Das literarische Lob: Formen und Funktionen, Typen und Traditionen panegyrischer Texte [1 ed.] 9783428543793, 9783428143795

Mit dem neuen Interesse für die kulturellen Kontexte hat die literaturwissenschaftliche Forschung auch das literarische

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Das literarische Lob: Formen und Funktionen, Typen und Traditionen panegyrischer Texte [1 ed.]
 9783428543793, 9783428143795

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Schriften zur Literaturwissenschaft Band 36

Das literarische Lob Formen und Funktionen, Typen und Traditionen panegyrischer Texte

Herausgegeben von Norbert P. Franz

Duncker & Humblot · Berlin

NORBERT P. FRANZ (Hrsg.)

Das literarische Lob

Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl

Band 36

Das literarische Lob Formen und Funktionen, Typen und Traditionen panegyrischer Texte

Herausgegeben von Norbert P. Franz Unter Mitwirkung von Georg Braungart, Bernd Engler, Volker Kapp

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 978-3-428-14379-5 (Print) ISBN 978-3-428-54379-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84379-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In den Jahren 2011 und 2012 haben sich die Sektionen für deutsche, englisch-amerikanische, romanische und slavische Philologie bei den Generalversammlungen der Görres-Gesellschaft in Trier und Münster in einem gemeinsamen Projekt mit dem literarischen Lob befasst. Der vorliegende Sammelband enthält im Wesentlichen die Verschriftlichungen der für diese beiden Treffen verfassten Beiträge. Diese Zusammenarbeit der Neuphilologien ist eine der rar gewordenen Möglichkeiten, literatur- und kulturwissenschaftliche Fragen in einem interdisziplinären Kontext zu diskutieren. Möglich wurde die weitgespannte, viele Kulturen und Epochen berücksichtigende Synopsis über die Panegyrik dadurch, dass die Leiter der Sektionen, Prof. Dr. Georg Braungart (Germanistik), Prof. Dr. Bernd Engler (Anglistik / Amerikanistik) und em. Prof. Dr. Volker Kapp (Romanistik) aus ihrem jeweiligen Gebiet die Fachleute eingeladen haben. Ihnen gilt – ebenso wie den Verfassern der Beiträge – mein herzlicher Dank. Eine besonderer Dank gilt dem Präsidenten der Görres-Gesellschaft, Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf, der die Finanzierung dieses Projekts ermöglicht hat. Norbert P. Franz

Inhalt Norbert P. Franz: Das literarische Lob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Peter Riemer: Das Herrscherlob in der griechisch-römischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Joachim Leeker: Panegyrik und Antike: Formen einer panegyrischen Instrumentalisierung der Antike in französischen und italienischen Texten aus Mittelalter und Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Gisela Seitschek: Von der Donna angelicata zur gloriosa Beatrice. Stilo della loda oder Lobpreis der Herrin beim frühen Dante und den Stilnovisten . . . . . . . . . . . . . . . 55 Wolfgang G. Müller: Panegyrik in der englischen Renaissance: George Puttenhams epideiktische Poetik und Shakespeares Verwendung des Enkomiums . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Béatrice Jakobs: Muss man verrückt sein, um die Liebe zu loben? Der Débat de Folie et d’Amour von Louise Labé als Amor-Lehre und / oder Lob der Torheit . . . . . 101 Sylvia Schreiber: Lob und Tod in Michelangelos Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Christoph Ehland: Subversive Panegyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Stéphane Macé: Der Eigenname als Mittel der literarischen Erfindung: über die Lobgedichte zur Zeit der Belagerung von La Rochelle (1628) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Cathrin Hesselink: Artige Schmeichelei oder schuldige Höflichkeit? Komplimentieren im 17. und 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

8 Inhalt Volker Kapp: Von der monarchistischen zur republikanischen Rhetorik: die Panegyrik in der Académie Française des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Marc Seiffarth: Anfangsgründe des Erhabenen. Zur protoästhetischen Funktion des Herrscherlobs in Schillers Karlsschulreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Ulrike Jekutsch: Zwischen Patriotismus und Empfindsamkeit. Zur panegyrischen Dichtung am Hof der Fürsten Czartoryski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Franz Römer: Neulateinische Panegyrik für Habsburger Herrscher von Rudolf I. bis Franz Josef . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Tim Lanzendörfer: Lobendes Erziehen der Zeitschriftenbiographik der frühen amerikanischen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Ljuba Kirjuchina: »Singt unserm großen Kaiser Ehre!« Herrscherlob und Herrschaftsverständnis in der Petersburger deutschen Gelegenheitsdichtung des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Rüdiger Kunow: Amerika feiert sich selbst: Die Rhetorik des 4.  Juli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Christoph Garstka: Rhetorisches Herrscherlob und russische Avantgarde: Über die Unterwerfung des Dichters im Leninkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Riccardo Nicolosi: Stalinpanegyrik und sowjetische Folklore. Der Fall Džambul Džabaev . . . . 335 Stefan Keppler-Tasaki: Panegyrik zwischen Tradition und Faschismus. Hans Heinrich Ehrler als Staatsdichter 1912–1951 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Mario Gotterbarm: Modellierte Opfer- und Erlöserfiguren. Zu W. G. Sebalds Huldigungen von Ernst Herbeck und Robert Walser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

Das literarische Lob Von Norbert P. Franz I. Wer »Lob« hört, denkt erst einmal an eine bei einer passenden Gelegenheit geäußerte freundliche Anerkennung. Ein solches Lob ist in der Regel sprachlich nicht besonders anspruchsvoll, etwa derart: »Das hast Du gut gemacht« oder einfach: »Prima«. Lob ist, so gesehen, zunächst einmal die geäußerte Feststellung der Übereinstimmung mit der Erwartung. Die Übereinstimmung darf allerdings nicht nur in der Minimalvariante vorhanden sein – wer lobt, stellt ein besonders hohes Maß an erfüllter Erwartung fest – »prima« verweist auf einen ersten Platz. Zum Lob ermuntern Psychologen und Erziehungswissenschaftler, die es für wirkmächtiger halten als sein Gegenteil, den Tadel. Und so sehen viele den Zweck des Lobes v. a. darin, dem oder der Gelobten mit dem Lob etwas Gutes zu tun und ihn oder sie weiter zu Lobenswertem anzuspornen. Dass Lob viel mehr ist, zeigt sich bei der Analyse der (möglichst literarischen) Lobrede. An diese denkt beim Stichwort »Lob« vermutlich zunächst niemand als erstes. Das literarische Lob ist im modernen Alltag kaum präsent. Selbst die Vorstufe zu dem literarisch ambitionierten Lob, die pragmatische Lobrede, ist in der funktional hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft eine Pflichtübung zu Ausnahmegelegenheiten. Solche sind typischerweise Totenfeiern mit ihren Nachrufen und Preisverleihungen. Für letztere wirken die – per Fernsehen in alle Welt übertragenen – Formate der Vergabe glamouröser Auszeichnungen (mit der Nennung des Preisträgers erst am Ende der Lobrede) beim Oscar, Bambi etc. eher stilbildend als die aus der literarischen Tradition bekannten Muster. Kaum eine Preisvergabe kommt – wenn nur das Verfahren kompetitiv war – heute ohne »And the winner is …« aus. Im akademischen Milieu hält sich die Gattung der »Laudatio« noch bei Berufungsverfahren: Die von der Fakultät eingesetzte Kommission präsentiert dieser (und später dem akademischen Senat und / oder dem Präsidium bzw. dem Ministerium) eine Liste von berufbaren Wissenschaftler / innen und stellt dabei deren jeweilige Vorzüge heraus. Sie formulieren zu können, setzt ein hohes Maß an Vertrautheit mit dem akademischen Wertegefüge

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voraus. Umgekehrt erfüllt die Laudatio für die Fakultät und den Senat auch die Funktion der Selbstvergewisserung ihrer Qualitätskriterien. Die Feststellung, dass das öffentlich ausgesprochene Lob nur relativ selten ist, widerspricht nicht der Alltagserfahrung, dass permanent gelobt wird. Die Werbung preist unermüdlich Waren und Dienstleistungen, aber es sind gerade nicht Verdienste und persönliche Qualitäten, die gelobt werden. Entsprechend appelliert die Werbung an den Habens-Trieb, bzw. an den, zu denen gehören zu wollen, die sich einen bestimmten Luxusgegenstand leisten (können). Fragen des Charakters oder der Amtsführung macht sie nicht zum Thema. Nicht nur die Alltagspraxis des Lobes zieht die Literatur kaum ins Kalkül, auch die modernen Vorstellungen von Literatur versuchen ohne feste Genera, besonders ohne »Gelegenheiten« auszukommen. Wer als Schriftsteller einen Politiker öffentlich loben und seine Popularität für ihn in den Wahlkampf einbringen will, bewegt sich nach modernem Verständnis nicht mehr im literarischen, sondern ausschließlich im politischen Raum. Kulturen, in denen Literaten heutzutage oder in der jüngsten Vergangenheit mit möglichst noch rhetorisch auffälligen Texten Politiker (an)preisen, sind vielen suspekt, scheinen sie doch ein vordemokratisches Politikverständnis zu konservieren, der Begriff der »Huldigung« (homagium) stammt ja schließlich aus dem Lehnswesen. Die Zeiten, in denen die Literaten anscheinend eine besondere Affinität zum Lob hatten und man Loblieder auch auf Städte, Künste und Wissenschaften, ja auf einzelne technische Entwicklungen sang, sind – so der Tenor – Gott sei Dank Vergangenheit. Die moderne Literatur basiert auf dem Erleben und Empfinden. Sie bestimmt ihr Ziel selbst. Es ist dies aber eher die Profilierung eines autonomiezentrierten Selbstbestimmungsprozesses moderner Literaten als die Beschreibung tatsächlicher Arbeitsweisen der Literaten früherer Epochen. II. Zumindest die Wissenschaft hat in den letzten Jahren die soziale und ästhetische Komplexität des literarischen Lobes (wieder-)entdeckt. Da das konkret ausgesprochene Lob viel über die Akteure, ihre wechselseitige Einschätzung und von ihnen bzw. der Gesellschaft geteilte (oder auch nicht geteilte) Wertvorstellungen aussagt, lag es nahe, dass im Zuge des cultural turn der Philologien auch die soziale Determinierung ästhetischer Phänomene nicht mehr als Makel sondern als spannendes Forschungsprojekt in Erscheinung trat. Es liegen diverse Studien aus den Sozial- und Literaturwissenschaften vor, die z. B. das Politikverständnis früherer Jahrhunderte aufgearbeitet und



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dabei die konkreten Funktionen von literarischen Texten in öffentlichen Veranstaltungen analysiert haben.1 Es gibt Fallstudien zu einflussreichen Literaten, deren Konzepte auch die wissenschaftlichen Methoden und Terminologien (zumindest der Germanistik) beeinflusst haben2, und einschlägige Forschungszusammenschlüsse, die regelmäßig Ergebnisse veröffent­ lichen. So entstand z. B. im Kontext des Greifswalder Projekts »Gelegenheitsdichtung im Russland des 18. Jahrhunderts« ein Sammelband zu Herrscherlob und -kritik in der Slavia.3 Die zentrale Intention des vorliegenden Sammelbandes besteht darin, im Kulturen und Epochen übergreifenden Vergleich nicht nur die Vielfalt von Formen und Funktionen des literarischen Lobes sichtbar zu machen, sondern auch Linien aufzuzeigen, die erst in der philologischen Interdisziplinarität von Germanisten, Romanisten, Anglisten / Amerikanisten und Slavisten deutlich werden. Etwa das vielfältig nutzbare seit der Antike tradierte und immer wieder ergänzte Reservoir an Konzepten und Themen, rhetorischen Figuren und Topoi (Peter Riemer, Joachim Leekcr, Marc Seiffarth, Franz Römer). Oder die mögliche monarchieskeptische und demokratieverträgliche Dimension der Panegyrik (Christoph Ehland, Volker Kapp, Rüdiger Kunow) neben der In-Dienst-Stellung für Formen traditioneller Herrschaft (Ljuba Kirjuchina) und moderner Diktaturen (Christoph Garstka, Riccardo Nicolosi). Oder den Einzug des Lobs in unterschiedlichste Gattungen bis hin zum literaturkritschen Essay (Mario Gotterbarm). Oder die Berührungen mit der religiösen Sphäre (Gisela Seltschek, Christoph Garstka). Im Zuge des neuen Interesses an den komplexen Funktionen des literarischen Lobes werden Textkorpora (wieder-)entdeckt und neu bewertet, und mehrere Beiträge des vorliegenden Bandes gewähren – quasi nebenbei – einen Blick in die Werkstatt aktueller Forschungen, die sich auf Frankreich beziehen (Stéphane Macé), Österreich (Franz Römer) und Russland (Ljuba Kirjuchina). Hinter den Texten scheinen sehr unterschiedliche Intentionen auf: Autoren, die sich bei Mächtigen einschmeicheln wollen, andere die sich als selbstbewusste Gesprächspartner der Mächtigen präsentieren, diejenigen, die 1  Vgl. Jan Andres, »Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet«. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert, Frankfurt / New York 2005. 2  Z. B. Stefanie Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof, Tübingen 2002. 3  Herrscherlob und Herrscherkritik in den slawischen Literaturen. Festschrift für Ulrike Jekutsch zum 60. Geburtstag, hg. v. Britta Holtz und Ute Marggraff, Wiesbaden 2013.

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loben, um zu erziehen oder das Wertesystem ihrer Gesellschaft zu stabilisieren oder reformieren suchen. Auch die Objekte des Lobes variieren stark: Es können konkrete lebende und verstorbene Personen sein, aber auch Personengruppen oder z. B. Städte – wobei das Lob von Institutionen wie Städten der modernen Werbung sehr nahe sein kann. Zugrunde liegt ein eher pragmatisch verstandener Begriff von Lob, das nicht an feste Gattungen wie das Encomium oder die Ode gebunden ist. Grundlegend sind die prinzipielle Öffentlichkeit der Äußerung, der (bisweilen nur implizite) Rekurs auf das Wertesystem der jeweiligen Kultur und Epoche und die (zumindest behauptete) Ernsthaftigkeit. Ein ganz als topisch erkanntes Lob ist keines, was erst recht für Ironie gilt. Angeordnet sind die Beiträge nach der Chronologie, um dem Wandel in den ästhetischen Grundvoraussetzungen, aber auch in den Moden und Geschmäckern Rechnung zu tragen. III. Am Anfang steht die Antike: Peter Riemer hebt deren besondere Rolle bei der Herausbildung der Gattungen des Lobens und die Markierung der Gelegenheiten hervor. Er zeigt, dass die griechische Lebenswelt den Ausgangspunkt für die Entwicklung des literarischen Lobes bildete. Noch unter demokratischen Verhältnissen nutzten Redner wie Isokrates die Festversammlung [πανήγυρις / panegyris], etwa um die Stadtstaaten zu ermuntern, sich unter der Führung Athens erneut gegen das Perserreich zu verbünden. Auch die auf eine Einzelperson gerichtete Panegyrik hat ihren Vorläufer in der griechischen Kultur. Er zeigt den Weg der Gattungen in die römische Kultur, wo das persönliche Lob in der Leichenrede einen Platz findet. Antik ist auch die mit dem Herrscherlob verknüpfte Bemühung um Einflussnahme, die Riemer als antike Beispiele von Fürstenspiegeln beschreibt. Für die Formensprache von Bedeutung ist, dass Panegyrik bereits in der römischen Antike zu einer rhetorischen Pflichtübung wurde. Das Weiterleben der Panegyrik in Mittelalter und Renaissance zeichnet Joachim Leeker nach. Er verweist auf die nun unter christlichem Vorzeichen notwendige Unterscheidung von religiösem und profanem Herrscherlob. In diesem Kontext kommt das Lob der Abstammung auf, die in der Romania möglichst bis auf die – oftmals weitgehend erfundene – Antike zurückgeführt werden sollte. Fiktive »Genealogien« wurden z. T. bis in die Zeiten Trojas zurückverfolgt. Eigene Wege ging dagegen das Lob einer Epoche: Von der Evokation des goldenen Zeitalters über antike Heroen als Vorbilder reichte der Bogen bis in das ausgehende 17. Jahrhundert, als man die Zeit Ludwigs XIV. offen über die des Augustus stellte.



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Der Beitrag von Gisela Seitschek führt in das ausgehende 13., frühe 14. Jahrhundert in Italien: Die als Herrin angesprochene Frau war schon von Dante Alighieris Vorgängern als engelgleiches Wesen gepriesen worden. Dante rühmt Beatrice als eine, die ihn veredelt, als Inbegriff und Verkörperung aller Tugenden, als Wunder, als Heilbringerin und Seligmachende, wodurch Beatrice bereits übernatürliche Züge erhält. Mit diesem Lobpreis bereitete Dante eine Spiritualisierung der Liebe vor. Wolfgang G. Müller zeigt die Spannung von poetologischer Regel des Lobes in dem 1589 anonym veröffentlichten The Arte of English Poesie einerseits und William Shakespeares souveränen Umgang mit den Genres des Lobes andererseits. Durch Lob und Kompliment soll sich der englische Höfling als einen poeta orator ausweisen, Dichter und Rhetor in einer Person, der sich an dem durch vielfältige soziale Spannungen gekennzeichneten Hof bewegen kann. Shakespeare dagegen experimentiert mit dem Enco­ mium, und verbindet es mit anderen rhetorischen Formen. In das Frankreich des 16. Jahrhunderts führt der Beitrag von Béatrice Jakobs, die den Débat de Folie et d’Amour von Louise Labé analysiert und dabei v. a. auf den Urteilsspruch eingeht. Sie verweist auf den Einfluss der Laus stulitiae des Erasmus und die Tradition sowohl der mittelalterlichen Gerichtsreden als der Dialoge der Frühen Neuzeit. In diesem Kontext werden Probleme eher gestellt als gelöst. Auch der Beitrag von Sylvia Schreiber befasst sich mit dem 16. Jahrhundert, allerdings dem italienischen. Sie zeigt den Ausnahmekünstler Michel­ angelo, der in einer Zeit der höfischen Kultur, als sich Künstler, Dichter und Musiker oft einem Herrscher oder Fürstenhaus verschrieben, versucht hat, seine künstlerische Souveränität zu erhalten. Entfernt von Schmeichelei und Fürstenlob offenbaren seine Denkmäler ebenso wie seine Gedichte eine besondere Affinität zum Thema des Todes. Das Preisen von Schönheit und Liebe ist häufig verknüpft mit dem Motiv der Vergänglichkeit. Auch wenn er sich gewissen topoi und moduli seiner Zeit nicht entzog, entwickelte er eine eigene Art des poetischen Ausdrucks, die vor allem in den oft zwanghaften Paradoxien und Antithesen bereits auf den concettismo und den manierismo des Seicento weist. Christoph Ehland verweist auf das subversive Potential der Panegyrik in den Lobreden, die seit der frühen Neuzeit anlässlich der Einsetzung des Lord Mayor von London verfasst wurden und werden. Es handelt sich dabei nämlich um eine bis heute lebendige eigenständige Gattung, die zu gestalten für die jeweils berühmten Autoren als eine besondere Herausforderung gilt. Eingespannt sind die Reden in den Rahmen eines sehr prachtvollen auf visuelle Effekte angelegten Festes, in dem der Vortrag einen akustischen Schwerpunkt setzt. Die Gattung hat ihren Sitz im kulturellen Milieu der

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Stadtbürger und akzentuiert ein Wertesystem, das sich schon früh vom Hof und seiner Panegyrik abhob. Am Beispiel der in gewaltiger Zahl erschienenen Lobgedichte zur Zeit der Eroberung von La Rochelle (1628) zeigt Stéphane Macé deren oft hochkomplexe ästhetische Strukturen. So lassen sich intertextuelle Bezüge z. B. zu Gebete aus dem lateinischen Ritus (De profundis, Miserere, Confiteor, Ne reminiscaris …) ausmachen. Als eine Besonderheit hebt Macé die Spiele mit den Namen hervor (Anagramme, Antonomasie und Echo-Gedichte), die einerseits auf antike Vorbilder verweisen, andererseits aber auch in die aristokratische Weltvorstellung eingebunden sind, in der Namen und persönliches Schicksal in enger Verbindung gedacht werden. Einen Aspekt aus der frühen Neuzeit des deutschsprachigen Sprachraums zeigt Cathrin Hesselink, die die seit dem 17. Jahrhundert immer häufiger gestellte Frage nach der Wahrhaftigkeit des Lobens behandelt. Sie führt vor, wie die Vorstellungen von öffentlichen Interaktionen (Regelkonformität) mit denen vom privaten Verhalten (Authentizität) verknüpft werden. Die Analyse von Komplimentierbüchern zeigt die zeitgenössische Bewusstheit für die Spannung, die sich in Kritik am Kompliment äußerte und in einigen Fällen den Nutzen der Interaktionsrituale und der Höflichkeit allgemein in Frage stellte. Die Eindämmung der umständlichen, überexpliziten und aufwendigen Höflichkeitssprache im 18. Jahrhundert ist nicht allein ein Reflex auf die vorhergegangenen barocken Auswüchse, sondern bereits in einer nicht ganz so reflexionsarmen Beschäftigung mit Höflichkeit im Spannungsfeld von Rhetorik und Gesellschaftsethik des 17. Jahrhunderts angelegt. Volker Kapp weist anhand des Essai sur l’art oratoire (1799) von Joseph Droz und ausgewählten Textbeispielen nach, dass die Académie Française schon lange vor der Revolution entscheidend zur Herausbildung einer republikanischen Rhetorik beigetragen hat. Sie hat seit 1758 den prix d’éloquence auf das »Lob berühmter Persönlichkeiten der Nation« ausgerichtet und damit den Monarchen ausgeschlossen. Antoine Léonard Thomas (1732–1785), mehrfacher Preisträger, lieferte 1773 in seinem Essai sur les éloges die theoretischen Grundlagen für diese republikanische Panegyrik. Im 18. Jahrhundert gab es im deutschsprachigen Raum zwar eine starke Abneigung gegen panegyrische Verherrlichung jedweder Art, gleichzeitig erfreute sich die schulrhetorische Ausbildung jedoch einer ungebrochenen Beliebtheit. Vor dem Hintergrund dieser Spannung untersucht Marc Seiffarth die Festreden des jungen Friedrich Schiller an der Stuttgarter Hohen Karlsschule. In Schillers Reden verbindet sich die Tradition des Fürstenlobs mit den Versatzstücken einer moralphilosophischen Erörterung. Diese Verbindung hat ihren Ursprung im klassischen Rednerideal der Rhetorik: wohlgeformte Sprache verweist auf wohlgeformte Gedanken.



