Naturrecht und allgemeine Politik: Vorlesung im Sommersemester 1834 9783787341269, 9783787341252

Es ist weithin bekannt, dass Georg Büchner im Frühjahr und Sommer 1834 den Hessischen Landboten, eine der radikalsten Fl

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Naturrecht und allgemeine Politik: Vorlesung im Sommersemester 1834
 9783787341269, 9783787341252

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Philosophische Bibliothek

Joseph Hillebrand Naturrecht und ­allgemeine Politik

JOSEPH HILLEBR AND

Naturrecht und allgemeine Politik Vorlesung im Sommersemester 1834

Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von

Doreen Haring, Udo Roth und Gideon Stiening

FELIX MEINER VERL AG H A MBURG

PHILOSOPHISC HE BIBLIOTHEK BAND 757

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN  9 78-3-7873-4125-2 ISBN E-Book  9 78-3-7873-4126-9

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz:  mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alte­rungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

I N H A LT

Einleitung: Was Büchner hörte von Doreen Haring, Udo Roth und Gideon Stiening  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

1. Georg Büchner, die Politik und das Naturrecht im Sommersemester 1834  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 2. Joseph Hillebrand (1788–1871) – Versuch einer biographischen Skizze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XII 3. Hillebrands Naturrechts- und Politikkonzeption  . . . . . . . . XV 4. Die Naturrechtsvorlesung vom Sommersemester 1834  . . . XXVI

Zu dieser Ausgabe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XL Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLI

J O S E PH H I L L E B R A N D

Naturrecht und allgemeine Politik Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Historisch litterarische Bemerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 [Erster Theil. Praemissen]  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Erster Abschnitt. Anthropologische Vordersätze  . . . . . . . . . 22 a) Der Mensch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 b) Die Freiheit und der Wille  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 c) Die Persönlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 d) Die Socialität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Zweyter Abschnitt. Das Recht an und für sich  . . . . . . . . . . . 26

VI

Inhalt

Zweyter Theil. Vom Staate  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Erster Abschnitt. Ideologische Politik oder von der Staatsidee an und für sich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Zweyter Abschnitt. Organische Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 A. Die Lehre von der Staatsgewalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 B. Von der Staatsform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Dritter Abschnitt. Die administrative Politik im weiteren Sinne des Worts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 A. Rechtspolitik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 B. Wohlstandspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 C. Culturpolitik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Vierter Abschnitt. Der Staat und die Kirche oder allgemeines philosophisches Kirchenrecht  . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Die Kirche als solche  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Die Kirche in ihrem Verhältniß zum Staat  . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Verhältniß der Kirche zu den Staatsmitgliedern  . . . . . . . . . 103 Dritter Theil. Von dem Völkerrechte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a. Das Volk  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b. Das Staatensystem  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 C. Der Kosmopolitismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Anmerkungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

EIN LEITU NG: WA S B Ü C H N E R HÖRT E

1.  Georg Büchner, die Politik und das Naturrecht im Sommersemester 1834 Georg Büchner ist bekannt als Autor so bedeutender Dramen wie Danton’s Tod, Woyzeck oder Leonce und Lena; auch sein Erzählfragment Lenz sowie insbesondere seine politische Flugschrift Der Hessische Landbote werden noch heute zu Recht in der Schule gelesen und genießen auch in der internationalen Öffentlichkeit einen Klassikerstatus. Dass Büchner neben seinen literarischen Arbeiten und seiner lebensbedrohlichen poli­tischen Tätigkeit auch und vor allem eine wissenschaftliche Karriere als Naturphilosoph und -wissenschaftler anstrebte, ist den meisten Büchner-Lesern unbekannt.1 Auch seine Interessen an und Kompetenzen für die Geschichte der theoretischen und praktischen Philosophie, die sich in umfangreichen Vorlesungsskripten niederschlägt, bleiben zumeist unbeachtet.2 Dabei begann der frisch gebackene Abiturient im Herbst 1831 zügig ein Studium der Medizin in Straßburg, einem der bedeutenden Zentren für eine naturphilosophisch fundierte Medizin im Europa des frühen 19. Jahrhunderts.3 In Straßburg fand nicht nur eine politische Radikalisierung des jungen Medizinstudenten statt, Büchner scheint sich hier auch für die Naturphilosophie

1 Vgl. hierzu Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche

Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaft vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004. 2  Vgl. hierzu Gideon Stiening: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin u. a. 2019, S.  41–203. 3  Vgl. hierzu ebd., S.  212  ff.

VIII

Einleitung

und gegen die praktische Medizin als Studienziel entschieden zu ­haben.4 Nach einem zweijährigen Studienaufenthalt in Straßburg (1831–1833) musste Büchner allerdings ab dem Wintersemester 1833/34 sein Studium der Medizin in Gießen fortsetzen. Im Sommersemester 1834, also vom 28. April bis 29. September desselben Jahres, besuchte er neben vielfältigen naturwissenschaftlichen und medizinischen Vorlesungen auch zwei philosophische Veranstaltungen, und zwar eine Vorlesung über Logik und eine Vorlesung zum Thema Naturrecht und allgemeine Politik. Die Vorlesung zur Logik war Bestandteil des medizinischen Curriculums, Büchner musste sie also besuchen, während er die Vorlesung zum Naturrecht freiwillig hörte. Beide Veranstaltungen wurden von dem in Gießen und weit darüber hinaus bekannten Philosophen Joseph Hillebrand abgehalten.5 Die Besuche dieser mehrmals wöchentlich stattfindenden Veranstaltungen sind durch einen Hörerschein belegt:

Hessisches Staatsarchiv Darmstadt. Hörerschein Georg Büchner. Signatur HStAD R4 15386.

4  Vgl. hierzu u. a. Georg Büchner. Revolutionär, Dichter, Wissenschaft-

ler. Der Katalog [zur] Ausstellung Mathildenhöhe, Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Basel, Frankfurt  /  M. 1987. 5  Zum wenig erforschten Leben und Werk Joseph Hillebrands vgl. u. a. Hans Ulrich Schreiber: Joseph Hillebrand. Sein Leben und Werk. Gießen 1937 sowie Stiening: Literatur und Wissen (s. Anm.  2), S.  66–77.

Doreen Haring, Udo Roth, Gideon Stiening

IX

Der Besuch der hillebrandschen Vorlesung zur Politik ist allerdings in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, weil Büchner während des Sommersemesters 1834 das Verfassen, das Drucken und das Verteilen des Hessischen Landboten besorgte und noch bis zum Ende des Semesters im September die lebensbedrohlichen Konsequenzen dieser gescheiterten Aktion der vormärzlichen Opposition abzuwehren hatte.6 Während er also die Naturrechts-Vorlesung besuchte, arbeitete er intensiv am Ausbau zweier Geheimgesellschaften in Gießen und Darmstadt, traf sich Anfang Juli mit der gesamten Opposition zur kontroversen Debatte über den Text des Hessischen Landboten sowie die weitere Ausrichtung des Widerstands; half Ende Juli beim nächtlichen Druck der Flugschrift und begann ab Anfang Juli mit dem Verteilen bzw. den fiebrigen Versuchen der Befreiung einzelner Mitverschwörer, die mit der Flugschrift ertappt worden waren.7 Neben all diesen Aktivitäten gelang Büchner zudem eine geradezu unerhörte Selbstverteidigung, weil die Gießener Universitätsgerichtsbarkeit ihm schnell auf die Schliche kam und seinen Schreibtisch ausräumte, wogegen er umgehend Klage einreichte und damit tatsächlich Erfolg hatte. Schon am 8.  August – das Semester läuft und Büchner hört seit drei Monaten bei Hillebrand, sein Freund und Mitverschwörer Karl Minnigerode aber ist gerade seit einer Woche inhaftiert – schreibt er an die Familie, seine heiligsten Rechte, nämlich die auf Eigentum und Privatsphäre, seien verletzt worden. Dass Büchner solcherart Argumentation als offenbar aufmerksamer Hörer bei Hillebrand lernte, kann man seiner folgenden Argumentation im selben Brief an die Eltern entnehmen: 6  Vgl. hierzu anschaulich Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner.

Biographie. Stuttgart, Weimar 1993, S.  287  ff. 7  Vgl. hierzu insbesondere Thomas Michael Mayer: Georg Büchner und »Der Hessische Landbote«. Volksbewegung und revolutionärer Demokratismus in Hessen 1830–1835. In: Otto Büsch, Walter Grab (Hg.): Die demokratische Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ein Tagungsbericht. Berlin 1980, S.  360–390.

X

Einleitung Das Verletzen meiner heiligsten Rechte und das Einbrechen in alle meine Geheimnisse, das Berühren von Papieren, die mir Heiligtümer sind, empören mich zu tief, als daß ich nicht jedes Mittel ergreifen sollte, um mich an dem Urheber dieser Gewalttat zu rächen. […] Das Gesetz sagt, nur in Fällen sehr dringenden Verdachts, ja nur ­eines Verdachtes, der statt halben Beweises gelten könne, dürfe eine Haussuchung vorgenommen werden. Ihr seht, wie man das Gesetz auslegt. […] Eine solche Gewalttat stillschweigend ertragen, hieße die Regierung zur Mitschuldigen machen; hieße aussprechen, daß es keine gesetzliche Garantie mehr gäbe; hieße erklären, daß das verletzte Recht keine Genugtuung mehr erhalte.8

Allein die Unterscheidung von Recht und Gesetzen – ein den ­Autoren des Landboten noch unmöglicher Gedanke, weil für sie alles Recht Instrument der Volksunterdrückung war9 – muss Büchner von Hillebrand erfahren bzw. gelernt haben, dem er während all dieser unerhörten Vorgänge zweimal wöchentlich zuhörte. Auch die These, dass ein verletztes Recht der Genug­ tuung bedürfe, stammt unverkennbar von Hillebrand, der in seinem opus magnum, der Philosophie des Geistes von 1835/36, festhielt: In der Strafe muß das Gesetz sich genugthun, indem es seine Kraft an dem Verbrecher blos als solchem durchsetzt.10

8  Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Hg. von

Henri Poschmann. 2 Bde. Frankfurt  /  M. 1992/99 [im Folgenden P, Band, Seiten- und Zeilenzahl], hier Bd.  2, S.  38924–3902 . 9  Vgl. hierzu Gideon Stiening: »Man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen.« Recht und Gesetz nach Büchner. In: Patrick Fortmann, Martha B. Helfer (Hg.): Commitment and Compassion: Essays on Georg Büchner. Amsterdam 2012, S.  21–45. 10  Joseph Hillebrand: Philosophie des Geistes oder Enzyclopädie der gesammten Geisteslehre. 2 Bde. Heidelberg 1835/36, Bd.  2, S.  170  ff.

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XI

Ab September wird es Büchner allerdings doch zu gefährlich in Gießen, weil Konrad Georgi, der Universitätsrichter, weiter nach den Autoren des Landboten fahndet und immer wieder auch Büchner ins Visier nimmt. Das Sommersemester 1834 war für Büchner also eine in politischer, sozialer und intellektueller Hinsicht ereignisreiche Zeit, und doch hörte er offenbar aufmerksam der politischen  /  politikwissenschaftlichen Vorlesung Hillebrands zu. Die Forschung hat sich mit diesem Zusammenhang zwischen Büchner und Hillebrand selten und kaum differenziert beschäftigt,11 nur die Tatsache, dass Büchner überhaupt die Vorlesungen über Logik und Naturrecht bei Hillebrand hörte, wurde am Nachweis des Hörerscheins konstatiert, aber bislang wenig ausgedeutet.12 Doreen Haring hat allerdings nunmehr einige Vorlesungsnachschriften zu Hillebrands Logik- und Naturrecht-­ Vorlesun­gen aufgefunden, und darunter eine, die aus dem Sommersemester 1834 stammt; sie ist nicht von Büchners Hand, aber das, was sie enthält, hat Büchner in weiten Teilen gehört. Als gleichsam orale Quelle seines politischen Wissens wird diese Vorlesung erstmalig der Öffentlichkeit präsentiert. Wer aber war Joseph Hillebrand, 1834 schon einige Jahre Ordinarius für Philosophie an der Universität Gießen?

11  Vgl. aber im Hinblick auf die Logik Hans-Peter Nowitzki: Halt, ist

der Schluß logisch? Zu Büchners anamorphotischer Poesiekonzeption. In: Euphorion 92 (1998), S.  309–330. 12  Zum Hörerschein vgl. Thomas Michael Mayer (Hg.): Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Marburg 1985, S.  124; Georg Büchner: Philosophische Schriften. In: ders.: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-­ kritische Ausgabe. Hg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. 10  Bde. Darmstadt 2000–2013 [im Folgenden MBA, Band, Seitenzahl), hier Bd.  9.2, S.  176–180.

XII

Einleitung

2.  Joseph Hillebrand (1788–1871) – Versuch einer biographischen Skizze Joseph Hillebrand wurde in armen Verhältnissen als Sohn e­ ines Kötters, der sich zusätzlich als Wagner verdingen musste, im hannoverschen Großdüngen geboren. Schon bald aber fiel das begabte Kind seinen jesuitischen Lehrern auf und wurde in der Folge auf höhere Schulen geschickt. Dort musste sich Hillebrand allerdings unter den ärmlichsten Bedingungen ausbilden lassen, weil ihm jede Unterstützung fehlte. Ab 1810 studiert Hillebrand mit staatlicher Unterstützung in Göttingen, einer der auch zu Beginn des 19.  Jahrhunderts noch führenden europäischen Universitäten.13 Hier aber konzentriert er sich auf orientalische Sprachen und Philosophie, obwohl er zuvor vor allem eine theologische Ausbildung zugesagt hatte. Nach kurzem Studium empfängt er gleichwohl die Priesterweihe (1815) und übernimmt eine Professur für Philologie am Katholischen Gymnasium in Hildesheim. Dennoch sind es vor allem theologische Problemlagen, die ihn in den folgenden Jahren beschäftigen und letztlich zur Konversion in den Protestantismus, zur Aufkündigung der Gymna­ sialprofessur und einem Leben als Hauslehrer führen. Ab 1817 bekleidet Hillebrand eine außerordentliche Professur in Heidelberg, die er aufgrund eigeninitiativer Bewerbung erhält; sicher hat die Wahl dieser Universität auch mit der Lehrtätigkeit des von Hillebrand zeitlebens verehrten Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu tun, der in Heidelberg noch bis 1818 Vorlesungen hält14 und dessen Lehrstuhl Hillebrand übernimmt. Erst nach Bekleidung der außerordentlichen Professur beginnt Hillebrand mit einer umfangreichen Publikationstätigkeit, die zunächst vor allem propädeutische und logische Lehrbücher 13 Vgl. hierzu Luigi Marino: Praeceptores Germaniae. Göttingen

1770–1820. Göttingen 1995. 14  Siehe hierzu Walter Jaeschke: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart, Weimar 22010, S.  37–42.

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XIII

umfasst; ein Schwerpunkt seiner philosophischen Arbeit wird auch in den kommenden Jahren die Logik und Propädeutik bleiben, neben der Anthropologie und der Philosophie des Geistes. Weil aber sowohl die Anthropologie als auch die Geistesphilosophie nach Hillebrand theoretische, praktische und ästhetische Seiten aufweisen, konnte und musste der Philosoph sein Fach in der ganzen Breite bearbeiten. 1822 geht Hillebrand nach langen Verhandlungen an die Universität Gießen auf ein Ordinariat für Philosophie, das er bis zu seiner vorzeitigen Entlassung 1850 ausfüllen wird. Hier entwickelt er eine engagierte Publikations- und Lehrtätigkeit, die ihn bei Kollegen und Studenten bekannt und durchaus beliebt macht. Er gilt als penibler Gelehrter und strenger Hochschullehrer, aber auch als politischer Liberaler mit Tendenzen zu einem Verfassungspatriotismus. Als idealistischer Philosoph scheut der persönlich eher zurückhaltende Hillebrand aber offenkundig keine Kontroverse: Dem angeblich so strengen Empirismus und Positivismus seines schon damals berühmten Kollegen aus der philosophischen Fakultät, Justus Liebig, stand er offen kritisch gegenüber, diese Auseinandersetzung führte er wissenschaftstheoretisch und institutionell; so heißt es bei Carl Vogt, einem Kommilitonen Büchners in den 1830er Jahren: An der Universität, wo Hillebrands Kollegien zu den besuchtesten gehörten, lag der Professor der Philosophie in beständigem Kampfe einerseits mit der »Barbaren-Kohorte« der Chemiker unter Liebigs Leitung, andererseits mit den Privatdozenten, die ebenfalls Logik und Psychologie lehren wollten.15

Büchner scheint sich also mit seinen – auch freiwilligen – Besuchen der Vorlesungen Hillebrands gegen den Empirismus der ›Barbaren-Kohorten‹ Liebigs entschieden zu haben. Im Hintergrund der Kontroverse steht der schon seit den 1820er Jahren 15  Carl Vogt in seinen Erinnerungen und Rückblicken, S.  63.

XI V

Einleitung

wirksame Streit zwischen idealistischer Naturphilosophie und empiristischer Naturwissenschaft, der erst in den 1840er Jahren zugunsten der Letzteren entschieden wurde.16 Büchners Philosophiedozent hat hierzu eine deutliche, der Polemik nicht abgeneigte Meinung. Darüber hinaus erforscht und lehrt Hillebrand in seiner Gießener Zeit neben der Logik und Psychologie auch Naturrecht und Ethik sowie in zunehmendem Maße Ästhetik und Literaturgeschichte. Ab 1848 wird er Abgeordneter verschiedener Bezirke in mehreren Landtagen, denen er als liberaler Demokrat in herausgehobener Stellung, z. T. als Parlamentspräsident, angehörte. Hille­ brand verstand diese politische Tätigkeit, der er sich ausnehmend engagiert widmete, als konsequente Verlängerung seiner wissenschaftlichen Positionen und hochschulpädagogischen Aktivitäten, so dass er als später Nachkomme der Aufklärung zu bezeichnen ist. Der Philosoph war als Politiker allerdings ausnehmend erfolgreich, 1850 heißt es im Hessischen Zuschauer: Hillebrand hat durch sein Auftreten in der Kammer auch einen großen Theil derjenigen für sich gewonnen, die das vorigemal aus Verblendung oder persönlichen Rücksichten gegen die Demokraten gestimmt haben.17

Der Philosoph hat für diese praktische Umsetzung seiner politischen Theorie allerdings bitter bezahlen müssen: 1850 wird er als Aufrührer in den vorzeitigen Ruhestand entlassen und zeitlebens keine Stellung an einer Universität mehr erhalten. Bis zu seinem Tode lebt er zumeist bei seiner Tochter und publiziert noch einige philosophische Bände und Beiträge. Vor allem aber kümmert er 16  Vgl. hierzu Olaf Breidbach: Schleidens Kritik an der spekulativen

Naturphilosophie. In: Matthias Jacob Schleiden: Schelling’s und Hegel’s Verhältnis zur Naturwissenschaft. Zum Verhältnis der physikalischen Naturwissenschaft zur spekulativen Naturphilosophie. Hg. und erl. von Olaf Breidbach. Weinheim 1988, S.  1–56. 17  Hessischer Zuschauer 1 (1850), Freitag, den 5. Juli 1850, S.  515.

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XV

sich um seine Söhne, die Deutschland nach 1848 in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika verlassen mussten. Hillebrand teilt mithin das bedrückende Schicksal vieler ›1848er‹, die an ihren politischen Tätigkeiten im Rahmen der einzigen bürgerlichen Revolution auf deutschem Boden schwer zu tragen hatten.18 Hillebrand stirbt hochbetagt am 28. Januar 1871.19 Wie sah aber die politische Theorie dieses Hochschullehrers und bürgerlichen Revolutionärs tatsächlich aus? 3.  Hillebrands Naturrechts- und Politikkonzeption Anders als hinsichtlich der Logik fertigte Hillebrand für seine Vorlesungen über Naturrecht und allgemeine Politik kein eigenes Handbuch an. Um Hillebrands Konzeption zu erfassen, ist man auf die verstreuten Ausführungen des Gießener Professors in seinen enzyklopädischen Publikationen angewiesen. Trotz der seit Langem bekannten Tatsache, dass Büchner im Sommer­semes­ ter 1834 neben der Logik auch diese Vorlesungen Hillebrands besuchte, d. h. kurz nach der Abfassung des Hessischen Land­ boten,20 der sich zumindest an einer Stelle naturrechtlicher Argumente bedient,21 wurde eine solche Rekonstruktion von der Forschung bisher nicht unternommen. Hillebrand äußert sich in jeder seiner bis zum Sommer 1834 erschienenen Publikationen, die zumeist einführenden oder enzyklopädischen Charakter ­haben,

18  Vgl. hierzu u. a. Wolfgang Mommsen: 1848. Die ungeliebte Revo-

lution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849. Frankfurt  /  M. 1998. 19  Vgl. hierzu Franz Mauer: Joseph Hillebrand. In: Beilage zur allgemeinen Zeitung, 15. Februar 1871, S.  771  f. 20  Vermutlich Mitte März 1834; vgl. hierzu Thomas Michael Mayer: Georg Büchner. Eine kurze Chronik zu Leben und Werk. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Georg Büchner I / II. München 1979, S.  357–425. 21  Vgl. P II, S.  5420  ff..

XVI

Einleitung

zum Naturrecht,22 das er lange Zeit – so erklärt sich auch der Titel der Vorlesung – mit dem Begriff der Politik synonym setzt: Die dritte Disziplin der praktischen Philosophie ist die Politik (oder das sogenannte Naturrecht).23

Beide Bestimmungen sind jedoch – der Begriffs- und Sachgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts entsprechend – mit der allgemeinen Staatslehre identisch,24 weshalb Hillebrand die Definition auch fortsetzt: Sie ist die wissenschaftliche Entwickelung und Darstellung des Staats, oder sie ist die Wissenschaft des Staats.25

In der Vorlesung vom Sommersemester 1834 hat sich an dieser Bestimmung des Verhältnisses von Naturrecht und Politik aber einiges geändert; hier heißt es: 22  Vgl. Joseph Hillebrand: Propädeutik der Philosophie. 2 Bde. [Bd.  1:

Encyklopädie der Philosophie, Bd.  2: Geschichte und Methodologie der Philosophie.] Heidelberg 1819, Bd.  1, S.  158–178; Joseph Hillebrand: Grundriß der Logik und philosophischen Vorkenntnisse zum Gebrauche bei Vorlesungen. Heidelberg 1820, S.  68–74; Joseph Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft. 3 Bde. Mainz 1822/23, Bd.  3, S.  22 u. S.  102– 122; Joseph Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie und philosophischen Propädeutik, zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen. Mainz 1826, S.  60–68; Joseph Hillebrand: Universal-philosophische Prolegomena oder enzyclopädische Grundzüge der gesammten Philosophie. Mainz 1830, S.  149–154 sowie Joseph Hillebrand: Philosophie des Geistes oder Enzyclopädie der gesammten Geisteslehre. 2 Bde. Heidelberg 1835, Bd.  2, S.  135–198. 23  Hillebrand: Grundriß der Logik (s. Anm.  22), S.  68; vgl. auch Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie (s. Anm.  22), S.  60  f. 24 Vgl. Michael Stolleis: Die allgemeine Staatswissenschaft im 19. Jahrhundert. In: Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung. Goldbach 1997, S.  3–18, hier S.  3. 25  Hillebrand: Grundriß der Logik (s. Anm.  22), S.  68.

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XVII

Man kann nun das Naturrecht in seinem weitern Sinne in drei Theile unterscheiden, wovon der erste das Recht schlechthin, für sich, der Zweite den Staat, der dritte das Verhältniß der Staaten darzustellen hat. Den ersten Theil kann man die juridische Theologie nennen, den zweiten Theil die allgemeine Politik, den dritten Theil das Völkerrecht.26

Dabei besteht eine Besonderheit des hillebrandschen Naturrechts darin, dass er den Staat nicht über eine kontraktualistische Argumentation27 deduziert und dadurch »Ursprung und Legitimation des Staates«28 generiert. Vielmehr weist Hillebrand – hier im Einklang mit den »deutschen Konservativen«,29 aber auch den liberalen Ideengeschichtlern30 des Vormärz – jegliche Variante naturrechtlicher Vertragskonstruktion explizit zurück: Daß der Staat demnach weder seinen Ursprung und seine Begründung, noch seine Fortentwickelung und Vollendung einem sogenannten Ur- oder Grundvertrage verdanke, ist für sich klar. Ein sol-

26  Vgl. diesen Band, S.  4. 27 Zum Kontraktualismus als einer entscheidenden rechtsphiloso-

phischen Argumentationsfigur zwischen Hobbes und Rawls vgl. Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt 1994. 28  Stolleis: Die allgemeine Staatswissenschaft (s. Anm.  24), S.  4. 29  Ebd., S.  6 sowie Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd.  2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen Doppelrevolution 1815–1845/49. München 31996, S.  446. 30  Vgl. auch den spezifischen – Hillebrands Positionen verwandten – Antikontraktualismus bei Christoph Friedrich Dahlmann: Die Politik. Hg. von Wilhelm Bleek. Frankfurt  /  M . 1997 [EA Göttingen 1835], S.  11: »Der Staat ist also keine Erfindung, weder der Noth noch der Kunst, keine Actiengesellschaft, keine Maschine, kein aus einem frei aufgegebenen Naturleben hervorspringendes Vertragswerk, kein nothwendiges Übel, kein mit der Zeit heilbares Gebrechen der Menschheit, er ist eine ursprüngliche Ordnung, ein nothwendiger Zustand, ein Vermögen der Menschheit und eines von den die Gattung zur Vollendung führenden Vermögen.«

XVIII

Einleitung

cher Vertrag würde den Staat, den er begründen soll, schon voraussetzen, also in sich selbst einen Widerspruch enthalten, abgesehn von seiner historischen Richtigkeit und seiner praktischen Unmöglichkeit und Gefährlichkeit.31

Für Hillebrand haben sich alle Vertragstheoretiker seit Hobbes daher des »Ultraliberalismus« schuldig gemacht,32 der abzulehnen sei.33 Demgegenüber wird die Ansicht vertreten, der Staat müsse und könne einzig aus der allgemeinen Idee der Vernunft abgeleitet und so legitimiert werden; in seinen Prolegomena von 1830 hält Hillebrand hierzu fest: Der Staat ist diesem gemäß in seiner idealen und wesenhaften Bedeutung die objektive Vernunftordnung des menschlichen Handelns, mit dem Zwecke, die Anerkennung und Achtung der Vernunft ihrer selbst wegen unter den Menschen zu vermitteln und zu verbürgen. Es ergiebt sich hieraus zunächst, daß der Staat rein ideal oder ursprünglich in der Vernunft selbst gegründet liegt.34

Insofern der Staat als notwendig praktische Konsequenz der spekulativen Vernunft dargestellt und legitimiert wird, ist er selbst – in welcher historischen Form auch immer – vernünftiger Natur.

31  Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft (s. Anm.  22), Bd.  3,

S.  110, vgl. auch Hillebrand: Universal-philosophische Prolegomena (s. Anm.  22), S.  150 sowie diesen Band, S.  31  f. 32  Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft (s. Anm.  22), Bd.  3, S.  111 Anm.*. 33 Zur wirksamen Tradition dieses aufklärerischen Kontraktualismus noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Hartwig Brand: Vernunftrecht und Politik im Vormärz. In: Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht und Staat. Politische Funktionen des europäischen Naturrechts (17.–19. Jahrhundert). München 2006, S.  199–208. 34  Hillebrand: Universal-philosophische Prolegomena (s. Anm.  22), S.  149  f.

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XIX

Diese der hegelschen Staatstheorie verwandte Argumentation35 basiert auf der für Hillebrand zentralen Einsicht in die Positivität des Staates als Realisation des Rechts und der Freiheit,36 welche allererst ermögliche, die aus dem Kontraktualismus erwachsene Annahme, »daß der Staat Beschränkung der Freiheit sey«,37 zu widerlegen: Ueberhaupt ist es eine falsche und das Wesen des Staates herabwürdigende Lehre, daß derselbe nur ein Institut zur Beherrschung der Menschen sey, da er in der That nur die Selbstsorge der Vernunft ist, die wahre Freiheit immer mehr objektiv darzustellen, die Kräfte der Menschen stets wirksamer zu vereinen und so die Menschheit selbst mehr und mehr zu realisiren. Der Staat wirkt nicht bloß n ­ egativ, sondern vorzüglich positiv.38

Deshalb auch übt Hillebrand scharfe Kritik an einem durch Schiller popularisierten Verständnis des ›Not- und Verstandesstaates‹,39 der ausschließlich negativ als Instrument der unerlässlichen Beschränkung der Freiheit des Einzelnen bestimmt wird. Während vor ihm wenigstens ein Student sitzt, der kurz zuvor eine politische Flugschrift fertiggestellt hat, in der der Staat 35  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie

des Rechts. Auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammelten Werken Band 14 hg. von Klaus Grotsch. Hamburg 2009, S.  237  ff. (spez. § 258). 36  Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft (s. Anm.  22), Bd.  3, S.  111. 37  Ebd., S.  110. 38  Ebd., S.  105 Anm.  *; vgl. hierzu auch die Argumentation bei Dahlmann: Die Politik (s. Anm.  30), S.  11. 39  Hillebrand: Universal-philosophische Prolegomena (s. Anm.  22), S.  154: »Eben so wenig darf man aber im Staate eine Zwangsanstalt finden wollen, gleichsam ein Institut der Noth, somit ein nothwendiges Uebel.« Zu Schillers Staatsvorstellung, die hier einer Kritik verfällt, vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in e­ iner Reihe von Briefen. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. München 1981, Bd.  5, S.  576  ff.

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als Instrument zur Ausbeutung der Armen durch eine kleine Gruppe korrupter Reicher bezeichnet wird, schließt Hillebrand aus seiner die Positivität des Staates voraussetzenden »Deduktion des Staates« als eines »rein ursprünglichen Selbsterzeugni[sses] der Vernunft«40 auf »den Begriff und die Bedeutung des Rechts«.41 Als gleichursprüngliche Kategorie42 gründet dessen Geltung in der Autonomie und Autorität des Staates. Aus dieser Systematik einer Ableitung von Staat und Recht auseinander sowie dieses Rechtstaatskomplexes aus einem spekulativen Vernunftbegriff ergeben sich zudem folgerichtig Hillebrands Ausführungen zum »Rechtszwang« und zur »Strafe«,43 die hegelschen Vorstellung erneut sehr nahe kommen.44 Wie dieser bestimmt Hillebrand nämlich das Verbrechen als »Vernunftwidrigkeit«, die durch den Staat aufgehoben werden müsse, damit dieser seine Vernunft und Autorität aufrechterhalten und nur in dieser Form realisieren könne: Zweck der Strafe ist also Vernichtung des Unrechts im Verbrechen, leitende Norm die Idee der Gerechtigkeit, eigentliches Princip aber

40  Hillebrand: Universal-philosophische Prolegomena (s. Anm.  22),

S.  150. 41  Ebd., S.  151. 42  Vgl. ebd.: »Aus dem Wesen des Staats entwickelt sich von selbst die Bedeutung des Rechts, welches in ihm allein seine Begründung hat und ohne seine Voraussetzung bedeutungslos ist oder doch mit dem Sittlichen schlechthin zusammenfällt«; vgl. diesen Band, S.  26  ff. 43  Hillebrand: Universal-philosophische Prolegomena (s. Anm.  21), S.  153; vgl. diesen Band, S.  79  ff.; zum zeitgenössischen Kontext in Strafrechtstheorie und -praxis sowie deren Interaktionen vgl. Diethelm Klippel, Martina Henze, Sylvia Kesper-Biermann: Ideen und Recht. Die Umsetzung strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen im Deutschland des 19.  Jahrhunderts. In: Lutz Raphael, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Idee als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006, S.  371–394, spez. S.  385  ff. 44  Vgl. hierzu Hegel: Rechtsphilosophie (s. Anm.  34), S.  108  ff. (§§ 97  ff.)

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die Selbsterhaltung des Staats als einer objektiven Vernunftordnung in der Socialität.45

Ausdrücklich kommt Hillebrand in diesem Zusammenhang auch auf »das Eigenthumsrecht« zu sprechen, das im Begriff der Person als Rechtsinhaberin analytisch enthalten sei.46 Die vernunfttheoretische und -praktische Deduktion des Staates als einer »Selbstsorge der Vernunft«47 führt bei Hillebrand auch zu einer historisierenden, allerdings geschichtsphilosophischen Perspektivierung des Staates, die nicht zufällig eine legitimierende Funktion innehat: Allein wo solche Ungestalt [der Despotie] hervortritt, bezeichnet sie mehr oder weniger den Verfall der bürgerlichen Ordnung selbst, und man darf es so ziemlich als einen allgemeinen historisch-philosophischen Grundsatz aufstellen, daß jedes Volk, welches der Despotie anheimfällt, derselben bedarf oder werth ist.48

Diese »metaphysische Begründung des Staates«49 ist zentraler Gegenstand des ersten von drei Bestandteilen des Naturrechts als einer Disziplin der praktischen Philosophie; als deren erstes Moment erhält sie die Bezeichnung: »Politische Elementarlehre«.50 Das zweite Moment dieser Einteilung des Naturrechts macht die 45  Hillebrand: Universal-philosophische Prolegomena (s. Anm.  22),

S.  153. 46 Ebd., S.  153; zum zeitgenössischen Kontext der naturrechtlich begründeten liberalen Eigentumstheorien im Vormärz vgl. Diethelm ­K lippel: Naturrecht und Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Otto Dann, Diethelm Klippel (Hg.): Naturrecht – Spät­aufklä­r ung – Revolution. Hamburg 1995, S.  270–292, spez. S.  286  f. 47  So Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft (s. Anm.  22), Bd.  3, S.  105 Anm.  *. 48  Ebd., S.  110Anm.  *. 49  Hillebrand: Grundriß der Logik (s. Anm.  22), S.  69. 50  Ebd.,  S.  69–71; Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie (s. Anm.  22), S.  61.

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Einleitung

»Politische Principienlehre« aus, die die »wissenschaftliche Darstellung der Principien, Grundsätze und allgemeinen Mittel zur Realisierung des Staatsbegriffs« enthält; hier werden Begriffe des Staatszweckes, der Souveränität, der Herrschaft, Regierung und Verfassung entwickelt.51 Den dritten Teil des wissenschaftlichen Naturrechts macht laut Hillebrand die »Politische Pragmatik« aus, die »die empirisch-nothwendigen Bedingungen für die Realisierung des Staatsbegriffes« ausführen, zu denen u. a. die »Civilund Criminalgesetzgebung«, die »Wohlfahrt« oder die »Polizeigesetzgebung« zu zählen sind.52 Wie bei Kant,53 so schließt auch bei Hillebrand die Staatszweckbestimmung einer rechtstaatlichen Freiheitsrealisation Wohlfahrtsziele als essentielle Funktion des Staates durchaus ein.54 In der Vorlesung wird die recht51  Hillebrand: Grundriß der Logik (s. Anm.  22), S.  71  f.; Hillebrand:

Lehrbuch der theoretischen Philosophie (s. Anm.  22), S.  61. 52  Hillebrand: Grundriß der Logik (s. Anm.  22), S.  72–74; vgl. auch Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie (s. Anm.  22), S.  61; vgl. diesen Band, S.  84  ff. 53  Vgl. hierzu Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag für die Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900  ff. (im Folgenden AA Band, Seitenzahl), hier AA VIII, S.  275–313, hier S.  298: »Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern als bloßes Mittel, den rechtlichen Zustand, vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks, zu sichern«, weil, wie es in einer Anmerkung heißt, »der Staat, ohne Wohlhabenheit des Volks, nicht Kräfte genug besitzen würde, auswärtigen Feinden zu widerstehen, oder sich selbst als gemeines Wesen zu erhalten.« Zur Sozialstaatsfunktion als einer der »Bedingungen, ohne die Freiheit der Willkür überhaupt unmöglich wäre« vgl. Jean-Christoph Merle: Funktionen, Befugnisse und Zwecke der Staatsverwaltung. Zur Allgemeinen Anmerkung zu § 52, B–D. In: Otfried Höffe (Hg.): Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Berlin 1999, S.  195–212, spez. S.  207  ff. 54  Zum historischen Kontext der unterschiedlichen naturrechtsphilo­

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liche Regulierung des Verhältnisses, d. h. die Verhinderung eines »Mißverhältnisses« von Armen und Reichen gar als Staatszweck begründet.55 Die politische Pragmatik stellt für Hillebrand folglich keine äußerliche, regierungspraktische Zugabe zur allgemeinen Staatswissenschaft dar, sondern sie ist eine Berücksichtigung der notwendigen empirischen Realisationsbedingungen jeder historisch konkreten Staatsform. Aufgrund dieser Vermittlung von Spekulation und Empirie im Naturrecht korrespondiert der ›allgemeinen Staatswissenschaft‹ Hillebrands in seiner Anthropologie aus den Jahren 1822/23 eine rechtsgeschichtliche Betrachtung des »Bildungsganges der Gesetze«,56 die zu einer »Rechtsgeschichte der Völker«57 ausgeweitet wird. Neben den strengen rechtsphilosophischen Deduktionen einer allgemeinen Staatswissenschaft, die in der Tradition eines Naturrechts des späten 18. und frühen 19.  Jahrhunderts stehen,58 ist Hillebrand über die Entwicklungen des Faches zu einer historischen Rechtsschule59 im frühen 19. Jahrhundert also bestens informiert und darum bemüht, die Erklärens- und Verstehensansprüche beider Forschungsausrichtungen zu vermitteln. Die Vorlesung von 1834 wird der historischen Darstellung gar den Vortritt lassen und die Veranstaltung eröffnen. Dass diese Vermittlung von System und Geschichte letztlich geschichtsphilosophischen Charakter hat, zeigt seine sophischen Wohlfahrtsstaatstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. Bärbel Frischmann: Das Herausbilden des Sozialstaatsdenkens im neuzeitlichen Kontraktualismus von Hobbes bis Fichte. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 60 (2006) S.  554–589, spez. S.  570  ff. 55  Vgl. diesen Band, S.  94. 56  Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft (s. Anm.  22), Bd.  3, S.  114  ff. 57 Ebd. 58  Vgl. erneut Stolleis: Die allgemeine Staatswissenschaft (s. Anm.  24). 59 Diethelm Klippel: Das 19.  Jahrhundert als Zeitalter des Naturrechts. Zur Einführung. In: ders. (Hg.): Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung. Goldbach 1997, S.  V.

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Zurückweisung einer theoretischen Suche nach einer idealen Staatsform: Vielmehr ist die Frage nach einer absolut-besten Staatsform ohne Sinn und Bedeutung, indem jede die beste ist, welche in einer bestimmten Zeit für ein bestimmtes Volk nach den nothwendigen Forderungen der historischen Umstände und des eigentlichen Wesens des Staats die Autokratie der bürgerlichen Ordnung am zweckmäßigsten und angemessensten darstellt.60

Eine Geschichte der politischen Philosophie bzw. eine politische Ideengeschichte von den Vorsokratikern bis in die 1820er Jahre61 ergänzt letztlich Hillebrands Verständnis von »Politik« als einer von der Ästhetik und Ethik unterschiedenen Disziplin der praktischen Philosophie. Es ist sowohl für Hillebrand als auch für seine Zuhörer aufschlussreich, dass der in den Sommermonaten des Jahres 1834 bis an die Grenzen der Erschöpfung62 die Möglichkeiten eines revolutionären Umsturzes auslotende Georg Büchner solcherart geschichtsphilosophischen Despotielegitimationen zuhörte – und das auch noch freiwillig.63 Sicher ist, dass er die im Hessischen Landboten vorgeführte Ableitung der Gesetze eines Staates aus der volonté des tous als rechtsphilosophisch schlicht falsch erkennen konnte bzw. zu einer frühaufklärerischen Vorstellung der Ableitung der Gesetze aus dem Gemeinwohl eine naturrechtlich moderne Alternative vorgeführt bekam. Wenn es nämlich im 60  Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft (s. Anm.  22), Bd.  3,

S.  109  f. 61  Vgl. Hillebrand: Lehrbuch der theoretischen Philosophie (s. Anm.  22), S.  62–68. 62  Vgl. hierzu Thomas Michael Mayer: Die Verbreitung und Wirkung des Hessischen Landboten. In: GBJb 1 (1981), S.  68–111. 63  Das Naturrechtskolleg gehörte nicht zum Pflichtprogramm der philosophischen Zwangskollegien, vgl. Hauschild: Georg Büchner (s. Anm.  6), S.  262.

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Hessischen Landboten, den Büchner im März 1834 und damit vor Beginn des Sommersemesters niederschrieb, heißt: Der Staat also sind Alle, die Ordner sind die Gesetze, durch welche das Wohl Aller gesichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen,64

dann konnte er im Sommer bei Hillebrand lernen, dass Gesetze ihrem Begriffe nach anderes sein können als freiheitsbegrenzende ›Ordner‹ im Staate, und er hätte erst hier gelernt, dass Recht und Gesetze naturrechtlich zumal bei Rousseau keineswegs aus der volonté des tous, sondern aus der volonté générale abzuleiten waren.65 Darüber hinaus hatte Büchner durch Hillebrands Einführung in die Grundlagen neuzeitlichen Naturrechts die aufklärerischen Alternativen zu der Staatszweckbestimmung des »Wohls Aller«, nämlich die Freiheitsrealisation, kennenlernen können.66 Die hier aus den publizierten Schriften zusammengetragenen Konzeptionsmomente des hillebrandschen Naturrechts finden sich auch in der Vorlesung von 1834 wieder, allerdings in anderer Ordnung und in z. T. anderer Gewichtung. Was genau also hat Büchner im Sommer 1834 gehört?

64  MBA 2.1, S.  6. 65  Vgl. Rousseau 1981, S. 279–281 u. S. 291  f. (CS, I.6 und II.3); zu Hille-

brands Rousseau-Interpretation als Position des »Ultraliberalismus« vgl. Hillebrand: Anthropologie als Wissenschaft (s. Anm.  22), Bd.  3, S.  112. 66  Vgl. ebd., S.  110  ff.; zu den Differenzen dieser Staatszweckbestimmungen und ihres historischen Wandels im frühen 19. Jahrhundert vgl. Stolleis: Die allgemeine Staatswissenschaft (s. Anm.  24), S.  8  ff.

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Einleitung

4.  Die Naturrechtsvorlesung vom Sommersemester 1834 4.1  Inhaltlicher Aufbau der Vorlesung Auch wenn der formale Aufbau der Vorlesung konventionell erscheint, einige der Inhalte hatten es durchaus in sich: So ist Hillebrand ein bekennender Gegner des Geburtsadels und Vertreter eines Leistungsadels, den er mit seiner Vorstellung repräsentativer Volksvertretung verbindet: Echter ›Adel‹ käme nur jenen Vertretern des Volkes zu, die es in den Parlamenten vertreten. Darüber hinaus begründet er die Notwendigkeit einer »Constitution«, d. h. eines Rechts- und Verfassungsstaates, der allein eine angemessene Legitimation der dem Menschen notwendig zukommenden Verstaatlichung beanspruchen könne – eine politische Position, die in den 1830er Jahren verboten war. Letztlich entwickelt Hillebrand einen Begriff der »Arbeit«, der deren »Humanität« rechtlich garantieren soll, wozu er ausdrücklich arbeitsrechtliche Maßnahmen fordert, um jeglichen »Mißbrauch« zu verhindern, »welchen der Reiche mit der Arbeit der Armen treiben« könne.67 Georg Büchner dürfte solchen Ausführungen aufmerksam zugehört haben, spricht er doch noch zwei Jahre später davon, dass man auch »in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen« müsse.68 Die Vorlesung ist nach einer für die 1830er Jahre nicht ungewöhnlichen Weise organisiert: Nach einer historischen Einleitung folgt ein anthropologischer Grundlagenteil, gefolgt von Ausführungen zum Staat und zum Völkerrecht; zudem gibt es eigene Abschnitte zur Begründung einer Wohlfahrtspolitik des Staates; die gesamte Vorlesung enthält den folgenden Aufbau:

67  Vgl. hier, S.  94. 68  Brief Büchners an Karl Gutzkow im Juni 1836, in P II; S.  44020-21.

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Philosophische Rechtslehre u. allgemeine Politik Einleitung

Definition Naturrecht (§ 1) Naturrecht als Vernunftrecht (§ 2) Methode der Betrachtung von Naturrecht (§ 3) Verhältnis der Wissenschaften Naturrecht und Moral (§ 4) Anwendung von Naturrecht in (§ 5) a  juridisch legislativer Hinsicht b  juridisch-wissenschaftlicher Hinsicht c  juridisch-praktischer Hinsicht d  politischer Hinsicht e  humaner Hinsicht Methoden der wissenschaftlichen Betrachtung von Naturrecht (§ 6) 1. anthropologisch (philosophisch und empirisch) 2. historisch (insbesondere rechtshistorisch) Historisch-literarische Bemerkungen (§ 7) Perioden der politischen Wissenschaften in der griechischen Literatur (§ 8) a Vorsokratische Periode b Sokratische Periode 1. Plato Aristoteles (§ 9) [Der eigentlich folgerichtige Gliederungspunkt »2.« fehlt; vmtl. ist dieser bei »Aristoteles« anzusetzen.] c  Periode nach Aristoteles Antike Staaten (§ 10) Die Periode der Entwickelung und Ausbildung der neu europäischen Völker und Staaten [im Mittelalter]; Ende des Mittelalters; 16. Jahrhundert (Oldendorp, Hemming, Winkler, Bodin); 17. Jahrhundert (Baco von Verulam, Grotius, Hobbes, Pufendorf) (§ 11)

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Einleitung

Neue Epoche im Staatsrecht im 18. Jahrhundert (Locke, Thomasius, Wolf, Montesquieu, Rousseau, Filangieri (§ 12) Kant und deutsche Rechtstheorien; Richtungen (§ 13) 1. streng juridische [Rechtstheorie] 2. [Rechtstheorie] nach politischen Erscheinungen (unter dem Einfluss von politischen Parteien) 3. historischen Rechts- und Staatstheorien (ausgehend von den real-historischen Erscheinungen von Staaten) 4. Theorie rein philosophischer Betrachtung Lehr- und Handbücher über das Natur- und Staatsrecht (§ 14)

[Erster Theil. Mensch  / A nthropologie und Recht]

Erster Abschnitt. Anthropologische Vordersätze. a  Der Mensch (§ 15 bis § 20) b  Die Freiheit und der Wille (§ 21 bis § 28) c  Die Persönlichkeit (§ 29 bis § 31) d  Die Socialität (§ 32 bis § 35) Zweiter Abschnitt. Das Recht an und für sich. (§ 36 bis § 41)

Zweyter Theil. Vom Staate.

[Der Schreiber führt nicht die Gliederungsebene »Erster Teil« auf. Dieser ist vielleicht anzusetzen nach dem historischen Abriss »Historisch-literarische Bemerkungen« oder nach der Literaturliste »§ 14 Lehr- und Handbücher über das Natur- und Staatsrecht«.] Erster Abschnitt. Idiologische Politik oder von d. Staatsidee an u. für sich. (§ 42 bis § 51) Zweiter Abschnitt. Organische Politik. (§ 52 bis § 55) A. Die Lehre von der Staatsgewalt. (§ 56 bis § 62) B. Von der Staatsform. (§ 63 bis § 88) Dritter Abschnitt. Die administrative Politik im weiteren Sinne des Wortes. (§§ 89, 90) A. Rechtspolitik (§§ 91, 92) 1. Das Privatrecht (§ 93 bis § 96)

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Absolutes oder Urrecht (§§ 97, 98) Die erworbenen oder hypothetischen Rechte (§ 99 bis § 101) a. Das Sachenrecht (§ 102 bis § 110) Der Besitz (§ 111) Der Gebrauch (§ 112) Das Eigentum (§ 113 bis § 117) 1. Die Occupation (§ 118) 2. Die Verjährung (§ 119) 3. Die Erbfolge (§ 120) 4. Das Obligationsrecht (§ 121 bis § 127) 1. Einteilung der Verträge aus dem Gesichtspunkte der obligatorischen Gegenseitigkeit (§ 128) 2. aus dem Gesichtspunkte der Beschaffenheit der Leistung (§ 129) Leihevertrag Dienstvertrag Der Gesellschaftsvertrag (§ 130) Familie (§ 136) α Ehe (§ 140) β Erziehung (§ 149) 2. Criminalrecht oder das Strafrecht (§§ 155, 156) Das Unrecht (§ 157 bis § 161) Das Verbrechen (§ 162 bis § 164) Die Strafe (§ 165 bis § 174) 1. Androhungstheorie 2. Abschreckungstheorie 3. Preventionstheorie 4. Besserungstheorie 5. Wiederverletzungstheorie 3. Die Rechtspflege (§ 175 bis § 182) Organisation der Gerichte Prozeßordnung

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Einleitung

B) Wohlstandspolitik (§ 183 bis § 202) a. Nationalökonomie i. e. S. α Das Vermögen β. Die Arbeit oder Produktion γ. Verbrauch oder Consumtion b. Finanzwissenschaften C) Culturpolitik (§ 203 bis § 206) Vierter Abschnitt: Der Staat und die Kirche oder allgemeines philosophisches Kirchenrecht (§ 207 bis § 219) 1. Die Kirche als solche (§ 209 bis § 214) 2. Die Kirche in ihrem Verhältnis zum Staat (§ 215 bis § 218) 3. Das Verhältniß der Kirche zu den Staatsmitgliedern (§ 219)

[Dritter] Theil: Vom Völkerrecht (§ 220 bis § 235) a. Das Volk (§ 227) b. Das Staatensystem (§ 228 bis § 232) c. Der Kosmopolitismus (§ 233 bis § 235) 4.2  Überlieferung der Nachschrift Die Nachschrift befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Gießen. Die Handschrift wurde mit zehn weiteren Nachschriften zu Vorträgen Gießener Professoren der Universitätsbibliothek Gießen im Jahr 1938 in Form einer Schenkung von der Stadtbibliothek Worms überlassen – die Hillebrand-Nachschrift befand sich also bis 1938 in Worms. Wann die Schrift wiederum in die Stadtbibliothek Worms gelangte und welchen Weg sie dorthin genommen hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Es liegen keine Informationen über private oder institutionelle Vorbesitzer der Schrift aus der Zeit ›vor Worms‹ vor. Die Nachschrift umfasst 174 handschriftlich verfasste Seiten; es ist kein Deckblatt zur Schrift überliefert. Dieses muss es einstmals gegeben haben. Ausschlaggebend für diese Annahme sind

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die zur Nachschrift mitgelieferten, im Bibliothekskatalog der UB Gießen (im sog. Adrian-Katalog69) verzeichneten Informatio­ nen zur Nachschrift, der Katalogeintrag lautet: 899/100. Papierhandschrift 19. Jh. 174 S.  4°. Philosophische Rechtslehre u. allgemeine Politik. Vorgetragen von Prof. Hillebrand. Gießen. Geschenk von der Stadtbibliothek Worms. Jan. 1938.70

Die Angaben »Philosophische Rechtslehre u. allgemeine Poli­ tik. Vorgetragen von Prof. Hillebrand. Gießen« entsprechen in der Art der übermittelten Informationen (Titel der Nachschrift, Name des Vortragenden, Ortsangabe) derjenigen Form, in der gleichfalls eine Reihe weiterer Deckblätter von Nachschriften überliefert sind. Der Umstand, dass der Gießener Bibliotheks­ katalog über genau diese Angaben verfügt, zeigt, dass entweder das Deckblatt selbst oder die auf ihm verzeichneten Informationen in anderer Form mit der Nachschrift 1938 nach Gießen gelangt sind. Dass das Deckblatt – sofern es mit nach Gießen übermittelt wurde – heute nicht mehr vorliegt, könnte auf seinen Verlust im Zweiten Weltkrieg hindeuten. Durch einen Bombenangriff im Dezember 1944 wurde die UB Gießen und mit ihr über 90% der Bestände zerstört. Durch das verheerende Ereignis wurden nicht nur Buch- und Handschriftenbestände der Bibliothek, sondern auch sämtliche Unterlagen, die den Schenkungsvorgang der Nachschriften (Korrespondenzen und Einträge in Zugangsbüchern der UB Gießen) belegen könnten, vernichtet. Auch die Stadtbibliothek Worms hat heute keine Dokumente mehr über die Schenkung der Nachschriften nach Gießen. Der Grund dafür, dass die Nachschrift nach Gießen kam, liegt im Sammlungsinteresse der UB Gießen, denn die Bibliothek ver69  [Johann Valentin Adrian:] Katalog der Nachträge zum Gießener

Handschriftenkatalog von Adrian (1840) 1840–1952 und der Anmerkungen zu den Handschriften 1840–1975. Gießen 1976. 70  Universitätsbibliothek Gießen, Signatur Hs 899/100.

