anm. 6), S. 97.
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der Geschichte47 gegen die vorherrschende rationalistische Auffassung der fortschrittlich ausgerichteten Aufklärung behauptet. In diesem Rahmen kann das Rehbergsche Individuum sicherlich nicht mit dem Menschen der Aufklärung gleichgestellt werden, der seine eigene Unabhängigkeit kultiviert, welche als „Selbstdenken als aktive Selbstbestimmung der Vernunft“48 zu verstehen ist. In Rehbergs konservativer Anthropologie ‚schafft‘ der Mensch, anders als das ‚gebildete‘ Individuum Humboldts,49 nicht sich selbst, sondern er wird von der Geschichte ‚geschaffen‘. Rehberg kritisiert also die Abstraktheit der naturrechtlichen, die demokratische Theorie Frankreichs begründende Anthropologie, indem er hervorhebt, daß man vom Bild des aus dem gesellschaftlich-institutionellen Kontext herausgelösten homo naturalis nichts anderes als eine unzureichende und dürftige Kenntnis der vielseitigen menschlichen Natur erwerben könne.50 Deshalb „kann und darf [der Mensch] niemals für sich allein betrachtet werden“.51 Kurz: Rehberg ist der Auffassung, daß der „‚Mensch‘ als normativrechtlicher Idealtypus [...] im ‚Bürger‘ aufgehoben werden [soll], der sich dem traditionellen Ordnungsrahmen einfügt“.52
IV. Die Gewohnheitsrechte der Bürger als ‚personae mysticae‘: Rehbergs konservativer Frühsozialismus Wegen der Unmöglichkeit, die Verbindung zwischen der Ideen- und der Erscheinungswelt rational zu klären, erweist sich im Rehbergschen Konservativismus nicht mehr der natürlich-vernünftige Mensch als individueller Bezugspunkt des politischen Bereichs, sondern der Bürger als Eigentümer. D. h. letzterer ist zahlreichen, von der geschichtlichen Tradition bestimmten Verände___________ 47
Vgl. K. Mannheim, Konservatismus (wie Anm. 45), S. 133. W. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik (wie Anm. 23), S. 13. 49 Bekanntermaßen muß im Liberalismus Humboldts der civis soweit wie möglich mit dem ‚gebildeten‘ Menschen zusammenfallen: Zu diesem Zweck soll das Erziehungswesen dem Bürger als solchem nur wenige besondere Eigenschaften abverlangen, damit er „die natürliche Gestalt des Menschen, ohne etwas aufzuopfern, erhalten kann“: Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. Albert Leitzmann, Berlin 1968, Bd. I, S. 143. 50 Vgl. A.W. Rehberg, Prüfung der Erziehungskunst (wie Anm. 38), S. 194 f. 51 Ebd., S. 194. 52 Jörn Garber, Drei Theoriemodelle frühkonservativer Revolutionsabwehr. Altständischer Funktionalismus, spätabsolutistisches Vernunftrecht, evolutionärer ‚Historismus‘, in: ders., Spätabsolutismus und bürgerliche Gesellschaft (wie Anm. 42), S. 356. 48
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rungen unterworfen, die „aus den Handlungen Andrer, die früher lebten“53 herstammen und insofern in eine ihm gegenüber größere organische Einheit eingefügt. Denn die Menschen „werden nach einander geboren, und treten unwillkürlich in die ihnen schon vorbereiteten Verhältnisse“.54 Aus dieser historischen Bedingtheit des Menschen als Bürger folgt, daß die Rechte nicht Ausdruck subjektiver Ansprüche sein können, sondern in der geschichtlich-sittlichen Realität unabhängig vom Menschen selbst gleichsam ‚vorherbestimmt‘ werden. Und eben weil die Verhältnisse, die der Bürger vorfindet, – wie der Philosoph betont – „in ganz unvermeidlicher Verbindung mit den Verhältnissen unsrer Voreltern“55 stehen, unterscheiden sich die Rechte jedes civis nach Ausmaß und Inhalt im Vergleich zu den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft.56 Aus Rehbergs konservativer Sicht werden die Bürgerrechte aus der Gewohnheit erworben, da sie nicht mit den Naturrechten zusammenfallen, sondern ‚willkürliche‘ Gebilde darstellen. Mit anderen Worten: Das subjektive Recht „ist kein von der Natur geheiligtes Recht. Am wenigsten in Ansehung bürgerlicher Rechte, die selbst [durch willkührliche Verabredungen] bestimmt sind“.57 Von dieser Betrachtungsweise aus führt Rehberg den Grundsatz der „Vererbung von bürgerlichen Rechten“58 ein, der dadurch charakterisiert ist, daß der Bürger in Fortführung ererbter Pflichtverhältnisse59 – das ihm zukommendes Maß an Eigentum erwirbt; dieses bestimmt seinerseits dessen spezifische Stellung innerhalb der Zünfte und Stände und verleiht ihm ein ungleiches Maß an Rechten und unterschiedliche Möglichkeiten von politischer Einflußnahme.60 Im übrigen ist sich Rehberg durchaus der zahlreichen Einwände bewußt, die von progressiver Seite gegen die von ihm ermittelte Art der gewohnheitsmäßigen Erwerbung der Bürgerrechte erhoben worden wären, d. h. gegen das ___________ 53
A.W. Rehberg, v. Haller’s Handbuch der Staatenkunde (wie Anm. 40), S. 143. Ebd. 55 A.W. Rehberg, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis (wie Anm. 14), S. 124 f. 56 Vgl. ebd., S. 124. 57 A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, II. Abschnitt, S. 59. 58 Vgl. ebd. 59 Von nun an ist es wichtig zu unterstreichen, daß Rehberg – genauso wie für die Rechte – auch für die gesellschaftliche Verpflichtung eine von Geschlecht zu Geschlecht vor sich gehende Tradierung annimmt: „So wird die Verpflichtung sogar übertragen, und erbt fort“: vgl. A.W. Rehberg, v. Haller’s Handbuch der Staatenkunde (wie Anm. 40), S. 143. 60 Vgl. hierzu U. Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution (wie Anm. 6), S. 156 ff. 54
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Erbrecht.61 Letzteres läßt nämlich – obwohl es für ihn so natürlich und so wesentlich notwendig für den Fortbestand der bürgerlichen Gesellschaft ist62 – jene „angebornen Unterschiede unter den bürgerlichen Rechten der Menschen“ entstehen, „gegen welche sich so viele, als gegen die größeste und offenbarste Ungerechtigkeit, erheben“.63 Dennoch wird Rehbergs Auffassung vom traditionellen Erwerb der Bürgerrechte – offenbar als Rechtfertigung für die ständische Gesellschaft zu erklären – durch eine Reihe von theoretischen Faktoren in gewisser Weise abgeschwächt. Dazu gehören die Interpretation des subjektiven Rechts als „persona mystica“,64 die Anerkennung eines Minimalkatalogs von natürlichen Rechten und vor allem die notwendige Wechselbeziehung zwischen gesellschaftlichen Pflichten und Rechten. Vor allem wird in Rehbergs Staatsphilosophie das Recht des Bürgers nicht als eine „Eigenschaft“ aufgefaßt, die „einem oder andern Menschen von Natur unablöslich anklebt“,65 sondern es wird eher als ein Wesen (ens) gedeutet, das der Verstand – indem er auf die stets veränderlichen und willkürlichen Umstände des realen Lebens wirkt – jedem wirklich existierenden Menschen zuschreiben kann. D. h. das Bürgerrecht gestaltet sich als ein vom Verstand (also von einem von der Erfahrung abhängigen Denkvermögen) erdachtes sowie willkürlich bestimmtes Wesen (ens rationis), welches von jedem beliebigen wirklichen Menschen beseelt werden kann.66 Aus diesem Grunde dürfen die Verhältnisse, auf denen sich eine Staatsverfassung gründet, und die Standesrechte nicht nur bestimmten Personen und ihren Nachkommen zuerkannt werden, sondern man muß sie als „Personae mysticae“ betrachten, „welche einen oder den andern Einwohner des Landes bekleiden“.67 Wie für Rehberg offensichtlich ist, können nicht nur bestimmte Personen und deren Nachkommen unter Ausschluß anderer in den vollen Genuß der Staatsbürgerschaft kommen. Denn das Recht des civis ist „als ein Platz in der Gesellschaft“ zu verstehen, „in den es einem jeden möglich ist, selbst, oder in ___________ 61
Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, II. Abschnitt, S. 52. Vgl. ebd.: „Das Erbrecht ist etwas so natürliches, und so wesentlich nothwendig für die Fortdauer der bürgerlichen Gesellschaft“. 63 A.W. Rehberg, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis (wie Anm. 14), S. 125. 64 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, II. Abschnitt, S. 62. 65 Ebd. 66 Vgl. ebd.: „[Das Bürgerrecht ist] ein ausgesonnenes und willkührlich bestimmtes Wesen (ens rationis), welches durch einen oder andern wirklichen Menschen beseelt wird“. 67 Vgl. ebd. 62
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der Person seiner Abkömmlinge, wäre es auch erst im zehnten oder fünfzigsten Gliede, hinein zu rücken“.68 Kurz: Für den Philosophen „[muß es] in einer guten Staatsverfassung [...] allen möglich seyn, auf höhere Stuffen [sic!] zu steigen“.69 Damit wird von Rehberg ein gemäßigtes Prinzip sozialer Mobilität gutgeheißen, das sich auch ‚in der zehnten und fünfzigsten Generation‘ verwirklichen kann und deshalb nicht Gefahr läuft, die fortbestehende herkömmliche ständische Ordnung abrupt umzustürzen. Auf jeden Fall muß hier betont werden, daß Rehberg den Zugang zu den höheren Stufen der sozialen Skala nicht nur den Vertretern der herrschenden Stände gewährt, sondern auch dem gesamten Volk. In der Tat ist es für den Hannoveraner Denker einzig und allein der – wenngleich langsame – Austausch zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, sowie die Chancengleichheit im Erwerb von sozialem Ansehen, die „die verschiednen Classen von Einwohnern an einander [bindet], und [...] ein Ganzes aus ihnen [macht]“.70 Rehberg scheint hier, trotz der Unterschiedlichkeit unter den Ständen, ein Prinzip von sozialer Einheit wahren zu wollen, in dem der Staat „nun nicht mehr nur die Masse der Gebildeten, sondern das ganze Volk [umfaßt]“.71 Und gerade wegen seiner Öffnung gegenüber den unteren Schichten wird Rehberg den Anfängen eines konservativen Sozialismus zugeordnet, „der nicht mehr [...] nur von einer allgemeinen Überzeugung vom Wert des einzelnen Menschen [gespeist wird]“.72 Bei seiner sorgfältigen Sozialkritik hebt Rehberg jedenfalls vor allem den nicht freiwilligen, sondern dynamischen Charakter der Bürgerrechte hervor, deren Erwerb sich im Rahmen eines hierarchisch gegliederten Sozialgefüges notwendigerweise langsam vollzieht. Denn der Erwerb solcher Bürgerrechte ist nichts anderes als die Frucht einer Veränderung, die in der geschichtlichen Entwicklung wurzelt, worauf der einzelne nur unbedeutenden Einfluß nehmen kann.73 Trotz seiner Auffassung der aus der Gewohnheit herstammenden Bürgerrechte versäumt es Rehberg nicht, einige Forderungen des Vernunftrechtes zu ___________ 68
Ebd. Ebd. 70 Ebd. 71 F. Uhle-Wettler, Staatsdenken und Englandverehrung bei den frühen Göttinger Historikern (wie Anm. 32), S. 166. 72 Ebd. 73 Zu den Merkmalen der Bürgerrechte in Rehbergs Konservativismus verweise ich auf die Bemerkungen von K. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland (wie Anm. 2), S. 666 ff. 69
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erfüllen. Deshalb schiebt er in seiner Staats- und Rechtsphilosophie „weder das Naturrecht noch das spekulative Staatsrecht vollständig beiseite“,74 und dies gerade in Anbetracht der schon erwähnten kritischen Funktion, die von beiden Rechtssystemen gegenüber der Wirklichkeit erfüllt wird. Das bedeutet jedoch nicht, daß Rehbergs Abneigung gegen die großen spekulativen Synthesen zurückgegangen sei: Sie erheben für ihn den Anspruch, die Vernunftregeln unmittelbar auf die Praxis anzuwenden, obwohl sie nicht in der Lage sind, jenes „große Geheimnis der Natur“ zu enthüllen, nach dem im Menschen Vernunft und Sinnlichkeit, Geist und Materie zur gleichen Zeit vorhanden sind.75 Aus diesem Grunde stellt Rehberg in aller Deutlichkeit fest: „Ein consequentes rein metaphysisches System des natürlichen Staatsrechts, das die Unabhängigkeit der Vernunft auf die Erscheinung vernünftiger Wesen in der sinnlichen Welt überträgt, führt auf [...] erdichtete Begriffe, [...] Widersprüche, [...] unausführbare[...] Anschläge“.76 Trotzdem leugnet Rehberg nicht, daß die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft in den Genuß einiger Rechte kommen können, die ihnen allein aufgrund ihres Menschseins zustehen, weil die Verletzung dieser Ansprüche das Naturrecht selbst mißachten würde.77 Dennoch reduziert er den Katalog der Menschenrechte auf ein äußerstes Minimum, indem er sie in einer einzigen Regel zusammenfaßt, die vorschreibt, daß „kein Mensch, der menschlichen Natur zuwider, als ein Vieh behandelt, und der gänzlich freyen Willkühr eines andern Menschen unterworfen werde, ohne daß er die bürgerliche Gesellschaft um Schutz dagegen anrufen dürfte“.78 Weiter erstrecken sich – so schließt Rehberg – „die Menschen=Rechte des Bürgers“ nicht.79
___________ 74 F. Uhle-Wettler, Staatsdenken und Englandverehrung bei den frühen Göttinger Historikern (wie Anm. 32), S. 160. 75 Denn für Rehberg führt die Überprüfung der theoretischen Grundlagen der von ihm für „metaphysisch“ gehaltenen Ideen – wie z.B. das Kantische Prinzip der Gleichheit unter den individuellen Freiheiten – „an die Grenze der menschlichen Erkenntniß [...], weil die Wurzel aller dieser Vorstellungen (so wie aller philosophischen Nachforschung) sich in dem großen Geheimnisse der Natur verliert, wie es zugeht, daß Vernunft und Sinnlichkeit in einem Wesen, und dieser Geist mit der Materie verbunden ist“: A.W. Rehberg, v. Haller’s Handbuch der Staatenkunde (wie Anm. 40), S. 143. 76 Ebd., S. 143 f. 77 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, II. Abschnitt, S. 44: „Es giebt zwar einige Rechte, welche auch in der bürgerlichen Gesellschaft, allen ihren Gliedern schon als Menschen zukommen, weil ihre Verletzung das Recht der Natur beleidigen würde“. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd., S. 44 f.
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Im Grunde besteht das einzige von Rehberg akzeptierte Naturgesetz also darin, die rechtmäßige Grenze der individuellen Freiheit nicht in der Willkür des anderen festzulegen, d. h. in seiner ungezügelten Freiheit, sondern in allgemeinen Gesetzen. Im Übrigen war diese besondere Vorstellung des Menschenrechtes – für Rehberg – die einzig richtige Interpretation des Kantischen Begriffs von ‚Recht‘, die ihm dessen Umsetzung in die Praxis gestattet hätte. Denn in seiner Schrift Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis bemerkt Rehberg – nachdem er die Zweideutigkeit der Kantischen Auslegung der ‚Recht‘-Idee hervorgehoben hat80 –: „Soll diese Erklärung nur so viel heißen, daß die Einschränkung der Freiheit nicht der Willkür des Einzelnen, sondern allgemeinen Gesetzen unterworfen sein müsse, so ist sie ganz richtig und ihre Anwendbarkeit keinem Zweifel unterworfen“.81 Rehberg unterscheidet zusammengefaßt die Rechte des Bürgers als Eigentümer von den Rechten des Bürgers als Mensch, d. h. als individueller Ausdruck der menschlichen Natur.
V. Die Pflicht als Passivität der Vernunft Zum vollen Verständnis der Rehbergschen Kategorie von Recht darf jedoch die notwendige Wechselbeziehung mit dem Begriff der sozialen Pflicht nicht vernachlässigt werden. Denn indem Rehberg mit den Liberalen und den Jakobinern die Richtung teilt, welche die Aufklärung auf politischer Ebene am stärksten kennzeichnet,82 gibt er der Pflicht gegenüber dem Recht in der Theorie deutlich den Vorzug. Bei der Wechselbeziehung zwischen beiden Termini entspringt das Recht aus der Pflicht: Es ist kein Zufall, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Rechte streng mit den sozialen Verpflichtungen und dem Lebensstil der Bürger
___________ 80 Die wohlbekannte Kantische Definition von ‚Recht‘ wird von Rehberg folgendermaßen wiedergegeben: „Recht, heißt es, besteht in der Einschränkung der Freiheit jedes Andern auf die Bedingung, daß sie mit der meinigen auf ein allgemeines Gesetz zusammen bestehen könne“: A.W. Rehberg, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis (wie Anm. 14), S. 124. 81 Ebd. 82 Zu dem gesellschaftspolitischen Archetyp des für das aufklärerische Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert typischen Pflichtenstaates vgl. Vanda Fiorillo, Autolimitazione razionale e desiderio. Il dovere nei progetti di razionalizzazione politica dell’illuminismo tedesco, Turin 2000.
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verbunden sind.83 Genauer gesagt entnimmt das Recht aus der Pflicht seine eigene Grundlegung, indem es sich auf eine herkömmliche Fortdauer gründet, die nichts anderes ist als eine Fortdauer im Befolgen jener ständischen Pflichten, die zuerst von unseren Ahnen eingegangen wurden. Denn in der bürgerlichen Gesellschaft müssen die Menschen „genöthigt seyn, zu halten was ihre Eltern versprochen und angefangen haben“.84 Mit anderen Worten sind sie gehalten, denjenigen sozialen Verpflichtungen nachzukommen, die ihre Vorfahren ursprünglich vereinbart haben.85 Die Kette ererbter Standesrechte, die von Geschlecht zu Geschlecht übermittelt wurden, markiert die gesellschaftlichinstitutionelle Kontinuität selbst, denn „was den Abkömmling im ersten Gliede bindet, das gilt auch vom zweiten, und so weiter fort“.86 Unter dieser Voraussetzung beklagt Rehberg, daß die französische Menschenrechtserklärung – die in seinen Augen lediglich „eine Sammlung von ganz unbestimmten philosophischen Maximen“87 ist – „nur die Rechte des Bürgers, und nichts von seinen Pflichten“88 enthalte. Und diese Auslassung verriet – seiner Ansicht nach – die unzweifelhafte Absicht, die Glieder des Volkes keine freien Bürger, sondern Herren des Landes werden zu lassen.89 Damit deutet Rehberg an, daß die einseitige Forderung von Rechten durch das Volk, ohne die ___________ 83 Vgl. A.W. Rehberg, Über den deutschen Adel (wie Anm. 31), S. 119 f.: „Rechte [...], die in der genauesten Verbindung mit den Beschäftigungen und der Lebensart stehen“. 84 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, II. Abschnitt, S. 52. 85 Bei Rehberg steht die gewohnheitsmäßige Auffassung der gesellschaftlichen Pflichten in gutem Einklang mit der Vorstellung eines Staates als historisches und nicht nur vernunftmäßiges Produkt, so wie es zumeist die Naturrechtstheoretiker vertraten. Der Rehbergsche Staat stellt die zeitliche Einheit zwischen den vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschlechtern dar: Er „besteht aus Gliedern, die nach und nach eintreten, und durch den Tod wieder herausgehen“: ebd., S. 51. Die souveräne Einrichtung markiert die Fortdauer in der allmählichen Entwicklung der bürgerlichen Verhältnisse, die dem Aufeinanderfolgen der Geschlechter entspricht. 86 Ebd., S. 53. 87 Ebd., I. Theil, III. Abschnitt, S. 117. 88 Ebd. Zur Veranschaulichung der ständigen Beachtung, welche die politische Kultur in Deutschland der Idee der Pflicht geschenkt hat, sei hier an den Vorschlag einer ‚Erklärung der Menschen- und Bürgerpflichten‘ erinnert, die 1997, also zwei Jahrhunderte nach Erscheinen von Rehbergs Untersuchungen, den Vereinten Nationen zur Prüfung vorgelegt wurde. Diese Initiative geht auf die internationale Vereinigung ‚InterAction Council‘ zurück, die aus ehemaligen Staats- und Regierungschefs besteht, darunter der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Vgl. dazu V. Fiorillo, Autolimitazione razionale e desiderio (wie Anm. 82), S. 20 ff. 89 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I.Theil, III. Abschnitt, S. 117: „[...] es [das gemeine Volk] nicht zu freyen Bürgern, sondern zu Herrn des Landes zu machen“.
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gleichzeitige Übernahme von gesellschaftlichen Pflichten, leicht zu einer Massendespotie ausarten könnte. Also sieht Rehberg „die für jeden sozialen ‚Stand‘ vorgegebenen Normen (Pflichten) [...] durch die Revolution zugunsten eines einseitigen Rechtsanspruchs in den Menschenrechtsentwürfen getilgt“.90 Umgekehrt ist der Hannoveraner Denker davon überzeugt, daß die gesellschaftlichen Pflichten „die notwendige Korrektur und Ergänzung des Rechtsgedankens“ bilden, „ja, die Bedingung, an der sich im Bereich der praktischen Politik alle Rechtsforderungen überhaupt erst ausweisen müssen“.91 Darum rechtfertigt sich – nach Rehbergs Meinung – die so sehr beklagte Ungleichheit beim Genuß der Bürgerrechte durch die Übernahme größerer oder kleinerer gesellschaftlicher Verpflichtungen. Von dieser Betrachtungsweise aus wird in seiner Schrift Über den deutschen Adel die Grundlage der aristokratischen Ethik mit einem „Ideal sozialer Verpflichtungen“ gleichgesetzt,92 welche die Verwurzelung der Adelsprivilegien in einer stärkeren gesellschaftlich-politischen Verantwortung mit sich bringt. Zu diesem Zweck müssen die Adeligen lernen, worin die ihnen von der bürgerlichen Gesellschaft verliehene Überlegenheit und die Vorrechte bestehen, und bis wohin sie sich erstrecken.93 Und wenn die Verlockungen des Reichtums oder eines höheren sozialen status sie zu dem Glauben verleiten, daß sie nur zum Vergnügen leben, so „muß der kräftige Unterricht ihrer Lehrer ihnen einprägen, daß sie Pflichten haben“.94 Rehberg betont in diesem Zusammenhang nachdrücklich, daß die weitreichenderen Rechte des Adels ursprünglich als Gegenleistung für spezifisch militärische Aufgaben und sozialer Fürsorge verstanden wurden.95 Von diesem Gesichtspunkt aus, sieht Rehberg die Rechtfertigung der standesmäßigen Überlegenheit des Adels hoffnungslos gefährdet, da sie – indem sie eine auf die Erfüllung der tradierten Pflichten gegründeten ständischen Ethik aufgab – immer mehr solchen Sitten Raum verschaffte, welche letztendlich nur die der Zwingherren waren: Sitten, die als Ergebnis des beginnenden Kapitalis___________ 90 J. Garber, Drei Theoriemodelle frühkonservativer Revolutionsabwehr (wie Anm. 52), S. 350. 91 U. Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution (wie Anm. 6), S. 131. Dennoch scheint U. Vogel nur den konservativen Vertretern einer geschichtlichen Vorstellung des Staates den Hang zuzuschreiben, „den Pflichtgedanken dem Rechtsanspruch überzuordnen“ (ebd.) und vernachlässigt damit, daß auch die liberalen und radikal-demokratischen Lehren der Aufklärung zumeist auf diese theoretische Vorherrschaft der Pflicht über das Recht gegründet waren. 92 Vgl. ebd., S. 174. 93 Vgl. A.W. Rehberg, Prüfung der Erziehungskunst (wie Anm. 38), S. 179. 94 Vgl. ebd. 95 Ich stimme hier überein mit der These von U. Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution (wie Anm. 6), bes. S.175 f.
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mus lediglich auf persönlichem Gewinn und Interesse beruhten. Diesbezüglich stellt sich Rehberg bezeichnenderweise die Frage: „Und wie kann der Adel das Zutrauen seiner Mitbürger erhalten, wenn er vermöge seiner Geburt Ansprüche auf Vorrechte macht, nachdem ihm alle vormaligen Verpflichtungen seiner Geburt erlassen sind“.96 Deswegen meint Rehberg, daß die Unzufriedenheit des Volkes – die zu Beginn der Französischen Revolution ab und zu ausbrach – nicht gegen die Regierung gerichtet sei, sondern „gegen die Stände, welche ihren Beruf so wenig erfüllt hatten“,97 indem sie die Erfüllung ihrer eigenen Pflichten vernachlässigten. Diese Verpflichtungen trugen – da sie jedem gesellschaftlichen Rang eigentümlich waren – dazu bei, die Gruppenidentität und somit deren Unterscheidung von den anderen sozialen Schichten festzulegen. Bei der Vorstellung einer ständischen Gesellschaft ist es klar, daß die Pflichten jene traditionellen Bindungen verewigen, die seit Jahrhunderten in unterschiedlicher Weise jede soziale Gruppe verpflichten. Unter dieser Voraussetzung untersucht Rehberg den von Kant inspirierten Gesellschaftsentwurf, der damals von den Physiokraten verbreitet wurde, und überprüft dessen Auffassung von der gesellschaftlichen Pflicht. Dieses Modell überlieȕ die Verwirklichung der gleichermaȕen zu übenden Freiheiten der Bürger lediglich ihrer gegenseitigen Erfüllung der Unterlassungspflicht des neminem laedere. Rehberg bemerkt dazu: „Die Pflicht sich alles Eingrifs [sic!] in den Wirkungskreis fremder Wesen zu enthalten, ist die einzige Pflicht die [das physiokratische System] anerkennt“.98 Für Rehberg beruht das liberale System nämlich auf dem höchsten Wert der vernünftigen Selbstbeschränkung eines Subjektes, das dazu bereit ist, mit stoischer Entsagung alle seine Neigungen und Leidenschaften der Achtung des allgemeinen Sittengesetzes unterzuordnen.99 Wie – im von Rehberg untersuchten Modell liberaler Gesellschaft – offenkundig ist, wird die Pflicht, als Zwang der Vernunft auf sich selbst, d. h. als aktive Anpassung des Subjektes, im Sinne des Selbstzwecks, an das formale, vom allgemeinen Sittengesetz erlassene Gebot aufgebaut. Mit anderen Worten: Die obligatio ist die Frucht einer aktiven Vernunft, die also der praktischen Verwirklichung und der Einwirkung auf die Realität fähig ist, und zwar durch das ___________ 96
A.W. Rehberg, Über den deutschen Adel (wie Anm. 31), S. 102. Vgl. ebd. 98 A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 21. 99 Vgl. ebd., S. 22: „[Für das physiokratische System ist das höchste Gut] sich selbst zu beherrschen, alle Neigungen und Leidenschaften, [...] mit stoischer Verleugnung, der Achtung für das Gesetz der Vernunft zu unterordnen“. 97
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für Kant ganz eigenartige Lustgefühl der Achtung vor der Freiheitssphäre des Anderen. Anders ist die geschichtliche Auffassung Rehbergs, wo die Pflicht sich nicht aus dem formalen Mechanismus des Selbstzwangs der Vernunft ergibt, die auf diese Weise sonst zum Leit- und Regelungsprinzip der Leidenschaften erhoben würde. Denn der Rehbergsche Mensch ist nicht das typische vernünftige Subjekt der Aufklärung, das als Selbstzweck die eigene gleiche Würde geltend macht, die als seine „natürliche[...], gottgegebene[...] menschliche[...] Disposition zu vernünftiger Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung“100 verstanden werden muß. Rehberg schreibt nämlich die Selbstzweckhaftigkeit des Individuums nur dessen vernünftigem Teil zu: Für ihn ist nicht der ganze Mensch Selbstzweck, sondern ausschließlich die Vernunft.101 Ist der Mensch in die Raum-Zeit Dimension eingefügt, so bestimmt er sich als sinnliches Wesen nicht selbst, sondern wird bestimmt aufgrund seiner unzähligen Bindungen zu den anderen Menschen gegenwärtiger und vergangener Geschlechter, die ihn zu einem Teil eines ihm gegenüber größeren Gewohnheitszusammenhanges machen, wo er, „indem der Einzelne sich von alten Vorurteilen und Gewohnheiten leiten läßt, hat er teil an der Weisheit und der Erfahrung vergangener Jahrhunderte“.102 Infolgedessen hat Rehberg – genauso wie andere Schlüsselbegriffe der Aufklärung, wie die des Menschen, des subjektiven Rechts oder des Staates – auch ___________ 100 H.E. Bödeker, [Art.] ‚Menschheit, Humanität, Humanismus‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 1078. 101 Bei der kritischen Besprechung des Kantischen Prinzips der Selbstzweckhaftigkeit des Individuums bemerkt Rehberg nämlich, daß nur die Vernunft als Selbstzweck betrachtet werden kann, aber sicherlich nicht die Menschheit. Der Kernpunkt der Auseinandersetzung mit Kant ist, daß die Vernunft „nur als Form der Vorstellungen, mithin in einer Materie [existiert]“, aber diese mit der Vernunft vermischte Materie darf nicht beanspruchen, „als Zweck für sich selbst behandelt zu werden“: vgl. A.W. Rehberg, Über das Verhältnis der Theorie zur Praxis (wie Anm. 14), S. 118. Infolgedessen kann von den zwei menschlichen Naturen nur die vernünftige als heilig erachtet werden, da sie Selbstzweck ist, während die sinnliche Natur – genauso wie die tierische und pflanzliche – auch als Mittel zum Erreichen einer beliebigen Zielsetzung eines anderen vernünftigen Wesens gebraucht werden kann. Daher kann der Mensch zugleich Selbstzweck als vernünftiges und Mittel als sinnliches Wesen sein. Mit Rehbergs Worten: „Die Vernunft allein ist, als Zweck für sich, heilig. Der Mensch aber nur, insofern er von seiner Vernunft wirklich beherrscht wird [...]. Der Mensch ist also zugleich eine Sache, die bloß als Mittel gebraucht werden kann“: ebd., S. 119. Rehberg bezieht hier den Grundsatz der Selbstzweckhaftigkeit also nur auf die rationale Seite des Menschen und schreibt so nur dem natürlich-vernünftigen Menschen Autonomie zu. 102 U. Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution (wie Anm. 6), S. 134.