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Aspekte der polnischen literarischen und politischen Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts zeigt Ulrike Jekutsch, die Texte des Franciszek Dionizy Kniaźnin (1750–1807), des Hofpoeten der Fürsten Czartoryski, im Kontext der ersten Teilung Polens im Jahre 1773 analysiert. Sie zeigt die Anfang der 1780er Jahre entstandene Entfremdung der Fürsten vom König, die auf ihren Besitzungen in Puławy ein Gegenmodell zu dem klassizistischeuropäisch ausgerichteten Kulturmodell des Königshofes entwickelten, bis sie sich in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre wieder dem König annäherten. Kniaźnins Werkausgabe 1787–88 fällt genau in diese Zeit, und sie zeigt den Selbstentwurf der Familie als musterhafte Patrioten, in unterschiedlicher Ausgestaltung für die einzelnen Familienmitglieder. Die neulateinische Panegyrik für Habsburger Kaiser von Rudolf I. bis Franz Josef stellt Franz Römer vor. Da die lateinische Sprache in keinem der vielen Herrschaftsbereiche des Hauses Habsburg Muttersprache, gleichzeitig jedoch ein hochgeschätztes Kommunikationsmittel war, lag es nahe, auch die herrschaftsaffine Panegyrik in dieser Sprache zu verfassen. Römer skizziert einen Zeitraum von etwa 1500 bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In die noch jungen USA mit ihren republikanischen Traditionen führt der Beitrag von Tim Lanzendörfer, der an Nachrufen die geistlichen Erziehungsabsichten der Puritaner rekonstruiert und von diesen zur frühnationalen Biographik führt. An dieser Entwicklung zeigt er den Widerstreit zwischen einem Erziehen hin zum republikanischen, tugendhaften Bürger und dem individuellen Erziehen, welches persönliche Charakteristika in den Vordergrund zu heben gedachte. In Russland, das bis ins 20. Jahrhundert hinein von einem absoluten Monarchen regiert wurde, hielten sich die hergebrachten Formen des Herrscherlobes lange. Ljuba Kirjuchina zeigt die besondere Funktion der in deutscher Sprache verfassten Panegyrik für den russischen Zaren, die als Huldigungen einer Minderheit die bestehende Herrschaftsordnung und den damit verbundenen Wertekanon durch ihr Lob bestätigt. Die Texte wurden (ebenso wie die russischsprachigen) während offizieller Feierlichkeiten in Prachtexemplaren lediglich überreicht – das Zeremo­ niell sah im 19. Jahrhundert keine Rezitation vor, es waren Ergebenheitsadressen, die die Zaren ihrer guten Deutschkenntnisse wegen auch problemlos verstanden. Die Herausbildung einer eigenen Lobesrhetorik zum Nationalfeiertag der Vereinigen Staaten von Amerika und deren Beitrag zur Herausbildung einer nationalen Identität untersucht der Beitrag von Rüdiger Kunow. Er beschreibt Daniel Websters’ Adams and Jefferson (1826) und die Gegenrede des ehemaligen Sklaven Frederick Douglass’ What, to the Slave, is the

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Fourth of July? (1852) als unterschiedliche Strategien zur symbolischen Stabilisierung der Gesellschaft. Beide beschwören ein imaginäres Gemeinschaftsgefühl und können als historisch frühe Manifestation einer in der Entwicklung begriffenen demokratischen Öffentlichkeit gelten. Drei der vier Beiträge, die Themen des 20. Jahrhunderts gewidmet sind, sind mit den beiden großen Diktaturen Europas verbunden. Christoph Garstka zeichnet den sich ab 1924 etablierenden Leninkult in der Literatur nach, wobei die zuvor erreichte Emanzipation der Kunst von politischen Vorgaben und das Autonomiestreben der dichterischen Persönlichkeit die Hintergrundfolie bildet. Vladimir Majakovskijs Poem Vladimir Il’ič Lenin (1925) und Sergej Esenins Gedicht Kapitan zemli (1925) erscheinen so als freiwillige Unterwerfung unter das Diktat des Politischen. Bezeichnenderweise endeten beide Autoren im Selbstmord. Riccardo Nicolosi untersucht als Beispiele für den literarischen Stalinkult das Phänomen des kasachischen Volkssängers (akyn) Džambul Džabaev (1846?–1945). Dieser gilt als Vertreter der konstruierten und ideologisch gesteuerten »Folklore« der Stalinzeit. Seine Texte sind nur ein Teil der multi- und intermedialen Inszenierung des Stalinkultes, in der vor allem vi­ suelle Medien wie Malerei, Plakat- und Filmkunst eine zentrale Rolle spielen. Die ideologischen Irrwege Hans Heinrich Ehrlers, die den Autor im Jahr 1938 einen Panegyrikos auf Adolf Hitler schreiben ließen, untersucht Stefan Keppler-Tasaki. Er arbeitet die politischen Schwenks vom linksliberalen Lager zu eher nationalistischen Positionen und ab 1920 zu einem kulturpessimistischen Katholizismus heraus, interpretiert Ehrlers Uhland-Hymnus und weitere Lobestexte, zu denen die Schmäh- und Agitationslyrik aus dem Ersten Weltkrieg gleichsam die Kehrseite bildet. In dem Glauben, man könne Hitler durch einen Fürstenspiegel an ein traditionelles Herrscherbild binden, lobte er diesen im Gedicht und stellte dessen Programmatik auf eine Ebene mit der Kirchenführung. Schon der Kriegsausbruch 1939 entfremdete den Autor wieder vom Regime. Mario Gotterbarm untersucht literaturkritische Essays des Germanisten W.G. Sebald, der die von ihm behandelten Autoren entweder harsch zu verurteilen tendiert oder, als komplementäre Gegenbewegung, ihnen zu huldigen. Dazu müssen sie einen bestimmten ›unschuldigen‹ Lebenslauf aufweisen, müssen bescheidene, melancholische Außenseiter sein, am Rande der Gesellschaft sowie am Rande – oder bereits über die Grenze – zum Wahnsinn, leidend an ihrem Schicksal und der Menschheit im Allgemeinen. Diese Huldigungen sind Zuschreibungen, die den jeweils Gehuldigten nicht selten in einem vereinfachenden, seine spezifische Individualität, Biographie oder Literatur nicht angemessenen Licht präsentieren – sie sind ein Aspekt



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des Problems der Angemessenheit, wie sie im Kompliment diskutiert wurde. Hier ist es nicht mehr die Frage nach der Authentizität des Lobenden, sondern die nach dem Zutreffen des Musters. *** Der vorliegende Band kann und will kein umfassendes Bild des literarischen Lobes zeichnen, vielmehr anregen und einladen, einzelne Aspekte weiterzuverfolgen.

Das Herrscherlob in der griechisch-römischen Antike Von Peter Riemer I. Die Panegyrik1 stammt begrifflich wie sachlich aus der griechischen ­Lebenswelt, ursprünglich ein Sammelbegriff für Reden bei Festversammlungen. Denn Festversammlung heißt auf Altgriechisch πανήγυρις. Auch heute gibt es die identische Bezeichnung noch im modernen Griechenland für kleinere Volksfeste. Die großen Veranstaltungen werden dagegen wie fast überall auf der Welt, so auch in Griechenland, meist Festival genannt. Gemäß der systematischen Unterteilung der antiken Rhetorik2 kam an solchen Panegyreis eine ganz bestimmte Redegattung zum Einsatz: die epideiktische Rede. Sie unterschied sich von den beiden anderen Redegattungen in der Weise, dass ihre Aufgabe nicht in Angriff oder Verteidigung bestand und dass sie keine Appelle enthielt, was jeweils der Gerichtsrede und der politischen Rede (dem genus iudiciale [dikanikon] und dem genus deliberativum [symbouleutikon]) vorbehalten war. Insofern konnte in der Epideixis (in der lateinischen Terminologie als genus demonstrativum bezeichnet) ein ungeschmälertes, durchaus blumiges Lob ausgesprochen werden, weshalb Festreden vielfach den Charakter einer großen öffentlichen laudatio annahmen; sie wurden denn auch später, in der Kaiserzeit, von den Griechen als Enkomion bezeichnet.3 1  Zu Begriff und Geschichte der Panegyrik in der griechisch-römischen Antike s. die Artikel im Neuen Pauly (DNP) von S. Fornaro (griechisch) und J. Dingel (römisch) und A. Berger (byzantinisch), DNP 9 (2000) Sp. 240–245. 2  Zur Systematik der antiken Rhetorik sei auf folgende Titel hingewiesen: W. Eisenhut, Einführung in die antike Rhetorik und ihr Geschichte, Darmstadt 51994; M. Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, Mannheim 2011; H. Hommel, »Rhetorik«, Lexikon der antiken Welt (LAW), Sp. 2611–2626; H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 31990. R. Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer in systematischer Übersicht, Leipzig 21885 (Nachdruck Hildesheim 1963). 3  J. Dingel, »Panegyrik, II. römisch«, DNP 9 (2000) Sp. 242.

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Das Enkomion wiederum, begrifflich vom Komos (dem ›Festzug‹) her abgeleitet, gehört seinerseits in eine Tradition von dichterischen Darbietungen bei bestimmten festlichen Anlässen, bei Geburtstagen, Hochzeits- oder Siegesfeiern. Da nun Dichtung, zumal lyrisch oder konkreter noch chorlyrisch, nicht ohne Musik zu denken war, müssen wir uns im Athen der klassischen Zeit, d. h. im 5. Jh. v. Chr., eine strikte formale Trennung zwischen epideiktischer Rede und enkomiastischem Gesangsvortrag vorstellen. War es nun bei den Griechen üblich, hin und wieder einen Lobgesang auf herausragende Persönlichkeiten oder auch Götter und ihre besonderen Leistungen anzustimmen, so fand sich dergleichen in der Römischen Kultur lange nicht. Dort gab es aber die Tradition der Grabrede.4 Ob eine Totengedenkfeier5 oder ein sportliches Großereignis wie die Wettkämpfe von Olympia den Rahmen bildeten: Die alten Griechen hörten gern zu, wenn jemand in der Öffentlichkeit eine Rede hielt; solche Reden waren meist geschliffen, seltene Exempel erlesener Rhetorik. Als prominentestes Zeugnis gilt die olympische Rede des Isokrates aus dem Jahr 380 v. Chr.,6 obwohl diese nur in der Fiktion als Festrede zu denken war. Sie ist nie in Olympia gehalten worden, sondern wurde anderweitig verbreitet. Zehn Jahre soll der Redner an der Ausarbeitung dieses Glanzstücks gesessen haben. Was Isokrates in seinem Panegyrikos – so nannte er die Rede – zum Ausdruck bringt, ist kein reines Loblied auf die Stadt Athen, das Ganze zielt vielmehr auf den Appell, die Griechen mögen sich unter der erneuten Führung Athens und Spartas zum Kampf gegen die Perser verbünden. Der Charakter von Isokrates’ Panegyrikos war somit nicht rein enkomiastisch. Es handelte sich eher um eine Vermischung von Lobrede und politischer Agitation. Diese Vermischung wirkte in der späteren Panegyrik nach. Isokrates war offenbar auch der erste, der ein solches Lob auf eine einzelne Person geschrieben hat. Und zwar wandte er sich nach dem Tod des Königs Euagoras (†  374 / 73), eines athenfreundlichen zyprischen Regenten, an dessen Sohn Nikokles und stellte den Vater als exzellentes Vorbild hin.7 Er habe nach Isokrates die großen Tugenden der Tapferkeit, der Weisheit 4  W. Kierdorf, Laudatio funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der römischen Leichenrede, Meisenheim am Glan 1980. 5  Die von Thukydides (2,35–46) nachgebildete Rede des Perikles auf die Gefallenen am Ende des ersten Kriegsjahres im Peloponnesischen Krieg, 430 v. Chr., kann als ältestes erhaltenes Beispiel angesehen werden. Vgl. J. Stoffel, Die Regeln ­Me­nanders für die Leichenrede, Meisenheim am Glan 1974, S. 7. 6  E. Buchner, Der Panegyrikos des Isokrates. Eine historisch-philologische Untersuchung, Wiesbaden 1958. 7  Ev. Alexiou, Der Euagoras des Isokrates. Ein Kommentar, Berlin 2010. Zur Frage der von Isokrates selbst konstatierten Sonderstellung des Euagoras, er habe mit ihm – erstmalig – ein Enkomion auf einen Menschen geschrieben (c. 8), s. ebd. S. 28 ff.



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und der Gerechtigkeit verkörpert wie kein anderer. Schon von frühester Jugend an sei er zu Großem berufen gewesen, seine Herkunft ließ sich bis hin zum höchsten Gott Zeus zurückführen, wunderbare Vorzeichen soll es bei seiner Geburt gegeben haben; seine außergewöhnlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten seien schon in der Jugend erkennbar gewesen. Zu Recht wurde ihm die Königsherrschaft über die Stadt Salamis auf Zypern zuteil. Die größte militärische Leistung aber war dann das Wiedererlangen der Herrschaft über Salamis, nachdem er einige Zeit im Exil verbringen musste. Die Eroberung gelang, wie Isokrates hervorhebt, durch den persönlichen Einsatz des Euagoras; hierdurch übertraf er sogar den sagenumwobenen persischen König Kyros, der manche militärische Erfolge vorweisen konnte, diese aber nicht eigenhändig errungen hatte, sondern nur mit Hilfe seiner Heere. Die Zuspitzung, die Isokrates hier vornimmt, zielt auf den Sohn: Er soll dem Beispiel seines Vaters folgen und sich persönlich engagieren. Die Lobrede diente folglich als Fürstenspiegel. Auch in Bezug auf Belobigung und Bestrafung von Untergebenen soll Euagoras vorbildlich gewesen sein (c. 42): Er habe nie auf andere gehört, sondern sich immer ein eigenes Urteil gebildet. Inhalt und Aufbau der Euagoras-Rede entsprechen im Großen und Ganzen der Systematik von Lobreden, wie sie Jahrhunderte später erst theoretisch dargelegt wurde. Die rhetorische Praxis war der Theorie somit weit voraus. Menander Rhetor8 (3. / 4. Jh. n. Chr.) fasst hinsichtlich der von ihm so genannten Königsrede (βασιλικὸς λόγος) folgende Gesichtspunkte zusammen, auf die ein Redner bei einem Herrscherlob eingehen solle: 1. Abstammung und Herkunft (Ort, Volk, Familie), 2. Geburt, Vorzeichen – notfalls zu erfinden –, 3. Ansehen, Erziehung, Bildung, Charakter; 4. Kern der Rede: Leistungen in Krieg und Frieden, a) Tapferkeit und Klugheit im Krieg, b) Gerechtigkeit nach Abschluss der Kriegshandlungen, c) Besonnenheit, Gerechtigkeit und Weisheit in Friedenszeiten. Das Lob solle zudem gesteigert werden: 1. durch Selbstverkleinerung des Redners – er sei nicht in der Lage, angemessen zu loben –, 2. durch Vergleich des Gelobten mit einem anderen, z. B. dem Vorgänger, 3. durch mythische und historische Exempla. 8  Menander Rhetor, edited with Translation and Commentary by D. A. Russell and N. G. Wilson, Oxford 1981; zur Königsrede: Men. Rhet. 368–377.

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Solche systematischen Merkmale des Herrscherlobs lassen sich in der Tat an den erhaltenen Panegyriken nachweisen. Ein in Mainz zu Beginn des 15. Jh.s aufgefundener Codex enthielt 12 lateinische Lobreden auf verschiedene Kaiser (Constanius, Maximian, Konstantin, Julian, Theodosius), allen voran den Panegyricus des Plinius auf den Kaiser Trajan.9 II. Die Plinius-Rede aus dem Jahr 100 n. Chr. ist im Übrigen die erste vollständig erhaltene lateinische Rede nach den letzten Reden Ciceros (den Philippica der Jahre 44 und 43 v. Chr.). Es handelt sich um den obligatorischen Dank des neu ernannten Konsuls. Plinius war im Herbst des Jahres Suffektkonsul geworden. Μan brauchte viele Konsuln, um aus ihrem Kreis potenzielle Provinzverwalter zu benennen. Die Amtszeit betrug im Fall des Plinius lediglich zwei Monate (September–Oktober 100). Bei seinem Amtsantritt hielt er vor Senat und Kaiser eben diese, Dank und Lob einschließende oratio. In republikanischer Zeit hatten die Konsuln auch schon Dankesreden bei ihrem Amtsantritt gehalten; sie galten aber dem Volk. In der Kaiserzeit waren alle republikanischen Institutionen, so auch der Senat, ganz auf die Handlungsvollmacht des Princeps ausgerichtet. Daher konzentrierten sich Dank und Lob auf seine Person. Durch intensive Überarbeitung und Erweiterung mit Blick auf die Publikation schwoll das Werk dann aber so sehr an, dass es nicht mehr in einem Stück vorgetragen werden konnte. Plinius berichtet selbst, er habe sie nach der vollständigen Abfassung (also in der uns heute vorliegenden Form) in einem kleineren Kreis an drei Tagen vorgelesen.10 Im Mittelpunkt der Rede stehen der 47jährige Trajan und seine umsichtige Amtsführung sowie sein milder, besonnener, jeglicher Eitelkeit fernstehender Charakter. Der plinianische Panegyricus ist ein Fürstenspiegel zur Bekräftigung der guten Herrschaft. Die Vielzahl und Dichte der eingesetzten rhetorischen Stilmittel (Chiasmus, Parallelismus, Antithese, Klimax usw.) verhalf der Schrift offenbar zu einer Karriere in der Rhetorenschule. Sie wurde als Muster verwendet und kam daher wohl auch in den Mainzer 9  Zur kaiserzeitlichen Panegyrik: Chr. Ronning, Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin. Studien zur symbolischen Kommunikation in der römischen Kaiserzeit, Tübingen 2007. 10  Ep. 3,18,4 f.: »Cepi autem non mediocrem voluptatem, quod hunc librum cum amicis recitare voluissem, non per codicillos, non per libellos, sed ›si commodum‹ et ›si ualde vacaret‹ admoniti (numquam porro aut valde uacat Romae aut commodum est audire recitantem), foedissimis insuper tempestatibus per biduum convenerunt, cumque modestia mea finem recitationi facere voluisset, ut adicerem tertium diem exegerunt.«