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Einleitung

fügt über eine Reihe von Nachschriften zu Vorlesungen Joseph Hillebrands. Heute lagern außer der Nachschrift »Philosophische Rechtslehre u. allgemeine Politik« folgende Nachschriften von Vorlesungen Hillebrands in der UB Gießen (in chronologischer Reihenfolge):  – Naturrecht, vorgetragen von H. Professor Hillebrand nachgeschrieben von C. Mylius Stud. jur. im Wintersemester 1822/23.  – Aesthetik nebst einer historisch-kritischen Übersicht der schönen Literatur Deutschlands nach dem Vortrage d. Herrn Professor Dr.  Hillebrand nachgeschrieben von G.  Wilhelm Eckhard im Wintersemester 1822/23.  – Logik und Metaphysik verbunden mit einer Universal-Enzyklopädie der Wissenschaften, nach dem Vortrage des Herrn Professors Dr. Hillebrand, nachgeschrieben von G. Wilhelm Eckhard, im Wintersemester 1822/23.  – Ästhetik. Vorgetragen von Professor und Pädagogiarchen Herrn Dr. Hillebrand. Giessen. Im Winterhalbjahr v. 1830–1831.  – Geschichte der schönen Literatur Deutschlands, mit allgemein-ästhetischen Erörterungen, vorgetragen von dem Pädagogiarchen und Professor Dr. Hillebrand. Nachgeschrieben von K. Weigand. Giessen. Im Winterhalbjahr von 1831–1832.  – Geschichte der schönen Literatur Deutschlands mit allgemein-ästhetischen Erörterungen, vorgetragen von dem Päd­ ago­giarchen Prof. Dr. Hillebrand, nachgeschrieben von Ferdi­ nand Schmidt, Stud. med. Giessen im Sommerhalbjahr 1837.   – Logik und Psychologie vorgetragen von Dr.  Hillebrand Gr.  Hess. Oberstudienrath und Professor der Philosophie nachgeschrieben von H. R. Kolb Stud. theol. Wintersemester 1838/39.  – Geschichte der Philosophie. Vorgetragen v. Pr. Dr. Hillebrand. Nachgeschrieben v. R. Dietz. 1839/40.

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4.3  Titel der Nachschrift oder Titel der Vorlesung Die Nachschreiber der aufgeführten Vorlesungsnachschriften stellen ihren Nachschriften Deckblätter voran und notieren hier bestimmte Angaben zum nachgeschriebenen Vortrag. Bei der ersten Nachschrift scheint die Datierung des Nachschreibers Mylius nicht zuzutreffen, denn eine entsprechende Vorlesung fand im angegebenen Zeitraum des Wintersemesters 1822/23 nicht statt; erst ein Jahr später, im Wintersemester 1823/24, hielt Joseph Hillebrand einen Vortrag über ›Naturrecht‹. Der Nachschreiber Ferdinand Schmidt verfasste seine Nachschrift vermutlich nicht in jenem Semester, dem Wintersemester 1836/37, in dem die Vorlesung zur »Literatur« stattfand, sondern erst im darauffolgenden Sommersemester 1837 – er datierte seine Nachschrift mit »Sommer 1837«. Die Angaben, die die Nachschreiber auf ihren Deckblättern machten, scheinen dem Betrachter aus heutiger Sicht zu schwanken zwischen ›fehlerhaft‹ und ›präzise‹: Einmal findet sich eine falsche Datierung, oder der Text ist nicht in zeitlicher Nähe zur Vorlesung entstanden. Ein anderes Mal stimmen die Angaben auf den Deckblättern genau mit denen zur Vorlesung überein. Vergleichbare Ungenauigkeit und Präzision können auch für die Titel, die die Nachschreiber ihren Nachschriften gaben, angenommen werden: Bisweilen führen sie exakt den Titel der Vorlesung auf, so wie er im Vorlesungsverzeichnis steht. Manches Mal hingegen übernehmen sie nicht den Vorlesungstitel: Die Nachschrift »Logik und Psychologie« von Kolb aus dem Wintersemester 1838/39 beinhaltet bspw. zwei Nachschriften, für die der Nachschreiber nur ein Deckblatt und nur einen Titel verfasst hat. Der Nachschreiber Rudolph Dietz scheint seinen Nachschriftentitel »Geschichte der Philosophie« gegenüber dem Vorlesungstitel zu kürzen um die Passage »in ihren hauptsächlichsten Entwicklungsepochen«. Der Vergleich der in den Vorlesungsverzeichnissen genannten Vorlesungstitel mit den Titeln der Nachschriften zeigt, dass die

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Einleitung

Nachschreiber nicht immer den exakten und vollständigen Vorlesungstitel in ihre Nachschrift übernehmen bzw. diese teilweise oder ganz modifizieren. Sie verzeichnen mit ihren Nachschriften häufig eher das Thema denn den Titel der Vorlesung. Dieser Umstand kann auch für die Nachschrift »Philosophische Rechtslehre u. allgemeine Politik« angenommen werden: Der Schreiber dokumentiert im Großen und Ganzen das Thema, aber nicht den Titel der Vorlesung Naturrecht und allgemeine Politik. Dabei spricht eine Reihe von Indizien dafür, dass die vor­ liegende Nachschrift eine solche aus dem Sommer­semester 1834 ist: 1. Hillebrand hat in den 1830er Jahren in jedem Sommersemester diese Vorlesung über politische Theorie gehalten, sie allerdings häufig mit wechselnden Titeln versehen; so liest er im Sommersemester 1833 über Natur- und philosophisches Staatsrecht, im Sommersemester 1835 über Naturrecht und Politik. 2. Nur im Sommersemester 1830, im Sommersemester 1832 und im Sommersemester 1834 trägt die Vorlesung des Titel Naturrecht und allgemeine Politik, so wie die hier edierte. 3. Die Vorlesung von 1830 kann dem hier vorliegenden Variant nicht zugrunde gelegen haben, weil in den Literaturangaben zum historischen Teil das Naturrecht Clemens August von Droste-Hülshoffs angeführt wird, das erst 1831 erschien.71 4. Im Text der Nachschrift wird von Droste-Hülshoffs Publikation in ihrer 2. Auflage aus das Jahr 1832 genannt, so dass auch die Vorlesung aus jenem Sommersemester kaum der hier vorliegenden Nachschrift zugrunde gelegen haben kann. 5. Der Verweis auf die nicht »selbstfreie Selbsterhaltung« Belgiens bzw. dessen ›aufgedrungener‹ Monarchie72 weisen auf ein Datum nach 1830 hin. 71  Clemens August von Droste-Hülshoff: Lehrbuch des Naturrechts

oder der Rechtsphilosophie. Bonn 21831. 72  Vgl. diesen Band, S.  105.

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6. Da Hillebrand dazu neigte, seine eigenen Schriften zum jeweiligen Thema in seinen Handbüchern und Vorlesungen zu zitieren, kann die hier edierte Nachschrift zudem kaum nach 1834 angefertigt worden sein, weil seine Philosophie des Geistes mit umfangreichen politisch-philosophischen Ausführungen erst ab 1835 erschien. 4.4  Status der Handschrift: Mitschrift oder Nachschrift? Bei der Handschrift »Philosophische Rechtslehre u. allgemeine Politik« handelt es sich um die Nachschrift einer Vorlesung. Sie wurde vermutlich auf der Grundlage von in den Kollegstunden angefertigten Mitschriften verfasst. Der Schreiber der Nachschrift weist eine besondere Schreibkompetenz nach: Er verwendet durchgehend eine Kurzschrift, die sich insgesamt durch systematisches Abkürzen von Wörtern, vor allem durch das Weglassen von Vokalen auszeichnet. Die Ausführung dieser Kurzschrift scheint höchste Konzentration vom Schreiber erfordert zu haben und setzt voraus, dass bereits schriftliche Aufzeichnungen (Kolleg-Mitschriften o. ä.) vorlagen. Eine solche Kurzschrift, wie sie der Schreiber der Nachschrift verwendet, empfiehlt 1826 Christian August Fischer in seiner Anleitung zum zweckmäßigen Hören und Nachschreiben der Akademischen als der höheren Gymnasial-Vorlesungen.73 Hier bezeichnet Fischer die Kurzschrift als »tachygraphische Methode« oder »Schnellschreibekunst«.74 Fischer sieht großen Nutzen in 73 Christian August Fischer: Ueber Collegien und Collegienhefte.

Oder erprobte Anleitung zum zweckmäßigen Hören und Nachschreiben sowohl der Akademischen als der höheren Gymnasial-Vorlesungen. Bonn 1826. Der Titel liegt sowohl als Exemplar wie als Digitalisat in der Bayerischen Staatsbibliothek München vor. 74  Ebd., S.  68  f.

XXXVI

Einleitung

ihr für schnelles Nachschreiben von Vorträgen verschiedener Art wie von bereits vorliegenden Texten. Aufgrund ihrer Ausführung in einer Kurzschrift dürfte es sich bei der Nachschrift »Philosophische Rechtslehre u. allgemeine Politik« nicht um die Form einer Reinschrift handeln. Eher war sie wohl dazu gedacht, eine größere Menge Vorlesungsstoff zwar inhaltlich exakt, aber ohne größeren Material­verbrauch an Papier und Tinte schnell aufzuzeichnen. Möglicherweise diente die Nachschrift als Grundlage für die spätere Anfertigung einer Reinschrift. 4.5  Georg Büchner und die Vorlesung Naturrecht und allgemeine Politik Georg Büchners Teilnahme an Joseph Hillebrands Vorlesung Natur­recht und allgemeine Politik ist – wie oben erwähnt – durch ein Dokument des Hochschullehrers belegt: Joseph Hillebrand bescheinigte Büchner den Besuch der Vorlesung im Sommer­semester 1834. Das Dokument befindet sich heute im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt (Signatur HStAD R 4 15386) und ist unter der Bezeichnung ›Hörerschein‹ bekannt. Zur Zeit seiner Ausstellung hat es für beide Seiten – für den Aussteller wie für den Empfänger – den Charakter eines universitären Zeugnisses. Die Vorlesung Naturrecht und allgemeine Politik fand im Sommersemester 1834 zweimal wöchentlich jeweils einstündig statt (Mittwoch und Samstag von 8–9 und 11–12 Uhr). Außer von Büchner ist von zwei weiteren Studenten die Teilnahme an der Vorlesung durch Verwaltungsakten der Universität (UA Gießen, Honorar-Zuhörer und Inskriptionslisten, Signatur Allg. 1291) belegt: Georg Christian Deichert und Karl Friedrich Helmrich. Die beiden Studenten der Theologie nahmen gleichfalls an der Vorlesung teil. Folgende Informationen konnten zu diesen Kommilitonen Büchners ermittelt werden:

Doreen Haring, Udo Roth, Gideon Stiening

XXXVII

Georg Christian Deichert (1814–1886) stammte aus Ulfa bei Schotten, damals Provinz Oberhessen. Er war der Sohn eines Schullehrers und besuchte von 1830 bis 1833 das Gymnasium in Büdingen.75 Seit dem 1. November 1833 war Georg Christian Deichert an der Landesuniversität Gießen immatrikuliert; die Immatrikulation wurde am 21. November 1835 erneuert.76 Deichert hatte in seinem ersten Semester in Gießen Logis bezogen bei Prof. Braubach. Während seiner nächsten beiden Semester, dem Sommersemester 1834 und dem Wintersemester 1834/35, wohnte er beim Schneider Hütter (Hüter). Nach der Unterbrechung seines Studiums während der Zeit des Sommersemesters 1835 fand Deichert zur Wiederaufnahme seiner Ausbildung in Gießen im Wintersemester 1835/36 dort Unterkunft beim Kaufmann Goldmann, im Sommersemester 1836 beim Konditor Höpfner und im Wintersemester 1836/37 beim Schuhmacher A. Müller.77 Vorlesungs- und Honorarlisten der Universität Gießen78 dokumentieren, dass Deichert während des Wintersemesters 1833/34, des Sommersemesters 1834, des Wintersemesters 1834/35, des Wintersemesters 1835/36, des Sommersemesters 1836 und des Wintersemesters 1836/37 an insgesamt 14 Vorlesungen teilnahm. Im Anschluss an sein Studium 1837 kam Deichert »ans Prediger-Seminar« und nach Anstellungen als Hauslehrer trat er die »Pfarrvikarstelle in Angersbach bei Lauterbach« an. 1841 wurde er Pfarrer in Grüningen bei Lich und 75  Erich Schwärzel: Durch sie wurden wir. Biographie der Großmeis-

ter und Förderer der Bienenzucht im deutschsprachigen Raum. Gießen 1985, S.  43  f. 76  Franz Kössler: Register zu den Matrikeln und Inscriptionsbüchern der Universität Gießen Wintersemester 1807/08–Wintersemester 1850. Gießen 1976, S.  30. 77  Verzeichnisse der Studierenden der Großherzoglich Hessischen Ludewigs-Universität zu Giessen; vgl. Wintersemester 1833/34, Sommersemester 1834, Wintersemester 1834/35, Wintersemester 1835/36, Sommersemester 1836 u. Wintersemester 1836/37. 78  Universitätsarchiv Gießen, Signatur Allg. 1291.

XXXVIII

Einleitung

»heiratete die Tochter« seines Amtsvorgängers;79 er starb am 10. Januar 1886 in Merlau.80 Wie Georg Christian Deichert war auch Karl Friedrich Helmrich seit dem Wintersemester 1833/34 in Gießen als Student der Theologie immatrikuliert. Auch Helmrichs Immatrikulation wurde 1835 erneuert – bei ihm am 20. Mai 1835.81 Hinsichtlich seines Heimatortes sind Worms und Hillesheim (im Archivmaterial »Hillersheim«) genannt. Vermutlich ist der Ort Hillesheim in Rheinhessen, nicht Hillesheim in der Eifel gemeint, denn ersterer befindet sich in der Nähe von Worms. Karl Friedrich Helmrich stammte aus einem Pfarrershaushalt. Sein Vater, der Pfarrer Helmrich, war zum Zeitpunkt, als der Sohn die Gießener Universität bezog, bereits verstorben.82 Während seiner Studienzeit in Gießen wohnte Karl Friedrich Helmrich zunächst beim Advo­ katen Rumpf und ab dem Sommersemester 1834 bis zu seinem Abgang von der Universität beim Kappenmacher Christian Lippmann.83 Über Helmrichs weiteren Lebenslauf nach Beendigung seines Studiums liegen keine Informationen vor. Großen Dank für ihre Unterstützung bei der Beschaffung der Nachschrift und allen weiteren historischen Quellenmaterials möchten die Herausgeber Herrn Dr. Olaf Schneider von der Universitätsbibliothek Gießen und Frau Eva-Marie Felschow sowie Herrn Lutz Trautmann aus dem Universitätsarchiv Gießen aussprechen.

79  Schwärzel: Durch sie wurden wir (s. Anm.  73), S.  44. 80 Ebd. 81  Kössler: Register zu den Matrikeln und Inscriptionsbüchern der

Universität Gießen (s. Anm.  74), S.  73. 82 Ebd. 83  Verzeichnisse der Studierenden der Großherzoglich Hessischen Ludewigs-Universität zu Giessen; vgl. Wintersemester 1833/34 bis Sommersemester 1836.

Joseph Hillebrand (Lithographie von Valentin Schertle, um 1830/40). In: Hans Ulrich Schreiber: Joseph Hillebrand. Sein Leben und Werk. Gießen 1937, S. 2.

Z U DI E S E R AU S G A B E

Die Vorlesungsnachschrift wird in Emendation vorgelegt, alle Abbreviaturen und Ligaturen wurden aufgelöst. Der Original­ lautstand wurde beibehalten, die Interpunktion, wo notwendig, angeglichen. Die Randergänzungen wurden, soweit nachvollziehbar, in den Fließtext integriert. Vereinheitlicht wurden einzig bestimmte Zählungen, z. B. ›zweyfach‹ statt »2fach«. Schriftarten und diakritische Zeichen Antiqua Serifenlose Kursive [Antiqua] [Antiqua]

zeitgenössische Kurrentschrift im Original zeitgenössische Antiqua im Original Unterstreichungen im Original Hinzufügungen  /  Ergänzungen am Rand Eingriffe der Herausgeber Siglen

AA

Kant’s gesammelte Schriften. Hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900  ff. (AA Band, Seitenzahl) Hegel RPh Grundlinien der Philosophie des Rechts. Auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammelten Werken Band  14 hg. von Klaus Grotsch. Hamburg 2009 (Hegel RPh § bzw. Seitenzahl)

L I T E R AT U RV E R Z E IC H N I S

Joseph Hillebrand 1. Dichtung Germanikus. Roman. 2 Bde. Frankfurt  /  M. 1817. Eugenius Severus: oder einige Stationen aus der Lebensreise eines Philosophen. 2 Bde. Leipzig 1819. Paradies und Welt oder Liebe und Schicksal. Ein Roman. 2 Bde. Mainz 1822.

2.  Philosophie und Wissenschaft 2.1 Monographien

Versuch einer allgemeinen Bildungslehre, wissenschaftliche dargestellt aus dem Principe der Weisheit. Braunschweig 1816. Ueber die Einheit der Zeit und den Zusammenhang der Ereignisse in derselben. Eine Rede zur Eröffnung der Vorlesung über Deutschlands Nationalität und Nationalbildung. Heidelberg 1817. Ueber Deutschlands Nationalbildung. Frankfurt  /  M. 1818. Deutschland und Rom, oder über das Verhältniß der deutschen Nation zum römischen Stuhle, historisch und rechtlich entwickelt. Frankfurt  /  M. 1818. Propädeutik der Philosophie. 2 Bde. [Bd.  1: Encyklopädie der Philosophie, Bd.  2: Geschichte und Methodologie der Philosophie]. Heidelberg 1819. Grundriß der Logik und philosophischen Vorkenntnislehre zum Gebrauch bei Vorlesungen. Heidelberg 1820. Anthropologie als Wissenschaft. 3 Bde. Mainz 1822/23. Lehrbuch der theoretischen Philosophie und philosophischen Propädeutik, zum Gebrauche bei akademischen Vorlesungen. Mainz 1826.

XLII

Literaturverzeichnis

Lehrbuch der Litterar-Aesthetic oder Theorie und Geschichte der schönen Litteratur mit besonderer Berücksichtigung der deutschen. Zum Selbststudium und Gebrauch bei Vorträgen. 2  Bde. Mainz 1827. Aesthetica Literaria antiqua classica sive Antiquorum Scriptorum cum Graecorum tum Latinorum de Arte Literaria praecepta et placita. Mainz 1828. Universal-philosophische Prolegomena oder encyclopädische Grundzüge der gesammten Philosophie. Mainz 1830. Philosophie des Geistes oder Encyclopädie der gesammten Geisteslehre. 2 Bde. Heidelberg 1835/36. Der Organismus als philosophische Idee. In wissenschaftlicher und geschichtlicher Hinsicht. Dresden, Leipzig 1842. Die deutsche Nationalliteratur seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, besonders seit Lessing, bis auf die Gegenwart, historisch und ästhetisch-kritisch dargestellt. 3 Bde. Hamburg, Gotha 1845–1846; 21850; 31875.

2.2  Aufsätze und Beiträge

Was ist Deutschheit? Ueber den Genius der deutschen Nation. In: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen No. 1, 3. Januar 1814, Sp. 1–7; No. 2, 4. Januar 1814, S.  9–13. Ueber die Kupferblätter zu Goethen’s Faust gezeichnet von P. Cornelius. In: Zeitung für die elegante Welt, 30. Juni 1817 (Nr. 125). Selbstanzeige zum Grundriß der Logik und philosophischen Vorkenntnißlehre. In: Heidelberger Jahrbücher der Litteratur 27 (1820), S.  417–420. Selbstanzeige zur Anthropologie als Wissenschaft. In: Heidelberger Jahrbücher der Litteratur 39.1 (1822), S.  611–614. An die Wähler für die konstituierende Nationalversammlung in Oberhessen. Flugblatt. Darmstadt 19. April 1848.

Literaturverzeichnis

XLIII

Archivalien Hessisches Staatsarchiv Darmstadt. Hörerschein Georg Büchner. Signa­tur HStAD R4 15386. Universitätsarchiv Gießen. Honorar-Zuhörer- und Inskriptionslisten. Signatur Allg. 1291. Universitätsbibliothek Gießen. Philosophische Rechtslehre und allgemeine Politik. Vorgetragen von Prof. Hillebrand Gießen. Signa­ tur Hs 617c.

Sekundärliteratur Anonymus: Nachruf auf Joseph Hillebrand. In: Allgemeine Zeitung. Beilage Nr. 46, 15. Februar 1871, S. 771f. Beißner, Friedrich: Erinnerungen an Joseph Hillebrand. In: Gießener Hochschulgesellschaft: Nachrichten der Gießener Hochschul­ gesellschaft 12 (1938), S.  15–20. Cohn, Jonas: Karl Hillebrand. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 1 (1910/11), S. 159–160. Engelsing, Rolf: Arbeit, Zeit und Werk im literarischen Beruf. Göttingen 1976. Fritzsche, Robert Arnold: Joseph Hillebrand. In: Ludoviciana (1907), S.  75–76. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817/18) und Homeyer (Berlin 1818/19). Hg., eingeleitet und erläutert von Karl-Heinz Ilting. Stuttgart 1983. Joost, Ulrich: Vorlesungsmanuskript und Vorlesungsnachschrift als editorisches Problem, und etwas von Lichtenbergs Vorlesungen. In: Robert Seidel (Hg.): Wissen und Wissensvermittlung im 18.  Jahrhundert. Beiträge zur Sozialgeschichte der Naturwissenschaften zur Zeit der Aufklärung. Heidelberg 2001, S. 33–70. Klippel, Diethelm: Naturrecht und Rechtsphilosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Diethelm Klippel, Otto Dann: Naturrecht ‒ Spätaufklärung ‒ Revolution. Hamburg 1995, S.  270–292.

XLI V

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ders.: Naturrecht und Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Eine Bibliographie. 1780 bis 1850. Tübingen 2012. Mauser, Wolfram: Art. Joseph Hillebrand. In Killy Literaturlexikon – Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Berlin 2008. Bd.  5 Har–Hug, S.  427  f. Nicolin, Friedhelm: Hegel als Professor in Heidelberg. Aus den Akten der philosophischen Fakultät 1816–18. In: Hegel-Studien 2 (1963), S.  69–98. Noack, Ludwig: Art. Hillebrand, Joseph. In: Ders.: Historisch-biographisches Handwörterbuch zur Geschichte der Philosophie. Leipzig 1879, S.  384–386. Prantl, Carl von: Art. Hillebrand, Joseph. In: ADB 12 (1880), S.  415– 417. Richter, Sandra: A History of Poetics. German Scholary Aesthetics and Poetics in International Context 1770–1960. Berlin, New York 2010, S.  72–76. Roth, Udo: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004. Schreiber, Hans Ulrich: Joseph Hillebrand. Sein Leben und Werk. Gießen 1937. Schröder, Jan; Pielemeier, Ines: Naturrecht als Lehrfach an den deutschen Universitäten des 18. und 19.  Jahrhunderts. In: Diethelm Klippel, Otto Dann: Naturrecht ‒ Spätaufklärung ‒ Revolution. Hamburg 1995, S. 255–269. Stiening, Gideon: Literatur und Wissen im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin, Boston 2019. Uhde-Bernays, Hermann: Nachwort. Joseph und Karl Hillebrand: ­Vater und Sohn. In: Karl Hillebrand: Unbekannte Essays. Hg. von Hermann Uhde-Bernays. Bern 1955, S.  283–396. Vogt, Carl: Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. Hg. von Eva-Marie Felschow u. a. Gießen 1997. Weimar, Klaus: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2003.

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Zimmermann, Erich: Zwei neue Büchner-Dokumente. In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde. Neue Folge. 38 (1980), S. 381–384. ders.: Ein Mann, auf den Büchner hörte. Prof. Joseph Hillebrand, als Gießener Lehrer des Dramatikers wiederentdeckt. In: Darmstädter Echo, 8. Februar 1981, S.  17.

Forschungsliteratur zu »Nachschrift«, »Universität Gießen«, »Akademischer Lehrvortrag« [Johann Valentin Adrian:] Katalog der Nachträge zum Gießener Handschriftenkatalog von Adrian (1840) 1840–1952 und der Anmerkungen zu den Handschriften 1840–1975. Gießen 1976. Apel, Hans Jürgen: Die Vorlesung. Einführung in eine akademische Lehrform. Köln u. a. 1999. Baumgarten, Marita: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler. Göttingen 1997. Bohr, Jörn: Aufführungstexte der Philosophie: Vortrag und Vorlesung. Versuch über die Philosophie der philosophischen Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta (Hg.): Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 32 (2018), S.  39–52. ders.: Kolleghefte, Kollegnachschriften und Protokolle. Pro­bleme und Aufgaben der philosophischen Edition. Beihefte zu Editio. Berlin u. a. 2019. Deichert, Georg Christian: Evangelien-Predigten über die von Dr.  C[arl]. I[mmanuel]. Nitzsch proponirten und von der Rheinischen Provinzialsynode genehmigten, vielfach als Predigttexte benutzten biblischen Vorlesungen. Bd.  1. 1857. Fichte, Johann Gottlieb: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99. Hg. sowie mit Einl. und Anm. versehen von Erich Fuchs. Hamburg 21994. Fischer, Christian August: Ueber Collegien und Collegienhefte. Oder erprobte Anleitung zum zweckmäßigen Hören und Nachschreiben

XLVI

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sowohl der Akademischen als der höheren Gymnasial-Vorlesungen. Bonn 1826. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift. Hg. von Dieter Henrich. Frankfurt  /  M. 1983. ders.: Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Heidelberg 1817. Mitgeschrieben von F. A. Good. Hg. von Karen Gloy unter Mitarbeit von Manuel Bachmann, Reinhard Heckmann und Rainer Lambrecht. Hamburg 1992. Humboldt, Alexander von, Henriette Kohlrausch: Die Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie. Hg. von Christian Kassung und Christian Thomas. Berlin 2019. Jackstel, Rosemarie, Karlheinz Jackstel: Die Vorlesung – akademische Lehrform und Rede. Berlin 1985. Jaeschke, Walter: Gesprochenes und durch schriftliche Überlieferung gebrochenes Wort. Zur Methodik der Vorlesungsedition. In: Siegfried Scheibe, Christel Laufer (Hg.): Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Berlin 1991, S.  157–168. ders.: Manuskript und Nachschrift. Überlegungen zu ihrer Edition an Hand von Hegels und Schleiermachers Vorlesungen. In: Martin Stern (Hg.): Textkonstitution bei mündlicher und bei schriftlicher Überlieferung. Basler-Editoren Kolloquium 19.–22.  März 1990, ­autor- und werkbezogene Referate. Tübingen 1991, S.  82–89. Kössler, Franz: Register zu den Matrikeln und Inscriptionsbüchern der Universität Gießen WS 1807/08–WS 1850. Gießen 1976. Moraw, Peter: Kleine Geschichte der Universität Gießen, 1607–1982. Gießen 1982. Müller, Hanno: Großen-Busecker Familienbuch. Fernwald-Steinbach 1993. Paulsen, Friedrich: Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium. Berlin u. a. 1902.

J O S E PH H I L L E B R A N D

Naturrecht und allgemeine Politik Vorlesung im Sommersemester 1834

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EIN LEITU NG.

§ 1  Das Naturrecht1 im weitern Sinne des Wortes ist die philosophische Theorie des politischen rechtlichen Zustandes der Menschen, und hat zwei Seiten, nemlich das Naturrecht im ­engern Sinne als Philosophie des absoluten Rechts und die allgemeine Politik2 als Philosophie des Staates an und für sich. § 2  Da das absolute Recht wie der absolute Staat nur auf dem Wege des reinen Vernunftdenkens entwickelt und bestimmt werden kann, so ist das sogenannte Naturrecht auch als Vernunftrecht zu bezeichnen. § 3  Der Charakter und die Methode des Naturrechts aus dem Standpunkte der philosophischen Theorie muß wesentlich spekulativ seyn,3 d. h. die Betrachtung des Rechts und des Staates muß aus dem Standpunkte freier objektiver Untersuchung des reinen Begriffes von Recht und Staat vorgenommen werden. Daher ergibt sich: erstens daß das Naturrecht keine blos formelle Abstraktion des verständigen Denkens seyn dürfe, obwohl der absolute Staat wie das absolute Recht immer abstrakt gefaßt werden müssen, d. h. abgesehen von einer besonderen bestimmten Wirklichkeit. Das Naturrecht kann eben sowenig eine empirische historische Abstraktion sein, d. h. es darf nicht blos die Resultate der geschichtlichen Entwickelung des Rechts im Staat | als die allgemeinen Prinzipien für Recht und Staat aufstellen wollen. Ebenso wenig kann endlich das Naturrecht eine so genannte Philosophie des positiven Rechts seyn, vielmehr setzt eine Philosophie des positiven Rechts das eigentliche philosophische Wort unrecht bereits voraus und ist eigentlich nur eine Anwendung der Prinzipien des letzteren auf gegebene positive Rechtsinstitutionen. § 4  Eine nähere Betrachtung fordert das Verhältniß des Naturrechts zur Moral. Zunächst sind beide Wissenschaften darin verwandt, daß sie das Praktische des menschlichen Lebens betref-

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fen; ebenso darin, daß sie beide ein und dasselbe subjective Prinzip ihres Gehaltes haben. Verschieden aber sind sie wesentlich darin, daß die Moral das praktische Leben überhaupt zu ihrem Gegenstande hat, während das Naturrecht nur das rein social-­ praktische Leben nach seinen Ideen darzustellen hat. Außer­dem ist darin ein wesentlicher Unterschied zu finden, daß die Moral sich zunächst auf die subjective Persönlichkeit und Freiheit des Menschen bezieht, während das Naturrecht eigentlich die objektive Freiheit des Menschen zu ihrem Vorwurfe zu machen hat. Beydes, das moralische und das rechtliche wie politische Element, können daher nie mit einander in realem Widerspruche stehen, obwohl sie keinesweges beyde nach denselben Prinzipien zu bestimmen und zu vollziehen sind. Man kann nun das Naturrecht in seinem weitern Sinne in drey Theile unterscheiden, | wovon der erste das Recht schlechthin, für sich, der Zweite den Staat, der dritte das Verhältniß der Staaten darzustellen hat. Den ersten Theil kann man die juridische Theologie4 nennen, den zweiten Theil die allgemeine Politik, den dritten Theil das Völkerrecht.5 § 5  Was den Nutzen oder den Zweck des Naturrechts betrifft, so kann man unterscheiden zwischen einem reinen Selbstzwecke und einem relativen. Der erstere ist der eigentliche wissenschaftliche Zweck und besteht in der unbedingten Entwickelung des Begriffes von Recht und Staat an und für sich, der relative Zweck aber oder der sogenannte Nutzen besteht in der möglichen Anwendung der philosophischen wissenschaftlichen Resultate auf mehrere der Wissenschaft mehr oder weniger äußerliche Zwecke. Der relative Zweck oder der Nutzen des Naturrechts offenbart sich nun zunächst: a)  in juridisch legislativer Hinsicht und zwar in so fern als die positive Gesetzgebung ihre allgemeinen leitenden Prinzipien aus dem Naturrecht herzunehmen hat und dadurch gegen das zufällige des blos historischen gesichert wird. b)  in juridisch-wissenschaftlicher Hinsicht. Hier offenbart der Nutzen des Naturrechts sich hauptsächlich darin, daß dadurch ein freies Auffassen der positiven Bestimmungen vermit-

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Einleitung

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telt wird, ferner dadurch, daß ein eigentlich wissenschaftliches Erkennen der positiven Jurisprudenz möglich wird, | hiermit auch die Möglichkeit sich gibt, aus einer gegebenen positiven Juris­prudenz die Prinzipien, nach welchen sie sich gestaltet hat zu begreifen. c) in juridisch-praktischer Hinsicht hat das Naturrecht den doppelten Vortheil, daß es das richterliche Urtheil, überhaupt die Anwendung des Gesetzes vor einseitiger Beschränkung sichert, dann daß es in manchen Fällen wirklich subsidiarisch6 seyn kann, d. h. das mangelhafte positive Gesetz einigermaßen ersetzen kann. d) in politischer Hinsicht, d. h. in Absicht auf Anordnung und Bestimmung des Staates. Hier hat das Naturrecht zunächst die wichtige Bedeutung, daß es die Prinzipien der politischen Freiheit enthält. Ferner ist die Philosophie des Rechts und des Staates die hauptsächliche Grundlage der äußerlichen Politik oder des sogenannten Völkerrechts. Denn dieses läßt eigentlich gar keine entschiedene positive Bestimmung zu und muß daher auf die allgemeinen Vernunftgrundsätze der allgemeinen Social-Existenz zurückgeführt werden. e) in humaner Hinsicht, d. h. in Absicht auf die Förderung des Menschlichen an und für sich. Hier offenbart sich der Nutzen der philosophischen Politik der Rechts | lehre hauptsächlich darin, daß diese einmal die moralische Auffassung der politischrechtlichen Existenz vermittelt, dann aber auch die Ueberzeugung hervorbringt, daß das politische Leben eine nothwendige Forderung des menschlichen Lebens an und für sich sey. Durch beydes aber wird die eigentliche Bildung des Menschlichen seiner selbst wegen gefördert. § 6  Die Hülfsmittel für möglichst allseitige Construction ­eines wissenschaftlichen Naturrechts sind hauptsächlich zweifacher Art: 1.  Anthropologischer Art, d. h. solche, welche aus der philosophischen und empirischen Betrachtung der menschlichen Natur entnommen werden.

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2. Die historischen Hülfsmittel bestehen in den Resultaten sowohl der Geschichte überhaupt, als auch vorzüglich der Rechtsgeschichte. In dieser letzteren bietet die Kenntniß der verschiedenen Rechtsgesetzgebungen vorzüglich die Veranlassung dar, die Prinzipien aller Rechtsgesetzgebung möglichst genau zu entwickeln und zu bestimmen. § 7  Historisch litterarische Bemerkungen. Staat und Recht beginnen mit der ersten Entwickelung des socialen Bewußtseyns; sie sind daher ihrem faktischen Anfang nach so alt als die sociale Existenz der Menschen selbst. So wie aber Staat und Recht nothwendige | Wahrheiten sind, so vollziehen sie sich auch nothwendig durch ihre eigenen Motive unter den Umständen und den Bestimmungen der Geschichte. Jene Vollziehung geschieht zuerst unmittelbar und ohne Selbstreflexion, daher Staat und Recht in ihrem ursprünglichen geschichtlichen Beginne meistens nur auf dem Gefühle ihrer Nothwendigkeit ruhen. In dieser ersten Form sind Gewohnheit und Sitte die Garantien und die gesetzlichen Bestimmungen für das politische Leben. Später erschließt sich das sociale Selbstbewußtseyn, womit sich der Anfang der politischen Selbstreflexion setzt. Die nothwendige Folge dieser letztern ist die Revision des bisherigen politischen und rechtlichen Zustandes und damit der absichtlichen und mittelbaren Anordnung der socialen Existenz. Sobald aber die politische rechtliche Wirklichkeit zu dieser Epoche ihrer selbstbewußten Bestimmung gelangt ist, sucht sich der Gedanke ihrer zu bemächtigen, nun den nothwendigen Begriff dafür zu gewinnen, hiermit entsteht die politische Wissenschaft oder die Philosophie des Staats und Rechts, also das sogenannte Naturrecht. Damit aber die philosophische Theorie des Rechts und Staats bey einem Volke entstehe, wird erfordert, daß in ihm überhaupt der Beruf zu philosophischen wissenschaftlichen Betrachtun-

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Einleitung

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gen des Wirklichen also zur Wissenschaft vorhanden sey. Dieses war im Alterthum, soweit die Geschichte der Wissenschaften führt, zuerst bey den Griechen der Fall.7 Mit ihnen beginnt daher ganz eigentlich die Geschichte des wissenschaftlichen Naturrechts und seiner Litteratur. Aber auch hier erst dann, nachdem die poli­tische Wirklichkeit sich möglichst national ausgebildet hatte und die Philosophie selbst zum Gipfel ihrer nationellen Vollendung gelangt war. | § 8  Es gibt in der griechischen Litteratur drey Perioden der politischen Wissenschaften a.  Die Vor-Sokratische Periode.

Diese charakterisirt sich in Absicht auf die politische Wissenschaft dadurch, daß in derselben die ersten Einleitungen zu der eigentlichen Philosophie des Rechts und des Staates gegeben wurden. Dieses geschah einerseits durch die empirischen praktischen Reflexionen der Gesetzgeber, namentlich des Solon über Staat und rechtliche Verbindung.8 Andererseits wurden aber schon wirkliche wissenschaftliche Grundgedanken über den Staat in die Spekulationen mehrerer Philosophen aufgenommen, die erste und wichtigste Bedeutung in dieser Hinsicht hat Pythagoras.9 Der Grundgeist seiner Philosophie war der ethische. Harmonische Vollendung des menschlichen Lebens, durch menschliche Freiheit, nach dem Muster der allgemeinen mathematischen Weltharmonie war die eigentliche substantielle Richtung der ganzen pythagoreischen Philosophie. Dabei waltete der Nationalgriechische Hauptgedanke vor, daß die eigentliche sittliche und gesammte Vollendung des Menschen nur im Organismus des Staates geschehen könne. Daher ergibt sich, wie die pythagoreische Philosophie zunächst praktisch vorzugsweise das Staatsleben begründen wollte, wie aber auch theoretische Grundideen über den Staat in den pythagoreischen Ideen-Traditionen vorkommen. Diese politischen Grundideen aber der Pythagoreer beschränken sich auf folgendes: die ganze Welt ist eine | bestimmte

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Ordnung, hervorgegangen aus einem denkenden Prinzip. Das Wesen dieser Ordnung beruht auf mathematischen Verhältnissen, welche das denkende Prinzip als solches nothwendig setzen mußte. Der Mensch mit seinem Geiste ist nur die congrete Darstellung des allgemeinen mathematisch denkenden Prinzips, daher muß er von sich aus in seinem Leben auch den allgemeinen Κοσμος oder eben die universelle mathematische Harmonie der Welt congret verwirklichen. Diese Verwirklichung construirt sich aber im Staate, welcher daher nur die Welt ist im Elemente menschlicher Freiheit. Neben den Pythagoreern verdienen in der Vorsokratischen Zeit noch die politischen Lehren der sogenannten Sophisten besondere Berücksichtigung.10 Wie sie in ihrer ganzen Philosophie skeptisch sensualistisch verfuhren, so auch in Absicht auf die Politik. Sie verwarfen daher alle eigentlich allgemein gültigen Vernunftgrundsätze über Recht und Staat und behaupteten dagegen, daß nur der Zufall, welcher entweder sich als Stärke oder als Klugheit darstellt, die rechtspolitische Ver­ bindung herstellt. | b.)  Die Sokratische Periode.

Ihr allgemeiner Charakter besteht darin, daß die Philosophie überhaupt und die politische im besondern materiell und formell sich aus dem griechischen Standpunkte vollendete. Dieses geschah einerseits dadurch, daß die Philosophie der Natur und des menschlichen Geistes, welche sich in der Vorsokratischen Zeit als zwey Extreme ausgebildet hatte, nunmehr zu einer inneren Einheit verbunden wurde. Andererseits geschah die Vollendung dadurch, daß in formeller Hinsicht die dialektische Methode der Eleaten11 und Sophisten auf die objektive Wahrheit des Gedankens angewendet wurde. In politisch-philosophischer Hinsicht zeichnet sich nun die sokratische Zeit vorzüglich dadurch aus, daß man auch Staat und Recht auf unwandelbare Vernunftprinzipien dialektisch zurückführen wollte. Es geschah dieses vorzüglich durch die beiden Hauptphilosophen, Plato und Aristoteles.

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Einleitung

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1. Plato. Seine politische Philosophie wurzelt in seiner metaphysischen Ansicht vom Wesen der Dinge überhaupt. Diese Ansicht spricht sich aber darin aus, daß ursprünglich nur die höchste allgemeine Vernunft sey oder das Göttliche. In dieser höchsten Vernunft, also im Göttlichen, liegen nach ihm aber ursprünglich oder von Ewigkeit her die Dinge gleichsam real eingeschlossen, | die Realität der Vernunft aber kann nur in Gedanken oder in Ideen bestehen. Daher fand er in der göttlichen Vernunft alles Reale in der Form von Ideen eingeschlossen. Die ganze Welt insofern sie wesenhaftes Seyn hat, ist also nur die objektive ­Construktion der göttlichen Vernunft oder die Vollziehung der göttlichen Idee. Daher ist auch in der Welt nur in so fern Bedeutung, als die göttlichen Grundideen des Wahren, Guten und Schönen darin wirklich sind. Der Menschliche Geist liegt ebenfalls als vorbildliche Idee ursprünglich in Gott. Er hat daher das Göttliche, was in der Welt unbewußt ist, in seinem Bewußtsein anzuerkennen und darzustellen. Wenn demnach der Mensch seinem Begriffe entsprechen will, muß er die göttlichen Ideen möglichst vollendet in seinem Leben darstellen. Dieses geschieht vorzugsweise durch die Philosophie oder durch den Geist, insofern er die göttlichen Ideen in sich und in der Welt findet. Diese Ansicht wandte Plato auch auf den Staat an. Platon betrachtet den Staat aus dem Standpunkte objectiv moralischer Vollendung des Menschen. Ebendaher unterordnete er das politische im Ganzen dem Moralischen. Der Staat sollte ihm gleichsam eine objektiv moralische Persönlichkeit seyn oder auch eine moralische Tugend. | Die Idee des Staates fand er demnach in der ursprünglichen reinen Vernunft des Menschen, insofern nun die Vernunft die Erinnerungsfähigkeit an das Göttliche ist, so lag ihm auch das Ideal des Staates in dem Göttlichen selbst, in welchem es die Vernunft mittelst der Erinnerung anschauen ist. Im Staate als in der objektiv-moralischen Darstellung des menschlichen sollen nun alle andern Ideen in organischer Einheit vollzogen werden, also das Wahre wie das Schöne insofern beyde Elemente des Einen Guten sind. In dem

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Staate gilt nun die einzelne Persönlichkeit als solche nur in so fern Etwas, als sie ein organisches Glied des Ganzen ist, daher muß das subjektiv-persönliche aus dem Standpunkte des Staates mehr oder weniger als unbedeutend betrachtet werden, weßhalb auch ein eigentliches Privatrecht nach platonischen Ideen nicht stattfindet.12 Die Elemente des Staates sind die Elemente der Sittlichkeit überhaupt, nemlich die Weisheit, die Tapferkeit, die Mäßigkeit und Gerechtigkeit. Hierauf gründete Plato die weitere besondere Organisation des Staats. Diese Organisation beruht ganz eigentlich auf dem Organismus der Stände, und dieser hat wiederum das Prinzip seiner | Gliederung in den vorhin genannten Cardinaltugenden des Staates oder in seinen moralischen Elementen. – Es gibt diesem gemäß drey Stände, wovon jeder eine Cardinaltugend darstellt, nämlich zunächst den regierenden Stand, als Repräsentation der Weisheit; dieser wird gebildet aus den eigentlichen Philosophen. Der nächste Stand ist der Kriegerstand, welcher die Cardinaltugend der Tapferkeit repräsentirt. Der dritte Stand soll nach Plato der Gewerbtreibende seyn und die Mäßigkeit repräsentiren im Staate. Die Cardinaltugend der Gerechtigkeit läßt Plato deßwegen nicht besonders repräsentirt werden und in den drey andern nothwendig bedingend enthalten seyn muß. Sie vollzieht sich daher in der richtigen Verbindung der drey vorhergehenden. Die Regierungsform soll nach Plato die aristokratische seyn, d. h. nur diejenigen sollen regieren, welche durch ihre ganze geistige persönliche Beschaffenheit als die Besten im Staate anzuerkennen sind, nach Maßgabe der Abstufung jener persönlichen Vortrefflichkeit soll auch die Abstufung in der Gliederung | des Staates bestimmt werden. Uebrigens kann die Regierungsform entweder eine monarchische oder demokratische seyn. [Unsere konstitutionellen Monarchien sind im platonischen Sinne wahre Aristokratieen.] Der Grund des Staates muß nach Plato aus einem zweyfachen Gesichtspunkte betrachtet werden, aus einem rein vernünftigen und aus einem blos historisch-äußerlichen. Aus dem ersteren Standpunkte betrachtet, folgt aus der platonischen Theorie, daß Plato den eigentlichen

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noth­wen­d igen Grund des Staates im Begriffe der Menschheit selbst fand, oder nach Plato ist der Staat so wesentlich nothwendig, als die Menschheit selber eine geistig-moralische Existenz haben soll. Nach dem historisch-äußerlichen Standpunkte aber findet er den Grund des Staates in den Bedürfnissen (χρεια). Als die allgemeinen Staatsmittel zur Förderung des allgemeinen Staatszwecks, welche die objektive ­Tugend ist, nimmt Platon hauptsächlich zwey an, nemlich die Erziehung und die Gesetzgebung. Jene solle nicht privat-Erziehung, sondern allgemeine öffentliche seyn. [Mangel unserer Zeit, doch keine Achtung des Familienlebens.]13 Außerdem lehrte Platon aus dem Standpunkte dieser objektiv Moralischen Bedeutung des Staates Gemeinschaft des Eigenthums14 und in | gewisser Hinsicht auch die Vernünftigkeit und Rechtmäßigkeit der Sklaverei. [Privateigenthum ist das beste Mittel des Patriotismus.] Was die Litteratur betrifft, so gehört hierher zunächst das platonische große Werk de re publica in 10 Büchern (περι πολιτείας); ferner sein Werk de legibus (περι νομον) in 4. Büchern15 [übersetzt von Schleiermacher].16 Im erstern stellt Platon das reine Vernunft-Ideal des Staates dar, im andern macht er den Versuch, jenes Ideal nach seiner möglichen Darstellung in einem wirklichen congreten Staate nachzuweisen. § 9  Aristoteles ging bey seiner allgemeinen Staatslehre mehr von dem empirisch-praktischen Standpunkt aus. Seine Theorie ist daher weniger speculativ als die platonische, aber dagegen mehr analytisch verständig, auch hängt sie mit seiner Metaphysik nicht so zusammen wie bey Plato dieses der Fall ist. Dem Aristoteles ist übrigens wie dem Plato der Staat eine objektive moralische Anstalt. Seine Aufgabe wird darin gesetzt, daß er die Vollziehung der ganzen Bestimmung des Menschlichen vermitteln soll. Diese Bestimmung des Menschen17 findet Aristoteles aber in der Glückseligkeit auf dem Grunde wahrhaft humaner Tüchtigkeit. Der Staat soll auch nach Aristoteles einen in sich zusammenhängenden Organismus bilden,18 aber nicht einen Organismus, der gleich von der | Allgemeinheit der Idee aus sich entwickelt, wie Platon will, sondern einen solchen, der aus dem

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allmählichen Zusammenwachsen besonderer kleinerer organischer Ganzheiten sich zusammenbildet. Diese kleineren Organismen sind nun 1)  die Ehe, 2)  die Familien, 3)  die Geschlechter und Gemeinden, 4) die Stämme. Der Grund des Staats liegt nach Aristoteles in der menschlichen Natur nothwendig und ursprünglich, so daß der Staat in dieser Hinsicht gleich nur ein Naturprodukt des menschlichen Begriffes ist. Was die Staatsform angeht, so läugnete Aristoteles, daß es eine Absolut-Beste gebe, vielmehr müsse sich die Staatsform nach der jedesmaligen wirklichen Ausbildung des Staats richten. Doch war er der Meinung, daß diejenige Form den übrigen vorzuziehen sey, wobey der bürgerliche Mittelstand19 das Uebergewicht hat, weil die Interessen dieses Standes, mit dem allgemeinen Staatsinteresse am vollständigsten zusammenfällt. Aristoteles lehrt nun ferner die Rechtmäßigkeit der Sklaverei, sucht dieselbe aber nicht wie Plato aus der idealen Bestimmung des Staates abzuleiten, sondern aus der Verschiedenheit der menschlichen Naturen selbst, indem er behauptet, daß es Menschen gäbe, welche durch ihre natürliche Persönlichkeit nothwendig Anderen von höherer Persönlichkeit un | tergeordnet seyn müßten,20 wie dieses dann aus den allgemeinen Gesetzen der Natur folgt. Aus dieser Ansicht von der natürlichen Unterordnung der Menschen entwickelt Aristoteles in Beziehung auf den Staat den bekannten Grundsatz, daß nur der Stärkere oder der Bessere herrschen solle. In der aristotelischen Lehre vom Staate findet man nun das Recht als solches schon mehr berücksichtigt als bey Plato. Er unterscheidet das Allgemeine Recht an und für sich und das Eigentlich juridische Recht;21 jenes ist ihm identisch mit dem moralischen, das andere oder das eigentliche Recht faßt er nicht abstrakt oder getrennt vom Staate auf, sondern leitet es aus dem Wesen und der Idee des Staates her. Daher nennt er es überhaupt das politisch-Rechtliche. Dieses unterscheidet er wiederum in das Allgemein politisch Rechtliche oder in das Naturrechtliche und in das Besondere- oder Positivrechtliche. Von den aristotelischen Schriften gehören hierher: seine 6 Bücher der Moral, überschrie-

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Einleitung

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ben ad Nicomachum Filium, dann seine Werke vom Staate (περι πολιτείας).22 c.)  Periode nach Aristoteles Mit Aristoteles hörte das eigentliche | freie griechische Nationalleben auf und dieses sowohl in politischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Was das politische betrifft, so war damals die griechische Republikanische Selbstständigkeit der macedonischen Monarchie untergeordnet worden23 und in wissenschaftlicher Hinsicht war an die Stelle der produktiven Geistesthätigkeit die Kritik und historische Gelehrsamkeit getreten. Auch hatte sich die eigentliche wissenschaftliche Cultur aus Griechenland hauptsächlich nach Alexandria hingewendet.24 Aus diesem erklärt sich, wie in der nacharistotelischen Periode die spekulative Theorie des Staates allmählig der Theorie des eigentlichen Privatrechts wich. Zunächst waren es die Stoiker, die zunächst die natürliche Privatrechtstheorie philosophisch darzustellen anfingen. Vorzüglich war es der gelehrte Stoiker Chrysippus,25 welcher die Theorie des natürlichen Rechts am vielseitigsten und entschiedensten ausbildete. § 10  Sowie die Römer in ihrer ganzen historischen Erscheinung einen entschiedenen Gegensatz mit den Griechen darstellen, so auch in Absicht auf die Theorie des Rechts und des Staats. Bey den Griechen war des Grundprinzip ihrer nationellen Entwickelung und Bildung die Idee des Menschlichen an und für sich, bey den Römern dagegen vorzugsweise der Begriff des Nützlichen. Wenn daher bey den | Griechen auch der Staat nur der Idee wegen, also auch des menschlich-sittlichen Werthes wegen, anerkannt und berücksichtigt wurde, so erschien er den Römern als eine Anstalt zur Verwirklichung besonderer Zwecke, namentlich der Zwecke, die in dem persönlichen Interesse gelegen sind. Auch der Römer achtete seinen Staat als solchen, jedoch wiederum blos aus einem untergeordneten Standpunkte, nemlich aus dem der nationalen Macht, während die Griechen den Staat rein aus dem Standpunkte seiner menschheitlichen Nothwendig-