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das formal-rationale Pflichtenschema Kantischer Prägung historisiert, d. h. in den Strom der geschichtlichen Tradition eingepaßt. Die Pflicht wird bei diesem Denker nicht auf einen moralisch-vernünftigen, dem Individuum inwendigen Grundsatz gegründet: Ein Individuum, das aktiv damit beschäftigt ist, den eigenen Charakter bei der ‚Wechselwirkung‘ mit den anderen, atomistisch genommenen Persönlichkeiten zu bilden. Im Rehbergschen Konservativismus wird die Pflicht vielmehr in einem dem Individuum äußerlichen Gewohnheits-Prinzip – das des Vorurteils – verankert. Daher wird die Bedeutung des Einzelnen aus seiner Eingliederung in einen Stand erfaßt, der sich entlang des geschichtlichen Verlaufs der Kultur ständig weiterentwickelt. Diese ist durch das Bleiben der grundlegenden, sich inhaltlich aber ständig erneuernden Werte der Familie und des Eigentums geprägt. Anders gesagt sieht Rehberg die Triebfeder der pflichtgemäßen Handlung im Vorurteil, das als eine Bewertung aufgefaßt wird, die in der Vergangenheit vorgenommen wurde und gegenwärtig fortbesteht, oder die auch in der Gegenwart formuliert wird, aber zukunftswirksam ist.103 Damit teilt Rehberg u. a. eine zur gleichen Zeit von Edmund Burke vertretene These. Dieser Autor hatte das Verhältnis von Vernunft und Vorurteil festgelegt und dabei bemerkt, daß letzteres „with its reason, [...] a motive to give action to that reason, and an affection which will give it permanence“104 besäße. Auf diese Weise erkennt Burke in dem Gemeinsinn und den Gefühlen diejenigen irrationalen Elemente, die im Menschen die gewohnheitsmäßige Befolgung der Pflicht bewirken, wobei letztere als konstitutiv für die menschliche Natur empfunden wird. Denn „prejudice renders a man’s virtue his habit, and not a series of unconnected acts. Through just prejudice, his duty becomes a part of his nature“.105 In gleicher Weise wird in der Rehbergschen Schrift über das Vergnügen von 1785 der ideologische Wert einer Ethik, die auf der Wechselbeziehung von gesellschaftlichen Rechten und Pflichten beruht, darauf zurückgeführt, daß letztere ihre Wurzeln im gewohnheitsmäßigen Prinzip des Vorurteils haben. In diesem Zusammenhang bemerkt der junge Rehberg, daß die „Anführer“ und „Lehrmeister“ der zu hintergehenden „blinden“ Masse106 sich „die Namen ___________ 103
Vgl. W. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik (wie Anm. 23), S. 15. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France and on the Proceedings in certain Societies in London relative to that Event in a Letter intended to have been sent to a Gentleman in Paris (1790), edited with an introduction by Leslie G. Mitchell, Oxford / New York 1999, S. 87. 105 Ebd. 106 Vgl. August Wilhelm Rehberg, Philosophische Gespräche über das Vergnügen, Nürnberg 1785, S. 84: „Indeßen wird der große Haufen, deßen derber Arm die ganz un104
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Pflicht und Recht“ erfanden, „welche durch die Erziehung so früh und so fest in die Seele des Menschen gegraben werden, daß er ihren Ursprung ganz aus den Augen verliert“.107 Die Pflicht zusammen mit dem zu ihr in Wechselbeziehung stehenden Recht stellt in der in dieser Hinsicht realistischer Anschauung Rehbergs ganz offensichtlich den ideologischen Faktor dar, der uns zu dem Glauben veranlaßt, „um einer inneren Verbindlichkeit willen, das thun zu müßen, wozu doch nur unser eigner Nutzen uns bewegen sollte“.108 Diese Bemerkung Rehbergs zeigt, daß sich das die Pflicht begründende Vorurteil – außer seinem erkenntnistheoretischen Mangel an Vernünftigkeit als „Schein- oder Pseudowahrheit“109 – als unzureichend erweist „auch im Hinblick auf ihre [der Pflicht] außertheoretische Motivation, die z. B. aus den eigenen Affekten oder Interessen, aber auch aus der Beeinflussung durch andere kommen kann“.110 Auf diese Weise erkennt Rehberg im persönlichen Interesse „den wahren Maaßstab unsrer durch Vorurtheile so viel höher getriebnen Pflichten“.111 Der Philosoph enthüllt hier im Grunde den ideologischen Charakter der auf der Pflicht beruhenden Aufklärungsethik in ihrer besonderen Bedeutung als aktive Selbstbestimmung der Vernunft, d. h. als autonomer innerer Grund, der ein für ihn abstraktes moralisches Subjekt zu einer tatkräftigen Vervollkommnung seiner Selbst treibt. In diesem Sinne behauptet Rehberg beim Wiederaufgreifen des Themas zu Beginn seines Hauptwerkes, daß der Rechts- und Pflichtbegriff nichts anderes als eine „bloße Erdichtung“112 sei, und dies obwohl er seit Jahrhunderten die erste von den drei, denjenigen Systemen zugrunde liegenden Ideen113 bildet, ___________ verhältnißmäßigen Antheile der höhern Stände schützt, hintergegangen“. Gemessen an ihrer Leistung erhält die Masse, die durch ein für sie „nachteiliges“ Verhältnis mit den höheren Ständen verbunden ist, zu wenig. Vgl. ebd. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 W. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik (wie Anm. 23), S. 15. 110 Ebd., S. 30. 111 Vgl. A.W. Rehberg, Philosophische Gespräche über das Vergnügen (wie Anm. 106), S. 84. 112 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 1. 113 Außer dem Rechts- und Pflichtbegriff sind, nach Rehbergs Ansicht, die anderen beiden Ideen, die traditionsgemäß die philosophisch-juristischen Systeme begründen, zum einen die Entstehung der Bürgerrechte als „Werk des Verstandes“ aus ‚willkürlichen‘ Vereinbarungen, sowie zum anderen die Beurteilung der Gerechtigkeit der politi-
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welche sich mit den Grundlagen des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft beschäftigen114. Denn die Ideen des Rechts und der Pflicht „entspringen aus einer Täuschung, und erhalten ihre Stärke von der Gewohnheit“.115 Aus diesem Grunde schließt Rehberg mit einem schlecht verhohlenen Ton von politischem Realismus: „Es beruht alles im Grunde auf der Gewalt“.116 Rehberg deckt hier die dem Rechts- und Pflichtbegriff innewohnende ideologische Prägung auf. Dabei erkennt er jedoch in der außer-rationalen Macht der Gewohnheit das Prinzip, welches von Generation zu Generation die Überlieferung der von unseren Ahnen eingegangenen sittlichen Bindungen ermöglicht und so die noch lebendigen Inhalte der Vergangenheit wieder aktualisiert. In diesem Zusammenhang muß unterstrichen werden, daß gerade bei dem theoretischen Aufbau einer vom Vorurteil getragenen Pflicht – als die Beurteilung, die die Weisheit der Alten ausdrückt, gedeutet – Rehbergs geschichtliche These einen Gegensatz zum gleichzeitigen liberalen und jakobinischen Ansatz bildet. Denn unter dem Gesichtspunkt des Fortschrittsdenkens der Aufklärung wird diese Zeit als die Periode aufgefaßt, in der eine heftige Kritik des Vorurteils erfolgt und wo sich vor allem die Befreiung vom Aberglauben vollzieht, dem gefährlichsten unter den Vorurteilen.117 „Die Vorurteile sind insofern die Hauptwidersacher der Aufklärung, ihr zentraler Gegenstand bzw. Widerstand“.118 Deshalb wird die Aufklärung aus liberaler und demokratischer Sicht wesentlich als Kampf gegen die Vorurteile verstanden.119 Im Gegensatz dazu stellt sich im Rehbergschen Konservativismus die – vom Vorurteil übermittelte – Pflicht nicht als Frucht selbständigen Wirkens einer aktiven Vernunft dar, d. h. als der formal-vernünftige dem typisch aufklärerischen Menschen120 inwendigen Mechanismus. Wenn das vernünftige Vermögen nämlich vom Gesichtspunkt der Theorie aus Erfahrung über die bürgerlichen Verhältnisse
___________ schen Verhältnisse anhand eines „aus den ursprünglichen Gesetzen der Vernunft“ gewonnenen Maßstabes: vgl. ebd., S. 2 f. 114 Vgl. ebd., S. 1. 115 Ebd. 116 Ebd. 117 Vgl. W. Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik (wie Anm. 23), S. 13. 118 Ebd. 119 Vgl. ebd. 120 Zu einem Entwurf des aufgeklärten Menschen, d. h. desjenigen Menschen, der sich unter anderem aufgrund des Selbstbestimmungs- und Unabhängigkeitsgrundsatzes selbst interpretiert, vgl. Hans Erich Bödeker, Der europäische Frühsozialismus und die Menschenrechte. Umrisse einer Debatte, S. 3 (masch.).
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schweigt,121 so kann die Pflicht nichts anderes sein als das Ergebnis der Trägheit der Vernunft selbst. Mit anderen Worten: Die Pflicht ist – eben weil sie über Geschlechter hinweg kraft der Vorurteile, als „andersgeleitete oder andersbestimmte Begriffe“122 fortbesteht und -bestand – die Folge einer passiven Vernunft, d. h. Folge von dem, was Kant in der Kritik der Urteilskraft „Heteronomie der Vernunft“123 genannt hatte. Daher vollzieht sich nach Rehberg der Mechanismus der Pflichterfüllung nicht in der selbständigen Anpassung des, atomistisch verstandenen, moralischen Subjekts an das formale und allgemeingültige, vom Vernunftgesetz erlassene Gebot. Bei Rehberg zeigt sich die Befolgung der Pflicht eher in der heteronomen Übernahme derjenigen sittlichen Werte, die von einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht überliefert wurden, von Seiten eines ihrer Mitglieder. Diese Werte werden nämlich durch die ideologische Beeinflussung von Regierenden, Lehrmeistern und Eltern weitergeführt. Demnach erkennt Rehberg sowohl in der privaten als auch in der öffentlichen Erziehung den ideologischen Hauptfaktor, der dazu geeignet ist, in jedem Menschen die ‚naturgemäße‘ Übernahme sittlichgesellschaftlicher Aufgaben hervorzurufen, die seit jeher seinen eigenen Stand kennzeichnen. Kurz gesagt: Die Pflichten werden vor allem durch den Einfluß der Erziehung von den Einzelnen als ‚bildendes‘ Element der menschlichen Natur empfunden. Deshalb wird an mehreren Stellen des Rehbergschen Werks betont, daß durch die Bildungstätigkeit von Lehrmeistern und Eltern die gesellschaftlichen Pflichten „gelehrt“,124 von Geburt an ins Bewußtsein „eingeprägt“125 oder in das Gemüt der Menschen „gegraben“ werden.126
___________ 121
Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, II. Abschnitt, S. 44: „Es ist im vorigen Abschnitte gezeigt worden, daß die Vernunft, welche die natürlichen Rechte des Menschen bestimmt, über die bürgerlichen Verhältnisse schweigt“. 122 So definiert Giulio M. Chiodi das Vorurteil oder die „vorgefaßte Meinung“, indem er es als die „Grundlage für [ideologisch gefärbte] Entscheidungen und/oder Urteile“ ‚ausdrucksvollen Typs‘ interpretiert, „deren Voraussetzungen und Wahrheitsgrade nicht diskutiert oder analysiert werden, [...] oder sie wurden es bereits zuvor und in anderen Zusammenhängen, aber werden jedenfalls nicht von demjenigen erforscht, der von ihnen Gebrauch macht“: vgl. Giulio M. Chiodi, Teoria dell’ideologia, Kap. V, S. 20 f. (masch.). 123 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft (Berlin / Libau 1790) A 156, in: ders., Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974, Bd. X, S. 226. Bekanntlich definiert Kant das Vorurteil als „den Hang zur […] [passiven Vernunft], mithin zur Heteronomie der Vernunft“. Dabei stellt er heraus, daß die Aufklärung dagegen als „Befreiung vom Aberglauben“ gekennzeichnet werden könne: ebd. 124 Vgl. A.W. Rehberg, Prüfung der Erziehungskunst (wie Anm. 38), S. 172: „Diese Verpflichtungen, welche aus den Verhältnissen in der bürgerlichen Gesellschaft entspringen, müssen den Menschen gelehrt werden“.
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VI. Von der ständischen Ehre zur allgemeinen Menschenwürde: die subjektive Seite der tradierten Pflichten Von dem oben umrissenen Rehbergschen Mechanismus der passiven Anpassung an die Pflicht leiten sich zwei, ebenso bedeutende wie offensichtliche Folgen ab: Erstens ist die Verpflichtung nicht formaler, sondern materialer Natur, da sie tradierte sittliche Werte ausdrückt, die im Laufe der Jahrhunderte von den Angehörigen eines bestimmten Standes oder einer besonderen Zunft schon vorbeurteilt wurden. Zweitens kann man diesem Mechanismus entnehmen, daß das Subjekt der Verpflichtung nicht der Mensch als abstraktes vernünftiges Wesen ist, sondern der konkrete gesellschaftliche Mensch als Mitglied eines ihm gegenüber größeren organischen Ganzen. Infolgedessen erweist sich die Zurechnung der Verpflichtung nicht als individuell, sondern als kollektiv. Kurzgefaßt: Die obligationes – die bei der Definition der gesellschaftlichen Identität jeder Gruppe zusammenwirken – gestalten sich als ständische Pflichten. Unter dieser Voraussetzung kann das Gefühl, das die Pflicht in subjektiver Hinsicht kennzeichnet, nicht die Achtung des allgemeingültigen sittlichen Gesetzes sein; eine Achtung, die sich in Kants Kritizismus bekanntermaßen von der Neigung und der Furcht unterscheidet, da sie als ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“127 gefaßt wird. In seiner Rezension der Kritik der praktischen Vernunft zählt Rehberg die Kantische Achtung nämlich zu den sinnlichen Triebfedern des menschlichen Handelns, indem er meint, daß die Leidenschaften die einzigen Anreize individuellen Verhaltens bilden.128 Damit widerlegt der Hannoveraner Denker die Tauglichkeit der Kantischen Achtung als Bindeglied zwischen der Ideen- und der Sinnenwelt zu fungieren. Denn nach Rehbergs Meinung hätte Kant zwar präzise dargelegt, daß die Achtung vor dem Sittengesetz ein ganz besonderes Lustgefühl darstelle, weil es sich weder auf bestimmte Zwecke von Handlungen noch auf deren Inhalt bezieht, sondern ausschließlich auf die sittliche Vervollkommnung. Dessenungeachtet hätte er mit seinem Gefühl der Achtung nichts anderes ermittelt als eine beson___________ 125 Vgl. ebd., S. 179: „[…], so muß der kräftige Unterricht ihrer Lehrer ihnen [allen denjenigen, die auf höheren Stufen stehen] einprägen, daß sie Pflichten haben“. 126 Vgl. wiederum A.W. Rehberg, Philosophische Gespräche über das Vergnügen (wie Anm. 106), S. 84 (s. o. Anm. 107). 127 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Riga 1785) BA 17, Anm., in: ders., Werkausgabe (wie Anm. 123), Bd. VII, S. 28. 128 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 1 f.: „[…] und daß die Leidenschaften seine [des Menschen, als sinnlichen Wesens] einzigen Triebfedern ausmachen“.
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dere Quelle unserer Glückseligkeit, ohne daß es ihm gelungen wäre, die Achtung zu den übersinnlichen Triebfedern unseres Handelns zu rechnen. Aus diesem Grunde bleibt die Achtung nach Rehberg „doch immer demungeachtet ein Gefühl der Lust“.129 Infolgedessen schließt Rehberg, daß Kants Behauptung, nach der „das Gesetz selbst, nicht aber das Vergnügen am Gesetze, die Triebfeder der Sittlichkeit seyn müsse“,130 nicht nur unbegründet sei, sondern die allerschlimmste Schwärmerei darstelle; denn sie führe zur „Ertödtung der Sinne“131 und leugne am Ende die realen Antriebe der Sittlichkeit zugunsten eines Grundes des Handelns, der von der Vernunft bloß erfunden wurde. Darüber hinaus erscheint die Achtung Kantischer Prägung in einer Gemeinschaftsauffassung der Politik wie der Rehbergschen, deren Hauptfigur nicht das Individuum, sondern die kollektiven Gebilde sind, vom Ansatz her ungeeignet, um die gesellschaftlichen Pflichten subjektiv zu begründen. Denn dieses Gefühl – das Anlaß gibt zu einem Unterlassungsakt gemäß dem formal-vernünftigen Verbot, sich in die Freiheitssphäre anderer einzumischen - hebt auf subjektiver Ebene die Distanz, den Ab-stand zwischen den Individuen hervor, die in ihrer abstrakten Vereinzelung begriffen werden. Dabei steht die Kantische Achtung mit jener „theoretische[n] Isolierbarkeit des ‚bloßen‘ Menschen gegenüber allen sozialen Bezügen“132 wohl in Einklang, die die fortschrittlich ausgerichtete Aufklärung als Prinzip annahm, von dem aus das Individuum sich gegenüber der Gesellschaft und dem Staat behaupten konnte. Aus liberaldemokratischer Sicht entsprach diese Absonderung des ‚bloßen‘ Menschen auf theoretischer Ebene ganz folgerichtig einer vernunftgemäßen Schaffung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung und der Souveränität. Besonders letztere wurde nicht „als natürliche Vorgegebenheit menschlicher Existenz“ legitimiert, wie im konservativen Denken, sondern vielmehr „als eine vom Menschsein abgeleitete Größe“ gerechtfertigt.133 In der Gemeinschaftsauffassung Rehbergs ist dagegen die gesellschaftlichpolitische Ordnung, die sich im Verlauf der Jahrhunderte gebildet hatte, dem Individuum ‚vor-gegeben‘; dabei wird sein Verhalten, das er dem Brauchtum
___________ 129
Vgl. A.W. Rehberg, Rezension der Kritik der praktischen Vernunft (wie Anm. 7), § 18, S. 244. 130 Vgl. ebd., § 19, S. 246. 131 Vgl. ebd.: „Und diese Schwärmerey führt unmittelbar zu [...] dem allerschlimmsten Fanatismus, der Ertödtung der Sinne“. 132 H.E. Bödeker, Der europäische Frühsozialismus und die Menschenrechte (wie Anm. 120), S. 4. 133 Vgl. ebd.
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schuldet, stets in einen größeren kollektiven Zusammenhang eingeordnet.134 Deswegen meint Rehberg, daß die Isolierung des Menschen innerhalb einer von seinen Artgenossen geachteten Freiheitssphäre nichts anderes als „ein[en] sehr grobe[n] Egoismus“135 erzeugen kann. Im Grunde genommen wurde die Wechselbeziehung zwischen den Bürgern für den Autor im physiokratischen Gesellschaftsvorbild Kantischer Prägung ermöglicht durch die Anerkennung der einzigen negativen Verpflichtung, „alle anderen Menschen ihren Weg ungestört gehen zu lassen“.136 Dennoch würde dies in keiner Weise zum Anwachsen der „Cultur der geselligen Tugenden“137 beitragen, weil die ausschließliche Anpassung an die formale Unterlassungspflicht des neminem laedere den Bürger sicherlich nicht dazu anspörne, auch die herkömmlichen Pflichten zu verinnerlichen, die hingegen vorschreiben, aktiv bei der Schaffung und der Erhaltung der politischen Gemeinschaft mitzuarbeiten. Denn „wenn man dem Menschen beständig vorpredigt, daß er in der bürgerlichen Gesellschaft eben so frey und unabhängig seyn darf und muß, als Robinson Crusoe auf seiner Insel, so wird er bald gewöhnt, nichts mehr zu schätzen und zu lieben, als sich selbst, und nichts zu scheuen, als den starken Arm der Obrigkeit“.138 Die durch die Befolgung der Enthaltungsverpflichtung bewirkte Trennung der Individuen veranlaßt sie dazu, sich ausschließlich dem ‚starken Arm der Obrigkeit‘ zu beugen, anstatt die eigene gesellschaftliche Verantwortung frei zu übernehmen. Damit stellt Rehberg den Kantischen Archetyp von bürgerlicher Gesellschaft in seinem Ergebnis auf den Kopf: Indem dieser die Individuen voneinander trennt, würde er nur die Verbreitung eines egoistischen Partikularismus betreiben, der zweifelsohne die gesellschaftliche Wirksamkeit des ethischen Grundsatzes der Pflicht nicht begünstige, sondern der bloßen Gewalt, dem Zwang Platz verschaffe. Dieses Modell würde also in der Gesellschaft das Sichbehaupten des Zwangsfaktors verursachen; und weil dieser auf der Ebene der Sinnlichkeit wirkt, könne er für liberale Kantianer, wie Ernst Ferdinand Klein, niemals eine „wahre moralische Güte“139 hervorbringen. ___________ 134 Zu diesem Punkt vgl. U. Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolution (wie Anm. 6), bes. S. 134. 135 Vgl. A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, I. Abschnitt, S. 25. 136 Vgl. ebd., S. 25 f.: „Denn wenn der letzte Zweck, zu dem alles in der bürgerlichen Gesellschaft führen soll, darin besteht, daß wir keine andere Verpflichtungen anerkennen, als diese, alle andere Menschen ihren Weg ungestört gehen zu lassen, so kann dadurch die Cultur der geselligen Tugenden gewiß nicht gewinnen“. 137 Vgl. ebd. 138 Ebd., S. 26. 139 Vgl. Ernst Ferdinand Klein, Freyheit und Eigenthum abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung, Berlin / Stettin 1790, V. Gespräch, S. 95. Hinsichtlich der Pflicht-Zwang Alternative faßt Klein die Po-
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Mit seiner antiindividualistischen Kritik der liberalen Gesellschaft zieht Rehberg also die Wirksamkeit des politischen Planes der liberaldemokratischen Aufklärung selbst in Zweifel. Dieser beruhte auf der Überzeugung, daß die Maximierung der sozialen Wirkung der ethischen Pflicht des neminem laedere – die zur Gewährleistung gleicher Freiheitsrechte für die Bürger zuständig war – eine Minimierung des Einflusses des Zwangs bei der Ordnung bürgerlicher Verhältnisse mit sich gebracht hätte. Obwohl Rehberg bezüglich der gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Projektes skeptisch ist, teilt er mit der progressiven Richtung der Aufklärung immerhin jene negative Beurteilung des Zwangs, die im vergangenen Jahrhundert mit dem Pufendorfschen „diversa sunt cogere et obligare“140 eingeführt wurde. Denn auch für Rehberg hätte die auf die gesellschaftlichen Beziehungen angewendete nackte Gewalt den Menschen vergegenständlicht, indem sie ihn zu einem „bloßen Objekt kausaler Machteinwirkung, [...] Sache unter Sachen“141 gemacht hätte. Infolgedessen ist er davon überzeugt, daß derjenige „auf dem Wege zu einem höchst verwerflichen Verkennen aller persönlichen Verpflichtungen“ ist, welcher die von den eigenen Ahnen eingegangenen Verpflichtungen ___________ sition des liberalen Kantianismus folgendermaßen zusammen: „So sehr ich den äuȕern Zwang hasse, so sehr liebe ich den innern, den mir meine Vernunft auflegt“: Ernst Ferdinand Klein, Schreiben an Herrn Professor Garve über die Zwangs- und Gewissenspflichten und den wesentlichen Unterschied des Wohlwollens und der Gerechtigkeit besonders bey Regierung der Staaten, Berlin / Stettin 1789, S. 95. Dies ist so, weil – so verdeutlicht Klein – „durch Zwang […] man Menschen wie Thiere abrichten [kann]“: E.F. Klein, Freyheit und Eigenthum (wie diese Anm.), S. 95. 140 Pufendorf unterschied nämlich zwischen dem von außen wirkenden Zwang „solis viribus naturalibus“ (De Jure Naturae et Gentium, libri octo, Lausannae / Genevae 1744, liber I, caput VI, § X, S. 95) und der Pflicht – als streng von der physischen unterschiedener moralischer Notwendigkeit –, die hingegen „praesupponit tales causas, quae intrinsece hominis conscientiam ita afficiant, ut ex propriae rationis dictamine iudicet non recte, adeoque non iure sese resistere“ (ebd.). Es ist daher kein Zufall, daß gerade im Deutschland der Nachkriegszeit der seit langem vergessene Pufendorf von einem Rechtsphilosophen wie Hans Welzel ‚wiederentdeckt‘ wurde. Denn Pufendorf war in der Lage, mit seiner ethischen Auffassung der Gerechtigkeit die theoretischen Koordinaten zu liefern, die dazu geeignet waren, den grassierenden Rechtspositivismus einzudämmen, der in den Jahren des Nationalsozialismus das Recht auf eine bloße Zwangsgewalt reduziert hatte. Zur Pufendorf-Interpretation von Welzel vgl. Vanda Fiorillo, Sulla riscoperta di una concezione etica del diritto nella Germania del secondo dopoguerra, Vorwort zu Hans Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs. Ein Beitrag zur Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin 1958, hrsg. u. ins Ital. übers. v. Vanda Fiorillo, Turin 1993, S. 1–20. Zur Pufendorfschen Unterscheidung zwischen Ethik und Legalität vgl. Vanda Fiorillo, Tra egoismo e socialità. Il giusnaturalismo di Samuel Pufendorf, Neapel 1992, S. 169–201. 141 Vgl. Hans Welzel, Wahrheit und Grenze des Naturrechts, Bonn 1963, S. 9 f.