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Kodex hinein, in dem sich mit Ausnahme eben des plinianischen Panegyricus nur Reden aus der Spätantike (3. und 4. Jh. n. Chr.) befanden. Es ist eine communis opinio, dass schon gegen Ende der römischen Republik eine Rede gehalten wurde, die Fürstenspiegelcharakter hatte: Ciceros Dank für die Begnadigung des Marcellus (46 v. Chr.). Die Marcellusrede kann als ein römischer Prototyp der Gattung bezeichnet werden.11 Cicero hatte sich zuvor als Politiker und als Staatstheoretiker immer wieder für eine Konsolidierung der republikanischen Verfassung eingesetzt.12 Die historische Entwicklung nahm aber von seiner Staatstheorie keine Notiz; auch seine Person wurde in den Wirren der Zeit ignoriert. Bezeichnend sind die Umstände seiner Wiederkehr aus dem Prokonsulat. Für seine, sogar in militärischer Hinsicht durchaus gelungenen Statthalterschaft in Kilikien war ihm nach einigem Hin und Her vom Senat der Stadt Rom ein Triumph bewilligt worden. Doch als Cicero im Januar 49 die Hauptstadt wieder betrat, waren andere Dinge wichtiger. Caesar überschritt den Rubikon; Pompeius zog sich bald darauf mitsamt dem legitimen Regime auf die andere Seite der Adria zurück. Es herrschte Stille – nichts war entschieden. Cicero, hin- und hergeworfen, blieb vorerst noch in Rom und versuchte eine Zeitlang mit Caesar ins Gespräch zu kommen, bis er sich schließlich – ein wenig halbherzig – auf die Seite der Pompeianer schlug. Der Bürgerkrieg endete nach Schlachten in Mittelgriechenland (bei Pharsalos, Sommer 48) und in Nordafrika (bei Thapsus, Frühjahr 46) mit einem uneingeschränkten Sieg Caesars, der sich nicht nur zum Konsul hatte wählen lassen, sondern auch alle Vollmachten eines Diktators beanspruchte, erst für kurze Zeit, dann für zehn Jahre, dann für immer. Cicero gehörte der Verliererpartei an. Ein geschickter Schachzug Caesars (schon im März 49 in einem offenen Brief als Teil eines politischen Programms angekündigt) bestand darin, gegen die ehemaligen Pompeiusanhänger nicht restriktiv vorzugehen. Wer wollte, konnte unter seiner Ägide wieder im Staat tätig werden. Hierin sah Cicero eine Chance, der res publica erneut zu ihrem Recht zu verhelfen. Drei Reden zeugen von dem neuerlichen Engagement für die republikanische Sache, die so genannten orationes Caesarianae: Pro Marcello, Pro Ligario, Pro rege Deiotaro. Es war nicht einfach, auf einen Mann, der alle Macht in seinen Händen hielt, Einfluss zu nehmen. Aber Cicero versuchte, das Unmögliche möglich zu machen: Caesar als Kopf für die Wiederherstellung der libera res publica zu gewinnen. 11  Plinius der Jüngere, Panegyrikus. Lobrede auf den Kaiser Trajan, hrsg., eingel. und übers. von W. Kühn, Darmstadt 22008, S. 4. 12  Vor allem in seinen staatstheoretischen Schriften De re publica und De legibus. Beide Werke entstanden in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre des 1. Jh.s v. Chr.

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M. Claudius Marcellus, der Konsul des Jahres 51, war einer der größten Widersacher Caesars; er hatte in seinem Konsulat sogar darauf gedrängt, dass man Caesar aus der Provinz Gallien abberufen und ihm ohne Immunität den Prozess machen sollte. Nach Caesars Sieg bei Pharsalos hatte sich Marcellus auf die Insel Lesbos zurückgezogen quasi in ein selbstgewähltes Exil. Da sich Caesar bereitfand, auch eine so renommierte Republikanerpersönlichkeit in Gnaden wieder aufzunehmen, setzte Cicero alles daran, Marcellus nach Rom zu locken. Dieser war nicht einfach zu einer Rückkehr zu bewegen. Ciceros Korrespondenz mit ihm spricht Bände; er hat schließlich Erfolg. Marcellus tritt die Heimreise an, wird aber unglücklicher Weise während eines Zwischenaufenthalts in Athen im Frühjahr 45 ermordet; die Umstände liegen im Dunkeln. Alles spricht für eine kriminelle Tat ohne politischen Hintergrund. Dergleichen ahnt Cicero natürlich nicht, als er drei Monate zuvor den Dank für Caesars Gnadenakt in eine Rede kleidet. Die Rede Pro Marcello – eigentlich müsste man sie De Marcello (»über Marcellus«) nennen, da sie keine Verteidigung darstellt – wird vielfach als eine Lobrede auf den Diktator gedeutet. Sie ist zwar voller Lob, aber kein reiner Panegyrikos, sondern eine (im Sinn des Isokrates) kunstvoll geformte Handlungsanweisung: Cicero nimmt Caesar in die Pflicht.13 Seine Kriegstaten, die aller Bewunderung wert seien, könnten keinem Vergleich standhalten hinsichtlich dessen, was er jetzt in Friedenszeiten leiste, ja schon geleistet habe, vor allem durch die unblutige Clementia-Politik, wozu eben auch die aufsehenerregende Begnadigung des Marcellus gehöre, aber Größeres stehe noch bevor. Es würden Aufgaben auf ihn warten, die nur er und kein anderer zu leisten im Stande wäre: Konsequente Gesetzgebung, Sicherung der wirtschaftlichen Prosperität und eine zuverlässige Familienpolitik; mit anderen Worten: Caesars Aufgabe als Diktator sei es, die Freie Römische Republik wieder zu errichten. Doch Julius Caesar war appellationsresistent. Nichts von dem, was Cicero für politisch angezeigt hielt, setzte er in die Tat um. Vielmehr baute er immer stärker seine persönliche Vormachtstellung aus und setzte sich über die Republik als solche hochmütig hinweg. Ciceros Reaktion auf die Ermordung des Diktators an den Iden des März 44 war eindeutig: Erleichterung. Er selbst war an dem Attentat weder im 13  S. Rochlitz, Das Bild Caesars in Ciceros Orationes Caesarianae. Untersuchungen zur clementia und sapientia Caesaris, Frankfurt a. M. 1993, S. 79: »Pro Marcello ist nicht nur eine lobende Dankrede an Caesar, sondern hat durch ihre Kritik am gegenwärtigen Zustand, durch ihre Ratschläge an Caesar und gerade auch durch ihr Caesar verpflichtendes Lob eine erzieherische, d. h. politische Absicht, worin sie sich mit der traditionellen Fürstenspiegelliteratur berührt.«



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Vorfeld noch bei dessen Durchführung beteiligt, was er den Attentätern denn auch vorwarf. Er versuchte daraufhin die republikanischen Kräfte im Senat zu mobilisieren, setzte alles auf eine Karte und ist am Ende gescheitert. Nicht die Republik, sondern die Alleinherrschaft des Caesaren, die Prinzipatsverfassung bildete den Abschluss. Die Häme, mit der Cicero den Tod Caesars – vor allem in seinen Briefen – kommentiert, lässt auf die Marcelliana nachträglich das grelle Licht der Rhetorik fallen: Für Cicero war Caesar nur Funktionsträger in einer Notlage der Republik; mit der persönlich sicherlich tief empfundenen Anerkennung der Clementia – sie wurde später eine der ersten Kaisertugenden –, stellte Cicero bei Erhalt der Republik größten Ruhm in Aussicht. Ehrlich gemeint war Letzteres nicht unbedingt. Cicero hatte ein gespaltenes Verhältnis zur gloria. Ganz anders stand Plinius vor Trajan da. Sein Lob war ehrlich. Die Ausführungen zum Ruhm, die in seiner Rede nicht fehlen (mehr als 30 gloriaNennungen), sind alles andere als floskelhaft. Trajan blicke nicht auf den Ruhm eines Kaisers voraus; Nachruhm stehe von Haus aus jedem Kaiser zu und sei nichts Besonderes, sagt Plinius. Nein, Trajan werde ja zu Lebzeiten schon gerühmt wegen seiner Bescheidenheit und Menschlichkeit und sei damit allen anderen Kaisern überlegen. III. Wie schwierig es war, vor dem jeweiligen Alleinherrscher den richtigen Ton zu treffen und zugleich Rückgrat zu zeigen, bezeugt niemand besser als Seneca, der gleich mehreren schwierigen Herrscherpersönlichkeiten ausgesetzt war. Man hat aber immer wieder Anstoß daran genommen, dass Seneca nach dem Tod des Claudius eine laudatio funebris abfassen konnte, in der er den Verstorbenen über den Klee lobte, zugleich jedoch seinen ›unphilosophischen‹ Rachegelüsten nachgab und eine Satire über ihn schrieb: die Apocolocyntosis, eine bissig-gehässige Abrechnung mit dem ungeliebten Kaiser.14 Tacitus (Ann. 13,3,1) nun berichtet, die laudatio habe Nero bei der Totenfeier vorgetragen, eine laudatio, in welcher möglicherweise des Löb­lichen zu viel stand oder mit welcher eben der zu Lobende, selbst wenn die Gattung ein übermäßiges Lob zuließ, ja es sogar verlangte (de mortuis nil nisi bene), einfach nicht konform ging. Es sollen jedenfalls die Anwesenden an einer Stelle, als Umsicht und Weisheit des Verstorbenen gepriesen wurden, in Lachen aus14  Senecas Autorenschaft der Apocolocyntosis (und den Titel der Satire) bezeugt erstmals Cassius Dio (60,35,3).

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gebrochen sein.15 Was Tacitus dem hinzusetzt, darf man sicherlich als eine Ehrenrettung Senecas verstehen; denn er sagt (ebd.): »niemand habe das Lachen unterdrücken können, obwohl die von Seneca verfasste Rede viel Eleganz (cultus) ausstrahlte; war jenem Mann doch eine gefällige Begabung (ingenium amoenum) zueigen und eine, die den Hörgewohnheiten seiner Zeit entgegenkam (temporis eius auribus accommodatum).« An der literarischen Leistung Senecas übt der Historiker keine Kritik. Ein schlechtes Licht lässt er allein auf Nero fallen, der wohl durch die Art seines Vortrags das Lachen provoziert haben dürfte, heißt es doch, er und die Übrigen seien anfangs noch konzentriert gewesen (intentus ipse et ceteri), sobald er sich aber in seiner Rede der Fürsorglichkeit und Weisheit des Claudius zugewandt habe, sei niemand mehr (also auch Nero, d. h. vor allem er nicht) in der Lage gewesen, sich des Lachens zu enthalten: postquam ad providentiam sapientiamque flexit, nemo risui temperare. Dass Tacitus in diesem Zusammenhang kein Wort über die Claudius-Satire verliert, ist verständlich, da sein Focus ganz auf die laudatio funebris gerichtet ist und er die Seriosität ihres Autors gewahrt wissen möchte, um auf diese Weise die Inkompetenz des Redners Nero vollends zu brandmarken und die Singularität des Umstands hervorzuheben, dass alle anderen Kaiser, angefangen bei Augustus, ihre Reden selbst geschrieben haben. Dies hätte Nero aufgrund seiner Bildung genauso gekonnt, habe es aber unterlassen. Senecas somit hoch gelobte letzte laudatio auf Claudius ist nicht überliefert; wir besitzen aber eine solche aus früheren Tagen. Aus dem Exil auf Korsika (41–48 n. Chr.) sandte er zwei Trostschriften nach Rom, eine gleich im ersten Verbannungsjahr an seine Mutter Helvia, eher ein Trost in eigener Sache, und eine zweite (gegen Ende 43)16 an den Freigelassenen Polybios, dessen jüngerer Bruder gestorben war. Polybios war ein hochrangiger Beamter am Hof des Claudius, mit der Aufgabe betraut, Beschwerden und Bittschriften an den Kaiser zu bearbeiten (a libellis). Im Hinblick auf diese Funktion ließ Seneca ihm offenbar eine Consolatio zukommen, der die Bitte beigefügt war, ihm aus der Verbannung zurück zu verhelfen (Consolatio ad Polybium 2,1; 18,9). Und ebenfalls als Einlage findet sich in dieser Schrift eine Huldigung gerade jenes Mannes, der die Verbannung ausgesprochen hatte: Claudius. Da ist mehrfach von Claudius’ Göttlichkeit die Rede, seiner Milde, der fürsorglichen und gerechten Amtsführung. In allem unterscheide er sich von seinem Vorgänger Caligula, unter dessen Willkür jede herausragende Per15  Ob Tacitus hier in ironischer Weise auf die Apocolocyntosis anspielt, wie E. Paratore, Storia della letteratura latina, Florenz 1951, 565 vermutet hat (vgl. E. Koestermann, Kommentar zu Tac., Ann. 13,3,1), ist fraglich. 16  Th. Kurth, Senecas Trostschrift an Polybios, Stuttgart 1994, S. 17.



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sönlichkeit des Staates litt, auch ohne verbannt zu sein (13,4), und von dem die äußerste Bedrohung für Staat und Menschheit insgesamt ausgegangen war. Erst die Mildtätigkeit des Claudius könne das zerstörte Reich wieder herstellen (17,3): a quo (sc. Caligula) imperium adustum atque eversum funditus principis mitissimi (sc. Claudii) recreat clementia. Das Herrscherlob ist freilich nicht ungeschickt eingefügt: Polybios solle seine Trauer um den Bruder ablegen, da er schließlich nicht für sich allein lebe und dem unermüdlich um die Welt besorgten Kaiser dienen müsse (7,3: totum te Caesari debes), dem er ja sowieso rund um die Uhr gedanklich nahe sei (8,1: omnia in te Caesar tenebit; 12,4: hic tibi, quem tu diebus intueris ac noctibus, a quo numquam deicis animum, cogitandus est). Auch das Herrscherhaus habe große Schicksalsschläge erfahren. Und doch vermochten es die Kaiser, ihre Verluste mit Würde zu tragen. Ein wenig absurd erscheint angesichts der später in der Satire scharf attackierten Würfel-Manie des Claudius, dass Seneca dessen Amtsvorgänger in dieser Hinsicht bloßstellt: Caligula sei nicht zur Beerdigung seiner Schwester Drusilla erschienen, sondern habe zu diesem Zeitpunkt Trost im Würfelspiel gesucht:17 »Eine Schande für das Reich! dass der Würfel dem um seine Schwester trauernden Kaiser Trost gespendet hat!« Ein Passus dieser Art verdeutlicht aber die bei aller panegyrischen Topik, deren Register Seneca meisterhaft zu ziehen verstand, dennoch vorhandene und sich artikulierende Souveränität des Schriftstellers. Der Exilant suchte um einen Gnadenerlass nach. In seiner Situation bot es sich an, den Herrscher zu vergöttlichen und an seine clementia zu appellieren. Er konnte ihn ja schlecht schelten für die demütigende Verbannung, sondern allenfalls die Betroffenheit des Opfers darlegen. Diese fasste er in ein exzellentes Bild, das Claudius als Blitze schleudernden Gott, ihn selbst als einen den Blitzschlag ohne Arg Hinnehmenden zeigt:18 »Du (angesprochen ist Claudius) sollst wissen, dass jene Blitze am Ende die gerechtesten sind, die sogar von den Getroffenen verehrt werden.« Wenn Seneca dann kontrastiv die Fehler des Caligula aufzählt, Fehler, die man sicherlich schon in den ersten Amtsjahren auch an Claudius feststellen konnte (Willkür, Spielsucht, Sorglosigkeit), und den amtierenden Princeps auf die Nachfolge des allgemein hoch angesehenen Augustus einschwört (12,5: acta hic Divi Augusti aequet), verlässt der Laudator das Terrain reiner Panegyrik und schlägt den appellierenden Ton des Fürstenspiegels an.19 17  17,

fuit!

4: pro pudor imperii! principis Romani lugentis sororem alea solacium

scias licet ea demum fulmina esse iustissima, quae etiam percussi colunt. diesem Sinn bewertet auch S. Döpp die Consolatio (»Claudius in Senecas Trostschrift an Polybius«, Die Regierungszeit des Kaisers Claudius (41–54 n. Chr.). 18  13,4: 19  In

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In die Apocolocyntosis, die nicht nur als die unterhaltsame Verspottung eines ausgemachten Trottels, sondern auch als eine durchaus apotropäisch angelegte Warnung vor dem Missbrauch der Macht anzusehen ist, hat Seneca einen ähnlichen Hymnus auf den Claudius-Nachfolger eingelegt. Es handelt sich um 32 Hexameter, die den Beginn eines Goldenen Zeitalters verkünden, als dessen Garant der erst 17 Jahre alte Nero apostrophiert wird: die so genannten laudes Neronis. Wie besorgt der Nero-Erzieher Seneca um die Geschicke Roms wegen des neuen Herrschers war, geht aus der im darauffolgenden Jahr20 – nach der Ermordung von Neros Stiefbruder, dem legitimen Claudius-Nachfolger Britannicus, im Februar 55 – an den jungen Kaiser adressierten Abhandlung über die Milde hervor. Dort wird der legendäre Augustus auch dem Möchtegern-Julier Nero als Muster (De Clementia 1,9,1: exemplum domesticum) eingeschärft; der habe im gleichen Alter wie er noch Gräuel­taten verübt, verüben müssen, aber später immer mehr Milde walten lassen. Tacitus führt in den Annales, die er bezeichnender Weise ab excessu Divi Augusti beginnen lässt, die fortwährende Krise Roms auf all jene unfähigen Herrscher zurück, die Octavian nachfolgten. Die ersten Epigonen, Tiberius, Caligula, Claudius und Nero, hat Seneca unmittelbar kennengelernt und die drei Letztgenannten wahrlich auch fürchten müssen. Er versuchte stets, so weit es in seiner Macht stand, auf die Kaiser und auf das politische Klima in Rom Einfluss zu nehmen. Gegen Caligula hatte er sich noch im Rahmen einer breiteren Senatsopposition bewegt. Vielleicht musste er deswegen in die Verbannung. Um Claudius und Nero umzustimmen bzw. ihr politisches Handeln positiv zu stimulieren, nutzte er die Möglichkeiten der Literatur. Interpretiert man die poetische laudatio auf Nero unter dem Aspekt des Fürstenspiegels, so gewinnt sie Einiges an Attraktivität und weist sogar parodistische Züge auf.21 Wenn es Mühe macht, das merkwürdige Leben Umbruch oder Episode?, ed. V.  M. Strocka, Mainz 1994, 295–306): »Seneca beschreibt nicht so sehr, was Claudius tatsächlich leistet, als daß er darlegt, welches dessen Pflichten sind und was er von der kaiserlichen Politik erwartet.« (a. O. S. 302). 20  De clementia ca. Mitte bis Ende 55 n. Chr. zu datieren. Hierzu W. Richter, »Das Problem der Datierung von Seneca, De clementia«, RhM 108 (1965) 146–170. – Zur Einschätzung von Senecas Haltung in De clementia im Wissen um die Ermordung des Britannicus vgl. G. Binder, L. Annaeus Seneca, Apokolokyntosis, Lat.-dt., Düsseldorf / Zürich 1999, S. 62 f.: »Seneca, als Mitwisser zweifellos auch selbst gefährdet, wollte und durfte sich seines ohnehin nur bedingten Einflusses auf Nero nicht gänzlich berauben.« 21  B. Merfeld (Panegyrik – Paränese – Parodie? Die Einsiedler-Gedichte und Herrscherlob in neronischer Zeit, Trier 1999) hat die parodistischen Momente ins-



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des Claudius zu beenden, was soll man dann von Apolls Betrug halten, den goldenen Lebensfaden Neros bis ins Unendliche zu ziehen? Dass Mercurius die Parze Clotho überreden muss, das Leben des Clau­ dius vorzeitig zu beenden, deutet auf den gewaltsamen Tod hin; seine Zeit war eigentlich noch nicht gekommen. Apolls Einsatz persifliert Agrippinas Bemühungen um die Begünstigung Neros. Hier spielt Seneca mit den Topoi der Panegyrik. Der Wunsch, das Leben des Herrschers möge nie enden und seine sternengleiche Strahlkraft nie nachlassen, wie in Bezug auf Claudius in der Consolatio ad Polybium kurz formuliert: sidus hoc … semper luceat (13,1), findet sich in der Apocolocyntosis ins Übermaß gesteigert. Seneca reichten die klassischen Beispiele hohen Lebensalters, Nestor und Tithonus, nicht aus (V. 14); er spannte Apoll in die Aktion mit ein. Dieser begleitet die spinnenden Parzen bei ihrem Werk und lenkt sie durch seinen Gesang so von der Arbeit ab (V. 15–21), dass ihnen Neros Lebensfaden viel zu lang gerät. Das anschließende Lob des Gottes, Nero sei ihm ebenbürtig, praktisch ein zweites Exemplar seiner selbst (V. 22 f.); er leuchte zudem hell wie Morgen- und Abendstern zusammen und sogar wie die Sonne, nur milder (V. 25–32: qualis Lucifer …, qualis Hesperus …, qualis Sol …, talis Caesar adest, talem Roma Neronem  /  aspiciet), ist zu übertrieben, als dass Seneca es wirklich hätte ernst meinen wollen. Der Dichter, zugleich ja auch noch Erzieher, überschüttet den jungen Herrscher quasi mit Vorschusslorbeeren, nicht ohne ein Augenzwinkern dabei durchschimmern zu lassen. Der Persiflage steht jedenfalls eine klar umrissene, in wenig Worte gefasste, bestimmt aufrichtig empfundene Hoffnung auf bessere politische Verhältnisse gegenüber: »Er wird den Geplagten glückliche Zeiten bringen sowie das Schweigen der Gesetze brechen.« (felicia lassis  /  saecula praestabit legumque silentia rumpet, V. 23 f.). An dieser einen Stelle der laudes Neronis fehlt jegliche Übertreibung. * Der Wunsch nach Gerechtigkeit im Staat, nach Frieden und einer glücklichen Zeit ist allen panegyrischen Schriften der Antike gemeinsam. besondere vor dem Hintergrund von Vergils 4. Ekloge herausgestellt und ist der Ironie nachgegangen; die offenkundige Ermordung des Claudius und die raffinierte Amtsübergabe an Nero, der als legitimer Nachfolger nicht per se feststand, geben der Umständlichkeit des Handelns von Apoll und den Parzen ein ironisches Kolorit: »Der reale Hintergrund für das ungewöhnliche Tun der Parzen entbehrt nicht der komischen Wirkung. Parodie des traditionellen Schicksalsglaubens, intendierte Komik, die sich nur denen offenbart, die die wahren Todesumstände des Claudius kannten.« (a. O. S. 60 f.).