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keit und Bedeutung auffaßten. Es ergiebt sich aus dem angedeuteten, wie bey den Römern den Griechen gegenüber kein eigentliches philosophisches Naturrecht sich ausbilden konnte, daß dagegen das Privatrecht bey ihnen die vollständigste und allseitigste Ausbildung gewinnen mochte. Uebrigens haben die Römer ihrem Privatrechte keineswegs allgemeine philosophische Prinzipien zum Grunde gelegt, vielmehr hat sich dieses Recht rein histo­risch positiv vom ersten Anfang bis zum Ende gebildet. Was in der römischen Rechtsgesetzgebung als philosophisches Moment erscheint,26 ist mehr eine äußerliche Farbe als innerliche | Wesenheit. Die römischen Rechtsgelehrten aus der sogenannten classisch-juristischen Periode27 nahmen nemlich die philosophischen Rechtsansichten der Stoiker herüber und suchten darnach dem positiven römischen Rechte eine gewisse philosophische Form zu geben. Der einzige römische Schriftsteller, welcher aus dem philosophischen Standpunkte das Recht bey den Römern darstellen wollte ist Cicero. Aber auch seine betreffende Lehre ist keineswegs originell und selbstständig, sondern ihren Grundzügen nach bloß stoisch. Hierher gehören vorzüglich seine 2 Schriften de legibus und de republica.28 Die Grundansicht der Lehre ­Ciceros vom Rechte ist diese: es gibt ein allgemeines gleichsam natürliches menschliches Recht, welches als solches seine Quelle in der reinen menschlichen Vernunft hat; dieses ist das Völkerrecht jus gentium.29 Diesem gegenüber steht das positive Recht, welches seine Quellen theils in der Gewohnheit, theils in wirklichen positiven Bestimmungen, theils in der Entscheidung und Meinung der Richter und besonderer Völker hat; dieses Recht nennt er jus civile.30 Das natürliche oder vernünftige Recht ist allgemein gültig, eben weil es aus der allen Menschen gemeinschaftlichen Quelle der Vernunft herstammt. § 11  Mit dem Untergange der antiken Staaten beginnt und entwickelt sich allmählig das neu-europäische Völkerleben. Die Periode der Entwickelung und Ausbildung der | neu europäischen Völker und Staaten, sowie des ganzen neu-europäischen Lebens kann man das Mittelalter nennen. Es ist hieraus begreiflich, wie

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während dieser Zeit keine Philosophie und Theorie des Rechts und des Staates aufgestellt werden konnte, denn die philosophische Theorie setzt immer bestimmte Wirklichkeit, deren Begriff sie geben soll, historisch voraus.31 Erst gegen das Ende des Mittelalters, wo die besonderen Völker und Staaten sich in einer gewissen nationellen Selbstform einander entschieden gegenüber traten, und wiederum auch in bedeutsameren rechtlichen Verkehr miteinander traten, kurz erst als das neu europäische Staatensystem sich bestimmter aufzustellen anfing,32 begann auch wieder der philosophische Geist sich dieser neuen politischen Wirklichkeit zu bemächtigen. Dieses geschah mit dem 16ten  Jahrhundert. Die neue Bekanntschaft, welche mit dem römischen Rechte seit längerer Zeit gemacht worden, die Verbreitung dieses Rechts über die meisten europäischen Staaten, zugleich aber auch das historisch philologische Studium des Alterthums waren die besondere Vermittelung für die Richtung des Geistes auf rechtliche und staatliche Begriffe. Im 16ten Jahrhundert finden wir daher bestimmte Spuren von mehrfachen Versuchen philosophischer Rechtstheorie. Diese Theorieen erweisen aber noch keineswegs einen | entschiedenen philosophisch selbstständigen Charakter, sondern bieten ein mehr oder weniger zufälliges und willkürliches Aggregat von römischen Rechtsgrundsätzen und christlichen positiven Glaubenslehren. Bemerkens wert in dieser Hinsicht sind zunächst drey Männer nemlich: Oldendorp, Hemming und Winkler. Von dem ersteren gehört hierher das Werk: juris naturalis gentium et civilis isagoge. Von dem 2ten gehört hierher das Werk: de lege naturalis methodus apodictica. Von dem 3ten gehört hierher das Werk: principia juris. Ein bemerkenswerthes Werk aus dem 16ten  saec. ist das de republica des Franzosen ­Bodin in 6 Büchern.33 Es ist in diesem Werke gleichsam der erste Versuch einer Art Philosophie des positiven Rechts und der positiven Poli­tik gemacht worden, insofern es eine historische kritische Darstellung der vorzüglichen vorhandenen Staaten enthält. Gegen das Ende des 16ten saec. treten mehrfache Ereignisse ein, wodurch die politischen und mittelbar auch die Rechts­a nsich­

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ten bedeutend verändert werden. Die hauptsächlichen Ereignisse dieser Art sind 1) die größere nationelle Selbstständigkeit des englischen Volks unter Elisabeth, vorzüglich der politische Einfluß dieser Nation auf die europäischen Angelegenheiten,34 | 2) der Kampf und die endliche Freiwerdung der Niederländer, gegenüber den Spaniern.35 Durch dieses Ereigniß kamen vorzugsweise die völkerrechtlichen Fragen in nähere Betrachtung, 3) die bestimmtere Ausbildung des europäischen Staatensystems, wodurch einerseits die diplomatischen Grundsätze, andererseits aber auch die völkerrechtlichen Prinzipien überhaupt sich entschiedener entwickeln und hervorstellen mußten. Mit diesen politischen Ereignissen verband sich 4) die neue philosophische Richtung, deren Charakter antischolastisch war.36 Diese Richtung wurde vermittelt vorzugsweise von dem bekannten englischen Staatsmann und Philosophen Baco von Verulam 37 gegen den Anfange des 17ten saec. Mit dem Anfange des 17ten saec. beginnt nun die eigentliche neue philosophisch-politische und naturrechtliche Litteratur. In dieser Hinsicht ist das berühmte Werk des Holländers Hugo Grotius: de jure belli ac pacis der eigent­liche litterarische Anfangspunkt zu nennen.38 In diesem Werk wird zum ersten male das allgemeine | Völkerrecht und zugleich das allgemeine Privatrecht nebst dem Criminalrechte aus dem Standpunkte reiner philosophischer Ansichten gegründet. Die philosophischen Ansichten werden durch historische Beispiele und Belege fast überall bewährt und insofern ist dieses Werk auch in historisch kritischer Hinsicht merkwürdig. Hugo Grotius macht hier den ersten Versuch menschlich politisch rechtlicher Verbindung unabhängig von dem positiven Glauben rein aus natürlichen und vernünftigen Gründen zu entwickeln. Das allgemeine Grundprinzip findet er in der Socialität;39 aus den Begriffen und den Bedürfnissen der Socialität entwickelt er möglichst konsequent die Hauptgrundsätze in politischer und namentlich in rechtlicher Hinsicht. Ungefähr gleichzeitig stellte Hobbes in England eine eigene Theorie des natürlichen Rechts, namentlich auch des Staatsrechts auf.40 Er ist der Erste, welcher

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alle Staaten auf einen Gesellschaftsvertrag zurückführte, den Urzustand aber des Menschen findet derselbe in einem Kriege ­A ller gegen Alle, dessen Folgen eine gegenseitige Furcht Aller war.41 Diese gegenseitige Furcht war nach ihm das eigentliche Motiv zu dem | Staatsgrundvertrage, durch welchen man jenem mißlichen Zustande des Kriegs Aller gegen Alle entgehen wollte. Er lehrt, daß die Monarchie unumschränkte despotische Macht habe und zwar eben wegen jenes Grundvertrages, worin die Unterthanen den Fürsten die vollste Gewalt über sie eingeräumt hätten. Hierher gehören seine Schriften: 1)  de cive und 2) der Levia­than oder de statu civile et ecclesiastico.42 Gegen das Ende des 17ten saec. begann mit Samuel Pufendorf († 1694) die bestimmte wissenschaftliche Methode in der Theorie des natürlichen Rechts.43 Er stellte zuerst ein gewisses System in dieser Wissenschaft auf. Er ging dabey im Allgemeinen von den Prinzipien aus, welche Hugo Grotius in seinem angeführten Werke aufgestellt hat. Von seinen Schriften gehört hierher: elementa jurisprudentiae naturalis 1660 und dann de jure naturae et gentium 1672. (de officio hominis et civis ein Compendium davon).44 § 12  Mit dem Anfange des 18ten saec. beginnt gewissermaßen eine neue Epoche der Philosophie des Rechts und des Staats. Was zunächst das Staatsrecht betrifft, | so gab die Umwandlung in der englischen Verfassung oder vielmehr der Sturz der Stuart’s die nächste Veranlassung zur Aufstellung freierer politischer Grundsätze.45 Hier verdient zunächst Auszeichnung der englische Philosoph Locke, der ein politisches Werk, unter dem Namen: »von der Staatsverwaltung, of civil government« schrieb.46 Die Prinzipien sind die der konstitutionellen Monarchie, die er aus dem Staatsgrundvertrag herleitete. Um dieselbe Zeit trennte in Deutschland der bekannte Philosoph und Jurist Christian Thomasius († 1728) zuerst das moralische (honestum) von dem streng Rechtlichen ( justum) und zwar in der Weise, daß gar keine Beziehung zwischen beyden statt finden soll.47 Er wurde der Urheber der naturrechtlichen Disziplin, als einer der Moral gegenüberste-

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henden besonderen Wissenschaft. Hierher gehören seine: institutiones jurisprudentiae naturalis divinae; ferner seine: fundamenta juris naturalis et gentium (1718).48 Die allgemeinen Prinzipien der Theorie des Naturrechts, welches von mehreren Anhängern von Thomasius, namentlich von Gundling49 [und] von Achenwald in Göttingen, in seinem Werke elementa juris naturae,50 näher bestimmt und aufgestellt worden sind, sind folgende: | 1.  Es gibt einen Naturzustand der Menschen vor der socialen Ordnung; dieser Naturzustand ist eben deßhalb ein Zustand der blos subjectiv persönlichen Gegenseitigkeit. Was nun jeder in dieser subjectiven Natürlichkeit ansprechen und durchsetzen kann, ist das natürliche Recht. 2.  Um aber in diesem Naturzustande doch eine bestimmte Norm für das Recht zu haben, ging man von der Idee des Eigen­ thums51 aus. Das Eigenthum aber bestimmte man wiederum nach den positiven Anordnungen des Rechts. 3.  Was nun in diesem Naturzustande einer Person auf dem Grunde einer Occupation des Eigenthums52 zukommen kann, darf sie mit aller Gewalt behaupten und erzwingen. Ebendaher heißt diese Theorie auch die Zwangstheorie, und nach ihr ist Recht Alles, was man mit gutem Gewissen von einem andern erzwingen darf. Diese Theorie dauerte als herrschende bis auf die Zeit von Kant. Als eine weitere umfassende Ausführung ist besonders das große naturrechtliche Werk von dem Philosophen Christian Wolf anzuführen, welches unter dem Titel jus naturae methodo scientifica tractatum 1740 in 9 Quartbänden erschien.53 | Im Auslande suchte man weniger Theorien des Naturrechts aufzustellen, als vielmehr historisch-kritische Werke über das Staats- oder öffentliche Recht. Zunächst verdient in dieser Beziehung Montesquieu Erwähnung wegen seines: esprit des lois.54 In diesem Werke gibt es eine Art Philosophie des positiven Rechts,55 indem er auf dem Wege der Vergleichung der wichtigsten posi­ tiven Rechtsinstitute die leitenden Grundsätze jeder positiven Rechtsgesetzgebung zu abstrahiren und zu bestimmen suchte.

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Einleitung

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Einen gerade entgegengesetzten Weg versuchte in Frankreich Jean Jaques Rousseau, indem er gleichsam aus dem esprit des lois eine rein abstracte Verstandestheorie des Staates entwarf. Sein bekanntes Werk: contrat social enthält vorzugsweise die betreffenden Grundsätze.56 In diesem lehrt er nun im Allgemeinen dieses: Alle rechtlich möglichen Staaten sind dieses nur auf dem Grunde eines Staatsurvertrags. Dieser politische Urvertrag wird geschlossen zwischen allen ursprünglich gleichen Menschen, nicht aber zwischen einem Regent und Unterthane, vielmehr wird der Regent vermittelst dieses Vertrages vom Volke nur delegirt und ist nur ein Beamter | des Volks. Die Volkssouveränität ist daher nur die allein wahre Staatsverfassung und der Regent ist daher nur gleichsam der Repräsentant dieser Souveränität.57 Um aber diese Volkssouveränität zur reellen Wahrheit zu machen, muß der Staat rein demokratisch seyn. Fast gleichzeitig schrieb in Italien Filangieri nach der Weise von Montesquieu sein bekanntes Werk: über die Weise der Gesetzgebung.58 Er geht in seinem Werke den historisch kritischen, doch zugleich philosophischen Weg. Die Prinzipien der Gesetzgebung als Staats­einrich­tung findet er in der Moral und Humanität. § 13  In Deutschland dauerte die von Thomasius begründete Rechtstheorie fast ausschließlich bis auf die Zeit von Kant fort.59 Dieser Philosoph bewirkte gegen das Ende des vorigen Jahr­hun­ dert’s eine allgemeine Reform in der philosophischen Denkweise der Teutschen. Diese Reform bestand nicht sowohl in haltbaren wichtigen Resultaten, als vielmehr nur in der neuen Methode des philosophischen Denkens. Auch in Absicht auf die philosophische Rechtstheorie wirkte die kantische Lehre mehr oder weniger reformirend. Er hat die betreffenden Grundsätze  | in zwey Schriften dargelegt. Zunächst in seiner »Grundlegung der Meta­ physik der Sitten«, dann in seinen »metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre«. In jenem Werke behandelt er die gemeinschaftlichen Quellen und die gemeinschaftlichen Prinzipien des Moralischen und Rechtlichen. Beyde findet er in der sogenannten praktischen Vernunft, d. h. in dem geistigen Ver-

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mögen der Gesetzgebung. In dem zweyten Werke entwickelt er die eigenthümlichen Grundsätze des Rechts und des Staates mehr. Während das Moralische bey ihm auf der inneren Gesetzgebung und der innern Freiheit beruhen soll, findet er die Grundlage des Staats und des Rechts in der sogenannten äußer­ lichen Freiheit. Die äußerliche Freiheit ist ihm in der That nur die Willkühr des Handelns, worin sofort ein Grundirrthum für die weitere Theorie gesetzt wird, indem wahre Freiheit nie Willkühr ist. Auf seine Ansicht bildete sich mit die einseitige Staats- und Rechtstheorie, nach welcher beyde Staat und Recht nur Zwangsinstitutionen gegen die Willkühr seyn sollen. Nach Kant ist nun der Zweck des Staates und des Rechts dieser: Anordnungen zu treffen, daß die Freiheit eines Jeden mit der Freiheit jedes Andern | bestehen kann. Der höchste Grundsatz für das politisch rechtliche Handeln wird so ausgesprochen: Handle so, daß deine äußere Freiheit mit der äußern Freiheit aller andern Menschen bestehen kann.60 Das Recht ist nach Kant der Inbegriff derjenigen Bedingungen, unter welchen die Willkühr des Einen mit der Willkühr des Andern unter einem Freiheitsgesetze bestehen kann. Mit Kant haben sich in Deutschland die verschiedensten philosophischen Systeme und damit auch die verschiedensten Rechtstheorieen entwickelt. Vorzüglich übte seit der französischen Revolution auch die politische Meinung ihre Macht auf die philosophischen Rechts- und Staats-Ansichten aus. Man kann folgende Richtungen unterscheiden: 1. Die streng juridische. In dieser Beziehung stellte man entweder nach Kant’schen oder Thomasius’schen Prinzipien das Naturrecht auf oder man setzte, indem man ein philosophisches Naturrecht überhaupt läugnete, | an seinen Platz eine sogenannte Philosophie des Rechts. 2. Die bey weitem größere Zahl der jüngsten Philosophen entwickelten die Theorie des Rechts und des Staats vorzugsweise nach politischen Erscheinungen und Interessen, weßhalb denn auch die herrschenden politischen Parteien mehr oder weniger Einfluß auf die Lehre selbst gewannen.

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Einleitung

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3.  Die historischen Rechts- und Staatstheorien. Diese gründen sich auf das Faktische und finden in dem faktischen als solchem auch die eigentlichen und wahren Prinzipien für Staat und Recht. 4. Die Theorie rein philosophischer Betrachtung aus dem Standpunkte der Entwickelung der philosophischen Systeme selbst. § 14  Lehr- und Handbücher über das Natur- und Staatsrecht: Feuerbach, Kritik des Naturrechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft des natürlichen Rechts. 1796.61 | Henrici Ideen zur wissenschaftlichen Begründung der Rechtslehre. 2. Thle. 1810.62 Welker. Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe. Gießen 1813.63 Fries philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung. Jena 1803.64 Maaß: Grundriß des Naturrechts 1808.65 Gros Lehrbuch des philosophischen Rechts. ed. 3. 1815.66 Schulze Leitfaden der Entwickelung der philosophischen Prinzipien des bürgerlichen und peinlichen Rechts.67 Bauer Lehrbuch des Naturrechts. 1816.68 Marezoll Lehrbuch des Naturrechts. 1818.69 Hugo Lehrbuch des Naturrecht’s als einer Philosophie des positiven Rechts. 1809.70 Krug. Philosophische Rechtslehre (3ter Theil seines Systems der praktischen Philosophie).71 | Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts Berlin. 1820.72 v.  Droste genannt Hülshof. Lehrbuch des Naturrechts. ed.  2. Bonn 1832.73 Troxler: philosophische Rechtslehre des Naturrechts und des Gesetzes.74 Ancillon Staatswissenschaft. 1820.75 Zachariä. K.  S. Vierzig Bücher vom Staat. 5. Bde. 1820.76 Pölitz: Die Staatswissenschaft im Lichte unserer Zeit. 2  Bde. 1823.77 Jordan. Versuch über allgemeines Staatsrecht. 1828.78 du Vattel, Les Droits des gens. Leiden 1758. Basel 1777.79 |

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[Erster Theil. Praemissen.] Erster Abschnitt Anthropologische Vordersätze. a)  Der Mensch. § 15  Der Mensch wie die Natur sind zwey gleich wesentliche Seiten eines und desselben ursprünglichen Seyns, welche nur miteinander gedacht werden können. In beyden gewinnt das Daseyn seine Realität oder Wirklichkeit. § 16  In der Natur ist das Seyn blos objektive oder selbstlose Realität, während es im Menschen sich zur Subjectivität oder Selbstheit potenzirt hat. § 17  Das Wesen der Subjectivität oder des Selbst ist näher aber darin gelegen, daß sich ein Seyendes in Beziehung auf ein Anderes setzt und dieses in irgend einer Weise zum Gegenstande seiner positiven Thätigkeit machen kann. § 18  Die nächste Aufgabe des Menschen überhaupt | ist nun diese: daß er sich in und an der Natur als ein besonderes subjectives Daseyn vollziehe; in dem Maaße, als er diese Selbstverwirklichung vollzieht, entspricht er der eigenthümlichen Wesenheit seines Begriffes. § 19  Der Begriff des Menschen ist aber als solcher ein blos abstractes, d. h. als Begriff existirt das Menschliche nicht schlechthin allgemein und unmittelbar, weil es überhaupt im Daseyn als Urgesetz gilt, daß das eine und allgemeine nur in einer unend­ lichen Reihe von einzelnen realen Selbstbestimmungen ist. § 20  Hieraus folgt, daß der Begriff des Menschen seine eigentliche Wirklichkeit nur in einzelnen menschlichen Individualitäten haben könne, daher ist jeder einzelne Mensch als Repräsentant der allgemeinen Subjektivität eine besondere Selbstheit gegenüber dem blos natürlichen; andererseits ist er aber auch nur insofern eine angemessene Darstellung des menschlichen

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Anthropologische Vordersätze

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Begriffs, als er mit andern einzelne Menschen sich als gemeinschaftliche Vollziehung des menschlichen Begriffes erkennt und anerkennt. b)  Die Freiheit und der Wille. § 21  Die Aufgabe des Menschen dem bloß objektiven oder selbstlosen Seyn gegenüber | eine subjective Wirklichkeit zu haben und fortschreitend zu vollziehen gibt ihm nothwendig die Bestimmung zur Freiheit, oder die Freiheit ist die erste und grundwesentliche Eigenschaft des Menschen. § 22  Die wahre Freiheit des Menschen [ist] diesemnach zunächst nicht Willkühr, d. h. nicht blos zufällige von keinem innern oder äußerlichen Gesetze bedingte Thätigkeit, sondern sie ist die ursprünglich nothwendige Selbstbestimmung des Seyns selber, kraft welcher dieses seine eigene Wahrheit und damit seine volle Realität gewinnen will.80 Die Freiheit des Menschen wurzelt daher im Wesen des Daseyns selber, und ist sich selbst um so entsprechender als sie nach der inneren Nothwendigkeit des daseynlichen Fortschrittes sich über die Willkühr erhebt. Diese letztere ist der Freiheit gegenüber ein bloßes Naturmoment und macht einen Gegenstand ihres Strebens aus. § 23 Die Vermittelung der subjectiven Thätigkeit des Menschen, dem selbstlosen gegenüber liegt in der Erkenntniß oder im Wissen. Das Wissen ist daher das eigentliche Element, in welchem sich die menschliche Freiheit, also auch das menschliche Daseyn vollziehen kann. § 24  Diesem gemäß kann nun auch behaup | tet werden, daß die eigentliche Freiheit des Menschen darin besteht, daß er sich auf dem Grunde des Wissens, also auf dem Grunde der Erkenntniß der Wahrheit selbst bestimmt oder sich als Subjectivität darstellt. § 25  An die Bedeutung der Freiheit knüpft sich der Begriff des menschlichen Willens. Der Wille überhaupt ist das bewußte Selbstbehaupten der eigenen Existenz und ihrer Zwecke.

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§ 26  Der Wille kann so viele verschiedene Formen annehmen als das Bewußtseyn selbst. Daher kann es einen mehr oder weniger sinnlichen Willen, einen blos verständigen egoistischen Willen und einen wahrhaft freien vernünftigen Willen geben. § 27  Der wahrhaft freie Wille ist eigentlich nur die Offenbarung der Freiheit selbst, oder er ist die Freiheit in ihrer bestimmten Ausübung.81 Der freie Wille fordert daher nothwendig vernünftige Bestimmungsgründe oder Vernunftbewußtseyn, welches darin besteht, daß man sein Selbst nur aus dem Standpunkte der an sich wahren Bedeutung der Dinge auffaßt und behauptet. § 28  Jedem Menschen eignet nun wesentlich freier Wille und so wie er nur dann sich entspricht, wenn er die Freiheit wahrhaft vollzieht, so kann er auch nur in so fern | ein angenehmes Daseyn haben als er freien Willen besitzt. c)  Die Persönlichkeit. § 29  Das Wesen des Menschlichen überhaupt ist die Freiheit oder die subjective Wirklichkeit, gegenüber einer bloßen objectiven. Hierin liegt die Wurzel der Persönlichkeit, welche weiter nichts ist als die freie Subjectivität, in der Form des Selbstbewußtseyns. § 30  Zur Persönlichkeit gehört nun vor allem allerdings das geistige Moment, allein weil das Geistige ohne einheitliche Verbindung mit dem natürlichen wirklich werden kann, so ist das Natürliche immer wesentliche Voraussetzung des Persönlichen. § 31  Die Persönlichkeit82 kann nun aus einem zweyfachen Gesichtspunkt aufgefaßt werden 1) als allgemein menschliche oder 2) als besondere congrete Persönlichkeit. Die allgemein menschliche Persönlichkeit ist das subjective Daseyn der Menschheit überhaupt, gegenüber der Natur, welche ein persönliches seyn kann. Das allgemein Menschliche aber, somit auch die allgemein menschliche Persönlichkeit kann in ihrer abstracten All­ gemeinheit nicht existiren, sondern sie realisirt sich nur in Einzelwesen. |

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d)  Die Socialität. § 32  Die Socialität entwickelt sich in nothwendiger Folge aus dem Wesen der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ist nun aber wie bemerkt zunächst eine allgemein-menschliche, vollzieht sich jedoch nur in der Form der einzelnen Persönlichkeit. Die einzelnen Persönlichkeiten sind dieses daher wahrhaft nur in so fern, als sie das gemeinschaftliche menschliche kongret darstellen. Hieraus ergibt sich, daß die einzelnen menschlichen Persönlichkeiten in gegenseitiger Selbstvollziehung das allgemein menschliche Persönliche zu verwirklichen haben. Hierin liegt der Begriff der Socialität angedeutet. § 33  Der wahre Begriff der Socialität liegt also darin, daß sie die Verbindung der einzelnen persönlichen Menschen ist zur gemeinschaftlichen Vollziehung des Persönlichen und der persönlichen Interessen überhaupt. In den Kreis der Socialität fallen daher alle menschlichen Zwecke, insofern sie Gegenstände persönlicher Freiheitsthätigkeit werden können. § 34  Die Socialität ist demnach nicht zu verwechseln mit der rein natürlichen geselligen Verbindung der Menschen, oder sie | ist überhaupt kein Naturzustand des Menschen, sondern wirklich das Produkt der wirklichen Freiheit.83 § 35  In dem Begriff der Socialität, nicht aber in dem des geselligen Naturzustandes gründet sich nun der Begriff des Rechtes und des Staates, denn in der Socialität herrscht als Grundprinzip Achtung und Erhaltung der Freiheit der einzelnen Persönlichkeit, im Elemente der allgemeinen und gemeinschaftlichen Freiheit.

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Zweyter Abschnitt. Das Recht an und für sich. § 36  Das Recht an und für sich ist zunächst der bloße Begriff desselben, abgesehen von den eigenthümlichen nothwendigen Verhältnissen der socialen Wirklichkeit. Diese Verhältnisse, welche das Objekt für das besondere Recht ausmachen können allein aus der Betrachtung des politischen Zustandes, also auch aus der Staatsidee entwickelt werden. § 37  In der Socialität soll die gemeinschaftliche Persönlichkeit des Menschen aus dem Grunde der Achtung und Forderung der individuellen Persönlichkeiten möglichst verwirklicht werden. Hierin liegt sofort die Bedingung ausgesprochen, daß es einen in | sich bestimmten Organismus der individuellen persönlichen Elemente zu einer socialen Gesammtheit geben müsse. Dieser Organismus im Allgemeinen enthält auch die Möglichkeit des Rechts, weil in ihm allein die Garantie der Achtung und Förderung des Persönlichen gelegen ist. § 38  Jener in sich bestimmte Organismus der socialen Gesammtheit muß nun aus dem Wesen des menschlichen und der menschlichen Persönlichkeit selbst nothwendig sich hervorgestalten. Das Persönliche aber beruhet wesentlich in dem Vernunftund Freiheitsmomente. Der sociale Organismus hat daher auch zu seinem Lebens- und Bildungsprinzipe nur jene Vernunftsund Freiheitsbedeutung. Hiermit entsteht die weitere Bedingung für den socialen Zustand, daß er auf dem Grunde einer allgemeinen oder objectiven Vernunft- und Freiheitsordnung beruhe. Diese Ordnung, eben in bestimmter organischer Form gedacht, ist der Staat. Die Socialität fordert daher wesentlich den Staat. § 39  In dem socialen Organismus, also auch im Staate, welcher diesen nur darstellt, müssen aber zunächst die Persönlichkeiten als solche anerkannt und ge | achtet werden, weil nur aus der Verwirklichung der besonderen Persönlichkeiten, die der gemeinschaftlichen menschlichen hervorgehen kann. Hiermit ist die Substanz des Rechts im Allgemeinen angedeutet. Das Recht

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ist diesemnach im Allgemeinen dasjenige, was der socialen Persönlichkeit blos als solcher, also was der besonderen Persönlichkeit aus dem Gesichtspunkte der gemeinschaftlichen zukommen kann und muß.84 § 40  Aus dem Rechtsbegriffe ergeben sich folgende weitere Bestimmungen. 1)  Da das Recht die Achtung und Anerkennung der rein socialen Persönlichkeit angeben [soll], so ist es auch nur objektiv bestimmbar, denn die sociale Persönlichkeit ist grade dieses dadurch, daß sie die rein subjektive Sphäre der Individualität aufgiebt, um eben in der allgemeinen persönlichen das Vermittelungselement ihrer besonderen Förderung zu haben. Hieraus folgt, daß die Bestimmbarkeit und Garantie des Rechts einzig und allein von objektiver Auctorität, also vom Staate abhängt oder die Rechtsidee ist ohne die Staatsidee nicht gedenkbar.85 | 2)  Eben weil das Recht nur rein objectiv social-persönliche Beziehungen zum Gegenstande hat, so darf in seinen Kreis und in seine Bestimmungsfähigkeit nichts gezogen werden, was rein persönliche mehr oder weniger von der Subjectivität allein abhängige Zwecke und Interessen betrifft. [Man kann z. B. über sein Eigenthum nur unter Voraussetzung socialer Zwecke disponiren.] Hieraus folgt, daß es kein absolut subjectives Recht geben könne, dann aber auch, daß das moralische an und für sich genommen oder unmittelbar nie ein Gegenstand der Rechtsgesetzgebung werden dürfe.86 3)  Das Recht muß nun nichts desto weniger doch sittlich seyn, d. h. jedes Recht muß dem sittlichen Momente entsprechen ohne darum von der blos sittlichen Auctorität auszugehen. 4)  Aus der Natur des Rechts folgt die vernünftige Möglichkeit eines objektiven Zwanges, d. h. eines Zwanges aus dem Standpunkte und durch die Macht der socialen Persönlichkeit. Hieraus kann aber keinesweges die weitere Consequenz gezogen werden, daß das Recht nichts weiteres sey als das moralisch erzwingbare. Der Zwang ist nur ein negatives Moment des Rechts, indem sein eigentliches positives die vernünftige | Freiheit ist.

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5)  Alles Recht kann eigentlich nur ein persönliches seyn, d. h. nur das kann Recht seyn, was in irgend einer Weise aus dem Gesichtspunkte der rein socialen Persönlichkeit angesprochen werden kann. § 41  In Beziehung auf das Recht an und für sich müssen noch folgende allgemeine Beziehungen berücksichtigt werden: 1.)  Die sogenannte Rechtssubjektivität. Sie besteht eben in der Persönlichkeit insofern diese Trägerin von Rechten seyn kann. Die Rechtssubjektivität reicht also so weit, als die Bedeutung der Persönlichkeit reichen kann. Man kann hier aber unterscheiden die einfach natürliche unmittelbare Persönlichkeit oder die sogenannte physische und die mittelbare collective Persönlichkeit, oder die sogenannte moralische. Damit aber die Letztere rechtssubjectiv und somit auch rechtsfähig werden könne, wird erfordert, daß sie eine bestimmte social erkennbare Einheit und Form annehme. 2)  Die Rechtsobjektivität. Rechtsobjektiv ist der Gegenstand, welcher aus dem | Gesichtspunkte der Persönlichkeit in der Socialität bestimmbar ist. Rechtsobjekt kann daher vernünftig nur dasjenige seyn, was in irgend einer Weise aus und nach socialen Zwecken in den Kreis vernünftig persönlicher Freiheitsfähigkeit gebracht werden kann. 3)  Die sogenannte Rechtsgleichheit. Man muß sofort unterscheiden zwischen der absoluten und der relativen Rechtsgleichheit. Eine absolute Rechtsgleichheit würde bedeuten eine völlige Gleichheit des Innbegriffes aller Rechte der Persönlichkeiten einander gegenüber. Insofern würden auch die historisch-begründeten Rechte bey allen Personen dieselben seyn müssen. Eine solche absolute Rechtsgleichheit widerspricht dem Vernunftbegriffe des Rechts. Denn dieser hat zu seiner Voraussetzung einmal die besondere Persönlichkeit, dann die Gemeinschaftlichkeit des Socialen. In beiderlei Hinsicht ist aber eine Rechtsverschiedenheit nothwendig. In der ersteren Hinsicht, insofern jede besondere Persönlichkeit einen besonderen historischen Standpunkt in der Socialität einnimmt. In der anderen Hinsicht, insofern |

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die sociale Gemeinschaftlichkeit nothwendig eine Abstufung und Mannigfaltigkeit in den persönlichen Beziehungen erfordert. [Der Staat soll die Willkühr nicht ganz unterdrücken, denn aus ihr entsteht die Freiheit.] Die relative Rechtsgleichheit besteht darin, daß jede Persönlichkeit in der Socialität schlechthin nach allen ursprünglichen Beziehungen des Persönlichen neben jeder andern völlig gleich rechtsfähig sey. Diese relative Rechtsgleichheit beruht weiter in folgenden Punkten: einmal: daß jeder in der Socialität mit jedem Andern gleiche Urrechte habe, ferner, daß daher kein geschichtlicher Umstand ein absolutes Rechtsprivilegium, [nemlich kein in allen Verhältnissen anwendbares, für ­irgend eine Person begründen könne,] endlich drittens: daß im Allgemeinen innerhalb der Socialität unter gleichen Voraussetzungen und Umständen eine völlig gleiche Rechtsconcurrenz statt finden könne [, die Staatsämter z. B. müssen für alle Menschen offen stehen]. Die relative Rechtsgleichheit ist nun eine unabweisliche Forderung des Vernunftrechts, weil ohne dieselbe die Freiheit und die Vernunft des Persönlichen nicht geachtet und anerkannt werden wird. |

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Zweyter Theil. Vom Staate. Erster Abschnitt: Ideologische Politik oder von der Staatsidee an und für sich. Zweiter Abschnitt: Organische Politik oder die Lehre von der Staatsverfassung. Dritter Abschnitt: Administrative Politik im weitern Sinne des Worts oder die Lehre von der Staatsregierung. Diese befaßt u ­ nter sich: a.) die legislative Politik, b.) administrative Politik im engeren Sinne oder executive Politik. Vierter Abschnitt: Der Staat und die Kirche. [Die Kirche geht den Staat nichts an, er hat nur darauf zu sehen, daß sie als Gesellschaft sich den Rechtsverhältnissen unterwirft.] |

Erster Abschnitt. Ideologische Politik oder von der Staatsidee an und für sich. § 42  Die Ideologische Politik ist eigentlich die metaphysische Theorie von der Bedeutung und Begründung des Staates. § 43  Der Begriff des Staates kann nur aus dem Begriff der Socialität entwickelt werden, denn sein Gegenstand ist die objektive menschliche Gemeinschaft. Die Socialität ist aber nicht die Gemeinschaft des zufälligen menschlichen Bedürfnisses, auch nicht der bloßen reinen natürlichen Zwecke, sondern die Gemeinschaft der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit aber ist die bestimmte Form der Vollziehung des Vernünftigen und der Frei-

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heit, der bloßen Natur und Willkühr | gegenüber. Hieraus ergibt sich, daß der Staat, insofern er die objektive Gemeinschaftlichkeit des Persönlichen darstellen soll, 1.  in sich bestimmte Formen haben müsse, 2.  aber auch in seinem eigentlichen Grunde und Zwecke das Vernünftige und das Freiheitsmoment als seine wesentlichen Eigen­schaften besitze. § 44  Man kann dem Vorhergehenden gemäß den Staat nach seiner, also in seiner reinen Vernunftbedeutung dahin erklären, daß er der in sich bestimmte Organismus sey der socialen oder der menschlich-gemeinschaftlichen Persönlichkeit. § 45  Aus dem Begriffe des Staats ergibt sich nun zunächst seine Begründung. Hierbey muß sofort unterschieden werden die eigentliche ursprüngliche Bedingung der Möglichkeit und sein historischer Anfang, sowie sein historischer Grund. Die eigentliche ursprüngliche Begründung des Staates liegt in der nothwendigen Selbstvollziehung des menschlichen Begriffs, oder der Staat ist ein so wesentliches inneres Bedürfniß der menschlichen Natur,87 als die Vollziehung der | Gesammtzwecke derselben ein ursprüngliches Bedürfniß ist. Insofern ist der Staat von Natur nothwendig, er ist eine Folge der Entwickelung des Vernunfttriebes und der Freiheit des Menschen. Hieraus folgt zunächst, daß der Staat von der Willkühr der bloßen subjectiven Persönlichkeit unabhängig ist in seinem Grunde oder in der Bedingung seiner Möglichkeit und daß somit ein sogenannter Staatsgrundvertrag, insofern derselbe eben die Bedingung der Möglichkeit des Staates seyn soll, der Vernunft widerstreitet.88 [Der Staat ist nothwendig für den Menschen als das Bewußtsein, welches auch nicht von seiner Willkühr abhängt.] Außerdem gewinnt ja selbst der Vertrag erst durch den Staat seine Rechtsbedeutung. [Die Staaten bilden sich faktisch und dann gilt kein jus.] Von dieser ursprünglichen Begründung des Staates muß der historische Ursprung desselben wohl unterschieden werden, dieser Letztere kann allerdings von mancherley zufälligen selbstwillkührlichen Ursachen abhängen. [Z. B. bey Nord-Amerika.]

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§ 46  Man kann mehrere Entwickelungsstufen des Staates als vernünftig nothwendig annehmen, doch müssen diese verschiedenen Stufen, blos als eben so viele wesentliche Metamorphosen der Idee des Staates89 betrachtet werden und hiermit als eben | so viele nothwendige Stufen zur Vermittlung des vollen und wahren Vernunftbegriffs des Staats. Sobald nach einer Entwickelungsstufe [Textlücke] sich für sich isoliren will, ist sein Dasein vernunftwidrig. Man kann nun, da der Staat die gemeinschaftliche sociale Persönlichkeit in ihrem objectiven Organismus darstellt, so viele Entwickelungsstufen des Staats annehmen, als es wesentliche Entwickelungsstufen in der Persönlichkeit als solcher gibt. Man muß aber drey solcher Stufen annehmen: 1.  Die Stufe der natürlichen Unmittelbarkeit oder die Stufe der sinnlichen Erscheinungen. 2.  Die Stufe der Reflexion und der abstracten Verständigkeit. 3.  Die Stufe der eigentlichen Vernunft. Auf der letzteren sind jene untergeordneten Stufen als eben soviele Momente enthalten. § 47  Aus dem Wesen des Staates muß der Zweck desselben bestimmt werden. Zunächst nun muß hierbey das Prinzip gelten, daß der Staat sich zu seinen Zwecken nie äußerlich | verhalten dürfe, sondern daß er ganz eigentlich sich selber Zweck sey. [Wie die Griechen sagen: der Staat dient sich selber.] Es müssen somit die Zwecke des Staates ganz eigentlich immanent bestimmt werden. Diese immanente Bestimmung muß sich aber aus dem Begriffe der socialen Persönlichkeit ableiten lassen. Diesem gemäß ist der erste und nächste Zweck des Staates, Förderung und Erhaltung der Freiheit des Menschlichen. Zweitens: Förderung der Bildung; Drittens: Förderung des Wohlstandes. Denn jede Persönlichkeit ist dieses nur in dem Maaße, als sie auf dem Grunde des sinnlichen Lebens Intelligenz und Freiheit ist. [Das ist ein Elemente.] Gewöhnlich wird die Verwirklichung des Rechts als ausschließlicher oder doch wenigstens als absolut höchster Zweck des Staats dargestellt. Das Recht kann durchaus nicht Zweck des Staates seyn, sondern blos Mittel zur Vollziehung jener immanenten Zwecke. In dem Rechte setzt nemlich

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der Staat die objective Garantie seiner Zweckvollziehung, welche allein in der Gerechtigkeit gelegen sein kann. In dem Rechtsgesetze spricht sich nur das Moment der Gerechtigkeit entschieden aus, weil aber das Rechts | gesetz das allgemeine Vermittelungsmoment der Staatszwecksvollziehung ist, so folgt daraus, daß alle administrativen Gesetze von dem Rechtsgesetze mittelbar oder unmittelbar abhängig sind. § 48  Zu dem Wesen des Staates gehört nun im besondern noch die Staatsgewalt. Man kann dieselbe erklären als die immanennte Macht des Staatsganzen, also als die objective Auctorität gegenüber der blos subjectiven Persönlichkeit. Die Staatsgewalt ist demnach zunächst ein nothwendiges Attribut des Staats, weil ohne sie die sogenannte Gemeinschaftliche Persönlichkeit sich nicht konstituiren könnte; dann darf aber die Staatsgewalt nicht als eine äußerliche Macht betrachtet werden, d. h. nicht als eine solche, welche aus irgend einer fremden Autorität hervorgehen könnte. Ihre natürliche vernünftige Quelle ist die organische Totalität des socialen Lebens selbst. § 49  Die Staatsgewalt in dem eben angedeuteten Begriffe als objective Auctorität der socialen Persönlichkeit muß nothwendig diejenigen besonderen Richtungen nehmen, welche zur Darstellung einer wirklichen Persönlichkeit überhaupt gehören. Es gibt nun aber wesentlich eine dreyfache Richtung des Persönlichen, welche man unterscheiden kann 1.  als Selbstbestimmungsmacht oder als Vernunft, 2.  als Macht der Selbstbeurtheilung oder als Verstand und 3.  als Macht der Selbstvollziehung | oder als eigentlicher Wille. Diesemnach entstehen drey sogenannte Staatsgewalten, nemlich 1.) die legislative Gewalt, 2.) die richterliche Gewalt und 3.)  die sogenannte vollziehende oder executive Gewalt.90 Diese drey Gewalten sind aber in der That nur ebensoviele Aeußerungs­ formen der einen ursprünglichen Staatsgewalt, woraus sofort das wichtige staatsrechtliche Resultat hervorgeht, daß einmal die drey Gewalten allerdings möglichst unterschieden seyn müssen,

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daß sie dann aber auch bey aller Unterscheidung in einem immerzu organischen Zusammenhang stehen müssen. [­Einen inneren organischen Zusammenhang der drey Gewalten finden wir bloß im englischen Staat.]91 § 50  Eine weitere Berücksichtigung des Staats und seiner Bedeutung im Allgemeinen führt auf die Betrachtung seiner wesentlichen Grundbedingungen. Diese sind folgende: 1.  ein wirklicher bestimmter Unterschied des Subjectiv-Persönlichen. [Die Rechte der Privat-Persönlichkeit müssen vor Allem gesichert seyn.] 2.  eine organische Einheit dieser subjectiven Verschiedenheit. 3.  eine immanente Garantie der Existenz oder der Dauer des Staates. [Immanent, d. h. aus dem innersten Leben des Staates hervorgehende. – Der Belgische Staat hat nur eine äußere Garantie (die der Conferenz) seiner Existenz.]92 | § 51  Die Grundbedingungen des Staats lassen nun wiederum folgende elementarische Momente des Staates aus sich entwickeln: 1.  Muß der Staat sich als totale Selbstmacht in bestimmter Form aufstellen; diese formelle Selbstdarstellung der Staatsmacht ist die Obrigkeit. 2.  Das Totale muß sich aber zugleich als Gegenstand der formell bestimmten Selbstmacht darstellen. Hieraus entsteht das Volk oder die Unterthanen. [Der Bürger ist nicht Unterthan des persönlichen Königs, sondern des Königthums.] 3.  Die Totalität muß sich in einzelne organische Systeme zergliedern. Hiermit entsteht das dritte Element: die Stände. [Bei der Eintheilung der Stände kommen die Staatszwecke in Betrachtung. Freiheit (Beamten) Cultur (Prediger usw.) Wohlstand (Handwerker). Der Soldatenstand ist kein Stand, sondern muß aus allen Ständen hervorgehen und darf nur nach außen, nicht nach innen gebraucht werden. Der Adel kann bloß historisch, nicht absolut nothwendig seyn.] Aus dem Begriffe und der Bedeutung des Staats ergibt sich, daß jeder Mensch von Natur, also durch seine eigene Persönlichkeit genöthiget werde im Staate zu leben.93 Diese Verbindlichkeit

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ist eine doppelte, eine moralische und eine wirkliche politische. Eine moralische insofern jeder aus dem Standpunkte des Sittengesetzes die möglichste Vollendung seiner persönlichen Bestimmung anstreben muß. Eine solche vollkommne Vollziehung aber des Persönlichen ist nur im Staate möglich. Die politische Verbindlichkeit spricht sich aber darin aus, daß | die bestehenden Staaten zu ihrer eigenen Sicherheit die Willkühr des Persön­ lichen unter die objective Garantie der Socialität stellen müssen.

Zweyter Abschnitt. Organische Politik. § 52  Sie ist vom wissenschaftlichen Standpunkte die Theorie der bestimmten Ausbildung und Feststellung der organischen Verhältnisse im Staatsganzen. Ihre Aufgabe besteht demnach darin, die constitutiven Grundsätze für den Staatsorganismus zu entwickeln und in ihrem inneren Zusammenhange darzustellen. [Weil sie zum Zwecke haben, den Organismus des Staates zu constituiren.] § 53  Die organische Politik bezieht sich also zunächst auf das Verhältniß der Elemente des Staats zu einander und dann aus der Entwickelung und Aeußerungsweise der Staatsgewalt. Beide Momente, in ihrem inneren Zusammenhange aufgefaßt und in bestimmter Form aufgestellt, bilden die Staatsverfassung. Diesemnach kann die organische | Politik auch erklärt werden als die Theorie der Staatsverfassung. § 54  Die organische Politik hat nun ihrer Aufgabe nach eine zweyfache Seite, nemlich A.  die Lehre von der Staatsgewalt, B.  die Lehre von der Staatsform. § 55  Im Allgemeinen ist nun zunächst aus dem Standpunkte der vernünftigen Auffassung des Staates als eine Grundforderung anzuerkennen, daß jeder wahre, also vernünftig mögliche Staat eine Verfassung haben müsse.94 [Eine einzige Staatsform,

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die für alle gilt, gibt es nicht. Wo ein Staat keine Verfassung hat, muß er sich entweder durch Revolution helfen oder aufhören ein Staat zu seyn.] A.  Die Lehre von der Staatsgewalt. § 56  Die Staatsgewalt ist die objective Selbstmacht des Staatsganzen gegenüber der blos subjectiven Macht der einzelnen Persönlichkeit. § 57  Die vollständige Wahrheit des Staats hängt nun zunächst ab von der möglichst vollständigen organischen Gegenseitigkeit der besonderen Aeußerungsweisen der einen Staatsgewalt. In Absicht auf die Organisirung der Staatsgewalt kommen zwey Fragen | in Betrachtung, nämlich die nach der Unterscheidung und Theilung derselben, dann die nach ihrer Einheit. § 58  Was die erste Frage angeht, so ist das Prinzip der Unterscheidung der Staatsgewalt in ihrer Bedeutung selbst gelegen. Sie kann demnach nur eine dreyfache Gliederung annehmen, insofern sie sich entweder als objective Selbstbestimmung, oder als objective Selbstbeurtheilung, oder als objective Selbstvollziehung darstellt. Sie ist also wesentlich gesetzgebend, richtend und vollziehend. An den Unterschied der Staatsgewalt knüpft sich nun sofort die Rücksicht auf die mögliche Theilung derselben bey der Constituirung des Staats. Eine Theilung der Staatsgewalt besteht aber darin, daß jede derselben sich nach ihrer eigenen Bedeutung ohne Vermischung mit der andern behaupte und geltend mache. Die Nothwendigkeit der Trennung der Staatsgewalt muß vernünftig anerkannt werden, theils weil sie allein die Möglichkeit enthält, daß die volle Selbstmacht des Staates sich nach dem Begriffe der Persönlichkeit verwirkliche, theils weil in einer solchen Theilung allein die Ga | rantie der öffentlichen oder politischen Freiheit gelegen ist.95 § 59  Die Theilung der Staatsgewalten darf nur 1.  keine absolute seyn und zwar deswegen nicht, weil durch die absolute Theilung das innere organisch Totale des Staats ge-

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stört oder ganz aufgehoben würde. Die absolute Trennung der Staatsgewalten führt entweder zur reinen Demokratie oder Anarchie. 2.  Das Prinzip der Trennung oder Theilung der Staatsgewalten muß eine organische oder immanente seyn, gegenüber dem atomistischen Prinzipe. Dem ersten Prinzip gemäß muß nun die Theilung der Staatsgewalten aus dem substantiellen Wesen des Staates selbst hervorgetrieben werden. Dieses Wesen ist aber die objective vernünftige Persönlichkeit, deren Zweck die sociale Freiheit ist. Die Theilung der Staatsgewalt muß daher nur als ebensoviele wesentlich verschiedene, aber gegenseitige Thätigkeitserweisungen der Vernunft betrachtet werden. Hieraus folgt, daß einmal in jeder Gewalt sich das ganze Staatsprinzip setze; ferner darf keine der Gewalten irgend eine Richtung oder einen Zweck verfolgen, welcher dem Zwecke der andern vollständig fremd wäre. | 3.  Jede Gewalt setzt daher die andere nothwendig voraus und keine ist absolut unabhängig von der andern in ihren Prinzipien wie in ihrer Ausübung. § 60  Dieser organischen Gegenseitigkeit der Staatsgewalten tritt nun das atomistische System derselben entgegen. Dieses geht von dem Prinzipe einer ursprünglichen äußerlichen Verschiedenheit der Gewalten aus, und sucht jede als für sich bestehend auch nach ihren eigenen abstracten Grundsätzen durchzuführen. Die Verbindung und Gegenseitigkeit findet hier mehr statt aus dem Gesichtspunkte eines negativen gegenseitigen Verhaltens, oder aus dem Gesichtspunkte einer bloßen gegenseitigen Beschränkung, oder aus dem Gesichtspunkt der Gemeinschaftlichkeit ihrer Zwecke. § 61  Die zweyte Frage ist die nach der Einheit der drey Gewalten. Diese beantwortet sich nach den Grundsätzen über die Thei­ lung der Gewalten. Die Einheit der Staatsgewalt besteht darin, daß in jeder besonderen Staatsgewalt sich dasselbe Prinzip setze und geltend mache, nämlich die eine objective Vernunftmacht des ganzen Staats. Die Einheit in der Gegenseitigkeit der drey

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Gewalten ist aber deshalb eine unabweisliche Forderung der philosophischen Politik. Man | muß nun aber sofort unterscheiden zwischen der absoluten und relativen Einheit der drey Gewalten. Die absolute Einheit wäre eine Einheit ohne alle Scheidung und Trennung des Besondern. Wo diese sich geltend macht, entsteht die Despotie,96 eine vernunftwidrige Form des Staates. Die relative Einheit besteht aber darin, daß die drei Gewalten bey ­a ller Theilung sich gegenseitig bedingen, also in dem Momente der Staatszwecke sich begegnen sollen. Diese relative Einheit ist deßwegen nothwendige Vernunftforderung des Staats, weil ohne sie, oder bey absoluter Trennung der Gewalten die Anarchie noth­ wendige Folge seyn würde.97 § 62  Sowie indeß der Staat überhaupt in seiner wirklichen Vollziehung oder geschichtlichen Entwickelung verschiedene Metamorphosen hindurchgehen kann und muß nach Maßgabe nothwendiger und wesentlicher historischer Bedingungen, so muß auch das Verhältniß der Einheit zur Einheit der drey Gewalten verschiedene Modificationen darstellen müssen. Daher entstehn natürlich verschiedene Staatsformen, oder die Verschiedenheit der Staatsform muß als vernünftig nothwendig ­anerkannt werden. B.  Von der Staatsform. § 63  Staatsform überhaupt ist das bestimmte | System der Gegenseitigkeit der drey Staatsgewalten. Das System der Staatsgewalt ist also nur gedenkbar, insofern die organischen Momente des Staatsganzen in einer angemessnen Gliederung sich befinden. Daher muß die Lehre von der Staatsform: 1.  die einzelnen nothwendigen Elemente des Staatsorganismus betrachten; 2.  alsdann die Verbindung derselben mit Rücksicht auf das nothwendige Verhältniß der Staatsgewalt.