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„blos als einen vom Schicksal auferlegten Zwang“ betrachtet, „dem er sich bequemen muß“.142 Unter dieser Voraussetzung stellt – nach Rehbergs Meinung – nicht die Kantische Achtung, die die Menschen nur untereinander spaltet, sondern die nach Ständen unterschiedene Ehre diejenige Empfindung dar, welche den Menschen dazu antreibt, die Gewohnheitspflichten zu verinnerlichen und ihn zu einer aktiven Teilnahme an den Werten der gesellschaftlich-politischen Gemeinschaft führt, der er angehört. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts hatte, nicht zuletzt unter dem Einfluß historisch-konservativer Anschauungen, wie der eines Rehberg, „der ständische Ehrbegriff wieder stärkere Bedeutung“ gewonnen.143 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, daß für Rehberg jeder Stand, auch der niedrigste, seine eigene Ehre und Würde habe.144 Letztere veranlassen jedes Standesmitglied diejenigen sozialen Verpflichtungen zu erfüllen, die seit Jahrhunderten die Gemeinschaft kennzeichnen, in die er eingefügt ist. Mit anderen Worten: Die ‚natürliche‘ Übernahme der überlieferten ethischen Bindungen wird subjektiv von der Ehre, als dem Zugehörigkeitsgefühl zum eigenen Stand, veranlaßt; ein Gefühl, das die Teilung von den Sitten und dem Lebensstil, die für den eigenen Rang typisch sind, mit sich bringt. Deshalb erscheint die besondere, auf dem gesellschaftlichen status und dem Amt beruhende Ehre, wie schon bei Justus Möser, so auch bei Rehberg als der „Ausdruck der von jedem Stand dem Staatsganzen geleisteten eigentümlichen Dienste“.145 Aus dieser Sicht hatte die Bewahrung der Ehre in den Zünften und den kleineren gesellschaftlich-politischen Gemeinschaften die Rolle, „dem Staat Dienst und Pflichtbewußtsein seiner Bürger zu erhalten“.146 Im übrigen war sich Rehberg als scharfer Beobachter der gesellschaftlichpolitischen Ereignisse seiner Zeit durchaus bewußt, daß die auf die Ehre gegründete ständische Ethik und bürgerliche, aus dem Prinzip der Menschenwürde oder allgemeiner bürgerlicher Ehre deduzierte Ethik solange nebeneinanderbestanden, bis die erste von letzterer verdrängt worden war. Im Laufe der Neu___________ 142
A.W. Rehberg, Philosophische Gespräche über das Vergnügen (wie Anm. 106),
S. 14. 143
Friedrich Zunkel, [Art.] ‚Ehre, Reputation‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 3), 1979, Bd. 2, S. 31. 144 Vgl. A.W. Rehberg, Prüfung der Erziehungskunst (wie Anm. 38), S. 184: „Jeder Stand hat seine eigene Ehre und Würde“. 145 F. Zunkel, [Art.] ‚Ehre, Reputation‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 32. 146 Ebd.
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zeit wurde das standesübergreifende Prinzip der Menschenwürde in den Naturrechtssystemen des 17. und 18. Jahrhunderts in Verbindung mit dem Gleichheitsbegriff147 überarbeitet und von der fortschrittlich ausgerichteten Aufklärung und von Kant ererbt. Durch diesen Begriff der Gleichheit wird die ständische Kategorie der Ehre in das ‚Allgemein Menschliche‘148 überführt, indem er letzteres auf den Begriff der Würde des Menschen als moralisch-vernünftiges Subjekt gründet. In diesem Zusammenhang ist es gerade das Postulat der dignitas des Menschen – das mit dessen natürlicher Neigung zur vernünftigen Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zusammenfällt149 –, welches bei Rehberg das für ihn metaphysische Bild des Vernunftmenschen ins Gedächtnis zurückruft. Letzterer setzt – innerhalb der eigenen Freiheitssphäre wie Robinson Crusoe von jeder sozialen Bindung gelöst – sein eigenes Interesse durch, anstatt den historischen Werten seiner politischen Gemeinschaft teilhaftig zu sein. In diesem Sinne erweist es sich für Rehberg als augenscheinlich, daß „der grobe Eigennutz [...] die alleinige Triebfeder aller Handlungen werden [wird], so bald die Ehre aller abgesonderten Stände, in die allgemeine Menschenwürde verschmolzen wird“.150 Somit gelangt Rehberg durch seine Stellungnahme zum Verhältnis zwischen Bürgerrechten und -pflichten dazu, den liberalen Archetyp von Gesellschaft Kantischer Prägung zurückzuweisen. Denn nach seinen Voraussagen hätte die Umsetzung dieses Modells in die Praxis nur die Entwurzelung des Menschen aus dem sittlichen Humus seines eigenen Standes mit sich gebracht und damit sein Absinken in die Anonymität der Masse.151
___________ 147
Man denke nur an Pufendorf, bei dem die gegenseitige Achtung der gleichen Würde des Anderen als Mensch mit dem Begriff der rechtlichen Gleichheit (aequalitas iuris) zusammenfällt. Vgl. dazu Vanda Fiorillo, Der andere, „ut aeque homo“: Gleichheit und Menschenwürde in der politischen Anthropologie Samuel Pufendorfs, in: Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, hrsg. v. Dieter Hüning, Arbeitsgespräch, Wolfenbüttel 9. –10. März 2006 (im Druck). 148 F. Zunkel, [Art.] ‚Ehre, Reputation‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 31. 149 Vgl. noch einmal H.E. Bödeker, [Art.] ‚Menschheit, Humanität, Humanismus‘, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 1078. 150 A.W. Rehberg, Untersuchungen (wie Anm. 17), I. Theil, IV. Abschnitt, III. Abteilung, S. 255 f. 151 Diesbezüglich unterstreicht Uhle-Wettler, daß von Rehbergs Standpunkt aus nur die Gilden und Zünfte „den gemeinen Mann aus der Anonymität der Masse heraus[heben] und [...] ihm so einen eigenen Wert und eigene Bedeutung [verleihen]“: F. Uhle-Wettler, Staatsdenken und Englandverehrung (wie Anm. 32), S. 174.
Vom Subjekt zum Geist Hegels Bruch mit dem Naturrecht
Stefania Achella Im Abschluß seines Kommentars zu Hegels Schriften zur praktischen Philosophie unterstreicht Herbert Schnädelbach: „Mein Ziel ist es, Genese und Struktur der letzten umfassenden Philosophia practica universalis unserer europäischen Tradition zu verdeutlichen; daß deren Wirkungsgeschichte immer noch andauert, bedarf auch am Ende unseres Jahrhunderts keines weiteren Beweises“.1 Die Worte Schnädelbachs lenken die Aufmerksamkeit auf zwei wichtige Punkte: auf der einen Seite die Kontinuität und der zusammenfassende Charakter von Hegels Philosophie, was die vorhergehende Tradition anbetrifft, und auf der anderen Seite seine fortdauernde Wirkung im Europa der Gegenwart. Wir wollen diesen letzten Punkt beiseite lassen, da er uns wieder zu jener vexata questio führen würde, die danach fragt, was von Hegels Philosophie noch lebt und was von ihr tot ist2, und uns vielmehr jener Beziehung zuwenden, die Schnädelbach zwischen Hegel und der traditionellen Philosophie, besonders dem Naturrecht,3 ausmacht. Ohne eine angemessene Würdigung der Bedeutung des Naturrechts ist ein Verständnis von Hegels praktischer Philosophie unvollständig. Man bedenke in diesem Zusammenhang nur, daß er selbst im Jahre 1821 seinen Grundlinien der Philosophie des Rechtes den Untertitel Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse hinzufügte. Hegels Beziehung zum Naturrecht findet sich seit seinen ersten unveröffentlichten Schriften bezeugt. In diesen analysiert er aufmerksam die Begriffe Recht und Freiheit sowie die Vorstellung von der Entstehung und der Bedeutung des ___________ 1 Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar der Texte in der Reihenfolge ihrer Entstehung, Frankfurt a. M. 2000, S. 10. 2 Vgl. Benedetto Croce, Ciò che è vivo e ciò che è morto nella filosofia di Hegel, Bari 1906, jetzt in: Benedetto Croce, Saggio sullo Hegel, Bari 1967. 3 Wenn Schnädelbach von einer philosophia practica universalis spricht, bezieht er sich auf die Philosophia practica von Christian Wolff (Frankfurt a. M. / Leipzig 1738– 39), wie er selbst auf S. 164 erklärt.
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Pactum als dem konstitutiven Element des Staates,4 ohne dabei den Wert des Gesetzes, der Bildung und des Respekts vor der Menschenwürde zu vernachlässigen. Seine in Jena angenommene Haltung, die ihn zur radikalen Kritik an der ihm vorangehenden praktischen Philosophie führt, darf uns aber nicht dazu verführen, in ihr eine völlige Verneinung der Prinzipien des Naturrechtes zu vermuten oder Hegel zu einem Vorläufer der Historischen Rechtsschule zu machen, da er dieser immer kritisch gegenüberstand. Hegels Beziehung zum Naturrecht zeichnet sich durch eine konstante Auseinandersetzung mit demselben aus, sowie durch das Bewußtsein, daß die großen Entdeckungen der Neuzeit, in erster Linie die der Subjektivität, nicht zuletzt auch durch dieses ermöglicht worden waren. Zwischen 1802 und 1803 erscheint im Kritischen Journal der Philosophie Hegels Artikel Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie, und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften.5 In diesem, sowie in den anderen in dieser Zeitschrift veröffentlichten Artikeln, richtet sich sein Bemühen darauf, die Philosophie als ein wissenschaftliches System darzustellen. Dies verbindet ihn mit Schelling und weist, wie schon der Titel zeigt, auf eine grundsätzliche Beziehung zu Kant und seiner kritischen Philosophie zurück. Hegel und Schelling haben hier als einzige Redakteure dieser Zeitschrift die Möglichkeit, ihre philosophische Identität zum Ausdruck zu bringen. Für Hegel, der erst seit kurzem in Jena ist, bietet die Arbeit mit dem jungen und genialen Freund Schelling eine erste Gelegenheit, dem blühenden kulturellen Leben dieser Stadt gegenüber seine philosophische Autonomie zu bekunden. In seinen Artikeln nimmt Hegel einen ersten Abschied von der Philosophie Kants und behandelt zum ersten Mal öffentlich alle fundamentalen Themen, um die herum seine Gedanken kreisen: die Kritik an der ‚Reflexionsphilosophie‘, das Bedürfnis nach einem System, die Beziehung zwischen Glauben und Wissen, die Rolle der praktischen Philosophie. Zusammenfassend kann man sagen, daß Hegel die ungelösten Hauptfragen behandelt, die seine Zeit unbefriedigt ließen, weil sie unfähig war, die von der Modernität und der Philosophie des Verstandes verursachte Spaltung zwischen Endlichem und Unendlichem, Einzelnem und Allgemeinem erneut zusammenzufügen. ___________ 4
Vgl. Hegels Theologische Jugendschriften, hrsg. v. Hermann Nohl, Tübingen 1907, S. 181 f. Hier vergleicht Hegel die Kirche mit dem Staat, dessen Gründung auf dem gegenseitigen Vertrag des Einzelnen mit allen besteht, mit dem der Einzelne seinen Willen dem durch den Herrscher ausgedrückten Willen unterwerfen muß. 5 Heute in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Kritische Schriften, hrsg. v. Hartmut Buchner / Otto Pöggeler, Hamburg 1968, Bd. 4, S. 415–487 (im folgenden zitiert als Naturrechtsaufsatz).
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Dem Naturrechtsaufsatz fällt die Aufgabe zu, sich dieser Spaltung in Hinsicht auf die Fragen der Praxis anzunehmen. Ziel einer neuen praktischen Philosophie muß es sein, die Versöhnung zwischen dem Einzelnen und dem Staat herbeizuführen, zwischen den Teilen und dem Ganzen, die Zusammenfügung jener Entzweiung, die sich im theoretischen Bereich in der Trennung von Erkennbarem und Nichterkennbarem widerspiegelte, im praktischen hingegen sich als Bruch zwischen Individuum und Gemeinschaft zeigte. Die vom Naturrecht versuchte Lösung dieser Entzweiung scheint Hegel unzureichend zu sein. Das Naturrecht hat die Trennung vollzogen, ohne einen Staat zu finden, in dem der einzelne Staatsbürger sich wie in der Polis in vollkommener Einheit mit der Gemeinschaft wiedererkennt. Dem Naturrecht fehlten methodisch die begrifflichen Instrumente und insgesamt die Fähigkeit, die Beziehung zwischen Identität und Differenz zu erfassen. Indem das Naturrecht von der ursprünglichen Idee der Trennung zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, zwischen Individuum und Staat geleitet war, hat es die Versöhnung undenkbar gemacht. Viele Besonderheiten und Widersprüche haben so eine Lösung gefunden, zahlreiche qualitative, nur empirisch notwendige Bestimmungen ohne notwendige Bindung untereinander, sind jedoch geblieben.6 Indem die Gesellschaft und der Staat auf dem Prinzip der Erhebung des ‚für sich‘ und der Einzelheit zum Prinzip gegründet wurden, mußten die modernen Rechtstheorien sich mit fiktiven und leeren Einheiten ohne konkreten Inhalt begnügen. Das moderne Naturrecht konnte zu einer quantitativen Synthese gelangen, ohne jedoch die qualitativen Unterschiede zusammenzusetzen, d. h. ohne jene Einheit zu erreichen, die Hegel als die ‚absolute Totalität‘ bezeichnet. Aber wie es seiner Geschichte der Philosophie, in seiner Analyse der Religionen oder in der Ästhetik geschieht, so muß man nach Hegel auch im Prozeß der Sittlichkeit von einer historischen Sichtweise ausgehen, nach der die vorhergehenden Formen der Sittlichkeit zeigen, daß sie den Prozeß der Überwindung der eigenen Grenzen bereits in sich tragen: Auch die Lehren des Naturrechts enthalten die wahre ethische Idee, auch wenn sie noch nicht vollkommen verwirklicht ist. Daher können sie nicht ausgelöscht, sondern müssen vielmehr aufgehoben werden. Auch was das Naturrecht angeht, so muß dessen Grundkern bewahrt werden, um ihn in den neuen Gesichtspunkt hineinzuversetzen, zu dem die hegelsche Philosophie zu gelangen beabsichtigt, nämlich in den Standpunkt der Totalität. In diesem Jenaer Artikel ist die hegelsche Kritik jedoch noch nicht völlig ausdefiniert: Manchmal herrscht die Kritik vor, an anderen Stellen hingegen eine organizistische Perspektive, die auf die aristotelische Leh___________ 6 Vgl. dazu Hans Welzel und seine Interpretation des hegelschen Urteils, in: Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, Göttingen 1962, S. 120.
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re zurückverweist, in der die Subjektivität jeden realen Handlungsspielraum verliert, obwohl sie als eine Errungenschaft der Philosophie eine gewisse Anerkennung findet. Obwohl man durchaus die Meinung der wichtigsten Hegelinterpreten7 teilen kann, nach der Hegel in diesem Artikel seine Idee einer Philosophie des Rechtes8 ausdrückt, so ist auf der anderen Seite doch klar, daß seine Suche an dieser Stelle noch nicht ganz an ihr Ende gekommen ist. Das Gesamtsystem ist noch in fieri, sein philosophisches Profil ist noch nicht das endgültige. Aber gerade die Tatsache, daß diese Schrift in einem intensiven Moment der Entwicklung seines Denkens entsteht, verleiht ihr ein besonderes Interesse, sowohl weil sie uns in Hegels philosophisches Laboratorium einzuführen vermag, indem sie die Zweifel aufzeigt, die sein Denken durchwandern, als auch aufgrund jener polemischen Kraft die Lukács9 dazu veranlaßte, für diese wie für andere im Kritischen Journal erschienene Artikel den glücklichen Begriff ‚Kampfschriften‘ zu prägen.
I. Die Struktur des Naturrechtsaufsatzes In der Analyse von Hegels Kritik am Naturrecht besteht die erste Schwierigkeit im völligen Fehlen von direkten Verweisen auf Autoren, auf die er sich bezieht. Dieser Aspekt ist bis heute ungeklärt geblieben. Der Hegel-Forschung ist keine vollständige Rekonstruktion von Hegels direkten Lektüren dieser Jahre gelungen. Weder die Forschungsarbeit von Herbert Schnädelbach, noch die gewaltige Arbeit von Bernard Bourgeois10 – zwei der wichtigsten und produktivsten Kommentatoren dieses Aufsatzes –, konnten eine Antwort auf diese Frage finden. Mit Ausnahme von Kant und Fichte, sowie Montesquieu und Gibbon, die von Hegel selbst im Text direkt zitiert werden, sind die Verweise und Bezü-
___________ 7
Vgl. u.a.: Karl Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, ND Darmstadt 1969; Theodor Haering, Hegel. Sein Wollen und sein Werk, Bd. 2, Leipzig 1929–38; Hermann Glockner, Hegel, 2 Bde., Stuttgart 1929–40. 8 Karl Rosenkranz unterstreicht außerdem Hegels „schönere, frischere und, zum Teil, selbst wirklichere“ Sprache in diesen Schriften, siehe K. Rosenkranz, Hegels Leben (wie Anm. 7), S. 173. 9 Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, Berlin / Weimar 1986, S. 330. 10 Bernard Bourgeois, Le droit naturel de Hegel (1802–1803): commentaire: contribution a l’étude de la genèse de la spéculation hégélienne a Iéna, Paris 1986.
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ge nicht eindeutig sichtbar. Dieser Umstand ist vermutlich, wie Claudio Cesa11 es ausdrückt, das Ergebnis einer zu dieser Zeit von Seiten Hegels nur partiellen und indirekten Kenntnis der bedeutendsten Autoren des modernen Naturrechts. Es ist in der Tat sehr wahrscheinlich, daß Hegel diese Denker über Lehrbücher und Abhandlungen über das Naturrecht kannte, die im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts sehr weit verbreitet waren. Auf der anderen Seite ist es aber auch möglich, daß eine solche Unterlassung einer von Hegel beabsichtigten Gesamtoperation Rechnung trägt, mit dem Ziel, vielmehr den gesamten Bau des Naturrechts zu kritisieren, statt nur einzelne Themen, mit denen er in dem einen oder anderen Punkt auch durchaus in Einklang hätte stehen können. Wie Bourgeois tatsächlich beobachtet, ist der Unterschied zwischen Hegel und dem Naturrecht vor allem „ein Unterschied in der Methode: der deduktiven, linearen Verstandesüberlegung des modernen Naturrechtes stellt Hegel die dialektische Vernunft gegenüber, welche kreisförmig ist und die Momente des Rechtes viel enger verbindet.“12
Ziel Hegels in diesem Artikel ist es, eine Zusammenführung des Einzelnen mit dem Allgemeinen zu versuchen. An diesem Ziel war das Naturrecht gescheitert. Die Hegelsche Kritik betrifft zwei Punkte. Hegel analysiert zunächst die empirische Form des Naturrechtes, eine Form, die von der empirischen Erfahrung ausgehend, ein einziges System errichten wollte; der zweite Teil seines Werkes ist der Analyse der rationalen Form des Naturrechtes gewidmet, die sich auf einem Aufbau der Einheit a priori gründet. Beide Versuche haben nach Hegels Meinung die Unfähigkeit des Naturrechts gezeigt, einen Staat, ein Gesetz und eine allgemeine Einheit aufzubauen, in denen die individuellen Unterschiede in all ihrer Konkretheit und Valenz übernommen werden. Grund dieses Scheiterns ist, allgemeiner betrachtet, eine der Wissenschaft jener Zeit eigene Grenze. Diese Grenze bestünde darin, daß man das philosophische Element vom empirischen Inhalt der Wissenschaften habe trennen wollen und so die Idee in die metaphysische Sphäre abgeschoben und als Fundament der Wissenschaft allein die empirische Erfahrung übriggelassen habe. Dieser Prozeß habe zu einem zweifachen negativen Ergebnis geführt: auf der einen Seite das Zurückgreifen auf die Erfahrung als einzigem und realem Fundament, auf der anderen Seite ein Abstrahierungsprozeß, der eine Trennung zwischen empirischem und universellem Element verursachte. ___________ 11
Claudio Cesa, Introduzione. Diritto naturale e filosofia classica tedesca, in: Atti del convegno „Crisi e compimento del diritto naturale nella filosofia classica tedesca“, tenutosi a Pisa presso la Scuola Superiore Sant’Anna nel dicembre 1997, hier S. 14. 12 B. Bourgeois, Le droit naturel de Hegel (wie Anm. 10), S. 161.
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Natürlich bedeutet Hegels Kritik am empirischen Begriff nicht den Ausschluß der Erfahrung aus der Wissenschaft. Die Erfahrung hat im Gegenteil vielmehr eine außerordentlich hohe Bedeutung, wenn auch nicht so hoch, daß sie als vereinigendes Prinzip angenommen werden könnte. Daß dies so ist, dafür spricht die Tatsache, daß man bei den Bildungen des Staates und der Gesetze der empirischen Anschauung das Allgemeine annähern und ihr zumischen mußte, um zu einer Einheit zu gelangen. Im empirischen Bewußtsein erscheinen die Momente der absoluten Sittlichkeit nämlich verstreut und fragmentarisch. Nicht besser stand es um die Lösung des Vernunftrechts, welches letztendlich bei einem „absoluten Gegensatz“ und einer „absoluten Allgemeinheit“ anlangte, ohne daß ihm eine Synthese zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen glückte. Nicht einmal Kant – nach Hegels Meinung der höchste Ausdruck des Vernunftrechts – vermochte die Lücke zwischen den einzelnen, auf Empirie gründenden Wissenschaften und der Metaphysik füllen. Die Konsequenz war die Loslösung des Idealen vom Realen. Der Standpunkt der Sittlichkeit, auf den Hegel abzielt, muß versuchen, die absolute Identität von Idealität und Realität zu finden, „wobei ‚Idealität‘ die Bestimmung des Unselbständig- oder Aufgehobenseins des Einzelnen im Allgemeinen (der Idee) bedeutet und ‚Realität‘ dessen Selbständigkeit (als Ding – lat. res)“.13 Deshalb wäre Ideal dasjenige, was sein Sein nicht an sich, sondern in Anderem hat, in einem allgemeinen Grundsatz. Aufgabe der Philosophie muß es nach Hegel sein, Dinge und Erscheinungen von allgemeinen Grundsätzen ausgehend zu erklären und erstere auf letztere zurückzuführen. Dieses hegelsche Programm läßt sich in mehrere Schritte gliedern. Hegel analysiert zunächst die zwei Möglichkeiten, das Naturrechts zu behandeln: die empirische und die rationale. Anschließend bestimmt er seinen sittlichen Standpunkt, den der absoluten sittlichen Totalität – des Volkes. Darauf folgt die Organisation des Volkes – die Ständelehre. Wir werden sehen, daß für Hegel die absolute Sittlichkeit eine Sittlichkeit aller sein muß. Sie wird niemanden ausschließen und sich nicht gegen den Willen einzelner durchsetzen, „was ja bedeuten würde, daß es nicht mehr die Sittlichkeit aller wäre. Damit muß ‚Sittlichkeit aller‘ aber auch bedeuten, daß das Ganze dem einzelnen nicht äußerlich als Zwangsorganisation gegenübertritt“.14
___________ 13
H. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie (wie Anm. 1), S. 37. Michael Henkel, Metaphysik der Sozialität, in: Staat, Politik und Recht beim frühen Hegel, hrsg. v. Michael Henkel, Berlin 2002, S. 72. 14
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II. Die empirische Behandlungsart des Naturrechts Hegel beginnt seinen Aufsatz mit einer Analyse der empirischen Theorie des Naturrechts. In diesem Teil greift er auf einige Vorläufer Kants zurück, die, wenn auch auf etwas andere Weise, bemüht waren, die bürgerliche Gesellschaft und den Staat auf der Natur, auf dem Wesen des Menschen zu gründen. Die Kritik Hegels wendet sich vor allem gegen den Prozeß, der zu der Bestimmung dieses Wesens des Menschen geführt habe. Es handelt sich nämlich um ein Wesen, das die wahre Natur des Menschen und seine qualitativen Unterschiede nicht widerspiegelt, sondern das aus der Verallgemeinerung eines empirischen Bildes von ihm hervorgeht. Die Definition der Natur des Menschen, zu der diese Theorien geführt haben, ist eine Abstraktion, die Erhebung zu „Wesen und Zweck“15 einer ‚erwählten Bestimmtheit‘ (der ‚homo homini lupus‘ von Hobbes oder der ‚Geselligkeit‘ Rousseaus). Das ist der Prozeß, den die sogenannten empirischen Wissenschaften des Naturrechtes nachvollzogen, den Hegel von der anderen Richtung des Empirismus, dem „reinen Empirismus“16, unterscheidet. Letzterer vertraut sich hingegen einer einfachen, rein darstellenden Beziehung zur Welt an, einem naiven In-Beziehung-stehen, das sich an die unmittelbare Anschauung anbindet. Während also der reine Empirismus ohne auf den Verstand zurückzugreifen die Totalität spürt, verläßt sich der wissenschaftliche Empirismus, auch wenn er durchaus von der Erfahrung ausgeht, auf die begriffliche Abstrahierung, um zur Einheit zu gelangen und bedient sich dabei des Prinzips der „Verhältnisse und Vermischungen der empirischen Anschauung und des Allgemeinen“.17 Die empirischen Wissenschaften des Naturrechtes haben also als Fundament weder das reine Positive der Anschauung, das, wie gesehen, dem reinen Empirismus zugrunde liegt, noch das reine Negative des Verstandes, wie es bei der rationalen Vorgehensweise zu finden ist, sondern vielmehr eine Mischung von beiden. Ein deutliches Beispiel für diese begriffliche Hybridisierung ist die dem wissenschaftlichen Empirismus eigene Definition des Naturzustandes. Indem er das ___________ 15
G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 421. Obwohl auch hier Hinweise fehlen, könnte man denken, daß Hegel sich mit reinem Empirismus auf die griechische Tradition bezieht, in der das Gefühl der unmittelbaren Angehörigkeit des Einzelnen zur Polis auf eine Intuition ohne Vermittlung gründete, aber er könnte sich auch auf die Einstellungen des jungen Locke, von dem er anscheinend einige Werke in diesen Jahren gelesen hat (vgl. dazu Rudolph Haym, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857) oder auch auf Humes Ansatz beziehen. Es ist hingegen deutlich, daß Hegel sich besonders auf Hobbes und Rousseau bezieht, wenn er vom wissenschaftlichen Empirismus spricht. 17 G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 420. 16
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Empirische mit dem Allgemeinen vermischt, kommt er zu einer künstlichen Konstruktion des Naturzustandes. Letzterer ist nämlich das Resultat eines Verfahrens a posteriori, das durch die Eliminierung all dessen ermöglicht wird, was man im bestehenden Rechtszustand für willkürlich und vorübergehend hält. Eine „trübe Ahndung“ führt dieses Verfahren durch: „wenn man sich alles hinwegdenke, was eine trübe Ahndung unter das besondere und vergängliche rechnen kann, als besondern Sitten, der Geschichte, der Bildung, und auch dem Staate angehörig, so bleibt der Mensch unter dem Bilde des nackten Naturzustandes oder das Abstractum desselben mit seinen wesentlichen Möglichkeiten übrig und man hat nur hinzusehen, um das zu finden, was nothwendig ist.“18
Aber dem Empirismus fehlt ein Kriterium, um das Notwendige vom Zufälligen zu unterscheiden, er findet sein Prinzip a priori im a posteriori. „Was in der Vorstellung des Rechtszustandes geltend gemacht werden soll, dafür hat man nur, um seinen Zusammenhang mit dem Ursprünglichen und Nothwendigen und also es selbst als nothwendig darzuthun, zu diesem Behuf eine eigene Qualität, oder Vermögen in das Chaos zu verlegen.“19
Aber die imaginäre Einheit, der so erhaltene mutmaßliche Naturzustand, bleibt aus einem Chaos von Bestimmtheiten zusammengesetzt, und erst durch dessen Überwindung ist ein Rechtszustand herstellbar. Man kann nur eine Totalität haben, die „ebenso getrübt und unrein als die der ursprünglichen Einheit sich darstellen wird“.20 Da diese Einheit das Vielfache als Voraussetzung besitzt, kann sie nur zu partiellen und oberflächlichen Verbindungen gelangen und die durch diese Vorgehensweise festgesetzten Gesetzgebungen offenbaren ihre „Nichtigkeit durch Aufzeigung des realitätslosen Grundes und Bodens, aus dem sie erwachsen“.21 Aus einer nur scheinbaren Verallgemeinerung hervorgegangen, werden diese Gesetze ihre Differenzen behalten und von Gegensatz und Konflikt leben. Die auf solchen Gesetzgebungen aufgebauten Staaten und Gesellschaften, werden nur „den leeren Namen einer formlosen und äußeren Harmonie“22 darstellen. Aber weder dieser Naturzustand noch diese Idee eines den Menschen fremden Rechts wird zur absoluten Sittlichkeit führen können. Diese Elemente findet man noch deutlicher in Hegels Kritik an Rousseau wieder. Dessen Theorie fällt eben in jenen wissenschaftlichen Empirismus, nachdem er die Unmittelbarkeit des reinen Empirismus verlassen und auf eine verallgemeinernde Vernunft zurückgegriffen hatte. Im Unterschied zur Willkürlichkeit, welche die Basis jenes reinen Empirismus darstelle, der den Schluß___________ 18
Ebd., S. 424. Ebd., S. 425. 20 Ebd., S. 426. 21 Ebd., S. 423. 22 Ebd., S. 426. 19
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punkt des menschlichen Begehrens aus der Erfahrung zieht, verspreche Rousseaus Idee des allgemeinen Willens (‚volonté generale‘) über das, was einfach nur ist, über das, was Menschen begehren können, hinauszugehen, um sich in Richtung von aus dem vernünftigen Willen hergeleiteten Zwecken zu bewegen, wie dies später bei Kant geschieht. Der ‚contrat social‘ gründet sich nämlich nach Rousseau, unabhängig von einem möglichen historischen Ursprung, auf einen Vernunftprozeß. Durch eine rationale Eliminierung aller Nebenelemente gelangt man zu einem Naturzustand, in dem die in ihrer Abstraktheit betrachteten Subjekte eine ebenfalls formale Übereinkunft ihrer Einzelwillen innerhalb eines abstrakten allgemeinen Willens erzielen. Hegel kritisiert diese wachsende Abstrahierung, die das empirische Naturrecht immer weiter zu einem Formalismus führt. Er ist davon überzeugt, daß der Mensch sich seine Gesetze nicht selbst geben kann23, und daß das Ergebnis dieser Entwicklung noch schlechter als die vom reinen Empirismus erzielte Einheit ist. Indem man auf abstrakte Begriffe wie Freiheit, reiner Wille und Menschheit zurückgreift, wird das Reale völlig verneint, es entsteht vielmehr mit diesem eine sogar psychologische Zwangsbeziehung, in der sich der eigene Wille gezwungen fühlt, sich einem vernünftigen Willen anzupassen, auch wenn dieser Zwang kein äußerlicher ist. Nach Hegel ist also auch die Theorie Rousseaus unfähig, einen Inhalt, eine Gesamtheit von substantiellen Zielen der Vernunftsidee zu schaffen, weil ihr Zentrum der freie Wille des einzelnen Menschen bleibt. Sie überspringt nicht die Grenzen des Verstandes, der das Endliche vom Unendlichen trennt, und vermag jene die Geister in der weitesten Realität des Geistes24 vereinende Bande nicht zu erkennen. Diese Vorstellung des Rechts bleibt leer, und wenn sie versucht, sich mit einem Inhalt zu füllen, kommt es zu dem, was in der Französischen Revolution geschehen ist: es wird nur Terror produziert, das Ergebnis des Deliriums der absoluten Freiheit, einer Vernunft ohne Inhalt. Der wissenschaftliche Empirismus bewegt sich daher, wie jedes Produkt des Verstandes, im Inneren reiner Vorstellungen ohne jegliches reales Fundament im Sein, und was er als objektive Begriffe erachtet, sind nichts anderes als subjektive und kontingente Meinungen und Sichtweisen von Gedanken- und Einbildungsgegenständen, von wesenslosen Abstraktionen. Gegenüber dieser wissenschaftlichen Empirie, die auf die Abstraktheit des Begriffs zurückgreifend zu einer irrationalen Vernunft gelangt, scheint Hegel sogar „das bewußtlose inne-
___________ 23 Vgl. Manfred Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1969, S. 44, Anm. 30. 24 Charles Taylor, Hegel and modern society, Cambridge 1979.