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Keiner der genannten Laudatoren – mit Ausnahme des Plinius – ist es gelungen, die mit der Panegyrik verknüpften Ziele zu erreichen. Isokrates, der Athen stärken wollte durch interne Bündnisappelle (Panegyrikos) oder durch die Sicherstellung alliierter Mächte (Euagoras), starb gerade in dem Jahr, als die Freiheit Griechenlands und damit auch Athens in der Schlacht von Chaironeia gänzlich verlorenging. Cicero fand den Tod durch die von den Triumvirn Marc Anton, Octavian und Lepidus angeordneten Proskrip­ tionen. Mit ihm fand auch die Römische Republik ihr Ende. Seneca blieb noch 5 Jahre in der Verbannung und wurde als Erzieher Neros zurückgeholt. Weder Claudius noch Nero nahmen seine Ratschläge und Hinweise auf. Er starb zuletzt durch die Anordnung Neros, Selbstmord zu begehen. Herrscher wollen offenbar gern gelobt werden. Vorschriften und Handlungsanweisungen lehnen sie aber ab.

Panegyrik und Antike: Formen einer panegyrischen Instrumentalisierung der Antike in französischen und italienischen Texten aus Mittelalter und Renaissance Von Joachim Leeker I. Voraussetzungen 1. Panegyrik und Antike: die Fragestellung Traditionell versteht man unter einem Panegyrikos eine prunkvolle Rede aus festlichem Anlass, also vorzugsweise eine Lobrede – z. B. auf Kaiser des antiken Roms –, in der man Schmeicheleien jeder Art erwarten könnte.1 Das würde im Mittelalter voraussetzen, dass die zu lobende Person im Einklang mit kirchlichen Vorstellungen steht, und so finden wir natürlich in der Hagiographie jede Menge Lobpreis von Tugenden wie Demut, Gläubigkeit oder Askese, die ein Heiliger durch sein Leben in die Tat umgesetzt hat,2 doch repräsentiert die Antike in diesen Darstellungen eigentlich nur die Zeit, in der manche Heilige – etwa die Märtyrer – gelebt haben, ohne dass sie dabei eine tiefere Bedeutung hätte. Herrscher mussten sich – wenigstens theoretisch – oft ähnlichen Kriterien unterwerfen, jedenfalls wenn sie am idealen Herrscher gemessen wurden, der in Fürstenspiegeln des Mittelalters oft als Inkarnation aller Tugenden definiert wurde,3 denn von Natur aus ist 1  Siehe zum Beispiel Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, 4. Aufl., Stuttgart 1964, 486 / 7. 2  Zum Beispiel das altfranzösische Alexiuslied aus der Mitte des 11. Jahrhunderts (siehe Erich Köhler, Mittelalter, hg. Henning Krauss, 2 Bde., Stuttgart 1985, Bd. I, 19–23). 3  Thomas von Aquin sah in De regimine principum (um 1265) die Hauptaufgabe des Königs darin, für das Gemeinwohl zu sorgen – vergleichbar mit der Rolle der Seele im Körper oder der Rolle Gottes in der Welt (siehe Josef Röder, Das Fürstenbild in den mittelalterlichen Fürstenspiegeln auf französischem Boden, Emsdetten 1933, 55; Hans Hubert Anton (Hg.), Fürstenspiegel des frühen und hohen Mittelalters, Darmstadt 2006, 448–97). Im gleichnamigen Werk von Thomas’ Schüler Aegidius Romanus (um 1280) besitzen die Fürsten alle Tugenden – prudentia, iustitia, fortitudo, temperantia, liberalitas, magnificentia, magnanimitas usw., um nur die wichtigsten zu nennen – im Übermaß, um so ihre Aufgabe, nämlich »ut per pruden-

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der Mensch natürlich sündig.4 Die Situation eines Herrschers wurde seit Boethius gern in jenem Figürchen dargestellt, das Fortuna auf ihrem Rad zunächst emporhebt, aber dann auch unbarmherzig wieder der Macht beraubt.5 Da nichts auf Erden von Dauer ist, durfte das höchste Lob eigentlich nur Gott gelten, nicht aber einem Menschen. Doch trotz dieser religiösen Verurteilung lebte das offene Herrscherlob, das man im Mittelalter aus antiken Rhetorik-Handbüchern kannte, durchaus weiter – einmal als grammatische und rhetorische Übung im Schulbetrieb, dann aber auch als Lobdichtung auf Herrscher wie Karl den Großen, wo es Dinge wie das Lob der Vorfahren und der Taten des Gepriesenen in Jugend und Mannesalter beinhalten kann.6 Oft haben wir daneben Panegyrik als Dank eines Autors für die Unterstützung durch seinen Mäzen am Anfang oder Ende eines größeren Werkes, etwa als Widmung. Dann beinhaltet die Panegyrik vor allem ein Lob der Freigebigkeit des Gönners. Zwei Beispiele aus Chrétien de Troyes: Beschränkt sich der Autor im Lancelot (1179 / 80) noch darauf, die Adressatin Marie de Champagne als »la dame qui passe / Totes celes qui sont vivanz«7 zu loben, so feiert er zu Beginn des Roman de Perceval (nach 1181) den Adressaten Graf Philipp von Flandern in über 60 Versen als »le plus preudome / Qui soit en l’empire de Rome«, der weit besser sei als der gepriesene Alexander der Große, weil er dessen Fehler nicht habe, nicht auf üble Nachrede höre, weil er »aime droite justise / Et loiauté et sainte eglise«, alles Böse hasse und so freigebig sei, dass nur die Empfänger und Gott wüssten, wie vielen und wem er etwas gebe, tiam et legem populum sibi commissum juste et sancte regant«, zu bewältigen (zitiert nach Röder, Fürstenbild, 58; siehe auch Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Nachdruck Stuttgart 1952, 211–28). 4  So zum Beispiel Römer 3,10–12: »[…] non est iustus quisquam. non est intellegens. non est requirens Deum. omnes declinaverunt. simul inutiles facti sunt. non est qui faciat bonum. non est usque ad unum.« oder Matthäus 26,41: »[…] Spiritus quidem promptus est. caro autem infirma.« (Biblia Sacra iuxta Vulgatam versionem, hg. Robertus Weber, 4. Aufl., Stuttgart 1994, 1753 und 1569). 5  Siehe Howard R. Patch, The Goddess Fortuna in Medieval Literature, Cambridge, MA 1927, 151–77; Joachim Leeker, »Fortuna bei Machiavelli – ein Erbe der Tradition«, Romanische Forschungen, 101,4 (1989), 407–32, hier 410–14. 6  Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 8. Aufl., Bern / München 1973, 78, 164–68, 423–25; Annette Georgi, Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelalters in der Nachfolge des genus demonstrativum, Berlin 1969, 32–47 u. 52–56. Georgi unterscheidet zwei Typen von Lobgedicht, deren einer – der die gesta betonende historische Typ – auf Sidonius und deren anderer – der die Tugenden betonende ethische Typ – auf Priscian zurückgehe. Auch bei Mischformen – wie bei Venantius (47–49) – sei das Lob auf die Vorfahren meist Teil des Preisgedichts. 7  Chrétien de Troyes, Le chevalier de la charette, hg. Mario Roques, Paris 1990, 1 (v. 10 / 1).



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da er sich nicht mit seiner Freigebigkeit brüste, sondern sie im Verborgenen ausübe, wie es die Bibel vorschreibe8 – das ist traditionelle Panegyrik des Mittelalters! Oft aber nahm – und das ist das, was hier interessieren soll – der Wunsch nach panegyrischer Äußerung die Form an, der zu feiernden Person, Familie oder Stadt eine glorreiche Vergangenheit anzudichten. In Zeiten, wo die Vorstellung vom Wert historischer Wahrheit noch nicht ausgeprägt war9 und wo es zudem nur schwer möglich war, diese für ferne Zeiten zu überprüfen, war das ein beliebtes Mittel des Herrscherlobs, das jedoch, um Vorteile einzubringen, die Wahrheit der historischen Fiktion betonen musste, um den Verdacht billiger Schmeichelei – die ja zur Lüge gerechnet wurde10 – zu vermeiden. Wohl, um den normannischen Herren Englands die Achtung vor seinem Volk zu verschaffen und zugleich die Ansprüche jener Normannen 8  Chrétien de Troyes, Le roman de Perceval ou Le conte du Graal, hg. William Roach, Paris 1959, 1–3 (v.7–68; wörtlich zitiert wurden v.11 / 2 und 25 / 6). 9  Aus den Vorworten mittelalterlicher Werke mit antiker Thematik erkennt man, dass im Mittelalter nicht die historische Wahrheit zählte, sondern eine »höhere«, d. h. religiöse oder moralisch-belehrende Wahrheit. Siehe Peter von Moos, »Poeta und historicus im Mittelalter. Zum Mimesis-Problem am Beispiel einiger Urteile über Lucan«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 98 (1976), 93–130; Joachim Leeker, Die Darstellung Cäsars in den romanischen Literaturen des Mittelalters, Frankfurt 1986, 83 / 4, 101. 10  Dante etwa rechnet die Schmeichler in Inferno XVIII zu den Betrügern. Schon in den Sprüchen Salomons (29,5) heißt es: »homo qui blandis fictisque sermonibus loquitur amico suo rete expandit gressibus eius« (Biblia Sacra, 983). Thomas von Aquin erlaubt zwar Lob in positiver Absicht, zum Beispiel als Trost oder zur Aufmunterung. Schmeichelei aber sei Lob von Nichtlobenswertem, befriedige Ruhmsucht und solle nur den eigenen Gewinn fördern. Daher sei Schmeichelei Sünde: »Ad primum ergo dicendum quod laudare aliquem contingit et bene et male, prout scilicet debitae circumstantiae vel servantur vel praetermittuntur. Si enim aliquis aliquem velit delectare laudando ut ex hoc eum consoletur ne in tribulationibus deficiat, vel etiam ut in bono proficere studeat, aliis debitis circumstantiis observatis, pertinebit hoc ad praedictam virtutem amicitiae. Pertinet autem ad adulationem si aliquis velit aliquem laudare in quibus non est laudandus, quia forte mala sunt, secundum illud, laudatur peccator in desideriis animae suae; vel quia non sunt certa, secundum illud Eccli. XXVII, ante sermonem ne laudes virum, et iterum Eccli. XI, non laudes virum in specie sua; vel etiam si timeri possit ne humana laude ad inanem gloriam provocetur, unde dicitur Eccli. XI, ante mortem ne laudes hominem. Similiter etiam velle placere hominibus propter caritatem nutriendam, et ut in eis homo spiritualiter proficere possit, laudabile est. Quod autem aliquis velit placere hominibus propter inanem gloriam vel propter lucrum, vel etiam in malis, hoc esset peccatum, secundum illud Psalm. Deus dissipavit ossa eorum qui hominibus placent. Et apostolus dicit, ad Galat. I, si adhuc hominibus placerem, Christi servus non essem.« (Thomas von Aquin, Summa theologiae, Rom 1897, elektronische Fassung hg. Roberto Busa SJ und Enrique Alarcón, Teil II, quaestio 115, articulus 1, http: /  /  www.corpusthomisticum.org / sth3109.html; Zugriff 10.9.2011).

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auf das Festland zu legitimieren, schrieb der Brite Geoffrey of Monmouth um 1138 seine Historia regum Britanniae, in der der legendäre König Artus des 6. Jahrhunderts als Herrscher über große Teile Europas gezeichnet wird, auf die seine vermeintlichen Nachfolger so Anspruch erheben konnten. Am Ende seines Lebens wird Artus schwer verwundet auf die Insel Avalon gebracht. Wohl um einen größeren Einfluss bei Hofe zu erhalten, identifizierten die Mönche von Glastonbury circa 50 Jahre später ihr südlich von Bristol gelegenes Kloster mit der Insel Avalon, so dass König Heinrich II., der Artus sehr als Vorbild verehrte, dort 1191 miterleben konnte, wie man in dem Kloster das angebliche Grab seines vermeintlichen großen Vorfahren Artus öffnete11 – das ist auch eine Form der panegyrischen Instrumentalisierung der Vergangenheit. Was im mittelalterlichen England dabei die Zeit des legendären Königs Artus war, war in vielen französischen und italienischen Texten aus Mittelalter und Renaissance die Antike. 2. Ursachen und Formen der Antike-Verehrung im Mittelalter Doch besitzt die dahinterstehende Verehrung der Antike in Mittelalter, Humanismus und Renaissance unterschiedliche Ursachen und Ausprägungen: Ausgehend vom Lob des Apostels Paulus auf die Tradition,12 lag für das Mittelalter der bessere Zustand stets in der Vergangenheit, weshalb man sich in vielfacher Weise bemühte zu zeigen, dass die eigene Zeit der Antike noch in weiten Teilen entsprach, und dazu nahm manch eine Darstellung der Antike anachronistische Züge an. Seit Orosius verstand man Geschichte als ein Kontinuum von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, hinter dem die göttliche Vorsehung stehe, die den Menschen nach dem Sündenfall wieder zu Gott zurückführen wolle.13 Als letztlich von Gott geoffenbartes moralisches Lehrmaterial14 war das Überkommene in vieler Hinsicht der eigenen Zeit überlegen, so glaubte man: So hatten in der Theologie die dicta der Kirchenväter Vorrang vor denen mittelalterlicher Theologen; in der Literatur bemühte man Köhler, Mittelalter, Bd. I, 118–19. 1,9: »[…] si quis vobis evangelizaverit praeter id quod accepistis, anathema sit.« – 1 Timotheus 6, 20 / 1: »o Timothee, depositum custodi, devitans profanas vocum novitates et oppositiones falsi nominis scientiae. quam quidam promittentes circa fidem exciderunt.« (Biblia Sacra, 1802 und 1836). 13  Siehe Fritz Landsberg, Das Bild der alten Geschichte in mittelalterlichen Weltchroniken, Berlin 1934, 5–25. 14  Richard Newald (Nachleben des antiken Geistes bis zum Beginn des Humanismus, Tübingen 1960, 192 / 3) nannte die Herauslösung von historischen Personen aus dem Kontext und ihre Umgestaltung zu Beispielen positiven oder negativen Verhaltens »Atomisierung«. 11  Siehe

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sich, eigene Aussagen durch Belege aus den »Alten« als mit der Tradition konform hinzustellen,15 und im Bereich des Rechts lag der Vorteil beim älteren Rechtszustand.16 Beides implizierte die Möglichkeit von Fälschungen: Im Bereich der Literatur konnte diese Verehrung der Vergangenheit zum Phänomen der pseudo-antiken Literatur führen,17 und im juristischen Bereich galt das Alter eines Rechts in dem Maße als Qualitätskennzeichen, dass man den Rechtszustand, den man gerne haben wollte, gerne als den älteren ausgab: So tauchen denn gelegentlich angeblich sehr alte, nicht mehr nachprüfbare Urkunden auf – Fälschungen, mit denen ein Herrscher seine Ansprüche durchzusetzen hoffte.18 Und genau hier ist auch der Ansatzpunkt für eine panegyrische Instrumentalisierung der Antike im Mittelalter, die sich nicht gefälschter Urkunden bediente, sondern eher literarischer Formen, in denen zum Beispiel einer Familie oder einer Stadt ein hohes Alter zugeschrieben wurde, um der Familie oder der Stadt zu gefallen. Für Politik und Kultur lag diese idealisierte Vergangenheit nämlich vorzugsweise in der Antike. 3. Ursachen und Formen der Antike-Verehrung in Humanismus und Renaissance Unzufriedenheit über die eigene Zeit, wo Italien zersplittert, das Reich zerstritten und die Kurie nach Avignon »entführt« worden war, hatte zu Beginn des 14. Jahrhunderts schon Dante geäußert,19 und auch Petrarcas 15  Johannes Spörl, »Das Alte und das Neue im Mittelalter. Studien zum Problem des mittelalterlichen Fortschrittsbewußtseins«, Historisches Jahrbuch, 50 (1930), 297–341 u. 498–524, hier 307 / 8; Robert H. Lucas, »Medieval French translations of the Latin classics to 1500«, Speculum, 45 (1970), 225–53, hier 225; G. Ladner, »Erneuerung«, Reallexikon für Antike und Christentum, hg. Theodor Klauser, Stuttgart 1966, Bd. VI, 240–75. 16  Spörl, »Das Alte und das Neue im Mittelalter«, 308–14; Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung, Darmstadt 1985, 64 / 5. 17  In diesen Fällen wurde ein mittelalterliches Werk als das eines bekannten Autors der Antike ausgegeben (siehe dazu Paul Lehmann, Pseudo-antike Literatur des Mittelalters, Leipzig 1927). 18  Siehe Fritz Kern, »Recht und Verfassung im Mittelalter«, Historische Zeitschrift, 120 (1919), 1–79; Spörl, »Das Alte und das Neue im Mittelalter«, 314–20; zu Urkundenfälschungen durch Petrus Diaconus von Montecassino siehe Erich Caspar, Petrus Diaconus und die Monte Cassiner Fälschungen. Ein Beitrag zur Geschichte des italienischen Geisteslebens im Mittelalter, Berlin 1909. 19  Seine Divina Commedia ist voll von vagen Anspielungen auf erhoffte Retter Italiens (zum Beispiel den Veltro in Inferno I 100–11), nachdem sein großer Hoffnungsträger Heinrich VII. 1313 gestorben war. Am Ende seines Purgatorio zeichnet er den französischen König Philipp den Schönen als einen Riesen, der die Kirche als Prostituierte entführt (Purgatorio XXXII 148–60). Auch wenn sich Dante weitgehend an das religiöse Weltbild seiner Zeit hält, erhalten die heidnischen Autoren