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§ 64  Von den organischen Elementen der Staatsform. Die Elemente der Staatsform sind identisch mit den Elementen des Staatsorganismus selbst. Es gibt nun aber wesentlich drey Grundelemente des Staats, nemlich die Obrigkeit, das Volk und die Stände. § 65  a. Von der Staatsobrigkeit. Die Staatsobrigkeit ist die Staatsgewalt in ihrer bestimmten Ausübung, dem einzelnen Inhalt des Staats gegenüber. Hieraus folgt nicht, daß die Obrigkeit sich als reine abstracte Staatsgewalt aufstellen dürfe, d. h. die Obrigkeit darf die Ausübung der Staatsgewalt nicht trennen von der Staatstotalität; dieser gegenüber gibt es keine Obrigkeit. Die Obrigkeit ist nur die concrete Darstellung der Staatsgewalt nach ihrer in sich bestimmten Einheit. § 66  Wesentliches Attribut der Staatsobrigkeit ist die Souveränität, d. h. völlig unabhängige Selbstständigkeit.98 Die Staatsobrigkeit ist deßwegen aber eben sowenig für sich oder ganz abstract souverän, als sie nicht für sich abstract die Staatsgewalt ist. Vielmehr ist die Souveränität in der Staatstotalität begründet oder in der gesammt objectiv socialen Persönlichkeit. Die Staatsobrigkeit ist nur das Organ der Volkssouveränität. | § 67  Die Souveränität hat eine zweyfache Seite, eine innere und eine äußere. Als innere Souveränität ist die absolute Unabhängigkeit der Staatsgewalt jede bloß subjective Persönlichkeit und Macht im inneren Staatsleben selbst. In dieser Hinsicht schließt sie jede Isolirung besonderer Staatsmomente ihr gegenüber aus. In äußerer Hinsicht ist sie die absolute Unabhängigkeit von der Gewalt jedes andern Staates. [Hieraus folgt der Begriff der Nichtintervention.] § 68  Es gibt also weder eine abstracte fürstliche noch eine abstracte Volkssouveränität, [wie durch Geburt, äußerliche Macht und soweiter wie bei dem Bürgerstand, der nur ein Element des Staats ist,] sondern alle wahre Souveränität ist wesentlich imma-

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nent und congret, d. h. sie ist dieses nur insofern als sie die innere Gesammtkraft des ganzen Staates in sich vereint darstellt. § 69  Aus dem Wesen der Staatstotalität, also auch der Staatsgewalt, welche hieraus resultirt, folgt Bedeutung und Begriff der sogenannten Majestät. Diese ist weiter nichts als Geltung der abso­luten Autokratie des Staates, welcher gemäß er sich selber regiert. Majestät hat daher eigentlich mehr der ganze Staat. Die Obrigkeit aber nur in so fern als sie jene Staatsautokratie repräsentirt. [Es kommt zuletzt darauf an, ob die deutschen Bundesstaaten ihre Majestät behalten, oder ob nicht der Landestag Gesetze vorschreibt, wodurch freilich die Majestät verloren geht.]99 | § 70  Die Staatsobrigkeit hängt in ihrer Möglichkeit und also auch in ihren Rechten von keinem anderen Prinzipe ab als von der Staatssubstanz selbst. Eben daher ergibt sich der wahre Begriff der Legitimität. Diese bedeutet eigentlich nur die Befugniß in einem Staat, die Staatsgewalt zu repräsentiren. Sie ruhet allein in der inneren Staatskraft selbst, sodaß jede Obrigkeit legitim ist, die in dem innren Leben des Staates ihren Grund und ihre Geltung hat. [Solange ein Regent sich durch die volle Kraft des Volkes halten kann, ist er legitim. Denn Geburt kann nur Zeichen der Legitimität seyn, nicht Prinzip, wie Hegel sagt.] Alle anderen Prinzipien der Legitimität wie das Recht des Stärkern, die Geburt und die bloße äußerliche Unterstützung sind nur zufällige und damit vernünftig keinesweges an und für sich wahre Gründe der Legitimität. Doch kann die Geburt als ein Vermittelungsmoment der Legitimität betrachtet werden, aber nur so lange, als die Geburt in dieser Hinsicht mit der innren Staatskraft selbst und ­ihren Rechten nicht in Widerspruch tritt. § 71  Diejenigen Bestimmungen, wodurch die Staatsobrigkeit sich als kongrete Repräsentation der Staatsgewalt qualifizirt | kann man unter den gewöhnlichen Namen der Majestäts- oder Hoheitsrechte zusammenfassen. Majestätsrechte sind also diejenigen Attribute, welche der Staatsobrigkeit rein als solcher wesentlich zukommen. Die Staatsobrigkeit ist also im Besitze der Hoheitsrechte aus ihrem objectiven, nicht aber aus ihrem subjek-

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tiven Standpunkte. Man kann die Hoheitsrechte betrachten einmal als Rechte der obrigkeitlichen Würde oder des Standes und dann als Rechte der obrigkeitlichen Gewalt. § 72  Rechte der obrigkeitlichen Würde. Hierhin gehören alle diejenigen Attribute, welche der Staatsobrigkeit in Absicht auf ihre persönliche Repräsentation zukommen. Folgende sind die wesentlichsten persönlichen Hoheitsrechte: 1.  Das Recht der höchsten Ehre, d. h. das des obersten Ranges in allen staatsbürgerlichen Verhältnissen. 2.  Das Recht der Huldigung. [Öffentliche Anerkennung der Staatsgewalt in dieser oder jener Persönlichkeit.] 3.  Das Recht der Unverletzlichkeit. [Dieses Recht auf Unverletzlichkeit hat der Regent nicht als subjektive Persönlichkeit.] 4.  Das Recht der Unverantwortlichkeit. | 5.  Das Recht der öffentlichen Subsistenz oder des standesmäßigen Unterhaltes. [Der Regent muß eine Civilliste haben, die aber nicht die Staatskräfte übersteigen darf;100 auch eigenes Vermögen, d. i. Domänen braucht er nicht zu haben. Der Herzog von Nassau hat kein Recht auf seine Domänen, obgleich er sie mit Familien­vermögen erworben hat.]101 § 73  Rechte der obrigkeitlichen Gewalt. Unter diesem Rechte werden alle diejenigen Attribute verstanden, welche dem Staatsoberhaupte aus dem Gesichtspunkte der Ausübung der Staatsgewalt selbst zukommen. Man kann sie sofort unterscheiden in innerliche und in äußerliche, je nachdem sie die Ausübung der Staatsgewalt, rücksichtlich der inneren Staatsinteressen betreffen oder die Erhaltung der Staatssouveränität gegen fremde Staaten. § 74  Innere Hoheitsrechte. Hierhin gehört: a.  Das Attribut der legislativen Sanktion und der legislativen Initiative.

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b.  Das Attribut der Oberrichterlichkeit. Dieses besteht darin, daß die Ausübung der richterlichen Gewalt von keinem anderen Prinzipe als von dem der Staatsgewalt selbst bestimmt werde. [Die Obrigkeit darf weder ein Urtheil reformiren noch einen Prozeß aboliren. Hat die Obrigkeit das Recht eine Gerechtigkeit niederzuschlagen, so wird ihr ein weites Feld zur Willkühr eingeräumt.] Doch gehört zur | Oberrichterlichkeit im besonderen das Recht der Begnadigung. Dieses ist aber durchaus keine subjektiv willkührliche Befugniß ein ausgesprochenes Urtheil wirkungslos und ohne Vollziehung zu lassen, sondern es ist die objectiv begründete Befugniß der Gerechtigkeit durch Anwendung der Prinzipien der Billigkeit eine mögliche Selbstgarantie zu geben. [Es sollte daher keine Begnadigung stattfinden als nach Empfehlung des Gesetzes selbst.] c.  Das Attribut der eigentlichen Regierung oder der Verwaltung der Gesetze. Dahin gehört: α.  Das Attribut der Decrete oder Verordnungen. [Welche dazu dienen sollen, bestehende Gesetze in Ausführung zu bringen.] β. Das Recht der Oberaufsicht. [Nemlich über das sociale Thun der Staatsbürger.] γ.  Das Recht der Beamtung. δ.  Das Recht der Cammeralgewalt, d. h. die Befugniß, die allgemeine Staatskraft zur Realisirung der Wohlstandszwecke zu leisten und zu bestimmen. ε.  Das Recht der Polizey. Aber nur der öffentlichen. Sie dient zur Garantie der negativen Sicherheit des Staates. Zu positiven Maaßregeln hat sie keine Befugniß (wie in England). ζ.  Das Recht der Promulgation der Gesetze und endlich η.  Das Recht des Zwanges.

Äußerliche Attribute der obrigkeitlichen Gewalt. § 75  Hierhin gehören alle diejenigen sogenannten | Hoheitsrechte, welche die Behauptung und Darstellung der Staatssou-

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veränität gegenüber jedem anderen Staate betreffen können. Im Besonderen kann man hierher rechnen: 1.  Das Recht der unabhängigen Selbsterhaltung nach außen oder das Recht des Kriegs. Mit diesem Rechte hängt wesentlich zusammen die sogenannte Militärgewalt oder die Befugniß des Staatsoberhauptes, die innere Kraft des Volkes zur äußerlichen Selbstbehauptung bestimmen und verwenden zu können. 2.  Das Recht des Friedens oder die Befugniß über den Stand der äußerlichen Sicherheit zu urtheilen, und in dieser Hinsicht diejenigen Maaßregeln zu bestimmen, wodurch diese Sicherheit ohne äußerliche Gewalt erhalten wird. Hieraus folgt: 3.  das Recht der Diplomatie. Dieses besteht in der Befugniß der Staatsobrigkeit, aus dem Standpunkte der executiven Gewalt, diejenige Unterhandlungen zu pflegen, wodurch die äußerlichen völkerrechtlichen Verhältnisse des Staates bestimmt und geordnet werden können. Dieses Recht befaßt wiederum unter sich: | a.  Das Recht der äußerlichen Repräsentation. b.  Das Recht der Tractate. § 76  Da die Hoheitsrechte, namentlich aber die der vollziehenden Gewalt oder der Regierung im engeren Sinne des Worts leicht [durch] subjective Rücksichten mißbraucht werden können, so fordert die Vernunft bestimmte objective Garantien.102 Diese müssen wiederum in der Totalität des Staates begründet seyn. Hierhin gehört vor allem: 1.  Die allgemeine Herrschaft des Gesetzes oder dieses, daß der Regent und die ganze Regierung unter dem Gesetze steht.103 Diese Garantie hat die Bedeutung, daß der Regent durch factische Verletzung des Gesetzes auch rechtlich die Befugniß seiner Würde verliert. 2.  Die Verantwortlichkeit der Behörden und zwar vorzugsweise der obersten Staatsbehörden. [In jedem Staate muß eigentlich ein oberster Gerichtshof stattfinden, wo sich das Ministerium zu verantworten hat.]104 3.  Der Regent darf nicht für sich selbst oder einseitig über Succession in der Staatsverwaltung bestimmen. [Es hat also kein

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­ egent das Recht, durch Hausgesetze die Nachfolge zu bestim­ R men.] | 4. Alle Regentenhandlungen können vor das parlamentarische Tribunal und vor die öffentliche Meinung gezogen werden. [Wie in England.]105 b.  Von dem Volke. § 77  Das Volk ist als ein wesentliches Element der Staatstotalität nachgewiesen worden. Aus diesem Gesichtspunkte bildete es sich aus allen Mitgliedern des Staates, insofern sie von der obrigkeitlichen Gewalt bestimmbar sind. § 78  Im Allgemeinen ist nun freilich das Volk als Element des Staates von der Obrigkeit verschieden, allein es bildet dieser gegenüber keine persönliche Parthei. [Wie in der gegenwärtigen Zeit, anders in Nordamerika.] Es ist vielmehr nur das nothwendige Object, welches die Staatsgewalt aus der inneren Gliederung des Ganzen sich setzen muß. Hieraus folgen diejenigen Rechte oder Befugnisse, welche dem Volke rücksichtlich der Staats­ obrig­keit zukommen können. 1.  Das Recht der mittelbaren Theilnahme an der Ausübung der Staatsgewalt oder das Recht auf freie Repräsentation. [Die unmittelbare Theilnahme des Volkes an der Staatsgewalt hebt den Staat auf und führt zur Anarchie.]106 Dieses Recht erstreckt sich durch alle Stände, insofern in denselben | wirkliche elementarische Grundlagen des Staates gelegen sind. [Der Pöbel der Nichts zur Erreichung der Staatszwecke beiträgt, hat kein Recht zur Repräsentation.]107 2.  Das Recht der Beurtheilung der öffentlichen Angelegenheiten. 3.  Ebendaher das Recht der öffentlichen und gemeinschaftlichen Berathung rücksichtlich der Staatszwecke. [Die Regierung hat darauf zu sehen, daß solche Berathungen nicht ausarten, aber sie darf sie nicht geradezu verbieten. In England ist dieses, wie billig, gestattet. Verletzen sie die Gesetze, so sind sie als äußere Feinde zu betrachten und in diesem Falle Militärgewalt anzuwenden.]

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4.  Das Recht der Petition und zwar selbst der gemeinschaftlichen Petition. 5.  Das hiermit in Verbindung stehende Recht der Adressen.108 6.  Das Recht der Beschwerde und Klage. 7. Das Recht des Selbstschutzes unter dem Gesetze. [Das Recht, durch bloße Bürgergewalt Excesse im Volke zu verhindern und zu unterdrücken. Also ist eine Bürgergarde, eine Nationalgarde erforderlich.] Endlich 8.  Das Recht der vollen Publizität und öffentlichen Meinung, also der Preßfreiheit.109 [Die Preßfreiheit besteht darin, daß jeder drucken lassen kann, was er will, steht aber mit seinem Räsonnement unter dem Gesetze, dem Preßgesetze.] c.  Die Stände. § 79  Der Staat ist wesentlich organisches Ganzes.110 Hieraus folgt, daß alle absolute, also rein abstracte allgemeine Gleichheit im Volke dem Staatsbegriffe widerspricht, oder ein elementarer Unterschied im Volke selbst ist eine politische Vernunftordnung. § 80  Der Unterschied im Volke aber muß sich aus dem Volke selbst, also immanent her | vorbilden. Je entschiedener die Theilglieder im Volke in und an der Einheit des Ganzen sich darstellen, desto gesunder ist das Volksleben selbst. § 81  Insofern nun die einzelnen Unterschiede im Volke sich nach besonderen stabilen Prinzipien bilden müssen, [wie Recht, Bildung, Wohlfahrt,] so kann man diese Unterschiede auch Stände nennen. Diesemnach sind die Stände im Volke eine politische Vernunftforderung.111 § 82 Das Grundprinzip für die Unterscheidung der Stände kann nur in den Grundinteressen oder in den Grundzwecken des Staates gesucht werden. Diese Grundinteressen sind dreyerley Art: 1.  Das Interesse oder der Zweck der Freiheit überhaupt, also des Rechts und der Sicherheit. 2.  Das Interesse oder der Zweck der Bildung; endlich 3.  Das Interesse oder der Zweck des Wohlstandes. Diesemnach kann es vernünftig nur drey Stände geben, welche man be-

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zeichnen kann als den Stand der Staatsbeamten, als den Stand der Gelehrten und als den Stand der Gewerbtreiben | den oder als den bürgerlichen Stand im engsten Sinne des Wortes. [Der Militärstand ist kein Stand, weil er kein immanentes inneres Interesse des Staates vollziehen kann. Da aber das Verhältniß des Staates zu anderen Staaten ein Totales ist, so muß auch die Ver­ theidigung des Staates eine Pflicht der Totalität seyn, also aller Bürger.] § 83 Bey der Begründung und Unterscheidung der Stände muß man nun wohl unterscheiden zwischen den wesentlichen, ewig nothwendigen Vernunftgründen und den bloß historischen, mehr oder weniger zufälligen Darstellungsformen der Stände. [Wahren Adel haben nur diejenigen, die das Volk zur Repräsentation seines inneren Interesses wählt; aller anderer Adel ist leeres Vorurtheil.]112 Diese letzteren können immer von eigenthümlichen Umständen abhängen, müssen aber eben deßwegen unter veränderter Gestalt der Umstände, unter denen sie sich bildeten, auch selbst sich verändern lassen. Alle Formen der Stände sind aber vernünftig anzuerkennen, welche eben geeignet sind grade das substantielle Interesse, worauf ein Stand sich gründet unter den gegebenen historischen Verhältnissen angemessen zu vollziehen. Zunächst sind die Stände in ihrer Besonderheit aufzufassen. In dieser Hinsicht kommt Alles darauf an, daß die eigenthümlichen Grundinteressen derselben nach ihrer wahren Bedeutung durch einen Stand vollzogen werden können. Es ist daher allerdings vernünftig, daß einerseits jeder Stand seine eigenthümlichen Mittel habe, um seine eigenthümliche Bestimmung von sich aus zu verwirklichen, | daß er andererseits aber auch besondere Attribute besitze, wodurch seine eigenthümliche Standesmäßigkeit bezeichnet wird. Diese Besonderheit der Stände aber schließt die immanente Einheit und Gegenseitigkeit derselben nicht aus, vielmehr muß jeder Stand sich mittelbar in jedem anderen wiederfinden, insofern sie alle drei nur das Grundinteresse des ganzen Volks zu verwirklichen haben. Hieraus folgt

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1. Die verschiedenen Stände dürfen bei allen besonderen und eigenthümlichen Attributen und Rechten doch in keinerlei Weise Vorrechte und Privilegien gegen einander haben, obwohl also in den Rechten ungleich, müssen sie doch gleich seyn vor dem Rechte. [Jeder mit Privilegien ausgestattete Stand ist also zu verwerfen.] 2.  Daß also auch jeder Stand mit jedem anderen im Allgemeinen gleiche Ansprüche auf alle Vortheile des Staats-Ganzen habe. 3.  Weiter folgt daraus, daß die Stände sich nicht absolut trennen dürfen, also auch selbst nicht äußerlich als absolut geschieden einander gegenüber treten, sie müssen daher innerlich sich einander offen stehen, so daß der Übergang aus dem einen in dem andern ungehindert gestattet ist und daß äußerlich im geselligen Verkehre kein Stand | an und für sich zurückgesetzt ­erscheint. 4.  Jeder Stand hat als solcher Theil an den wesentlichen Rechten des Volks, also vorzüglich an den politischen Rechten, welche man auch die parlamentarischen nennen kann. [Sie concentriren sich in der Repräsentativverfassung.] Dieses Recht der politischen Theilnahme steht jedem Stande gleichmäßig zu oder im Allgemeinen hat kein Stand ein besonderes parlamentarisches Vorrecht.113 Auch darf keine historische Zufälligkeit das Maaß der politischen Theilnahme ausschließend bestimmen wollen. 5.  Ausgeschlossen von den parlamentarischen Rechten ist daher sowie kein Stand ebenso absolut kein einzelnes Mitglied des Staates. Wohl aber kann eine relative Ausschließung stattfinden; diese tritt da ein, wo irgend Jemand in dem Staatsganzen in keinerlei Weise eine bestimmte sichere Mitwirkung zur Vollziehung irgend eines ständischen Interesses darstellt.114 6.  Alle Stände haben, obwohl zunächst durch ein besonderes Interesse constituirt, doch ihre Vereinigung in dem Gesammt­ interesse des Staats, welches die objective Vollziehung des menschlichen ist. Daraus ergibt sich für die parlamentarische Thätigkeit die wichtige Folge, daß in der repräsentativen Mitwirkung | kein Stand sein Interesse isolirt verfolgen dürfe, sondern

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immer zunächst auf das Gesammtinteresse Aller Rücksicht zu nehmen habe. Von der organischen Verbindung der Staatselemente zu bestimmter Staatsform. Das Prinzip für die Bildung der Staatsform aus dem gesammten Elemente muß darin gesucht werden, wie die eine Staatsgewalt sich nach ihren drey Hauptrichtungen durch jene Elemente hin vertheilen und in ihnen sich darstellen können. § 84  Man muß bey der Frage nach der Staatsform sofort unter­ scheiden zwischen der absolut vernünftigen oder wahren und zwischen der historisch vernünftigen oder historisch wahren. Das absolut Vernünftige abstrahirt zunächst von allen besonderen historischen Beziehungen und stellt das Allgemein-Gültige oder das Normal-Wahre auf. Das historisch Vernünftige erweiset sich aber darin, daß das absolut Vernünftige oder | NormalWahre durch nothwendige historische Bedingungen congret bestimmt erscheint. Bey der historisch vernünftigen kommt also alles darauf an, daß die wesentlichen geschichtlichen Momente von den zufälligen und scheinbaren unterschieden werden [(die beste Staatsform kann nur in der Idee seyn)], und daß ein historisch gültiges sich nie absolut peremtorisch darstellt, also auch sich nicht die Bedeutung des rein allgemein Vernünftigen gebe. [Dasjenige ist peremptorisch,115 das für alle Zeiten gültig seyn will.] § 85  Wahr ist demnach jede Staatsform, in welcher der Begriff des Staats sich als solcher auf dem Grunde hinlänglicher Garantieen vollziehen kann. Für die Wirklichkeit gibt es daher keine absolut beste Staatsform, die absolut-beste ist stets nur eine allgemeine und damit eine abstracte. Es soll aber die absolut beste oder abstracte Staatsform die Grundprinzipien enthalten für den möglichen Fortschritt der historisch vernünftigen Staatsform. § 86  Wie bemerkt worden, ist nun das allgemeine Vernunftprinzip für jede wahre Staatsform darin gelegen, daß die eine

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Staatsgewalt | sich nach ihren drey Hauptrichtungen organisch vertheile und einheitlich wiederum darstelle in den drey Grund­ elementen des Staats. Demnach können zunächst zwey Hauptformen des Staats apriorisch aufgestellt werden, denn entweder entwickelt sich die Staatsgewalt durch jene Staatselemente synthetisch, d. h. sie schreitet aus ihrer verschlossenen Einheit fort zu ihrer Selbstunterscheidung, oder sie entwickelt sich analytisch, d. h. es stellt sich die Einheit aus der bereits gegebenen Unterscheidung oder Vertheilung als Resultat dar; wo jenes der Fall ist, ist im Allgemeinen die monarchische Form, wo aber der ­andere Fall eintritt, ist die polykratische Form.116 § 87  Jede dieser Grundformen des Staates gestattet wiederum verschiedene Modificationen, je nachdem die historische Vollziehung der an sich vernünftigen oder allgemeinen wesentlichen Bedingungen der congreten Darstellung mit sich bringt. Damit aber eine historische Staatsform entweder monarchisch oder poly­k ratisch vernünftig möglich sey, wird | folgendes erfordert: 1.  Jede wahre historische Staatsform muß zunächst republikanisch seyn, d. h. sie muß von der Art seyn, daß sie das Staats­ interesse aus dem Gesichtspunkte der Allgemeinheit und Gemeinschaftlichkeit des ganzen Volkes vermittelt, daher darf keine wahre Staatsform sich blos für sich oder in abstracter Selbstheit geltend machen wollen. [Wie bey Louis XIV., der sagte: l’etat c’est moi.]117 2.  Daher muß jede Staatsform geeignet seyn, die Staatsangelegenheiten mehr oder weniger öffentlich behandeln zu lassen. 3.  Sie muß wesentlich aristocratisch seyn, d. h. die Staatsform muß in ihrer Vollziehung durch die vorzüglichsten besonderen Persönlichkeiten im Staate repräsentirt werden. [Das aristocratische Moment kann nur die Wahl, nicht aber die Geburt noch sonst etwas historisches bestimmen.]118 Das aristocratische Moment der Staatsverfassung liegt daher in der Natur der Staatspersönlichkeit selbst, in welcher das höhere oder vernünftige Moment das untergeordnete mehr oder weniger willkührlich zu ordnen und zu bestimmen hat.

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4.  Jede Staatsform muß ver | fassungsmäßige Garantien haben, oder sie muß konstitutionell seyn. Die konstitutionellen Garantieen aber einer Staatsform liegen in der objectiven Macht des Staatsbewußtseyns, also darin, daß die allgemeine Staatspersönlichkeit aus ihrer eigenen Mitte sich selbstständig gegen mögliche einzelne innere Isolirungen kräftig erweisen. Solche Garantieen können im Besonderen seyn: a.  eine allgemeine oder nationale Religion. [Wie ehemals z. B. im hebräischen Staate. Auch jetzt noch gewissermaßen bey den Türken.]119 b.  eine allgemein historisch-begründete nationelle Gewohnheit. c.  wirkliche Constitutionen oder vertragsmäßige G ­ arantieen.120 [Sie ist das reine klare Selbstbewußtseyn der socialen Persönlichkeit.] Diese drei Arten von Garantien entsprechen dem historischen Entwickelungsgange des Staats selbst. In der eigentlichen Constitution hat sich das objective Bewußtseyn der Staatspersönlichkeit zum eigentlich reinen Selbstbewußtseyn potenzirt. Eben daher sind eigentliche Constitutionen die höchste Stufe der Staatsform. Aus dem Wesen der wahren Costitution ergibt sich, daß dieselbe zunächst immanente Bedeutung haben müsse, | also in keinerlei Weise rein äußerlich seyn dürfe. Die immanente Eigenschaft der Constitution ist also identisch mit ihrer nationalen Wahrheit. [Die englische Constitution ist Muster nach den Prinzipien, wie eine Constitution eingerichtet werden soll.]121 Weiter darf daher auch keine Constitution von irgend einem besonderen Elemente des Staates ausgehen wollen, sondern sie muß aus der Staatsgesammtheit hervorgehen und durch ihre innerlich gegen­seitige Selbstbestimmung gebildet werden. So wenig es daher eigentlich gemachte Constitutionen gibt, ebenso wenig darf es geschenkte oder durch eine isolirte willkührliche Gewalt eingeführte Constitution geben. [Wie z. B. die Bourbonen gewollt und die meisten Fürsten noch wollen.122 Wie z. B. die deutsche im Mittelalter durch den Adel.]

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§ 88  Aus den Bestimmungen der wahren Staatsform ergibt sich die allgemeine Folge, daß weder rein-absolute Monarchie, oder rein subjective Autokratie noch absolute Demokratie oder Ochlokratie vernunftmäßig anerkannt werden können,123 weil in beiden das konstitutionelle Moment schlechthin mangelt, überhaupt auch alle organische Immanenz aufgehoben ist. Dennoch muß jeder Staat autokratisch seyn, d. h. er muß als allgemeine sociale Persönlichkeit in seinen eigenen inneren Selbstbestimmungen von jedem fremden Staate unabhängig seyn. In so fern ist die Autokratie | des Staates aber eine absolut objective. [Subjectiv absolute Autokratien sind solche, wenn die Obrigkeiten dem Staatselemente gegenüber sich autocratisch benehmen.] Anmerkung. Die sogenannte Despotie und Tyranney sind keine besonderen Formen des Staates, sondern bloße Weisen, wie vorhandene Formen des Staates mißbraucht werden können. Man kann beyde erklären als positive Verneinungen aller konstitutionellen Gesetzmäßigkeit. Die Despotie ist subjectives Selbstherrschen ohne Gesetz, die Tyranney ist willkührliches Selbstherrschen wider alles Gesetz mit der Richtung auf Unterdrückung des Gesetzes und damit des Rechts.124

Dritter Abschnitt. Die administrative Politik im weiteren Sinne des Worts. § 89  Die administrative Politik im weitern Sinne des Worts ist die Lehre von der Art und Weise, wie unter der Herrschaft der organischen Grundgesetze die Staatsgewalt in ihren Richtungen ausgeübt werden müsse. Die Prinzipien der administrativen Poli­ tik oder der Staatsregierung im weiteren Sinne des Worts müssen daher einerseits nach den Grundinteressen des Staats, andererseits | nach der Beschaffenheit der bestehenden Staatsform entwickelt werden.

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§ 90  Die Aufgabe der administrativen Politik ist nemlich aus dem wissenschaftlichen Standpunkte diese: die allgemeinen Grundsätze für die Staatsregierung oder für die Ausübung der drey Gewalten nach den Forderungen der Vernunft darzustellen. Im Besondern läßt sich nun diese Aufgabe bezeichnen A .  als Lehre von den Grundsätzen der juridischen Legislation, B.  als Lehre von der Culturadministration, C.  als Lehre von der Legislation rücksichtlich der materiellen Interessen im Staate. Das erste ist die Rechtspolitik, das andere die Culturpolitik, das dritte die Wohlstandspolitik. Die beyden letzteren lassen sich mit dem Ausdruck der Administrativ­politik oder der Staatsregierungskunst im engeren Sinne des Wortes bezeichnen. A. Rechtspolitik. § 91  Sie ist die Lehre von den Prinzipien und Grundsätzen der Rechtsgesetzgebung, also die Theorie für die Ausübung der juridisch legislativen Gewalt. | § 92  Die Rechtspolitik läßt sich wieder nach drey besonderen Richtungen abhandeln, nemlich 1)  als Theorie des Privatrechts, 2)  als Theorie des Criminalrechts und 3)  als Theorie der Rechtspflege. 1.  Das Privatrecht. § 93  Recht überhaupt ist die rein objective sociale Geltung des Persönlichen. Das Privatrecht ist nur der Inbegriff derjenigen Rechte, welche der Persönlichkeit in ihrer subjectiven Beziehung auf andere Persönlichkeiten unter der Auctorität des Staates zukommen, oder es bedeutet die sociale Geltung der Staatsmitglieder gegen einander. § 94  Der allgemeine Grund des Privatrechts überhaupt liegt darin, daß die subjective Persönlichkeit in der allgemeinen objec-

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Die administrative Politik im weiteren Sinne

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tiv socialen nie aufgegeben werden darf, weil ohne die subjective Persönlichkeit auch jene allgemeine ohne lebendigen Inhalt seyn würde. Das Privatrecht ist nun die Garantie der subjectiven Persönlichkeit in der allgemeinen socialen. Die apriorische Begründung der Möglichkeit aber eines wirklichen Privatrechts liegt im Staate, denn vom | Staate allein können die socialen Interessen in ihrer objectiv vernünftigen Geltung bestimmt werden. So sehr auch das Privatrecht dem Gegenstande nach subjectiv seyn mag, so ist es doch nie in seiner Feststellung subjectiv, weil alles Recht unter dem Begriffe der allgemeinen Socialität allein gedenkbar ist. Aber auch selbst dem Gegenstande nach kann das Privatrecht nie absolut subjectiv werden, weil ja alle persönlichen Interessen innerhalb des Staates immer nur relativ seyn können. § 96  Man kann nun zunächst das Privatrecht unterscheiden aus einem doppelten Gesichtspunkte. 1.  aus dem Gesichtspunkte der besonderen Begründung, 2.  aus dem Gesichtspunkte des Gegenstandes. In der ersteren Hinsicht sind die Privatrechte entweder ursprüngliche Urrechte [(die sich von selbst verstehen und nicht erst vom Staatswesen bestimmt zu werden brauchen)], oder abgeleitete erworbene Rechte, je nachdem der besondere Grund gelegen ist in der Unmittelbarkeit des subjectiv Persönlichen selbst, oder in irgend einer besonderen socialen Bedingung oder Voraussetzung. In Absicht auf den Gegenstand sind die Pri | vatrechte so verschieden als die objectiven Interessen an sich selber wesentlich verschieden seyn können. Es läßt sich aber eine dreyfache Grundverschiedenheit in der Rechtsobjectivität bezeichnen. Erstens nämlich kann die persönliche Rechtssubjectivität schlechthin oder eben nach ihren wesentlichen persönlichen Interessen Gegenstand des Rechts seyn, oder es kann der Kreis der Sachen, also der bewußtlosen Gegenstände als an sich bestimmter objectiver Rechtskreis angesehen werden, oder endlich es können persönliche Grundlagen rücksichtlich bestimmter Objecte, also

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die persönliche Causalität ein eigenthümliches gegenständliches Rechtsgebiet bilden. Diesemnach würde das Privatrecht sich unter­scheiden in das Personenrecht, in das Sachenrecht und in das Recht der Leistungen und Forderungen. Absolutes oder Urrecht. § 97  Das absolute Recht ist dasjenige, welches ohne alle besondere historische Voraussetzung im Wesen des menschlichen Begriffs also auch in dem Wesen der Persönlichkeit unmittelbar seinen Grund hat. Das Urrecht ist daher | in gewisser Hinsicht das Recht der Menschheit als solcher. Eben weil dieses Recht die Basis für alle andren Rechte bildet, ist es eben auch das Urrecht [auch Menschheitsrechte genannt].125 § 98  Man kann nun die Urrechte in folgender Entwickelung darstellen: 1.  Das Urrecht der Rechtsfähigkeit überhaupt. Dieses besteht darin, daß jeder aus dem Standpunkte seiner Persönlichkeit zu Rechten überhaupt gelangen kann. Dieses Urrecht schließt daher alle Sklaverey als solche im Staate aus. 2.  Das Urrecht der Selbsterhaltung. Dieses besteht darin, daß jede subjective Persönlichkeit innerhalb des Staates sich in ihrer natürlichen Existenz behaupten dürfe. Dieses Recht schließt wiederum besonders in sich a. Das Recht auf Eigenthum, insofern im Staatsleben das Eigen­thum als ein nothwendiges sociales Moment überhaupt zu setzen ist. [Dieses Recht müssen auch alle Corporationen im Staate haben.] b.  Das Recht auf sociale Freiheit überhaupt. Dieses besteht darin, daß jede Persönlichkeit in der Staatsgesammtpersönlichkeit ihre vernünftigen Interessen unter der Auctorität des Staates [(also des Gesetzes)] geltend machen könne. Dieses Urrecht befaßt im besonderen wiederum unter sich: | α. Sicherheit der Personen, welches Recht die Ansprüche gründet auf den Schutz des Staates bey vorkommender Gefähr-

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Die administrative Politik im weiteren Sinne

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dung der persönlichen Existenz sowohl in physischer als in psychischer Hinsicht [z. B. gegen Verläumdungen]. β.  das Recht der Gleichheit vor dem Gesetze. γ.  das Recht der bürgerlichen Freiheit im eigentlichen Sinne des Wortes. Dieses Recht besteht darin, daß jeder in der Socia­ lität von sich aus, also frey, solche Zwecke setzen darf, welche durch den gemeinschaftlichen bürgerlichen Verkehr realisirt werden können. δ.  das Recht der politischen Freiheit. Dieses besteht darin, daß Jeder unter dem Vorhandenseyn der ursprünglichen Bedingungen die öffentlichen oder eigentlichen Staatsangelegenheiten mittelbar zum Gegenstande seiner Wirksamkeit machen könne. Bestimmter drückt sich dieses Recht darin aus, daß es das Recht auf Vertretung oder auf Repräsentation rücksichtlich der Ausübung der Staatgewalt zeigt. c.  das Urrecht auf Ehre im Allgemeinen. Dieses besteht darin, daß jede Person im Staate das Recht hat, von jeder andern in ihrer persönlichen Würde, also auch in ihrem | öffentlichen Stande im Staate geachtet zu werden. d.  das Urrecht der Vertheidigung des Persönlichen. Dieses Recht schließt in sich α.  das Recht der Klage oder das Recht der Vertheidigung unter und durch das Gesetz. β.  das Recht der Nothwehr oder der Vertheidigung unter dem Gesetz, jedoch nicht durch das Gesetz, sondern durch Selbsthülfe. Die Nothwehr besteht darin, daß jeder im Staate seine Rechte gegen jeden andern durch Selbsthülfe vertheidigen könne, wenn es unmöglich ist, solche durch die Gesetze, also auf dem Weg der Klage zu erreichen. Die Nothwehr ist nun zunächst keineswegs ein Zustand der reinen Natur, oder die beiden Persönlichkeiten, welche die Nothwehr betrifft, stehen keineswegs außer­halb der Normalität und folglich des Staats. Ebendaher muß alle Nothwehr dem Gesetze überhaupt untergeordnet werden. Hieraus ergibt sich im besondern

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1. Daß jede Nothwehr vorzüglich eine wirkliche Noth des Rechts voraussetze, d. h. einen solchen Zustand des Rechts e­ iner Person, welcher die Hülfe des Gesetzes offenbar unmöglich macht. 2.  Die Noth des Rechts muß aber selbst eine unverschuldete seyn oder der Angriff auf das Recht | muß ein ungerechter seyn. 3.  Die Nothwehr darf nie den Kreis der Noth überschreiten, also nur soweit gehen, als eben die Selbstvertheidigung den ungerechten Angriff als solchen abzuweisen geeignet ist. 4.  Eben dieser Bedingungen wegen steht die Nothwehr unter staatsricherlicher Entscheidung, nachdem sie in irgend einem besonderen Falle geübt worden ist. Eben hiermit tritt sie aber ­unter das Gesetz. 5.  Die Art der Nothwehr hängt theils von der Art des Angriffs, theils aber auch von der Art des angegriffenen Rechts ab und sie ist deßhalb bald bloße Abwehr jus defensionis, bald aber auch wirkliches Zuvorkommen jus praeventionis, bald positive Gegenwehr jus aggressionis. Was die Art des angegriffenen Rechts betrifft, so können gekränkte physische Rechte in der Regel durch physische Gewalt, gekränkte psychische Rechte aber in der Regel nur durch psychische Mittel selbst geschützt werden. e.  Das Recht der freien Ansiedlung jus incolatus. Es besteht darin, daß jeder in jedem Staate leben könne, wenn er dem Gesetze des Staates Genüge leistet. Dieses Recht schließt daher ein: α.  Das Recht auf Bürgerthum überhaupt. | β.  Das Recht der freien Auswanderung. [Die Militärpflichtigen, wenn sie auswandern wollen, zurückzuhalten, ist ungerecht und ein willkührliches, äußerliches Gesetz.] γ.  Das Recht des freien Aufenthalts im fremden Staate. 3.  Das Urrecht der Selbstvervollkommnung. Dieses besteht darin, daß jeder im Staate durch die allgemeinen Mittel des Staates seine ganze Persönlichkeit frei entwickeln und über die bloßen Bedürfnisse und Interessen der Natur erheben dürfe. Das Selbstvervollkommnungsrecht schließt nun vor Allem die Befugniß in sich, daß jeder im Vergleiche mit jedem An-

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dern, von seinem historischen Standpunkte aus, gleich freien Zugang zu den socialen Mitteln der Selbstvervollkommnung hat. Die Selbstvervollkommnung erstreckt sich so weit als eine freie Erhebung des Menschen über die bloß natürliche möglich. ist. Diese Erhebung ist aber eine zweyfache, nemlich eben freie Entwickelung des physischen wie des geistigen Lebens. Man kann demgemäß das Selbstvervollkommnungsrecht unterscheiden als das Recht auf physischen Wohlstand und auf eigentliche Bildung. Das Recht auf Wohlstand schließt in sich das Recht des freien Gebrauchs der physischen Güter, eben hier mit dem Recht des freien Genusses und endlich das Recht des freien Erwerbs. In Absicht auf die geistige Selbstvervollkommnung fordert das Vernunftrecht allgemeine | Gleichheit sowohl in wissenschaftlicher als auch in moralischer und religiöser Hinsicht. In allen drey Beziehungen muß daher jeder mit jedem andern gleichmäßig ursprüngliche Freiheit im Gebrauche der Staatsmittel ansprechen können. Die erworbenen oder hypothetischen Rechte. § 99  Erworbene Rechte sind alle diejenigen, welche nicht unmittelbar mit der Persönlichkeit als solcher gedacht werden müssen, sondern von eigenthümlichen historisch socialen Bedingungen und Umständen abhängen, also einen historischen Grund oder Titel erfordern. Eben weil die erworbenen Rechte von eigen­ thümlichen Bedingungen abhängig sind, kann man sie auch den Ur- oder absoluten Rechten gegenüber hypothetische Rechte nennen. § 100  Die allgemeinen Bedingungen nun des hypothetischen Rechtes überhaupt sind folgende: 1. Eine bestimmte persönliche Rechtssubjectivität. Dieses Erforderniß begründet sich dadurch, daß einerseits das Recht ohne bestimmte Persönlichkeit gar keine Bedeutung hat, daß aber auch andererseits | die Rechtsverhältnisse im Staate eine bestimmte Erkennbarkeit haben müssen, ohne welchen öffentlichen Character keine Rechtssicherheit möglich wäre.

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2.  Ein bestimmtes Faktum, in welchem sich das Erwerbbare selber ausspricht. 3. Veräußerlichkeit des fraglichen zu erwerbenden Rechts. Diese Eigenschaft besteht darin, daß ein Recht wirklich von ­einer Person auf die andere übertragen werden kann, also kein schlechthin und rein ursprünglich persönliches ist. 4.  Die rechtliche Möglichkeit. Diese besteht darin, daß durch den Rechtserwerb der wohlbegründete Rechtskreis anderer oder auch überhaupt die politische Gesetzmäßigkeit nicht verletzt werde. § 101  Die hypothetischen Rechte als solche, welche sich von einer Person auf die andere übertragen lassen, können nun zweyfacher Art seyn, je nachdem der Gegenstand, den sie betreffen, verschieden ist; entweder nemlich ist dieser Gegenstand ein objectiv fertiger, eine Sache, oder ein solcher, der durch die Causalität einer Person gesetzt wird, eine Handlung, Leistung. Insofern sind alle hypothetischen Rechte entweder Sachenoder Obligationsrechte. a.  Das Sachenrecht. § 102  Wesen, Bedeutung und Bedingungen des Sachenrechts hängen von dem substantiellen Begriffe der Sache selbst ab. Der Begriff | einer Sache muß sich aus dem Wesen des Daseyns selber entwickeln lassen. Dieses besteht darin, daß es ein subjectiv-objectives Ganzes von Realitäten ist. Daher wird erfordert, daß im Daseyn zunächst Dinge sind mit der einfachen Bedeutung reiner Objectivität, also ohne die Möglichkeit eines subjectiv sich selbst Setzens, daß andererseits aber auch Realitäten und Substanzen existiren müssen, deren Bestimmung eben die subjective Auffassung der Dinge ist. Die erste Seite des Daseyns bildet nun die sachliche im weitern Sinne des Worts, die andere aber die persönliche im weitern Sinne des Wortes. § 103  Die Sache kann nun im Allgemeinen definirt werden als die rein-subjectlose Wirklichkeit, oder Sache ist alles dasjenige,

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welches von sich selbst aus weder Zwecke erkennen noch Zwecke setzen kann. § 104  Die Sache ist nun, obwohl sie keine Zwecke von sich aus setzen kann, darum nicht an sich zwecklos, vielmehr hat jedes, was wahrhaft existirt auch eine wesenhafte objective Bedeutung im Ganzen der Dinge, in dieser Bedeutung liegt ihr Zweck an sich. | § 105 Bey der Sache muß sofort rücksichtlich möglicher Rechte selbst unterschieden werden zwischen ihrer Substanz und ihrem möglichen Werthe. Jene besteht in dem realen Momente an und für sich, dieser besteht aber eben in ihrer Zweckmäßigkeit, rücksichtlich des persönlichen Willens. Auf das Letztere bezieht sich der Gebrauch. Der Gebrauch ist daher nur die Verwendung des Werthes einer Sache. § 106  Das Sachenrecht wird nun von der Bedeutung der Sache bedingt und kann im Allgemeinen erklärt werden als die Befugniß in der Socialität, seinen persönlichen Willen rücksichtlich einer Sache geltend zu machen. § 107  Der vernünftige Grund des Sachenrechts ist ein zweyfacher, ein allgemeiner metaphysischer und eben ein socialer. Der metaphysische Grund des Sachenrechts liegt in den ursprünglichen Verhältnissen des Subjectiven zur subjectlosen Wirklichkeit. Sowie nemlich die Subjectivität des Geistes, also das Persönliche nicht seyn kann, ohne daß es sich an einer rein objectiv natürlichen Welt in seiner Freiheit entwickelt, somit den Inhalt seines Daseyns | gewinnt, ebenso kann auch ohne die Macht, seinen Willen an einer Sache geltend zu machen, die besondere Vollziehung des persönlichen nicht statt finden. Insofern kann es nicht blos, sondern muß sogar eine Befugniß des Persönlichen geben, das Sachliche von sich aus frey zu bestimmen. Der sociale Grund des Sachenrechts setzt den metaphysischen allgemeinen voraus und ist darum nur von Bedeutung, weil eben der allgemeine metaphysische anthropologische gültig ist. Es beruht aber der sociale Grund des Sachenrechts darin, daß in der socialen Einheit des Menschen das Subjectivpersönliche in kei-

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nerley Weise aufgegeben werden darf, daß mithin auch in dieser Verbindung die sachliche Verhältnißmäßigkeit rücksichtlich des subjectivpersönlichen fortbestehen muß. § 108  Aus der Begründung des Sachenrechts ergibt sich sein Umfang. Dieser reicht soweit, als ein objectiv-sachliches vom Standpunkte seiner Zweckmäßigkeit an sich von dem persönlichen Willen bestimmt werden kann. Hieraus ergeben sich auch sofort die Bedingungen des Sachenrechts, | welche diese sind: 1.  Daß es in keiner absoluten Willkühr rücksichtlich der Sache bestehen kann, sondern immer von der vernünftigen Zweckmäßigkeit abhängig sey. 2.  Daß die fragliche Sache in irgend einer Weise in den Bereich der subjectiven Willensthätigkeit fallen könne. § 109  Das Sachenrecht erhält seine weitere Bestimmung in dem Eigenthum, weil in diesem jedes Recht seine entschiedene sociale Bedeutung gewinnt. § 110  Das Eigenthum setzt aber zunächst mehrere Momente voraus, welche mit dem Sachenrechte verbunden oder auch Gegenstände desselben seyn können. Diese Momente hängen von der Bedeutung der Sache selbst ab. Die Sache aber kann zunächst von dem persönlichen Willen beherrscht werden; dann kann sie rücksichtlich [Textlücke] auf die persönlichen Zwecke bezogen werden; endlich kann sie rücksichtlich ihrer Substanz oder ihrer realen Bedeutung an und für sich auf die persönliche Willensbestimmung zurückgeführt werden. Hiermit entstehen drey mögliche Rechtbezeichnungen zu einer Sache, nämlich: a)  das Besitzrecht, b) das Gebrauchsrecht und c) die eigentliche Proprietät; das volle Eigenthum setzt alle drey Rechtsbezeichnungen | nothwendig voraus. § 111  Der Besitz. Der Besitz drückt ein blos faktisch bestimmtes Verhältniß der Person aus zu einer Sache. Der Besitz kann zunächst nur auf Sachen bezogen werden, weil die reine Persönlichkeit von der Persönlichkeit als solcher ursprünglich nicht zu trennen ist, sondern

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ein wesentliches Element derselben ausmacht. Was aber im Besitze seyn soll, muß ein Object der persönlichen Selbstbeziehung seyn können. Das Sachliche kann nun aber ein zweyfaches seyn, entweder ein unmittelbares, d. h. ein fertig gegebenes, natürliches Object, oder auch eine Handlung rücksichtlich irgend eines besondern Zweckes, also eine Leistung. Der Besitz kann nun verschiedener Art seyn. Entweder ist er ein blos physischer, oder er ist ein Mentalbesitz, je nachdem man den fraglichen Gegenstand wirklich innerhalb seiner persönlichen Kräfte hat oder nur den Willen an dieses Object geknüpft hat. Aus dem Standpunkte der Socialität ist der Mentalbesitz vernünftig begründet, wie denn aller Besitz in rechtlicher Beziehung nur rücksichtlich der Socialität Bedeutung hat. Außerdem kann man den Besitz noch unterscheiden in den blos juridischen und in den blosen Naturalbesitz. Jener besteht darin, daß die Inne­habung einer Sache, | also auch die physische Besitzung derselben, mit dem Willen verbunden sey, die Sache als die Meinige zu besitzen; letzterer dagegen besteht darin, daß die Innehabung eines sachlichen Rechtes nicht mit jenem Willen verbunden ist. Endlich kann man den Besitz auch unterscheiden aus dem Gesichtspunkte seiner Begründung in den rechtmäßigen und unrechtmäßigen Besitz; jener ist da, wo ein wirklicher Rechtsgrund ihn gestattet, dieser aber, wo ein solcher Grund fehlt. Der unrechtmäßige Besitz ist zweyfacher Art nemlich der redliche (bonae fidei) und der unredliche (malae fidei).126 § 112  Der Gebrauch. Dieser besteht darin, daß Jemand den Werth einer Sache oder ihre Zweckmäßigkeit auf seine persönlichen Interessen bezieht, also den Werth einer Sache an und für sich auf seinen Willen bezieht. Der Gebrauch ist nun darin als ein besonderes Rechtsobjekt anzuerkennen, daß es innerhalb der Socialität allerdings möglich ist, den Werth oder die Zweckmäßigkeit einer Sache auch ohne eigentliche Berücksichtigung des innern Wesens derselben anwenden zu können.

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In naturrechtlicher oder vernünftiger Hinsicht muß nun sofort bemerkt werden, daß sowie sich der Werth nicht absolut von der Substanz der Sache trennen läßt, ebensowenig ein absolutes selbstständiges Gebrauchsrecht statt finden könne, d. h. ein solcher, welcher sich schlechthin von der Substanz der Sache und der Rechte an derselben trennte. | § 113  Das Eigenthum. Das Eigenthum ist im Allgemeinen eine Sache, insofern sie nach ihrer ganzen Existenz von der Willensbestimmung einer socialen Persönlichkeit ausschließlich abhängig ist. Der allgemeine Grund des Eigenthums überhaupt liegt in den Verhältnissen des Menschen zu den natürlichen Dingen. Der Mensch kann eben als subjective Wirklichkeit nur in dem Maaße seine Subjectivität entwickeln und behaupten, als er Naturdinge von sich aus frei bestimmen und behandeln kann. § 114  Man kann nun zunächst unterscheiden zwischen dem allgemeinen und dem besondern Eigenthum. Das allgemeine Eigen­thum würde darin bestehn, daß blos eine bestimmte sociale Totalität in der Form des Staates Eigenthum hätte, nicht aber die besonderen socialen Persönlichkeiten. Ferner kann man unterscheiden zwischen dem öffentlichen oder Staatseigenthum und dem Privateigenthum. Das erste ist dasjenige, welches die Staatstotalität den besondern Mitgliedern des Staates gegenüber besitzt, während das Privateigenthum dasjenige ist, welches einzelnen Persönlichkeiten der Staatstotalität gegenüber zukommt. | Aus dem naturrechtlichen Standpunkte muß durchaus das Privateigenthum, also überhaupt das besondere Eigenthum, als ­a llein wahrhaft begründet angesehen werden127 und zwar 1.  aus einem einfachen Rechtsgrunde selbst. Diesem gemäß muß alle subjective Persönlichkeit im Staate vor allem eben ihre persönliche Subjectivität unter der Auctorität des Ganzen möglichst vollziehen können. Dazu gehört aber, daß jeder von seinem Standpunkte aus und durch seinen Willen die natürliche Objectivität der Dinge bestimmen kann.

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2.  Ein fernerer Grund liegt in humanen Verhältnissen, indem offenbar jeder auf dem Grunde des Privateigenthums sich viel freier bilden und überhaupt die moralisch menschlichen Zwecke verwirklichen kann. Endlich 3.  muß das Privateigenthum auch aus rein politischen Gedanken vertheidigt werden.128 Einmal nemlich gewinnt das innere Staatsleben selber durch das Privateigenthum sowohl an lebendiger Productivität als auch an wirklichen Inhalten und anderer Seits wird durch das Privateigenthum der Patriotismus oder der bürgerliche Gemeinsinn gefördert. | § 115  Das Eigenthum setzt nun seinen Begriffen nach das Besitzrecht, das Gebrauchsrecht und die Proprietät oder das Dispositionsrecht über die Substanz selbst voraus, eben deßwegen, weil alle drei Momente zum vollen Begriffe der Sache selbst gehören, insofern sie ein Object eines besonderen Rechts seyn kann. Zum Eigenthumsrechte, insofern es das Dispositionsrecht als das höchste in sich schließt, gehört also wesentlich die Freiheit, über die ganze Existenz der Sache nach vernünftigen Zwecken und nach socialen nothwendigen Verhältnissen bestimmen zu können. Dieses Verfügungsrecht kann nun auf folgende Weisen sich vollziehen. 1.  Durch die Vernichtung der Sache. Diese Vernichtung darf aber nie eine absolut unvernünftige und willkührliche seyn. 2. Durch Dereliction129 oder durch freie Verzichtleistung. 3. Durch Umwandlung130 oder freie absichtliche Veränderung einer Sache. Endlich 4. Durch Alienation131 oder durch vertragsmäßige Entäußerung. | § 116  Das Eigenthum aus dem Gesichtspunkte des reinen Sachenrechts betrachtet, kann nun auf zweyfache Weise im Allgemeinen erworben werden, nemlich auf unmittelbare und mittelbare Weise. Die letzte Weise beruht im Vertrage und gehört daher eigentlich dem Obligationsrechte an. § 117  Zunächst wird das Eigenthum als rein sachliches Recht auf unmittelbare Weise erworben. Es läßt sich hier aus dem na-

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turrechtlichen Standpunkte eine dreifache Erwerbart unterscheiden, nemlich der sogenannten Occupation, die Präscription oder Verjährung und endlich die Erbfolge, successio in bona ­alterius.132 § 118  1.  Die Occupation. Diese Erwerbart besteht darin, daß irgend ein sachliches Recht durch ein einseitiges subjectives Factum erworben wird. Die Occupation kann auf mehrfache Art geschehen, nemlich a.  durch körperliche Ergreifung, b.  durch Bezeichnung, c.  durch Formation, diese setzt die unmittelbare Occupation voraus [Z. B. wenn ich aus meinem Baum einen Balken mache], d.  durch Accession.133 der Zuwachs. [Z. B. wenn ich ein trächtiges Mutterpferd kaufe, so gehört mir das Junge.] Zur vernünftig rechtmäßigen Occupation gehören folgende Hauptpunkte. Zunächst muß die zu erwerbende Sache wirklich eine herrenlose seyn. Dann | muß sie überhaupt keine den Menschen gemeinschaftliche seyn, sondern eine solche, die wirklich für Privatinteressen verwendet werden darf. Endlich muß der Gegenstand der Occupation ein wirklicher, rein sachlicher seyn, und zwar ein unmittelbar sachlicher, daher kann keine Leistung durch Occupation erworben werden. Die Occupation ist, wie alles besondere und namentlich sachliche Recht, kein Recht von rein absoluter Folge und Wirkung, d. h. die Occupation kann nie willkührlich ausgedehnt werden, sondern wird immer darin relativ bleiben müssen, daß sie auf die sociale Verbindung mit den übrigen Persönlichkeiten Rücksicht zu nehmen hat. Die vernünftig naturrechtliche Gränze der Occupation liegt also immer in der Möglichkeit des Bestehens der übrigen socialen Persönlichkeit.134 Der naturrechtliche Grund der Occupation ist die ursprüng­ liche allgemeine Rechtsgleichheit der Menschen.135

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§ 119  2.  Die Verjährung. Sie besteht darin, daß ein fremdes Eigenthumsrecht blos durch den fakischen Besitz erworben wird. Die Präscription wird von den meisten Naturrechtslehrern als kein ursprüngliches oder naturrechtliches Erwerbsmittel angesehen | und zwar deßwegen, weil man das Naturrecht von der absoluten Subjectivität des Persönlichen herleitet. Die Präscription ist nun aber allerdings ein wesentliches ursprüngliches naturrechtliches Erwerbmittel und zwar deßwegen, weil alles Recht durch die sociale Einheit nicht nur besteht, sondern auch in seiner Entwickelung und Geltung bestimmt wird. Daher ist Niemand in der Socialität absoluter Eigen­thümer, sondern immer nur Eigenthümer insofern es die gemeinschaftlichen und Totalinteressen der Socialität gestatten. Es kann nun aber sehr oft eben von dem gemeinschaftlichen Socialinteressen wesentlich gefordert werden, daß eben der faktische Besitz eines fremden Eigenthums Grund des Eigen­ thumsrechts selber werde. Denn theils kann die Benutzung ­einer Sache von der Totalität als wesentlich nützlich angesprochen werden, andererseits aber fordert das gemeinschaftliche Rechts­ interesse im Staate, daß die Rechte möglichst bestimmt und sicher sind. Die hauptsächlichen Bedingungen einer vernunftmäßigen Präscription sind folgende: a.  Sie fordert redlichen Besitz, weil ein Unrecht nie Quelle des Rechts wer | den kann. b. Ein ungestörter oder ununterbrochener Besitz, welcher darin besteht, daß das fragliche Sachenrecht während des redlichen Besitzes von dem ursprünglichen Eigenthümer nicht reclamirt worden ist. c. Dem Eigenthümer muß es möglich gewesen seyn, sein Eigen­thumsrecht zu reklamiren. d.  Es gehört dazu eine längere dauernde Frist, welche jedoch nach Maaßgabe des fraglichen Rechtsobjects in der Zeit verschieden seyn kann. Der Grund hiervon liegt im Begriffe und in der allgemeinen socialen Bedeutung der Verjährung selber.