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re“25 der reinen Empirie vorzuziehen, das durch den Akt der Anschauung in der Lage ist, die sittliche Totalität unmittelbar zu erfassen. Das Endresultat des Empirismus ist also ein wenn auch noch unbewußter Formalismus: Will er von der Vielfältigkeit des Realen ausgehend zur Einheit gelangen, so muß er notwendigerweise auf die Abstrahierung vom vielfältigen Inhalt zurückgreifen und bleibt auf diese Weise im Gegensatz von vielfältigen Einzelheiten und Einheit gefangen, unfähig, sich dessen bewußt zu werden und es zu thematisieren.
III. Die rationale Behandlungsart des Naturrechts Durch die rationale Behandlungsart des Naturrechts gelangt diese Verstandesoperation zu Bewußtsein. Aber die Einheit von Allgemeinheit und Einzelheit, zu der diese wissenschaftliche Methode führt, bleibt eine nur ideale Einheit, weil im Realen der Gegensatz bestehen bleibt. Die Grenze des Rationalismus besteht nämlich in seiner Überzeugung, die absolute Wahrheit in der Subjektivität finden zu können. Hier ist Hegels Kritik ausdrücklich an Kant und Fichte gerichtet, die im Gegensatz zu den Empiristen (die das Objekt, die empirische Realität verabsolutieren) das Subjekt verabsolutieren. Während sich der Empirismus auf die empirische Vielfalt bezieht, wendet sich der Rationalismus hingegen an die subjektive Unendlichkeit des Gedankens. Das Denken trennt sich von allem, was ihm fremd ist, was anders ist, von der Endlichkeit, um sich an sich selbst, an die eigene Gedankenaktivität zu wenden; es wird also SelbstReflexion. Kant erhält das Wesen des Menschen, indem er die bestimmte Endlichkeit leugnet und sich der ideellen Form des Willens zuwendet. Aber dieser Prozeß führt ihn zu einer leeren und bloß analytischen Einheit, die auf eine „absolute Abstraktion aus irgendein[em] Gehalt des Willens […]“ gegründet ist. So „ist es an sich widersprechend, eine Sittengesetzgebung, da sie einen Inhalt haben müßte, bei dieser absoluten praktischen Vernunft zu suchen, da ihr Wesen darin besteht, keinen Inhalt zu haben“.26 Diese reine Einheit findet Kant sodann im „reinen Willen“, der „frei von Bestimmtheiten“ ist. Das Gesetz ist es, „jene Bestimmtheit in die Form der reinen Einheit zu erheben“.27 Dieser Formalismus zeigt sich aber dem Inhalt gegenüber gleichgültig. Kants Imperativ, nach dem „eine Maxime deines Willens zugleich ___________ 25
G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 430. Ebd., S. 436. 27 Ebd., S. 435. 26
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als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten müsse“, bedeutet nach Hegel, „daß irgend eine Bestimmtheit, welche den Inhalt der Maxime des besondern Willens ausmacht, als Begriff, als Allgemeines gesetzt werde“.28 Der Fall des Eigentums faßt die Kritik Hegels am kantischen Ansatz zusammen. Ich kann als Grundlage des Gesetzes das Eigentum oder das NichtEigentum annehmen, da es sich um eine analytische Einheit und um eine Tautologie handelt. Meine Vernunft fügt jedoch der anfänglichen Entscheidung, ob das Eigentum oder das Nicht-Eigentum als Inhalt gesetzt werden soll, nichts hinzu. Das Problem ist die Erhebung des Inhaltes zur Form: „durch Vermischung der absoluten Form aber mit der bedingten Materie wird unversehens dem unreellen, bedingten des Inhalts, die Absolutheit der Form untergeschoben [...]; dem Satze, das Eigentum ist Eigentum, wird an statt seiner wahrhaften Bedeutung: [...] die Materie desselben, nämlich das Eigentum ist absolut, und sofort kann jede Bestimmtheit zur Pflicht gemacht werden.“29
Kants Formalismus hebt die Unterschiede durch die absolute Negation der empirischen Endlichkeit auf, bleibt aber an diese Negation gebunden: Indem er sein Wesen in die Negation der Endlichkeit legt, stellt er sie am Ende wieder her. Die Betonung der Freiheit des Individuums, der formalen Freiheit, kann nach Hegel nur zu einem System der Legalität führen, das dazu bestimmt ist, notwendiger-, aber widersprüchlicherweise in ein System des allgemeinen Zwanges zu münden. Jenes „reine Selbstbewußtseins, die reine Einheit, oder das leere Sittengesetz, die allgemeine Freiheit aller, ist dem realen Bewußtsein, d. i. dem Subject, dem Vernunftwesen, der einzelnen Freiheit entgegengesetzt“,30 daher ist der Zwang die einzige Möglichkeit, diese Trennung aufzuheben. Dieses Auseinanderklaffen von Zwecken und Resultaten, typisch für den Formalismus, findet seine politische Anwendung in der Staatsmaschine des transzendentalen Idealismus Fichtes. Die erzwungene Anpassung des einzelnen Willens an die Gesetze des Staates als Konsequenz des Primates des Staatsinteresses gegenüber den Interessen des Einzelnen führt unausweichlich, so Hegel, in eine Art totalitären Staat, der seine Staatsbürger bis ins kleinste überwachen und kontrollieren muß, mit der notwendig damit einhergehenden Beschränkung der Freiheit. Die Vereinigung des einzelnen Willens mit dem allgemeinen „kann hiermit nicht als innere absolute Majestät aufgefaßt und gesetzt werden, sondern als etwas, das durch ein äußeres ___________ 28
Ebd., S. 436. Ebd., S. 438. 30 Ebd., S. 442. 29
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Verhältniß oder Zwang hervorgebracht werden soll“.31 Nach Hegels Rekonstruktion ist also der Staat Fichtes, obwohl die Freiheit der höchste Punkt seiner Philosophie ist, am Schluß gezwungen, gerade um die Freiheit zu schützen, auf sie zu verzichten, „damit die Freiheit aller in Gemeinschaft stehender Vernunftwesen möglich sei, und die Gemeinschaft ist wieder eine Bedingung der Freiheit“.32 Am Ende wird selbst die Institution des Ephorates nichts anderes als ein privater Wille zur Aufsicht. Nach diesen Theorien wird der Staat dazu gelangen, seine Funktion der Gewaltausübung als eine richterliche Gewalt zu vollziehen, indem er seine Natur als lebendiger Organismus, in dem das Individuum seine Freiheit genießt, verleugnet. „Der Staat hält als richterliche Gewalt einen Markt mit Bestimmtheiten, die Verbrechen heißen und die ihm gegen andere Bestimmtheiten feil sind, und das Gesetzbuch ist der Preißcourant“.33 Der Staatsmaschine und dem System des Atomismus setzt Hegel die Idee eines Staates als einer „Organisation“ und des Volkes als eines „organischen Körpers“34 entgegen. IV. Der Standpunkt der absoluten Sittlichkeit Nach der Analyse der Grenzen der zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts kommt Hegel zur Darstellung des Standpunktes der absoluten Sittlichkeit. Die Kritikpunkte Hegels stehen mittlerweile fest: die Abstraktheit des Naturrechtes hat es diesem unmöglich gemacht, eine Synthese von Wirklichkeit und Sittlichkeit, Realem und Idealem durchzuführen. Das vom Naturrecht und vom modernem Staat festgesetzte System hat über das abstrakte Recht zu einer relativen Beziehung zwischen den unterschiedlichen Aspekten der existierenden Vielfältigkeiten geführt: „Die Realität in der Beziehung, in der sie so eben betrachtet worden ist, und von der physisches Bedürfniß, Genuß, Besitz, und die Objecte des Besitzes und Genusses verschiedene Seiten sind, ist reine Realität“.35 Die vom Naturrecht erzielte Einheit ist „die reine Abstraction, der völlig inhaltslose Gedanke der Einheit“.36
___________ 31
Ebd., S. 443. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: Jenaer Kritische Schriften (wie Anm. 5), S. 9–286, hier S. 82. 33 G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 449. 34 Paolo Becchi, Il tutto e le parti, Napoli 1994, S. 47. 35 G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 451. 36 Ebd., S. 452. 32
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Das abstrakte Recht sanktioniert und verstärkt die Atomisierung der Gesellschaft und drängt in die Gleichgültigkeit des Privatlebens. Es erscheint als ein zwangausübendes System, das die Individualität des Einzelnen verneint und ihn zur ‚Person‘37 degradiert. Indem das Naturrecht alle besonderen Eigenschaften der Menschen nivelliert, drängt es ihnen mit seiner rationalen Vorgehensweise eine Gleichheit auf, die ihre einzelnen Eigenschaften vernachlässigt. Man denke dabei an das Wesen des Vertrages: Er basiert nicht auf dem Vertrauen, sondern im Gegenteil auf dem Mißtrauen und der Verletzung der Ehre. Diese Kritik Hegels am Naturrecht führt zum Erwerb eines neuen Gesichtspunktes, den der Sittlichkeit, die über eine Aufwertung der Wirklichkeit der Beziehungen erreicht wird. Diese Wirklichkeit darf aber nicht die Fixierung auf den Einzelnen bedeuten, der im formalen juristischen System als absolut gesetzt wird, sondern gerade auf seine Zugehörigkeit zu einem Volk. Der Mensch muß als Teil eines Ganzen anerkannt werden, als Mitglied einer übergeordneten Einheit, und diese Zugehörigkeit teilt ihm einen tieferen Lebenssinn mit. Sofern der Mensch sich als Mitglied einer höheren Gemeinschaft fühlt, bekommt sein individuelles Leben eine andere Bedeutung, die ihn gegen das Leid der Welt stärkt. In der absoluten Sittlichkeit verwirklicht sich also eine lebende Durchdringung von Positivem und Negativem, von organischer und anorganischer Natur, von Realem und Idealem, von Einzelnem und Allgemeinheit. „Die reale absolute Sittlichkeit die Unendlichkeit, oder den absoluten Begriff, die reine Einzelheit schlechthin und in seiner höchsten Abstraction in sich vereinigt begreift, so ist sie unmittelbar Sittlichkeit des Einzelnen, und umgekehrt das Wesen der Sittlichkeit des einzelnen ist schlechthin die reale und darum allgemeine absolute Sittlichkeit.“38
Diese Durchdringung von Allgemeinem und Einzelnem impliziert für das Individuum die Notwendigkeit der Volksgemeinschaft anzugehören: Das wahre sittliche Leben ist das des Individuums im Volk, das Leben des Volkes selbst. Durch die Lektüre von Aristoteles, und von der metaphysischen Perspektive Spinozas bestätigt, unterstreicht Hegel die Unangemessenheit des Endlichen, für sich zu gelten und die Notwendigkeit, dem Individuum die Idee der ‚Polis‘ (die zum ‚Volk‘ geworden ist) zur Seite zu stellen, als dem Ort wahrer Bedeutungsschenkung und natürlicher Zugehörigkeit. Hegel zitiert die Politik des Aristoteles und verneint die Möglichkeit des Einzelnen, getrennt von der Totalität zu leben, er muß „in einer Einheit mit dem ___________ 37
Person, aus dem griechischen prosopon, bezeichnet eben die charakteristische Maske. Vgl. Klaus Roth, Abstraktes Recht und Sittlichkeit in Hegels Jenaer Systementwürfen, in: Staat, Politik und Recht beim frühen Hegel (wie Anm. 14), S. 22. 38 G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 467.
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Ganzen seyn“.39 Die absolute Sittlichkeit steht im Wesen des Einzelnen vor dessen Verwandlung in ein Besonderes und vor seiner Vereinzelung. Schon von Natur aus kommt das Positive vor dem Negativen: „das Volk ist eher der Natur nach, als der einzelne“.40 Man könnte also sagen, daß für Hegel, wie auch für Kant, die Absonderung, das Beharren des Sich-in-sich-selbst-Zurückziehens, der ‚Eigensinn‘, das radikale Böse darstellt: Die Feindseligkeit gegenüber der ‚volonté particulière‘ manifestiert sich als Zurückweisung der Erhebung der Einzelheit, der Endlichkeit, zum Absoluten von Seiten der Tradition des Naturrechts. Das auf den besonderen Willen ausgerichtete und die modernen Staaten kennzeichnende Organisationssystem hat zur Verneinung der Einzelheit geführt. Dieses von der Herrschaft des privaten Willens geprägte System ist gerade das der politischen Ökonomie, das auf der gegenseitigen Abhängigkeit der Bedürfnisse gründet. Die moderne Politik und die moderne Sittlichkeit, in der das Leben auf institutionelle Weise organisiert ist und auf der Anerkennung der Rechtsgleichheit aller Menschen und auf ihrem moralischen Handeln basiert,41 erreicht jedoch nie das sittliche Handeln, weil diese Systeme „ein für sich sein und die Einzelheit zum Prinzip machen“.42 So fehlt es dem sogenannten System der politischen Ökonomie an wahrer Einheit. Die Einheit, das politische Ganze oder die ‚absolute sittliche Totalität‘ ist das Volk. Dieses Volk ist eine Einheit und diese Einheit bestimmt, daß seine Mitglieder und diejenigen, die ihm angehören, ihre Interessen und ihr Schicksal mit denen des Volkes identifizieren. Das Positive dieses sittlichen Absoluten ist das Eins-Sein, das sich in der Bereitschaft des Einzelnen zeigt, im Krieg das eigene Leben für den Staat zu opfern. Im System der politischen Ökonomie trennen hingegen die Einzelnen durch ihren eigenen Willen ihre Interessen und ihr Schicksal von denjenigen der Anderen und der Totalität. Dieses System des privaten Willens ist also vom Negativen und von der Differenz bestimmt und muß deswegen vom sittlichen Ganzen negativ behandelt werden und unter seiner Herrschaft bleiben.43 Diese Zurückweisung des besonderen Willens wird noch deutlicher, wenn Hegel sich, bei der Unterscheidung zwischen dem Stand der Freien und der Un___________ 39
Hegel zitiert hier aus der Politik des Aristoteles (vgl. dort 1, 2). G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 467. 41 Vgl. Thomas Petersen, Republikanismus und politische Tugend bei Hegel, in: Staat, Politik und Recht beim frühen Hegel (wie Anm. 14), S. 137–160. 42 G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 467. 43 Ebd., S. 483. 40
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freien, auf die aristotelische Trennung von Bürgern und Nicht-Bürgern beruft.44 Hegel stellt neben den Stand der Freien, dem Individuum der absoluten Sittlichkeit, einen Stand der Unfreien, der sich durch die Differenz der Bedürfnisse und der Arbeit, sowie durch die Rechte und die Gerechtigkeit des Besitzes und des Eigentums auszeichnet. Die Arbeit dieser Unfreien übertrifft die Einzelheit und sieht deshalb die Gefahr des Todes an sich nicht vor. Zu diesem zweiten Zustand gehören die Bauern: Bauern und Bourgeois sind damit von der lebenden, absoluten Sittlichkeit ausgeschlossen; der Bourgeois ist, so konstatiert Hegel, eine „politische Nullität“.45 Das Verhältnis zwischen absoluter Sittlichkeit und dem System des Eigentums und des Rechtes gestaltet sich hier wie „ein Verhältnis der organischen zur anorganischen Natur“.46 Aber wenn bei Aristoteles der Stand der Bürger, die den notwendigen und organischen Teil des Staates oder der Polis repräsentieren, vom Stand der Sklaven, der Händler, der Bauern oder der Künstler, also der Nicht-Bürger, die sich nur um die Befriedigung der Bedürfnisse kümmern, getrennt wird, so versucht Hegel hingegen den organischen und anorganischen Teil der Sittlichkeit zu vereinen. Gerade in dem Moment, in dem Hegel den Primat des Staates vor dem individuellen Dasein zu erklären scheint und auf eine „hyperaristotelische“47 Haltung zurückgreift, zeigt der Naturrechtsaufsatz seine Doppelsinnigkeit. Während auf jenen der Definition der absoluten Sittlichkeit gewidmeten Seiten der Primat der Totalität ausgeführt wird, hält Hegel zugleich seine Forderung nach Anerkennung der Individualität aufrecht. Diese Anerkennung geschieht über die Schaffung einer dialektischen Beziehung zwischen den Instanzen der Individualität, der anorganischen Sittlichkeit, und jenen der Totalität, der organischen Sittlichkeit. Die dialektische Bewegung, auf deren Basis die Einzelheit ein grundlegendes Element in der Bildung der absoluten Sittlichkeit wird, geschieht über eine Analyse der Tragödie und der Notwendigkeit der absoluten Sittlichkeit, auf lebendige Weise mit der relativen Sittlichkeit in Beziehung zu stehen. So wird in diesem letzten Teil des dritten Abschnittes die Anerkennung des besonderen Willens angekündigt, die sich in den Berliner Jahren als versöhnendes Moment der Sittlichkeit zeigen wird, wie der Abschnitt über das System der Bedürfnisse und über die bürgerliche Gesellschaft in den Grundlinien zeigen wird. ___________ 44
Ebd., S. 453–458. Ebd., S. 458. 46 Ebd., S. 454. 47 B. Bourgeois, Le droit naturel de Hegel (wie Anm. 10), S. 69. 45
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Wenn es unter gewissen Aspekten so scheint, als ob Hegel auf die von der Französischen Revolution ausgerufene Idee der Freiheit verzichtet und sogar die Bereitschaft zu erkennen gibt, die Autonomie der Individuen aufzuopfern, unterstreicht er auf der anderen Seite jedoch mehrere Male die Notwendigkeit des Einzelnen und den Wert der Individualität als dem Ort der Erfüllung und als einem zur Verwirklichung der absoluten Sittlichkeit notwendige Gestalt: „die Sittlichkeit des Einzelnen ist“ – so schreibt Hegel – „ein Pulsschlag des ganzen Systems, und selbst das ganze System“.48 Im letzten Abschnitt des Artikels erkennt Hegel dem Einzelnen eine aktive und tatkräftige Rolle bei der Bildung der allgemeinen Einheit des Staates49 zu, indem er die formale Abstraktheit des Naturrechtes und dessen Ansprüche kritisiert, die Staats- und Gesetzessysteme entweder a priori von Verstandesprinzipien oder von der allgemeinen Erfahrung abzuleiten. Er läßt nämlich die notwendigen Normen und Institutionen, d. h. das Recht, die Moralität und die Sittlichkeit, aus dem Charakter der Völker, aus der gemeinschaftlichen Praxis der sittlichen Individuen50 hervorgehen. Zur Untermauerung dieser These wird Montesquieu zitiert, der „sein unsterbliches Werk auf die Anschauung der Individualität und des Charakters der Völker gegründet […] doch schlechthin die einzelnen Einrichtungen und Gesetze nicht aus der sogenannten Vernunft deducirt, noch sie aus der Erfahrung abstrahiert.“51
Dieses Verhältnis zwischen der Sittlichkeit des Einzelnen und der absoluten Sittlichkeit wird in einer der suggestivsten Figuren dieses Artikels behandelt: der Tragödie.