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Hinwendung zur Antike war zunächst – vielleicht angeregt durch seine Funde von Cicero-Reden ab 133320 – eher politisch motiviert: Sein Epos Africa (1341) zeichnet sich durch Verehrung für die römische Republik aus,21 und 1347 versuchte Cola di Rienzo vergeblich, eine eben solche in Rom zu errichten.22 Vor allem ab Mitte des 14. Jahrhunderts wird der Humanismus dann zu einer breiteren Bewegung, die in der antiken Kultur eine Lösung für die Probleme der eigenen Zeit suchte,23 so dass die Geschichte eine neue Disziplin im humanistischen Bildungssystem wurde.24 Mit einem gewissen Hochmut sah man nun auf die mittelalterliche Behandlung der Antike mit ihren anachronistischen Fabeln herab.25 Die Panegyrik bedient sich nun direkter Vergleiche mit antiken Vorbildern.26 der Antike bei ihm in Inferno IV jedoch ein Privileg, das sie nach kirchlichen Vorstellungen eigentlich nicht haben dürften. 20  Gerhart Hoffmeister, Petrarca, Stuttgart 1997, 3. 21  Gaspare Caliendo, Guida allo studio dell’opera letteraria di Francesco Petrarca, Neapel 1969, 27–30; Roberto Fedi, Petrarca, Florenz 1975, 34–39; Hoffmeister, Petrarca, 73–77. 22  Hoffmeister, Petrarca, 24 / 5. 23  August Buck, Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Freiburg / München 1987, 176–80. 24  Zur Geschichte als Teil der studia humanitatis in Leonardo Brunis Schrift De studiis et litteris (1423–26) siehe Buck, Humanismus, 168 / 9. 25  In Frankreich gehörte zu den Legenden des Mittelalters, dass die Franken von den Trojanern abstammten; noch 1473 hatte Jean Duchesne in seiner Übersetzung von Cäsars Bellum Gallicum (Paris, Bibliothèque Nationale, fr. 38, fol. 90b) behauptet: »Les Gaullois doncques estoient adont grandement renommez de chevallerie par dessus tous poeuples du monde; car aussi bien estoient ilz descendus anchiennement des Troyens comme les Rommains.« Wenig später zweifelt der Humanist Robert Gaguin in seinem Compendium de origine et gestis Francorum von 1495 genau dies an: »Verum cum hec de Sycambris et Francorum exortu constantissime narrentur, suboritur tamen mihi ex sententia Caesaris non sine ratione dubitatio« (zitiert nach Robert Bossuat, »Traductions françaises des Commentaires de César à la fin du XVe siècle«, Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, 3 [1943], 253–411, Zitat 388). 26  Es sehr frühes Beispiel bietet Petrarca in seiner Africa (II 575), wo er sich selbst als »Ennius alter« anpreist (siehe Hoffmeister, Petrarca, p.75). Während die Humanisten in ihrer Korrespondenz untereinander meist auf solche Komplimente verzichten, finden wir sie in Briefen an Höhergestellte, so in einem Brief des Humanisten Pico della Mirandola an Lorenzo de’ Medici vom 15.7.1484 (Prosatori latini del Quattrocento, hg. Eugenio Garin, Torino 1977, Bd. VI, 796–805). Hier lobt Pico die Dichtungen Lorenzos zunächst als legitime Kinder der Musen und Grazien (»agnovi Musarum et Gratiarum legitimam feturam«: 796), stellt sie dann über die der gefeierten florentinischen Dichter Petrarca und Dante und lobt schließlich den philosophischen Gehalt dieser Dichtungen. Diese vermittelten den Eindruck, als stammten die darin enthaltenen Gedanken aus Aristoteles und Platon, weil sie so neu und so viel schöner formuliert seien, nicht von diesen beiden, sondern von Lorenzo selbst: »Quot enim ibi ex Aristotele, auditu scilicet physico, ex libris de anima, de moribus, de caelo, ex problematis, quot ex Platonis Prothagora, ex Republica, ex



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Klarer als in anderen Ländern lässt sich ein Unterschied zwischen Humanismus und Renaissance in Italien ausmachen, wo beides verschiedenen Epochen angehört: Dort setzte der Humanismus Mitte des 14. Jahrhunderts ein mit der Suche nach antiken Texten durch Autoren wie Petrarca und ging langsam über in die Renaissance, die man vom Tod von Lorenzo de’ Medici (1492) bis zum Konzil von Trient in der Mitte des 16. Jahrhunderts reichen lassen würde. Hinter beiden Begriffen standen zwei unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Antike: Während der Humanismus durch die Suche nach antiken Texten, die Wiederaufnahme antiker Gattungen und durch Werke über die Antike in Latein sich bemühte, die antike Kultur wiederzubeleben, diese aber in vielem als unerreichbares Ideal ansah, nahmen volkssprachliche Autoren der italienischen Renaissance seit dem Ende des 15. Jahrhunderts die Antike als Ausgangspunkt für eigene Weiterentwicklungen. Die imitatio der Antike durch die Humanisten wurde so zu einer aemulatio mit ihr durch Autoren der Renaissance.27 Räumte der Humanismus aufgrund der wiederentdeckten antiken Texte so mit den anachronistischen Fabeln des Mittelalters auf und stellte ihnen die wahre, historische Antike als Vorbild entgegen, so erlangen Texte der französischen und italienischen Renaissance oft sogar so viel Selbstbewusstsein, dass sie sich im Herrscherlob nicht scheuen, den Gepriesenen über sein antikes Vorbild zu stellen. II. Formen einer panegyrischen Instrumentalisierung der Antike Nach diesem 1. Teil über Formen und Ursachen der Antike-Verehrung in Mittelalter, Humanismus und Renaissance behandelt der 2. Teil die verschiedenen Aspekte, die eine panegyrische Instrumentalisierung der Antike annehmen konnte: Lob auf die Herrscherlinie, Lob auf die eigene Stadt, Lob auf einzelne Herrscher und Lobpreis einer Epoche. 1. Lob auf die Herrscherlinie: fiktive Genealogien Das Lob auf die Herrscherlinie arbeitet seit der Spätantike mit einer angeblichen Abstammung von den trojanischen Königen, ehe vom 14. Jahrhundert Legibus, ex Symposio, quae omnia, quamquam alias apud illos legi, lego tamen apud te ut nova, ut meliora, et in nescio quam a te faciem transformata, ut tua videantur esse et non illorum« (802) – Lorenzo de’ Medici als neuer, schöner formulierender Aristoteles und Platon zugleich! 27  Siehe Giuseppe Petronio, Geschichte der italienischen Literatur, vom Autor für die deutsche Ausgabe gestraffter und aktualisierter Text, übers. Ursula Wagner-Kuon, 3 Bde., Tübingen 1992–93, Bd. I, 156 und 214; Buck, Humanismus, 154–76; Joachim Leeker (Hg.), Renaissance, Tübingen 2003, 5.

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an andere in die Antike zurückreichende fiktive Genealogien auftreten. Eine solche Origo gentis28 ist normalerweise Bestandteil eines größeren Werkes, etwa einer Chronik über den Ursprung des jeweiligen Volkes, und enthält neben dem mythisch verklärten, d. h. faktisch nicht nachprüfbaren Ursprung oft auch angebliche Wanderungen in ein anderes Land, wo dann gesiedelt wird, sowie besondere charakterliche Eigenschaften, die das jeweilige Volk auszeichnen. Nach dem Vorbild von Vergils Aeneis berichten erstmals zwei Zusätze in der sogenannten Fredegar-Chronik des 7. Jahrhunderts, dass die Franken unter Francio aus Troja ausgewandert seien und nach einer Zwischenstation an der Donau am Rhein ein Neues Troja gegründet hätten; der Name »Franci« sei dabei ein von Kaiser Valentinian (4. Jh.) verliehener Ehrentitel im Sinne von »mutig« gewesen. Während hier vielleicht noch eine Verwechslung vorlag,29 beginnt der anonyme Liber historiae Francorum von 727 programmatisch: »Principium regum Francorum eorumque origine vel gentium illarum ac gesta proferamus. Est autem in Asia opidum Troianorum, ubi est civitas quae Illium dicitur, ubi regnavit Aeneas.«30 Hier sind es Priamus und der aus der Aeneis (I 242) bekannte Antenor, die das Volk dann nach der Gründung einer Stadt Sicambria am Don (»Tanais«) bis an den Rhein führen, wo sie schließlich siedeln.31 Autor und Zweck des Liber kennen wir nicht, doch ist der daraus sprechende Stolz auf die trojanische Abstammung der Franken unverkennbar.32 Zur Zeit Karls des Großen war es üblich, dessen Vorfahren Anchis oder Ansegisil von dem Trojaner Anchises abzuleiten, dem Vater des Aeneas.33 Panegyrik in Reinform finden wir in einem wohl von Paulus Diaconus geschriebenen Epitaph auf Rothaid, die Schwester Karls des Großen: Darin stellt sie sich vor als von sehr hoher Abkunft: Denn ihr Bruder 28  Zum Begriff siehe Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen, Berlin 2006. 29  Siehe Leeker, Die Darstellung Cäsars, 32. 30  »Liber historiae Francorum«, hg. Bruno Krusch, Scriptores rerum Merovingicarum 2: Fredegarii et aliorum Chronica. Vitae sanctorum (Monumenta Germaniae Historica), Hannover 1888, 215–328, hier 241 (http: /  / www.dmgh.de / ; Zugriff 10.9.2011). 31  Liber historiae Francorum, 242–44. 32  Der Herausgeber Krusch zeigt (»Liber historiae Francorum«, 215), dass der Text die fränkischen Neustrasier immer »Francos« nenne, die Bewohner der anderen fränkischen Teilreiche jedoch »Austrasios Burgundionesque«. Vielleicht sollte so die Rolle Neustrasiens im fränkischen Verbund betont werden. 33  So schreibt zum Beispiel Paulus Diaconus in seinen Gesta Episcoporum Mettensium (um 784): »[…] cuius Anschisi nomen ab Anchise patre Aeneae, qui a Troia in Italiam olim venerat creditur esse deductum. Nam gens Francorum, sicut a veteribus est traditum, a Troiana prosapia trahit exordium« (»Scriptores rerum Sangallensium. Annales, chronica et historiae aevi Carolini«, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. II, Hannover 1879, 260–68, hier 264; http: /  / www.dmgh. de / ; Zugriff 10.9.2011); weitere Belege bei Leeker, Die Darstellung Cäsars, 32 / 3.



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Karl habe mit Gottes Hilfe Italien (»Ausonias«) erobert; ihr Vater sei Pippin III., Sohn des Sarazenen-Bezwingers Karl Martell; und unter ihren Vorfahren sei auch »Anschisa potens, qui ducit ab illo / Troiano Anchisa longo post tempore nomen.«34 Dieser Mythos von der trojanischen Abstammung der Franken hat sich im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickelt und dabei auch Konkurrenz von anderen europäischen Herrscherlinien bekommen, die sich ebenfalls von den Trojanern herleiteten. All das ist viel zu kompliziert, um es hier im Detail nachzuzeichnen, aber aus den Wandlungen des fränkischen TrojanerMythos’ kann man erkennen, dass es späteren Autoren primär darum ging, das eigene Herrscherhaus genealogisch vorteilhaft darzustellen – ob das noch Panegyrik ist oder nicht einfach nur in Auftrag gegebene politische Propaganda, kann nur schwer gesagt werden. Zwei Beispiele solcher Wandlungen mögen hier genügen: Nach der translatio imperii von Frankreich nach Deutschland (962) bemühen sich deutsche Autoren, die Deutschen als die wahren Nachfahren der Trojaner hinzustellen; es habe nämlich zwei Abstammungslinien gegeben, sagt Gottfried von Viterbo (12. Jh.), Notar und Hofkaplan unter Barbarossa: Die eine gehe von Anchises über Aeneas und die römischen Kaiser bis zu Karl dem Großen; von Priamus aber stamme »universa Theutonicorum nobilitas usque ad eundem Karolum« ab;35 einige französische Autoren des 13. Jahrhunderts revanchieren sich, indem sie die Siedlung der Trojaner am Rhein als ideologische Grundlage für die trojanische Abstammung des fränkisch-deutschen Adels übergehen.36 Und nachdem Geoffrey of Monmouth in seiner Historia regum Britanniae (1136–39) berichtet hatte, wie die Reise des Trojaners Brutus nach England zur Gründung der Stadt »Troia Nova« an der Themse, dem späteren »Lundres«, geführt hatte,37 berichten französische Autoren wie Rigord in seinen Gesta Philippi Augusti von 1208 / 9, schon 895 v. Chr. habe eine Gruppe von Trojanern aus Sicambria unter der Führung von Ibor Frankreich erreicht und dort Paris gegründet38 – Panegyrik für den französischen König, dessen 34  »Epitaphium Rothaidis filiae Pippini regis«, Ernestus Duemmler (Hg.), Poetae Latini medii Carolini, I, Monumenta Germaniae Historica, Berlin 1881, 57 (http: /  /  www.dmgh.de / ; Zugriff 10.9.2011). 35  Gottfried von Viterbo »Speculum regum«, Georg Heinrich Pertz (Hg.), Monumenta Germaniae Historica Scriptores, Bd. XXII, Hannover 1872, 21–93, hier 21 (http: /  / www.dmgh.de / ; Zugriff 10.9.2011). 36  Zum Beispiel Guillaume de Nangis, Les croniques de France, Poitiers, Bibliothèque Municipale, 265, fol. 9v°–10v°. 37  Geoffrey of Monmouth, The Historia regum Britanniae, hgg. Acton Griscom und Robert Ellis Jones, London 1929, Nachdruck Genf 1977, 252 und 301. 38  »Sed revolutis CCXXXV annis, viginti et tria millia ex Trojanis a Sicambria recesserunt habentes ducem nomine Ibor, querentes ubicumque commodum si reperire potuissent et transitum facientes per Alemanniam, Germaniam et Austriam, vene­

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Hauptstadt so ähnlich alt wurde wie London, oder Auftragspropaganda? Wir wissen es nicht. Ähnliches gilt für das Lob einzelner Familien: Auch hier sind bis in die Antike zurückreichende, offensichtlich fiktive Genealogien erhalten, doch ist meist zu wenig über die Texte und ihre Verfasser bekannt, um Näheres sagen zu können. Allerdings deutet es auf eine nachträgliche Erfindung einer Genealogie, wenn darin bereits existierende ältere Elemente umgestaltet werden. Ein solcher Fall liegt etwa in der angeblichen Abstammung der Uberti im Zusammenhang mit der Catilinarischen Verschwörung vor: Im Libro Fiesolano aus dem Ende des 13. oder Anfang des 14. Jahrhunderts wird dazu einfach die schon seit dem 12. Jahrhundert belegte Gründungs­ sage von Fiesole-Florenz umgestaltet.39 Ob dahinter reine Panegyrik auf die Uberti, eine politische Positionierung in den Streitigkeiten innerhalb der Stadt Florenz oder aber eine Glorifizierung der eigenen Familie durch den unbekannten Verfasser stehen, wissen wir nicht. Dass solche Genealogien anscheinend politisches Gewicht haben konnten, lassen die unterschied­ lichen Versionen der Colonna-Genealogie vermuten, wie wir sie in Texten aus dem Ende des 13. Jahrhunderts finden: So finden wir in einem Zusatz zu den Fatti di Cesare, dass die stets kaisertreue Familie der Colonna40 von der römischen gens Iulia, der Familie von Julius Cäsar, abstamme;41 dagegen führt das Chronicon imaginis mundi des Dominikaners Jacopo da Acqui aus der gleichen Zeit die Colonna auf einen Schmied zurück, der auf einer Säule in den Ruinen Roms einen Schatz findet und dann seine Tochter mit einem Bettler verheiratet.42 Das klingt wie ghibellinische Propaganda und runt in Galliam et ibi remanentes sedem suam apud Lutetiam constituerunt, octingentesimo nonagesimo quinto anno ante incarnationem Domini et a Paride Alexandro filio Priami, sibi nomen imponentes, Parisios se vocaverunt.« (Rigord »Gesta Philippi Augusti«, Henri-François Delaborde [Hg.], Œuvres de Rigord et de Guillaume de Breton, historiens de Philippe Auguste, 2 Bde., Paris 1882, Bd. I, 1–167, hier 58). 39  »Libro Fiesolano«, Otto Hartwig, Quellen und Forschungen zur ältesten Geschichte der Stadt Florenz, Marburg 1875, 35–65. 40  Alphons Lhotsky, »Apis Colonna. Fabeln und Theorie über die Abkunft der Habsburger. Ein Exkurs zur Cronica Austriae des Thomas Ebendorfer«, ders., Aufsätze und Vorträge, hgg. Hans Wagner und Heinrich Koller, München 1971, II, 7–102, hier 34; Fedor Schneider, Rom und Romgedanke im Mittelalter. Die geistigen Grundlagen der Renaissance, Köln 1959, 211. 41  »[…] di suo lignaggio sonno nati e’ Colonnesi« (Fatti di Cesare, […] hg. Luciano Banchi, Bologna 1863, 306). 42  Ein Schmied folgt seiner Kuh auf ein großes Ruinenfeld in Rom: »Querit et invenit quoddam edificium. et in medio edificii erat quedam columpna lapidea. et supra columpnam vas de ere plenum maxima pecunia. Vult ferrarius accipere de ista pecunia […]«, aber eine Stimme gebietet ihm, er solle 3 Münzen nehmen, dann werde er auf dem Forum den Besitzer finden. So wirft der Schmied auf dem Forum die Münzen hin. »Et ecce quidam pauper iuvenis invenit unum et accepit et invenit duos.« Der Schmied



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guelfische Antipropaganda bezüglich derselben Familie, aber es kann sich bei der Quelle der Fatti di Cesare auch um Panegyrik auf die Familie Colonna gehandelt haben. Eindeutiger ist die panegyrische Absicht im Orlando Furioso von Ludovico Ariosto (1516). Das zeigt sich nicht nur an der Widmung dieses bunten  Abenteuer-Epos’ an Kardinal Ippolito d’Este, sondern mehr noch durch die Bemerkung in canto XXXV, 22–23, kluge Fürsten machten sich die Dichter gewogen, um nicht so schnell vergessen zu werden; gute Dichter seien jedoch selten – nicht nur, weil der Himmel nur wenige mit Talent ausstatte, sondern auch, weil fürstlicher Geiz manch einen Dichter ins Ausland treibe.43 Fürstenlob gegen gute Bezahlung, diesen Grundsatz setzt Ariosto dadurch um, dass aus der Hochzeit von zwei Hauptfiguren, Ruggiero und Bradamante, am Ende des Werkes einst die Familie der Este hervorgehen wird. Zu ihrer Hochzeitsfeier wird durch Magie ein Zelt herbeigeflogen, das einst die trojanische Seherin Kassandra anfertigt hatte und das den Lauf der Geschichte von Troja bis zu ihrem Höhepunkt in Ippolito d’Este zeigt ­(XLVI, 76–98); das versteht unter den bei der Hochzeit Anwesenden nur die Seherin Melissa (XLVI, 98), aber natürlich auch der Leser. Bei den Hochzeitsfeiern fordert der Sarazene Rodomente den Bräutigam Ruggiero heraus und wird erst nach langem Kampf getötet. Mit diesem Tod endet der Orlando Furioso (XLVI, 140), doch waren schon zuvor andere Komplimente an die Este in den Text eingefügt worden. Nach Ruggieros Bekehrung zum Christentum zeigt ihm der Eremit die Zukunft: Seine Ehefrau werde ihm an einem Ort zwischen Etsch und Brenta einen Sohn gebären, der ebenfalls Ruggiero heißen werde; dieser werde zum Herrscher über die Trojaner und vom Kaiser als Markgraf über dieses Gebiet eingesetzt, das den Namen »Este« haben werde (XLI, 63–65);44 die Prophezeiung des Eremiten endet nimmt den jungen Mann mit zu sich, reinigt ihn und verheiratet ihn mit seiner Tochter. Das Paar hat viele Nachkommen, erwirbt durch das Geld viele Besitztümer, nimmt als Wappen eine Säule und nennt sich und seine Nachkommen »de Columpna« (Jacopo da Acqui, »Chronicon imaginis mundi«, hg. Gustavo Avogadro, Monumenta Historiae Patriae, Scriptores, Bd. III, Turin 1848, 1357–1626, hier 1603 / 4). 43  »Ma come i cigni che cantando lieti / rendeno salve le medaglie al tempio, / così gli uomini degni da’ poeti / son tolti da l’oblio, più che morte empio. / Oh bene accorti principi e discreti, / che seguite di Cesare l’esempio, / e gli scrittor vi fate amici, donde / non avete a temer di Lete l’onde!  /  /  Son, come i cigni, anco i poeti rari, / poeti che non sian del nome indegni; / sì perché il ciel degli uomini preclari / non pate mai che troppa copia regni, / sì per gran colpa dei signori avari / che lascian mendicare i sacri ingegni; / che le virtù premendo, ed esaltando / i vizi, caccian le buone arti in bando« (Ludovico Ariosto, Orlando furioso, 2 Bde., hg. Marcello Turchi, Mailand 1974, Bd. II, 960 / 1 – v. XXXV, 22–23). 44  »Fra l’Adige e la Brenta a piè de’ colli / ch’al troiano Antènor piacqueno tanto, / con le sulfuree vene e rivi molli, / con lieti solchi e prati ameni a canto, / che