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e. Das zu erwerbende Recht muß in jeder Hinsicht für die präscriptive Erwerbung geeignet seyn, also ein unmittelbar sachliches und rein veräußerliches. f.  Das zu erwerbende Recht muß auch aus dem politischen Gesichtspunkte erwerblich seyn.

§ 120  3.  Die Erbfolge. Ihr eigentlicher Begriff beruht darin, daß sie ist eine Rechts­ erwerbung | lediglich durch den Tod und wegen des Todes eines bezüglichen Rechtssubjects. Auch die Erbfolge ist eine bestrittene naturrechtliche Erwerbungsart, indem die meisten Naturrechtslehrer dieselbe ganz und gar in dem Vernunftrechte nicht begründet finden. Diejenigen, welche die Erbfolge etwa naturrechtlich vertheidigen, gehen wiederum von sehr unrichtigen Voraussetzungen aus, indem E ­ inige den Vertrag zur Basis der Rechtmäßigkeit der Erbfolge machten, Andere irgend eine Fiction, z. B. die Fiction der unendlichen Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode oder überhaupt die Unsterblichkeit der Seele. Der Vertrag findet hier deßwegen keine Anwendung, weil Niemand mit dem Aufheben seiner socialen Persönlichkeit noch über Rechte disponiren kann. Die beiden anderen Gründe sind aber deßwegen bloße Fictionen, weil offenbar über die Fortdauer der eigentlich socialen oder Rechtspersönlichkeit nach dem Tode nichts bestimmt werden kann. Der wahre Grund der Erbfolge muß wiederum in der Bedeutung der socialen Gegenseitigkeit und Totalität aufgesucht werden. Von diesem Standpunkt aus ist es erstes und wesentliches Erforderniß des Rechtszustands, daß einerseits auch die sachlichen Rechte in ihrer Vertheilung | möglichst dem Ganzen förderlich seyen und daß andererseits die Rechtsverhältnisse möglichst bestimmt und in ihrer Ordnung gesichert sind; für beydes kann und muß sogar oft die Erbfolge als das beste Mittel vernünftig angesehen werden. Man kann nun unterscheiden zwischen der testamentarischen oder mittelbaren und zwischen der Intestat-Erbfolge oder der

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unmittelbaren. Einige von den Naturrechtslehrern haben die testamentarische, andere die Intestat-Erbfolge vertheidigt, die wenigsten jedoch die Letztere. Beyderley Arten der Erbfolge lassen sich indeß naturrechtlich vertheidigen und zwar die testamentarische einmal deswegen, weil durch sie das Eigenthumsrecht sicher bestimmt wird und dann zugleich durch die testamentarische Möglichkeit auch die bürgerliche Freiheit des Persönlichen vielseitig gefördert werden kann. Selbst die Vermehrung des Eigen­thums kann durch die Gültigkeit der testamentarischen Erbfolge vielseitig vermittelt werden. Die Intestaterbfolge findet ihre naturrechtliche Begründung hauptsächlich in zwey Momenten: 1.  Darin, daß wiederum eine größere Bestimmtheit und Deutlichkeit in die sach | lichen Rechtsverhältnisse gebracht wird. 2) Vorzüglich aber findet die Intestaterbfolge darin ihren naturrechtlichen Titel, daß durch sie die Familie als das wichtigste Element des Staats vorzüglich befestigt und in ihren gemeinschaft­ lichen Interessen gesichert wird. 4.  Das Obligationsrecht. § 121  Das Obligationsrecht besteht in dem Rechte auf Leistungen anderer Personen. Eine Leistung aber ist eine Handlung, also ein freies persönliches Wirken im Interesse eines andern. § 122  Obligatorisch und damit Rechtsgegenstand wird die Leistung, insofern sie an einem fremden Willen bestimmbar wird. § 123  Damit nun aber eine Handlung ein Object fremder Willensbestimmung und somit gleichsam fremdes Eigenthum werde, wird erfordert: 1.  Daß sie dem Wesen der Person nicht [Textlücke] darf. Urrechtliche oder sogenannte menschenrechtliche Interessen dürfen daher nie durch eine Leistung [Textlücke] werden. Ebendaher ist diese gleichsam etwas sachliches. 2.  Daß sie natürlich moralisch und rechtlich möglich sey. 3.  Daß die Leistung von dem freien Willen ausgehen könne. | § 124  Aus der Bedeutung einer Leistung folgt, daß sie in keinerley Weise unmittelbar erworben werden kann, wie die rein

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sachlichen Rechte, welche letzteren Sachenobjecte als fertige äußer­liche betreffen. Eben daher wird eine Leistung nur dadurch obligatorisch und das Eigenthum eines andern, daß sie auf gegenseitiger Willensbestimmung beruhe. Diese deswegen, weil jeder als Mensch nur insofern überhaupt ein Subject der Handlung, also auch der Leistung seyn kann, als er eben von sich aus, also auf dem Grunde seines selbstbewußten Willens eine Thätigkeit setzen kann. Hiermit führt die Betrachtung auf den Vertrag. Der Vertrag allein kann die Begründung einer obligatorischen Leistung enthalten. Der Vertrag ist nun im Allgemeinen zu erklären als die objectiv gewordene Identität des Willens mehrerer Rechtssubjectivitäten rücksichtlich einer Leistung. § 125  Zunächst unterscheidet sich nun der Vertrag von dem bloßen einfachen Versprechen dadurch, daß eben die Identität des Rechtswillens social erklärt sey, während das Versprechen diese sociale Erklärung keineswegs zu seinem Wesen hat. Das Versprechen hat daher auch nur moralische Verbindlichkeit und liegt eben damit außerhalb des Kreises rechtlicher Beurtheilung. § 126  Der Vertrag fordert nun im Besondern, | damit er rechtgültige Folgen habe 1.  wirkliche, nicht blos scheinbare Identität des Willens rücksichtlich einer Leistung. Daraus ergibt sich, daß der subjective Wille der Contrahenten weder erzwungen noch getäuscht, noch in irgend einer Weise irrthümlich bestimmt sey. 2.  Die Identität des Willens muß eben durch irgend ein Factum in ihrer entschiedenen und vollständigen Bestimmtheit objectiv bezeichnet werden; diese pflegt man wohl vorzugsweise der Willenserklärung zu nennen, und es liegt darin die sogenannte Stipulation, welche daher der wesentliche Unterschied zwischen einfachem Versprechen und Vertrag ist. 3.  Endlich muß der Vertrag in seiner Rechtsfolge erzwingbar seyn, und zwar social erzwingbar seyn, also er muß seine Garantie in der objectiven Macht des Staates haben. § 127  Der eigentliche juridische Grund für die obligatorische Verbindlichkeit der Verträge ist darin zu suchen, daß inner­halb

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der Socialität Niemand seinen eigenen subjectiven Willen auf Kosten des Willens der Andern bestimmen und ausüben darf. Was die Eintheilung der Verträge betrifft, so kann dieselbe aus ­einem doppelten Gesichtspunkt statt finden, und zwar 1)  aus dem Gesichtspunkte der obligatorischen Gegenseitigkeit, 2) aus dem Gesichtspunkte der Beschaffenheit der Leistung. | § 128  1.) Eintheilung der Verträge aus dem Gesichtspunkte der obligatorischen Gegenseitigkeit. Dieser Gesichtspunkt betrifft das Verhältniß der Contrahenten rücksichtlich der Leistung und Gegenleistung. Die Verträge sind in dieser Hinsicht doppelter Art; nemlich entweder unentgeltliche, sogenannte einseitige Verträge, oder sie sind belästigende, sogenannte gegenseitige Verträge, je nachdem die Leistung blos einseitig ist, also ohne Gegenleistung von Seiten des Promissors, oder eben je nachdem beyde Contrahenten eine Leistung haben und also zugleich Promittenten und Promissoren sind. Zu den unentgeltlichen Verträgen werden alle diejenigen gerechnet, in welchen also durchaus die Leistung des Promittenten durch keinerley Art von Gegenleistung ersetzt wird. Aus dem naturrechtlichen Standpunkte sind diese Verträge im Allgemeinen zu vertheidigen, insofern nemlich sowohl die persönliche Freiheit, als auch das sociale Interesse das Stattfinden derselben begründet. Im Besondern aber muß bemerkt werden, daß sie nie absolut oder ohne alle Rücksicht auf die socialen Verhältnisse von der Willkühr der Contrahenten abhängen können. Der Staat als allgemeine Garantie sowohl der besondern | persönlichen Interessen, als auch der gemeinschaftlichen socialen Interessen muß die unentgeltlichen Verträge mehr oder weniger nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit legislativ bestimmen und beschränken. Die gegenseitigen Verträge bedürfen keines näheren Nach­wei­ sens ihrer Begründung, weil sie aus der Natur des socialen Lebens unmittelbar folgen. Dennoch stehen auch diese Verträge nicht in der absoluten Willkühr der Paciscenten, sondern sind

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mehr oder weniger wiederum von der Oberaufsicht des Staates abhängig zu machen, insofern dieser wiederum sowohl die Rechtsverhältnisse der Einzelnen, als das Interesse des Ganzen zu sichern hat. § 129  2) aus dem Gesichtspunkte der Beschaffenheit der Leistung. In dieser Hinsicht sind die Verträge zunächst rein dingliche Verträge. Diese sind solche, in welchen die Leistung blos in der einfachen Tradition eines sachlichen Rechts besteht. Zu ihnen gehören die Verträge, in welchen die Tradition blos den Gebrauch einer Sache betrifft, dann solche, wo die Tradition die Proprietät oder das eigentliche Eigenthum der Sache angeht. Bey der Tradition des Gebrauchs bleibt | demnach die eigentliche Substanz der Sache unter der Disposition des Eigenthümers selbst. Hierhin gehört der sogenannte Leihevertrag (commutatio).136 Wo die Proprietät übergeben wird, ist der dingliche Vertrag entweder Schenkung (donatio)137 oder Tausch (mutuatio)138 oder Kauf (emtio).139 Die Dienstverträge. Sie bestehen darin, daß die Leistung wirklich zum Object die Handlung als Handlung hat. Der Dienstvertrag140 ist naturrechtlich erlaubt, sobald die Handlung als solche nicht die Urinteressen der Menschheit verletzt. Die Verträge schließen wiederum in sich den eigentlichen Lohnvertrag (locatio operarum),141 den Bevollmächtigungsvertrag (mandatum)142 und endlich den sogenannten Hinterlegungsvertrag (depositum).143 Der Lohnvertrag ist gegenseitig, die beyden andern aber sind ­ihrer Natur nach einseitig. § 130  Der Gesellschaftsvertrag.144 Dieser hat das Eigenthümliche, daß in demselben die Interessen und Leistungen nicht blos gegenseitig sind, sondern zur wirklichen Einheit und Gemeinschaftlichkeit übergehn. Bey den Gesellschaftsverträgen tritt daher das Persönliche der Contrahenten in eine innigere Verbindung, als bey allen übrigen. Die Gesellschaftsverträge sind daher auch nicht so transitorisch als die andern bereits angeführten.

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Daher können sie immer nur solche Zwecke betreffen, die theils dauernd sind, theils auch geeignet, die persönliche Gegenseitigkeit in in | n igere Gemeinschaft zu bringen. Hieraus ergibt sich der Begriff der Gesellschaft selber. Gesellschaft ist jede Rechtsverbindung unter mehreren Rechtsobjecten in Betreff der Richtung und Anwendung ihrer Wirksamkeit zur Erreichung eines gemeinschaftlichen dauernden Zwecks. § 131  Die Gesellschaft ist daher in ihrer wahren Bedeutung eine wirkliche sociale Persönlichkeit, eben damit eine besondere Rechtssubjectivität.145 Diese Persönlichkeit ist aber eine sogenannte moralische, auch wohl juridische, und zwar deßwegen, weil sie sich eben durch den freien Willen, also das moraliche und rechtliche Moment konstituirt. Jede wahre Gesellschaft muß nun aber, um als solche social gelten und also auch Rechte haben zu können, ihren persönlichen Charakter objectiv social festgestellt haben. Ferner muß jede Gesellschaft sich durchaus auf den Vertrag gründen oder es gilt keine rein natürliche unmittelbare Gesellschaft, obwohl es unmittelbar natürliche Gesellschaften geben kann, d. h. solche, welche zu ihrem Zwecke ein rein natürliches Moment haben. Endlich ist jede Gesellschaft dem Staate gegenüber nur eine private Persönlichkeit und alles Gesellschaftsrecht ist wesentlich Privatrecht. Ebendaher kann auch der Staat nie aus dem Begriffe einer Gesellschaft aufgefaßt und beurtheilt werden.146 | § 132  Die allgemeinste Voraussetzung einer Gesellschaft ist ihre physische, moralische, rechtliche und politische Möglichkeit. § 133  Man pflegt die Gesellschaften nun im Allgemeinen zu unterscheiden: 1.  in Absicht auf ihre innere Constituirung in gleiche und ungleiche Gesellschaften, je nachdem die Gesellschaftsgewalt unter der Theilnahme aller Mitglieder ausgeübt wird, oder in einer bestimmten Unterordnung, also mehr oder minder hierarchisch. Beyde Arten sind naturrechtlich möglich; nur dürfen die ungleichen Gesellschaften nie absolut ungleich seyn.

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2.  In Absicht der Beschaffenheit der Zwecke. Hier sind die Gesellschaften entweder natürliche oder sogenannte zufällige, je nachdem der betreffende Zweck ein wirklich natürlich nothwendiger ist, oder ein solcher, welcher von dem Wohl der Gesellschaftsmitglieder abhängt. 3.  können sie aus dem Gesichtspunkt ihrer Dauer unterschieden werden in vorübergehende, zeitliche und in beständige, ja selbst ewige. Eigentliche ewige Gesellschaften in dem Sinne, daß eine bestehende Gesellschaft sich durch alle Zeiten hier unter den Menschen erhalten müsse, kann es naturrechtlich nicht geben, eben weil es keinen ewig dauernden bestimmten Gesellschaftszweck geben kann. [Ewige Gesellschaften sind solche, die bey dem Abgehen einiger Mitglieder durch neue wieder ersetzt werden können, z. B. die Kirche.] § 134 Die Gesellschaft hat als moralische be | stimmte Person147 auch das allgemeine Grundrecht der Rechtssubjectivität oder der Rechtsfähigkeit. In dieser Hinsicht kommen ihr demnach alle diejenigen Rechte im Allgemeinen zu, welche überhaupt eine physische Persönlichkeit aus dem socialen Gesichtspunkt sich zueignen kann. Alle Rechte aber, die eine Gesellschaft ansprechen kann, sind immer nur Privatrechte. Ebendaher kann keine Gesellschaft blos als solche in irgend einer Weise sogenannte Staatsrechte in Anspruch nehmen. Die Rechte der Gesellschaft sind nun entweder innere oder ­äußere Rechte, je nachdem sie blos die Gesellschaft in ihrem subjectiven innerlichen Bestehen betreffen, oder ihr Rechtsverhältniß zu andern Rechtspersönlichkeiten. Das Hauptsächlichste eines Gesellschaftsrechts ist das der gesellschaftlichen Gewalt. Diese besteht darin, daß jede Gesellschaft ihre Angelegenheiten durch sich selbst und durch ihre eigene persönliche Kraft anordnen und verwalten dürfe ohne positive Bestimmung des Staates. Ferner hat die Gesellschaft als hauptsächlichstes äußerliches Recht das Recht des freien Erwerbs und das Recht der vollständigen bürgerlichen Selbsterhaltung.

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§ 135  Unter den Gesellschaften sind vorzüglich zwey besonders zu berücksichtigen, deren Zweck ein natürlich nothwendiger und in menschheitlicher Hinsicht wie in politischer wesentlich ist. Es sind die Familie und die Kirche. | Die Familie. § 136 Die Familie ist eine gesellschaftliche Verbindung, in welcher die Einheit des persönlichen Lebens die Vermittelung enthält der Fortsetzung des menschlichen Geschlechts, also die Erhaltung und Vollziehung der menschlichen Gattung. § 137  Der Zweck der Familie ist zunächst ein rein natürlich nothwendiger; das Prinzip derselben ist die natürliche persönliche Liebe. § 138 Der naturrechtliche Grund für die Möglichkeit und Nothwendigkeit der Familie ist ein dreifacher, nemlich a.  ein rein humaner, insofern sich durch die Familie die Begründung des Menschlichen am sichersten vollzieht, b.  ein politischer, insofern durch die Familie ganz eigentlich der Staat seine wesentlichen organischen Elemente gewinnt, c. ein eigentlich juridischer. Dieser besteht darin, daß die Menschen nach allen an sich möglichen Seiten hin bürgerliche Freiheit genießen müssen, also auch ihre an sich erlaubten Zwecke in der Form der Familie vollziehen dürfen. § 139  Zur Familie gehört ein doppeltes Verhältniß; einmal das unmittelbare Geschlechtsverhältniß an und für sich, in so fern dieses die natürliche nothwendige Basis der Selbsterhaltung des menschlichen | Geschlechts ist, zweitens das älterliche Verhältniß. Auf jenes erstere gründet sich die Ehe, auf dieses die Erziehung. α.  Die Ehe. § 140  Die Ehe ist diejenige gesellschaftliche Verbindung zwischen Personen verschiedenen Geschlechts eben wegen der natürlichen Geschlechtsverhältnisse in der Form der Einheit des persönlichen Lebens.

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§ 141  Der Zweck der Ehe ist also naturgemäße Vollziehung der gesellschaftlichen Verhältnisse. § 142  Der Grund der Ehe fällt mit dem Grund der Familie überhaupt zusammen und im Allgemeinen darf daher jeder in eine Ehe treten, welcher zu dem Punkte der vollen geschlecht­ lichen Entwickelung gekommen ist. § 143  Die Vollziehung der Geschlechtsbestimmung muß aber immer rein menschlich vernünftig seyn. Daher können die rein ehelichen Rechte nie als dingliche oder sachliche Rechte betrachtet werden, wie Einige lehren, z. B. Kant.148 § 144  Eben weil das eheliche Verhältniß ein rein persönliches und zugleich in seinem Ursprunge ein rein freies ist, kann diese Gesellschaft in keinerley Weise auf sachliche Art eingegangen werden. Daher können auch die ehelichen Rechte nicht durch rein sachliche Titel erworben werden, sondern sie setzen immer den Vertrag voraus. | § 145  Die Ehe ist eine beständige Gesellschaft, also eine solche, welche nicht in ihrer Auflösung rein von der Willkühr der Contrahenten abhängt. Dieses deßwegen nicht, weil einerseits ihr Zweck selber ein beständiger ist und dann, weil überhaupt die politischen Verhältnisse das Transitorische der Ehe nicht gestatten. Hieraus folgt, daß die Ehe an und für sich relativ unauflösbar ist, nicht aber absolut.149 Denn es kann der Fall eintreten, daß entweder der Zweck der ehelichen Verbindung nach allen Seiten hin unmöglich wird oder daß die Form der Ehe, nemlich die Einheit des natürlich persönlichen Lebens nicht mehr bestehen kann. [Wenn die Liebe aufhört und Prügeleien an ihre Stelle treten.] § 146  Die Ehe kann nun in ihrer wirklichen Darstellung eine zweyfache Form annehmen, entweder nemlich die polygamische oder die monogamische. Es herrscht Verschiedenheit der Ansicht, welche von beyden Formen naturrechtlich möglich sey. Die meisten, namentlich die streng juridischen Theoretiker entscheiden für die Monogamie und zwar die Letztern aus rein juridischen Gründen. Sobald aber die Vernunft als den Begriff des in der Wirklichkeit Nothwendigen auch die verschiedenen histo-

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rischen Bedingungen, insofern sie wesentlich sind, bey der Ehe anerkennen muß, so folgt daraus, daß beyde genannten Formen rechtlich möglich sind, | wenn sie einmal dem Begriff der Ehe nicht widersprechen150 und dann, wenn sie durch nothwendige historische Umstände begründet werden. Auf der höchsten Stufe des Staats, wo also ein gehöriges Maaß von Population bey gehörig festgestellter Vernunftordnung vorhanden ist, muß freilich die Monogamie aus politischen und humanen Gründen vernünftig gefordert werden. § 147  Die weiteren ehelichen Rechte151 lassen sich mehr oder weniger eben aus dem Zwecke der Ehe herleiten. Das hauptsächlichste eheliche Recht ist das der Ausschließlichkeit rücksichtlich der ehelichen Geschlechtsverhältnisse. Ein zweites Recht ist das der Gütergemeinschaft152 rücksichtlich desjenigen Vermögens, welches während der Ehe erworben wird. § 148  Die Ehe muß wie jede andere Gesellschaft an und für [sich] möglich seyn. Es gibt nun aber eine vierfache Möglichkeit, nemlich die physische, moralische, juridische und politische. Wenn die Ehe irgend einer dieser Möglichkeiten nicht entspricht, ist sie naturrechtlich ungültig. Hieraus ergibt sich, ob und in wie fern das Vernunftrecht sogenannte Ehehindernisse gestattet. Diese sind allerdings im Naturrechte anzuerkennen, jedoch nur im Allgemeinen und mit der ausdrücklichen Forderung, daß die persönliche Freiheit möglichst geachtet bleibt. Diesemnach kann es nun vierfache | Hindernisse geben. 1.  physische, wohin die absolute Impotenz gehört, 2.  moralische, wohin alle Verbrechen gehören, welche das öffentliche bürgerliche Leben als solche bezeichnet; zugleich gehören hierher alle moralisch unerlaubten Mittel, wodurch eine Ehe eingegangen worden ist; 3.  gehören hierher diejenigen Hindernisse, welche aus Rechtsverbindlichkeiten entspringen. 4. Die politischen Hindernisse, wohin besonders die Verwandtschaftlichkeit und die absolute Vermögenslosigkeit zu rechnen ist.

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β.  Die Erziehung. § 149 Das Wesen der Familie beruht darin, daß sie in der Form moralischer Persönlichkeit der Erhaltung des eigentlichen menschlichen Daseyns vermitteln soll. Die Erhaltung des Menschlichen hat aber eine doppelte Seite, nemlich die Erhaltung der reinen natürlichen unmittelbaren Existenz und die Erhaltung des geistigen freien Moments in der Natur-Existenz. Beydes muß daher in der Familie seine Vollziehung finden können. Ihr mögliches Resultat muß daher auch Fortpflanzung | und Fortbildung des menschlichen Geschlechts seyn können. Dieses Resultat stellt sich bestimmter dar in dem Verhältnisse von ­Eltern zu Kindern. § 150 Insofern die Eltern aus dem Gesichtspunkte des menschlichen Begriffs die Kinder als Elemente der Menschheit berücksichtigen und ihre Erhaltung befördern müssen, entsteht die Erziehung. § 151  Das Verhältniß der Familie fordert nun aus dem naturrechtlichen Standpunkte nothwendig die Erziehung und diese ist somit ein Recht als auch eine Pflicht der Eltern.153 Weil aber beydes, Recht und Pflicht ohne eine höhere gesellschaftliche Gewalt in der Familie nicht verwirklichet werden können, so ergibt sich, daß vernunftrechtlich elterliche Gewalt über die Kinder gegründet sey. § 152  Diese elterliche Gewalt ist nun aber eine rein persönliche, also in keinerley Weise eine erst aus Vertrag oder auf andere Art vermittelte. Sie folgt aus der Einheit des natürlichen persönlichen Lebens selbst, welches in der Familie die wesentliche Form der Gesellschaft ist. Die Kinder sind daher ein natürliches lebendiges Resultat der elterlichen Persönlichkeit und mit dieser daher auch unmittelbar einheitlich verbunden. § 153  Das Verhältniß der Aeltern zu | den Kindern, namentlich insofern es sich in der Erziehung darstellt wird theils durch allgemeine menschliche, theils durch allgemeine politische Rücksichten bedingt. Die elterliche Gewalt ist insofern durchaus keine absolute, sondern sie findet ihre Grenze einerseits eben in

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der Bedeutung des menschlich persönlichen andererseits in der Gemeinschaftlichkeit des socialen Lebens. Daher hört natürlich die Erziehung auf, damit auch die elterliche Gewalt, einmal, wo das persönliche sich in den Kindern zur menschlichen Selbstständigkeit entwickelt hat, dann aber auch da, wo die Eltern nicht fähig sind die elterliche Gewalt aus dem humanen und politischen Zustande zu üben. § 154  Die elterliche Gewalt kommt beyden Ehegatten einheitlich zu.154 Dieses folgt aus dem Wesen der Familienpersönlichkeit, welche eben keine äußerlich verbundene, sondern eine innerlich lebendige seyn soll. Das Criminalrecht oder das Strafrecht. § 155  Das Strafrecht bezieht sich ganz eigentlich auf die Möglichkeit des Unrechts und seine Ausgleichung im Staate und durch die Gewalt des Staates. § 156  Bey einer Strafrechtstheorie kommt es nun hauptsächlich auf folgende Punkte an: | 1.  auf die wahre Bedeutung des Unrechts und zwar namentlich des criminellen. 2.  auf die Bedeutung des Verbrechens. 3.  auf die Bedeutung der Strafe. Das Unrecht. § 157  Sowie das Recht die Beziehung der Persönlichkeit in Absicht auf ihre rein socialen Verhältnisse darstellt: so enthält im Allgemeinen das Unrecht die Verneinung der socialen Persönlichkeit in irgendeiner Beziehung.155 § 158  Es ergibt sich hieraus zunächst der wichtige Unterschied zwischen dem moralischen und dem juridischen Unrechte. Das moralische Unrecht ist die Verneinung des Vernünftigen überhaupt, also auch der vernünftigen Persönlichkeit überhaupt. Das juridische aber ist die Verneinung der social-persönlichen Rechtsbeziehungen. Daher ist jedes sociale oder juridische Un-

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recht ein moralisches, nicht aber umgekehrt jedes moralische Unrecht ein juridisches. § 159  Das eigentliche juridische oder sociale Unrecht ist nun selbst wieder zweyfacher Art, nämlich das Civil- gleichfalls das Privat-Unrecht und das eigentliche criminelle mittel- oder unmittelbar öffentliche Unrecht. Das erste ist die einfache, unbefangene Verneinung einer bloßen bestimmten Rechtsausübung | als solcher, während die andere zugleich die Verneinung der möglichen Rechtsexistenz in sich schließt. § 160  Das civile Unrecht ist daher auch immer nur ein Gegenstand des Staates und seine Ausgleichung hängt zunächst von dem Privat-Willen ab, während das kriminelle Unrecht unabhängig von dem Privat-Willen von der öffentlichen Gewalt verfolgt werden muß. § 161  Das Wesen des criminellen Unrechts nimmt nun aber noch eine eigenthümliche Bestimmung an, welche darin besteht, daß das Unrecht sich als solches [Textlücke] Hiermit hört die Unbefangenheit der Rechtsverneinung auf und damit geht auch ein civiles Unrecht in ein criminelles über. Der vollständige Begriff des criminellen Unrechts würde demnach dieser seyn, daß es eine mit Bewußtseyn, also auch mit [Textlücke] gesetzte Verletzung des Rechts sey, wodurch mittelbar oder unmittelbar das Recht überhaupt verneint wird. Das Verbrechen. § 162  Das criminelle Unrecht wird nun durch das Verbrechen vollzogen. Dieses ist demnach eine Handlung, wodurch ein kriminelles Unrecht wirklich gesetzt wird. § 163  Die eigentliche Substanz des Verbrechens156 | beruht daher in zwey Momenten: 1.  Darin, daß wirklich eine Rechtsverletzung, welche die sociale Existenz mittelbar oder unmittelbar betrifft, vorhanden sey. 2.  Daß diese Verneinung im Elemente des Willens geschehe. Hieraus folgt in Absicht auf die nähere Bestimmung des Verbrechens:

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a.  Daß dasselbe sich nicht blos verwirkliche in dem einfachen Inhalte einer That, also auch nicht in der bloßen Objectivität derselben, sondern daß auch die Subjectivität der That, also die Formalität des Bewußtseyns und des Willens vorhanden sey oder auch vorhanden seyn könnte oder müßte. b.  Daß ein Verbrechen eben wesentlich verschieden ist von ­einer moralischen Sünde,157 daß es daher auch beim Verbrechen nicht auf die moralische Überzeugung, also auf den sittlich bösen Willen ankommt, denn das Verbrechen als Vollziehung eines socialen Unrechts hat ja sein Prinzip nicht in dem rein subjectiven Momente der Persönlichkeit, sondern in dem Verhältnisse der Person zu der Gesammt-Staats-Persönlichkeit. c.  Daß eben daher bey der Würdigung des Verbrechens nicht auf den Grad des moralischen Bewußtseyns zu sehen ist, sondern auf den Grad des socialen Bewußtseyns. Aber auch dieses Moment ist nicht das alleinige bey der Berücksichtigung der Strafwürdigkeit eines Verbrechens, sondern es muß auch die objective Größe des Unrechts oder die nationelle Quantität desselben beachtet werden. § 164  Das Verbrechen kann nie durch ein Gesetz geschaffen werden. Dieses hat vielmehr nur die Aufgabe das Verbrechen zu bezeichnen und näher zu bestimmen, das Verbrechen selber aber liegt unabhängig vom Gesetze begründet in den Verhältnisse ­einer Handlung zur socialen Existenz. | Die Strafe. § 165  Sie ist im Allgemeinen und ihrem Wesen nach das Mittel, wodurch ein im Verbrechen gesetztes Unrecht von Staats wegen aufgehoben und ausgeglichen werden soll. § 166  Die Begründung des Strafrechts oder der Strafrechts­ gewalt liegt in folgenden zwey Hauptmomenten: 1. In der Nothwendigkeit der Staatsexistenz selber, welche aber wiederum die Erhaltung des Rechts zu ihrem wesentlichen Mittel hat.

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2.  In der nothwendigen Beschützung der Persönlichkeiten von Seiten des Staates, indem die subjective Persönlichkeit, grade im Staatsganzen der Willkühr einzelner entnommen und unter die allgemeine Garantie der objectiven Ordnung gestellt werden soll. § 167  Die Strafe muß nun nach der Begründung des Verbrechens näher aufgefaßt und bestimmt werden. Etwa in folgender Weise: | 1.  Der Zweck der Strafe158 kann kein anderer seyn als Aufhebung des criminellen Unrechts, wie es formell und materiell im Verbrechen gesetzt worden ist. 2.  Eben deßwegen muß die Strafe auch so beschaffen seyn, daß sie einerseits den Inhalt des Unrechts, also grade das Materielle ausgleicht, andererseits aber auch die Formalität des verbrecherischen Willens möglichst hemmt und unwirksam macht. Aus dem letztern Gesichtspunkte soll daher die Strafe wesentlich ein Uebel seyn. 3.  Die Strafe muß in Absicht auf Qualität und Quantität also sich ganz nach der Natur des Verbrechens und des Unrechts richten. Ebendaher darf sie in keinerley Weise von der Willkühr ausgehen und nie eigentlich qualifiziert seyn, d. h. wegen irgend ­eines zufälligen Zwecks nicht höher gegriffen werden als es die Gattung des Verbrechens an und für sich mit sich bringt. 4.  Die Strafe muß neben ihrem eigentlichen socialen Zwecke auch möglichst das humane Moment berücksichtigen oder in der Strafe soll stets noch der Mensch als solcher geachtet werden.159 Endlich 5.  muß bey der Strafe möglichst der | Character der Nation, der Zeit und der Cultur berücksichtigt werden. Zugleich muß die Strafe von der Art seyn, daß sie möglichste Gleichheit der Staatsmitglieder in Rücksicht des Gesetzes in sich beachtet enthält. § 168  Die Frage, ob die Todesstrafe vernunftrechtlich begründet seyn könne oder nicht, läßt sich gleichfalls nur nach dem Begriffe des criminellen Unrechts beantworten. Gibt es ein solches sociales Unrecht, wodurch die Rechtsexistenz und das Recht überhaupt absolut geläugnet wird, gibt es also ein unendliches

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Unrecht, so ist die natürliche Folge, daß es auch eine unendliche Strafe geben müsse. Diese besteht nun zunächst darin, daß einem solchen Verbrecher die Rechtsexistenz gleichfalls absolut verneint wird. Dieses kann geschehen durch eine absolute Verbannung; wäre aber diese nicht möglich, so kann eine solche unendliche Strafe nur in der Hinrichtung gelegen seyn.160 § 169  Man hat nun versucht, die positive Criminalrechtsgesetzgebung auf gewisse allgemeine Prinzipien zurückzuführen. Hieraus entstanden die sogenannten Strafrechtstheorieen. Man kann deren fünf geschichtlich unterscheiden: | 1.) die Androhungstheorie, 2) die Abschreckungstheorie, 3) die Präventionstheorie, 4) die Besserungstheorie, 5) die Wiedervergeltungstheorie. § 170  1. Die Androhungstheorie. Ihr Grundprincip beruht darin, daß durch ein Androhungsgesetz oder vielmehr durch den psychologischen Zwang Verbrechen als solche bestimmt werden sollen. [Theorie Feuerbachs.]161 Die Strafwürdigkeit eines Verbrechens wird dieser Theorie gemäß dadurch begründet, daß Jemand durch das angedrohte Strafübel sich eben von der bezeichneten That nicht eben hat abschrecken lassen. Diese Theorie heißt auch die des psychologischen Zwanges. Gegen diese Theorie läßt sich einwenden: a.  daß sie das Verbrechen eigentlich erst schafft. b.  sie verfehlt mehr oder weniger wie der Strafzweck überhaupt, so auch ihren eigenen Zweck, indem sich keineswegs jeder durch den psychologischen Zwang bestimmen läßt. Außerdem auch kann ein angedrohtes Uebel als solches keineswegs dienen ein objectives Unrecht auszugleichen. Endlich c.  entbehrt diese Theorie auch des wesentlichsten Punktes der Strafe, nemlich der Gerechtigkeit, insofern eben wegen der Verschiedenheit der Subjectivitäten die Strafe | durchaus nicht gleichmäßig genommen werden kann.

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§ 171  2. Die Abschreckungstheorie (poena exemplaris) Sie beruht auf dem Prinzip, daß durch die wirkliche Vollziehung einer Strafe andere von gleichen Verbrechen abgeschreckt werden sollen. Gegen diese Theorie spricht a.  wiederum der Mangel an aller Gerechtigkeit, indem kein Verbrecher andern Menschen willkührlich aufgeopfert werden darf, b.  Ebensowenig ist eine solche Straftheorie ihres Zweckes gemäß, indem es sehr precär ist, ob sich andere durch die exemplarische Strafe abschrecken lassen. c.  Endlich entbehrt sie aller Garantie der Humanität. [Jeder Verbrecher kann verlangen, als Vernunftwesen behandelt zu werden.] § 172  3. Die Preventionstheorie. Sie besteht darin, daß durch die Strafe unmittelbar und zunächst der Bestrafte selbst von der Wiederholung desselben Verbrechens abgehalten werden soll. Diese Theorie ist nur eine Modification der Abschreckungstheorie und es läßt sich im Allgemeinen gegen sie dasselbe wie gegen jene einwenden. Hinzu kommt noch, daß die Erreichung ihres Zwecks oft ganz | unmöglich wird, indem oft die Wiederholung desselben Verbrechens ganz unmöglich ist. [Theorie Grolmanns.]162 § 173  4. Die Besserungstheorie. Sie geht von dem Grundsatze aus, daß der Zweck der Strafe und damit auch ihre Rechtmäßigkeit in der möglichen moralischen und socialen Besserung des Verbrechers beruhn. [Der Hauptzweck der Strafe muß Aufhebung des Unrechtes seyn, sie muß aber so gewählt seyn, daß dadurch noch der Nebenzweck der Besserung erreicht wird.]163 Gegen diese Theorie läßt sich wiederum einwenden, daß sie der Erreichung ihres Zweckes gänzlich ungewiß ist, indem die Möglichkeit der Besserung von außerordentlich vielen Zufälligkeiten abhängt, indem ferner die moralische Gesinnung und Stimmung des Menschen, worauf

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doch durch die Strafe gewirkt werden soll, sich fast gar nicht mit Sicherheit ermitteln und feststellen läßt. Weiter fehlt auch hier alle eigentliche sociale Gerechtigkeit und zwar aus einem doppelten Gesichtspunkt, einmal insofern die Besserungsmöglichkeit subjectiv höchst verschieden ist, also auch die Strafen höchst verschieden seyn müßten, und dann, weil bey dieser Theorie der Verbrecher blos für sich berücksichtigt wird, da doch die Strafe auch den Zustand und die Verhältnisse der ganzen Socialität zu beachten hat. § 174  Die Wiedervergeltungstheorie (poena retributica.) Ihr Prinzip ist schlechthin die sociale Gerech | tigkeit, also gewissermaßen das Recht selber. Im Besondern geht diese Theorie von dem Grundsatz aus, daß Zweck und Bestimmung der Strafe die einfache und reine Aufhebung des Unrechts sey, welches durch das Verbrechen in der Socialität gesetzt worden ist. Nach dieser Theorie beruhet daher der Grund der Strafe und der Vollziehung derselben nicht in der Androhung des Uebels und in der nicht erfolgten Abschreckung, sondern einzig und allein in der Natur des Verbrechens. Das Prinzip der Wiedervergeltungstheorie ist also ein rein objectiv vernünftiges und damit ein absolutes, d. h. es entwickelt sich allein durch die Allgemeinheit der Staatspersönlichkeit. Der Zweck der Strafe bey der Wiedervergeltung ist also eigentlich nur Selbsterhaltung der socialen Persönlichkeit.164 Man muß nun aber sofort unterscheiden zwischen der rein materiellen und der formellen Wiedervergeltung. Die materielle würde darin bestehen, daß abgesehen von der eigenthümlichen socialen Natur des Unrechts blos die einfache, gleichsam rein sinnliche materielle That als wahrer Inhalt des Verbrechens genommen wird und also durch einen gleichen Inhalt ausgeglichen werden müsse. Die formelle Wiedervergeltung berücksichtigt aber nicht blos das wahrnehmbare materialistische Moment des Verbrechens, sondern das Maas und die Art der socialen Gefährdung der Rechtsexistenz überhaupt. Die formelle Wieder-

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vergeltung | darf daher das gesetzte Unrecht nicht durch specifische gleiche Uebel aufheben wollen. Die formale Wiedervergeltung ist nun abgesehen von der socialen Gerechtigkeit auch darin allen andern Theorien vorzuziehen, daß sie den Verbrecher stets als freien Menschen behandelt. Sie betrachtet ihn gleichsam als Selbstzweck bey der Strafe und setzt voraus, daß er mittelbar sein Selbstgesetzgeber ist. Eben deßwegen lassen sich aber auch bey dieser Straftheorie fast alle anderen Nebenzwecke möglichst erreichen. Vor allem aber muß nun bey der Wiedervergeltungsstrafe die Entwickelung der criminellen Verhältnisse aus dem Wesen des Staats und nach dem Standpunkte der jedesmaligen Cultur vorgenommen und bestimmt werden. 3.  Die Rechtspflege. § 175  Im Allgemeinen ist die Rechtspflege die objective Vollziehung der Rechtsgesetze oder die Vollziehung des Rechts durch die Staatsgewalt. § 176  Die Rechtspflege fordert nun wie das Recht selbst gesetzliche Bestimmungen und sie ist eine nothwendige Folge der obersten Staatsgewalt. [Der Regent hat nur darauf zu sehen, daß die Justizverfassung ausgeübt werde.] Die gesetzliche Bestimmtheit der Rechtspflege bildet als solche die Justizverfassung im weiteren Sinne des Worts. § 177 Das Haupterforderniß einer wahren Rechtspflege ist nun einerseits die möglichste Garantie objectiver Gerechtigkeit, andererseits | die möglichste Schnelligkeit der Gewährung der Gerechtigkeit. Um beides zu erreichen, ist zweyerlei vonnöthen, nemlich einmal gehörige Organisation der Gerichte, also Justizverfassung im engern Sinne des Worts, und zweytens angemessene, gesetzliche Bestimmung gesetzlichen Verfahrens, also Prozeßordnung.

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Organisation der Gerichte oder Justizverfassung im engern Sinne des Worts. § 178 Die Justizverfassung vorzugsweise beruht in dem Systeme der Gerichte und betrifft also ganz eigentlich die Bildung richtiger juridischer Entscheidung. Es kommt hierbey folgendes in besondere Erwähnung. 1.  Das Naturrecht fordert Feststellung sogenannter ordentlicher Gerichtsbarkeit,165 d. h. die Gerichte müssen an und für sich rein objective allgemeine Gültigkeit haben, sowohl in Absicht auf die Personen als auch in Absicht auf die Rechtsgegenstände. 2.  Völlige Unabhängigkeit der Gerichte sowohl von der ausübenden Staatsgewalt, als auch von irgend einer untergeordneten socialen Macht.166 3.  Oeffentlichkeit der Gerichte. Diese besteht darin, daß die Gerichtsbarkeit ohne Hinderniß von dem gesammten Volke in Rücksicht genommen und ein Gegenstand | öffentlicher Meinung werden kann. Der hauptsächliche Grund hierfür liegt einer­seits darin, daß das Recht überhaupt, selbst das Privatrecht eine objective Gemeinschaftlichkeit des socialen Lebens darstelle. In jedem noch so concreten Rechte und Rechtsfalle ist daher jedes Staatsmitglied mehr oder weniger mittelbar betheiligt. Andererseits folgt jene Forderung daraus, daß durch die Oeffentlichkeit der Gerichte das allgemeine Rechtsbewußtseyn und die Rechtsbildung befördert wird. 4. Genaue Competenzbestimmung der Gerichte. Diese ist eine zweyfache, eine substantielle und eine geographische, d. h. sie betrifft sowohl die eigentlichen Rechtsgegenstände als auch den bestimmten lokalen Bezirk für die Gerichtsausübung. Diese Forderung überhaupt hat ihren Grund in der objectiven Rechtssicherheit, zum Theil aber auch darin, daß die Rechtsangelegenheiten möglichst schnell gefördert werden können. 5.  Möglichste Reinheit des juridischen Moments, also auch Trennung der Justiz von der Administration.167 6.  Gehörige Organisation der Instanzen. Das Prinzip derselben muß aus der logischen Natur einer möglichst wahren Ur­

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theilsbildung genommen werden. Ihr Zweck ist nemlich eben die Vermittelung des vollständigsten objectiven juridischen Ur­theils. | 7.  Möglichste Erleichterung der Rechtsverfolgung überhaupt. Hierbey muß einerseits das Recht an und für sich berücksichtigt werden, also auch die eigentliche Bestimmung der Gerichte, andererseits muß dabey der Standpunkt der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetze und im Rechte als Bestimmungsgrund genommen werden. Prozeßordnung. § 179 Sie ist das System der Gesetzesbestimmungen rücksichtlich des gerichtlichen Verfahrens. Hauptzweck der Prozeßordnung ist daher die Verwirklichung der höchstmöglichen juridischen Objectivität des Urtheils vor den Gerichten. § 180  Die Prozeßordnung hat jenem gemäß vor Allem die Formen zu bestimmen, innerhalb welcher sich das richterliche Ur­ theil zu seiner objectiven Wahrheit ausbilden soll. Eben damit enthält sie die Form des Rechtens. § 181  Hieraus folgt jedoch nicht, daß die Prozeßordnung eine rein abstracte Form für die Bildung des richterlichen Urtheils enthalten dürfe, vielmehr ist es eine Hauptanforderung an den Prozeß, daß die Form des Rechtens möglichst die Materialität des Rechtes sichern müsse, oder die Rechtsform darf nie ihrer selbst w ­ egen Geltung haben wollen. § 182  Folgende Momente sind nun die hauptsächlichsten aus dem Gesichtspunkte der | Vernunft: 1.  Vollständige und deutliche Bestimmung der Klage selbst oder die Eröffnung des richterlichen Verfahrens rücksichtlich der einzelnen Rechtsfälle selbst. Die Klage kann eine zweyfache seyn, nemlich eine inquisitorische und accusatorische, je nachdem sie von der Staatsgewalt selbst oder von Privatpersonen veranlaßt wird. Die erstere soll und kann nur im Gebiete der öffentlichen und der Criminalrechtsangelegenheiten statt finden. Im Gebiete der privatrechtlichen Verhältnisse würde die inquisitorische Klage sehr leicht die bürgerliche Freiheit der Mitglieder

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des Staats gefährden können. Die accusatorische Klage soll aber sowohl in öffentlichen als in Privatrechtsverhältnissen statt finden. In der ersteren Hinsicht deßwegen, weil jede sociale Privatpersönlichkeit das allgemeine Interesse der Staatsexistenz überhaupt möglichst zu dem ihrigen machen muß. Was die Privatklage betrifft, so muß die Einleitung derselben Jedem möglichst erleichtert werden. 2. Auf die Klage folgt die sogenannte Instruction des Prozesses. Sie besteht in der eigentlichen Untersuchung oder in der Ermittelung und Feststellung des Factischen, möge dieses nun ­einen bloßen Streitpunkt betreffen oder auch eine reine Thatsache. Auch hier ist Haupterforderniß zunächst die rein objective und unbefangene Herausstellung des Factischen; dann die möglichste Deutlichkeit und Begränzung desselben. 3.  Auf die Instruction folgt die Be | weisführung. Sie besteht in der Begründung des Urtheils rücksichtlich der Rechtsbedeutung des Factischen. Hier ist Hauptregel, daß die Beweisführung wiederum möglichst an objective Momente geknüpft werde, also möglichst juridisch sey, von allen moralischen oder subjectiven Ueberzeugungen des Richters möglichst unabhängig. 4.  Auf die Beweisführung folgt das Urtheil. Dieses soll durch jene nur begründet oder motivirt werden. Das richterliche Ur­ theil besteht aber ganz eigentlich in der objectiven Subsumtion des bewiesenen Factums unter der betreffenden Regel des Rechts. Es darf daher in keinerley Weise willkührlich seyn, sondern nur den Ausspruch der Rechtskraft enthalten. Ebendaher muß das Urtheil mit der Beweisführung und Instruction möglichst in immanenten Zusammenhange stehen. 5.  Nach dem Rechtsurtheile kommen die Rechtsmittel oder die Bestimmungen derjenigen Momente, wodurch ein Urtheil in seiner Rechtskraft suspendirt oder aufgehoben werden kann. Diese Mittel müssen aber wiederum möglichst legislativ angeordnet seyn und nur von der ausübenden Gewalt einseitig ausgehen. Daher darf die sogenannte Abolition nicht unter die Rechtsmittel aufgenommen werden.

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6.  Endlich die Vollstreckung des Urtheils. Hierbei ist Hauptregel, daß einerseits jedes rein objectiv berührte Urtheil in seinem | bestimmten Seyn möglichst schnell und wirklich voll­zogen werde; andererseits, daß in der Art und Weise der Vollziehung nicht selbst wiederum ein Unrecht gelegen sey. B. Wohlstandspolitik. § 183  Ein Hauptzweck des Staates neben und nächst der persönlichen Freiheit und Sicherheit, welche durch das Recht vermittelt werden soll, ist der Zweck des Wohlseyns der Staatsmitglieder, also auch der Zweck des Wohlstandes, worauf eben das Wohlseyn sich gründet.168 Alle entsprechenden Thätigkeiten und Mittel müssen aber auch hier unter dem Gesetze stehen und also auch von dem allgemeinen Mittel des Staatslebens, d. h. dem Rechte bedingt werden. § 184  Die Wohlstandspolitik wäre nun ganz im Allgemeinen die Theorie zur Förderung und Erhaltung des Wohlstandes im Staate. Der Wohlstand aber bezieht sich ganz eigentlich auf die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse sowohl der einzelnen Personen als auch der Staatspersönlichkeit überhaupt. Der Wohlstand wäre demnach im Allgemeinen die Möglichkeit durch angemessene Mittel die persönlichen Bedürfnisse hinlänglich und umfassend zu befriedigen. Die angemessenen Mittel dieser Befriedigung nennt man aber Vermögen überhaupt. Der Wohlstand bestände also im angemessenen | Vermögen. Alles Vermögen beruht demnach eben in einem Systeme von Mitteln, welche zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse gebraucht werden k­ önnen. § 185  Aus der eben gegebenen Entwickelung des Wohlstandes folgt nun die nähere Bestimmung der Begriffe der Wohlstandspolitik selber. Sie ist theoretisch die Wissenschaft und praktisch die Kunst, das Vermögen im Staate, also überhaupt das Staatsvermögen möglichst zu fördern und zu erhalten. § 186  Das Nächste ist nun sofort gehörige Feststellung der Bedeutung des Staatsvermögens selber. Man hat wohl unterschie-

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den und auch eine Trennung gesetzt zwischen dem eigentlichen Staats- und National-Vermögen,169 indem man unter jenem verstand das Vermögen, welches dem Staate als allgemeine Persönlichkeit gegenüber dem besondern Vermögen der Staatsmitglieder zukommt, während man unter Nationalvermögen verstand das Vermögen der Bürger, der einzelnen Staatsmitglieder, also des Volkes. Allein diese Trennung setzt eine unrichtige Ansicht von dem Staatsleben selber voraus. Dieses ist in sich wesentlich ein immanenter Organismus,170 in welchem es durchaus keine isolirten Glieder oder Seiten | geben kann. Das Staatsvermögen ist daher ganz eigentlich identisch mit dem Nationalvermögen und beruhet eben deßhalb in dem Gesammtvermögen des ganzen Staates. § 187  Aus der Identität des Staats- und Nationalvermögens ergibt sich, daß die Wohlstandspolitik auch überhaupt als Nationalwirthschaftslehre oder als Nationalökonomie bezeichnet werden könne. § 188  Die National-Oekonomie im weiteren Sinne des Worts, als Wohlstandspolitik überhaupt, umfaßt nur zwey Seiten, nämlich 1.  den Erwerb, und 2.  die Verwendung. Auf diese Weise würde sie zwey wesentliche Theile enthalten, nämlich: 1.  die Nationalwirthschaft oder Nationalökonomie im engern Sinne des Worts. 2.  Die Finanzwissenschaft. Im Allgemeinen kann man nun den Grundsatz aufstellen, daß in dem Staatsganzen die allgemeine, gleichfalls öffentliche Kraft des Staates für die Förderung und Erhaltung des Nationalvermögens soweit verwendet werden solle und dürfe, als es die persönliche und bürgerliche Freiheit der Einzelnen gestattet. Hieraus folgt zunächst allerdings die Befugniß der Regierungsgewalt positiv in die Angelegenheiten des Erwerbs von Vermögen [einzugreifen,] obwohl von dieser Seite die negative Vermittlung das

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nächste und allgemeinste | seyn soll. Diese besteht aber darin, daß die Staatsgewalt angewendet werde, um alle möglichen Hindernisse für die Verbesserung des Nationalvermögens zu entfernen und damit die freie Thätigkeit in dieser Hinsicht zu erleichtern. § 189 Der philosophische Grund für die politische Theilnahme der Regierungsgewalt an der Nationalökonomie beruhet wesentlich darin, daß einerseits der Staat als oberste Gewalt auch darauf zu sehen hat, daß das Vermögen im Staate möglichst für die Gesammtheit angemessen berücksichtigt und behandelt werde, andererseits beruht der Grund dafür darin, daß in der Gesammtheit des Staats sich eine Art öffentliche oder eben allgemeine Kraft gestalte, welche als solche allein von der Staats­ regierung gehörig für die Förderung des Vermögens im Besondern angewendet werden kann. a.  Nationalökonomie im engeren Sinne des Wort’s. § 190  Die Nationalökonomie bietet sofort zwey Seiten dar, wie das Staatsleben selber, nämlich 1)  das Volk oder die einzelnen Staatsmitglieder als solche. Insofern ist zunächst auf das Privatvermögen an und für sich, oder auf das Vermögen des Einzelnen im Staate zu sehen, 2) bietet sich aber auch das Staatsganze als Allgemeines | dem Volke gegenüber dar und hiermit auch die allgemeine Berücksichtigung des Gesammt-Staatsvermögens. Es theilt sich somit die Staatsökonomie von selbst in zwey Seiten, nämlich in die Volkswirthschaft und in die Staatswirthschaft im engeren Sinn des Worts. § 191  Die Nationalökonomie beruht nun überhaupt auf folgenden drei Punkten: α.  auf der Bedeutung des Vermögens. β.  auf der Bedeutung der Arbeit oder Production im weiteren Sinne des Wortes. γ.  auf dem Verbrauche.