V. Die Tragödie in der Sittlichkeit Das Modell der Tragödie, auf das Hegel sich bezieht, ist das des dritten Teils von Äschylos’ Orestie, wo am Ende den Erinnyen, als Machthabern des Rechtes, ein Platz im Pantheon Athenes zugestanden wird, wo sie Eumeniden genannt und verehrt werden. Ihnen schreibt Hegel das System des Eigentums und ___________ 48
G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 467. Dieser Gründungszusammenhang wird dann in den Jahren der Reife eine Wende erfahren: Dort wird nämlich der Geist der universelle Wille sein, der auf die Einzelheiten im Bereich des Rechtes eingehen wird. Aber diese Verwandlung hat seine Gründe auch im Systemaufbau selbst, der zu Beginn der Jenaer Jahre noch nicht vollkommen entwickelt war, da der Teil des absoluten Geistes noch fehlte. 50 Vgl. K. Roth, Abstraktes Recht und Sittlichkeit (wie Anm. 37), S. 11–37. 51 G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 481. 49
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des Rechts zu, das tatsächlich vom Adelsstand getrennt werden muß. So erkennt die Sittlichkeit ihrer anorganischen Natur und ihren verborgenen Kräften ein Recht zu, durch das sie ihnen einen Teil ihrer selbst opfert und überläßt. Die Tragödie liegt darin, daß die ethische Natur sich von ihrer anorganischen Natur trennt und sich ihr wie ein Schicksal entgegenstellt, so daß sie sich nicht in sie einmischen muß. Die Einzelheit stellt sich der Allgemeinheit des Gesetzes entgegen, so, wie dies bei Antigone in der Phänomenologie geschehen wird. In dieser Tragödie des Sittlichen wird der private, besondere Wille auf der einen Seite ertragen, auf der anderen Seite aber politisch neutralisiert. Die Tragödie repräsentiert den Einbruch der Einzelheit in die Ruhe der ewigen Gesetze, um das Recht auf die Besonderheit einzufordern. „Die Tragödie ist, daß die sittliche Natur ihre unorganische, damit sie sich nicht mit ihr verwickele, als ein Schicksal von sich abtrennt und sich gegenüber stellt, und durch die Anerkennung desselben in dem Kampfe, mit dem göttlichen Wesen, als der Einheit von beidem, versöhnt ist.“52
Die antike Tragödie drückt – im Gegensatz zur antiken oder modernen Komödie – das Wesen des Praktischen aus: Der Bruch der unmittelbaren Einheit und das Bedürfnis, daß nach Bewußtwerdung der eigenen Subjektivität der Einzelne schließlich das Ganze anerkenne. „Das wahrhafte und absolute Verhältniß aber ist, daß die eine im Ernste in die andere scheint, jede mit der andern in leibhafter Beziehung und daß sie füreinander gegenseitig das ernste Schicksal sind; das absolute Verhältniß ist also im Trauerspiel aufgestellt.“53
In diesem Artikel eröffnet Hegel die Möglichkeit, jenes Schicksal, das während der Frankfurter Jahre54 die gegen die Totalität rebellische Einzelheit zum Leiden verurteilt hatte, durch den Kampf aktiv zu gestalten. „Hegel gibt sich nicht, wie es in gewisser Weise Hölderlin passiert ist, damit zufrieden, die Tragödie des Lebens zu akzeptieren, nachdem er sich der Differenz bewußt geworden war. Müßte der Teil, das Individuum, um seine Leiden zu eliminieren, sich selbst annullieren, würde die Totalität nicht mehr aus der Lebenskraft und dem Enthusiasmus entstehen und wäre dem Tod ähnlich, der Effekt dieses ‚Selbstmordes‘ wäre, nach Hegel im Kommentar zu Hölderlins Empedokles‚ eine Verbindung mit einer ‚leeren Einheit‘.“55
So gibt es also, neben der Totalität als definitivem Gesichtspunkt, das Bewußtsein, daß das Individuum, in dieser Perspektive, nicht annulliert werden ___________ 52
Ebd., S. 459. Ebd., S. 461. 54 Siehe Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal, in: Hegels Theologische Jugendschriften (wie Anm. 4). 55 Marcella D’Abbiero, Le ombre della comunità, Genova 1991, S. 31. 53
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kann. Die Einheit des Einzelnen mit der Totalität setzt voraus, daß diese Zugehörigkeit keine Widerspiegelung der Sittlichkeit aller im Einzelnen ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines ursprünglichen Sinnes der ‚Gemeinschaftlichkeit‘, ohne den der Mensch „entweder Thier oder Gott“56 wäre. Erst im Volk, schreibt Hegel im gleichzeitigen System der Sittlichkeit, erreicht das Individuum die höchste subjektive Objektivität und das Universelle, der Geist ist in jedem und für jeden. Diese Idealität der Sitten und ihre Form der Allgemeinheit in den Gesetzen muß, insofern sie als Idealität besteht, zugleich auch wieder vollkommen mit der Form der Besonderheit vereinigt werden, weil „die Angst, die Sitten zu denken, als die einige anzusehen und zu bekennen, das Zeichen der Barbarei ist“.57 In diesem Sinn verleiht das Volk den Besonderheiten Bedeutung, Besonderheiten, die sonst, wie Giulio M. Chiodi bemerkt, „matt, abstrakt und willkürlich“58 wären. Obwohl also Hegel in diesem Artikel mehrmals dazu auffordert, auf die Individualität zu verzichten, macht er zugleich in derselben Schrift, und zwar zum ersten Mal sehr entschieden, die unauslöschbare Existenz der Bedürfnisse und der Bestrebungen der einzelnen Subjekte geltend. Die Permanenz, aber auch die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Individualität und Universalität, ist hier nicht nur ideal, sondern auch real. Die Realität der Sittlichkeit ist hier in der Tat aufgeteilt, und zwar „in einen Teil, welcher absolut in die Indifferenz aufgenommen ist, und in einen, worin das reelle als solches bestehend, also relativ identisch ist und nur den Widerschein der absoluten Sittlichkeit in sich trägt“.59 Damit wird eine notwendige Beziehung gesetzt zwischen der absoluten Sittlichkeit, die das Wesen der Individuen ausmacht und „einer relativen Sittlichkeit, die auch in den Individuen real ist“. Anders als in der kurz vorher entstandenen Schrift über die ‚Differenz‘, in der es schien, daß die Individuen sich selbst zurücknehmen können, um den Frieden im Gesamten zu finden, beginnt Hegel hier mit größerer Klarheit die Widersprüchlichkeit, mit der das Subjekt kämpft, zu begreifen.60 ___________ 56
G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 468. Ebd., S. 470. 58 Giulio M. Chiodi, Buone e cattive infinità: Hegel politico, in: La filosofia politica di Hegel, hrsg. v. Giulio M. Chiodi / Giuliano Marini / Roberto Gatti, Milano 2003, S. 183. 59 G.W.F. Hegel, Naturrechtsaufsatz (wie Anm. 5), S. 454. 60 Vgl. M. D’Abbiero, Le ombre della comunità (wie Anm. 55), S. 33 f. 57
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Die Aufwertung eines jeden Unterschiedes im Inneren der Totalität führt die Schrift Hegels auf die Linien jenes Naturrechts zurück, das den Naturmenschen als einen „Kulturmenschen“ konstruiert. Die Frage der Einzelheit, die Grundidee vom „Menschen, der sich selbst macht“, also die Zentralität des „freien Willens“,61 bestätigt noch die Idee der Überwindung und zugleich die der hegelschen Erfüllung des Naturrechts. Indem Hegel die Idee der Gemeinschaft als eine die Individualitäten opfernde Totalität überwindet, nimmt er nicht nur den Wert der Subjektivität wieder auf, sondern lenkt die Gründung der Sittlichkeit, ausgehend von den unmittelbar folgenden Schriften und unter dem Einfluß einer gleichzeitigen Fichte-Lektüre, in Richtung auf die Anerkennung zwischen den Subjekten. Gegenüber dem Naturrecht ist aber Hegels Idee vom Subjekt völlig verändert. Der Status des hegelschen Subjektes definiert sich nicht auf der Basis der bürgerlichen Rechte (das Eigentum, die Freiheit und das Leben selbst), sondern in der Anerkennung des Menschen als Geist. Dieser Übergang vom Subjekt zum Geist macht eine Beziehung zwischen dem hegelschen System der Sittlichkeit, das in Richtung der Idee der Totalität orientiert ist, und dem des Naturrechts, das sich zur Subjektivität hin orientiert, unmöglich. Wenn Hegel also in der Beziehung zwischen den Menschen eine formale Normativität vorschlägt, die auf einen Teil der Naturrechtstradition verweist, hebt er auf der anderen Seite das Bedürfnis der Zentralität der konkreten Besonderheit62 hervor, die ihre Verwirklichung in einer politischen Struktur finden muß, die den kantischen Universalismus mit der vielfältigen Einzelheit des Realen in Einklang zu bringen vermag: Es ist dies die hegelsche Idee der konkreten Freiheit, wo „weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch daß die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewußte Wirksamkeit haben.“63
___________ 61 Vgl. Giulio M. Chiodi, Profili antropologici introduttivi allo studio della socialitas nel Seicento tedesco, in: Il diritto naturale della socialità, hrsg. v. Vanda Fiorillo / Friedrich Vollhardt, Turin 2004, S. 10. 62 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992, III. Teil. 63 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, in: ders., Werke, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 7, § 260.
Das deutsche Naturrecht am Ende des 18. Jahrhunderts
Diethelm Klippel Im Jahre 1797 erschien das Buch Metaphysik der Sitten. Erster Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre des 73jährigen Königsberger Philosophieprofessors Immanuel Kant. Das Buch gilt als eines der wichtigsten Werke in der Geschichte der Rechtsphilosophie; es wurde und wird in unzähligen gelehrten Abhandlungen kommentiert, interpretiert und aktualisiert. Daher kommt es uns ebenso wie 1797 einem der Kommentatoren Kants, Johann Adam Bergk, als selbstverständlich vor, „daß man den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre mit der größten Begierde und mit der gespanntesten Erwartung entgegen sah“. Bergk fuhr fort: „Aber wie sehr wunderte man sich, als man dieses Buch nicht durchgelesen, sondern verschlungen hatte, daß es fast allenthalben das Gegentheil von dem enthielt, was man bis jezt sich unter der Rechtswissenschaft gedacht hatte!“1 In der Aussage Bergks irritiert der Begriff ‚Rechtswissenschaft‘: Kant als juristischer Autor? Aber Bergk gebrauchte den Begriff gleichbedeutend mit ‚Rechtsphilosophie‘, ‚philosophische Rechtslehre‘ und vor allem mit ‚Naturrecht‘. Das heißt also: Bergk sah die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre als Naturrechtslehre an. Auch zahlreiche andere juristische und philosophische Autoren der Zeit sprachen ausdrücklich von einem System des Naturrechts, das Kant geschrieben habe.2 Die Behauptung, Kant habe ein Naturrechtslehrbuch vorgelegt, löst allerdings erst recht Irritationen aus. Denn die philosophie- und rechtsgeschichtliche ___________ 1 Johann Adam Bergk, Briefe über Immanuel Kants metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, enthaltend Erläuterungen, Prüfung, Einwürfe, Leipzig 1797, S. VII. 2 Z. B. Johann Christian Friedrich Meister, Lehrbuch des Natur-Rechtes, Frankfurt a. M. 1809, S. 107. Weitere Nachweise: Diethelm Klippel, Kant im Kontext. Der naturrechtliche Diskurs um 1800, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, München 2002, S. 77–107, Anm. 75 ff.
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Forschung war sich lange Zeit einig, daß am Ende des 18. Jahrhunderts die Zeit des Naturrechts zu Ende war; häufig wird gerade Kant – manchmal auch Fichte – als derjenige angesehen, der naturrechtlichem Denken den Todesstoß versetzt habe.3 Diese Behauptung übersieht freilich, daß die Zeitgenossen das anders sahen und einhellig ab etwa 1790 gerade die Philosophie Kants als Neubegründung des Naturrechts in Deutschland feierten.4 Jedenfalls erschienen – wie noch zu zeigen ist – ab dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zahllose Schriften, die weit überwiegend von der kritischen Philosophie Kants beeinflußt waren und sich als naturrechtlich verstanden. Deren Ausklammerung aus der Geschichte des Naturrechts beruht also offensichtlich auf der Gleichsetzung von ‚Naturrecht‘ und ‚vorkantianischem Naturrecht‘, also dem von Pufendorf, Thomasius und Wolff geprägten Naturrecht, um drei berühmte deutsche Autoren zu nennen. Allenfalls das Naturrecht dieser Prägung endete um 1800, nicht das Naturrecht als Wissenschaftsdisziplin generell. Es setzte sich in Deutschland bis weit in das 19. Jahrhundert hinein fort.5 Mein Beitrag zielt darauf, einige Aspekte der Naturrechtsdiskussion am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland zu analysieren.6 Der Beschränkung auf Deutschland sind einige weitere Präzisierungen hinzuzufügen. Zeitlich wird ungefähr die Periode zwischen 1785, dem Erscheinungsjahr von Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, und dem Ende des Alten Deutschen Reiches ___________ 3 Nachweise bei Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, S. 13. 4 Zu diesen Zusammenhängen im einzelnen Diethelm Klippel, Die Historisierung des Naturrechts. Rechtsphilosophie und Geschichte im 19. Jahrhundert, in: Recht zwischen Natur und Geschichte, hrsg. v. Jean-François Kervégan / Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 1997, S. 103–124, 109; ders., Die Theorie der Freiheitsrechte am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988–1990). Beispiele, Parallelen, Positionen, hrsg. v. Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 1991, S. 348–386, 367 f.: Entscheidenden Einfluß gewann Kants „praktischer Imperativ“, der auf der „Achtung erweckende[n] Idee der Persönlichkeit“ und auf der Aussage beruht, der Mensch existiere „als Zweck an sich selbst“. In diesen knappen Formulierungen glaubte man endgültig den – bisher umstrittenen – Grundsatz des Naturrechts gefunden zu haben, so dass seit ca. 1790 zahlreiche Naturrechtslehrbücher erschienen, die daraus weitere, zum Teil detaillierte Rechtssätze ableiteten; vgl. dazu näher unten IV. 5 Vgl. die Beiträge in: Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung, hrsg. v. Diethelm Klippel, Goldbach 1997. 6 Der Beitrag beruht auf drei früher veröffentlichten Aufsätzen und führt deren Ergebnisse zusammen; vgl. Diethelm Klippel, Ideen zur Revision des Naturrechts. Die Diskussion zur Neubegründung des deutschen Naturrechts um 1780, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), S. 73–90; ders., Kant im Kontext (wie Anm. 2); ders., Verfassungskonflikte im Allgemeinen Staatsrecht des 18. Jahrhunderts, in: Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt. Symposion für Dietmar Willoweit, hrsg. v. Ulrike Müßig, Tübingen 2006, S. 61–78.
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1806 behandelt. Methodisch sollen, ohne dazu ausführliche Überlegungen anstellen zu wollen und ohne jeweils darauf im einzelnen hinzuweisen, Grundsätze der sogenannten ‚Neuen Ideengeschichte‘ umgesetzt werden.7 Dies bedeutet erstens, daß die Quellenbasis konsequent ausgeweitet wird, und zwar bis hin zu der Masse anonymer Rezensionen. Zweitens sollen die Quellen, auch die sogenannten ‚großen Autoren‘, kontextualisiert werden. Es geht also, pointiert gesagt, um die historische Analyse von zeitgenössischen Diskursen, nicht um als überzeitlich gedachte rechtsphilosophische Erkenntnisse anhand historischer Quellen. Dazu gehört auch – drittens – die Beachtung der Wechselwirkung zwischen Ideen und Lebenswelt, zugegebenermaßen die schwierigste methodische Herausforderung der ‚Neuen Ideengeschichte‘. Im einzelnen geht es in diesem Beitrag erstens darum, einen Eindruck von Zahl und Inhalt der naturrechtlichen Quellen am Ende des 18. Jahrhunderts zu vermitteln. Will man ‚Kontext‘ und ‚Diskurs‘ untersuchen, so stellt sich zweitens mit besonderem Nachdruck die Frage nach den Funktionen der Disziplin, also des Naturrechts, im Wissensspektrum der Zeit. Drittens soll nachgewiesen werden, daß das Naturrecht um 1780 in eine Krise geriet; zu fragen ist zudem, warum dies geschah. Viertens ist die Blütezeit des Naturrechts ab etwa 1790, die Antwort auf die erwähnte Krise, zu analysieren. In das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts fällt, wie eingangs gesagt, die Veröffentlichung der „Rechtslehre“ von Kant; daher stellt sich fünftens die Frage, wie die Zeitgenossen sie beurteilten und welchen Stellenwert sie im zeitgenössischen Diskurs einnahm. Sechstens soll der Gebrauch des Naturrechts in der politischen und juristischen Praxis demonstriert werden.
___________ 7 Grundlegend dazu Günther Lottes, Neue Ideengeschichte, in: Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, hrsg. v. Joachim Eibach / Günther Lottes, Göttingen 2002, S. 261–269; Luise Schorn-Schütte, Neue Geistesgeschichte, in: ebd., S. 270– 280; Reingard Eßer, Historische Semantik, in: ebd., S. 281–292; Iain Hampsher-Monk, Neuere angloamerikanische Rechtsgeschichte, in: ebd., S. 293–306; Robert Jütte, Diskursanalyse in Frankreich, in: ebd., S. 307–317; Eckhart Hellmuth / Christoph von Ehrenstein, Intellectual History Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 149–172; Günther Lottes, ‚The State of the Art‘. Stand und Perspektiven der ‚intellectual history‘, in: Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen, Paderborn 1996, S. 27–45; Hartmut Rosa, Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie. Der Beitrag der ‚Cambridge School‘ zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S. 197–223; zum Zusammenhang zwischen Rechts- und Ideengeschichte Diethelm Klippel, Ideen – Normen – Lebenswelt. Exegese und Kontexterschließung in der Rechtsgeschichte, in: Scientia Poetica 4 (2000), S. 179–191.
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I. Die Quellen und deren Inhalt Schon angesichts der großen Zahl der einschlägigen Quellen können wir von einer Blütezeit des Naturrechts im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts sprechen. Der Einfachheit halber mögen quantitative Angaben über die Zahl der erschienenen naturrechtlichen Lehrbücher, Grundrisse und Sammelwerke genügen:8 Von 1790 bis 1799 zählen wir rund 75 derartige Publikationen. Zum Vergleich: Zwischen 1780 und 1789 erschien noch nicht einmal die Hälfte davon, nämlich ca. 25 neue Werke plus 10 Neuauflagen. Die jeweiligen Zahlen zeigen allerdings nur sozusagen die Spitze des Eisbergs; hinzu kommen noch zahlreiche Einzelschriften und Aufsätze, ganz zu schweigen von Schriften zu den Teilgebieten des Naturrechts, also etwa zum sogenannten ‚natürlichen‘, d. h. naturrechtlichen Straf- und Privatrecht, zum Völkerrecht und vor allem zum Allgemeinen (d. h. naturrechtlichen) Staatsrecht (ius publicum universale). Stellt man für das zuletzt genannte Gebiet des Naturrechts, also für das Allgemeine Staatsrecht, die Zahl der Lehrbücher und übergreifenden Schriften zusammen, so zeichnet sich die Entwicklung noch deutlicher ab: ca. 15 Publikationen von 1780 bis 1789 stehen 70, also mehr als das Vierfache, von 1790 bis 1799 gegenüber. Mit gutem Grund meinte also 1798 der Kameralist Johann Christian Christoph Rüdiger, Professor in Halle, in seinem Lehrbegriff des Vernunftrechts und der Gesetzgebung, daß „jetzt fast mit jeder Messe gleich den Rechen- und Kochbüchern wenigstens etliche Lehrgebäude des Naturrechts erscheinen“.9 Besonders aufschlußreich für die Analyse des Naturrechts am Ende des 18. Jahrhunderts sind die einschlägigen Rezensionen. Wir befinden uns in der Zeit des umfassenden gelehrten Diskurses. Charakteristisch dafür sind zahlreiche allgemeine Rezensionszeitschriften, die mit zum Teil enzyklopädischem An___________ 8
Die folgenden Zahlen beruhen auf einer im Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojektes erstellten Bibliographie naturrechtlicher und rechtsphilosophischer Schriften im 19. Jahrhundert, Bd. 1, 1780–1850 (Manuskript; Veröffentlichung für 2008 geplant). 9 Johann Christian Christoph Rüdiger, Lehrbegriff des Vernunftrechts und der Gesetzgebung, Halle 1798, S. 45; ähnlich bereits bei Jean Paul, Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs [1796], in: ders., Werke, Bd. 2, hrsg. v. Norbert Miller, 3. Aufl., Darmstadt 1971, S. 21; auch bei Gustav Hugo, Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts (Lehrbuch eines civilistischen Cursus 2), 2. Aufl., Berlin 1799, S. 23; vgl. auch die Rezension zu: Johann Christoph Hoffbauer, Naturrecht aus dem Begriffe des Rechts entwickelt, Halle 1793, in: Gothaische gelehrte Zeitungen, 1794, S. 260–261, 260: „Darf man die Fortschritte einer Wissenschaft nach der Geschwindigkeit messen, mit welcher die Lehrbücher derselben einander folgen; so steht es vor allen andern Disciplinen um das Naturrecht gut“.
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spruch Bücher aus allen Wissens- und Wissenschaftsgebieten besprachen.10 Zu den bekannteren davon gehören die Allgemeine deutsche Bibliothek des Berliner Buchhändlers Friedrich Nicolai, 1793 bis 1806 fortgesetzt von der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek, und die Allgemeine Literatur-Zeitung. Daneben erschienen jedoch, meist an Universitätsorten, zahlreiche weitere Rezensionszeitschriften, u. a. die Erlangischen gelehrten Anmerkungen und Nachrichten, die Erfurtische gelehrte Zeitung, die Göttingischen gelehrten Anzeigen, die Greifswalder Neuesten critischen Nachrichten, die Oberdeutsche allgemeine Literaturzeitung, die Tübingischen gelehrten Anzeigen und die Würzburger gelehrten Anzeigen – um nur wenige zu erwähnen. Dazu kommen noch juristische und philosophische Periodika, ein Teil davon ist ebenfalls ausschließlich Buchbesprechungen gewidmet. Sie alle rezensierten selbstverständlich auch naturrechtliche Veröffentlichungen, darunter die Lehrbücher. Zu jedem Naturrechtslehrbuch erschienen durchschnittlich etwa acht Rezensionen, zu Fichtes 1796/1797 in zwei Bänden erschienener Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre 12, zur ersten Auflage von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre 13.11 Abgesehen von einigen wenigen Rezensionen von Kant und Fichte und zu diesen Autoren hat die Forschung diesen Quellenfundus bisher noch nicht ausgewertet. Wie aufschlußreich aber sind solche Rezensionen? Zunächst fällt auf, daß die Autoren häufig nicht mit drastischen Formulierungen sparten. Zwei besonders deutliche Beispiele seien herausgegriffen. So schrieb der Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung, wahrscheinlich der junge, 1775 geborene Paul Johann Anselm Feuerbach, der 1796 erschienene Versuch eines neuen Systems des natürlichen Rechts des Gießener Philosophieprofessors Johann Christian Gottlieb Schaumann sei „scholastisch, [...] abstrus und [...] so ganz leer an allem Gehalt“, „daß es uns physisch unmöglich war, bey diesem Producte bis ans Ende auszuhalten“.12 Zu dem eingangs zitierten Kant-Kommentar von Bergk aus dem Jahre 1797 meinte die Bibliothek für peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde, daß es „in dem Kopfe des Vf. nicht so ganz geordnet seyn muß“.13 ___________ 10 Vgl. dazu Diethelm Klippel, Die juristischen Zeitschriften im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Juristische Zeitschriften. Die neuen Medien des 18.–20. Jahrhunderts, hrsg. v. Michael Stolleis, Frankfurt a. M. 1999, S. 15–39, 24 ff. (dort auch bibliographische Hinweise). 11 Die Zahlen beruhen auf der in Anm. 8 genannten Bibliographie. 12 Paul Johann Anselm Feuerbach, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1798, Bd. 3, Sp. 341–347, 346. 13 Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde, 1798, S. 83–92, 83 u. 86.
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Derartige Urteile ändern nichts daran, daß sich die Autoren meist, sieht man von nichtssagenden Buchanzeigen oder bloßen Inhaltsangaben ab, auf mehreren Spalten oder Seiten ausführlich und bis in Einzelfragen hinein mit der jeweiligen Schrift auseinandersetzten. Es liegt auf der Hand, daß die Rezensionen dadurch zu einer Fundgrube der Ideengeschichte werden, da sie dazu geeignet sind, Schwerpunkte der Diskussion, den Verlauf der Meinungsfronten und Hintergründe von Kontroversen festzustellen. Worüber aber diskutierte man im Naturrecht um 1800? Einen ersten Eindruck davon vermittelt ein Buch mit dem Titel Von dem besonderen Interesse des Natur- und allgemeinen Staats-Rechtes durch die Vorfälle der neueren Zeiten, das Karl Ignaz Wedekind, Professor für Natur- und Völkerrecht in Heidelberg, 1793 als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen publizierte.14 Darin listete er rund 25 Themen auf, die er als naturrechtlich einschlägig begriff, und an die er jeweils zahlreiche Fragen knüpfte, die er allerdings – angesichts der Brisanz der Themen verständlich – vorsichtshalber nicht beantwortete. So erwähnte er u. a. die Unabhängigkeit der Niederlande, die Abschaffung der Leibeigenschaft, der Folter und der Todesstrafe, Rede- und Schreibfreiheit, den Büchernachdruck, die Aufhebung der Klöster, die willkürliche Entlassung von Staatsdienern, das preußische Allgemeine Landrecht, die amerikanische und die französische Revolution, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, das preußische Religionsedikt und die Abschaffung des Adels. Obwohl ein Rezensent den Hauptmangel des Buches darin sah, „daß es ein ungeheurer Haufen von Fragen ohne Antworten“ sei, stimmte er Wedekind in der naturrechtlichen Relevanz der aufgeführten Rechtsfragen zu.15 Die Liste läßt sich sogar noch verlängern: Die Naturrechtsautoren am Ende des 18. Jahrhunderts diskutierten darüber hinaus über Staatsvertrag, Staatszweck, Gewaltenteilung, Grundfragen des Strafrechts, die Grundlagen des Eigentums, die naturrechtliche Gültigkeit von Testamenten und über die Rechtmäßigkeit des gerichtlichen Eides – um nur einige weitere Schwerpunkte zu nennen. Führt man sich diesen Katalog vor Augen, so bestand jedenfalls am Ende des 18. Jahrhunderts kein Mangel an einschlägigen Themen des Naturrechts. Für einen kurzen Beitrag zur Geschichte des deutschen Naturrechts am Ende des 18. Jahrhunderts ergibt sich daher das Problem der Auswahl. Da viele Themen damals höchst aktuelle und zudem politisch brisante Aspekte des Allgemeinen ___________ 14 Karl Ignaz Wedekind, Von dem besonderen Interesse des Natur- und allgemeinen Staats-Rechtes durch die Vorfälle der neueren Zeiten. Eine Einladungsschrift zu den Vorlesungen über diese Wissenschaften [...], Heidelberg 1793. 15 Allgemeine Literatur-Zeitung, 1794, Bd. 1, Sp. 521–524, 522.
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Staatsrechts betreffen, steht dieser Teil des Naturrechts, der u. a. Entstehung, Legitimation und Organisation des Staates, ferner nicht zuletzt die Beziehungen zwischen Herrscher und Untertanen bzw. Bürgern betrifft, im Vordergrund der folgenden Überlegungen.
II. Die Funktionen des deutschen Naturrechts im 18. Jahrhundert Um die zeitgenössische Diskussion sinnvoll einordnen zu können, ist zunächst danach zu fragen, welche Funktionen die Naturrechtslehre im Kontext des gelehrten Wissens des 18. Jahrhunderts erfüllte, genauer gesagt: in der Rechtsgelehrtheit; nicht behandelt werden soll also der Stellenwert des Naturrechts in der Philosophie. Überblickt und analysiert man die vielen Äußerungen von Autoren des 18. Jahrhunderts zu Bedeutung und Nutzen des Naturrechts, so lassen sich drei Funktionen deutlich erkennen und unterscheiden, die sich freilich im Laufe des 18. Jahrhunderts veränderten. Erstens bildete das Naturrecht eine der grundlegenden Disziplinen der Rechtsgelehrtheit mit methodischen, systematischen und „sinnstiftenden“ Aufgaben; heute würden wir sagen: Es handelt sich um ein juristisches Grundlagenfach. Das läßt sich etwa der Äußerung des sächsischen Juristen Adam Friedrich Glafey (1732) entnehmen, es diene „das vernünftige Recht [...] zur Erklärung derer Römischen und anderer bürgerlichen Gesetze“, und speziell das Allgemeine Staatsrecht zum besseren Verständnis des öffentlichen Rechts.16 Ein anonymer Autor drückte dies zu Beginn des 18. Jahrhunderts polemisch aus: „Man kann viel Unrecht und Thorheit, so im Römischen Recht vorkommt, nach dem Recht der Natur erkennen.“17 Sehr deutlich heißt es bei Johann Gottfried Scheidemantel, Professor in Jena: „Das allgemeine Staatsrecht ist eigentlich zu reden eine juristische Metaphysik, oder die Grundwissenschaft der ganzen Rechtsgelartheit in Staaten.“18 Zu betonen ist, daß das Naturrecht einen Teilbereich der Rechtsgelehrsamkeit ausmachte, also eine eigene Wissenschaftsdisziplin mit eigenen Vorlesungen und Lehrbüchern war, nicht lediglich eine Methode des juristischen Denkens oder eine Richtung innerhalb der Rechtsphilosophie. ___________ 16 Adam Friedrich Glafey, Recht der Vernunfft, so wohl unter einzelnen Menschen als ganzen Völkern, 2. Aufl., Frankfurt / Leipzig 1732, S. 6 u. 4. – Zu Glafey siehe jetzt Frank-Steffen Schmidt, Praktisches Naturrecht zwischen Thomasius und Wolff: Der Völkerrechtler Adam Friedrich Glafey (1692-1753), Baden-Baden 2007. 17 Unschuld und Nothwendigkeit des Rechts der Natur […], Leipzig 1704, S. 69. 18 Johann Gottfried Scheidemantel, Das allgemeine Staatsrecht überhaupt und nach der Regierungsform, Jena 1775, S. 25.