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mit berühmten Mitgliedern der Familie Este wie Borso, Ercole, Alfonso, Ippolito und Isabella (XLI, 67). Doch nicht genug, dass damit die Este von Ruggiero und Bradamante aus dem Gefolge Karls des Großen abstammen: Ruggiero berichtet an anderer Stelle, er stamme von dem Trojaner Hektor ab, dessen Sohn Astyanax in Süditalien gesiedelt habe und aus dessen Nachkommenschaft viele römische Kaiser und am Ende sogar Karl der Große hervorgegangen seien (XXXVI, 70–71)45 – was für Vorfahren für die Este!46 2. Lob auf die eigene Stadt: der legendäre Gründer oder Wohltäter einer Stadt Das Lob auf die eigene Stadt führt seit dem 9. Jahrhundert angebliche römische Gründer, Ehrentitel oder Wohltäter an. Dies gilt insbesondere für Frankreich, während man in italienischen Städtegründersagen gerne auf angeblich noch ältere Gründungszeiten zurückgriff. Der Grund besteht da­ rin, dass man in Frankreich Caesars Bellum Gallicum als Folie hatte, während in Italien Konkurrenzdenken dazu führte, die Gründung der eigenen Stadt noch vor die aus Livius bekannte Gründung Roms, also noch vor das Jahr 753 v. Chr. zu legen. In Frankreich ging es ursprünglich wohl um bestimmte Privilegien, die durch den Hinweis auf das angebliche Alter einer Stadt untermauert oder gar erstritten werden sollten. Wenn Flodoard von Reims in seiner Historia Remensis Ecclesiae aus dem Ende des 10. Jahrhunderts berichtet, Reims sei von aus Rom gekommenen Anhängern des Remus gegründet worden, wie ja die Darstellung der römischen Wölfin im Marscon l’alta Ida volentier mutolli, / col sospirato Acanio e caro Xanto, / a parturir verrà ne le foreste / che son poco lontane al frigio Ateste.  /  /  E ch’in bellezza ed in valor cresciuto / il parto suo, che pur Ruggier fia detto, / e del sangue troian rico­ nosciuto / da quei Troiani, in lor signor fia elletto; / e poi da Carlo, a cui sarà in aiuto / incontra i Longobardi giovinetto, / dominio giusto avrà del bel paese, / e titulo onorato di marchese.  /  /  E perché dirà Carlo in latino: – Este / signori qui, – quando faragli il dono, / nel secolo futur nominato Este / sarà il bel luogo con augurio buono; / e così lascierà il nome d’Ateste / de le due prime note il vecchio suono. / […]« (Ariosto, Orlando furioso, Bd. II, 1118 / 9 – v. XLI, 63–65). 45  »Ruggiero cominciò, che da’ Troiani / per la linea d’Ettorre erano scesi; / che poi che Astianatte de le mani / campò d’Ulisse e da li aguati tesi, / avendo un de’ fanciulli coetani / per lui lasciato, uscì di quei paesi; / e dopo un lungo errar per la marina, / venne in Sicilia e dominò Messina.  /  /  – I descendenti suoi di qua dal Faro / signoreggiar de la Calabria parte; / e dopo più successioni andaro / ad abitar ne la città di Marte. / Più d’uno imperatore e re preclaro / fu di quel sangue in Roma e in altra parte, / cominciando a Costante e a Costantino, / sino al re Carlo figlio di Pipino.« (Ariosto, Orlando furioso, Bd. II, 991 / 2 – v. XXXVI, 70–71). 46  Seit 1518 stand Ariosto auf der Liste der stipendiati von Herzog Alfonso d’Este von Ferrara (Ariosto, Orlando furioso, Bd. I, xi).



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Tor von Reims zeige,47 so spiegelt das wohl die Erhebung von Reims zum Erzbistum im Zuge der Karolingischen Kirchenreform wider.48 Nachdem die Sage von verschiedenen Chroniken in vereinfachter Form übernommen worden war,49 macht Eustache Deschamps sie 1380 zum Teil eines Lobgedichtes auf die Stadt Reims50 – und nun haben wir wirkliche Panegyrik vor uns! Anlass war übrigens die Krönung von Karl VI. zum französischen König in Reims am 4.11.1380.51 Ebenfalls in die römische Frühgeschichte griff die heute belgische Stadt Tournai zurück, doch war der Ausgangspunkt hier eine konkrete Forderung, nämlich die nach einem eigenen Bischof, den die Stadt in der Spätantike schon einmal besessen, aber dann durch Zusammenlegung mit dem Bistum von Noyon wieder verloren hatte.52 Um zu zeigen, dass Tournai einen eigenen Bischof verdiene, erfindet der Liber de antiquitate urbis Tornacensis von 1141 eine glorreiche Frühgeschichte der Stadt: Angeblich 610 vor Christus von dem römischen König Tarquinius Priscus als »Tornacus« bzw. »altera Roma« gegründet,53 sei Tournai so schön gewesen, dass die römi47  Flodoard berichtet zunächst von der »vulgata opinio, quae Remum, Romuli fratrem, civitatis huius institutorem ac nominis tradit auctorem«, verwirft sie aber nicht, sondern verfeinert sie nur: »Probabilius ergo videtur, quod a militibus Remi patria profugis urbs nostra condita vel Remorum gens instituta putatur, cum et moenia Romanis auspiciis insignita et editior porta Martis, Romanae stirpis veterum opinione propagatoris, ex nomine vocitata, priscum ad haec quoque nostra cognomen reservaverit tempora. Cuius etiam fornicem prodeuntibus dexterum lupae Remo Romuloque parvis ubera prebentis fabula cernimus innotatum.« (Flodoard von Reims, »Historia Remensis Ecclesiae«, hgg. Johannes Heller und Georg Waitz, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. XIII, Hannover 1881, 409–599, hier 412 / 13 [http: /  / www.dmgh.de / ; Zugriff 10.9.2011]). 48  Aline Poensgen, Geschichtskonstruktionen des frühen Mittelalters zur Legitimierung kirchlicher Ansprüche in Metz, Reims und Trier, Diss. Marburg 1971, 7 / 8 und 15. 49  Siehe Leeker, Die Darstellung Cäsars, 27, Anm. 43. 50  »O tu, cité tresnoble et ancienne, / Qui jadis fus fondée de Remus, / Reins t’appella, de son nom Rancienne; / Romme fonda ses freres Romulus« (Eustache Deschamps, »Ballade 172 [Sur Reims et le Sacre]«, v.1–4 von 27 Versen, ders., Œuvres complètes, 11 Bde., hg. le Marquis [Auguste Henri Edouard] de Queux de Saint Hilaire, Paris 1878–1903, Bd. I, 305 / 6). 51  Note des Marquis de Queux de Saint Hilaire dazu: Deschamps, Œuvres complètes, Bd. I, 396 / 7. 52  Édouard de Moreau, Histoire de l’église en Belgique, 3 Bde., 2. Aufl., Brüssel 1945, Bd. III, 24–27. 53  »[…] regnante Tarquinio a constitutione Urbis centesimo quadragesimo tertio, decimo quoque regni ipsius anno Tornacus, illis temporibus civitas regia, a Romanis regnante Tarquinio edificata est alteraque Roma vocata« (Liber de antiquitate urbis Tornacensis, hg. Georg Waitz, Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd. XIV, Hannover 1883, 352–57, hier 353, Kap.1, http: /  / www.dmgh.de / ; Zugriff 10.9.2011).

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schen Könige fast ihren Amtssitz dorthin verlegt hätten, zumal die Befestigungen, der Reichtum und die politische Bedeutung der Stadt bald sehr groß gewesen seien. Ein berühmter Gründer, die Schönheit der Stadt und ihre politische Bedeutung – das sind traditionelle Topoi des Städtelobs,54 wobei der Anspruch, früher einmal »Zweites Rom« geheißen zu haben, im Laufe des Mittelalters auch noch von anderen Städten erhoben worden ist.55 Im Liber wird Tournai nun vom römischen König Servius zum Steuereintreiber über 125 Städte eingesetzt – eine Übertragung römischer Geschichte auf Tournai, da Servius seinen Nachbarn ebenfalls Steuern auferlegt hatte –, doch als Tournai die Steuern nicht mehr nach Rom weiterleiten will, wird die Stadt von Servius angegriffen; da Tournai nicht besiegt werden kann, erhält es nur den passenden Namen »Hostilis«.56 Natürlich kann hier nicht die gesamte legendäre Frühgeschichte von Tournai nachgezeichnet werden,57 aber es sei auf zwei Aspekte hingewiesen: Zur Zeit Cäsars heißt die Stadt »Nervia«, wird von König Turnus regiert und ist ein bedeutendes Zentrum des heidnischen Götzenkultes; natürlich sollen der Name Turnus an die Kämpfe der Aeneis und das am Ende von Cäsar besiegte Tournai an das brennende Troja erinnern.58 Doch für die Absicht des Liber entscheidender ist, dass göttliche Blitze das heidnische Heiligtum zerstören, als Dämonen die Bewohner der Stadt auffordern, ein Menschenopfer darzubringen, und genau an der Stelle dieses Heiligtums wird Jahrzehnte später das Christentum gepredigt:59 Eine frühe christliche Kultstätte auf den Ruinen eines bedeutenden heidnischen Tempels – das kannte man von etlichen Kirchen Roms, und vor allem dieses Argument des im Liber enthaltenen Städtelobs sollte wohl zum eigenen Bistum führen. 54  Carl Joachim Classen, Die Stadt im Spiegel der Descriptiones und Laudes urbium in der antiken und mittelalterlichen Literatur bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Hildesheim 1980, 16, 26 u. 34 / 5; Paul Gerhard Schmidt, »Mittelalterliches und humanistisches Städtelob«, August Buck (Hg.), Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance, Hamburg 1981, 119–28. 55  Etwa von Byzanz, Aachen, Autun, Mailand, Reims, Florenz, Tongern oder Trier: siehe mit Belegen Leeker, Die Darstellung Cäsars, 27. 56  Liber de antiquitate urbis Tornacensis, 353, Kap.1 (http: /  / www.dmgh.de / ; Zugriff 10.9.2011). 57  Dazu siehe Joachim Leeker, »La chronique locale fabuleuse«, Actes du XVIIIe Congrès International de Linguistique et de Philologie Romanes, hg. Dieter Kremer, 7 Bde., Tübingen 1988, Bd. VI, 176–89, hier 180–84. 58  »…constituerunt sibi regem nomine Turnum sub specie Turni qui adversus Æneam dimicavit; Cesaremque Æneam vocaverunt ad similitudinem Æneæ qui Troia devicta Italiam venit. […] Hæc quoque tam ampla civitas, quæ quondam altera Roma nomine et dignitate nuncupabatur, iam quasi Troia destructa videbatur« (Liber de antiquitate urbis Tornacensis, 355 / Kap. 5 und 356 / Kap. 11). 59  Die heidnische Kultstätte befand sich »in vico qui dicitur Platea, ubi postea sanctus predicavit Piatus«, Liber de antiquitate urbis Tornacensis, 355 / Kap. 9.



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In Italien, wo die Gründungssagen wegen der Konkurrenz zu Rom viel weiter zurückreichten und oft auf eine euhemeristisch interpretierte griechische Mythologie oder auf Nachrichten des Alten Testaments zurückgriffen – im 10. Jahrhundert wollte etwa Rom unter dem Namen »Noe« von Noah persönlich gegründet worden sein60 –, haben wir statt eines römischen Gründers oft einen römischen Wohltäter: Wenn dieser Vergil heißt wie im Fall von Neapel, haben wir ähnlich legendäre Züge wie in der angeblichen Frühgeschichte französischer Städte. So berichtet etwa die Cronaca di Partenope des 14. Jahrhunderts, dass Vergil – in der Fantasie des Mittelalters zu einem Zauberer avanciert61 – die Stadt durch Zauberkraft vor mehreren Invasionen von Fliegen, Schlangen und Heuschrecken gerettet, mit einem Übermaß an Lebensmitteln, mit wunderwirksamen Heilmitteln sowie mit Bädern und Grotten ausgestattet habe. In einer Kammer des Castel dell’Ovo in Neapel liege ein von Vergil durch Zauberkraft geschaffenes Ei in einer Karaffe, das ein Sicherheitsgarant der Stadt sei62 – eine Art neapolitanisches Palladium! Mit dem Beginn des Humanismus verschwindet eine solchermaßen zum Städtelob instrumentalisierte Antike aus der Literatur, und zwar zunächst in Italien: Einer Sage des 12. Jahrhunderts zufolge war der Ort Fiesole oberhalb von Florenz in mythischer Zeit von Atlas und Elektra auf den Rat Apolls gegründet, aber als Folge der Catilinarischen Verschwörung zerstört worden – doch habe Cäsar als Ersatz dafür dann im Tal nach dem Abbild Roms die Stadt Florenz erbaut.63 Diese Sage war im Lauf der Zeit immer mehr ausgeschmückt worden, bis Ende des 14. Jahrhunderts der Humanist Benvenuto da Imola sie als »multa falsa […], multa magnifice ficta ad exaltationem suæ patriæ«, also als viel Falsches, als glorreiche Erfindung zur Verherrlichung des Vaterlandes einstuft und ihre Komponenten vor dem Hintergrund historischer Überlieferung systematisch widerlegt.64 Doch während Benvenuto einräumt, er kenne die wahren Gründungsumstände von Florenz nicht, erklärt Leonardo Bruni zu Beginn des 15. Jahrhunderts unter Berufung auf Cicero, Sallust und Plinius, Florenz sei von sullanischen Veteranen gegründet worden, die ihre Kolonie auf dem Berg von Fiesole aus Bequemlichkeit verlassen und sich im Tal angesiedelt hätten.65 So wird man 60  Siehe

Lhotsky, »Apis Colonna«, 12 / 3. Comparetti, Virgilio nel Medio Evo, hg. Giorgio Pasquali, 2 Bde., 3. Aufl., Florenz 1967, Bd. II; zur Legende vom Castel dell’Ovo siehe hier, 127–32. 62  Cronaca di Partenope, hg. Antonio Altamura, Neapel 1974, 81 / Kap. 31. 63  Leeker, Die Darstellung Cäsars, 307–14. 64  Benvenuto da Imola, Comentum super Dantis Aldigherij Comoediam, […] hg. Jacobo Philippo Lacaita, 5 Bde., Florenz 1887; Kommentar zu Inferno XV 62, Bd. I, 509–11, Zitat 509. 65  »Florentiam urbem Romani condidere a Lucio Sylla Fesulas deducti. Fuerunt autem hi Syllani milites, quibus ob egregiam cum in caeteris tum in civili bello 61  Domenico

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es auch in späteren Darstellungen der florentinischen Geschichte finden. Humanistisches Städtelob auf Florenz kennt keine anachronistischen Fabeln mehr, sondern betont die Friedensliebe der Medici, die Bedeutung der florentinischen Sprache oder generell die kulturelle Leistung der Stadt, die so quasi Athen abgelöst habe.66 3. Lob auf einzelne Herrscher: antike Persönlichkeiten als Vergleich Das Lob individueller Herrscher stellt den Gepriesenen neben vorbildliche Gestalten der Antike. Diese Form einer panegyrischen Inanspruchnahme der Antike existiert bereits im Mittelalter, wenn sie auch sicher nicht immer als solche verstanden wurde. Was beinhalten Beinamen wie »Homer« für Angilbert oder »Naso« für Moduin,67 die sich die Mitglieder der Hofschule um Karl den Großen beilegten, letztlich anderes als die Vorstellung, dass diese Großen der antiken Literatur in den Zeitgenossen Karls wieder auferstanden seien? Und was war die Verwendung des Namens »Caesar« ursprünglich anderes als ein Kompliment, ehe dieser dann als Titel für den Kaiser verstanden wurde? Seltener ist der Beiname »Augustus« – wie bei dem französischen König Philippe II. Auguste –, der offenbar noch als Panegyrik verstanden wurde: Philippe erhielt diesen Beinamen, der als »Vermehrer« gedeutet wurde, von seinem Biographen Rigord.68 Und als navatam operam, pars fesulani agri est attributa, et Fesulae una cum veteribus incolis sedes traditae. […] Per hunc igitur modum a L. Sylla militibus Fesulas deductis, agrisque viritim divisis, eorum plerique urbem montanam et difficilem aditu, praesertim in illa securitate romani imperii, minime sibi necessariam arbitrati, relicto monte, in proxime subiecta planitie, secus Arni Munionisque fluviorum ripas, conferre aedificia et habitare coeperunt. Novam urbem, quod inter fluenta duo posita erat, Fluentiam primo vocitarunt« (Leonardo Bruni, »Historiarum Florentini populi libri XII«, hg. Emilio Santini, Rerum Italicarum Scriptores, Bd. XIX, 3, Città di Castello 1926, 5 / 6). 66  Siehe Manfred Lentzen, »Le lodi di Firenze di Cristoforo Landino. L’esaltazione del primato politico, culturale e linguistico della città sull’Arno nel Quattrocento«, Romanische Forschungen, 97 (1985), 34–43. 67  Siehe die Dichtungen dieser beiden: Monumenta Germaniae Historica, Poeti latini aevi Carolini, Bd. I, hg. Ernestus Duemmler, Berlin 1881 (http: /  / www.dmgh. de / ; Zugriff 10.9.2011). 68  Im Prologus seiner Gesta Philippi Augusti erklärt Rigord, warum er König Philipp den Beinamen »Augustus« gegeben hat: »Sed forte miramini quod in prima fronte hujus operis voco regem Augustum. Augustos enim vocare consueverunt scriptores, Cesares qui rempublicam augmentabant, ab augeo, auges dictos; unde iste merito dictus est Augustus ab aucta republica. Adjecit enim regno suo totam Viromandiam quam predecessores sui tempore amiserant et multas alias terras; redditus etiam regum plurimum augmentavit. Natus est enim mense Augusto, quo sci-



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Panegyrik muss man es auch deuten, wenn Dante in seinen Briefen den zukünftigen Kaiser Heinrich VII. nicht nur in Vorwegnahme seiner Ernennung als »Caesar«, sondern gleich auch noch als »Augustus« und seine Gattin Margerita als »Augusta« bezeichnet69 sowie Heinrichs ältesten Sohn Johannes als »alter Ascanius«.70 Interessanter als die bloße Nennung solcher Attribute ist dabei, was sie implizieren, und da zeigen sich in Mittelalter und Humanismus zum Teil recht unterschiedliche Akzente. Für viele Autoren des Mittelalters ist Augustus derjenige, der im römischen Weltreich Frieden schuf, eine wichtige Voraussetzung für die Ankunft Christi.71 Sein größter Sieg war der über Cleopatra, das große Hindernis für diese gottgewollte römische Einheit.72 Genau das meint wohl auch Dante, wenn er Heinrich VII. als »Augustus« bezeichnet, denn von ihm erhoffte er sich eine Einigung Italiens durch Beseitigung der inneritalienischen Zwietracht.73 Ganz anders der Humanist Petrarca: Sein Augustus ist vor allem Mäzen, Förderer der Kultur, bis Petrarca 1356 Karl IV. in Prag aufsucht und von dessen Bautätigkeit beeindruckt ist. Nun ist der Kulturpolitiker Augustus bei Petrarca vor allem der licet mense replentur horrea et torcularia, et omnia temporalia bona redundant« (Rigord, Gesta Philippi Augusti, Bd. I, 6). 69  So heißt es zum Beispiel in Brief 5 § 2 an die Könige und Fürsten Italiens vom Oktober 1310: »Henricus, divus et Augustus et Cesar«, und Königin Margerita wird in Brief 9 von 1311 als »semper Augusta« angeredet (Dante Alighieri, Le opere minori, hg. Enrico Bianchi, Florenz 1964, 698 und 730). 70  Dante, Brief 7 § 5 (Le opere minori, 722). 71  Siehe Joachim Leeker, »Gottgewollter Weltherrscher oder Kulturpolitiker auf dem Kaiserthron? Augustus in der italienischen Literatur des Trecento«, Zeitschrift für romanische Philologie, 109, 1–2 (1993), 113–35, hier 115–19; Dante, Monarchia, I 16: »Rationibus omnibus supra positis experientia memorabilis attestatur, status videlicet illius mortalium quem Dei Filius, in salutem hominis hominem assumpturus, vel expectavit vel cum voluit ipse disposuit. Nam si a lapsu primorum parentum, qui diverticulum fuit totius nostre deviationis, dispositiones hominum et tempora recolamus, non inveniemus nisi sub divo Augusto monarcha, existente Monarchia perfecta, mundum undique fuisse quietum« (Dante, Le opere minori, 560). 72  Während Cleopatra in Inferno V 63 als Inkarnation der Wollust erscheint, klagt sie in Paradiso VI 76–78 über Augustus’ Sieg; erst nach ihrem Tod kann Augustus den Weltfrieden schaffen (VI 80): Über das, was der römische Adler mit Cäsars Nachfolger Augustus (»col baiuolo seguente«: VI 73) machte, »piangene ancora la trista Cleopatra, / che, fuggendogli innanzi, dal colubro / la morte prese subitana e atra« (VI 76–78). Mit Augustus sei der römische Adler bis zum Roten Meer gekommen (VI 79), »con costui pose il mondo in tanta pace, / che fu serrato a Giano il suo delubro.«, VI 80 / 1 (Dante Alighieri, La Divina Commedia, hg. Dino Provenzal, 3 Bde., Mailand 1974, hier Bd. III, 672). 73  So die Aufforderung an die Fürsten Italiens in Brief 5, sich Heinrich zu unterwerfen, Dante, Le opere minori, 696–705.