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α.  Das Vermögen. § 192  Es beruhet im Allgemeinen in der Möglichkeit über diejenigen Mittel Macht zu haben, wodurch das System mensch­ licher Bedürfnisse unmittelbar oder mittelbar befriedigt werden kann. In der objectiven Bedeutung ist es die Summe jener Mittel selber. § 193  Das erste in der weiteren Betrachtung des Vermögens, somit auch das erste in der National-Oekonomie ist die Erkenntniß der möglichen menschlichen Bedürfnisse insofern dieselben innerhalb des Staatslebens ihre Befriedigung finden können. § 194 Bedürfniß im weiteren Sinne ist nun alles, was die menschliche Existenz in ihrer Wirklichkeit nach Inhalt und Umfang bedingen kann. Diese Bedürfnisse sind nun entweder unmittelbare, also reine Naturbedürfnisse oder mittelbare | durch Entwickelung des menschlichen Bewußtseyns oder durch Gewohnheit gebildete. § 195  Das Vermögen überhaupt wird demnach in dem Maaße sich erweitern, als es dem wahren Bedürfnisse entspricht. Wahr ist aber jedes Bedürfniß, welches in irgend einer Weise das Menschliche als solches betreffen kann; also in welchem überhaupt kein vernünftiger Widerspruch gelegen ist. Die Ermittelung der wahren Bedürfnisse des bürgerlichen Lebens, also auch der Staatsexistenz, einerseits, und der Persönlichkeit an und für sich, andererseits, ist die Hauptrücksicht, von welcher die Natio­ nal-­Oekonomie auszugehen hat. § 196  Der Inhalt des Vermögens ist ein zweyfacher, einmal ein rein sachlicher oder materieller und dann ein immaterieller. Dieser letztere besteht in den objectiv persönlichen Kräften, über die eine Disposition für die Befriedigung eines Bedürfnisses möglich ist. Objectiv persönlich sind die Kräfte aber, insofern sie von der reinen subjectiven Wesenheit des Menschen zu trennen sind. § 197  Die wahren Bedürfnisse schließen, wie sich aus der früheren Bemerkung entnehmen läßt, die künstlichen nicht aus. Daher muß sowohl sachlicher oder materieller, als auch der immaterielle Gehalt des Vermögens auf die künstlichen Bedürfnisse

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bezogen werden. Der Grund aber, warum auch die künstlichen Bedürf | n isse, und zwar in möglichst weitem Umfang und in möglichster Mannigfaltigkeit, Berücksichtigung gewinnen müssen, liegt darin, daß die menschliche Persönlichkeit die Bestimmung hat, sich der Natur gegenüber und an der Natur ihre möglichste Freiheit zu entwickeln, den Gesammtinhalt ihrer Kräfte zu entfalten und sich so an der Natur selbst über die Natur möglichst zu erheben. β. Die Arbeit oder Production im weiteren Sinne des Worts. § 198  Die Arbeit besteht in der Anwendung der persönlichen Kräfte zur Gewinnung des Vermögens. Es gibt drey Hauptarten der Arbeit, nemlich: 1.  Die Production im engeren Sinne des Worts. d. h. die Vermittelung der natürlichen Früchte der Erde. 2. Die Fabrikation oder die Umwandlung der natürlichen Früchte. 3.  Die Circulation oder der Handel also die Vermittelung des Austausches der Güter. Alle drey Arten der Arbeit sind in einem vollendeten System der National-Oekonomie aus dem philosophischen Gesichtspunkte nicht nur wesentlich zu beachten, sondern auch in möglichstes Gleichgewicht gegen einander zu setzen. Nur die eigent­liche Beschaffenheit eines Staates nach seiner Lage, seinen bestimmten historischen Verhältnissen, | und nach der Natur seines Landes kann rücksichtlich des Verhältnisses jener drey Arbeitsarten das Mehr oder Weniger modifiziren. Der Grund aber von jener im Allgemeinen gleichmäßigen Berücksichtigung liegt darin, daß zunächst, was die natürliche Production betrifft, der Mensch auch rücksichtlich seiner freien Existenz die beste Basis und Möglichkeit seines Seyns in dem unmittelbaren Setzen mit der Natur hat. Auch wird durch möglichste Förderung der Production einerseits das nationale Leben selber fester, sicherer und zusammengehaltener; andererseits aber bietet die möglichste natürliche Production auch den nöthigen allseitigen

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Stoff zur höheren Entwickelung der menschlichen Arbeit in der Fabrikation. Die Fabrication muß daher möglichst gleichmäßig mit der natürlichen Production gefördert werden, weil einerseits, wie bemerkt worden, das menschliche Wohlseyn über die bloßen natürlichen Bedürfnisse und Genüsse hinausgehen soll und weil andererseits die Fabrikation oder Industrie auch die bewußtseyenden Kräfte und namentlich das Gefühl der Freiheit entwickelt und erweitert. Der Han | del ist bloße Vermittelung der leichtern Befriedigung der Bedürfnisse durch die producirten und fabricirten Güter; insofern als er nothwendiges Mittel hierfür ist, ist zunächst und im Allgemeinen aus dem Standpunkt der Vernunft seine wesentliche Berücksichtigung und Förderung begründet. Außerdem gibt es hierfür auch noch humane und politische Motive. Jene liegen darin, daß durch den Handel die Gemeinschaftlichkeit des Menschlichen im Bewußtseyn und der möglichen Ausübung möglichst vermittelt wird. Die politischen Motive aber bieten sich darin, daß durch den Handel die nationale Kraft jedem andern Staate gegenüber ­erweitert und gefestiget wird. § 199  Die allgemeinen Prinzipien der Arbeit sind nun: 1. gehörige Bestimmung des Arbeitszweckes, damit überflüssiger Aufwand der Kräfte vermieden werde. Angemessener Zweck jeder Arbeit ist aber alles dasjenige, was ein reales Gut seyn kann, also ein solches, welches in der bürgerlichen Gesellschaft in irgend einer Weise die soziale Existenz im Einzelnen oder im Ganzen in ihrem Wohlseyn fördert. 2.  Gehörige Vertheilung der Arbeit im Volke, wodurch der Gewinn theils vermehrt, theils vielseitiger gemacht, theils auch beschleunigt werden kann. Abgesehen von diesen mehr materiellen Zwecken | ist die Vertheilung der Arbeit171 auch aus höheren Rücksichten philosophisch zu fordern, indem dadurch der ganze moralische Zustand einer Nation vermittelt werden kann. Doch darf diese Theilung im Einzelnen den Zweck einer bestimmten Arbeit nicht überwiegen. 3.  Angemessene Sicherung des Lohnes der Arbeit.172

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4.  Ueberhaupt möglichste Anknüpfung der Arbeit an die persönliche oder Privat-Freiheit und damit auch zunächst an Privatzwecke. 5.  Möglichste Sicherung der Humanität bey der Arbeit. Diese wird erreicht theils dadurch, daß die Privatfreiheit bey der Arbeit möglichst erhalten wird, theils dadurch, daß mit Gesetzen der Mißbrauch verhindert wird, welche der Reiche mit der Arbeit der Armen treiben kann.173 γ.  Verbrauch oder Consumtion. § 200  Er besteht in der Realisirung der Bedürfnisse durch das Vermögen, oder in der Verwendung der Güter für die bestimmten Zwecke. Hierbey gelten hauptsächlich folgende Grundsätze: 1.  möglichste Erleichterung der Gelegenheit des Verbrauchs; 2.  möglichste Freiheit in Absicht auf die Entwickelung der Bedürfnisse; 3.  Verhinderung eines absolut leeren | oder auch social-gefährlichen Verbrauches. b. Finanz-Wissenschaft. § 201  Sie ist die Theorie der Ausübung der Finanzgewalt. Die Finanzgewalt besteht aber in der Befugniß der obersten Staatsgewalt, das Nationalvermögen für die Bedürfnisse des Staatsganzen, also für öffentliche Zwecke zu verwenden. § 202  Bey der Finanzverwaltung kommen folgende Punkte in besondere Berücksichtigung: 1.  Der Staatsbedarf. Hierbey ist die erste Erforderniß die gehörige Erforschung des Systems der allgemeinen und öffentlichen Bedürfnisse. Hierhin gehören nun alle rein allgemeinen Interessen, also auch das Rechts-Bildungs-Interesse, das Interesse der inneren und äußern Sicherheit und endlich auch das des Wohlstands, allein stets nur nach der allgemein sozialen Seite hin. Das nothwendige Mittel zur Erforschung und Bestimmung allgemei-

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ner Staatsbedürfnisse bietet sich allein in der wahren Volks­ repräsentation.174 2.  Die Besteuerung. Sie besteht in der Befugniß der Staatsgewalt, die öffentlichen Einnahmen auf dem Grunde des Nationalvermögens zu bestimmen und zu fordern. Das Recht der Besteuerung folgt theils aus dem Wesen des Staates, dessen Aufgabe die Erhaltung der allgemeinen und gemeinschaftlichen sozialen Persönlichkeit ist, wozu er die nothwendigen Mittel aus dem Gesammtleben dieser Persönlichkeit nehmen muß, theils folgt jenes | Recht aber auch aus der Bedeutung des Nationalvermögens selber, welches kein abstractes Gut des Staates ist, sondern eben die durch das Ganze verbreiteten Güter, insofern dieselben im productiven Prozesse begriffen sind. Die Prinzipien der Besteuerung sind folgende: a.  Die Bestimmung der Steuerquantität muß von der Volksrepräsentation ausgehen, also diese muß das Recht der Bewilligung haben. Das Recht der Bewilligung schließt aber das Recht der Verweigerung in sich. Dieses letztere ist aber kein absolutes, weil durch ein solches sich der Staat in seiner möglichen Existenz selbst verneinen würde. b.  Die Besteuerung muß auf alle Zweige des Staatsvermögens ausgedehnt werden und da dieses Staatsvermögen ganz eigent­ lich in dem Erwerbe und somit auch in der Anwendung der Kräfte beruht, so soll vorzugsweise der Grad des Erwerbs selber bey der Besteuerung berücksichtigt werden. Hieraus folgt: c. Daß das eigentliche Grundcapital bey der Besteuerung möglichst geschont werde. d.  Die Besteuerung muß vorzugsweise nach dem Prinzipe der allgemeinen Gleichheit, also auch nach dem Prinzipe der möglichst gleichen Vertheilung vorgenommen werden.175 | e.  Es soll dabey endlich die möglichste Schonung der bürgerlichen freien Wirksamkeit stattfinden. 3.  Die Finanzverwaltung. Sie besteht darin, daß die öffentlichen Staatseinnahmen ihrer gesetzlichen Bestimmung gemäß verwendet werden. Das Recht der Finanzverwaltung gebührt

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lediglich der Regierung oder vollziehenden Gewalt im engeren Sinne des Worts. Der Grund hiervon liegt darin, weil in der Verwaltung das Allgemeine als solches von einem bestimmten Standpunkt aus in seinen nothwendigen Bedürfnissen erhalten werden muß. Die Prinzipien der Finanzverwaltung sind nun folgende: a.  möglichst geringer Kostenaufwand in der Erhebung, b.  möglichst geringe Beschwerung der Steuerpflichtigen bey der Erhebung, c.  genaue Verwendung für öffentliche Bedürfnisse, d.  möglichste Freiheit in der Verwendung unter öffentlicher Verantwortlichkeit, e.  daher aber auch wesentlich constitutionelle Controlle. C. Culturpolitik. § 203  Sie ist im Allgemeinen die Theorie für die Vollziehung der Culturgewalt. Letztere aber besteht darin, daß die höhere | oder freie Geistesbildung aus dem Standpunkte der öffentlichen Mittel und öffentlichen Macht in der Socialität vermittelt und gefördert werde. § 204  Der Grund der Culturgewalt beruhet darin, daß in der Gemeinschaftlichkeit der Socialität das gesammte menschliche Wesenhafte gemeinschaftlich gefördert werden soll. Alles rein sociale Gemeinschaftliche aber gehört zur Competenz der Staatsgewalt. § 205  Die allgemeinen Regeln rücksichtlich der Culturpolitik sind folgende: 1.  Möglichste Berücksichtigung der geistigen Anlagen, insofern sie in ihrer positiven Entwickelung die übrigen öffentlichen Interessen mittelbar oder unmittelbar bedingen oder berühren können. 2. Die öffentliche Bestimmung der Culturangelegenheiten darf aber nie über die rein sociale Gemeinschaftlichkeit hinausgehen.

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3.  Ebendaher muß auch bey der freien Geistesbildung die Privatfreiheit der einzelnen Staatsmitglieder möglichst garantirt werden. § 206 Die Culturpolitik nimmt nun soviele besondere Rücksichten, als die Culturgewalt selbst eigentliche Seiten entwickeln kann. Es gibt aber so viele besondere Seiten der Culturgewalt | als die freie geistige Natur besondere Richtungen nehmen kann. Die erste und allgemeinste Richtung ist das Wissen als solches. Diesem dient die Schule in ihrem wahrem Begriffe. Der Staat selbst als die Vollziehung des Menschlichen in der Objectivität des socialen Bewußtseyns hat daher aus dem Standpunkte höherer Cultur gerade dieses Bewußtseyn möglichst auf seine objective Wahrheit hinzuleiten. Dies geschieht durch die Wissenschaft. Daher ist wiederum die Aufgabe der Schule ganz die Wissenschaft. Die Schule selbst wiederum aus diesem Standpunkte ist eine zweyfache, die Volksschule und die Gelehrtenschule. Jene hat die allgemeinen menschlichen Geisteswahrheiten möglichst zum Wissen zu vermitteln, während diese die geistigen Wahrheiten aus einem besondern Gesichtspunkte und eben damit in vollständigerer Erschöpfung zu entwickeln und darzustellen hat. Hiermit bildet sich also die erste Seite der Culturgewalt, welche man als Schulgewalt bezeichnen kann. Die allgemeine Regel rücksichtlich der Schulgewalt besteht nun darin, daß von Staatswegen gesorgt werde, daß die freie Bildung des Volkes möglichst objectiv wissenschaftlich entwickelt werde. Das höhere freie geistige Wesen offenbart sich zweitens in der Vermittelbarkeit des Gefühls und des Glaubens, und | zwar namentlich insofern der Glaube die Form des Bewußtseyns ist für das Verhältniß des Menschen zum Göttlichen. Insofern dieses Moment des Geistes zum objectiven Wissen vermittelt werden soll, gehört es der Schule an, insofern es aber auf dem Wege gesellschaftlicher Verbindung, also in der Form der Kirche gefördert werden soll, entsteht für den Staat die Gewalt der kirchli-

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chen Oberaufsicht, welche man auch wohl Culturgewalt im weiteren Sinne des Wortes nennt. Die dritte Seite bildet das Moralische als solches. In dieser Beziehung steht dem Staate nur insofern Gewalt zu, als das sittliche Moment in solchen Handlungen hervortreten kann, welche die sociale menschliche Gemeinschaftlichkeit gefährden. Diese Gewalt kann man die Disciplinargewalt nennen. Insofern die Entwickelung aller höhern freien geistigen Interessen in dem Begriffe der Erziehung zusammenfällt, hat der Staat allerdings eine Art Erziehungsgewalt, im übrigen aber soll alle Erziehung möglichst eine private seyn. |

Vierter Abschnitt Der Staat und die Kirche oder allgemeines philosophisches Kirchenrecht. § 207  Das wesentlichste und erste bey der Entwickelung des wahren Verhältnisses zwischen Kirche und Staat ist die Feststellung des eigenthümlichen Begriffs der Kirche selbst, weil aus diesem Begriff allein sich die nothwendigen Rechtsverhältnisse derselben deduciren lassen. § 208  Man kann den Gegenstand nach drey Seiten abhandeln: 1.  Die Kirche als solche oder an und für sich. 2.  Die Kirche in ihrem Verhältnisse zum Staat. 3.  Die Kirche in ihrem Verhältnisse zu ihren Mitgliedern. 1.  Die Kirche als solche. § 209  Inhalt und Gegenstand der Kirche ist die Religion. Das Wesen der Religion aber beruht darin, daß sie ist das Verhältniß des Menschen zum Göttlichen in der Unmittelbarkeit des Gefühls und des Glaubens. § 210 Die Religion bietet also zunächst einen subjectiven Standpunkt, wie das moralische und insofern kann von Seiten

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des Staates keine allgemein positiv legislative Bestimmung gegeben werden. Die Religion gehört aber auch ihrer Aufgaben nach den reinen höheren | Geisteszwecken an und fällt somit in den Kreis des Begriffes des Menschlichen überhaupt. Nun aber soll der Staat nicht blos einseitige Rechtsvollziehung seyn, sondern objectiv freie Selbstvollziehung des menschlichen Begriffes überhaupt. Eben deswegen hat nun auch der Staat Recht und Pflicht das Religiöse in den Kreis der obersten Staatsgewalt zu ziehen, aber nur insofern als es zur Cultur überhaupt gehört und mehr oder weniger im Elemente des Wissens entwickelt werden kann. § 211  Insofern nun die Religion aus ihrem reinen subjectiven Glaubensstandpunkte aufgefaßt wird, kann sie eben als blos subjective Angelegenheit ein Gegenstand subjectiv freier Bestimmung werden, eben deßhalb kann sie auch als Gegenstand gesellschaftlicher Verbindung sich geltend machen. Diese Gesellschaft führt nun den Namen Kirche. Der Begriff der Kirche läßt sich demnach dahin näher bestimmen, daß sie sey eine gesellschaftliche Verbindung zur Einheit religiöser Gesinnung, auf dem Grunde des Glaubens. § 212  Zunächst ergibt sich nun, daß die Kirche an und für sich eine mögliche und damit rechtlich zu fordernde Gesellschaft sey. Der Zweck der Kirche ist ein dauernder und eben damit geeignet eine bestimmte moralische Persönlichkeit zu tragen. Die Kirche ist | aber ferner eine natürliche Gesellschaft, weil ihr Zweck kein willkührlicher, sondern ein durch die Natur des Geistes nothwendig gesetzter ist. § 213  Die Kirche hat eine doppelte Seite, nemlich die der inneren Ueberzeugung und die der äußerlichen Darstellung oder vielmehr die der äußerlichen Vermittelung, jene bildet die Lehre, diese den Cultus. Der Grund hiervon liegt in der Bestimmung der Kirche, welche die Erwirkung der Einheit religiöser Gesinnung ist. Die religiöse Gesinnung als Resultat menschlicher Gemeinschaftlichkeit fordert nun aber wesentlich eben den Glauben und die Ueberzeugung an und für sich und die gegenseitige Vermittelung dieses Glaubens.

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§ 214. Aus dem Begriff der Kirche folgen sofort einige allgemeine Resultate. 1)  Die Kirche hat ihrem wahren Begriff nach keine Allgemeinheit, ebendaher kann auch vernunftrechtlich keine Kirche das Recht ausschließlicher Allgemeinheit ansprechen. [Daß alle Menschen ihr zugehören sollen, wie z. B. die katholische Kirche.] 2) Die Kirche muß eine gleiche Gesellschaft seyn, d. h. es darf in ihr keine absolute Unterordnung der einzelnen Glieder in Absicht auf die religiöse Gesinnung geben. Der Grund hiervon liegt vorzüglich darin, daß der Gegenstand der Kirche höhere geistige Interessen betrifft. Diese aber | darf der Mensch nie von seiner subjectiven Freiheit völlig trennen. 3) Sie hat das Recht der Selbstkonstituirung, der Selbstorganisation und Selbstregierung. 4) Die Kirche hat das Recht auf ein besonderes Eigenthum, also auf das Recht des Erwerbs. 5) Die Kirche kann jede Form annehmen, welche mit der Natur ihres Zwecks und der Form ihres Staats übereinstimmt. Hier gibt es aber hauptsächlich zwey Formen, die hierarchische und die collegialische, je nachdem die kirchliche Regierung die Form der Sub­ ordination hat, also die Ungleichheit, oder die Form der Gleichheit. Die hierarchische Form darf nicht in absolute Ungleichheit ausarten und die kollegialische nicht in absolute Anarchie.176 [Wie das durch die Infallibilität des Pabstes bewirkt wird.]177 2.  Die Kirche in ihrem Verhältniß zum Staat. § 215  Der Staat ist seinem Wesen nach die reine in sich geordnete objective Persönlichkeit der Socialität. Der Staat ist also insofern rücksichtlich aller möglichen socialen Verhältnisse die oberste allgemeine Auctorität und damit so wie gesetzgebend so auch garantirend und vollziehend in höchster Instanz. Hiernach muß das Verhältniß der Kirche zum Staate beurtheilt werden. | § 216  Man hat in dieser Beziehung wohl drey Systeme unterschieden, nemlich: das hierarchische, das Territorial- und das kollegialische System. Das hierarchische System geht von dem Prinzipe aus, daß die Kirche über dem Staat stehe und zwar in

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der Weise, daß sie berechtiget sey die Pflichten und Rechte des Staates in Beziehung auf die Kirche von sich aus zu bestimmen. Der Grund, worauf dieses System sich stützt ist die Prätension des unmittelbaren göttlichen Ursprungs der Kirche. Gegen dieses System läßt sich sofort die Bedeutung des Staates geltend machen. In der consequenten Durchführung dieses System würde der Staat selbst mit sich in Widerspruch kommen und eine reale Unmöglichkeit werden. Das Territorialsystem geht von dem Prinzipe aus, daß die oberste Staatsgewalt als solche über die Kirche des Landes posi­ tiv zu bestimmen habe, daß somit die kirchliche Gewalt eine reine posi­tive Attribution der Staatsauctorität sey. Diesem widerspricht der Begriff der Kirche, welche als Privatpersönlichkeit ihre Privatfreiheit dem Staate gegenüber erhalten kann. Das Collegialsystem geht von der Einheit der Kirche und des Staates aus, behauptet, daß beyde gleich selbstständig für sich seyen. Hiermit wird indeß abermals | ein Widerspruch in der socialen Einheit gesetzt. § 217  Da keines dieser drey Systeme dem Begriff des Staates und der Kirche zugleich entspricht, so kann nur dieses vierte, welches man als Socialsystem bezeichnen kann, vernünftig ver­ theidiget werden.178 Das Wesen desselben besteht darin, daß die Kirche als eine sociale Persönlichkeit im Staate betrachtet wird, also als eine Persönlichkeit, die die allgemeinen Urrechte im Vergleich mit jeder andern Persönlichkeit in Anspruch nehmen darf, oder die Kirche ist eine subjective Rechtspersönlichkeit im Staate. § 218  Aus diesem System folgt im besondern: a.  die Kirche darf in allen Rechtsbeziehungen, welche an und für sich möglich sind, vom Staate Unabhängigkeit und Selbstständigkeit erwarten, b.  sie kann vom Staate bestimmte Garantie ihrer Rechte fordern, c.  die Kirche hat aber auch nicht das Recht, in irgend einer Weise die Attribute der obersten Staatsgewalt sich anzueignen. [Daher ist das jus canonicum an und für sich zu verwerfen.] Sie

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darf daher weder in Rücksicht des Staats noch ihrer eigenen Mitglieder legislativ verfahren. Ebensowenig hat sie Jurisdiction. Eben deßhalb hat sie auch keine wahre | Strafgewalt, d. h. keine Gewalt reine öffentliche Strafen zu verhängen. Endlich hat auch die Kirche nicht die Schulgewalt. d.  Der Staat hat nicht das Recht der Verwaltung und Verwendung der Kirchengüter, aber auch umgekehrt für irgend eine Kirche im besondern ökonomisch zu sorgen. Jenes Recht und diese Pflicht können ihm nur vermöge besonderer Uebereinkunft zukommen. e.  Er kann aus dem vernunftrechtlichen Standpunkte keine eigentliche Staatsreligion geben, wenn man darunter versteht das Recht einer besonderen bestimmten Kirche, vermöge dessen ihre Mitglieder allein im vollen Genusse staatsbürgerlicher Rechte sind. f.  Es kann daher auch im eigentlichen Sinne des Worts keine tolerirte Kirche geben, d. h. eine solche, deren Mitglieder man wohl im Ganzen negativ an dem Staatsleben theilnehmen läßt, nicht aber positiv an den Staatsangelegenheiten und Staatsverhältnissen, denen also auch nicht die volle politische Freiheit zugestanden wird. In einem relativen Sinn kann allerdings auch vernunftrechtlich von tolerirten Kirchen die Rede seyn, insofern nemlich der Fall eintreten kann, daß eine fragliche Kirche sich noch nicht mit derjenigen socialen Deutlichkeit herausgestellt hat, welche dazu gehört, um ihre eigenthümliche Tendenz öffentlich | zu erkennen. Ebenso ist die Toleranz auch dann begründet, wenn eine Kirche freiwillig auf die staatsbürgerlichen Rechte verzichtet, um nur ihre besondere Form und Tendenz behaupten zu können. Eigentlich sollte aber jede Toleranz nur provisorisch seyn, d. h. eben nur so lange dauern als etwa erforderlich ist, daß der bestimmte sociale Character derselben sich hervorstellt. Endlich: g.  Der Staat hat das volle Oberaufsichtsrecht über die Kirche, daher auch das jus reformandi. Dieses darf aber nur einen negativen Character haben, d. h. der Staat hat nur die Befugnisse, jede

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Kirche in ihrer socialen Darstellung auf solche Bedingungen zu beschränken, welche ihren polemischen Standpunkt gegen den Staat aufheben oder unmöglich machen. 3.  Verhältniß der Kirche zu den Staatsmitgliedern. § 219  Die Kirche als sociale Privatpersönlichkeit steht zu den übrigen Staatsmitgliedern nur im privatrechtlichen Verhältnisse. Hieraus folgt: 1.  Die Kirche hat nicht die Macht, die Staatsmitglieder zu zwingen, in ihre Gesellschaft zu treten, oder Niemand braucht in einer Kirche überhaupt | zu leben. 2.  Hieraus folgt ferner, daß jeder in jede Kirche treten könne, welche sich im Staate als rechtlich möglich aufgestellt hat. 3.  Jeder kann zu jeder Zeit aus einer Kirche treten, sobald er nur den reinen civilen Verpflichtungen, welche er darin etwa übernommen hat, genügt. Denn die Kirche ist wohl eine natürliche, aber nicht gleich der Ehe in Absicht auf die theilnehmenden Personen eine unauflösliche Gesellschaft. Der eigentliche Grund von diesem freyen Austritte liegt darin, daß Niemand seine persönliche Ueberzeugung ein für allemal bestimmen kann. Vielmehr liegt grade in dem unbestimmten freien Fortschritte die Möglichkeit des Fortschritts der freyen geistigen Cultur überhaupt. 4.  Jeder kann einer kirchlichen Gesellschaft angehören, die nicht blos auf die bestimmte Territorialgewalt, unter welcher man steht beschränkt ist. 5.  Jedes Kirchen-Mitglied kann die Staatshülfe gegen die Gewalt seiner Kirche anrufen, wenn diese in irgend einer Weise seine besondern persönlichen Recht kränken will. Endlich: 6.  Niemand darf wegen seines kirchlichen Bekenntnisses von irgend einem bürgerlichen Rechte ausgeschlossen werden, obwohl bey tolerirten Kirchen die Ausschließung von gewissen Rechten möglich werden kann. |

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Dritter Theil. Von dem Völkerrechte. § 220  Im Allgemeinen ist das Völkerrecht die objective Vernunftordnung unter den Völkern in Absicht auf ihre sociale Gegenseitigkeit. Die Theorie rücksichtlich der Ausübung oder Vollziehung jener Ordnung ist die äußere Politik. § 221  Auch dem Völkerrechte liegt der Begriff der Socialität überhaupt zum Grunde. Völker ohne sociale Beziehung gleichfalls im bloßen Naturzustande gegen einander befindlich haben ebenso wenig Rechtsverhältnisse als einzelne Persönlichkeiten in ihrer absoluten Isolirung. Ein Volk gewinnt daher nur insofern Rechte, als es sich unter den Begriff der Socialität gestellt hat. § 222 Man kann auch hier wie bey den privatrechtlichen Verhältnissen unterscheiden zwischen dem absoluten und hypothetischen Völkerrechte, jenachdem man die Rechtsverhältnisse der Völker rein für sich und nach dem allgemeinen Begriff der Völkerpersönlichkeit betrachtet oder nach historischen Voraussetzungen. § 223  Das Prinzip des Völkerrechts darf zunächst nicht rein juridisch und privatrechtlich aufgestellt werden, weil den Völkern als Staaten das wesentliche Prädicat der Souveränität eigen ist.179 Diesem gemäß können sie keine höhere Auctorität als sich selbst anerkennen. Ebensowenig kann das | einfache moralische Prinzip für die äußere Politik aufgestellt werden, weil das moralische zunächst gar keinen öffentlichen Character hat, sondern nur mittelbar durch die öffentliche Vernunftordnung gefördert werden kann. Das Moralische fällt daher unmittelbar in den Kreis der reinen Subjectivität. § 224  Das Prinzip für das Völkerrecht oder die äußere Politik kann nur in der Nothwendigkeit einzelner Staaten selber gesucht werden, oder der Begriff der Menschheit fordert in seiner Vollziehung die Möglichkeit mehrerer verschiedener Staaten. Diese Möglichkeit aber führt auf das Prinzip der Völkerpolitik, welches demnach kein anderes seyn kann als die Selbsterhaltung jegliches Staates und der Anerkennung der allgemeinen Freiheit aller

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Völker und Staaten. Nach diesem Prinzipe würde sich nun der hauptsächlichste völkerpolitische Grundsatz dahin aussprechen lassen: Jedes Volk soll die souveräne Freiheit und Selbstständigkeit jedes anderen Volkes achten nach den nothwendigen Bedingungen selbstfreier Selbsterhaltung.180 [Belgien und Holland z. B. genießen nicht der selbstfreien Selbsterhaltung.] § 225  Es kann nun nach dem Begriff des Völkerrechts kein eigent­liches positives Völkerrecht geben im Sinn des positiven Privatrechts. Was man positive Völkerrechte nennt, sind blos historische Gestaltungen der Verhältnisse; über den Bestand dieser Verhältnisse kann nur jegliches Volk für sich urtheilen | und es gibt keine dritte oberste positive Auctorität der Entscheidung. § 226  Man kann nun das Völkerrecht im besondern nach folgenden drey Seiten darstellen, welche gleichfalls die nothwendige und vernünftige Stufenentwickelung der Völkerverhältnisse darstellen. a.  Das Volk an und für sich. b.  Das Staatssystem. c.  Der Cosmopolitismus. a.  Das Volk. § 227  Jedes Volk als solches und insofern es sich zu nationeller Einheit, also zu einem Staate gebildet hat, ist damit eine objectiv allgemeine Persönlichkeit. Hieraus folgt: 1.  Daß jedes Volk als Staatspersönlichkeit vor Allem souveräne Gewalt besitze. [Die keinen andern über sich erkennt.] 2.  Jedes Volk hat das Recht der Selbstkonstituirung, d. h. eben das Recht, sich zu einer bestimmten Staatsform zu entwickeln. 3.  Jedes Volk hat, insofern es sich selbst constituirt hat, das Recht auf Anerkennung. Das Prinzip der Anerkennung ist kein privatrechtliches streng juridisches, sondern es ist blos ein faktisches, oder alle Anerkennung soll stattfinden nicht sowohl de jure als de facto. [Der Regent muß anerkannt werden, der in dem Volke sich durch die Macht des Volkes erhält.]

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4.  Jedes Volk hat das Recht der Selbstreformirung, also des immanenten selbstständigen Fortschritts, seiner inneren Politik. [Verletzt von Frankreich in Beziehung auf Spanien, dann bey Belgien, das eine Republik haben wollte und dem ein König aufgedrungen wurde.]181 5.  Jedes Volk als Staat hat das Recht der vollen Selbsterhaltung. Diese aber ist eine zweyfache, | eine Selbsterhaltung nach innen und außen. In Beziehung auf die innere Selbsterhaltung muß sich jedes Volk aus seinen eigenen Kräften in seiner Staatsform und Staatsordnung behaupten können. Nach außen hin beruht das Recht der Selbsterhaltung in der Selbstvertheidigung. Hieraus entspringt das Recht des Kriegs.182 Jedes Volk hat daher das Recht, nach seiner Ansicht Krieg zu beginnen. Aus dem Rechte des Krieges folgt das des Friedens. Jedes Volk hat daher als solches das Recht, nach seiner Ansicht mit jedem andern Volke Frieden zu schließen und zu erhalten. Das Prinzip des Kriegs kann nur das der Selbsterhaltung seyn, welche entweder unmittelbar oder mittelbar gelten kann, je nachdem eine Staatspersönlichkeit unmittelbar oder mittelbar gefährdet wird. Die Grenze des Kriegs liegt im Allgemeinen darin, daß durch denselben die Persönlichkeit eines Staats an und für sich in ihrer möglichen Existenz nicht absolut angegriffen werde. Wo dieses geschieht, entsteht der Eroberungskrieg. Dieser ist an und für sich vernunftrechtlich verwerflich und nur in dem Falle zu gestatten, wo die Gefährdung oder der Angriff von der anderen Seite zuerst gleichfalls ein politisch lädaler war und dabey auch ohne wirklichen gerechten Grund. Aus dem Rechte des Kriegs und des Friedens folgt, daß jedes Volk bey fremden Kriegen das Recht der Neutra | lität habe. Eben daher gibt es keine gezwungene Neutralität, welche darin besteht, daß ein Volk durch die Uebermacht anderer Völker an der Theilnahme am Kriege eines anderen Volkes gehindert werde. Ob und in wiefern es eine absolute Neutralität geben könne, muß sich erst aus dem Begriff des Staatensystems entwickeln.

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6.  Jedes Volk hat das Recht auf Volkseigenthum, dieses besteht aber als solches eigentlich nur in dem Territorium. Daher kann eigentlich kein Volk im Gebiete eines andern ein eigentliches liegendes Eigenthum haben. 7.  Jedes Volk hat das Recht der Repräsentation oder das Recht sich bey andern Völkern in seiner Souveränität persönlich vertreten zu lassen. Das Repräsentationsrecht fällt zusammen mit dem diplomatischen und Gesandschaftsrecht. Daher hat auch jedes Volk das Recht der Gesandtschaft und zwar in gleichem Grade mit jedem anderen Volke. Daher gelten auch für die Gesandtschaften aller souveräner Völker im Allgemeinen dieselben Rechte. Endlich 8.  hat jeder Staat das Recht der Tractate und das Recht, frey nach eigenen Ansichten und nach seinem Interesse seine Verhältnisse mit andern Staaten friedlich zu bestimmen. b.  Das Staatensystem. § 228  Jedes Volk als Staat ist eine bestimmte | objective Persönlichkeit. Hieraus folgt, daß er nur insofern auch seine Volksbedeutung und Volksbestimmung setzen kann, als er die Persönlichkeit anderer Völker anerkennt und in ihrer wahrhaft menschlichen Bedeutung gelten läßt. Hieraus ergibt sich weiter, daß kein Volk absolut isolirt im Vergleiche mit einem anderen Volke bestehen soll. Das bestimmte sociale Verhältniß der Völker nun als Persönlichkeiten unter einander bildet das Staatensystem. § 229. Das Staatensystem als social bestimmtes persönliches Verhältniß der Völker zu einander ist ein nothwendiges Resultat des politischen Fortschrittes der Geschichte und zwar deßwegen, weil eben ein solches Staatensystem in dem Begriff und der ­Bestimmung der Staaten gelegen ist. § 230  Das eigentliche Prinzip des Staatensystems ist also die Gemeinschaftlichkeit des Begriffs der Persönlichkeit. Die Bedingung desselben ist das relative Gleichgewicht unter den Völkern, d. h. es darf in den Staatensystemen kein Volk ein absolu-

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tes Ueber­gewicht gewinnen. [Kein Staat darf die absolut bestimmende Stimme haben.] Die Grenze des Staatensystems bildet das Wesen der persönlichen Souveränität jedes Volkes. § 231 Aus den angedeuteten Momenten ergibt sich der allgemeine politische Grundsatz für das Staatensystem. Er ist dieser: Erhaltung der gemeinschaftlichen persönlichen Freiheit und Gegenseitigkeit aller politisch festgestellter Völker durch die Gesammt­macht dieser Völker selbst. § 232  Aus diesem Grundsatze entwickeln sich folgende völker | rechtliche Rücksichten. 1.  Das Verhältniß der Intervention. Sie besteht in einer positiv bestimmenden Theilnahme der Staaten an ihren Staatsangelegenheiten. Sowie diese Staatsangelegenheiten selber zweyfacher Art sind, nemlich innere und äußerliche, so ist auch die Inter­ vention eine innere und äußere. Die innere Intervention muß aus dem Standpunkte der Vernunftbetrachtung schlechthin verworfen werden. Die äußerliche Intervention ist in vielen Gemeinschaften nicht blos vernunftrechtlich zu gestatten, sondern sogar zu fordern. Dieses aber nur in drey Fällen: a.  wenn in dem Angriffe eines Volks von Seiten eines Andern die politische Völkerexistenz offenbar und ohne Grund gefährdet wird, also bey jedem ungerechten Eroberungskriege; b.  wenn durch das Eingreifen und die Geltendmachung eines Volks rücksichtlich eines anderen das relative Gleichgewicht offenbar gefährdet wird; c.  wenn durch die Handlungsweise eines Volks unverkennbar die Absicht sich kundgiebt, andere Völker blos zur Vermehrung eigener Macht in ihren Angelegenheiten bestimmen zu wollen. Den Grund dieser Rechtmäßigkeit der Intervention liegt aber in dem Begriff des Staatensystems selber, welchem gemäß die Völker ein gemeinschaftliches persönliches | Interesse haben müssen. 2.  Das Verhältniß der Allianz. Auch die Verbindung mehrerer Völker zu gemeinschaftlicher Vertheidigung folgt als vernünftig möglich aus dem Staatensystem. Doch darf keine Allianz ein Prinzip befolgen, welches der freien Entwickelung des Staaten­

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systems entgegen ist, vielmehr muß das Prinzip jeder Allianz grade in der Erhaltung der socialen Gemeinschaftlichkeit aller Staaten, also in der Erhaltung des relativen Gleichgewichts gelegen seyn. 3.  Das Verhältniß der Neutralität. Aus dem Begriff des Staatensystems folgt nothwendig, daß jede Neutralität im Allgemeinen nur eine relative ist, insofern nemlich jedes Volk, insofern es Persönlichkeit ist, auch an dem wahren persönlichen Interesse anderer Völker Theil nehmen muß. C.  Der Kosmopolitismus. § 233  Das Staatensystem entwickelt sich in der politischen Fortbildung der Völker zuletzt zu dem, was man Kosmopolitismus nennen kann. Der Kosmopolitismus183 beruht auf dem Bewußtseyn der Völker, daß sie nicht nur gemeinschaftliche Persönlichkeit haben, sondern eine höhere ideale Einheit bilden, wofür die Persönlichkeit nur das Mittel ist. Diese höhere Einheit ist der Begriff der Menschheit schlechthin. Der Kosmopolitismus der Völker ist daher die sociale gemeinschaftliche Vollziehung des menschlichen überhaupt aus dem Gesichtspunkte | gemeinschaftlicher geistiger Bestimmung. Der Kosmopolitismus kann nur das Resultat seyn der höchsten Entwickelung der Staaten. Er ist eben damit keine abstracte Einheit der Völker, sondern eine wahrhaft concrete, d. h. eine solche, in welcher die Völker wirklich lebendige nationelle Elemente sind. § 234  Aus jenem Begriff des Kosmopolitismus folgt: 1. Er setzt entschiedene freie Entwickelung der einzelnen Staaten voraus. 2.  Möglichste Selbstständigkeit der einzelnen Staaten in ihrer ausgebildeten Persönlichkeit, also auch möglichste eigenthüm­ liche Selbstform der einzelnen Staaten. Endlich 3.  Aufrechthaltung des freiesten Verkehrs und der freiesten Theilnahme aller Völker unter einander an allen Angelegenheiten, die rein menschlich sind.

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§ 235  Aus dem Wesen des Kosmopolitismus folgt keineswegs die Nothwendigkeit eines sogenannten ewigen Friedens184 unter den Völkern. Vielmehr ist dieser auch apriorisch eine reine Unmöglichkeit, weil, solange das Besondere seine Geltung haben muß, auch die Möglichkeit des Conflicts stattfindet. Nur der absolute Krieg oder die peremtorische Unsicherheit185 in der Völkerverbindung widerstrebt dem Cosmopolitismus.

A NM ER K U NGEN

1  Naturrecht ]  ein seit der Antike geläufiges überpositives Recht, das zunächst aus der teleologischen Ordnung des Kosmos (Cicero), seit der Frühen Neuzeit jedoch aus der Natur des Menschen abgeleitet wurde; Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf und Christian Thomasius gelten als die bedeutenden Autoren des Naturrechts, das den positiven Rechtsordnungen als Matrix dienen sollte, die die Gerechtigkeit des Rechts zu garantieren hatte. Obwohl Kant sich vom klassischen Naturrecht zugunsten eines Vernunftrechts abwendet, wird die Disziplin in ihrer von Pufendorf, Christian Wolff oder Gottfried Achenwall entworfenen Form bis in die Mitte des 19. Jhds. an Universitäten gelehrt. 2  allgemeine Politik ] Politik gilt seit Machiavelli als kluges Regierungshandeln mit dem Ziel der Stabilität des Staatswesens und dem Machterhalt des Herrschers; die Frühe Neuzeit ist geprägt von unterschiedlichen Ratio-Status-Lehren, die diese weltlich-pragmatischen Ziele mit normativen Grundlegungen zu verbinden suchen; das 18. Jahrhundert nennt diese Politik-Konzepte Staatsklugheitslehren; Kant bindet solche Prudentia politica erneut an das Recht, indem er Politik als »ausübende Rechtslehre« (Zum ewigen Frieden, AA VIII, S.  370) bezeichnet; Hillebrand selbst hatte den Terminus in seinen publizierten Schriften mit dem Naturrecht identifiziert; an dieser Stelle aber wird »Politik« mit der Staatsrechtstheorie verbunden. 3  muß wesentlich spekulativ seyn ]  Hillebrand bedient sich des Begriffs des ›Spekulativen‹ hier einerseits, um in der Tradition der klassischen Metaphysik den nicht-empirischen Charakter seiner Deduktionen zu bezeichnen, andererseits, um die dialektische Entwicklungs­ bewegung seiner Ausführung in Anbindung an Hegel anzuzeigen. 4  juridische Theologie ]  dies ist ein besonders aufschlussreicher Begriff, weil Hillebrand damit anzeigt, dass für ihn das abstrakte, also jedes überpositive Recht nur Verbindlichkeit erhalten kann durch eine überpositive Zwangsgewalt, die einzig die Gottesinstanz gewährleisten kann; er steht hiermit in der Tradition des klassischen Naturrechts seit

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Anmerkungen

Grotius, Pufendorf und Wolff, die allesamt an der Gottesinstanz als vis obligandi festhielten. 5  das Völkerrecht ]  spätestens seit Francisco de Vitoria umfasst der Begriff einerseits ein Völkergemeinrecht (ius intra gentes), das zumeist gewohnheitsrechtliche Normen impliziert, die bei allen Völkern gelten, andererseits ein Recht, das zwischen Staaten gilt und seit Kant in seinem prekären Rechtsstatus bekannt ist; Hillebrand bezieht sich ausschließlich auf die zweite Variante des Begriffs. 6  wirklich subsidiarisch ]  im juridischen Kontext svw. als Behelf dienend. 7  zuerst bey den Griechen der Fall ]  obwohl sich im frühen Griechenland keine eigentliche Naturrechtstheorie ausbildete, herrscht nach Anaximander (um 610–nach 547 v.  Chr.) über allem eine kosmische Ordnung (Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Hg. von Hermann Diels und Walther Kranz. 3 Bde. Berlin 51935, I, 12 B 1), nach Heraklit (um 520–um 460 v.  Chr.) bildet ein allgemeines und unabänderliches göttliches Gesetz Grundlage und Legitimation der positiven menschlichen Gesetze (vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker, I,  22  B  80 und 114), Sophokles (497/96–406/05 v.  Chr.) lässt Antigone in seiner gleichnamigen Tragödie (442 v.  Chr.) den Leichnam Polyneikes’ gegen das Verbot Kreons bestatten, um den ungeschriebenen Gesetzen der Unterweltgötter Folge zu leisten (vgl. 2. Epeisodion, ebenso den Prolog). 8  namentlich des Solon über Staat und rechtliche Verbindung ]  Solon (um 640–um 560  v.  Chr.) führte neben wichtigen Gesetzen zur wirtschaftlichen Stabilisierung Athens (u. a. Münz- und Maßreformen), der Popularklage und der Bestellung eines ›Rates der Vierhundert‹ als Gegengewicht zum Adel die politische Gliederung der Bürgerschaft in vier Klassen auf der Basis des jährlichen Getreideertrages oder eines Geldäquivalents und der darauf beruhenden politischen Rechte und Pflichten ein; zu Solons Reformen vgl. u. a. den Aristoteles zugeschriebenen historischen Überblick Athenaion politeia (›Der Staat der Athener‹, Ende des 7. Jhds. bis 403 v.  Chr.; Der Staat der Athener. Übersetzt und erläutert von Mortimer Chambers. Darmstadt 1990), ebenso Plu­ tarchs (um 45–um 125) Solon-Biographie in den Vitae parallelae; vgl.

Anmerkungen

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Eberhard Ruschenbusch: Solon: Das Gesetzeswerk – Fragmente. Übersetzung und Kommentar. Hg. von Klaus Bringmann. 2., korrigierte Aufl. Stuttgart 2014. 9  Pythagoras ]  Pythagoras von Samos (um 570–nach 510 v.  Chr.) soll laut Diogenes Laertios (fl. 3. Jhd.) der süditalienischen Stadt Kroton eine aristokratische Verfassung gegeben und nach dieser regiert haben, vgl. Diogenes Laertios: Vitae philosophorum VIII, 3; vgl. auch Iamblichos: De vita Pythagorica 33, ebenso Porphyrios: Vita Pythagorae 21. 10  verdienen in der Vorsokratischen Zeit noch die politischen Lehren der sogenannten Sophisten besondere Berücksichtigung ]  nach Aristoteles (384–322 v. Chr.) soll unter den von etwa 450 v. Chr. bis etwa 380 v. Chr. v. a. in Athen wirkenden Sophisten, den ›weisen Männern‹, u. a. Lykophron (fl. 1. Hälfte 4. Jhd. v. Chr.) die Abschaffung der Adelsvorrechte gefordert haben (vgl. Politik 1280 b 10–12), Phaleas von Chalkedon (fl. 5./4. Jhd. v. Chr.) forderte, bei der Gründung neuer griech. Kolonien alle Bürger finanziell gleichzustellen bzw. für bereits bestehende Staaten und Kolonien gleichen Besitz, Erziehung und kollektives Wirtschaften für alle freien Bürger bereitzustellen (ebd. 1266 a 39– 1267 b 21). 11  die dialektische Methode der Eleaten ]  neben Parmenides aus Elea (um 520/515 – um 460/455 v. Chr.), der als Begründer der im süd­ italienischen Elea beheimateten eleatischen Schule gilt, war es insbesondere dessen Schüler Zenon von Elea (um 490–um 430 v. Chr.), der die Dialektik begründete, »ein Verfahren, aufgrund dessen wir in der Lage sein werden, über jedes vorgelegte Problem aus anerkannten Meinungen (endoxa) zu deduzieren und, wenn wir selbst ein Argument vertreten, nichts Widersprüchliches zu sagen« (Aristoteles: ­Topik I, 1, 100 a 18  ff.). 12  daher muß das subjektiv-persönliche aus dem Standpunkte des Staates […] ein eigentliches Privatrecht nach platonischen Ideen nicht stattfindet ]  im platonischen Staatsverständnis sind die Interessen des Individuums denen der staatlichen Gemeinschaft streng untergeordnet, so dass es ein subjektives Recht und das daraus entstehende Privatrecht nicht geben konnte. 13  Jene solle nicht privat-Erziehung sondern allgemeine öffentliche

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Anmerkungen

seyn. [Mangel unserer Zeit, doch keine Achtung des Familien­leben’s.] ] vgl. Platon: Politeia 520  ff. 14  dieser objektiv moralischen Bedeutung des Staates, Gemeinschaft des Eigenthums ]  vgl. hierzu Platon: Politeia 421d  ff. 15  de legibus (περι νομον) in 4.  Büchern ]  vgl. Platons wohl kurz vor seinem Tod entstandenen Dialog Nomoi, der die Suche nach der bestmöglichen Staatsverfassung und deren Ausgestaltung thematisiert. 16  de re publica in 10 Büchern (περι πολιτείας) [übersetzt von Schleiermacher.] ]  vgl. Platons zwischen 390 und 370 v.  Chr. entstandenen staatstheoretischen Dialog Politeia, in dem über die Gerechtigkeit und ihre mögliche Verwirklichung in einem idealen Staat diskutiert wird, hier in der Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), Platons Werke, 3. Tl., 1. Bd., Berlin 1828. 17  Bestimmung des Menschen ]  zur Bestimmung des Menschen als ›zoon politikon‹, als soziales, zur Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaften bildendes Wesen vgl. neben Aristoteles: Nikomachische Ethik 1155 a 1  ff. v. a. ders.: Politik 1253 a 1  ff. 18  Der Staat soll auch nach Aristoteles einen in sich zusammenhängenden Organismus bilden ]  zum Vergleich der Struktur der Polis mit der Struktur der Lebewesen vgl. v. a. Aristoteles: Politik 1290 b 21  ff. 19  der bürgerliche Mittelstand ]  vgl. zu den Angehörigen der »Mittelklasse«, die »von allen Bürgern in den Staaten am sichersten« leben, und der auf sie gegründeten Verfassung, die die beste darstellt, Aristoteles: Politik 1295 b 3  ff. 20  daß es Menschen gäbe, welche durch ihre natürliche Persönlichkeit nothwendig Anderen von höherer Persönlichkeit untergeordnet seyn müßten ]  vgl. zur »universalen Natur«, aus der das Ordnungsverhältnis von Herrschenden und Beherrschten entspringt, Aristoteles: Politik 1254 a 16  ff. 21  Er unterscheidet das Allgemeine Recht an und für sich und das Eigentlich juridische Recht ]  eine auch für Hillebrand im Folgenden entscheidende Differenzierung in einen Begriff von Recht, der alle unterschiedlichen Formen dieser Norm (göttliche Gesetze, Naturrecht etc.) von den bestimmten Varianten des positiven menschlichen Rechts unterscheidet.