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Zweitens erfüllte das Naturrecht spezifisch politische Funktionen. Die Klammer zum Naturrecht als ‚Grundlagenfach‘ liegt darin, daß es als Maßstab für die Brauchbarkeit und Güte des vorhandenen staatlichen Rechts galt, in den Worten der Zeit um 1800: Es ist der „Probirstein jedes positiven Staatsrechts“,19 und aus ihm ergeben sich Hinweise für die zweckmäßige Einrichtung des Staates, insbesondere für eine sinnvolle Gesetzgebung.20 Darüber hinaus leistete das Naturrecht, so wiederum Glafey, gute Dienste, „wo es darauf angekommen, daß ein großer Herr von seinen Unternehmungen oder Praetensionibus raison angeben sollen“, da das römische Recht hier auf seine Grenzen stoße. In den Worten von Glafey: „Souveraine Printzen lassen sich nicht nach denen Justinianischen Gesetzen richten“.21 Mit anderen Worten: Das Naturrecht als Fürsten- und Völkerrecht diente der Legitimation von Herrscherhandeln. Barbara Stollberg-Rilinger hat das Naturrecht zudem als politische Sprache und als Verständigungsmedium der juristischen Elite Deutschlands im 18. Jahrhundert bezeichnet.22 Daran ist zutreffend, daß die historische Rolle des Naturrechts nicht von dem Gegensatz zwischen Naturrecht und positivem Recht her erfaßt werden kann, sondern nach dem Gebrauch und Einfluß der akademischen Disziplin ‚Naturrecht‘ zu fragen ist. Allerdings ging die Funktion des Naturrechts weit über diejenige einer politischen Sprache hinaus; das Naturrecht als ‚politische Sprache‘ betrifft zwar die zuerst genannte und allenfalls noch die an zweiter Stelle genannte Funktion, nicht aber eine dritte Funktion: diejenige als subsidiär geltende Rechtsquelle. Drittens nämlich wurde das Naturrecht im 18. Jahrhundert durchgehend als subsidiär geltende Rechtsquelle angesehen. Das galt, so Glafey, zunächst ganz allgemein dann, wenn „die Gesetze schweigen, oder nach der Billigkeit zu temperiren seyn“;23 ein Jurist müsse daher „diejenigen Dinge, welche aus dem ver___________ 19 So Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798, S. 211; weitere Nachweise: D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 3), S. 191. 20 Dazu Diethelm Klippel, Die Philosophie der Gesetzgebung. Naturrecht und Rechtsphilosophie als Gesetzgebungswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert, in: Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel, Berlin 1998, S. 225–247. 21 Adam Friedrich Glafey, Vollständige Geschichte des Rechts der Vernunfft, Leipzig 1739, S. 5; das zweite Zitat bei dems., Recht der Vernunfft (wie Anm. 16), S. 3. 22 Barbara Stollberg-Rilinger, Vom Volk übertragene Rechte? Zur naturrechtlichen Umdeutung ständischer Verfassungsstrukturen im 18. Jahrhundert, in: Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.–19. Jahrhundert), hrsg. v. Diethelm Klippel / Elisabeth Müller-Luckner, München 2005, S. 103–117, 104 f. 23 A.F. Glafey, Recht der Vernufft (wie Anm. 16), S. 5 (Randglosse): „in Praxi forensi […] Weiln es in [d.h. das Naturrecht] Subsidium in foro civili gelten muß. Das ist: Wann die Gesetze schweigen, oder nach der Billigkeit zu temperiren seyn.“
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nünfftigen Rechte in die Civil-Gesetze unvollkommen, oder allzu general eingeflossen, aus dem Jure naturae ergäntzen und restringiren“.24 Speziell das Allgemeine Staatsrecht, also derjenige Teil des Naturrechts, der sich mit dem Staat befaßte, wurde ebenfalls als Rechtsquelle aufgefaßt: Wenn die positiven Gesetze schweigen und auch eine Analogie nicht möglich sei, so griffen die Regeln des Allgemeinen Staatsrechts ein.25 Bezug genommen wurde dabei nicht etwa auf überpositives Billigkeitsrecht, sondern auf die Ergebnisse – die durchaus umstritten sein konnten – des akademischen Faches ‚Naturrecht‘ bzw. ‚Allgemeines Staatsrecht‘. Besonders insofern müssen wir uns also von dem Gedanken freimachen, das Naturrecht beschäftige sich – wie heute – lediglich mit rechtsphilosophischen Grundsatzfragen und sei lediglich eine spezielle Methode und Richtung innerhalb der Rechtsphilosophie. Führt man sich diese drei Funktionen des Naturrechts vor Augen, so läßt sich leicht erkennen, daß noch am ehesten die Aspekte des ‚Grundlagenfachs‘ erforscht sind. Ebenfalls in den Blick der Forschung geraten sind die politischen Funktionen des Naturrechts, freilich meist ausschließlich auf der Ebene der Geschichte der politischen Theorien. Unterscheidet man hinsichtlich ideengeschichtlicher Untersuchungen in der Rechtsgeschichte zwischen Ideen, rechtlichen Normen und Lebenswelt und deren Wechselbeziehungen,26 so läßt sich leicht erkennen, daß die meisten Untersuchungen zur Geschichte des Naturrechts nicht über die Ebene der Ideen hinausgelangen, daß jedenfalls selten die Wechselbeziehungen zwischen naturrechtlichen Ideen und politischer Praxis behandelt werden. Bisher noch nicht ernstgenommen wird die zeitgenössische Auffassung, das Naturrecht sei eine subsidiäre Rechtsquelle; dementsprechend fehlt es abgesehen von einzelnen Hinweisen, u. a. einem Aufsatz von Thomas Kischkel zur Anwendung des Naturrechts in der Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät,27 bisher an einschlägigen Forschungen. ___________ 24
Ebd., S. 6. So Daniel Nettelbladt, Erörterungen einiger einzelner Lehren des teutschen Staatsrechtes, Halle 1773, S. 30. – Zum Verhältnis des Naturrechts zu anderen Rechtsquellen im Verständnis des 18. Jahrhunderts grundlegend: Jan Schröder, ‚Naturrecht bricht positives Recht‘ in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts?, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift für Paul Mikat, hrsg. v. DieterSchwab / Dieter Giesen / Joseph Listl / Hans-Wolfgang Strätz, Berlin 1989, S. 419–433. 26 Dazu D. Klippel, Ideen – Normen – Lebenswelt (wie Anm. 7). 27 Thomas Cornelius Kischkel, Das Naturrecht in der Rechtspraxis. Dargestellt am Beispiel der Spruchtätigkeit der Gießener Juristenfakultät, in: Legitimation, Kritik und Reform. Naturrecht und Staat in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, hrsg. v. Diethelm Klippel, Wien 2000 (= Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 2000, Heft 1), S. 124–147. 25
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III. Die Krise des Naturrechts um 1780 Halten wir fest: Vor allem im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts erschien also eine wahre Flut von naturrechtlich-rechtsphilosophischen Schriften, pro und contra diskutiert in ausführlichen Rezensionen. Was aber sind die Gründe dafür? Auf welche Herausforderungen reagierten die Autoren? Für die Zeitgenossen lag die Antwort auf der Hand: Man war sich einig, daß die kritische Philosophie Kants und politische Ereignisse, insbesondere die Französische Revolution, für den erneuten Aufstieg des Naturrechts in Deutschland ausschlaggebend gewesen seien. Das erscheint auf den ersten Blick als plausibel. In der Tat beriefen sich fast alle Naturrechtsautoren ab etwa 1790 auf Kant, und sie waren von seiner Philosophie, insbesondere von einzelnen Passagen in der 1785 erschienenen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der 1788 publizierten Kritik der praktischen Vernunft beeinflußt.28 Zudem beschäftigte sich die deutsche Öffentlichkeit bekanntlich intensiv mit den Ereignissen der Französischen Revolution. Doch die neuerliche Blütezeit des Naturrechts hat eine Vorgeschichte. Bereits in den 1780er Jahren geriet das Naturrecht nämlich in eine Krise. Gottlieb Hufeland beschrieb dies mit einem anschaulichen Bild: Auf den Trümmern des scholastischen Naturrechts habe man prächtige Paläste errichtet, aber nicht auf ausreichende Fundamente geachtet; infolgedessen sei das ganze System des Naturrechts baufällig geworden.29 Hufeland stellte dementsprechend die herkömmlichen Naturrechtsvorstellungen in Frage und bemühte sich um die Neubegründung des Faches. Hufeland war kein Einzelfall; um 1785 häuften sich derartige Schriften.30 Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen standen vor allem drei Themen: erstens die Abgrenzung von Naturrecht und Moral durch ein geeignetes Prinzip, zweitens die Konzeption eines der grundlegenden Denkmodelle des Naturrechts, nämlich des Naturzustands, und drittens das Verhältnis von Staat und Individuum. Eine der Grundfragen des Naturrechts der Neuzeit war die genaue Abgrenzung von Naturrecht und Moral. Die Frage stand in Verbindung mit der Festsetzung des obersten Grundsatzes des Naturrechts, und ihre Beantwortung war durchaus nicht folgenlos: Sie entschied über wesentliche Inhalte des Naturrechts. Um 1780 verbannte man zwar sogenannte Gewissenspflichten aus dem ___________ 28
s. oben, Anm. 4. Johann Gottlieb Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts nebst einem Anhange, Leipzig 1785, S. 1 ff. 30 Dazu und zum Folgenden D. Klippel, Ideen zur Revision des Naturrechts (wie Anm. 6). 29
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Naturrecht, das auf die Behandlung sogenannter Zwangsrechte und Zwangspflichten beschränkt wurde, vermochte aber noch kein die Zeitgenossen überzeugendes Kriterium zur genaueren Abgrenzung zu entwickeln. Jedenfalls lehnte man nunmehr Naturrechtssysteme, die weiterhin der älteren systematischen Einteilung in Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst und gegen andere folgten, vehement als veraltet ab. So meinte ein Rezensent des 1789 erschienenen ersten Bandes der Grundsätze des Naturrechts des Juraprofessors Ludwig Gottfried Madihn, der Autor habe das Werk wohl geschrieben, um dem Mangel an älteren, überholten Lehrbüchern abzuhelfen: „Denn, mögen gleich vor dreyßig oder vierzig Jahren Lehrbücher über das Naturrecht, die diesem an Erbärmlichkeit gleich kommen, existirt haben, so ist doch sicherlich keines mehr in hinlänglicher Anzahl im Bücherhandel; und Hr. Madihn [...] war in die traurige Notwendigkeit versetzt, [...] ein ähnliches Gerippe selbst hervorzubringen.“31 Der Naturzustand war ebenfalls ein Denkmodell, das im herkömmlichen Naturrecht eine politische Schlüsselrolle einnahm. Denn bevor man als Naturrechtsautor Aussagen über den bürgerlichen Zustand, den Staat, treffen konnte, waren – so die allgemeine Auffassung – die Rechte und Pflichten des Menschen in diesem ‚natürlichen‘, als vorstaatlich gedachten Zustand der Menschen zu analysieren. Meist wurde dieser negativ, zumindest als Zustand der Unsicherheit der vorhandenen Rechte, dargestellt; so ließ sich die Notwendigkeit der Gründung des Staates leicht begründen. Um 1780 stellte das Naturrecht die herkömmlichen Lehren über den Naturzustand in Frage. Man meinte, sie seien für den Mißerfolg bei der Lösung grundlegender Probleme mitverantwortlich. Es setzte sich immer mehr die Überzeugung durch, es handele sich um eine bloße Fiktion.32 Wies man aber dem Stand der Natur im Naturrecht nur noch eine Nebenrolle zu oder verbannte ihn ganz aus dem Naturrecht, so hatte dies u. a. zur Folge, daß derjenige Teil des Naturrechts ins Rampenlicht trat, der sich mit den Pflichten und Rechten der Menschen im Staat befaßte: eben das Allgemeine Staatsrecht. Die genaue Bestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Untertan bzw. Bürger, u. a. durch zweckmäßige Gesetze, wurde zunehmend als eine der Hauptaufgaben des Naturrechts verstanden.
___________ 31
Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 1790, Bd. 1, Sp. 529–534, 529. Z. B. [Michael Hißmann], Untersuchungen über den Stand der Natur, Berlin 1780, S. 34; J.G. Hufeland, Versuch über den Grundsatz des Naturrechts (wie Anm. 29), S. 190 ff. – In der Folgezeit setzte sich im Naturrecht die Auffassung durch, es gebe keinen Stand der Natur im älteren Sinne; dazu D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 3), S. 115. 32
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IV. Die Revision des Naturrechts seit ca. 1790 In die Situation der Krise und des Umbruchs in den 1780er Jahren fiel die Entdeckung der kritischen Philosophie Kants für das Naturrecht. Ab ca. 1790 entstanden zahlreiche Naturrechtsschriften, die Kants Gedanken für das Naturrecht fruchtbar machen wollten. Da man sich insofern aber vorerst nur auf wenige und zudem relativ knappe Aussagen Kants stützen konnte, war man gezwungen, daraus weitreichende Folgerungen zu ziehen, um überhaupt zu mehr oder weniger vollständigen Naturrechtssystemen gelangen zu können. Auf dieser Grundlage und zusätzlich unter dem Einfluß französischer und englischer Autoren – u. a. John Locke – versuchte man nicht ohne Erfolg, die in den 1780er Jahren aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Das soll an den drei schon bekannten Beispielen gezeigt werden, also den Grundlagen des Naturrechts, dem Stand der Natur und dem Verhältnis zwischen Individuum und Staat. 1. Die naturrechtlichen Schriften ab ca. 1790 führten die Bemühungen um die Grundlagen des Faches intensiv fort. Man glaubte, nunmehr die Möglichkeit zu haben, ein für allemal das Prinzip des Naturrechts und damit des Rechts überhaupt feststellen zu können. Der Rezensent der Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften aus dem Jahre 1790 schrieb 1792 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung, es sei „der kritischen Philosophie gelungen [...], das so lange gesuchte wahre Prinzip aller Pflichten und Rechte in seiner vollkommenen Reinigkeit und Würde aufzustellen“.33 Der Autor bezog sich, wie viele andere, auf den in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten formulierten „praktischen Imperativ“: „Handle so, daß Du die Menschheit, sowohl in Deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck niemals bloß als Mittel brauchest.“34 Die Charakteristika der menschlichen Person und deren Selbstzweckhaftigkeit rückten als Grundlagen eines Prinzips des Naturrechts in den Mittelpunkt der Überlegungen. Doch der Optimismus war unbegründet. Der Streit über die Grundlagen des Naturrechts ging unvermindert weiter. Er betraf weiterhin eine schon bekannte Kontroverse, nämlich die Frage der Abgrenzung von Naturrecht und Moral. Die Diskussion darüber wurde besonders intensiv und erbittert geführt. So etwa rügten einige Rezensenten der ersten Auflage des Naturrechtslehrbuchs von Hufeland, daß dieser die Beförderung der Vollkommenheit bzw. Glückseligkeit des Menschen bzw. die Verhinderung von deren Beeinträchtigung als Naturrechts___________ 33
Allgemeine Literatur-Zeitung, 1792, Bd. 3, Sp. 513–523, 513. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders., Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. 4, S. 61. 34
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maxime aufgestellt hatte.35 Dementsprechend wurde gelobt, daß Hufeland in der 1795 erschienenen zweiten Auflage seines Naturrechtslehrbuchs von dem Grundsatz der Vollkommenheit abgerückt war.36 Auch die Rezensenten anderer Naturrechtslehrbücher monierten immer wieder, daß Moral und Naturrecht nicht genügend unterschieden und moralische Vorschriften zum Gegenstand des Naturrechts gemacht würden.37 Die Frage liegt nahe, warum so erbittert und ausführlich um derartige Grundsatzfragen gestritten wurde. Die Suche nach der rechtsphilosophischen Wahrheit mag eine Rolle gespielt haben. Aber der Streit hatte einen politischen Hintergrund. So etwa betraf die Frage der Abgrenzung von Recht und Moral auch den zulässigen Inhalt und damit den Zweck aller staatlichen Gesetze und damit vor allem den Zweck des Staates. Es ging also um den typischen Staatszweck des aufgeklärten Absolutismus, die Glückseligkeit. Bestand nämlich der Zweck des Staates, wie viele Autoren meinten, in der Herstellung der „Glückseligkeit sowol des ganzen Staats als seiner Theile“,38 so folgte daraus eine geradezu uferlos erscheinende Fülle von Aufgaben des Staates, für die insbesondere der Begriff der ‚guten Policey‘ charakteristisch war. Sie erstreckte sich prinzipiell auf alle Lebensbereiche des einzelnen, bis hin zur Moral und anderen Gebieten, die wir heute der Privatsphäre des Individuums zurechnen würden.39 ___________ 35 So [Abraham Gotthelf Kästner], Rez. zu Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, Jena 1790, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 117 (1794), S. 312–323, 319 ff.; Allgemeine Literatur-Zeitung, 1792, Bd. 3, Sp. 513–523, 516. 36 Allgemeine juristische Bibliothek, 1796, Bd. 1, S. 1–13, 2 f.; Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes 1 (1795), S. 922–931, 923; [Dietrich Tiedemann], in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Anhang zu Bd. 1–28, 1797, 2. Abt., S. 178– 181; Staatswissenschaftliche und juristische Literatur, 1795, Bd. 2, Sp. 77–92, 79. 37 So z. B. zwei Rezensionen zu Johann Heinrich Abicht, Neues System eines aus der Menschheit entwikelten Naturrechts, Bayreuth 1792, in: Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 1792, Bd. 2, Sp. 1023–1033, 1025; Tübingische gelehrte Anzeigen, 1793, S. 395–399, 396 f.; Paul Johann Anselm Feuerbach, Rez. zu Johann Christoph Hoffbauer, Naturrecht aus dem Begriffe des Rechtes entwickelt, Halle 1793, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1798, Bd. 4, Sp. 289–301, 289 ff.; Rez. zu Karl Heinrich Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Prinzipien, 2 Bde., Leipzig 1794 u. 1795, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Anhang zu Bd. 1–28, 1797, 2. Abt., S. 181– 187, 184 ff.; Rez. zu Karl Theodor Gutjahr, Entwurf des Naturrechts, Leipzig 1799, in: Juristische Literatur-Zeitung 1 (1799/1800), S. 89–94 u. 97–104, 91. 38 So z.B. Johann Friedrich von Pfeiffer, Grundriß der wahren und falschen Staatskunst, Bd. 1, Berlin 1778, S. 51. – Grundlegend dazu (mit zahlreichen weiteren Nachweisen) Klaus Wohlrab, Armut und Staatszweck. Die politische Theorie der Armut im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, Goldbach 1997, S. 14 ff. 39 Dazu Diethelm Klippel, Der liberale Interventionsstaat. Staatszweck und Staatstätigkeit in der deutschen politischen Theorie des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahr-
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Diesem Staatszweck und den damit verbundenen Eingriffsmöglichkeiten des Staats sagte das Naturrecht der Zeit den Kampf an. So z.B. gab der Königsberger Jurist Theodor Anton Heinrich von Schmalz 1794 in seinem Natürlichen Staatsrecht polemisch zu bedenken, daß die Staaten zum Erreichen des Staatszwecks der Glückseligkeit höchst unzweckmäßig organisiert seien. Es müßten nämlich Glückseligkeitsbehörden eingerichtet werden, um die Wünsche eines jeden einzelnen zu erfragen: „Für eine Gesellschaft zu Glückseligkeit, wäre doch nichts zweckmäßiger, als die Errichtung eigener Prosperitäts Collegien und Bureau’s, welche jeden einzelnen vernehmen könnten, worin er seine Glückseligkeit setze, und die dann den Weibern Putz und Männer, dem Jüngling seine Geliebte, dem Mann Ehre, und dem Greis Gold verschafften.“40 2. Auch die herkömmliche Theorie eines Naturzustandes wurde nun meist abgelehnt. So meinte der schon erwähnte Gießener Philosoph Schaumann, es sei am „rathsamsten [...], diesen Begriff ganz aus unsrer Wissenschaft zu verbannen“,41 denn, so der Erlanger Philosoph Johann Heinrich Abicht 1795: „Das Naturrecht [...] von dem Naturzustande eines Naturmenschen [...] ableiten zu wollen, ist ein zweckloses und gefährliches Unternehmen.“42 In dieser Gestalt, so Schaumann, „beschönigte und begründete das Naturrecht [...] den Despotismus“.43 Folglich war für Schaumann und zahlreiche andere Autoren „der wahre Naturstand, d.h. der der Natur des Menschen [...] angemeßne Stand, kein andrer als der Staat“.44 Dahinter verbarg sich die Absicht, im Naturrecht die Rechte und Pflichten des Menschen gerade im Staat festzusetzen und damit konkrete Menschenrechte zu entwickeln, die im Staat eine größere Wirkung entfalten sollten als die lediglich für den Naturzustand entwickelten Rechte im älteren Naturrecht. Gründe man das Naturrecht nicht auf den herkömmlichen, als vorstaatlich gedachten Naturzustand, sondern auf das Wesen des Menschen, seine ___________ hunderts, in: Recht und Rechtswissenschaft im mitteldeutschen Raum. Symposion für Rolf Lieberwirth, hrsg. v. Heiner Lück, Köln usw. 1998, S. 77–103, 82 ff. 40 Theodor Anton Heinrich von Schmalz, Das natürliche Staatsrecht, Königsberg 1794, S. 38; ähnlich Johann Christian Gottlieb Schaumann, Kritische Abhandlungen zur philosophischen Rechtslehre, Halle 1795, S. 223. 41 Johann Christian Gottlieb Schaumann, Wissenschaftliches Naturrecht, Halle 1792, S. 148. 42 Johann Heinrich Abicht, Kurze Darstellung des Natur- und Völkerrechts, Bayreuth 1795, S. 52. 43 Johann Christian Gottlieb Schaumann, Versuch eines neuen Systems des natürlichen Rechts, Halle 1796, S. 168 f. 44 J.C.G. Schaumann, Wissenschaftliches Naturrecht (wie Anm. 41), S. 149; ähnlich Karl Ludwig Pörschke, Vorbereitungen zu einem populären Naturrechte, Königsberg 1795, S. 17; Heinrich Stephani, Grundlinien der Rechtswissenschaft oder des sogenannten Naturrechts, Bd. 2, Frankfurt / Leipzig 1797, S. 5.
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‚Menschheit‘ als Naturstand, so Abicht 1792, „erlangt man, was man will und noch mehr, nämlich natürliche und erwiesene Rechte, die keiner Veränderung und keinem Widerspruche unterworfen sind und welche sowohl eine gültige Norm für alle Gerichtshöfe seyn können und seyn müssen als auch ein sichrer Prüfstein für alle vorgeblichen Rechte und Ansprüche“.45 3. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich bereits, daß die meisten Naturrechtsautoren am Ende des 18. Jahrhunderts politische Auffassungen bekämpften, die wir heute mit einem wie auch immer aufgeklärten Absolutismus in Verbindung bringen. Zu diesem Zweck entwarfen sie, wenn auch innerhalb einer gewissen Bandbreite der Meinungen, ein bestimmtes Gegenmodell der Kompetenzverteilung zwischen Individuum und Staat, das wir, bei allen Unterschieden im einzelnen, als liberale Staatslehre bezeichnen können. Das Modell beruhte auf der Vorstellung, jeder Mensch habe von Natur aus bestimmte Menschenrechte. Als Ausgangspunkt dieser Konzeption dienten Kants Hinweise auf die Heiligkeit der Person und deren Selbstzweck. Daraus wurden zunächst einzelne Urrechte entwickelt, u.a. das ‚Urrecht der Persönlichkeit‘ oder ‚Selbständigkeit‘, ‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘, aber auch ganze Kataloge von weiteren Freiheitsrechten, die daraus abgeleitet wurden.46 Das Naturrecht der Zeit verstand sich daher nicht zu Unrecht als ‚Wissenschaft der Rechte des Menschen‘.47 Natürlich beschränkte sich das liberale Staatsmodell nicht auf die Aufzählung von Menschen- und Bürgerrechten. Vielmehr füllte man fast alle überkommenen naturrechtlichen Denkmodelle mit neuen politischen Inhalten. Besonders deutlich wird das an der Neuformulierung des Staatszwecks. Glückseligkeit kam, wie gezeigt, als Staatszweck nicht mehr in Betracht. Statt dessen wurden Sicherung und Garantie der Freiheit, der Menschenrechte und des Eigentums als Zweck des Staates angesehen.48
___________ 45 So z.B. Johann Heinrich Abicht, Neues System eines aus der Menschheit entwickelten Naturrechts, Bayreuth 1792, in: Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung 2 (1792), Sp. 188 f. 46 Dazu und zum Folgenden D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 3), S. 121 ff., 142 ff.; ders., Theorie der Freiheitsrechte (wie Anm. 4), S. 368 ff. 47 Dazu D. Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 3), S. 184 f. (mit zahlreichen Nachweisen). 48 Dazu eingehend K. Wohlrab, Armut und Staatszweck (wie Anm. 38), S. 72 ff., 96 ff., 109, 146 ff.
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V. Die Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit Kant Während der naturrechtliche Diskurs über die oben erwähnten und über andere Fragen in vollem Gang war, erschienen 1797 Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Während Kants Schrift zum ewigen Frieden 1795 vorwiegend Zustimmung gefunden hatte, obwohl die Aussicht auf Verwirklichung des politischen Ziels, nämlich eines ewigen Friedens, bezweifelt wurde, waren die Meinungen zu Kants Rechtslehre geteilt. Einerseits wurde das Buch als „Meisterwerk“ bezeichnet, das alle bisherigen Naturrechtssysteme übertreffe.49 Andererseits glaubte man zahlreiche Widersprüche zu entdecken50 und kritisierte durchweg die Ergebnisse von einzelnen von Kant behandelten Streitfragen. Kants Argumentation wurde mit den naturrechtlichen Auffassungen der Zeit konfrontiert, und man beklagte sich, wie die Tübingischen gelehrten Anzeigen schrieben, „wohl nicht ohne Grund über einen oft unnüzen Aufwand von Tiefsinn, über falschen blos schimmernden Wiz, über Dunkelheit und Schwerfälligkeit in der Verknüpfung der Gedanken“ sowie über „Sonderheiten“ und „falsche Spizfindigkeiten“.51 Auf besonders heftige Ablehnung stießen die Vorstellungen Kants zum Strafrecht und zum Staatsrecht. Heinrich Stephani schrieb in seinen Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre 1797 zu Kants Strafzwecklehre, die nach seiner Ansicht auf Wiedervergeltung abstellte: „Bei dieser Stelle war es, wo wir herzlich erschrocken sind. [...] Der Irrthum eines viel geltenden Mannes [...] wird viele hundert Menschen zum Tode befördern.“52 Stephani gab damit die Meinung fast aller Zeitgenossen wieder, die, soweit sie An-
___________ 49
Allgemeine Literatur-Zeitung, 1797, Bd. 2, Sp. 529–544, 529; Jacob Sigismund Beck, Commentar über Kants Metaphysik der Sitten. Erster Theil, welcher die metaphysischen Principien des Naturrechts enthält, Halle 1798, S. IV. 50 Neueste critische Nachrichten, 1797, S. 137–141 u. 147–150, 140; ähnlich [Friedrich Bouterwek], in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 1797, S. 265–276, 274; Heinrich Stephani, Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, Erlangen 1797, S. 76 ff.; [Johann Christoph Schwab], in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 1804, Bd. 4, S. 297–308: Kants Rechtslehre „fehlt [...] die strenge systematische Form einer Wissenschaft: und sie enthält vielleicht noch mehr unrichtige, unerwiesene, inconsequente, und ungereimte Behauptungen“ als die Tugendlehre. 51 So über Kant in der Rez. zu Daniel Christoph Reidenitz, Naturrecht, Königsberg 1803, in: Tübingische gelehrte Anzeigen, 1803, S. 581–584, 581 f. 52 Heinrich Stephani, Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (wie Anm. 50), S. 116.