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Erbauer von Tempeln und prunkvollen Palästen.74 Auch die panegyrische Verwendung des Namens Augustus zeigt ein neues Gesicht: So lobt Petrarca Francesco da Carrara, den Herrn von Padua, dass er Petrarca mit »ich« anrede – wie einst Augustus – und nicht im Pluralis maiestatis,75 und so lobt er sowohl König Robert von Anjou als auch Kaiser Karl IV., dass sie wie einst Augustus die Kultur förderten und den direkten Kontakt mit so­ zial weit unter ihnen stehenden Leuten nicht scheuten.76 Lange Jahre hatte Petrarca in seiner Zeit einen Förderer der Kultur wie Augustus vermisst,77 aber dann begrüßt er in Karl. IV. die lang ersehnte Rückkehr eines neuen Augustus.78 Es ist diese Vielfalt der möglichen Bedeutungen, die einen panegyrischen Vergleich mit Augustus bei einem Humanisten wie Petrarca von der eher stereotypen Verwendung solcher Vergleiche im Mittelalter abgrenzt. Eine besondere Art von Panegyrik entstand im Frankreich des 14. Jahrhunderts: Schon im 12. Jahrhundert war der Gedanke einer translatio militiae aufgekommen, der zufolge höchste Tapferkeit und militärische Kunst von der Antike auf das Frankreich der eigenen Zeit übergegangen sei.79 Vom 14. Jahrhundert an finden wir dann jenen Kanon aus vorbildlichen Rittergestalten, der unter dem Namen Neuf Preux bekannt ist und – erstmals in den Vœux du paon des Jacques de Longuyon von 1312 belegt – drei Feldherren der Antike (Hektor, Alexander, Cäsar), drei Juden (Josua, David, Judas Makkabäus) und drei Christen (Artus, Karl den Großen, Gottfried von Bouillon) vereint.80 In der einfachsten Form werden diese vorbildlichen Ritter lediglich aufgezählt oder ihr Tod als Beweis für die Dekadenz der eigenen Zeit genommen, in der es derartige proesce nicht mehr gebe.81 Manchmal jedoch wird den Neuf Preux als 10. ein Fürst oder Feldherr der eigenen Zeit an die Seite gestellt, und das ist die Form von Panegyrik, um die es hier geht. Vor allem in der Dichtung finden wir so als 10. Preux 74  Leeker,

»Gottgewollter Weltherrscher«, 126–32. Seniles XIV 1, Francesco Petrarca, Lettere senili, übers. Giuseppe Fracassetti, 2 Bde., Florenz 1870, Bd. II, 372 / 3. 76  Lob auf Robert von Anjou in Brief Familiares IV 7, §5, vom 30.4.1341 und auf Karl IV. in Familiares XXIII 2, §4, vom 21.3.1361, siehe Francesco Petrarca, Le Familiari, hgg. Vittorio Rossi und Umberto Bosco, 4 Bde., Florenz 1933–42, hier Bd. I, 172 und Bd. IV, 157. 77  So in Familiares I 2, §6, vom 18.4.1350, Petrarca, Le Familiari, Bd. I, 16. 78  »… miro quidem Dei favore nunc primum in te nobis post tot secula mos patrius et Augustus noster est redditus« (Familiares X 1, §10, vom 24.2.1351: Petrarca, Le Familiari, Bd. II, 280). 79  Chrétien de Troyes, Cligés, hg. Alexandre Micha, Paris 1982, 2 (v. 28–42). 80  Leeker, Die Darstellung Cäsars, 3; Horst Schröder, Der Topos der Nine Worthies in Literatur und bildender Kunst, Diss. Göttingen 1971, 42–66. 81  Schröder, Topos, 67–167. 75  So



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König Peter I. von Zypern, der die Idee der Kreuzzüge wiederbelebte und 1365 Alexandria eroberte,82 meist jedoch Bertrand du Guesclin, den langjährigen und sehr erfolgreichen Oberkommandierenden der französischen Truppen im Hundertjährigen Krieg.83 Seit dem 15. Jahrhundert wurden aus diesen einfachen Erwähnungen auch längere Schilderungen der Taten, die eine Zurechnung zu diesem Kreis rechtfertigten, und eine von ihnen, der anonyme Triomphe des Neuf Preux von 1487, enthält auch die Vita eines 10. Preux, und zwar wieder die des Bertrand du Guesclin. Wie lebendig diese Art von Panegyrik noch Ende des 15. Jahrhunderts war, mag man daran erkennen, dass 1477 nach der Schlacht von Nancy der siegreiche Herzog René von Lothringen die in einer Kapelle aufgebahrte Leiche seines im Kampf gefallenen Gegners, des burgundischen Herzogs Karls des Kühnen, im Gewand eines der Neuf Preux aufsuchte – wohl um den Toten als 10. Preux zu ehren.84 Mit dem Vordringen der Artillerie im 16. Jahrhundert ist diese Form von Heldenkult dann vorbei. Für eine letzte Form panegyrischer Verwendung antiker Namen soll hier auf ein Beispiel aus der italienischen Literatur des 16. Jahrhunderts zurückgegriffen werden. Wie oben etwa am Beginn von Chrétien de Troyes’ Roman de Perceval (nach 1181) gesehen, hatte man im Mittelalter trotz der offiziellen Lehre vom sündigen Menschen keine Probleme damit, z. B. den gefeierten Adressaten eines Werkes auch über einen antiken Heros wie Alexander den Großen einzustufen. Es ist der Humanismus mit seiner tieferen Kenntnis der Antike, der hier antike Vorbilder wie Augustus bestenfalls als Vergleich zulässt, so dass der Gefeierte allenfalls zu einem »neuen Augustus« wird. Autoren des 16. Jahrhunderts beginnen erneut, den gefeierten Adressaten über sein antikes Vorbild zu stellen, begründen dies jedoch weit weniger stereotyp und fügen dem Vergleich zum Teil sogar eine unterschwellige Botschaft bei, die den Gepriesenen sehr stark in die Rolle seines antiken Vorbildes drängt. Im Zentrum dieser Überlegung steht die Herzog Alfonso d’Este gewidmete Tragödie Il Cesare von Orlando Pescetti (1594).85 Sie zeigt, wie viele andere Cäsar-Tragödien auch, die Ermordung Julius Cäsars. Doch erhält die Thematik unter dem Einfluss der Gegenreformation hier religiöse Züge. Das beginnt in der Widmung damit, 82  Guillaume de Machaut, La Prise d’Alexandrie, hg. Louis de Mas-Latrie, Genf 1877, 218 (v.7170–7195). 83  Hauptquelle sind die Dichtungen von Eustache Deschamps, wo man Bertrand du Guesclin gleich mehrfach als 10. Preux findet, so zum Beispiel in Ballade 207, 362 oder Dit 29 (Deschamps, Œuvres complètes, Bd. II, 29 / 30, Bd. III, 100–2, und Bd. X, xxxvi / i); weitere Stellen bei Schröder, Topos, 203–16. 84  Schröder, Topos, 205. 85  Orlando Pescetti, Il Cesare. Tragedia, dedicata al Sereniss. Principe Donno Alfonso II. d’Este, Duca di Ferrara, Verona (G. Discepolo) 1594.

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dass der Autor auf die Verwandtschaft zwischen den Este und Cäsars gens Iulia über gemeinsame trojanische Vorfahren und auf die vielen Übereinstimmungen zwischen Cäsar und Alfons wie Gestalt und Intelligenz hinweist;86 doch besitze Alfons die Cäsar-Tugenden Magnanimità, Magnificenza, Liberalità und Clemenza in weit stärkerem Maße als sein antikes Vorbild und sei vor allem ein Christ.87 Christlich ist auch die Weltverachtung in gelassener Erwartung des Todes, die der Chor am Ende als Lehre aus Cäsars Tod zieht.88 Doch zwischen den Zeilen enthält der Text noch eine andere Botschaft: Da Cäsar hier keineswegs ein Tyrann ist, sondern nur – fast calvinistisch – an eine vorherbestimmte Gnade Gottes für sich selbst glaubt89 und da die hier außerordentlich frommen Cäsar-Mörder Brutus und Cassius in ihren Reden eher an zeitgenössische Theologen als an römische Politiker erinnern,90 dürfte dahinter eine unterschwellige Warnung an Alfons – der als Beschützer von Protestanten bekannt war – stehen, er könnte seine Herrschaft über das zum Kirchenstaat gehörende Herzogtum Ferrara verlieren.91 86  Würde Cäsar wiederkehren, würde er erstaunt ausrufen: »Or, come è che in terra io veggia di me stesso l’Idea« (Pescetti, Il Cesare, Widmung, unpaginiert). 87  Pescetti, Il Cesare, Widmung, unpaginiert. 88  »Cadono le città, cadono i Regni, / […] / E sgombrata del petto / La nebbia dell’affetto, / Con riposata, e pura / Mente l’opre contempla di natura. / E chiaro vedrai meco, / che questo mondo è una perpetua guerra. […] / Dunque poich’è pur forza / Morir, nè contra morte / Giova saper, né forza / Disponianci a riceverla con forte,  /  /  E intrepido cuore, / Ch’el mal si fa minore, / Quando avvien, ch’altri in pazienzia il porte« (Pescetti, Il Cesare, 149 / 50 – Szene V 5). 89  In III 4 (Pescetti, Il Cesare, 83) sagt Cäsar: »L’huom ch’è da Dio difeso e custodito, / Anco ne’ boschi inospiti e selvaggi / Dormir può solo e disarmato, ch’egli / Offeso non sarà; chi l’hà nemico, / Nè da finezza d’arme nè d’altezza / E grossezza di muro, che lo cinga, / Nè da provida cura, che di sua / Salute egli abbia, fia da lui difeso. Ogni ventura di la sù discende.« Die Idee vom Menschen, den Gott als Feind hat, klingt wie die berühmte Prädestinationslehre der Calvinisten. 90  In IV 1 (Pescetti, Il Cesare, 89) sagt Cassius: »Il cielo anzi sovente i giusti preghi / De’ cuor devoti ascolta.« In IV 4 (Pescetti, Il Cesare, 79) betet Brutus: »Ch’aver senza l’aiuto tuo non puote / Felice fin opra mortal; & erra / Miseramente quei, che nella sua / Prudenza confidato osa diporre / Man a gran cose; e spesso della sua / Temerità porta la pena, e prova / Ch’ ogn’ umana prudenza è folle e cieca, / Ove non luca e scorga il divin lume.« Das richtete sich natürlich gegen Cäsar. 91  Alfons II. war ein Anhänger des Protestantismus. Schon 1560 hatte er auf Druck des Papstes seine Mutter, die bekennende Calvinistin Renée de France, auffordern müssen, Ferrara zu verlassen und nach Frankreich zurückzukehren; oft weigerte er sich, Leute, die als Ketzer angeklagt worden waren, den kirchlichen Behörden auszuliefern. Hinzu kam eine andere Gefahr: Da das Herzogtum Ferrara Teil des Kirchenstaates war, Alfons es also nur als Lehen des Heiligen Stuhls besaß, aber keine Kinder hatte, würde das Herzogtum nach seinem Tod wohl unter die direkte Herrschaft der Kirche geraten (Dizionario storico politico italiano, hg. Ernesto Sestan, Florenz 1971, passim).



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4. Das Lob einer Epoche Eigene Wege geht das Lob einer Epoche: An die Stelle der etwa aus der Aeneis bekannten »historischen Durchblicke« auf die gelobte Zeit des Augustus,92 die im Humanismus gelegentlich wieder aufgegriffen werden,93 tritt im Mittelalter meist ein pauschales Lob der Vergangenheit – symptomatisch ist der Anfang des Alexius-Liedes aus dem 11. Jahrhundert: »Bo[e]ns fut li s[i]ecles al tens anciënur.«94 Da man sich noch in derselben Epoche wähnte wie die Antike, wurde diese oft anachronistisch umgestaltet, damit antike Heldengestalten auch als Vorbild für die eigene Zeit dienen konnten:95 Die oben beschriebenen Neuf Preux funktionieren nach genau diesem Muster. Wie bereits beschrieben, bedeutete die Wiederentdeckung der Antike durch den Humanismus primär eine Modifizierung der Darstellung: Die Antike wurde weiterhin verehrt, nur dass man sie nun besser kannte. Ihren Vorbildcharakter verlor die Antike eigentlich jahrhundertelang nicht, nur dass die Einstellung dazu freier wurde. So galten in Frankreich und Italien bis ins 19. Jahrhundert hinein wie selbstverständlich für das Theater die einst von Aristoteles und Horaz entwickelten Regeln. Gattungen wie der Roman, die in den antiken Poetiken nicht behandelt worden waren, hatten es lange Zeit schwer, Anerkennung zu finden. Was die meist unausgesprochene Bewunderung für die Antike langsam zurückdrängte, war der technische Fortschritt. Lange Zeit wurde dieser nicht Aeneis VI 791–805 und VIII 671–728. Buch I und II von Petrarcas Africa erscheint dem Scipio Africanus sein Vater im Traum, um ihn zu trösten, indem er ihm Roms zukünftige Größe und auch Scipios zukünftigen Ruhm zeigt. Er sehe schon vor sich einen »neuen Ennius« aus der Toscana – natürlich Petrarca selbst –, der viele Jahrhunderte später seine Taten besingen werde, wobei ihm dieser neue Ennius lieber sei als der ursprüngliche, weil er nämlich nur durch Bewunderung und Wahrheitsliebe motiviert werde: »Cernere iam videor genitum post secula multa / finibus etruscis iuvenem qui gesta renarret, / nate, tua et nobis veniat velut Ennius alter. […] verum multo michi carior ille est / qui procul ad nostrum reflectet lumina tempus. / In quod eum studium non vis pretiumve movebit, / non metus aut odium, non spes aut gratia nostri; / magnarum sed sola quidem admiratio rerum, / solus amor veri.« (Petrarca, Africa, v. II 441–43 und II 449–54, Francesco Petrarca, Rime, Trionfi e Poesie latine, hgg. Ferdinando Neri, Guido Martellotti, Enrico Bianchi und Natalino Sapegno, Mailand / Neapel 1951, 634 / 636). 94  Sankt Alexius. Altfranzösische Legendendichtung des 11.  Jahrhunderts, hg. Gerhard Rohlfs, 5. Aufl., Tübingen 1968, 1. 95  Siehe Guy Renaud de Lage, »Les romans antiques et la représentation de l’antiquité«, in: Le Moyen Age, 67 (1961), 247–91; Jean Frappier, »Remarques sur la peinture de la vie et des héros antiques dans la littérature française du XIIe et du XIIIe siècle«, L’humanisme médiéval dans les littératures romanes du XIIe au XIVe siècle. […] Actes […] hg. Anthime Fourrier, Paris 1964, 13–54. 92  So 93  In

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als Widerspruch zur weiterhin bewunderten Antike gesehen, denn die hatte ja die Basis dafür gelegt.96 Ein Beispiel dafür ist die Komödie Julius redivivus von Nicodemus Frischlin aus dem Jahre 1585. Hier besuchen Cäsar und Cicero das Deutschland des 16. Jahrhunderts und staunen natürlich über technische Errungenschaften wie Schusswaffen oder Buchdruck; ersteres wird jedoch eingeschränkt durch Hinweise auf die davon ausgehende Zerstörungskraft und letzteres dient nach wie vor einer Neuauflage der antiken Kultur.97 Ein Abweichen von dem antiken Vorbild wird nicht erwogen – nur dass sich Frischlin natürlich an christlichen Werten orientiert.98 Aber AntikeVerehrung bei gleichzeitiger Betonung der christlichen Überlegenheit ist in Frischlins Zeit durchaus üblich.99 Erst Ende des 17. Jahrhunderts wird man es in Frankreich wagen, die eigene Zeit ausdrücklich über die Zeit des Augustus zu stellen. In seinem provozierenden Gedicht Le Siècle de Louis le Grand von 1687 sagte Charles Perrault: La belle antiquité fut toujours vénérable; Mais je ne crus jamais qu’elle fût adorable. Je vois les anciens, sans plier les genoux; Ils sont grands, il est vrai, mais hommes comme nous; Et l’on peut comparer, sans craindre d’Être injuste, Le siècle de Louis au beau siècle d’Auguste. […]

Nach der Vergleichbarkeit kommt die eindeutige Bevorzugung des 17. Jahrhunderts: Mais si le règne heureux d’un excellent monarque Fut toujours de leur prix et la cause et la marque, Quel siècle pour ses rois, des hommes révéré, Au siècle de Louis peut être préféré De Louis, qu’environne une gloire immortelle, De Louis, des grands rois le plus parfait modèle?100 96  Zu humanistischen Bekenntnissen zum Fortschritt aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts (Pico della Mirandola, Benedetto Accolti, Alamanno Rinuccini) siehe Buck, Humanismus, 131–33. 97  Nicodemus Frischlin, Julius redivivus, hg. Walther Janell. Mit Einleitungen von Walther Hauff, Gustav Roethe, Walther Janell, Berlin 1912, 102–5 (Szene III 1, v. 1289–1335). Hier lobt Cicero auf Eobanus’ Fragen eine ganze Reihe deutscher Dichter und Philosophen des 16. Jahrhunderts, als wären sie neue Autoren der Antike: Leonhard Fuchsius etwa sei wie Cato, und in Jacob Schegk stecke Aristoteles. 98  Joachim Leeker, »Frischlins Cäsar-Stücke im Spiegel der Tradition«, Sabine Holtz / Dieter Mertens (Hgg.), Nicodemus Frischlin (1547–1590). Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters, Stuttgart 1999, 563–91, hier 582. 99  Siehe August Buck, Die Rezeption der Antike in den romanischen Literaturen der Renaissance, Berlin 1976, 228–36. 100  Charles Perrault, Le Siècle de Louis le Grand, zitiert nach: http: /  / fr.wikisource. org / wiki / Le_Si %C3 %A8cle_de_Louis_le_Grand; Hervorhebung von Joachim Leeker.