Anmerkungen

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22  seine 6 Bücher der Moral, überschrieben ad Nicomachum Filium, dann seine Werke vom Staate (περι πολιτείας) ]  vgl. Aristoteles’ (384– 322 v. Chr.) ethisches Hauptwerk Ethika Nikomacheia – dessen Titel bis heute unklar geblieben ist, womöglich bezieht er sich auf Aristoteles’ Sohn Nikomachos (fl. Ende 4. Jhd. v. Chr.), der mutmaßlich den Text kompilierte – sowie dessen staatstheoretische Schrift Politika. 23  die griechische Republikanische Selbstständigkeit der macedonischen Monarchie untergeordnet worden ]  nachdem Philipp II. (um 382–336 v. Chr.), seit 359 v. Chr. König von Makedonien, bis 339 v. Chr. weite Teile Griechenlands seiner Herrschaft unterworfen hatte, siegte er in der Schlacht von Chaironeia (August 338 v. Chr.) über die Allianz der letzten noch selbständigen Poleis (u. a. Athen und Theben) und gründete 337 v. Chr. den alle griechischen Stadtstaaten außer Sparta umfassenden Korinthischen Bund, in dem sich die Hegemonie Makedoniens bei weitgehender innerer Autonomie der einzelnen Mitglieder staatsrechtlich manifestierte; ein von Athen, das trotz der Niederlage seine demokratische Verfassung behalten durfte, geführtes Bündnis von Poleis erhob sich nach dem Tod von Philipps Sohn Alexander (356– 323 v. Chr.) gegen die makedonische Hegemonie (›Lamischer Krieg‹), wurde jedoch von Alexanders Nachfolger, dem Diadochen Antipatros (398–319 v. Chr.), der sich unbestritten als Herrscher Makedoniens behauptete, im Frühjahr 321 v. Chr. besiegt, der alle Poleis der makedonischen Direktherrschaft unterwarf, indem er ihm getreue Oligarchen oder Tyrannen installierte. 24  Auch hatte sich die eigentlich wissenschaftliche Cultur aus Griechenland hauptsächlich nach Alexandria hingewendet. ]  nach dem Tod Alexanders des Großen (356–323 v.  Chr.) zerfiel sein ›Weltreich‹ aufgrund der ungeklärten Nachfolge in zahlreiche, von seinen Heerführern (Diadochen) regierte Einzelreiche, von denen v. a. das von Ptolemaios I. Soter (367/66–283/82 v. Chr.) begründete Ptolemäerreich in Ägypten nicht nur zu einer wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen Großmacht mit dem Zentrum Alexandria erwuchs, so gründete Ptolemaios I. bereits 284 v. Chr. die später berühmte Bibliothek von Alexandria. 25  der gelehrte Stoiker Chrysippus ]  Chrysippos von Soloi (281/76– 208/04 v.  Chr.), einer der bedeutendsten Vertreter der älteren Stoa,

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Anmerkungen

systematisierte die Lehren seines Lehrers und Begründers der Stoa Zenon von Kition (333/32–262/61 v. Chr.), wobei er vmtl. vieles von diesem übernahm (er soll mehr als 705 Bücher verfasst haben, vgl. Diogenes Laertios: Vitae philosophorum VII, 180); in dem »Buch über das Schöne sagt« Chrysippos, dass das Recht »von Natur und nicht durch menschliche Satzung, wie auch das Gesetz und der richtige Verstand«, besteht (ebd., VII, 128  f.), das »Buch, was er Über die Gesetze verfaßte, [beginnt er] so: ›Das Gesetz ist der König aller Dinge, der göttlichen wie der menschlichen. Es muß allem Rechtschaffenen und Schänd­ lichen vorstehen, als Herrscher und als Führer, und muß demgemäß die Richtschnur des Gerechten und Ungerechten sowie dasjenige sein, was den von Natur aus politischen Lebewesen gebietet, was zu tun, und verbietet, was zu lassen ist‹« (nach dem röm. Juristen Marcianus [fl. 3. Jhd.]; Stoicorum Veterum Fragmenta. Hg. von Hans von Arnim. 3 Bde. Leipzig 1905–1905, 3.314); Chrysippos soll nach Plutarch (um 45–um 125) in seinen Protreptischen Reden den Inzest legitimiert haben (De Stoicorum repugnantiis 22, 1044 F–1045 A), in »seinem Staat« und dem »Buch Über zukommende Funktionen« laut Sextus Empiricus (fl. 2. Jhd.) aber auch den Fremd- und Eigenkannibalismus gefordert haben (Pyrrhoniae Hypotyposeis 3.247  f.); zu Chrysippos vgl. auch Diogenes Laertios: Vitae philosophorum VII, 179–201. 26  Was in der römischen Rechtsgesetzgebung als philosophisches Moment erscheint ]  vor allem in den ersten Abschnitten der Institutiones werden die Begriffe der Gerechtigkeit, des Rechts sowie deren besondere Formen, das Naturrecht, das Völkerrecht und das bürgerliche Recht, in Grundzügen vorgestellt [Inst. 1.1. und 1.2.]; die eigentliche Leistung des Corpus Iuris Civilis besteht aber nach Hillebrand in der empirischen Sammlung bestimmter Gesetze des römischen Reiches. 27  Die römischen Rechtsgelehrten aus der sogenannten classisch-­ juristischen Periode ]  als »classisch-juristische Periode« wird in der Rechtsgeschichte die Zeit zwischen etwa der zweiten Hälfte des 1. Jhds. v. Chr. und 235 n. Chr. bezeichnet, in der sich eine reiche Rechts­literatur entfaltete, u. a. juristische Fallsammlungen, Kommentare und Einführungen; bedeutende Vertreter sind Marcus Antistius Labeo (um 54 v. Chr.–um 10/11 n. Chr.; u. a. Kommentare zum Zwölftafelgesetz),

Anmerkungen

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Gaius Ateius Capito († 22 n.  Chr.; v. a. Schriften zum Pontifikal- und Sakralrecht), Publius Salvius Iulianus (fl. 1.  Hälfte des 2.  Jhds.), Publius Iuventius Celsus (fl. 1. Hälfte des 2. Jhds.) und Aemilius Papinianus (142–212). 28  seine 2 Schriften de legibus und de republica ]  vgl. Marcus Tullius Ciceros (106–43 v. Chr.) Dialoge De re publica (›Über das Gemeinwesen‹, entstanden zwischen 54 und 51 v. Chr.), in dem die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Staatsformen dargelegt werden, und De legibus (›Über die Gesetze‹, entstanden nach 53 v. Chr.), in dem die Gesetze auf das Naturrecht gegründet werden. 29  das Völkerrecht jus gentium ]  vgl. dazu De re publica I,2, aber auch Ciceros De officiis III,69. 30  jus civile ]  bürgerliches Recht, meint hier die für die Stadt Rom und das Reich je unterschiedlich geltenden positiven Gesetze, die seit dem 6. Jhd. im Corpus iuris civilis zusammengefasst wurden. 31  denn die philosophische Theorie setzt immer bestimmte Wirklichkeit, deren Begriff sie geben soll, historisch voraus ]  Referenz auf Hegels berühmtes Diktum aus der Vorrede der Rechtsphilosophie: »Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« (Hegel RPh S.  21). 32  als das neue europäische Staatensystem sich bestimmter aufzustellen anfing ]  Bezug auf die sich spätestens nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelnde Form absolutistischer Souveränität und der daraus entstehenden Politik internationaler Beziehungen und Völkerrechtsansprüche souveräner Einzelstaaten.

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Anmerkungen

33  Oldendorp, Hemming und Winkler. […] de republica des Franzosen Bodin in 6 Büchern. ]  vgl. Johann(es) Oldendorp (um 1488–1567): Εἰσαγωγή iuris naturalis sive elementaria introduction iuris naturae, gentium et civilis. Köln 1539. – Niels Hemming(sen) (1513–1600): De lege naturae apodictica methodus. Wittenberg 1562 u. ö. – Benedikt Winckler (1579–1648): Principiorum juris libri quinque. Leipzig 1615. – Jean Bodin (1529/30–1596): Les six livres de la République. Paris 1576. 34  die größere nationelle Selbstständigkeit des englischen Volks unter Elisabeth, vorzüglich der politische Einfluß dieser Nation auf die europäischen Angelegenheiten ]  unter Elizabeth I. (1533–1603) stieg England zur protestantischen Großmacht auf, u. a. die Gründung der Kolonie Virginia in Nordamerika (1584) sowie der Sieg über die spanische Armada 1588 brach den spanisch-habsburgischen Hegemonial­ anspruch auf ein Weltreich. 35  die endliche Freiwerdung der Niederländer, gegenüber den Spaniern ]  1568 sagten sich die nördlichen, vorwiegend calvinistisch geprägten Provinzen der Niederlande, seit 1482 Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, von dem sie beherrschenden spanischen Zweig der Habsburger los und ernannten Wilhelm von Nassau-Dillenburg (Wilhelm I. von Oranien-Nassau; 1533–1584) zum Statthalter, was in den Achtzigjährigen Krieg der nördlichen Provinzen, die sich 1581 zu den Vereinigten Niederlanden zusammenschlossen, gegen die spanischen Habsburger mündete; erst mit dem Westfälischen Frieden 1648 erkannte Spanien die Unabhängigkeit der Vereinigten Niederlande an. 36  Mit diesen politischen Ereignissen verband sich 4) die neue philosophische Richtung, deren Charakter antischolastisch war. ]  ›antischolastisch‹ hier im Sinne von empiristisch. 37  Baco von Verulam ]  vgl. neben Francis Bacons, 1. Baron Verulam (1561–1626), die Theologie scharf von der Philosophie trennendem De dignitate et augmentis scientiarum libri IX. London 1623 (zuerst als Of the Proficience and Advancement of Learning, Divine and Humane. London 1605) v. a. dessen gegen Aristoteles und die scholastische Denkweise gerichtetes Novum organum scientiarum. London 1620. 38  ist das berühmte Werk des Holländer’s Hugo Grotius: de jure belli ac pacis der eigentliche litterarische Anfangspunkt zu nennen ]  in

Anmerkungen

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seinen De jure belli ac pacis libri tres. In quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur. Paris 1625 sucht Hugo Grotius (1583–1645) zwar ohne Leugnung der Bedeutung der Religion, doch unter Verzicht auf religiös basierte Argumente zur Begründung von Normen naturrechtliche Argumente herauszuarbeiten, die nicht nur skeptischen Einwänden standhalten, sondern vor allem auch dann noch Gültigkeit besitzen, »wenn man annähme, was freilich ohne die grösste Sünde nicht geschehen könnte, dass es keinen Gott gebe, oder dass er sich um die menschlichen Angelegenheiten nicht bekümmere« (De jure belli ac pacis, Prol. 11, hier in der Übersetzung von Julius Hermann von Kirchmann, Des Hugo Grotius drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens. 2 Bde. Berlin 1869, Bd.  1, S.  31), womit es keiner weltlichen oder transzendenten Autorität zur Verpflichtungskraft von Normen bedarf, denn das »natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches anzeigt, dass einer Handlung, wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst, eine moralische Hässlichkeit oder eine moralische Nothwendigkeit innewohne«, und es »ist so unveränderlich, dass selbst Gott es nicht verändern kann« (ebd., I, I, X.1 und X.5; Bd.  1, S.  73  f.). 39  Das allgemeine Grundprinzip findet er in der Socialität ]  Grotius unterstellt dem Menschen einen ›appetitus societatis‹, einen »gesellige[n] Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maass seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit Seinesgleichen […]. Der Satz, dass jedes lebende Wesen nur den Trieb auf seinen eigenen Nutzen habe, kann in dieser Allgemeinheit nicht zugegeben werden« (De jure belli ac p ­ acis, Prol. 6; Bd.  1, S.  24). 40  Ungefähr gleichzeitig stellte Hobbes in England eine eigene Theorie des natürlichen Rechts namentlich auch des Staatsrecht’s auf. ]  Thomas Hobbes (1588–1679) entwickelte in mehreren Schriften (u. a. De Cive und Leviathan) eine politische Theorie, die den Naturzustand als rechtlosen und erst durch den status civilis eine Rechtsgeltung und Verbindlichkeit erfüllt sah; anders als für Grotius oder noch Pufendorf war es deshalb für Hobbes eine Rechtspflicht, den Naturzustand zu verlassen und sich einem Souverän zu unterwerfen; vgl. hierzu Dieter

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Anmerkungen

Hüning: Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes. Berlin 1998). 41  den Urzustand des Menschen findet derselbe in einem Kriege Aller gegen Alle, deshalb Folge einer gegenseitigen Furcht Aller war ]  vgl. Hobbes: Elementorum philosophiae sectio tertia de cive. Paris 1642, später Elementa philosophica de cive. Amsterdam 1647, Praefatio: »Darauf zeige ich nun, daß der Zustand der Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft (den ich den Naturzustand zu nennen mir erlaube) nur der Krieg aller gegen alle ist, und daß in diesem Krieg alle ein Recht auf alles haben« (Vom Menschen / Vom Bürger. Eingel. und hg. von Günter Gawlick. Hamburg 1994, S.  69). 42  Hierher gehören seine Schriften: 1) de cive und 2) der Leviathan oder de statu civile et ecclesiastico. ]  vgl. neben den Elementa philosophica de cive (vgl. Anm.  41) Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil. 1651 (Leviathan. Materie, Form und Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens. Übers. von Jutta Schlösser, hg. von Hermann Klenner. Hamburg 2004) bzw. Leviathan, sive de Materia, Forma, & Potestate Civitatis Ecclesiasticae et Civilis. Amsterdam 1668. 43  Gegen das Ende des 17ten  saeculum begann mit Samuel Pufendorf († 1694) die wissenschaftliche Methode in der Theorie des natürlichen Rechts. ]  obwohl der Naturrechtsphilosoph und Völkerrechtler Samuel von Pufendorf (1632–1694), in Heidelberg erster deutscher Ordinarius für Natur- und Völkerrecht (1661), die christliche Offenbarung wie auch das Naturrecht gleichermaßen ursprünglich auf Gott zurückführte, löste er das Naturrecht von der religiös-theologischen Basis des sogenannten göttlichen Rechts und sah es als ein über Gesellschaftsmodelle hinausgehendes konstantes Wertesystem an; vgl. hierzu Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der praktischen Philosophie. München 1972. 44  Von seinen Schriften gehören hierher: elementa jurisprudentiae naturalis 1660 und dann de jure naturae et gentium 1672. (de officio hominis et civis ein Compendium davon). ]  vgl. Pufendorf: Elementa Iurisprudentiae Universalis libri duo. Jena 1660 (Gesammelte

Anmerkungen

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Werke. Bd.  3. Hg. von Wilhelm Schmidt-Biggemann. Berlin 1999); De Iure Naturae et Gentium libri octo. Lund 1672 (Gesammelte Werke. Bd.  4. Hg. von Frank Böhling. Berlin 1998; Acht Bücher vom Naturund Völcker-Rechte. Übers. und erl. von Jean Barbeyrac [1674–1744] u. a. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1711); De officio hominis et civis iuxta legem naturalem. Lund 1673 (Gesammelte Werke. Bd.  2. Hg. von Gerald Hartung. Berlin 1997). 45  so gab die Umwandlung in der englischen Verfassung oder vielmehr der Sturz der Stuart’s die nächste Veranlassung zur Aufstellung freierer politischer Grundsätze ]  bereits bei seinem Regierungsantritt war der aus dem Hause Stuart stammende Charles I. (1600–1649), König von England, Schottland und Irland, vom Gottesgnadentum seiner Herrschaftsrechte überzeugt und sah im Mitwirkungsanspruch des Parlaments eine Verletzung dieses Rechts; ab 1629 regierte Charles ohne Parlament, was letztendlich in den englischen Bürgerkrieg (1642–1649), seine Enthauptung (30. Jan. 1649) und die Etablierung einer Republik England unter dem Lordprotektor Oliver Cromwell (1599–1658) mündete; 1660 wurde die Monarchie mit der durch das Parlament verliehenen Königswürde an Charles’ I. Sohn Charles II. (1630–1685) restauriert, doch starb Charles II. kinderlos, sein zum Katholizismus konvertierter Bruder und Nachfolger James II. (1633–1701) brachte aufgrund seines katholischen Glaubens und seines absolutistischen Machtanspruchs bald große Teile von Klerus und Adel gegen sich auf, James’ II. zweite Ehe mit der streng katholischen Maria von Modena (1658–1718) und die Geburt des Thronfolgers James Francis Edward Stuart (1688–1766) brachten das protestantische Königtum in England in Gefahr; im Sommer 1688 trugen Klerus und Adel James’ II. protestantischer Tochter aus erster Ehe, Mary (1662–1694), und ihrem Ehemann Wilhelm  III. von ­Oranien-Nassau (1650–1702) die Königswürde an, woraufhin Wilhelm III. mit einem Heer in England landete und James II. zur Flucht nach Frankreich zwang (›Glorious Revolution‹); im Herbst 1689 wurden Mary und Wilhelm inthronisiert, nachdem sie die im Frühjahr vom Parlament verabschiedete ›Bill of Rights‹ anerkannt hatten, die die Rechte des Parlaments gegenüber dem Monarchen stärkte, aber auch das Recht der Bürger auf Petitionen (und Waffenbesitz) festschrieb.

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Anmerkungen

46 der englische Philosoph Locke, der ein politisches Werk, unter dem Namen: »von der Staatsverwaltung, of civil government« schrieb ]  vgl. John Lockes (1632–1704) anonym 1689 publizierte staatstheoretische Abhandlungen Two Treatises of Government: In the Former, the False Principles and Foundation of Sir Robert Filmer, and his Followers, are detected and overthrown. The Latter is an Essay concerning the True Original, Extent, and End of Civil-Government. London 1690, die einen maßgeblichen Einfluss auf die ›Glorious Revolution‹ 1688/89 hatten. 47  trennte in Deutschland der bekannte Philosoph und Jurist Christian Thomasius († 1728) zuerst das moralische (honestum) von dem streng Rechtlichen (justum) und zwar in der Weise, daß gar keine Beziehung zwischen beyden statt finden soll ]  Christian Thomasius (1655–1728) unterscheidet drei Arten von Normen, die Sittlichkeit (honestum), die Wohlanständigkeit (decorum) und die Gerechtigkeit (iustum), sowie die Pflichten des Menschen gegenüber Gott, sich selbst und seinen Mitmenschen, wobei die beiden ersteren in den Bereich des honestum fallen und die letztere einerseits in den des decorum fällt, soweit sie die nichterzwingbaren Pflichten den Mitmenschen gegenüber betrifft, und andererseits in den des iustum, soweit sie die erzwingbaren Rechtsnormen im gesellschaftlichen Miteinander betrifft; vgl. Thomasius: Fundamenta Iuris Naturae et Gentium exsensu communi deducta, in quibus ubique secernuntur principia honesti, justi ac decori, cum adjuncta emendatione ad iusta fundamenta, institutionem jurisprudentiae divinae. Halle, Leipzig 1705, v. a. lib.  I, cap. V, §§ XLVII ff., S.  111  ff. (Grund-Lehren des Natur- und Völker-Rechts, nach dem sinnlichen Begriff aller Menschen vorgestellet in welchen allenthalben unterschieden werden die Ehrlichkeit, Gerechtigkeit und Anständigkeit. Denen beygefüget eine Verbesserung der Göttlichen Rechts-Gelahrtheit nach dessen Grund-Lehren zum Gebrauch des Thomasianischen Audi­ torii. Halle 1709, S.  102  ff.). 48  Hierher gehören seine: institutiones jurisprudentiae naturalis divinae; ferner seine: fundamenta juris naturalis et gentium (1718). ]  vgl. neben den genannten Fundamenta Iuris Naturae et Gentium in der Ausgabe Halle, Leipzig 41718 (vgl. Anm.  47) Thomasius: Institutiones

Anmerkungen

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Iurisprudentiae Divinae libri tres. In Positiones succincte con­trac­tae, in quibus Hypotheses Illustris Pufendorfii circa doctrinam ­Iuris Naturalis Apodictice demonstrantur. Frankfurt a. M., Leipzig 1688. 49  Gundling ]  Nikolaus Hieronymus Gundling (1671–1729), Professor des Naturrechts und der Philosophie an der Universität Halle, vgl. u. a. die Iurisprudentia naturalis. Halle 1715 (Via ad Veritatem, pars 3), in der Gundling ebenso wie im Ius Naturae ac Gentium: Nova methodo elaboratum et a praesumtis opinionibus aliisque ineptiis vacuum. Halle 1715 und dem Ausführlichen Discours über das Natur- und Völcker-Recht. Nach Anleitung und Ordnung des von ihm selbst herausgegebenen Iuris naturae ac gentium. Frankfurt a. M., Leipzig 1734 wesentlich zur Verbreitung der naturrechtlichen Auffassungen von Thomasius beitrug; vgl. Hinrich Rüping: Die Naturrechtslehre des Christian Thomasius und ihre Fortbildung in der Thomasius-Schule. Bonn 1968. – Gundling gilt darüber hinaus als Begründer der Lehre vom geistigen Eigentum, vgl. Rechtliches und vernunfft-mäßiges Bedencken eines I[uris] C[onsul]TI, der unpartheyisch ist, von dem schändlichen Nachdruck andern gehöriger Bücher. S.  l. 1726; vgl. dazu u. a. Heiner Lück: Nicolaus Hieronymus Gundling und sein »Rechtliches und Vernunfft-mäßiges Bedencken … Von dem Schändlichen Nachdruck andern gehöriger Bücher«. In: Louis Pahlow, Jens Eisfeld (Hg.): Grundlagen und Grundfragen des Geistigen Eigentums. Tübingen 2008, S.  9–34. 50  Achenwald in Göttingen, in seinem Werke elementa juris naturae ]  Gottfried Achenwall (1719–1772), seit 1748 außerordentlicher, seit 1761 ordentlicher Professor des Naturrechts und der Politik an der Universität Göttingen, vgl. Achenwall und Johann Stephan Pütter (1725–1807): Elementa Iuris Naturae. In usum auditorium. Göttingen 1750 (Anfangsgründe des Naturrechts [Elementa Iuris Naturae]. Hg. von Jan Schröder. Frankfurt a. M. 1995); zu Achenwall vgl. u. a. Paul Streidl: Naturrecht, Staatswissenschaften und Politisierung bei Gottfried Achenwall (1719–1772). München 2003. 51  Idee des Eigenthum’s ]  vgl. dazu Achenwall und Pütter: Elementa Iuris Naturae, cap.  II, tit.  I., §§ 276–129, S.  73–75 (Anfangsgründe, S.  93–95); vgl. auch ebd., cap. II, tit. III, §§ 306–331, S.  82–90 (Anfangsgründe, S.  103–111).

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Anmerkungen

52  einer Occupation des Eigenthum’s ]  vgl. dazu Achenwall und Pütter: Elementa Iuris Naturae, cap. II, tit. II, §§ 280–302, S.  76–81 (Anfangsgründe, S.  95–101). 53  das große naturrechtliche Werk von dem Philosophen Christian Wolf anzuführen, welches unter dem Titel jus naturae methodo scientifica tractatum 1740 in 9 Quartbänden erschien ]  vgl. Christian Wolff: Ius Naturae methodo ccientifica pertractatum. 8 Bde. Frankfurt a. M., Leipzig 1740–1748 (ND Hildesheim 1968). 54  Montesquieu wegen seines: esprit des lois ]  vgl. Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu (1689–1755): De l’esprit des loix. Ou du rapport que les loix doivent avoir avec la Constitution de chaque Gouvernement, les Mœurs, le Climat, la Religion, le Commerce &c. 2 Bde. Genf 1748. 55  eine Art Philosophie des positiven Rechts ]  Montesquieu geht es in De l’esprit des loix weniger um Fragen überpositiver Rechtsbegründung als vielmehr um die Berücksichtigung konstitutiver empirischer Bedingungen der historisch und kulturell unterschiedlichen Rechtsordnungen, dabei sucht Montesquieu nach allgemeinen Prinzipien (dem Geist) dieser Bedingungen, wie dem Einfluss des Klimas oder der Sitten und Gebräuche, weshalb Hillebrand diesen Geist der Gesetze als Philosophie bezeichnet. 56  in Frankreich Jean Jaques Rousseau, indem er gleichsam aus dem esprit des lois eine rein abstracte Verstandestheorie des Staates entwarf. Sein bekanntes Werk: contrat social enthält vorzugsweise die betreffenden Grundsätze. ]  vgl. Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique. Amsterdam 1762; Rousseau geht von einer menschlichen Gemeinschaft aus, deren Grundlage ein Vertrag ist, der auf einem Gemeinwillen (›volonté générale‹) basiert, der nicht identisch mit der Summe der Einzelinteressen, sondern absolut ist, von allen Mitgliedern ausgeht und auf ihrer aller Wohl zielt; Gemeinwille und Gerechtigkeit, die ihren Ursprung in der Vernunft h ­ aben, fallen nach Rousseau zusammen. 57  Die Volkssouveränität ist daher nur die allein wahre Staatsverfassung und der Regent ist daher nur gleichsam der Repräsentant dieser Souveränität. ]  vgl. Rousseau: Du Contrat Social, liv. II, chap. 1  f., S.  53  ff.

Anmerkungen

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(Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch / Deutsch. Unter Mitarbeit von Eva Pietzcker übers. und hg. von Hans Brockard. Stuttgart 2010, S.  52  ff.). 58 Fast gleichzeitig schrieb in Italien Filangieri nach der Weise von Montesquieu sein bekanntes Werk: über die Weise der Gesetzgebung. ]  vgl. Gaetano Filangieri (1752–1788): La Scienza della Legislazione. 7 Bde. Neapel 1780–1785. 59  In Deutschland dauerte die von Thomasius begründete Rechtstheorie fast ausschließlich bis auf die Zeit von Kant fort. ]  nach Immanuel Kant (1724–1804) fordere nicht das Recht, sondern die Moral, dass sich der Einzelne die Rechtsgebote zur subjektiven Handlungsmaxime mache: »Der Begriff des Rechts, sofern er sich auf eine ihm correspondierende Verbindlichkeit bezieht, (d. i. der moralische Begriff derselben), betrifft erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältniß einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können. Aber zweitens bedeutet er nicht das Verhältniß der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfniß) des Anderen, wie etwa in den Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzigkeit, sondern lediglich auf die Willkür des Anderen. Drittens in diesem wechselseitigen Verhältniß der Willkür kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder mit dem Object, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung, z. B. es wird nicht gefragt, ob jemand bei der Waare, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vorteil finden möge, oder nicht, sondern nur nach der Form im Verhältniß der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse. Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des e­ inen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Die Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § B: Was ist Recht? [AA VI, S.  230]), wodurch »›[e]ine jede Handlung recht [ist], die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen

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Anmerkungen

kann‹«, das ›Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist [aber] eine Forderung, die die Ethik an mich thut« (ebd., § C: Allgemeines Princip des Rechts [AA VI, S.  231]). 60  Handle so, daß deine äußere Freiheit mit der äußern Freiheit aller andern Menschen bestehen kann. ]  vgl. Kant: Die Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, § C: Allgemeines Princip des Rechts: »Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach ­einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne« (AA VI, S.  231). 61  Feuerbach, Kritik des Naturrechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft des natürlichen Rechts. 1796. ]  vgl. Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach (1775–1833): Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte. Altona 1796 [ND Darmstadt 1963]. 62  Henrici Ideen zur wissenschaftlichen Begründung der Rechtslehre. 2. Thle. 1810. ]  vgl. Georg Heinrich Henrici (1770–1851): Ideen zu einer wissenschaftlichen Begründung der Rechtslehre oder über den Begriff und die letzten Gründe des Rechts. 2 Bde. Hannover, Pyrmont 1809/10 (ND Dillenburg 1998). 63  Welker. Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe. Gießen 1813. ]  vgl. Karl Theodor Welcker (1790–1869): Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe. Philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker rechtshistorisch entwickelt. Gießen 1813 [ND Aalen 1964]. 64  Fries philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung. Jena 1803. ]  vgl. Jakob Friedrich Fries (1773–1843): Philosophische Rechtslehre und Kritik aller positiven Gesetzgebung mit Beleuchtung der gewöhnlichen Fehler in der Bearbeitung des Naturrechts. Jena 1803. 65  Maaß: Grundriß des Naturrechts 1808. ]  vgl. Johann Gebhard Ehren­reich Maaß (1766–1823): Grundriß des Naturrechts. Zum Gebrauche bei Vorlesungen. Berlin 1808. 66  Gros Lehrbuch des philosophischen Rechts. ed. 3. 1815. ]  vgl. Karl Heinrich von Gros (1765–1840): Lehrbuch der philosophischen Rechts-

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wissenschaft, oder des Naturrechts. 3., ganz umgearbeitete Ausgabe Tübingen 1815 (EA Tübingen 1802). 67  Schulze Leitfaden der Entwickelung der philosophischen Prinzipien des bürgerlichen und peinlichen Rechts. ]  vgl. Gottlob Ernst Schulze (1761–1833): Leitfaden der Entwickelung der philosophischen Prinzipien des bürgerlichen und peinlichen Rechts. Göttingen 1813. 68  Bauer Lehrbuch des Naturrechts. 1816. ]  vgl. Anton Bauer (1772– 1843): Lehrbuch des Naturrechts. Zweite verbesserte Ausgabe. Marburg 1816 (EA Marburg 1808). 69  Marezoll Lehrbuch des Naturrechts. 1818. ]  vgl. Gustav Ludwig Theodor Marezoll (1794–1873): Lehrbuch des Naturrechts. Gießen 1819. 70  Hugo Lehrbuch des Naturrecht’s als einer Philosophie des posi­ tiven Rechts. 1809. ]  vgl. Gustav Hugo (1764–1844): Lehrbuch des Naturrechts, als einer Philosophie des positiven Rechts, besonders des Privatrechts. 3., ganz von neuem ausgearbeiteter Versuch. Berlin 1809 (EA Berlin 1798). 71  Krug. Philosophische Rechtslehre (3ter Theil seines Systems der praktischen Philosophie). ]  vgl. Wilhelm Traugott Krug (1770–1842): Dikäologie oder philosophische Rechtslehre. Königsberg 1817, 2., verbesserte und vermehrte Auflage Königsberg 1829 (System der praktischen Philosophie. 3 Bde. Königsberg 1817–1819, 21829–1838, Bd.  1). 72  Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts Berlin. 1820. ]  vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Berlin 1821 (laut Titelblatt, erschienen 1820). 73  v. Droste genannt Hülshof. Lehrbuch des Naturrechts. ed.  2. Bonn 1832. ]  vgl. Clemens August von Droste-Hülshoff (1793–1832): Lehrbuch des Naturrechts oder der Rechtsphilosophie. Bonn 21832 (EA Bonn 1823). 74  Troxler: philosophische Rechtslehre des Naturrechts u. des Gesetzes. ] vgl. Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866): Philosophische Rechtslehre der Natur und des Gesetzes mit Rücksicht auf die Irrlehren der Liberalität und Legitimität. Zürich 1820 (ND Würzburg 2006). 75  Ancillon Staatswissenschaft. 1820. ]  vgl. Johann Peter Friedrich Ancillon (1767–1837): Über die Staatswissenschaft. Berlin 1820.

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Anmerkungen

76  Zachariä. K. S. Vierzig Bücher vom Staat. 5. Bde. 1820. ]  vgl. Karl Salomo Zachariä von Lingenthal (1769–1843): Vierzig Bücher vom Staate. 5 Bde. Stuttgart, ab Bd.  3 Heidelberg 1820–1832. 77  Pölitz: Die Staatswissenschaft im Lichte unserer Zeit. 2  Bde. 1823. ]  vgl. Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838): Die Staatswissen­ schaften im Lichte unsrer Zeit. 5 Bde. Leipzig 1823/24. 78  Jordan. Versuch über allgemeines Staatsrecht. 1828. ] vgl. Sylvester Jordan (1792–1861): Versuche über allgemeines Staatsrecht. In systematischer Ordnung und mit Bezugnahme auf Politik vorgetragen. Marburg 1828. 79  du Vattel, Les Droits des gens. Leiden 1758. Basel. 1777. ]  vgl. Emer de Vattel (1714–1767): Le Droit des Gens, ou Principes de la Loi Naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains. Leiden 1758, zahlreiche weitere Auflagen. 80  die ursprüngliche nothwendige Selbstbestimmung des Seyn’s selber, kraft dieses seine eigene Wahrheit und damit seine volle Realität gewinnen will. ]  in Anbindung an Hegels Rechtsphilosophie (§§  15  ff.) zwischen der Freiheit (des Menschen) als unbestimmter Willkür und der Freiheit eines bestimmten, substanziellen Willens, der sich bei Hegel auf sich selbst bezieht, bei Hillebrand in der Natur des Menschen fundiert ist. 81 Der wahrhaft freie Wille ist eigentlich nur die Offenbarung der Freiheit selbst, oder er ist die Freiheit in ihrer bestimmten Ausübung. ]  diese enge Bindung und gegenseitige Erläuterung von Recht, Wille und Freiheit wird auch von Hegel hergestellt: »Der Boden des Rechts ist überhaupt das geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur ist« (Hegel RPh § 4). 82  Die Persönlichkeit. ]  erneut mit Bezug auf Hegel, der in seiner Rechtsphilosophie diesen Begriff wie folgt bestimmt: »Die Allgemeinheit dieses für sich freien Willens ist die formelle, die selbstbewußte, sonst inhaltslose einfache Beziehung auf sich in seiner Einzelheit, – das Subjekt ist insofern Person. In der Persönlichkeit liegt, daß ich als Die-

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ser vollkommen nach allen Seiten (in innerlicher Willkür, Trieb und Begierde, sowie nach unmittelbarem äußerlichen Dasein) bestimmte und endliche, doch schlechthin reine Beziehung auf mich bin und in der Endlichkeit mich so als das Unendliche, Allgemeine und Freie weiß« (Hegel RPh § 35). 83  Die Socialität ist demnach nicht zu verwechseln mit der rein natürlichen Geselligen Verbindung der Menschen […] sondern wirklich das Produkt der wirklichen Freiheit. ]  Hillebrand unterscheidet hier der Tradition seit Aristoteles gemäß zwischen natürlichen (also unvollkommenen) Gemeinschaften, wie der Familie und Dorfgemeinden, und staatlichen Vergemeinschaftungen, die allein dem allgemeinen freien Willen des Individuums entstammen können und daher als vollkommene Gemeinschaften gelten; vgl. hierzu u. a. Aristoteles: ­Politik. Übers. und mit einer Einleit. sowie Anmerk. hg. von Eckart Schütrumpf. Hamburg 2012, S.  5 oder Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. Übers. von Friedrich Schreyvogl. Nachwort von Ulrich Matz. Stuttgart 2004, S.  9. 84 Das Recht ist diesemnach im Allgemeinen dasjenige […] aus dem Gesichtspunkte der gemeinschaftlichen zukommen kann und muß. ]  erneut Bezug auf Hegels Begriff der Persönlichkeit als eines allererst durch die Rechtsgemeinschaft konstituierten Status, vgl. hierzu Hegel RPh § 36: »Die Persönlichkeit enthält überhaupt die Rechtsfähigkeit und macht den Begriff und die selbst abstrakte Grundlage des abstrakten und daher formellen Rechtes aus. Das Rechtsgebot ist daher: sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.« 85  daß die Bestimmbarkeit und Garantie des Recht’s einzig und allein, von objektiver Auctorität also vom Staate abhängt oder die Rechts­ idee ist ohne die Staatsidee nicht gedenkbar ]  diese strenge Bindung von Geltung und Verbindlichkeit des Rechts an die Autorität des Staates steht in der Tradition des Thomas Hobbes, der als Erster alles Recht aus der Auctoritas des Staates ableitete (auctoritas non veritas facit legem) und sich über Rousseau bis auf Kant erstreckt (vgl. Georg Geismann: Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau. In: Der Staat 21 [1982], S.  161–189); diese Tradition richtet sich ausdrücklich gegen die von Grotius über Pufendorf bis auf die Naturrechtslehre des 19. Jhds.

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Anmerkungen

vertretene Annahme, dass es auch im vorstaatlichen Naturzustand Recht, nämlich natürliche Rechte gebe. 86  Hieraus folgt, daß es kein absolut subjectives Recht geben könne, dann aber auch daß das moralische an und für sich genommen oder unmittelbar nie ein Gegenstand der Rechtsgesetzgebung werden dürfe. ]  Hillebrand zieht hier die Schlussfolgerung aus der oben entwickelten These der notwendigen Bindung des Rechts an staatliche Auto­ rität, so dass es außerhalb des status civilis keinerlei Rechts­anspruche des Individuum geben kann, wie dies u. a. im Hinblick auf Eigentumsund Selbsterhaltungsrechte die klassische Naturrechtslehre vertrat; darü­ber hinaus betont er die allererst von Kant hinreichend begründete Trennung von Ethik und Recht. 87  Die eigentliche ursprüngliche Begründung des Staates liegt in der nothwendigen Selbstvollziehung des menschlichen Begriffs oder der Staat ist ein so wesentliches inneres Bedürfniß der menschlichen Natur ]  anders als Kant, der den Staat aus dem Datum der äußern Freiheit des Menschen ableitet, deduziert Hillebrand die Notwendigkeit des Staates aus der vernünftigen und freien Natur des Menschen, womit er aristotelischen Überzeugungen näher ist als den kantischen. 88  daß somit ein sogenannter Staatsgrundvertrag, insofern derselbe eben die Bedingung der Möglichkeit des Staates seyn soll, der Vernunft widerstreitet ]  zentrale, auch bei Hegel (Rph §§ 257  ff.) zu findende Kritik am sogenannten Kontraktualismus, gemäß dem bei Hobbes, Pufendorf, Rousseau oder Kant die Vereinigung der freien Menschen zu ­einem Staat nach der Idee eines Vertrages erfolgte, der allerdings bei den meisten Vertretern als Reflexionsfigur und nicht als empirisches Ereignis gedacht wurde, vgl. hierzu u. a. Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt 1994. 89  Metamorphosen der Idee des Staates ]  mit dieser Formel sucht Hillebrand eine naturwüchsig notwendige Entwicklung der Staatsformen auf den Begriff zu bringen, um sie von einer historisch-empirischen Rekonstruktion zu unterscheiden; grundlegendes Argument für die Konstitution einer Geschichtsphilosophie. 90  drey sogenannte Staatsgewalten […] die sogenannte vollziehende oder executive Gewalt ]  die Theorie einer Gewaltenteilung im Staat

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basiert auf der seit der Antike bekannten Lehre, dass politische Herrschaft nicht zentralisiert – sei es in einer Institution oder einer Person – werden dürfe, da ansonsten das Gemeinwesen zwangsläufig ›entarte‹ (Tyrannis, Despotie, Anarchie etc.; vgl. auch Diogenes Laertios: Vitae philosophorum VII, 131: Die Stoiker sagen, »daß die beste Verfassung eine Mischverfassung aus Demokratie, Königtum und Aristokratie ist«); doch dürfen die Gewalten auch nicht strikt voneinander getrennt werden, da eine Kontrolle der einen durch die andere in diesem Falle nicht mehr gewährleistet ist; vgl. hierzu v. a. Locke: Two Treatises of Gouvernment, Second Treatise: »Die legislative Gewalt ist die Gewalt, die ein Recht hat zu bestimmen, wie die Macht des Staates zur Erhaltung der Gemeinschaft und ihrer Glieder gebraucht werden soll« (§ 143); und »[d]a aber die Gesetze, die auf einmal und in kurzer Zeit geschaffen werden, eine immerwährende und dauernde Kraft haben und beständig vollstreckt oder befolgt werden sollen, ist es notwendig, daß eine ständige Gewalt vorhanden sei, die auf die Vollziehung der erlassenen und in Kraft bleibenden Gesetze achten soll« (§ 144); ­Locke unterscheidet weiterhin die »föderative Gewalt« als eine das Gemeinwesen nach außen vertretende (vgl. §§ 147  f.) und die »Prärogative« als eine in Notstandssituationen ohne oder gegen rechtliche Handhabe nach innen agierende Gewalt (vgl. §§ 159–168), doch subsumiert er diese beiden unter die Exekutive; zur Trennung von Legislative und Exekutive vgl. ebd., §§ 149–158 (vgl. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Übers. von Hans Jörn Hoffmann, hg. und eingel. von Walter Euchner. Frankfurt  /  M. 1977, S.  291–307). – Montesquieu hingegen unterscheidet drei Gewalten: »Es gibt in jedem Staat drei Arten von Vollmacht: die legislative Befugnis, die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen, und die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Zivilrecht abhängen. Auf Grund der ersteren schafft der Herrscher oder Magistrat Gesetze auf Zeit oder für die Dauer, ändert geltende Gesetze oder schafft sie ab. Auf Grund der zweiten stiftet er Frieden oder Krieg, sendet oder empfängt Botschaften, stellt die Sicherheit her, sorgt gegen Einfälle vor. Auf Grund der dritten bestraft er Verbrechen oder sitzt zu Gericht über die Streitfälle der Einzelpersonen. Diese letztere soll richterliche Befugnis heißen, und die andere schlechtweg exekutive

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Anmerkungen

Befugnis des Staates« (De l’Esprit des Loix XI, 6; Vom Geist der Gesetze. Ausw., Übers. und Einl. von Kurt Weigand. Stuttgart 2011, S.  216). 91  [Einen inneren organischen Zusammenhang der 3 Gewalten finden wir bloß im englischen Staat.] ]  insbesondere Montesquieu basiert seine Überlegungen zu den Gewalten und der Gewaltenteilung auf der praktischen Umsetzung in England, dies v. a., weil England bzw. Großbritannien nicht über eine kodifizierte Verfassung verfügt, sondern über verschiedene Rechtsquellen wie das ›Common Law‹ oder die ›Bill of Rights‹, die den Umständen entsprechend aktualisiert und angeglichen werden, doch war die Gewaltenteilung bereits im 17. Jhd. ein unbestrittenes Grundprinzip der englischen Verfassung; zum ›organischen Zusammenhang der 3 Gewalten‹ vgl. Hegel: Über die englische Reformbill. In: ders.: Werke in 20 Bänden. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, Bd.  2, S.  83–128. 92  Der Belgische Staat hat nur eine äußere Garantie (die der Conferenz) seiner Existenz.] ]  1830 erhoben sich Wallonien und Flandern gegen das Vereinigte Königreich der Niederlande, dem sie auf dem Wiener Kongress 1815 zugeschlagen worden waren; im Gefolge der französischen Juli-Revolution kam es im August zu Unruhen, die im September nach dem Einmarsch von Regierungstruppen in einer Revolution und am 4. Oktober in der Unabhängigkeitserklärung Belgiens mündeten; am 10. November bestätigte der verfassungsgebende Natio­ nalkongress die Unabhängigkeit, am 22. November beschloss er die Errichtung einer parlamentarischen Monarchie – doch erst im Juli 1831 wurde Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeld (1790–1865) als Leo­pold I. König von Belgien inthronisiert; da die Gefahr einer Annexion Belgiens durch die Niederlande oder Frankreich und damit eines neuen Krieges in Europa wuchs (Großbritannien und Preußen fürchteten ­einen Machtzuwachs Frankreichs, Russland sympathisierte mit den Niederlanden), erkannten die europäischen Großmächte auf der Londoner Konferenz im Dezember 1830 / Januar 1831 die Souveränität Belgiens an; der niederländische König Wilhelm I. (1772–1843) jedoch verweigerte die Anerkennung und ließ im August 1831 niederländische Truppen in Belgien einmarschieren, die nur durch die Präsenz französischer Truppen aufgehalten werden konnten; während Belgien noch 1831 die

Anmerkungen

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Londoner Verträge unterzeichnete, dauerten die diplomatischen Verhandlungen mit dem Königreich der Niederlande an, erst 1839 erlangte Belgien die volle staatliche Unabhängigkeit. 93  Aus dem Begriffe und der Bedeutung des Staats, ergibt sich daß jeder Mensch von Natur, also von seiner eigenen Persönlichkeit genöthiget werde, im Staate zu leben. ]  wie schon für Hobbes (De Cive I.13) und Kant (Metaphysik der Sitten, AA VI, S.  221  ff.) gibt es auch für Hillebrand eine unhintergehbare Notwendigkeit für den Menschen, im Staate zu leben. 94  daß jeder wahre also vernünftig mögliche Staat eine Verfassung haben müsse ]  deutliche politische Positionsbestimmung des Liberaldemokraten Hillebrand zur Verfassung, die allerdings auch 1848 nicht durchgesetzt wurde; vgl. hierzu Philipp Erbentraut: Theorie und Soziologie politischer Parteiungen im Vormärz 1815–1848. Tübingen 2016. 95  Die Nothwendigkeit der Trennung der Staatsgewalt muß vernünftig anerkannt werden […] theils weil in einer solchen Theilung allein die Garantie der öffentlichen oder politischen Freiheit gelegen ist. ]  die von Montesquieu inaugurierte und von Kant (Metaphysik der Sitten, AA  VI, S.  313  ff.) systematisierte Gewaltenteilung des Rechtsstaates wird auch von Hillebrand hier nicht allein postuliert, sondern in ihrer Notwendigkeit begründet. 96  Wo diese sich geltend macht entsteht die Despotie ]  die Aufhebung der relativen Gewaltenteilung verunmöglichte die gegenseitige Kontrolle der drei Gewalten und führte zu uneingeschränkter Machtfülle einer alle drei Gewalten in sich vereinigenden, damit unkontrollierten und daher despotischen Herrschaft. 97  bey absoluter Trennung der Gewalten die Anarchie nothwendige Folge seyn würde ]  die Gewaltenteilung ist auch für Hillebrand keine Aufspaltung der einheitlichen Souveränität des Staates, bei der es durch eine Pluralität von Herrschaftsinstanzen zu einem Bürgerkrieg und somit zu einem neuen Naturzustand als Zustand der allgemeinen Rechtlosigkeit (Anarchie) käme. 98  Wesentliches Attribut der Staatsobrigkeit ist die Souveränität d. h. völlig unabhängige Selbstständigkeit. ]  seit Jean Bodin (Les six livres de la République. Paris 1576) wird der Begriff der ›Souveränität‹ durch das

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Anmerkungen

Moment der obersten Gewalt im Staate definiert, die über sich keine höhere Gewalt zu berücksichtigen hat, sowie die Durchführung dieser Herrschaft durch Gesetze. 99  [Es kommt zuletzt darauf an, ob die deutschen Bundesstaaten ihre Majestät behalten, oder ob nicht der Landestag Gesetze vorschreibt, wodurch freilich die Majestät verloren geht.] ]  1815 schlossen sich 39 »souveraine[] Fürsten und freie[] Städte Deutschlands, […] von den Vortheilen überzeugt, welche aus ihrer festen und dauerhaften Verbindung für die Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands, und die Ruhe und das Gleichgewicht Europas hervorgehen würden, […] zu ­einem beständigen Bunde« zusammen (Präambel der Deutschen Bundesakte), dessen Organ der Bundestag war; jeder der Mitgliedsstaaten behielt seine Souveränität, musste sich jedoch Bundesbeschlüssen unterwerfen; Artikel 13 der Bundesakte besagte, dass in »allen Bundesstaaten […] eine Landständische Verfassung stattfinden« werde, wobei allerdings ungeklärt blieb, was konkret unter einer solchen Verfassung zu verstehen sei – was den Einzelstaaten die Möglichkeit offerierte, trotz der Bestimmungen der Wiener Schlussakte von 1820 (Verpflichtung zur Verfassung, Art. 54) eine Repräsentativverfassung hinauszuzögern, oder gar den Regenten ermöglichte, eine bereits bestehende Verfassung entgegen Art. 56 der Schlussakte eigenmächtig aufzuheben (wie bspw. König Ernst August I. von Hannover [1771–1851], der bei seinem Regierungsantritt die 1833 erlassene Verfassung aufhob, was u. a. zum Protest der ›Göttinger Sieben‹ und deren Entlassung als Professoren der Göttinger Universität führte – aber zu keinem Eingreifen des Bundes). 100  [Der Regent muß eine Civilliste haben, die aber nicht die Staatskräfte übersteigen darf ]  unter ›Civilliste‹ ist der jährliche Betrag zu verstehen, der einem Monarchen und seinen Angehörigen für die Aufwendungen des herrschaftlichen Haushalts und zur Deckung ­eines standesgemäßen Lebenswandels aus der Staatskasse gewährt wird. 101  [Der Herzog von Nassau hat kein Recht auf seine Domänen, obgleich er sie mit Familienvermögen erworben hat.] ]  auf politischen Druck Napoleon Bonapartes (1769–1821) war im August 1806 aus den Fürstentümern Nassau-Usingen und Nassau-Weilburg das Herzogtum

Anmerkungen

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Nassau entstanden, hinsichtlich dessen Finanzierung eine Zentral­ finanz­behörde eingerichtet wurde, in deren Kasse alle Einnahmen aus dem Kammergut bzw. Domänen, also den herzoglichen Hausgütern, sowie Steuern und Abgaben flossen und aus der alle staatlichen Ausgaben inklusive des Unterhaltes des Regentenhauses bestritten wurden; als im September 1814 die von Herzog Friedrich August (1738–1816) oktroyierte Verfassung in Kraft trat, schrieb diese eine fiskalische Trennung zwischen der Generaldomänenkasse und der Landessteuerkasse fest, wodurch die Domänen zum Eigentum des herzoglichen Hauses erklärt wurden, deren Einnahmen nicht zur Finanzierung von Staatsausgaben herangezogen werden durften und auch nicht der Kontrolle des Parlaments unterworfen waren; da jedoch die Verfassung dem Parlament die Aufrechterhaltung des im Februar 1809 erlassenen Steuergesetzes übertrug, dessen erster Paragraph die Finanzierung der Staatsausgaben aus den Domänen festschrieb und nach § 5 nur im Falle einer fehlenden Deckung direkte Steuern vorsah, kam es in der Folge immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Eigentumsverhältnisse der Domänen, 1821 erklärte die Regierung die Eigentumsfrage für nichtig, da der Herzog (nunmehr Wilhelm Georg August Heinrich Belgicus [1792–1839]) die Eigentumsrechte niemals als der Anerkennung durch das Parlament bedürfend angesehen habe; 1831 suchte das Parlament erneut eine Lösung im sogenannten ›Nassauischen Domänenstreit‹, indem sie dem Herzog eine ›Civilliste‹ antrug, was dieser jedoch ablehnte und auf sein Eigentum und die Fortzahlung einer Entschädigungsrente in Höhe von jährlich 140.000 Gulden, die seit der Aufhebung der Leibeigenschaft an das Herrscherhaus entrichtet wurde, beharrte, was wiederum das Parlament ablehnte, woraufhin dieses auf unbestimmte Zeit vertagt wurde; erst 1836 konnte der Streit beigelegt werden, indem Domänenschulden in Höhe von 2,4 Mio. Gulden durch die Landessteuerkasse übernommen wurden, der Herzog im Gegenzug auf die Entschädigungsrente verzichtete, wobei sich jedoch Regent wie Parlament die Rechte auf das Eigentum der Domänen vorbehielten; vgl. zeitgenössisch Der D ­ omainen-Streit im Herzogthume Nassau, aus seinen Quellen erläutert und nach Rechtsgrundsätzen gewürdigt. Frankfurt a. M. 1831.