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hänger Kants waren, meinten, Kants Auffassungen zum Strafrecht seien erheblich zu modifizieren.53 Ihr Unbehagen an der Staatslehre Kants drückten viele Rezensenten dadurch aus, daß sie darin „mehr eine Sammlung einzelner Bemerkungen, als ein wissenschaftliches System“ sahen, so die Oberdeutsche allgemeine LiteraturZeitung.54 Auch hier wurden die Auffassungen Kants im einzelnen heftig kritisiert, so insbesondere seine Ausführungen zu den Rechten und Pflichten des Herrschers und der Untertanen und die Ablehnung eines Widerstandsrechts.55 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließ die Kritik an Kant nicht etwa nach, sondern sie wurde noch schärfer. Eine Sammelrezension u.a. zum philosophischen Strafrecht in der Neuen Leipziger Literaturzeitung polemisierte aufs heftigste gegen Kant und dessen Rechtsphilosophie: Darin zeige er Scharfsinn bei den Grundprinzipien, aber bei deren Anwendung „beklagenswürdige Proben der Altersschwäche, Unkunde des status quaestionis, ja eine gedrängte Zahl von Willkührlichkeiten und klaren Inkonsequenzen“. Insbesondere in seinen strafrechtlichen Grundsätzen zeige sich „Verwirrung des Verstandes“ und „Altersschwäche“; es werde „die Wissenschaft unter uns wieder um 100 Jahre zurückgebracht“.56 Ähnlich nannte eine Bestandsaufnahme der philosophischen Rechtslehre von 1808, ebenfalls in der Neuen Leipziger Literatur-Zeitung erschienen, Kants Rechtslehre „das monströseste seiner Werke“.57 Kant sei der damalige Stand der ___________ 53 Allgemeine juristische Bibliothek, 1797, Bd. 3, 145–168, 165 f.; [Karl Ludwig Wilhelm von Grolman], in: Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde, 1797, S. 124 ff.; Neueste critische Nachrichten, 1797, S. 150; [Friedrich Bouterwek], in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 1797, S. 276. 54 Rez. zu Gregor Leonhard Reiner, Allgemeine Rechtslehre nach Kant. Zu Vorlesungen, Landshut / Augsburg 1801, in: Oberdeutsche allgemeine Litteraturzeitung, 1801, Bd. 2, Sp. 209–216, 211; ähnlich z. B. die Rez. zu Kants Rechtslehre, in: Allgemeine juristische Bibliothek, 1797, Bd. 3, Sp. 145–168, 167. 55 Allgemeine juristische Bibliothek (wie Anm. 54), S. 167; Annalen der Philosophie und des philosophischen Geistes 3 (1797), S. 13–58, 48 ff.; [Friedrich Bouterwek], in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 1797, S. 265–276, 276; Gothaische gelehrte Zeitungen, 1797, Bd. 1, S. 420–423, 425–432 u. 437–439, 438; Rez. zur 2. Aufl., in: Allgemeine Literatur-Zeitung 3 (1799), S. 201–208, 208; vgl. Rez. zu Jacob Sigismund Beck, Commentar über Kants Metaphysik der Sitten. Erster Theil, welcher die metaphysischen Principien des Naturrechts enthält, Halle 1798, in: Tübingische gelehrte Anzeigen, 1798, S. 521–527, 526 f. 56 Julius Friedrich Heinrich Abegg, Abhandlung über die neueste Bearbeitung des Criminalrechts und der Strafgesetzgebung, in: Leipziger Literaturzeitung, 1805, S. 1–30 u. 177–198, 4 f. 57 Julius Friedrich Heinrich Abegg, Abhandlung über die neueste Bearbeitung des Criminalrechts und der Strafgesetzgebung, in: Leipziger Literaturzeitung, 1805, S. 1–30
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Diskussion in der philosophischen und positiven Rechtslehre unbekannt gewesen.58 Zwar wurden die Verdienste Kants und sein Einfluß auf den Stand der Rechtsphilosophie anerkannt; aber man solle aufhören, das als vollkommen auszugeben, was mangelhaft sei; seine Anhänger „sollen mit ihrem ewigen Commentiren und Epitomiren den freyen Fortschritt der Wissenschaften nicht aufhalten; sie sollen sich nicht mit jämmerlichem Gekrächze auf diejenigen werfen, die sich einen andern Weg durch den Wald hauen, als den die Heerstrasse darbietet“.59 Weshalb aber, so ist zu fragen, fand das Werk Kants eine derartig, vorsichtig ausgedrückt, zurückhaltende Aufnahme? Der Schlüssel für die Antwort liegt darin, daß die Grundlagenüberlegungen Kants kaum auf Widerspruch stießen, um so mehr dagegen viele Details. Dementsprechend konnte sich Theodor Schmalz in seinem Buch Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers. Ein Commentar über das reine Natur- und natürliche Staatsrecht als „Lehrling“ Kants bezeichnen und trotzdem zahlreiche Auffassungen in den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre ablehnen.60 Allenthalben wußte man, daß der neuerliche Aufschwung des deutschen Naturrechts ohne die Philosophie Kants nicht möglich gewesen wäre; dennoch wandte man sich vehement gegen zahlreiche seiner Lehren im philosophischen Staats-, Straf- und Privatrecht. Einige Reaktionen legen es nahe, an politische Gründe für die Ablehnung bestimmter Auffassungen Kants zu denken. In der Tat spielte dies eine Rolle. Die meisten Kantianer vertraten eine liberale Staatslehre; gerade im Allgemeinen Staatsrecht teilten sie einige Ansichten Kants nicht. Allerdings reicht diese Überlegung aus zwei Gründen nicht als Erklärung aus: Erstens unterschieden sich andere Ansichten Kants nicht von denjenigen der meisten Kantianer. Zweitens umfaßte die liberale Staatslehre ein breites Spektrum von politischen Überzeugungen, in das auch Kant eingeordnet werden kann.
___________ u. 177–198, 4 f.; vgl. auch Rez. zu Daniel Christoph Reidenitz, Naturrecht, Königsberg 1803, in: Tübingische gelehrte Anzeigen, 1803, S. 581–584, 581f.: Bei Kant beklage man sich „wohl nicht ohne Grund, über einen oft unnüzen Aufwand von Tiefsinn, über falschen blos schimmernden Wiz, über Dunkelheit und Schwerfälligkeit in der Verknüpfung der Gedanken“ sowie über „Sonderbarkeiten und falsche Spizfindigkeiten“. 58 Ueber den gegenwärtigen Zustand der philosophischen Rechtslehren, in: Neue Leipziger Literaturzeitung 3 (1808), S. 1937–1944, 1943. 59 Ebd. 60 Theodor Anton Heinrich von Schmalz, Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers. Ein Commentar über das reine Natur- und natürliche Staatsrecht, Königsberg 1798, S. III.
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Entscheidend dürfte sein, daß Kant in einen hochentwickelten naturrechtlichen Diskurs sozusagen hineinplatzte. Es ist nicht zu übersehen, daß bereits vor den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre das Naturrecht erfolgreich philosophisch neubegründet und etabliert worden war. Im Naturrecht hatte sich ein bestimmter Diskussionsstand, ein Kanon von Problemen und Argumenten, man könnte sagen, eine bestimmte Sprache gebildet. Kant beherrschte in seinem Buch diese Sprache nicht. Deshalb wirkten seine Auffassungen antiquiert; einzelne Rezensenten meinten – vielleicht auch nicht zu Unrecht –, er habe den im Naturrecht erreichten Meinungsstand nicht zur Kenntnis genommen.61 Zwar waren gemeinsame philosophische Grundlagen vorhanden, und darüber ließ sich – da das Spektrum der von den Kantianern vertretenen Ansichten ohnehin breit war – ohne weiteres diskutieren. Aber Kants Argumentation und Ergebnisse in heiß umstrittenen Einzelfragen des natürlichen Staats-, Strafund Privatrechts bewegten sich außerhalb des Erwarteten und Akzeptierten.
VI. Das Naturrecht in der politischen und juristischen Praxis Die bisherigen Ausführungen betrafen das Naturrecht als politische Theorie. Darüber hinaus ist nach dem Gebrauch des Naturrechts in der politischen und juristischen Praxis zu fragen. Obwohl es sich, wie bereits erwähnt, um ein noch wenig erforschtes Gebiet handelt, sind in der Forschungsliteratur einige Hinweise zu finden. So etwa wissen wir, daß die Frage, ob eine Vermutung zugunsten der natürlichen Freiheit eines Bauern bestehe, in Untertanenprozessen des 18. Jahrhunderts auftauchte: Bestand eine solche Vermutung, so hatte der Grundherr die von ihm behaupteten Rechte gegenüber dem Bauern zu beweisen, bestand sie nicht, so war umgekehrt der Bauer beweispflichtig für seine Freiheit.62 Auch in einigen Prozessen in Preußen und Sachsen um die Freiheit von Sklaven ___________ 61
So vor allem J.F.H. Abegg, Abhandlung über die neueste Bearbeitung des Criminalrechts und der Strafgesetzgebung (wie Anm. 57), S. 3 f.; ferner: Ueber den gegenwärtigen Zustand der philosophischen Rechtslehren (wie Anm. 58). 62 Dazu Diethelm Klippel, Persönliche Freiheit und Vertrag im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Gesellschaftliche Freiheit und vertragliche Bindung in Rechtsgeschichte und Philosophie, hrsg. v. Jean-François Kervégan / Heinz Mohnhaupt, Frankfurt a. M. 1999, S. 121–141, 129 f.; ders., Politische Freiheit und Freiheitsrechte (wie Anm. 3), S. 168; Winfried Schulze, Der bäuerliche Widerstand und die ‚Rechte der Menschheit‘, in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, hrsg. v. Günter Birtsch, Göttingen 1981, S. 41–56, 53 ff.; ders., Die Entwicklung des ‚teutschen Bauernrechts‘ in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 12 (1990), S. 127–163, 143 ff.; Jürgen Weitzel, Das Reichskammergericht und der Schutz von Freiheitsrechten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Die politische Funktion des Reichskammergerichts, hrsg. v. Bernhard Diestelkamp, Köln 1993, S. 157 ff., 165.
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– die von ihren Eigentümern sozusagen importiert worden waren – wurde naturrechtlich argumentiert, in einem sächsischen Fall sogar mit einer entsprechenden Passage aus Kants Rechtslehre in der Urteilsbegründung.63 Andere mögliche Konfliktzonen, in denen das Naturrecht eine juristische oder politische Rolle spielte, lassen sich leicht der Aufzählung der seiner Ansicht nach 1793 aktuellen naturrechtlichen Themen bei Wedekind und aus der bibliographisch festzustellenden Häufung entsprechender Schriften entnehmen, etwa der Aufhebung der Klöster oder der Entlassung von Staatsdienern um 1800. Zwei Beispiele seien näher erörtert. 1. Peter Wende hat 1966 in seiner Dissertation zum Thema Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik einen Konflikt dargestellt, in dem das Allgemeine – also das naturrechtliche – Staatsrecht eine wichtige Rolle spielte: den ausgedehnten publizistischen Kampf um die Herrschaftssäkularisierung 1798 bis 1802, der durch die Politik Frankreichs gegenüber dem Deutschen Reich hervorgerufen wurde.64 In der breiten Debatte erschienen rund 60 Schriften, die sich befürwortend oder ablehnend mit der Aufhebung der geistlichen Staaten beschäftigten. Die Rechtfertigung der geplanten Säkularisation erwies sich deshalb als schwierig, weil diese eindeutig gegen die Reichsverfassung verstieß. Folglich mußte man nach Argumenten suchen, die außerhalb des überkommenen Reichsrechts lagen. Man fand sie im Allgemeinen Staatsrecht. So heißt es in der 1798 erschienenen anonymen Schrift Ueber die Nothwendigkeit einer allgemeinen Secularisation: „Nach den Fortschritten unsers aufgeklärten Zeitalters bleibt sie [die Reichsverfassung] aber ein durchlöchertes Gebäude, das nicht um der Mode willen, sondern weil die menschliche Vernunft, und die Philosophie unsers Jahrhunderts sich die Maximen des finstern Mittelalters unmöglich mehr anpassen können, einer Radikal-Reform bedarf, die mit den gegenwärtigen so sehr veränderten Staatsmaximen in richtigem Verhältniss stehen muß.“65 Der Leipziger Jurist Christian Ernst Weiße meinte daher ebenfalls 1798, „daß die Vorschriften des allgemeinen Staatsrechts und die Natur der Sache die einzigen Quellen sind, aus welchen sich jene [die rechtlichen Grundsätze für die Um-
___________ 63
Dazu D. Klippel, Persönliche Freiheit (wie Anm. 62), S. 137 f. Peter Wende, Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik, Lübeck / Hamburg 1966. Die folgende Darstellung beruht im wesentlichen auf der Auswertung dieses Buches. 65 Ueber die Nothwendigkeit einer allgemeinen Säcularisation der deutschen Erzbisthümer, Bisthümer, Prälaturen und Klöster mit Hinsicht auf Deutschlands gegenwärtige Verfassung, Germanien [= Straßburg] 1798, S. 49. 64
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wandlung der geistlichen Staaten] ableiten lassen“.66 Im einzelnen verwies man vor allem auf das ius eminens, die Pflicht zur Aufopferung wohlerworbener Rechte zur Erhaltung des Ganzen. Die Gegner der drohenden Säkularisation erkannten, daß sie sich angesichts dessen nicht darauf beschränken konnten, sich auf die Reichsverfassung zu berufen. Sie versuchten, die Argumente ihrer Gegner aus dem Allgemeinen Staatsrecht selbst zu widerlegen: Ein ius eminens gebe es nicht, da es gegen die Rechte des Individuums verstoße und ein Zeichen des Despotismus sei; nur die Staatsbürger selbst könnten die vorhandene Verfassung aufheben. In ihrer Argumentation stützten sie sich insbesondere auf die Staatsvertragslehre: Die Verfassung der geistlichen Staaten beruhe auf dem Willen des souveränen Volkes, und dieses allein könne sie daher ändern. Darüber hinaus gingen sie in die Offensive, indem sie den geistlichen Staaten generell den Vorzug gegenüber den weltlichen Erbfürstentümern einräumten: Jene verkörperten die wahre Republik, da es sich um Wahlstaaten handele. Diese Argumentation freilich erwies sich als kontraproduktiv, konnten doch die Befürworter der Säkularisation ihre Gegner, biedere Würzburger und Bamberger Professoren und Beamte, als gefährliche Revolutionäre brandmarken: „derjenige, welcher [...] schreibt, oder andere schreiben läßt, daß die, ohne vorherige Einwilligung der Unterthanen, vor sich gehende Sekularisation eine Tyranney, ein Eingriff in die Menschenrechte ec. sey, der ist ein offenbarer Aufwiegler des Volkes“.67 2. Das zweite Beispiel betrifft das Verhältnis zwischen Herrscher, Landständen und Untertanengesamtheit. Naturrecht und Allgemeines Staatsrecht des 18. Jahrhunderts sahen, auch wenn die Verfasser grundsätzlich die absolutistischen Bestrebungen der deutschen Fürsten unterstützten, durchaus die Möglichkeit ständischer Partizipation vor. Alles andere wäre angesichts der Realitäten im Deutschen Reich wenig überzeugend gewesen. Allerdings gab es unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob und inwieweit der Fürst an ständische Rechte gebunden war; hier verlief eine der politischen Bruchlinien im älteren Naturrecht der deutschen Aufklärung. Das Verhältnis zwischen Landständen und Landesherrn war eine der klassischen Konfliktzonen des frühneuzeitlichen Staates. Seit dem 17. Jahrhundert spielten, neben historischen und reichsrechtlichen Argumenten, deshalb auch ___________ 66 Christian Ernst Weisse, Ueber die Sekularisation deutscher geistlicher Reichsländer in Rücksicht auf Geschichte und Staatsrecht, Leipzig 1798, S. 156. 67 Ueber die Pacification und Indemnisation, oder Plan zur Entschädigung der Reichsstände, deren Länder und Besitzungen zur Erlangung des Friedens vom Reiche zum Opfer gebracht werden, Germanien 1798, S. 10.
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dem Allgemeinen Staatsrecht entnommene Argumente eine Rolle. In den letzten Jahren hat nun Barbara Stollberg-Rilinger in mehreren Veröffentlichungen die Aufmerksamkeit auf einen bisher vernachlässigten Aspekt gelenkt: die Beziehungen zwischen Landständen und Untertanen.68 Waren, wie das Allgemeine Staatsrecht forderte, alle Untertanen im Staat gegenüber dem Herrscher prinzipiell gleich und ging Ungleichheit, u. a. durch die Gewährung von Privilegien, ausschließlich vom Herrscher aus, so mußte die Stellung der Landstände – wie überhaupt diejenige der intermediären Gewalten – zum Problem werden, d. h. deren Rechte mußten einerseits gegenüber dem Herrscher, andererseits gegenüber den Untertanen neu definiert werden. Betrachtete man ihre Rechte als iura quaesita, so ergab sich das Problem der Bestandskraft gegenüber dem Herrscher. Sah man sie dagegen als Teilhabe an der summa potestas an, so konnten sie nur vertraglich legitimiert sein, also letztlich auf dem Staatsvertrag – der ja auch stillschweigend geschlossen werden konnte – beruhen; dann repräsentierten die Stände die Gesamtheit der Untertanen. Dementsprechend heißt es bei dem Mainzer Reichspublizisten und kurfürstlichen Hof- und Regierungsrat Philipp Anton Frank 1788: „Reichsstände, Landstände in den unabhängigen sowohl als in den abhängigen teutschen Staaten sind bey näherer Zergliederung dieser staatsrechtlichen Notion als Repräsentanten des Volkes zu betrachten [...]. Was sie sind, sind sie nicht durch sich selbsten, sondern der ausdrückliche und stillschweigende Volkswille erhob sie zu dieser Volkswürde. Daraus fließt, daß ursprünglich selbst die gesammte Unterthanschaft zur Ausübung aller der Befugnisse berechtigt sey, worinnen sie durch Reichs- oder Landstände vertreten wird“.69 Freilich erwies sich die Übernahme dieser Argumentation aus dem Allgemeinen Staatsrecht als politisch brisant, da sie die Frage der Zusammensetzung der Landstände, der Repräsentation des Volkes und der Kontrolle durch das Volk aufwarf. All dies wurde, wie Barbara Stollberg-Rilinger gezeigt hat, in mehreren Verfassungskonflikten um 1800 virulent, u. a. in der bayerischen Landtagsreformbewegung in den späten 1790er Jahren. 1797 erschien, läßt man die Vorgeschichte und Einzelheiten außer Betracht, eine Flut von Streitschriften, die das Verhältnis zwischen Volk und Standschaft in den Blick nahm. Darin spielten Argumente aus dem Allgemeinen Staatsrecht eine maßgebliche Rolle: Diejenigen Autoren, denen es um die Rettung der landständischen Verfassung ging, be___________ 68 So schon Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Berlin 1999; vor allem aber ist der oben in Anm. 22 zitierte Aufsatz zu nennen. – Die folgenden Ausführungen beruhen vor allem auf diesem Aufsatz. 69 Peter Anton Frank, Etwas über die Wahlkapitulationen in den geistlichen Wahlstaaten, Frankfurt a. M. 1788, S. 75.
Das deutsche Naturrecht am Ende des 18. Jahrhunderts
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riefen sich auf die ‚stillschweigende Vollmacht‘ der Untertanen für die Stände: „Die Unterthanen sahen durch Jahrhunderte alle Landesangelegenheiten von den Ständen in ihrem Namen berathen, und widersprachen nicht; ratificirten also stillschweigend alle Handlungen ihrer Vertreter. Die Repräsentation der baierischen Stände für alle Unterthanen beruhet also auf stillschweigender Vollmacht.“70 Allerdings ließ sich dagegen argumentieren, daß eine ausdrückliche Übertragung der Vertretung notwendig sei, also nie stattgefunden habe; von daher konnte gefordert werden, „das Volk in seine usurpirten Rechte wieder einzusetzen“ und eine wahre Volksvertretung – ein Parlament – einzurichten.71 Allerdings benutzte auch die Regierung das Argument, es sei kein Übertragungsakt ersichtlich, um darzulegen, daß die Landschaftsverordnung, d.h. die bayerischen Landstände, vom Volk nicht gewählt und nicht beauftragt worden sei und dieses daher nicht repräsentiere. Die Reformgegner erkannten, daß die Landstände mit der Hilfe von Argumenten aus dem Allgemeinen Staatsrecht nicht zu verteidigen waren: Demnach zogen sie sich auf die Auffassung zurück, diese hätten mit Repräsentation des Volkes nichts zu tun, sondern seit jeher nur aus eigenen Rechten gehandelt; dafür konnten auch gute historische Argumente geltend gemacht werden. Aber dem stand die Argumentation der Regierung entgegen, die sich auf ihr dem Allgemeinen Staatsrecht entnommenes Recht berief, solche Privilegien mit guten Gründen aufheben zu können. In dem Konflikt zeigt sich eine zweifache Frontstellung: Zum einen stehen ständische, geschichtlich begründete Rechte gegen den Argumentationshaushalt des Allgemeinen Staatsrechts, und zwar sowohl gegen darin zum Ausdruck kommende Vorstellungen des Reformabsolutismus als auch gegen neue, nicht zuletzt von Frankreich beeinflußte demokratische Auffassungen. Zum anderen zeigt sich deutlich der Bruch zwischen diesen beiden historisch aufeinander folgenden Richtungen des Allgemeinen Staatsrechts, die sich allerdings am Ende des 18. Jahrhunderts zeitlich überlappten.
VII. Fazit Das deutsche Naturrecht des 18. Jahrhunderts kann mit Gewinn als politische Theorie verstanden werden. Die Geschichte des Naturrechts am Ende des 18. ___________ 70
B. Stollberg-Rilinger, Vom Volk übertragene Rechte? (wie Anm. 22), unter III. Über den Werth und die Folgen der ständischen Freyheiten in Baiern, [München] 1797, S. 31. 71
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Diethelm Klippel
Jahrhunderts läßt sich daher zu einem großen Teil aus den politischen Entwicklungen und Konflikten der Zeit erklären. In der Tat spielte das Naturrecht eine erhebliche Rolle sowohl in der theoretischen Begründung als auch in der Abwehr der Reformen des aufgeklärten Absolutismus und der Revolutionszeit, nicht zuletzt übrigens auch in der Gesetzgebung. Dennoch bleibt ein Rest von Erklärungsbedarf, warum gerade im Naturrecht so erbittert um rechtliche und politische Fragen gestritten wurde. Eine Antwort auf diese Frage verlangt, daß wir uns von der heutigen Vorstellung lösen, naturrechtliches Denken sei eine besondere, nicht von allen Juristen und Philosophen geteilte Art des rechtsphilosophischen Denkens, und das Naturrecht sei vom geltenden, positiven Recht streng zu unterscheiden. Diese Vorstellung trifft nämlich für das 18. Jahrhundert gerade nicht zu; sie wäre insofern anachronistisch: Das Naturrecht erhob den Anspruch, Rechtsquelle zu sein, nämlich als subsidiär anwendbares Recht zu gelten. Dies war zwar am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr unbestritten, wurde aber weit überwiegend anerkannt.72 Dementsprechend spielten naturrechtliche Quellen auch in der Rechtspraxis eine Rolle, etwa in Ständestreitigkeiten in den deutschen Territorien, in Untertanenprozessen und in der Spruchtätigkeit der deutschen Juristenfakultäten. Daneben galt das Naturrecht auch „als Kanon alles positiven Rechts, als Probirstein jedes positiven Staatsrechts“, wie es der Göttinger Philosoph Johann Gottlieb Buhle ausdrückte, d. h. als Maßstab für die Überprüfung der Rechtund Zweckmäßigkeit des positiven Rechts.73 Als Rechtsquelle und als mehr oder minder wirksame Meßlatte für positive Gesetze entfaltete das Naturrecht aber eine erheblich größere Wirkungskraft denn als (bloße) politische Theorie. Gerade darin lag die Brisanz der naturrechtlichen Lehren, zumal, da sie meist liberale Auffassungen enthielten. Daraus erklärt sich auch, weshalb, mit Anfängen am Ende des 18. Jahrhunderts, die Autorität des Naturrechts im 19. Jahrhundert zunehmend in Frage gestellt und sogar an die Abschaffung naturrechtlicher Lehrstühle in den juristischen Fakultäten gedacht wurde.74 Aber dies betrifft bereits eine weitere, hier nicht zu behan___________ 72
J. Schröder, ‚Naturrecht bricht positives Recht‘ (wie Anm. 25), S. 428. Johann Gottlieb Buhle, Lehrbuch des Naturrechts, Göttingen 1798, S. 211; ähnlich J.C.G. Schaumann, Wissenschaftliches Naturrecht (wie Anm. 41), S. 51 f.; Karl Heinrich Heydenreich, Grundsätze des natürlichen Staatsrechts und seiner Anwendung, nebst einem Anhange staatsrechtlicher Abhandlungen, Bd. 1, Leipzig 1795, S. 9; Karl Ludwig Pörschke, Vorbereitungen zu einem populären Naturrechte, Königsberg 1795, IV; Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Das Naturrecht als Ideal aller Rechtswissenschaften, in: Neue Beyträge zur kritischen Philosophie und insbesondere zur Geschichte der Philosophie, 1798, Bd. 1, S. 223–279. 74 So Karl Ignaz Wedekind, Kurze systematische Darstellung des allgemeinen Staatsrechtes [...] Nebst einer vorläufigen Untersuchung über die Frage: Ist der Vorwurf, der 73
Das deutsche Naturrecht am Ende des 18. Jahrhunderts
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delnde Frage, nämlich diejenige nach dem Weiterleben des Naturrechts im Vormärz.
___________ Bürger werde durch das allgemeine Staatsrecht zu Revolutionen geneigt, wirklich gegründet, oder ist nicht vielmehr die genauere Entwicklung desselben die kräftigste Stütze der bürgerlichen Ruhe und Ordnung?, Frankfurt / Leipzig 1794, S. 10.