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Anmerkungen

102  Da die Hoheitsrechte namentlich aber der vollziehenden Gewalt oder der Regierung im engeren Sinne des Worts leicht durch subjective Rücksichten mißbraucht werden können, so fordert die Vernunft bestimmte objective Garantien. ]  Hillebrand betont die Notwendigkeit der Kontrolle der Exekutive, die vor allem durch eine allgemeine Rechtsstaatlichkeit, an die auch diese ausübende Gewalt gebunden sei, sowie durch eine unabhängige Justiz zu gewährleisten sei. 103  Die allgemeine Herrschaft des Gesetzes oder dieses, daß der Regent und die ganze Regierung unter dem Gesetze steht. ]  Hillebrand bezieht hier eindeutig Position gegen das römisch-rechtliche Prinzip des Princeps legibus solutus, das schon im Mittelalter vor allem durch Thomas von Aquin (Summa Theologiae I-II, q. 96, art. 5. 3: »[P]rinceps dicitur esse solutus a lege, quantum ad vim coactivam legis: nullius enim proprie cogitur a seipso: lex autem non habet vim coactivam nisi ex principis potestate. Sic igitur princeps dicitur esse solutus a lege, quia nullus ipsum potest judicium condemnationis ferre, si contra legem agat«) systematisiert wurde und noch in der Frühen Neuzeit – so bei Bodin und Hobbes – neue Begründungen erhielt; vgl. hierzu Dieter Wyduckel: Princeps legibus Solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre. Berlin 1979. 104  [In jedem Staate muß eigentlich ein oberster Gerichtshof stattfinden, wo sich das Ministerium zu verantworten hat.] ]  erneutes Plädoyer für eine unabhängige, in einem Supreme Court oder Verfassungsgericht synthetisierte juridische Gewalt. 105  [Wie in England.] ]  in London wurden 1829 durch den ›Metropolitan Police Act‹ das bis dahin eher in privater oder militärischer Hand liegende Polizeiwesen direkt dem Innenministerium unterstellt und mit der ›Metropolitan Police‹ die erste offizielle Polizeibehörde geschaffen; vgl. David Taylor: The new police in nineteenth-century England. Crime, conflict and control. Manchester 1997. 106  [Die unmittelbare Theilnahme des Volkes an der Staatsgewalt hebt den Staat auf und führt zur Anarchie.] ]  Hillebrand wendet sich hier gegen die schon während der Französischen Revolution aufgetretenen und in spezifischen Varianten des Frühsozialismus (so u. a. bei Charles Fourier und seiner Schule) diskutierten Formen direkter De-

Anmerkungen

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mokratie, die aus seiner Sicht in die Herrschaftslosigkeit der Anarchie münden müssen; vgl. hierzu u. a. René Roca: Einleitung. Frühsozialismus und direkte Demokratie. In: ders. (Hg.): Frühsozialismus und moderne Schweiz. Basel 2018, S.  9–40. 107  [Der Pöbel, der Nichts zur Erreichung der Staatszwecke beiträgt, hat kein Recht zur Repräsentation.] ]  vgl. dazu Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 240  f.: »Gleichermaßen hat sie [die bürgerliche Gesellschaft] die Pflicht und das Recht über die, welche durch Verschwendung die Sicherheit ihrer und ihrer Familie Subsistenz vernichten, [sie] in Vormundschaft zu nehmen und an ihrer Stelle den Zweck der Gesellschaft und den ihrigen auszuführen. Aber ebenso als die Willkür können zufällige, physische und in den äußeren Verhältnissen (§ 200) liegende Umstände Individuen zur Armut herunterbringen, einem Zustande, der ihnen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft läßt und der – indem sie ihnen zugleich die natürlichen Erwerbsmittel (§ 217) entzogen und das weitere Band der Familie als eines Stammes aufhebt (§ 181) – dagegen sie aller Vorteile der Gesellschaft, Erwerbsfähigkeit von Geschicklichkeiten und Bildung überhaupt, auch der Rechtspflege, Gesundheitssorge, selbst oft des Trostes der Religion usf. mehr oder weniger verlustig macht. Die allgemeine Macht übernimmt die Stelle der Familie bei den Armen, ebensosehr in Rücksicht ihres unmittelbaren Mangels als der Gesinnung der Arbeitsscheu, Bösartigkeit und der weiteren Laster, die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen«, zum »Pöbel« vgl. auch ebd., § 244: »Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert, – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen –, bringt die Erzeugung des Pöbels hervor« (Hegel RPh S.  227 und S.  229). 108  Adressen ]  im politischen Sinne wird insbesondere im 19.  Jhd. mit Adresse eine von parlamentarischen Versammlungen oder Körperschaften an die Staatsregierung, Behörden oder andere öffentliche Organe gerichtete Zuschrift bezeichnet, die Bitten, Beschwerden, poli­ tische Vorstellungen etc. beinhaltet.

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Anmerkungen

109  Das Recht der vollen Publizität und öffentlichen Meinung also der Preßfreiheit. ]  obwohl die Bundesakte von 1815 (vgl. Anm.  99) die Pressefreiheit garantiert hatte, wurde mit den Karlsbader Beschlüssen 1819 durch das ›Preßgesetz‹ die öffentliche Meinungsfreiheit verboten und eine Vorzensur für alle Druckerzeugnisse unter 20 Bogen (=  320 Seiten) verpflichtend eingeführt. 110  Der Staat ist wesentlich organisches Ganzes. ]  Bezug auf Hegels Bestimmung des Staates als Organismus in der Rechtsphilosophie, § 271; vgl. hierzu Michael Wolff: Hegels staatstheoretischer Organizismus. Zum Begriff und zur Methode der Hegelschen »Staatswissenschaft«. In: Hegel-Studien 19 (1985), S.  147–177. 111  Diesemnach sind die Stände im Volke eine politische Vernunftforderung. ]  vgl. Hegels Rechtsphilosophie, § 201: »Die unendlich mannigfachen Mittel und deren ebenso unendlich sich verschränkende Bewegung in der gegenseitigen Hervorbringung und Austauschung sammelt durch die ihrem Inhalte inwohnende Allgemeinheit und unterscheidet sich in allgemeinen Massen, so daß der ganze Zusammenhang sich zu besonderen Systemen der Bedürfnisse, ihrer Mittel und Arbeiten, der Arten und Weisen der Befriedigung und der theoretischen und praktischen Bildung, – Systemen, denen die Individuen zugeteilt sind, – zu einem Unterschiede der Stände, ausbildet«; Hegel unterscheidet zwischen dem »substantielle[n] oder unmittelbare[n]« Stand, dem – im weitesten Sinne – Bauernstand, dem »reflektierenden oder formelle[n]« Stand, den Gewerbetreibenden (Handwerk, Fabrikation, Handel) und dem »allgemeine[n] Stand«, der »die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte« hat (vgl. ebd., §§ 202–205 [S.  200–203]). 112  [Wahren Adel haben nur diejenigen, die das Volk zur Repräsentation seines inneren Interesses wählt; aller anderer Adel ist leeres Vorurtheil.] ]  schon der Sophist Lykophron (fl. 1. Hälfte des 4. Jhds. v. Chr.) war der Ansicht, dass Geburtsadel im Gemeinwesen keinerlei Belang habe, da zwischen adelig und nicht-adelig Geborenen keinerlei Unterschied bestehe (vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von Hermann Diels. Hg. von Walther Kranz. 3 Bde. Hildesheim 61951/52, 83 A 4).

Anmerkungen

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113  Dieses Recht der politischen Theilnahme steht jedem Stande gleichmäßig zu oder im Allgemeinen hat kein Stand ein besonderes parlamentarisches Vorrecht. ]  Plädoyer gegen alle Formen von Verhältniswahlrecht, das aber zur Realität der 1830er Jahre gehörte. 114  Ausgeschlossen von den parlamentarischen Rechten ist daher so wie kein Stand […] sichere Mitwirkung zur Vollziehung irgend eines ständischen Interesses darstellt. ]  Hillebrand verbindet mit dieser Ausnahmebestimmung vmtl. unterprivilegierte Tagelöhner, wie sie auch Hegel (RPh § 245 A) zum »Pöbel« zählt, nicht etwa die zu den Armen gerechneten neapolitanischen Lazzaroni. 115  peremtorisch ]  juristisch svw. den Klageanspruch ausschließend, sicher geltend. 116  wo jenes der Fall ist, ist im Allgemeinen die monarchische Form, wo aber der andere Fall eintritt, ist die polykratische Form ]  Hillebrand unterscheidet hier zwischen Staatsformen mit einem oder mehreren Machtzentren, wobei die Polykratie nicht ausschließlich negativ konnotiert ist. 117  [Wie bey Louis XIV. der sagte: l’etat c’est moi.] ]  ob Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715) dieses ihm zugeschriebene Schlagwort des Absolutismus (›der Staat bin ich‹) wirklich geäußert hat, ist umstritten; sicher ist hingegen, dass Ludwig auf dem Sterbebett gesagt haben soll: »Je m’en vais, mais l’Etat demeurera toujours« (›Ich gehe fort, doch der Staat bleibt zurück‹), was die Ansicht einer Trennung von Staat und Staatsoberhaupt verdeutlicht. 118  [Das aristocratische Moment kann nur die Wahl nicht aber die Geburt noch sonst etwas historisches bestimmen.] ]  vgl. Anm.  90. 119  [Wie ehemals z. B. im hebräischen Staate. Auch jetzt noch gewissermaßen bey den Türken.] ]  nach biblischer Überlieferung (1. Sam 8–31) einte Saul Ende des 11. Jhds. v. Chr. die zwölf Stämme Israels im Krieg gegen die Philister und wurde vom Volk – zum Volk Israel vgl. 2. Mose – zum König ausgerufen; das von Saul begründete Königreich Israel zerfiel nach dem Tod Salomos (um 926 v. Chr.) in das Nordreich Israel (bis 722 v. Chr.) und das Südreich Juda, mit dessen Eroberung durch Nebukadnezar II. (um 640–562 v. Chr.) 587 v. Chr. die Eigenstaatlichkeit Israels zerbrach; aus dem Aufstand der Makkabäer im Jahre

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Anmerkungen

167 v. Chr. ging das Herrschergeschlecht der Hasmonäer in Judäa hervor, das bis zur Eroberung Jerusalems durch die Römer 63 v. Chr. einen selbständigen jüdischen Staat in Palästina begründete. – Unter Süleyman I. (1520–1566) entwickelte sich im Osmanischen Reich seit dem 16. Jhd. als Zweig des sunnitischen Islam die hanafitische Rechtsschule zur Staatsreligion, auf deren Grundlage die osmanischen Sultane ihre religiöse Legitimität als Herrscher der islamischen Welt stützten; seit Ende des 18. Jhds. wurde diese Legitimität nicht nur auf der Grundlage islamischer Lehren mehr und mehr in Frage gestellt, sondern u. a. auch im Osmanisch-Saudischen Krieg (1811–1818). 120 wirkliche Constitutionen oder vertragsmäßige Garantieen ]  nachdrückliches Plädoyer für einen Verfassungsstaat, der nach Hillebrand einzig der Idee des Staat entspricht. 121  [Die englische Constitution ist Muster nach den Prinzipien, wie eine Constitution eingerichtet werden soll.] ]  schon Locke orientierte sich im Second Treatise of Gouvernment an der praktischen Umsetzung der nicht kodifizierten Verfassung Englands, v. a. aber Montesquieu basierte seine Überlegungen auf dieser Annahme, vgl. De l’Esprit des Loix XI, 6. 122  Wie z. B. die Bourbonen gewollt und die meisten Fürsten noch wollen. ]  König Ludwig XVIII. von Frankreich (1755–1824) erließ bei seinem Regierungsantritt 1814 entgegen dem Prinzip der Volkssouveränität die ›Charte constitutionnelle‹ als verfassungsrechtliche Basis des restaurierten Königreichs Frankreich, die dem König weitreichende Kompetenzen (Einberufung, Vertagung, Auflösung des Parlaments, Gesetzesinitiative) zusprach; nach der Juli-Revolution 1830 wurde die ›Charte constitutionnelle‹ durch den ›Bürgerkönig‹ Louis-Philippe I. (1773–1850) aufgehoben und durch eine neue, mit dem Parlament ausgehandelte Verfassung ersetzt, die sich aber nur in wenigen Punkten (etwa dem Recht des Parlaments auf Gesetzesinitiative) von ihrer Vorgängerin unterschied. 123  daß weder rein-absolute Monarchie, oder rein subjective Autokratie noch absolute Demokratie oder Ochlokratie vernunftmäßig anerkannt werden können ]  die seit Aristoteles (vgl. Politik 1288 b 10  ff.) bekannte Debatte über die verschiedenen Regierungsformen, inner-

Anmerkungen

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halb derer Hillebrand wie schon Aristoteles die Superiorität von Misch­ formen begründet. 124  Anmerkung. Die sogenannte Despotie und Tyranney sind keine besonderen Formen des Staates […] wider alles Gesetz mit der Richtung auf Unterdrückung des Gesetzes und damit des Recht’s. ]  vgl. hierzu schon Aristoteles: Politik 1295a  ff. 125  das Urrecht [auch Menschheitsrechte genannt] ]  nach Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) sind ›Urrechte‹ diejenigen Rechte, die »im bloßen Begriff der Person, als einer solchen« liegen, und deren Lehre auf der »blosse[n] Analyse des Begriffs der Persönlichkeit« basiert, »inwiefern das ihm enthaltene durch das freie Handeln anderer verletzt werden könnte, aber zu Folge des Rechtsgesetzes nicht soll« (Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Jena, Leipzig 1796, § 8 [Sämmtliche Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1845/46 (ND Berlin 1971), Bd.  3, S.  94]); das ›Urrecht‹ ist »das absolute Recht der Person, in der Sinnenwelt nur Ursache zu sein. (Schlechthin nie Bewirktes.)« (ebd., § 10, S.  113), woraus folgt, dass »[z] u einer Handlung, die die Freiheit und Persönlichkeit eines anderen unmöglich macht, […] keiner das Recht [hat]; zu allen übrigen freien Handlungen hat es ein jeder« (ebd., § 8, S.  93  f.), womit diese Rechte dem Menschen nur in der Gemeinschaft zukommen; im Zusammenhang mit der ›Deduktion des Urrechts‹ (vgl. ebd., §§ 9–12) verwendet Fichte den Begriff ›Menschenrecht(e)‹ nicht, doch greift er ihn am Schluss der Grundlagen im Kontext des ›Weltbürgerrechts‹ auf: Jeder, der in einen Staat kommt, dessen Staatsbürger er nicht ist, hat »das ursprüngliche Menschenrecht, das allen Rechtsverträgen vorausgeht, und allein sie möglich macht […]. Dies allein ist das eigentliche Menschenrecht, das dem Menschen, als Menschen, zukommt: die Möglichkeit, sich Rechte zu erwerben« (ebd., § 22, S.  384). 126  Der unrechtmäßige Besitz ist zweifacher Art, nemlich der red­ liche (bonae fidei) und der unredliche (malae fidei). ]  lat. ›bona fides‹ ›guter Glaube‹, ein ›possessor bonae fidei‹ meint juristisch einen gutgläubigen Besitzer, jemand, der im rechtmäßigen Besitz zu sein glaubt, im Gegensatz zu einem ›possessor malae fidei‹, einen Besitzer ›schlechten Glaubens‹, der um die Unrechtmäßigkeit des Besitzes weiß.

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Anmerkungen

127  Aus dem naturrechtlichen Standpunkte muß durchaus das Privateigenthum also überhaupt das besondere Eigenthum, als allein wahrhaft begründet angesehen werden ]  seit Hugo Grotius wird in der Neuzeit das Privateigentum als fundamentales Natur-, also überpositives Recht legitimiert, vgl. u. a. Reinhard Brandt: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974. 128 muß das Privateigenthum auch aus rein politischen Gedanken vertheidigt werden ]  deutliches Plädoyer für das Grundrecht auf Privateigentum gegen die seit der Französischen Revolution und in Frühsozialistischen Theorien – so bei Gracchus Babeuf oder Philipp Bounar­roti – vertretene Notwendigkeit seiner Abschaffung zugunsten von Gemeineigentum. 129  Dereliction ]  im juristischen Sprachgebrauch svw. die Aufgabe des Besitzes an einer beweglichen Sache in der erkennbaren Absicht, das Eigentum erlöschen zu lassen, wodurch die Sache herrenlos wird und jedermann sie sich aneignen kann. 130  Umwandlung ] als Rechtsbegriff meint Umwandlung die gesellschaftsrechtliche Umstrukturierung bzw. -organisation von Gesellschaften, etwa Handels- und Kapitalgesellschaften, mithin juristischen Personen. 131  Alienation]  lat. alienatio ›Entfremdung‹, hier im juristischen Sinne die rechtliche Übertragung von Eigentumsrechten an veräußerlichen Sachen und Rechten auf eine andere Partei (Entäußerung). 132  nemlich die sogenannte Occupation, die Präscription oder Verjährung und endlich die Erbfolge, successio in bona alterius ]  unter Okkupation versteht man juristisch den Eigentumserwerb einer herrenlosen Sache durch Gesetz oder auch Hoheitsakt, unter Präskription oder Verjährung den durch Ablauf einer bestimmten Frist bewirkten Verlust der Möglichkeit, einen bestehenden materiellrechtlichen Anspruch durchzusetzen; lat. successio in bona alterius, die nach den unterschiedlichen Verwandtschaftsverhältnissen erfolgende geregelte Rechtsnachfolge eines Erblassers, wenn dieser vor seinem Tod keinerlei Verfügung über das Erbe hinterlassen hat, seine letztwillige Verfügung erfolgreich angefochten wurde oder der von ihm verfügte Erbe die Erbschaft ausgeschlagen hat.

Anmerkungen

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133  Accession ]  unter Akzession oder Zuwachs versteht man im Sachenrecht die Verbindung bisher rechtlich selbständiger und verschiedenen Eigentümern gehörender Sachen, die durch technische Verbindungen mit anderen selbständigen Sachen ihre Selbständigkeit dauerhaft verlieren, etwa bei der Errichtung eines Gebäudes auf einem Grundstück. 134  Die vernünftig naturrechtliche Gränze der Occupation liegt also immer in der Möglichkeit des Bestehens der übrigen socialen Persönlichkeit. ]  nachdrückliche Begrenzung der individuellen Eigentums­ aneig­nung durch den Wert der sozialen Stabilität, d. h. die Vermittlung von Eigennutz und Gemeinnutz. 135  Der naturrechtliche Grund der Occupation ist die ursprüngliche allgemeine Rechtsgleichheit der Menschen. ]  nach Hillebrand gibt es also ein überpositives Recht der Eigentumsaneignung, das allerdings dem Grundsatz der Gleichheit für alle untergeordnet ist. 136 der sogenannte Leihevertrag (commutatio) ] lat. commutatio ›Wechsel‹; bei einem Leihvertrag wird einer anderen Person eine Sache unentgeltlich zum Gebrauch auf Zeit überlassen. 137  Schenkung (donatio) ]  lat. donatio ›Schenkung‹; unter ›Schenkung‹ versteht man juristisch die Zuwendung, durch die eine Person eine andere aus ihrem Vermögen bereichert, wobei sich beide Parteien einig darüber sind, dass die Zuwendung unentgeltlich geschieht. 138  Tausch (mutuatio) ]  lat. mutuatio ›Abwechslung‹; unter einem Tausch wird juristisch die gegenseitige Übertragung von Sachen (oder auch Dienstleistungen) verstanden. 139  Kauf (emtio)] lat. emtio ›Kauf‹; im juristischen Kontext bedeutet Kauf den Erwerb einer Sache oder eines Rechtes durch Leistung eines Kaufpreises in Geld. 140  Dienstvertrag]  bei einem Dienstvertrag verpflichtet sich eine Vertragspartei zur Leistung von bestimmten Diensten und die andere zur Zahlung einer vereinbarten Vergütung. 141  den eigentlichen Lohnvertrag (locatio operarum) ]  lat. svw. ›Verpachtung von Tätigkeit‹, ein Vertrag, durch den sich eine Person gegen einen bestimmten Lohn in Geld zu einer Dienstleistung oder zur Herstellung einer Sache verpflichtet.

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Anmerkungen

142 den Bevollmächtigungsvertrag (mandatum) ] lat. mandatus ›Auftrag‹, ein Vertrag, durch den sich eine Person verpflichtet, ein ihr aufgetragenes Geschäft im Namen einer anderen Person zu besorgen. 143  den sogenannten Hinterlegungsvertrag (depositum) ]  lat. depo­ situs ›anvertrautes Gut‹, bei einem Hinterlegungsvertrag verpflichtet sich ein Aufbewahrer zur Übernahme und sicheren Aufbewahrung ­einer ihm vom Hinterleger anvertrauten beweglichen Sache. 144  Der Gesellschaftsvertrag. ] hier der Vertrag, in dem bei der Gründung einer Gesellschaft die Gesellschafter deren Rechtsgrundlagen, meist durch Satzung, festlegen. 145  Rechtssubjectivität ]  die seit Hobbes und auch bei Rousseau, Kant und Hegel entworfene Vorstellung des Staates als eigenständiger juridischer Persönlichkeit; vgl. Hegel RPh §§ 259  ff. 146  Ebendaher kann auch der Staat nie aus dem Begriffe einer Gesellschaft aufgefaßt und beurtheilt werden. ]  die durch Kant skizzierte, bei Hegel systematisierte und seither doktrinale Trennung von Staat und Gesellschaft, vgl. hierzu u. a. Diethelm Klippel: Kant im Kontext. Der naturrechtliche Diskurs um 1800. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, S.  77–97. 147  als moralische bestimmte Person ]  vgl. hierzu u. a. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten: »Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind« (AA VI, S.  223). 148  wie Einige lehren, z. B. Kant ]  vgl. Kant: Metaphysik der Sitten: »Dieses Recht ist das des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als ­einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person. – Das Mein und Dein nach diesem Recht ist das häusliche, und das Verhältniß in diesem Zustande ist das der Gemeinschaft freier Wesen, die durch den wechselseitigen Einfluß (der Person des einen auf das andere) nach dem Princip der äußeren Freiheit (Causalität) eine Gesellschaft von Gliedern eines Ganzen (in Gemeinschaft stehender Personen) ausmachen, welches das Hauswesen heißt. – Die Erwerbungsart dieses Zustandes und in demselben geschieht weder durch eigenmächtige That (facto), noch durch bloßen Vertrag (pacto), sondern durchs Gesetz (lege), welches, weil es kein Recht in einer Sache, auch nicht ein bloßes Recht gegen eine Person, sondern auch ein Besitz derselben zugleich ist, ein

Anmerkungen

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über alles Sachen- und persönliche hinaus liegendes Recht, nämlich das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person sein muß, welches ein natürliches Erlaubnißgesetz zur Folge hat, durch dessen Gunst uns eine solche Erwerbung möglich ist« (AA VI, S.  276). 149  daß die Ehe an und für sich relativ unauflösbar ist, nicht aber absolut ]  Hillebrand grenzt sich hier einerseits von einer – u. a. von einigen Saint-Simonisten vertretenen (vgl. hierzu Skadi Siiri Krause: Die Saint-Simonistinnen. Eine vergessene politische Bewegung und ein verdrängter feministischer Ansatz. In: Zeitschrift für Politische Theorie 9 [2018], S.  73–87) – Position ab, die Ehe sei lediglich ein Gegenstand individueller Bedürfnisse und Zwecke, weil er ihr einen gewichtigen Platz im Rahmen der »gesellschaftlichen Verhältnisse« zuweist, andererseits von der theologischen Annahme, die Ehe sei ein durch Gott geschlossenes Band und könne daher vom Menschen nicht gelöst werden. 150  daß beyde genannten Formen rechtlich möglich sind, wenn sie einmal dem Begriff der Ehe nicht widersprechen ]  eine für die Zeit höchst ungewöhnliche Trennung zwischen einem strikten Eherecht und der hier als kulturhistorische Gewohnheit relativierten Differenz zwischen Mono- und Polygamie; vgl. Hegel RPh § 167. 151  ehelichen Rechte ]  vgl. hierzu u. a. Barbara Dölemeyer: Frau und Familie im Privatrecht des 19.  Jahrhunderts. In: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S.  633–657. 152  der Gütergemeinschaft ]  zu diesen im 19. Jhd. noch höchst unterschiedlich gehandhabten und umstrittenen innerehelichen Vermögensfragen vgl. Susanne Lepsius: Die privatrechtliche Stellung der Frau im 19.  Jahrhundert. In: L’homme. Zeitschrift für feministische Geschichts­wissenschaft 14 (2003), S.  110–123. 153  ein Recht als auch eine Pflicht der Eltern ]  vgl. hierzu auch ­Hegel RPh § 174. 154 Die elterliche Gewalt kommt beyden Ehegatten einheitlich zu. ]  dieses Egalitätsverständnis im Hinblick auf die elterliche Autorität ist erneut für die erste Hälfte des 19. Jhd. ungewöhnlich, vgl. u. a. Yvonne Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts. In: Ute Frevert (Hg.): Bürgerinnen

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Anmerkungen

und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19.  Jahrhundert. Göttingen 1988, S.  118–133. 155  so enthält im Allgemeinen das Unrecht die Verneinung der socialen Persönlichkeit in irgendeiner Beziehung ]  vgl. Hegel RPh §§ 168  ff. 156  Die eigentliche Substanz des Verbrechens ]  gemeint ist das Wesen bzw. der Begriff des Verbrechens, das/den Hillebrand als willentliche Verletzung der rechtlichen Normen der staatlichen Gemeinschaft bestimmt; vgl. auch Hegel RPh §§ 97  ff. 157  Daß ein Verbrechen eben wesentlich verschieden ist von einer moralischen Sünde ]  an Kant mehr denn an Hegel angelehnte strikte Trennung von Recht und Moral auch im Zusammenhang des Verbrechens, das als Rechtsbruch, nicht als Sünde zu bestimmen ist. 158  Der Zweck der Strafe ]  hinsichtlich des Strafzwecks wird unterschieden zwischen absoluter Straftheorie, die dem Schuldausgleich und der Wiederherstellung der Gerechtigkeit dienen, v. a. die das Unrecht durch die Strafe aufwiegende Vergeltung, und relativer Straftheorie, die präventiv der Verhinderung von Straftaten dient, so die Generalprävention und die Spezialprävention (vgl. Anm.  161); vgl. dazu u. a. Tatjana Hörnle: Straftheorien. Tübingen 22017. 159  Die Strafe muß neben ihrem eigentlichen socialen Zwecke auch möglichst das humane Moment berücksichtigen oder in der Strafe soll stets noch der Mensch als solcher geachtet werden. ]  Hillebrand steht hier in der seit Cesare Beccaria sich entwickelnden, wenngleich nicht unumstrittenen Straftheorie, die auch und gerade die Grenzen der Strafpraxis zu berücksichtigen betont; vgl. hierzu u. a. Dieter Hüning: Philosophie der Strafe. Aspekte der Grundlegung des Strafrechts in der neuzeitlichen Naturrechtslehre. Berlin 2022 [i. D.]. 160  Die Frage, ob die Todesstrafe vernunftrechtlich begründet seyn könne oder nicht […] so kann eine solche unendliche Strafe nur in der Hinrichtung gelegen seyn. ]  zu den intensiven Debatten zur Frage der Todesstrafe im frühen 19. Jhd. vgl. Richard Evans: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte. Darmstadt 2020, S.  298  ff. 161  [Theorie Feuerbachs.] ]  nach der präventiv orientierten relativen Straftheorie Anselm von Feuerbachs (vgl. v. a. Lehrbuch des gemei-

Anmerkungen

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nen, in Deutschland geltenden peinlichen Rechts. Gießen 1801) wird der Schutz der Allgemeinheit vor Verbrechen dadurch erreicht, dass angedrohte Sanktionen potentielle Täter von der Begehung einer Straftat abschrecken sollen (negative Generalprävention); vgl. dazu u. a. Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. Göttingen 1947, 3., völlig durchgearb. und veränd. Aufl. 1965, S.  217  ff.; vgl. auch Tatjana Hörnle: Straftheorien. ­Tübingen 22017. 162  [Theorie Grolmanns.] ]  Karl Ludwig Wilhelm Grolman (1775– 1829), seit 1798 Professor der Jurisprudenz in Gießen, arbeitete die von Christoph Karl Stübel (1764–1828) begründete Spezialpräventions­ theorie aus, die auf die Person des Verbrechers abstellt und empirisch-­ kriminologisch auf dessen tatsächliche Gefährlichkeit zielt, um diesen durch Strafe davon abzubringen, nochmals eine Tat zu begehen, und so die Allgemeinheit vor dem Täter zu schützen; vgl. v. a. Über die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung. Nebst einer Entwickelung der Lehre, von dem Maasstabe der Strafen und der juristischen Imputation. Gießen 1799. 163  [Der Hauptzweck der Strafe muß Aufhebung des Unrechtes seyn, sie muß aber so gewählt seyn, dadurch noch der Nebenzweck der Besserung erreicht wird.] ]  vgl. Hegel RPh §§ 100  ff. 164  Selbsterhaltung der socialen Persönlichkeit ]  vgl. hierzu auch Hegel RPh § 101. 165  sogenannter ordentlicher Gerichtsbarkeit ]  der Begriff ›ordentliche Gerichtsbarkeit‹ geht auf das 17. Jhd. zurück, als nur Straf- und Zivilgerichte mit unabhängigen Richtern besetzt waren, die Verwaltungsgerichtsbarkeit hingegen als Teil der Verwaltungsbehörden mit Beamten und somit abhängigen Richtern. 166  Völlige Unabhängigkeit der Gerichte sowohl von der ausübenden Staatsgewalt, als auch von irgend einer untergeordneten socialen Macht. ]  diese Forderung einer unabhängigen Justiz entsprach weder der politischen Praxis noch vielen Theorien im frühen 19. Jhd.; vgl. u. a. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd.  2: 1800–1914. München 1992, S.  116  ff. 167  Möglichste Reinheit des juridischen Moments, also auch Trennung der Justiz von der Administration. ]  Plädoyer für eine strenge

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Anmerkungen

Gewaltenteilung, die auch die Verwaltung als Moment der Exekutive berücksichtigt. 168  stellt sich der Zweck des Wohlseyns der Staatsmitglieder, also auch der Zweck des Wohlstandes, worauf eben das Wohlseyn sich gründet ]  eine an die Hochaufklärung und die demokratischen Bewegungen des frühen 19. Jhds. anschließende Staatszweckbestimmung, die auf Rechtsgarantie und -verwirklichung sowie Wohlstandserhaltung und -mehrung abzielte; vgl. aber auch Adam Müller: Elemente der Staatskunst. Sechsunddreißig Vorlesungen [1809]. Berlin 1936, S.  295  ff. (Fünftes Buch); anders dazu Hegel RPh §§ 270  ff. 169  dem eigentlichen Staats- und National-Vermögen ]  vgl. hierzu u. a. Julius Graf von Soden: Die Nazional-Ökonomie. Ein philosophischer Versuch über die Quellen des National-Reichthums und über die Mittel zu dessen Beförderung. Bd.  3. Wien 1815, S.  106  ff. 170  Ansicht von dem Staatsleben selber voraus. Dieses ist in sich wesentlich ein immanenter Organismus ]  vgl. Hegel RPh § 269 oder auch Müller: Elemente, S.  22  ff. 171  die Vertheilung der Arbeit ]  Theorem der seit Adam Smith kontrovers debattierten Arbeitsteilung, die hier durch staatlichen Dirigismus erfolgen soll, wie etwa auch bei Müller: Elemente, S.  30  ff. 172  Angemessene Sicherung des Lohnes der Arbeit. ]  stärkste Annäherung an frühsozialistische Forderungen nach angemessenem Arbeitslohn, so bei Saint-Simon oder Owen. 173 Möglichste Sicherung der Humanität bey der Arbeit. Diese wird erreicht theils dadurch, daß mit Gesetzen der Mißbrauch verhindert wird, welche der Reiche mit der Arbeit der Armen treiben kann. ]  stärkste politische Forderung nach einer rechtlichen Regulierung und so Beschränkung des Pauperismusproblems in Europa; vgl. hierzu u. a. Jürgen Kocka: Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse. Bonn 2015, S.  86  ff. 174  Hierhin gehören nun alle rein allgemeinen Interessen […] noth­ wendige Mittel zur Erforschung und Bestimmung allgemeiner Staats­ bedürfnisse bietet sich allein in der wahren Volksrepräsentation. ]  deutliches und zu diesem Zeitpunkt verbotenes Plädoyer für eine repräsentative Demokratie; vgl. hierzu Wolfgang Mommsen: 1848. Die

Anmerkungen

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ungeliebte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830–1849. Frankfurt a. M. 1998, S.  33  ff. 175  Die Besteuerung muß vorzugsweise nach dem Prinzipe der allgemeinen Gleichheit, also auch nach dem Prinzipe der möglichst gleichen Vertheilung vorgenommen werden. ]  ein seit Adam Smith in der Theorie (Der Wohlstand der Nationen. München 2009, S.  703  ff.) bekanntes Postulat der relativen Abgabengleichheit, das allerdings in der politischen Praxis in den 1830er Jahren noch keineswegs umgesetzt war. 176  absolute Anarchie ]  die noch bei Kant als »größtes Übel der Menschheit« perhorreszierte (vgl. Naturrecht Feyerabend, AA X ­ XVII, 1320: »Sind die Menschen nicht frey, so wäre ihr Wille nach allgemeinen Gesetzen eingerichtet. Wäre aber jeder frey ohne Gesetz; so könnte nichts schrecklicheres gedacht werden. Denn jeder machte mit dem andern was er wollte, und so wäre keiner frey. Vor dem wildesten Thiere dürfte man sich nicht so fürchten, als vor einem gesetzlosen Menschen«), seit Auguste Blanqui und Filippo Buonarroti aber als poli­tisches Programm vertretene Freiheit von aller Herrschaft; auch für Hillebrand ein Schreckensbild. 177  [Wie das durch die Unfallibilität des Pabstes bewirkt wird.] ]  die erst seit dem 1. Vatikanischen Konzil 1870 dogmatische Unfehlbarkeit des Papstes fußt auf der Auslegung zweier Bibelstellen, nach denen Jesus seiner Kirche zugesagt haben soll, der Heilige Geist werde sie in der Wahrheit lehren und erhalten (Joh 16,13), und in ihr das Bischofs- und Priesteramt für den Dienst der Einheit in der Wahrheit stiftete und den Apostel Petrus als seinen Nachfolger bestimmte (Mt 16,18), wodurch im römisch-katholischen Glauben bestimmte Entscheidungen eines Papstes als Nachfolger des Petrus als unfehlbar galten. 178  Da keines dieser 3 Systeme dem Begriff des Staates und der Kirche zugleich entspricht, so kann nur dieses vierte, welches man als Socialsystem bezeichnen kann vernünftig vertheidiget werden. ]  deutliche Unterordnung der Kirche unter den Staat, nämlich als Teil der Gesell­schaft; vgl. auch Hegel RPh § 270 A. 179  Das Prinzip des Völkerrechts darf zunächst nicht rein juridisch und privatrechtlich aufgestellt werden, weil den Völkern als Staaten das wesentliche Prädicat der Souveränität eigen ist. ]  schon von Kant (Zum

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Anmerkungen

ewigen Frieden, AA VIII, S.  341–386) herausgearbeitete Tatsache, dass sich Staaten untereinander im Natur-, also Kriegszustand befinden, der nur durch politische Klugheit zu moderieren ist. 180  selbstfreier Selbsterhaltung ]  die aus dem Souveränitätsprinzip abgeleitete Freiheit zur Verteidigung in der von der jeweiligen Exekutionsgewalt zu entscheidenden politischen Lage; nur eine souveräne politische Macht kann über den Kriegs- und Friedensfall entscheiden, dann aber auch ohne jede äußere Regulierung; vgl. hierzu auch Hegel RPh §§  321  ff. 181  [Verletzt von Frankreich in Beziehung auf Spanien, dann bey Belgien das eine Republik haben wollte und dem ein König aufgedrungen wurde.] ]  während des Spanischen Unabhängigkeitskrieges (1807– 1814) trat im andalusischen Cádiz 1810 eine allgemeine Volksvertretung zusammen und verkündete 1812 eine zu ihrer Zeit als liberal angesehene Verfassung, die von der Souveränität des Volkes ausging und Spanien zu einer parlamentarischen Monarchie machte; König Ferdinand VII. (1784–1833), der die Jahre des Krieges unter dem Schutz und mit Finanzierung Napoleons I. Bonaparte (1769–1821) in Frankreich zugebracht hatte, erklärte bei seiner Rückkehr nach Spanien 1814 die Verfassung von Cádiz für ungültig und löste das Parlament auf; Anfang 1820 kam es zu Aufständen gegen die absolutistische Herrschaft Fer­ di­nands VII., der sich gezwungen sah, das Parlament wieder einzuberufen und auf die Verfassung von 1812 zu schwören; in den Jahren 1821 und 1822 kam es immer wieder zu Unruhen, die vor allem von absolutistischen Monarchisten geschürt wurden, woraufhin die Heilige Allianz (Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland) im November 1822 Frankreich bei der militärischen Intervention in Spanien unterstützte, um die bürgerliche Revolution niederzuschlagen und den Status quo von 1808 wieder herzustellen; nach dem Einmarsch der Franzosen im April 1823 und verlustreichen Kämpfen fiel im September Cádiz, wo Ferdinand VII. vom dorthin geflohenen Parlament festgehalten wurde; Ende September wieder als König inthronisiert, regierte Ferdinand VII. bis zu seinem Tod 1833 Spanien weiterhin absolutistisch. – Nach der Unabhängigkeitserklärung Belgiens von den Niederlanden (vgl. Anm.  92) votierte der erste belgische Nationalkon-

Anmerkungen

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gress – gewählt aus nur etwa einem Prozent der Bevölkerung – im November auf Antrag seines Vorsitzenden Erasme Louis Surlet de Chokier (1769–1839) gegen die von Louis Joseph Antoine de Potter (1786–1859) geforderte Proklamation einer Republik und rief eine parlamentarische Monarchie aus; gleichwohl galt die im Februar 1831 verabschiedete Verfassung als die progressivste und liberalste ihrer Zeit. 182  Hieraus entspringt das Recht des Kriegs. ]  gegen Kants Zurückweisung eines Rechts zum Kriege (›ius ad bellum‹; Zum ewigen Frieden, AA VIII, S.  356  ff.) Aufnahme der seit der antiken Tradition geltenden Annahme eines Rechts auf Verteidigung mit militärischen Mitteln. 183  Der Kosmopolitismus. ]  zur aufklärerischen Tradition dieses Begriffs vgl. u. a. Andreas Albrecht. Kosmopolitismus. Berlin, New York 2005. 184  die Nothwendigkeit eines sogenannten ewigen Friedens ]  Bezug auf Kants ebenso berühmte wie einflussreiche Schrift Zum ewigen Frieden, AA VIII, S.  341–386. 185  die peremtorische Unsicherheit ]  ›peremtorisch‹ juristisch bzw. rechtsphilosophisch svw. sicher geltend, endgültig.

PE R S ON E N R E G I S T E R

Achenwall, Gottfried  18 Ancillon, Johann Peter ­Friedrich  21 Aristoteles  8, 11, 12, 13 Bauer, Anton  21 Bodin, Jean  15 Chrysippos von Soloi  13 Cicero, Marcus Tullius  14 Droste-Hülshoff, Clemens ­August von  21 Elisabeth I., Königin von England 16 Feuerbach, Paul Johann Anselm Ritter von  21, 81 Filangieri, Gaetano  19 Fries, Jakob Friedrich  21 Grolman, Karl Ludwig ­Wilhelm  82 Gros, Karl Heinrich von  21 Grotius, Hugo  16, 17 Gundling, Nikolaus Hieronymus 18 Henrici, Georg Heinrich  21 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich   21, 40 Hemming(sen), Niels  15 Hobbes, Thomas  16 Hugo, Gustav  21 Jordan, Sylvester  21 Kant, Immanuel  18, 19, 20, 74 Krug, Wilhelm Traugott  21

Locke, John  17 Louis XIV.  49 Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich 21 Marezoll, Gustav Ludwig ­Theodor  21 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu  18, 19 Oldendorp, Johann(es)  15 Plato  XXVII , 8–12 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig  21 Pufendorf, Samuel von  17 Pythagoras von Samos  7 Rousseau, Jean-Jacques  19 Schleiermacher, Friedrich ­Daniel Ernst  11 Schulze, Gottlob Ernst  21 Solon 7 Thomasius, Christian  17, 18, 19, 20 Troxler, Ignaz Paul Vital  21 Vattel, Emer de  21 Verulam, Baco von, Bacon, Francis 16 Welcker, Karl Theodor  21 Winckler, Benedict  15 Wolff, Christian  18 Zachariä von Lingenthal, Karl Salomo 21

S AC H R E G I S T E R

Adel  34, 46, 50 Anarchie  37  f., 44, 100 Arbeit  90, 92–94 Aristocratie, aristocratisch  49 Arme 94 Auctorität  27, 33, 52, 54, 62, 100  f., 104 Auswanderung 56 Autokratie  40, 51 Beamte  19, 34, 46 Begnadigung 42 Begriff  3  f., 6, 9, 11–13., 15  f., 20, 22  f., 25 Besteuerung 95 Behörden 43 Bewußtseyn  6, 9, 24, 31, 50, 78  f., 91, 93, 97, 109 – Rechtsbewußtseyn  85 – Selbstbewußtseyn  6, 24, 50 – Vernunftbewußtseyn  24 Bildung  5, 12–14, 32, 35, 45, 48, 57, 76, 85  f., 94, 94, 96  f., 109 Billigkeit 42 Bürger, Bürgerthum, bürgerlich  12, 21, 34, 39, 41  f., 45  f., 55  f., 63, 67, 72  f., 75, 86, 89, 91, 93, 95, 102  f. Circulation 92 Constitution  50, 96

Corporation 54 Cosmopolitismus (Kosmo­ politismus)  105, 109  f. Demokratie  37, 51 Despotie  38, 51 Diplomatie 43 Ehe  12, 73–75, 77, 103 Ehre  41, 55 Eigenthum  11, 18, 27, 54, 60, 62  f., 65, 67  f., 70, 100, 107 Erziehung  11, 73, 76  f., 98 Existenz, sociale  5  f., 23, 34, 54  f., 62  f., 76, 78  f., 91–93, 95, 106 – geistig-moralische  11 – rechtliche  6, 78, 80  f., 83 – Staatsexistenz  79, 87, 91 Völkerexistenz 108 Fabrikation 93 Familie  11  f., 42, 67, 73  f., 76  f. Feind 44 Finanzwissenschaft  89  f. Finanzverwaltung 94–96 Freiheit  4  f., 7  f., 20, 23–29, 31  f., 34, 36  f., 45, 54  f., 57, 59, 63, 67, 69, 73, 75, 86, 88  f., 92–94, 96  f., 100–102, 104  f., 108

Sachregister

Geist, geistig  8–11, 13, 15, 19, 24, 57, 59, 76, 96–100, 103, 109 Gelehrter  14, 46, 97 Geltung  40, 52  f., 65, 110 Gesellschaft (privatrechtlich)  30, 70–76, 97, 99  f., 103 Gesellschaftsvertrag 17 bürgerliche Gesellschaft  93 Gerechtigkeit  10, 33, 42, 81–84 Gerichtshof 43 Gesetz  5, 12, 21, 23, 33, 40, 42– 45, 51, 54–56, 79  f., 86, 88, 94 – Criminalgesetzgebung  81 – Freiheitsgesetz  20 – Gesetzgeber  7, 100 – Gesetzgebung, positive  4, 11, 19–21 – Grundgesetz  51 – Preßgesetz  45 – Rechtsgesetzgebung  6, 14, 18, 27, 33, 52, 84 – Selbstgesetzgeber  84 – Urgesetz  21 Gewalt(en)  17  f., 33  f. 37  f. 40, 42–44, 50, 52, 56, 72, 76–78, 87, 90, 95, 97, 101, 103, 105 – Bürgergewalt  45 – Cameralgewalt  42 – Culturgewalt  96–98 – Erziehungsgewalt  98 – Finanzgewalt  94 – Militärgewalt  43  f. – Regierungsgewalt  89  f. – Staatsgewalt  33, 35–42,

155

44, 48  f., 51, 55, 84–86, 90, 94  f., 96, 99, 101 – Strafgewalt  102 – Strafrechtsgewalt  79 – Territorialgewalt  103 Gewohnheit  6, 14, 50, 91 Glauben  16, 97–99 – Glaubenslehre  15 Gleichheit  28, 45, 55, 57, 80, 86, 95, 100 – Rechtsgleichheit  28  f., 64 Ungleichheit 100 Gott, Göttliches  9, 97  f., 101 Gütergemeinschaft 75 Herrschaft  43, 51 Huldigung 41 Idee  4, 7, 9–13, 18, 21, 48 – Rechtsidee  27 – Staatsidee  26  f., 30–33 Justiz 85 – Justizverfassung  84  f. Kirche  30, 72  f., 97–103 Klage  45, 55, 86  f. Krieg  17, 43, 106, 108, 110 Legitimität 40 Liebe  73  f. Macht  13, 17, 20, 27, 33, 36, 39, 50, 59, 68, 85, 91, 96, 103, 105, 108

156

Sachregister

– Selbstmacht  34, 36 – Staatsmacht  34 – Vernunftmacht  37 Majestät 40 Mensch  3–9, 11–14, 16–26, 29–32, 34, 54, 57, 59, 62, 64, 68, 72–74, 76, 80, 82, 84, 91  f., 97–100, 104, 107 Meinung, öffentliche  29, 44  f., 85 Metamorphose  32, 38 Militär, Soldatenstand  34, 43  f., 46, 56 Monarchie, monarchisch  10, 13, 17, 49, 51 Moral, moralisch  3–5, 9–12, 17, 19  f., 27  f., 35, 57, 63, 67  f., 71  f., 75–79, 82, 87, 93, 98  f., 104 Nation, national  7, 13, 50, 92 – National-Oekonomie  89–92 – Nationalvermögen  89  f., 94  f. Naturzustand  18, 25, 104 Obligationsrecht  58, 63, 67–73 Obrigkeit  34, 39–44, 51 Occupation  18, 64 Ochlokratie 51 Organismus  7, 10  f., 26, 31  f., 35, 89 – Staatsorganismus  35, 38  f.

Organisation  10, 84  f., 100 Person  18, 29, 54–56, 58, 60, 67, 73, 85, 88, 103 – Persönlichkeit  4, 9  f., 12, 24–37, 39, 41, 49–57, 60, 62, 64, 66  f., 71  f., 76  f., 79  f., 83, 88  f., 91  f., 95, 99  f. 101, 104–107, 109 – Familienpersönlichkeit  77 – Privatperson  86  f., 101, 103 – Rechtspersönlichkeit  66, 72, 101, 105  f. – Staatspersönlichkeit, 49  f., 80, 88 – Völkerpersönlichkeit  104 Politik  3–5, 8, 15, 30, 35, 38, 51, 104, 106 – Administrativpolitik  52 – Culturpolitik  52, 96  f. – Rechtspolitik  52 – Wohlstandspolitik  52, 88  f. – Völkerpolitik  104 Pöbel 44 Polizey 42 Präscription  64  f. Prediger 34 Preßfreiheit 45 Privilegium  46  f. Production  90, 92  f. Promulgation 42 Prozeß  42, 86 – Prozeßordnung  84, 86 Publizität 45

Sachregister

Recht  3–8, 12–21, 25–28, 32–34, 40–47, 51, 54–62, 64–66, 70–76, 83–85, 88, 95, 99–103, 105  f. – Besitzrecht  60, 63 – Criminalrecht  16, 52, 77–81, 86 – Dispositionsrecht  63 – Eigenthumsrecht  63, 65, 67 – Gebrauchsrecht  60, 62 – Gesandschaftsrecht  107 – Gesellschaftsrecht  72 – Hoheitsrecht  40–43 – Kirchenrecht  98 – Menschheitsrechte  54, 67 – Naturrecht  3–7, 12, 16–18, 20  f., 62–67, 69  f., 72–76, 85 – Obligationsrecht  58, 63, 67  f. – Personenrecht  54 – Privatrecht  10, 13  f., 16, 52–54, 71, 85–87, 103–105 – Rechtsbegriff  27 – Rechtsconkurrenz  29 – Rechtserwerb  58, 66 – Rechtsexistenz  78, 80, 81, 83 – Rechtsfähigkeit  72 – Rechtsgelehrte  14 – Rechtsgeschichte  6 – Rechtsgesetze  33 – Rechtsgesetzgebung  6, 14, 18, 52

157

– Rechtsgleichheit  28  f., 64 – Rechtsgrund  61  f. – Rechtsgrundsätze  15 – Rechtsidee  27 – Rechtsmittel  87 – Rechtsobjekt  61, 65 – Rechtsobjektivität  53 – Rechtspflege  52, 84 – Rechtspolitik  52 – Rechtsprivilegium  29, 47 – Rechtssicherheit  57, 85 – Rechtssubjektivität  28, 52, 57, 65, 68, 71  f. – Rechtstheorie  15, 19  f. – Rechtsverbindlichkeit  75 – Rechtsverletzung  78 – Rechtsverneinung  78 – Rechtswille  68 – Rechtszustand  66 – Sachenrecht  54, 58–60, 63, 65 – Selbstvervollkommnungsrecht  56  f. – Unrecht  65, 77–84, 88 – Urrecht  29, 53, 55  f., 67, 101 – Vernunftrecht  3, 29, 57, 65, 75  f., 80, 100, 102, 106, 108 – Völkerrecht  4  f., 14, 16, 43, 104–110 Regierungsform 10 Reiche 94 Religion  50, 98  f., 102

158

Sachregister

Repräsentation  10, 40  f., 43  f., 46, 55, 95, 107 Republik, republikanisch  13, 49, 106 Selbsterhaltung  43, 54, 72  f., 83, 104–106 Selbsthülfe 55 Sicherheit  35, 42  f., 45, 54, 57, 83, 85, 88, 94 Sitte 6 Sittengesetz 35 Sittlichkeit 10 Sklaverey 54 Socialität  16, 25–30, 35, 53, 55, 59, 61, 65, 69, 83, 96, 100, 104 Souveränität  19, 39, 41, 104, 107  f. Staat  3–20, 25, 28, 30–43 – Staatsämter  29 – Staatsangelegenheiten  102 – Staatsbewußtseyn  50 – Staatsbürger  42 – Staatselemente – Staatsform  12, 35, 38  f. – Staatsgewalt  33, 35–42 – Staatsgrundvertrag  17, 31 – Staatshülfe  103 – Staatsidee  26  f., 30, – Staatsinteressen  12, 41 – Staatskraft  40, 42 – Staatsleben  39, 102 – Staatslehre  11 – Staatsmann  16 – Staatsmittel  11

– Staatspersönlichkeit  106 – Staatsoberhaupt  41, 43 – Staatsobrigkeit  39–41, 43 – Staatsordnung – Staatsorganismus  35, 38  f. – Staatsprinzip  37 – Staatsrecht  16  f. 21 – Staatsregierung  30 – Staatensystem  15  f. – Staatssubstanz  40 – Staatstheorie  21 – Staatstotalität  40 – Staatsurvertrag  19 – Staatsverhältnisse  102 – Staatsvertheidigung  106 – Staatsverfassung  19, 30, 35 – Staatsverwaltung  17, 43 – Staatszweck  11, 33  f., 38 Stand, Stände  10, 12, 34, 39, 41, 44–47, 55 Strafe  21, 77, 79–84, 102 Subjectivität  22–24, 27, 53, 57, 59, 62, 65, 68, 71  f., 79, 81, 104 Theologie 4 Toleranz 102 Tugend 9–11 Tyranney 51 Unterthan  17, 34 Unverletzlichkeit 41

Sachregister

Verjährung  64  f. Vernunft, vernünftig  3, 5, 8–11, 14, 16, 19, 23  f., 26–33, 35.38, 40, 43, 45  f., 48  f., 51–54, 57, 59–66, 74–77, 80, 82  f., 86, 91, 93, 100–102, 104–106, 108 Versprechen 68 Vertheidigung  46, 55, 108 Vertrag  17, 19, 31, 50, 63, 66, 68–71, 74, 76 Völkerpolitik 104 Völkerrecht  4  f., 15  f., 43, 104  f., 107–110 Volk, Völker  6, 14–16, 19, 34, 39  f., 43–47, 49, 85, 89  f., 93, 95, 97, 104–110

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Vorurtheil 46 Wiedervergeltung  83  f. Wille  23  f., 33, 59–62, 67–69, 71, 78–80 Willkühr, willkührlich  20, 23, 29, 31, 35, 42, 49–51, 56, 60, 63  f., 69, 74, 80, 82, 87, 99 Wohlfahrt 45 Wohlstand 45 Zwang  18, 20, 27, 42, 81 Zweck  4, 11, 13, 20, 23, 25, 27  f., 30–35, 37  f., 42, 44  f., 55, 59–61, 63, 71–74, 80–84, 86, 88, 93  f., 99  f.