Namensverzeichnis
Abegg, Julius Friedrich Heinrich 317, 319 Abicht, Johann Heinrich 313–315 Achella, Stefania 6f., 281 Achenwall, Gottfried 90, 100, 194, 247, 249 Adami, Francesco Raimondo 119f. Adorno, Theodor W. 135 Ahnert, Thomas 6f., 40, 46f. Ajello, Raffaele 119 Alberti, Valentin 69 Alembert, Jean Baptiste le Rond de 142 Alff, Wilhelm 142 Almici, Giovambatista 139 Alwart, Heiner 194 Amidei, Cosimo 130, 140f., 151 Aretin, Carl Otmar von 106–109, 115, 118, 122, 161, 169, 173 Argenson, René Louis de 132f. Aristoteles 45, 120f., 188, 206, 293– 295 Arndt, Hans Werner 184 Arndt, Johannes 170 Arnisaeus, Henning 232 Arnold, Gottfried 25 Asbach, Olaf 162 Ascanio, Salvatore 116 Äschylos 296 Averani, Giuseppe 106, 108–115, 126f., 129 Babeuf, François Noël 100 Bachmann, Hanns-Martin 183, 195f., 201 Bacin, Stefano 89 Baldini, Ugo 130 Barbeyrac, Jean 64, 118, 139, 185
Barsanti, Danilo 105, 109 Battaglia, Felice 72, 75f., 82f. Baum, Manfred 219 Baumann, Anette 6 Baumgarten, Alexander Gottlieb 23, 29 Bayle, Pierre 206, 211 Béaud, Olivier 163 Beaulieu-Marconnay, Karl von 173 Beauvau-Craon, Marc de (Vizekönig der Toskana) 132 Beccaria, Cesare 90, 132, 136, 138– 142, 144–147, 151–153, 155f., 174, 214, 218, 224 Beccaria, Giulia 156 Becchi, Paolo 145f., 292 Beck, Christian August von 166 Beck, Jacob Sigismund 316f. Beck, Lewis White 76, 86 Bedeschi, Giuseppe 260 Beetz, Manfred 210 Behme, Thomas 189, 233 Belaval, Yvon 207 Benjamin, Walter 21 Benkman, Hendrik 109 Benvenuti, Mario 108f., 115 Berengo, Marino 119, 135 Bergk, Johann Adam 301, 305 Berselli Ambri, Paola 120 Berta, Francesco 140 Bertelli, Sergio 135 Besold, Christoph 114 Bianco, Bruno 209 Bien, Günther 188, 206 Bierling, Friedrich Wilhelm 43 Biester, Johann-Erich 252 Birtsch, Günter 163, 178, 220, 319 Bitossi, Carlo 131
328
Namensverzeichnis
Blankenhorn, Stephanie 169 Bloch, Ernst 87 Bobbio, Norberto 69, 72–75 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 161 Bödeker, Hans Erich 161, 178, 259, 270, 273, 276, 280 Bodin, Jean 58 Böhling, Frank 184, 233 Böhmer, Johann Samuel Friedrich von 183, 196, 210 Boldt, Gottfried 183, 196, 210 Bonducci, Andrea 120 Bonvecchio, Claudio 87 Bosbach, Franz 172 Bourgeois, Bernard 98, 284f., 295 Bouterwek, Friedrich 316f. Braida, Lodovica 139 Braubach, Max 171 Braungart, Georg 77 Brockes, Barthold Hinrich 22, 25 Brunner, Otto 35, 87, 170, 252 Brutus, Lucius Iunius 119 Buchholz, Stephan 188 Buchner, Hartmut 282 Budde, Johann Franz 212 Buhle, Johann Gottlieb 308, 324 Buhr, Manfred 100 Buondelmonti, Giuseppe Maria 106, 118–126, 129 Burgdorf, Wolfgang 167f., 170, 172– 175, 181 Buridan, Johannes 208 Burke, Edmund 251, 271 Büsch, Otto 178 Bussi, Emilio 163 Bynkershoek, Cornelius van 110 Byrd, B. Sharon 40, 48, 184, 187, 209, 231 Cacciatore, Giuseppe 210 Cantillo, Giuseppe 6 Cantini, Lorenzo 123 Capra, Carlo 136, 140, 147, 156 Carl, Horst 6, 169, 178, 181 Carli, Gianrinaldo 152 Carlos III. (König von Spanien) 105, 108, 132
Carranza, Niccola 109, 127 Caspary, Gundula 170 Cattaneo, Mario A. 6, 84, 160, 223 Cerrati, Gaspare 127 Cesa, Claudio 6, 92, 285 Chemnitz, Boguslaw 177 Chiodi, Giulio M. 6, 13f., 17, 38, 87, 274, 298f. Cicero, Marcus Tullius 32, 237f. Claproth, Johann Christian 231, 238, 244–247, 250 Clarke, Samuel 206, 209 Cocceji, Heinrich von 55–58, 62–67, 238 Cocceji, Samuel von 55, 62, 66 Cochrange, Eric 119 Coing, Helmut 111 Collins, Georg Ludwig 194 Condorcet, Jean Antoine Nicolas de 248f. Conrad, Hermann 167 Contardi, Simone 130 Contini, Alessandra 132 Conze, Werner 35, 87, 170, 252 Cooper, Anthony Ashley (Third Earl of Shaftesbury) 39 Coppini, Romano Paolo 105, 116 Corr, Charles A. 184 Corsini, Bartolomeo 105 Corsini, Neri 109 Costantini, Claudio 131f. Cotta, Christoph Friedrich 167 Crescini, Angelo 232 Croce, Benedetto 281 Cumberland, Richard 238 Custodi, Pietro 141 D’Abbiero, Marcella 297f. D’Addario, Arnaldo 113 D’Addio, Mario 115 Dalberg, Karl Theodor von 159, 171– 175 Dambacher, Ilsegret 171f., 178f. Darjes, Joachim Georg 210 De Benedictis, Angela 118 De Pascale, Carla 89, 91
Namensverzeichnis De Soria, Giovanni Gualberto 105f., 119, 129–131 Decio, Filippo 112 Del Bianco, Lamberto 105 Del Negro, Piero 137 Delle Piane, Mario 92 Denzer, Horst 189 Di Castro, Paolo 112 Di Firmian, Carlo Giuseppe 156 Di Vona, Quintino 24 Diaz, Furio 106–109, 114, 119f., 132f., 136, 152 Diderot, Denis 119 Dießelhorst, Malte 231 Diestelkamp, Bernhard 319 Dietmeier, Frank 183 Dioni, Gianluca 6f., 69 Dippel, Horst 147 Dipper, Christof 6, 135, 143, 145, 153, 155 Dohm, Christian Wilhelm von 171– 173, 178–181 Döhring, Erich 56 Dölemeyer, Barbara 159, 163, 173f., 308 Donne, John 26 Dorschel, Andreas 207 Dragomanni, Neri 123 Dreitzel, Horst 39 Duck, Arthur 114 Dülmen, Richard van 217 Dunant, Henri 84 Ebbinghaus, Julius 199, 217 École, Jean 184 Ehmke, Horst 59 Ehrenstein, Christoph von 303 Eibach, Joachim 303 Engelhard, Regner 214 Engelhardt, Ulrich 197 Epikur 43f., 54, 246 Epstein, Klaus 251f., 258, 264 Erhardt, Johann Benjamin 90 Erler, Adalbert 56 Esposito, Roberto 251 Eßer, Reingard 303 Externbrink, Sven 162
329
Eyring, Jeremias Nicolaus (s. Gesner, Johann Matthias) Fabbianelli, Faustino 93 Fairclough, Henry Rushton 44 Farnese, Elisabetta 107f. Ferguson, Adam 33, 248f. Ferrone, Vincenzo 130, 137, 142 Feuerbach, Ludwig 228 Feuerbach, Paul Johann Anselm 90, 223f., 226–228, 305, 313 Fichte, Johann Gottlieb 89–101, 252, 284, 290–292, 299, 302, 305 Filangieri, Gaetano 138, 141–147, 185, 213 Fiorillo, Vanda 5f., 13f., 41, 73, 81, 83f., 87, 184, 189, 251, 266f., 278, 280, 299 Fiorot, Dino 142 Fogliani, Giovanni 116, 118 Fonnesu, Luca 87, 93 Forster, Georg 30, 178f. Francioni, Gianni 136, 142 Francovich, Carlo 119 Frank, Jutta 7 Frank, Philipp Anton 322 Frank, Reinhard 183, 206, 214f., 217 Franz I. Stephan von Lothringen (römisch-deutscher Kaiser) 120, 122f., 127f., 132 Frauendienst, Werner 199 Frensdorff, Ferdinand 100f., 236, 251 Freyh, Antje 173 Friedberg, Emil 67 Friedrich I. (römisch-deutscher Kaiser) 116 Friedrich II. (König von Preußen) 55, 67, 214 Friedrich Wilhelm I. (König von Preußen) 56, 165 Fuchs, Erich 89f. Fuhrmann, Martin 217 Gagliardo, John E. 163 Galiani, Ferdinando 152 Galli, Carlo 251 Garber, Jörn 220, 258, 260f., 268
330
Namensverzeichnis
Gargano, Antonio 6 Garve, Christian 253, 278 Gassendi, Pierre 54 Gatti, Roberto 298 Geismann, Georg 193, 199, 217, 221 Gelderen, Martin van 168 Gemmingen, Otto von 172 Genovesi, Antonio 142, 152, 154 Gentz, Friedrich von 252–254 Gerhard, Karl Immanuel 206, 209 Gerlach, Adolf 236 Gesner, Johann Matthias 236 Geyer, Bodo 41 Ghisalberti, Carlo 150 Giacomelli, Michelangelo 116f. Gianni, Francesco Maria 141, 149f. Giannone, Pietro 105 Giarrizzo, Giuseppe 136 Gibbon, Edward 284 Giesen, Dieter 309 Gisander (s. Schnabel, Johann Gottfried) Glafey, Adam Friedrich 238, 307f. Glockner, Hermann 284 Gmach, Gertlieb 199 Goerlich, Helmut 41 Goethe, Johann Wolfgang von 20, 22, 30 Goguet, Antoine Yves 248 Goldast, Melchior 169f. Gorani, Giuseppe 140f., 143, 148 Gori, Anton Francesco 109 Gottsched, Johann Christoph 23 Graf, Gerda 149, 154 Grandi, Guido 129 Graul, Eva 187 Greiffenhagen, Martin 252 Greve, Ylva 212 Gribner, Michael Heinrich 244 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 26 Grolman, Karl Ludwig Wilhelm von 223–228, 317 Gronovius, Johann Friedrich 64, 111 Groot, Johann Hermann 249 Gröschner, Rolf 223 Grotius, Hugo 6, 48f., 55, 62–64, 69f.,
73f., 105f., 111f., 114, 117f., 120– 122, 127–129, 139, 164, 183–186, 189–191, 193–195, 201, 238 Grunert, Frank 48, 77, 118, 128, 160, 183, 190, 197f., 221, 236 Guerci, Luciano 152 Gundling, Nikolaus Hieronymus 234, 236 Günther, Louis 213 Gusdorf, Georges 84 Gutjahr, Karl Theodor 313 Haakonssen, Knud 41 Hahn, Carolin 7 Haller, Albrecht von 27 Haller, Carl Ludwig von 259, 262, 265 Hamberger, Georg Christoph 148 Hammerstein, Notker 159–161, 165 Hampsher-Monk, Iain 303 Haney, Gerhard 223 Hanov, Michael Christoph 238 Hardtwig, Wolfgang 176, 182 Hartung, Gerald 70f., 76, 87, 187, 190, 202, 234 Haug-Moritz, Gabriele 169 Haym, Rudolph 287 Heckel, Martin 59, 61 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 36, 89, 92, 95, 97, 171, 207, 281– 299 Heineccius, Johann Gottlieb 32, 35, 139, 212 Heinig, Paul-Joachim 160, 164 Hellmuth, Eckhart 163, 303 Henkel, Michael 286 Henrich, Dieter 252 Herder, Johann Gottfried 20 Hering, Theodor 284 Herrlitz, Hans-Georg 249 Hersche, Peter 151 Hertzberg, Ewald Friedrich von 171 Heun, Werner 59 Heydenreich, Karl Heinrich 313, 324 Hinske, Norbert 190, 209 Hirsch, Hans 99 Hirschman, Albert O. 95 Hißmann, Michael 311
Namensverzeichnis Hobbes, Thomas 39, 41, 44, 50, 105, 120f., 186–190, 200f., 206, 211, 218, 231f., 234, 236, 239–241, 287 Hoffbauer, Johann Christoph 304, 313 Hoffmann, Johann Adolf 27 Hoffmann, Joseph Ehrenfried 184 Holbach, Paul Thiery de 207 Hölderlin, Friedrich 23, 297 Hölscher, Lucian 87 Holzhauer, Heinz 211 Hombergk zu Vach, Johann Friedrich 48f., 238f. Hommel, Karl Ferdinand 90, 211, 244, 246 Hönig, Herbert 132 Honneth, Axel 299 Höpel, Thomas 162 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 44, 48f. Horkheimer, Max 135 Hruschka, Joachim 40, 48, 184, 187, 209f., 231 Hufeland, Gottlieb 36, 90f., 249, 310– 313 Hugo, Gustav 304 Hugo, Victor 228 Humboldt, Wilhelm von 73, 261 Hume, David 287 Hüning, Dieter 6, 41, 183f., 187, 200, 209, 213, 219, 280 Hunter, Ian 118 Ilting, Karl-Heinz 91, 191 Im Hof, Ulrich 249 Imbruglia, Girolamo 139f., 142 Iselin, Isaak Jakob 33, 248f. Isnardi Parente, Margherita 87 Ivaldo, Marco 89 Jacobs, Helmut C. 143 Jamme, Christoph 175 Jesus Christus 43, 60, 64 Joerden, Jan C. 40, 48, 184, 187, 209, 231 Joseph II. (römisch-deutscher Kaiser) 143, 146, 149, 166f., 172, 175 Joy, Sumida Lynn 54
331
Jung, Frank 6, 105, 127, 129, 132 Jung-Stilling, Johann Heinrich 36 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 100f., 147, 243, 247f. Justinian, Flavius Petrus Sabbatius (römischer Kaiser) 308 Jütte, Robert 303 Kaehler, Johann Friedrich 194 Kahlo, Michael 90 Kaiser, Michael 169 Kant, Immanuel 15, 17, 29f., 76, 86f., 90f., 94f., 98, 194, 198f., 204, 207, 219, 221, 224, 231, 252 –254, 257, 259, 269f., 274–276, 280, 282, 284, 286f., 289–291, 301–303, 305, 310, 312, 315–320 Karl I. Ludwig (Kurfürst von der Pfalz) 56 Karl V. (römisch-deutscher Kaiser) 113, 115, 170, 175 Karl VI. (römisch-deutscher Kaiser) 107–109, 111, 115, 125f. Karneades von Kyrene 44, 48f., 193 Kästner, Abraham Gotthelf 313 Kaufhold, Karl Heinrich 250 Kaunitz, Wenzel Anton Graf 156 Keohane, Nannerl O. 46 Kern, Horst 249f. Kervégan, Jean-François 163, 302, 319 Kessel, Eberhard 260 Kettler, David 260 Kießling, Stefanie 7 Kimmich, Dorothee 44 Kirchgäßner, Bernhard 178 Kirchner, Werner 175 Kischkel, Thomas Cornelius 309 Klein, Ernst Ferdinand 211, 277f. Klein, Lawrence 39 Kleinschmidt, Johann 235 Klettenberg, Susanne von 25 Klippel, Diethelm 6, 66, 147, 149, 163f., 171, 181, 197, 217, 220, 236, 301–303, 305, 308–311, 313, 315, 319f. Klock, Kaspar 114 Klopstock, Friedrich Gottlieb 20
332
Namensverzeichnis
Klüber, Johann Ludwig 167 Klueting, Harm 217 Kluxen, Kurt 303 Knigge, Adolph von 37 Köhler, Dietmar 171 Körner, Alfred 150 Koselleck, Reinhart 35, 87, 170, 176, 252 Kraus, Hans-Christof 251f. Krause, Ralf 7 Kreimendahl, Lothar 190 Krylenko, Nikolai Vassilievich 228 Krysipp 87 Kufeke, Kai 146 Kunisch, Johannes 169 La Rochefoucauld, François de 46 Labrousse, Elisabeth 206 Lampadius, Jakobus 114 Landsberg, Ernst 55–57, 62 Lange, Joachim 209 Langewiesche, Dieter 168, 177 Laslett, Peter 138 Lasson, Adolf 164 Lauth, Reinhard 91, 93–95 Lehniger, René 7 Leibniz, Gottfried Wilhelm 29, 42f., 54, 57, 89, 206, 209, 234 Leitzmann, Albert 261 Léon, Xavier 100 Leopold II. (römisch-deutscher Kaiser) 129, 141, 146, 149f., 153 Lessing, Gotthold Ephraim 20 Lessing, Kurt 251, 255 Lieberwirth, Rolf 46, 69, 314 Linguet, Simon Nicolas Henri 156 Link, Christoph 6f., 55, 59–62, 65f., 70, 73, 78, 84, 197 Listl, Joseph 309 Locke, John 119, 129f., 133, 139, 287, 312 Lombroso, Cesare 84 Loos, Fritz 236 Lottes, Günther 303 Lück, Heiner 314 Ludwig XIV. (französischer König) 107
Luig, Klaus 61, 139, 144, 156, 160 Lukács, Georg 284 Luther, Martin 20 Lutterbeck, Klaus-Gert 77, 80, 183, 189, 197f., 220 Mably, Gabriel Bonnot de 156 Machiavelli, Niccolò 119f. Madihn, Ludwig Gottfried 311 Maesschalck, Marc 99 Mafrici, Mirella 108 Maggi, Francesco 117 Maihold, Harald 217 Maimon, Salomon 90 Malettke, Klaus 162 Mannheim, Karl 87, 260f. Maria Theresia (Mitregentin Kaiser Josephs II.) 122, 167 Marini, Giuliano 298 Marrara, Danilo 113, 127 Martini, Karl Anton von 149 Masson, André 120 Mazzacane, Aldo 136 Medici, Alessandro de (Herzog von Florenz) 113 Medici, Anna Maria de (Tochter Cosimos III.) 107 Medici, Cosimo I. de (Herzog der Toskana) 113f. Medici, Cosimo III. de (Großherzog der Toskana) 107–109, 126 Medici, Francesco de (Sohn Cosimos III.) 107 Medici, Gian Gastone de (Sohn Cosimos III.) 107, 109, 118, 122f. Medici, Giulio de (Papst Clemens VII.) 113 Meinecke, Friedrich 260 Meister, Johann Christian Friedrich 301 Meja, Volker 260 Menochio, Jacques 114 Merk, Walther 197 Meumann, Markus 164 Meurer, Dieter 187 Mezey, Barna 217 Mezzadra, Sandro 251
Namensverzeichnis Miccoli, Giovanni 120 Michaelis, Johann David 60, 207 Michel, Karin 219 Mikat, Paul 309 Millar, John 33, 248f. Miller, Norbert 304 Mitchell, Leslie G. 271 Mittelstraß, Jürgen 232 Mittner, Ladislao 21 Mohnhaupt, Heinz 163, 302, 319 Molesworth, William 121, 211, 232 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 46 Montagu, Edward Wortley 248 Montealegre, José Joaquin Guzman 116f. Monterosato, Marchese di 213 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de 90, 106, 110, 118–121, 139, 142, 144, 146, 155, 168, 218, 224f., 284, 296 Moraw, Peter 160f., 164 Morelli Timpanaro, Maria Augusta 120 Moser, Johann Jakob 29, 56, 61, 161– 165, 167, 170 Möser, Justus 176, 279 Moser, Karl Friedrich von 168 Muhlack, Ulrich 159 Müller, Johannes von 171–177, 179 Müller, Klaus 178 Müller-Luckner, Elisabeth 308 Mulsow, Martin 39 Muralt, Beat Ludwig 20 Muratori, Ludovico Antonio 139, 157 Müßig, Ulrike 302 Nansen, Fridtjof 84 Napoléon Bonaparte 146, 157 Natale, Tommaso 213 Natali, Giulio 119 Naujoks, Eberhard 178 Nefetti, Francesco 118 Negroni, Giovanni Battista 131 Neri, Pompeo 106, 119, 126–129 Neri Badia, Giovanni Bonaventura 109, 115, 126f.
333
Nettelbladt, Daniel 176, 309 Neuburg, Johann Wilhelm von 107 Neugebauer-Wölk, Monika 178 Neuhaus, Helmut 161 Newton, Isaak 130 Niccolini, Antonio 110, 118f., 123 Nicolai, Friedrich 305 Nieri, Rolando 105, 116 Nipperdey, Thomas 143 Nohl, Hermann 282 Noodt, Gérard 110 Oberer, Hariolf 199, 217 Obert, Marcus 247 Oestreich, Gerhard 217 Oldenburg, Heinrich von 55f. Olivecrona, Karl 73 Olivieri, Luigi 232 Palladini, Fiammetta 234 Pape, Matthias 171, 175 Papuli, Giovanni 232 Pattaro, Enrico 73 Paul, Jean 304 Pauli, Pasquale 148f. Paulus (Apostel) 50, 237 Pausch, Dennis 7 Pelli Bencivenni, Giuseppe 127 Pernau, Jennifer 7 Petersen, Thomas 294 Pfeiffer, Johann Friedrich von 313 Piaia, Gregorio 232 Piccolomini, Aeneas Silvius 232 Picquart, Georges 84 Pii, Eluggero 154 Pilati, Carlantonio 140, 151 Pius V. (Papst) 114 Pocock, James G.A. 138 Pöggeler, Otto 23, 175, 282 Pölitz, Heinrich Ludwig 324 Ponzellini, Ornella 130 Pörschke, Karl Ludwig 314, 324 Postigliola, Alberto 135 Predaval Magrini, Maria Vittoria 130 Press, Volker 161, 169f., 175, 178 Prina, Giuseppe 157 Pufendorf, Samuel von 6, 14, 32, 35,
334
Namensverzeichnis
40–44, 49, 52, 54, 56, 60, 69f., 73– 75, 81, 83, 105, 117f., 129, 139f., 164, 177, 184–190, 194f., 197, 201– 203, 210, 212, 217f., 233–235, 238, 240f., 278, 280, 302 Pütter, Johann Stephan 56, 61, 162, 176f. Quaglioni, Diego 139 Quazza, Guido 135 Quesnay, François 255 Ranke, Leopold von 169 Rehberg, August Wilhelm 251–280 Reidenitz, Daniel Christoph 316, 318 Reinalter, Helmut 217 Reiner, Gregor Leonhard 317 Reinhold, Karl Leonhard 90, 92, 252 Reinkingk, Dietrich 114 Renaut, Alain 90 Riccobono, Francesco 6 Richecourt, Emanuelle de 132 Ricuperati, Giuseppe 135 Riedel, Andreas von 150 Riedel, Manfred 35, 191, 199, 289 Riley, Philip 42f. Rinuccini, Carlo 107, 115, 118 Rippel, Philipp 248 Rob, Klaus 173 Roche, Daniel 137 Röd, Wolfgang 234 Rodolico, Niccolò 132 Rogge, Jörg 164 Rohbeck, Johannes 249 Romagnoli, Sergio 152 Rosa, Hartmut 303 Rosa, Mario 120, 125, 128, 132 Rosenkranz, Karl 284 Roth, Klaus 293, 296 Rotondò, Antonio 130f., 141 Rotta, Salvatore 127 Rousseau, Jean-Jacques 90, 98, 139, 148, 156, 218, 241, 248, 255, 287– 289 Rüdiger, Johann Christian Christoph 304 Rudolph, Oliver-Pierre 213
Ruffo, Fabrizio Dionigi 157 Runciman, Walter Garrison 138 Rüping, Hinrich 73, 213, 236, 244 Rürup, Reinhard 161 Saage, Richard 249 Sachse, Wieland 250 Saitta, Armando 150 Saunders, David 118 Scattola, Merio 6, 48, 79, 231f., 241, 244f., 249 Schärtl, Heinz 212 Schaumann, Johann Christian Gottlieb 305, 314, 324 Scheidemantel, Heinrich Gottfried 170, 243, 248, 307 Schelling, Friedrich Wilhelm 23, 282 Scheuner, Ulrich 59 Schicker, Rudolf 232 Schieder, Theodor 122 Schiera, Pierangelo 147 Schiller, Friedrich von 19f., 23, 26, 92, 252 Schillinger, Jean 163 Schindling, Anton 160 Schlaich, Klaus 59, 61 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 100 Schlettwein, Johann August 33, 171 Schlözer, August Ludwig 36, 241, 247–250 Schlüter, Gisela 143 Schmalz, Theodor Anton Heinrich von 90, 249, 314, 318 Schmauß, Johann Jakob 40, 48–54, 231, 235–247, 250 Schmidhäuser, Eberhard 194 Schmidt, Frank-Steffen 307 Schmidt, Georg 168, 173f., 177 Schmidt, Helmut 267 Schmidt, Manfred G. 252 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 184, 202 Schmitt, Lorenz 31 Schmoeckel, Mathias 218 Schmucker, Josef 204 Schnabel, Johann Gottfried 25f.
Namensverzeichnis Schnädelbach, Herbert 281, 284, 286 Schneewind, Jerome B. 189 Schneider, Hans-Peter 57 Schneiders, Werner 45–47, 70–73, 76f., 82, 197, 199, 256, 261, 271– 273 Scholz, Gertrud 199 Schömbs, Erwin 61, 164f., 167 Schorn-Schütte, Luise 303 Schottky, Richard 90 Schreiber, Hans-Ludwig 73, 87 Schrenck-Notzing, Caspar von 251 Schrimm-Heins, Andrea 233 Schröder, Jan 210, 309, 324 Schröder, Kurt 209 Schubert, Friedrich Hermann 161 Schulz, Eberhard Günter 252–254 Schulze, Winfried 319 Schumpeter, Joseph A. 152 Schwab, Dieter 309 Schwab, Johann Christoph 316 Schwaiger, Clemens 190 Scudéry, Madeleine de 46 Seckendorff, Veit Ludwig von 43 Seelmann, Kurt 145, 213 Selle, Götz von 236 Sellert, Wolfgang 236 Senn, Marcel 48, 50, 236 Siebenkaes, Johann Christian 145, 304 Simson, Gerard 84 Smith, Adam 33, 152 Snigula, Christopher 168 Sokrates 43 Solari, Gioele 70 Sonnenfels, Joseph von 147 Sosoe, Lukas K. 251f. Spagnesi, Enrico 109–111, 116 Spinoza, Benedictus de 211, 293 Springborg, Patricia 41 Stark, Werner 194 Stefano, Francesco 119 Stehr, Nico 260 Steiger, Heinhard 164, 176 Stein, Lorenz von 38 Steinbrügge, Lieselotte 249 Stephani, Heinrich 314, 316 Stewart, Michael Alexander 41
335
Stievermann, Dieter 169 Stintzing, Robert 55f. Stipperger, Emanuel 195, 197, 219f. Stoffella, Stefania 139 Stollberg-Rilinger, Barbara 308, 322f. Stolle, Gottlieb 76 Stolleis, Michael 56f., 159f., 166, 197, 220, 253, 305 Stolzenberg, Jürgen 213 Strätz, Hans-Wolfgang 309 Straub, Bettina 213 Tacitus, Publius Cornelius 24 Tanucci, Bernardo 105f., 110, 115– 118, 129, 132 Tarantino, Antonio 87 Tarello, Giovanni 128, 146 Targioni Tozzeti, Giovanni 119 Taylor, Charles 289 Tettamanti, Alberto 252 Thoeben, Wolfgang 7 Thomann, Marcel 89, 184, 220 Thomas, Andreas 219 Thomas von Aquin 188 Thomasius, Christian 6, 27, 29, 40, 43–48, 50, 52, 54, 59, 61, 66, 69– 87, 105, 147, 160, 165f., 176, 186, 189, 191, 197–199, 201, 203, 219f., 234, 236, 238, 244, 302, 307 Tieck, Ludwig 25 Tiedemann, Dietrich 313 Tießler-Marenda, Elke 184 Tocqueville, Charles Alexis Henri Clérel de 255 Tomasoni, Francesco 84 Torcellan, Gianfranco 136 Tuck, Richard 50, 200 Turgot, Anne Robert Jacques 149, 248f. Turpin, François Henri 248f. Uhle-Wettler, Franz 258, 264f., 280 Valjavec, Fritz 258 Vasco, Francesco Dalmazzo 140f., 143, 148 Vattel, Emer de 176
336
Namensverzeichnis
Venturi, Franco 130, 132f., 135–137, 139f., 145, 148, 151, 156 Verga, Marcello 119f., 123, 127, 132, 135 Verri, Alessandro 140f. Verri, Pietro 136, 140f., 143, 145, 147, 152, 155f. Victor, Friederike 7 Vierhaus, Rudolf 175, 252 Vigilantius, Johann Friedrich 194 Villani, Antonio 83, 142 Villani, Pasquale 136 Vogel, Ursula 253f., 260, 262, 268, 270, 277 Vollhardt, Friedrich 5f., 13, 44, 77, 84, 197, 299 Voltaire (François Marie Arouet) 139, 142, 218 Vormbaum, Thomas 223 Walker, Mack 163 Warrender, Howard 187 Weber, Immanuel 35, 234 Weber, Marianne 100 Weber, Max 27, 100 Wedekind, Karl Ignaz 306, 320, 324 Weigel, Helmut 169 Weischedel, Wilhelm 274, 312 Weiss, Iohannes Carolus 238 Weiße, Christian Ernst 320f. Weisser-Lohmann, Elisabeth 171 Weissmann, Karlheinz 252 Weitzel, Jürgen 165, 319
Welzel, Hans 14, 73, 189, 278, 283 Wende, Peter 320 Wentzke, Paul 169 Wieland, Christoph Martin 20, 181 Wilhelm, Uwe 220 Willenberg, Samuel Friedrich 217 Willenbücher, Ferdinand 214 Willoweit, Dietmar 302 Winiger, Bénédict 193 Wohlrab, Klaus 313, 315 Wolf, Friedrich Otto 231 Wolff, Christian 17f., 32f., 77, 80, 83, 138, 144, 147, 164, 176, 183–221, 234, 238, 243, 281, 302, 307 Wolff, Ernst A. 90 Wolff, Gerhard 187 Wolters, Gereon 232 Wrede, Martin 162 Wüller, Heike 171f., 178f. Würtenberger, Thomas 159, 168f., 178 Zabarella, Jacobo 232 Zaczyk, Rainer 90 Zaghi, Carlo 150 Zedinger, Renate 122 Zenon von Kition 86 Zieger, Gottfried 236 Zimmermann, Joachim 149 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 25 Zöller, Günter 89 Zorn, Wolfgang 169, 175 Zunkel, Friedrich 279f.