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Noch niemand war aus panegyrischen Gründen so weit gegangen zu sagen, dass die eigene Zeit jedem anderen Jahrhundert vorzuziehen sei, auch dem des Augustus. Vermutlich war das nicht das Ende einer panegyrischen Verwendung der Antike, denn die Querelle des Anciens et des Modernes, an deren Anfang dieses Gedicht stand, endete unentschieden, aber inzwischen haben wir den hier gesetzten zeitlichen Rahmen der Renaissance weit hinter uns gelassen. III. Zusammenfassung Sowohl Mittelalter als auch Humanismus und Renaissance verehrten die Antike, wenn auch aus anderen Gründen und mit einem unterschiedlichen Kenntnisstand. Waren die fiktiven Genealogien, besonders die angebliche Abstammung von den Trojanern, im Mittelalter vor allem auf Herrscherhäuser und ihre politischen Ansprüche beschränkt, so werden sie spätestens im 16. Jahrhundert, wie Ariostos Orlando furioso zeigte, ein willkommenes Mittel der Panegyrik, mit dem sich ein Autor Vorteile erhoffte. Eine Wandlung konnten wir auch beim Städtelob beobachten: Bediente dieses sich im Mittelalter unter anderem eines legendären Alters, einiger Parallelen zur römischen Geschichte oder berühmter Wohltäter als Ausdruck politischen Prestiges oder sogar konkreter Ansprüche, so stuft der Humanismus diese Topoi als Fabeln ein. Bereits im Mittelalter konnte man einzelne Personen loben, indem man sie mit antiken Persönlichkeiten verglich; doch waren solche Vergleiche anfangs noch recht stereotyp, so wurden sie immer vielschichtiger, je mehr man von den antiken Vorbildern wusste. Darum gehörte auch die französische Sonderform des 10. Preux noch dem Mittelalter an, da die Gemeinsamkeit mit den anderen neun Preux sich auf die Tapferkeit beschränkte; anders Pescettis Il Cesare, wo die Angleichung von Cäsar an Alfons II. sehr weit ging, damit der Herzog darin eine Warnung für sich selbst sehen konnte. Das Lob einer Epoche bleibt zunächst recht pauschal: Die historischen Durchblicke des antiken Epos sind nun weitgehend unbekannt: Für das Mittelalter war die Antike nur die gute alte Zeit, und diese Verehrung blieb auch bestehen, nachdem man im Humanismus mehr über die Antike erfahren hatte. Fortschritt und Antike-Verehrung schlossen sich lange Zeit nicht aus, bis Perrault es 1687 wagte, aus panegyrischen Gründen die Zeit Ludwigs XIV. über die des Augustus einzustufen – doch bedeutete dieser Knalleffekt keineswegs das Ende der Antike-Verehrung.

Von der Donna angelicata zur gloriosa Beatrice Stilo della loda oder Lobpreis der Herrin beim frühen Dante und den Stilnovisten Von Gisela Seitschek I. Einleitung Lo stilo della loda – so bezeichnet Dante Alighieri selbst den mittleren Teil seiner Vita Nova, also den Themenkreis an Gedichten, die sich mit dem Lobpreis seiner Herrin Beatrice befassen.1 Inwieweit er dabei bereits vorhandenes Material seiner stilnovistischen Vorgänger aufgreift, fortführt und sogar überhöht, soll im Lauf dieses Beitrages gezeigt werden. Zunächst wird jedoch der Text der Vita Nova als Ganzes in den Blick genommen, unter besonderer Berücksichtigung der Anordnung bzw. der Struktur des Werkes, welche auch inhaltlich eine Rolle spielen. Davon ausgehend wird sich in Kap. III das Augenmerk auf die sogenannten Stilnovisten richten – also auf jenen Kreis von Liebesdichtern, denen auch der junge Dante zuzurechnen ist. Im Anschluss daran kehrt die Untersuchung auf die Vita Nova zurück, um den eigentlichen stilo della loda vor diesem Hintergrund des Dolce Stil Novo zu betrachten. Dabei soll besonders die Überlegung im Vordergrund stehen, wie Dante selbst am Ende seines libello diesen stilo della loda übersteigt. Die These der vorliegenden Studie lautet demnach: Mit dem Lobpreis Beatrices, die von Anfang an übernatürliche Züge erhält, geht Dante weit über seine Vorgänger hinaus. Zwar hatten auch die Stilnovisten ihre Herrin als engelgleiches Wesen gerühmt; bei keinem von ihnen findet sich jedoch eine derartige Spiritualisierung der Liebe bzw. der Geliebten, dass die donna noch über den Tod hinaus in der Transzendenz als Heilige des Paradieses verherrlicht würde.

1  Dante formuliert wörtlich: lo stilo della sua loda (VN 17, 4). Der Text der Vita Nova (VN) wird zitiert nach: Dante Alighieri, Vita Nova, hrsg. v. G. Gorni, Turin 1996.

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II. Drei Phasen der Liebe und ein heilbringender Gruß 1. Drei Phasen der Liebe Die Vita Nova ist ein Jugendwerk Dantes, das wohl um 1292–95 verfasst wurde.2 Der Form nach handelt es sich um ein Prosimetrum. Dante verwendet hier einige seiner Gedichte, die er zum Teil schon früher verfasst hatte, um sie in einen größeren Kontext einzukleiden – nämlich die Geschichte seiner Liebe zu Beatrice. Im Wechsel mit diesen Gedichten, zum Großteil Sonette, aber auch drei längere Kanzonen, fügt er Prosa-Abschnitte ein, die die metrischen Teile kommentieren und erklären. Daraus ergibt sich eben dieser weiter gefasste Zusammenhang einer »Liebesgeschichte«, welche zunächst in aufeinander folgenden Episoden, zum Ende des Werkes hin dann eher mystisch bzw. spirituell überhöht dargestellt wird. Man kann das gesamte Werk in drei Teile gliedern, die in etwa drei »Phasen der Liebe« entsprechen – Ch. Singleton spricht von »stages in love«.3 Diese Einteilung resultiert aus der Anordnung der Gedichte durch Dante selbst, der die drei langen Kanzonen jeweils an signifikanten Stellen einsetzt, wodurch sich eine Gesamtkomposition ergibt, in der auch die Zahlensymbolik (vor allem 3 und 9) eine große Rolle spielt. 2. Il Libro del Nove – die Struktur der Vita Nova Seitdem Guglielmo Gorni in seiner Ausgabe von 19964 die wohl ursprüngliche Einteilung des Textes in 31 Paragraphen rekonstruiert hat, lässt sich die einheitliche Gesamtkomposition der Vita Nova noch klarer erkennen. In den meisten Kapiteln steht nun ein Gedicht mit der zugehörigen Prosa; es gibt jedoch drei reine Prosa-Kapitel, die jeweils einen Exkurs enthalten, aber auch drei Paragraphen mit je zwei Gedichten, so dass sich insgesamt 31 Gedichte und 31 Kapitel ergeben. Die bis dahin gängige Gliederung in 42 Kapitel geht zurück auf das 19. Jahrhundert5 und wurde von 2  R. Hollander, Dante. A Life in Works, New Haven / London 2001, S. 14; cf. auch Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XX. 3  C. S. Singleton, An Essay on the Vita Nuova, Baltimore / London 1949, repr. 1977, S. 87 et passim. 4  Cf. Anm. 1. Vgl. jetzt auch Dante Alighieri, »Vita Nova«, hrsg. v. G. Gorni, ders., Opere, Bd. 1, hrsg. u. eingel. v. M. Santagata, Mailand 2011, S. 747–792 (Einl.) bzw. S. 795–1063 (Text). 5  Nach Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXIf.



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Barbi6 und De Robertis / Contini7 beibehalten, um zwei wichtige Ausgaben zu nennen. Die Wiederherstellung der 31 Einheiten8, so Gorni in seiner Einleitung, führt die symmetrische Gliederung des Textes deutlich vor Augen.9 In seinem Aufsatz » ›Paragrafi‹ e titolo della Vita Nova«10 rechtfertigt der Herausgeber diese Rekonstruktion anhand der wichtigsten Handschriften der Vita Nova, in denen die Sinneinschnitte durch Paragraphenzeichen und Majuskeln kenntlich gemacht sind. Der Autor weist in dieser Untersuchung explizit darauf hin, dass »una partizione in capitoli o ›paragrafi‹ figura in testimoni stemmaticamente indipendenti […]. E che in questi codici trecenteschi essa è costante, originaria […] e verosimilmente [era] anche nell’autografo dantesco, data l’alta qualità intrinseca che essa rivela.«11 Der Text lässt sich somit einteilen in drei Neunergruppen (novene) plus eine Vierergruppe. Die ersten 9 Paragraphen (VN 1–9) beinhalten Gedichte, die stark am Dolce Stil Novo orientiert sind, während die Kapitel 10–18 den sogenannten stilo della loda (VN 17, 4) zum Thema haben. Diese beiden ersten novene, in denen jeweils 10 Gedichte angeordnet sind, bilden gemeinsam den Teil, der zu Beatrices Lebzeiten anzusetzen ist (VN 1–18). Der Tod der Geliebten, die Trauer darüber sowie der Trost durch die donna gentile sind Inhalt der dritten Neunergruppe (19–27) (8 Gedichte). Die abschließenden vier Paragraphen (28–31) mit noch einmal drei Gedichten führen den Dichter wieder zu Beatrice zurück und klingen aus mit dem Blick in die Ewigkeit. Gorni führt somit den Beweis, dass die Vita Nova »proprio il libro del nove«12 ist, spielt doch die Zahl Neun eine entscheidende Rolle in der Zahlensymbolik des ganzen Werkes.13 Auch die Gesamtanzahl der Gedichte, nämlich 31, ist symbolisch; denn die Zahlen drei 6  Dante Alighieri, Opere, hrsg. v. M. Barbi, Florenz 1921 (textkrit. Ausg. der Società Dantesca Italiana). 7  Dante Alighieri, »Vita Nuova«, hrsg. v. D. De Robertis, ders., Opere Minori, I, I, hrsg. v. D. de Robertis u. G. Contini, Mailand / Neapel 1984, S. 3–247. 8  »La restituzione al testo dei suoi originari paragrafi, che è la novità più evidente di questa stampa, consente d’individuare trentuno unità coerenti: tante quante il numero dei componimenti poetici, pur con qualche sfasatura, dato che tre paragrafi ospitano due poesie (3, 13, 17) e altri tre nessuna (16, 19, 31), di modo che alla fine i conti tornano alla perfezione.« (Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXII). 9  Cf. dazu auch G. Gorni, »Una Vita Nova per Cavalcanti. Da Beatrice alla Donna Gentile«, ders., Guido Cavalcanti. Dante e il suo »primo amico«, Rom 2009, S. 11–29, v. a. S. 14 f.; vgl. ebenso Hollander, Dante, S.  22 f. 10  G. Gorni, ›Paragrafi‹ e titolo della Vita Nova, ders., Dante prima della Commedia, Florenz 2001, S. 111–132, v. a. S. 127 f. 11  Gorni, ›Paragrafi‹ e titolo della Vita Nova, S. 118. 12  Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXIII. 13  Einen guten Überblick über alle Stellen der Vita Nova, die für die Zahl Neun relevant sind, liefert S. Carrai, Dante elegiaco. Una chiave di lettura per la Vita nova,

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und eins verweisen auf die göttliche Dreieinigkeit, wie Dante selbst in VN 19, 6 ausführt.14 Auch in der Vierergruppe am Schluss bildet sich diese Drei-plus-eins-Struktur noch einmal ab. Weitere Strukturelemente lassen sich aus der Anordnung der Gedichte ableiten. So entfallen auf den ersten Teil (VN 1–9) 10 Gedichte (9 Sonette und 1 Ballade), auf den zweiten (VN 10–18) ebenfalls 10 Gedichte, davon 2 lange canzoni. Teil drei (VN 19–27) enthält eine lange canzone und sieben kürzere Gedichte, der Schlussteil (VN 28–31) noch einmal drei Sonette. Aus dieser Struktur ergibt sich auch, dass die drei langen Kanzonen in der Vita Nova jeweils an einer für die Handlung bedeutsamen Stelle eingeschaltet sind. Sie fungieren zugleich als Markierungen für eine Dreiteilung, welche aus der Thematik der jeweiligen Gedichtgruppe resultiert.15 So gibt Singleton, der die Einteilung von Gorni noch nicht kannte, den drei Teilen folgende Titel: I. »The effects of love on the poet« II. »In praise of his lady« III. »After the death of his lady«16.

Singleton hebt dabei hervor, dass der dritte Abschnitt die Thematiken der beiden ersten in sich vereint und diese überhöht. Das »neue Leben« des Dichters besteht demnach aus drei Phasen.17 Während er in der ersten Phase noch vorwiegend mit sich selbst beschäftigt ist, genügt ihm dies in der zweiten nicht mehr: Seine Herrin rückt in den Vordergrund, denn es bedeutet nunmehr seine Seligkeit, ihr Lob zu singen. Nachdem Beatrice gestorben ist, erscheint es nur natürlich, dass der Dichter sich im dritten Teil (VN 19–31) zunächst wieder mit seinem Zustand beschäftigt, muss er doch seine Trauer »ausleben« (disfogare; VN 20, 1+8). Nach dem Intermezzo mit einer donna gentile, durch deren Mitleid er sich vorübergehend trösten lässt, wendet er sich jedoch wieder ganz Beatrice zu: Seine Liebe zu ihr hat nun eine transzendente Dimension erhalten, da seine Gedanken sie in der Ewigkeit suchen. Der erste Teil (VN 1–10 – in den älteren Ausgaben entspräche dies Kap. 1–28) kreist also im Wesentlichen um Dante selbst, der seine verschiedenen Florenz 2006, S. 46–48. Cf. auch G. Gorni, Il numero di Beatrice, ders., Lettera Nome Numero. L’ordine delle cose in Dante, Bologna 1990, S. 73–85, bes. S. 75 f. 14  Cf. Vita Nova, hrsg. v. Gorni, Einleitung, S. XXIII sowie Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 78. 15  Pazzaglia, Vita Nuova, ED, vol. 5, S. 1088; cf. auch Carrai, Dante elegiaco, S.  90 f. 16  Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 87; cf. auch M. Picone, La Vita Nova come Macrotesto, ders., Percorsi di lirica duecentesca. Dai Siciliani alla Vita Nova, Florenz 2003, S. 219–235, hier S. 228–230 sowie Hollander, Dante, S. 19. 17  Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 80.



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Gefühle zum Ausdruck bringt, v. a. die Auswirkungen seiner Liebe auf ihn. Dante bezeichnet drei dieser Gedichte der ersten Gruppe als narratori di […] mio stato18, sie sollen also von seinem eigenen Zustand berichten – man kann diese Beschreibung aber durchaus mit Berechtigung auf den ganzen ersten Teil anwenden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei der veredelnde Einfluss Beatrices auf ihn. Allein schon ihr Gruß hat wunderbare, ja geradezu heilbringende Wirkungen, so dass sie von Anfang an als donna della salute19 auftritt. Hier wird einmal mit den Begriffen saluto, ›Gruß‹, und salute, ›Heil‹, gespielt; zum anderen ist der Name Beatrice selbst Programm20: Sie ist diejenige, die den Liebenden selig, beato machen bzw. ihm beatitudine bringen kann, also ist sie für ihn die beatrice (»Seligmacherin«). Genau dieser Gruß ist es, der auch die Handlung der Vita Nova voranbringt und den Übergang zum zweiten Teil, dem mittleren, bewirkt. Äußerlich wird dieser Übergang markiert durch die erste lange Kanzone (Donne ch’avete intellecto d’amore, VN 10, 15–25); inhaltlich durch ein entscheidendes Moment, nämlich die Verweigerung eben dieses Grußes seitens Beatrices: Als Dante sich auf Geheiß des Liebesgottes Amor eine donna schermo, also eine angebliche Geliebte, zulegt, um seine wirkliche Liebe zu »tarnen«, und für jene Gedichte verfasst, gerät er dadurch ins Gerede. Daraufhin wendet sich Beatrice von ihm ab – nicht etwa, weil sie eifersüchtig ist, sondern weil sie regina delle vertudi (VN 5, 2), also so vollkommen ist, dass jegliche Gemeinheit oder Gewöhnlichkeit (wie in diesem Fall die bösen Zungen) ihrem Wesen völlig fremd sind.21 Daher entzieht sie Dante ihren Gruß, und er muss sich eine andere Quelle der beatitudine suchen, wobei er wiederum vom Liebesgott Amor inspiriert wird. Diese neue beatitudine liegt nun – wie er selbst in der einleitenden Prosa zu eben dieser ersten Kanzone formuliert – eben im Lob Beatrices, in quelle parole che lodano la donna mia (VN 10, 8). Lobpreis der Herrin ist ihm also nicht nur ein Herzensanliegen, sondern er ist für ihn gewissermaßen 18  VN 10, 1. Die Gedichte, die Dante so bezeichnet, sind Con l’altre donne mia vista gabbate (VN 7, 11 f.), Ciò che m’incontra, nella mente more (VN 8, 4 f.) und Spesse fïate vegnonmi alla mente (VN 9, 7–10). 19  VN 1, 15. 20  Dante selbst drückt diesen Gedanken folgendermaßen aus: nomina sunt consequentia rerum (VN 6, 4). 21  Cf. zur Grußverweigerung auch W. Wehle, Dichtung über Dichtung. Dantes Vita Nuova: die Aufhebung des Minnesangs im Epos, München 1986, S. 73 u. S. 80, R. Warning, Imitatio und Intertextualität. Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amortheologie: Dante, Petrarca, Baudelaire, G. Regn / K. W. Hempfer (Hrsg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, S. 288–317, hier S. 293 sowie M. Marti, Storia dello Stil Novo, 2 B.de, Lecce 1972, Bd. 1, S. 248 f.

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»heilsnotwendig«. Schon hier bemerkt man den Ansatz einer Spiritualisierung der Liebe, wie sie im Laufe des Werkes noch weiter fortgeführt werden wird.22 Nach der Grußverweigerung verfasst Dante noch einige weitere Gedichte, die um seinen Zustand kreisen (VN 6–9). Erst dann nimmt er sich materia nuova e più nobile che la passata (VN 10, 1) vor – eben den stilo della sua loda (VN 17, 4). Den Begriff stilo kann man den Kommentaren zufolge hier mehr oder weniger mit argomento oder Thema gleichsetzen.23 Dennoch sei kurz darauf hingewiesen, dass Dante in De vulgari eloquentia II 4 über die drei Stilarten aus der antiken Rhetorik spricht. Er weist der Kanzone den mittleren Stil zu und erwähnt Themen, die dazu passen, nämlich salus, amor, virtus, (DVE II, iv, 8).24 Etwas später geht er noch auf das angemessene Vokabular ein und nennt einige Begriffe, die typisch für seine Liebeslyrik und den Dolce Stil Novo sind, wie z. B. amore, donna, virtute oder salute (DVE II, vii, 5). Der Bezug zur stilnovistischen Thematik ist unübersehbar; nicht von ungefähr hat man Dantes De vulgari eloquentia »als eine Poetik des Stilnovismo gelesen«.25 Bevor sich Dante im zweiten Teil der Vita Nova endgültig dem stilo della loda zuwendet, schiebt er allerdings zwischen der einleitenden Kanzone (VN 10) und dem ersten Lobsonett (VN 12) ein anderes Sonett über das Wesen Amors ein. Es trägt den Titel Amor e ‘l cor gentil sono una cosa (VN 11, 3–5) und knüpft eng an ein bekanntes Gedicht von Guido Guinizzelli (ca. 1240–1276) an, welches seinerseits Al cor gentil rempaira sempre Amore26 22  Cf. auch D. De Robertis, Il libro della »Vita Nuova«, Florenz 21970, S.  130 f., ebenso Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 292–294 sowie Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 87–95. 23  Ein Kommentar zu dieser Stelle (VN 17, 4 bzw. XXVI) lautet: »lo stilo: l’argomento (inteso e come materia e come forma)« (Dante Alighieri, Tutte le opere. Divina Commedia, Vita Nuova, Rime, Convivio, De vulgari eloquentia, Monarchia, Egloghe, Epistole, Quaestio de aqua et de terra, eingel. v. I. Borzi, hrsg. u. komm. v. N. Maggi u. S. Zennaro, Rom 1993, 52005, S. 699). 24  Dante Alighieri, De vulgari eloquentia, hrsg., ins Ital. übers.  u. eingel. v. C. Marazzini u. C. Del Popolo, Mailand 1990. 25  A. Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution. Zur Lyrik des Frauenlobs im Duecento: Giacomo da Lentini, Guido Guinizzelli, Guido Cavalacanti, Dante Alighieri, Poetica 23 (1991), S. 20–67, Zitat S. 56. 26  G. Guinizzelli, »Al cor gentil rempaira sempre Amore«, G. Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Mailand / Neapel 1960, Nr. IV [v], S. 460–464. Eine Inhaltsangabe dieser Kanzone gibt H. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964, S. 60–62; cf. auch Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 69, Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 295 sowie Marti, Storia dello Stil Novo, Bd. 2, S. 368–372.

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betitelt ist und von Hugo Friedrich als »Lehrcanzone« des Dolce Stil Nuovo bezeichnet worden ist.27 III. Die donna angelica – Frauenlob bei den Stilnovisten 1. Einführende Bemerkungen zum Dolce Stil Novo Damit sind wir nun bei den Stilnovisten angelangt – also eben jener Gruppe von Dichtern im Florenz des ausgehenden 13. Jahrhunderts, die im sogenannten Dolce Stil Novo dichteten und denen auch der junge Dante zuzurechnen ist. Es handelt sich hierbei um einen Freundeskreis von Dichtern, die von Dante selbst zu Beginn der Vita Nova als fedeli d’Amore bezeichnet werden (VN 1, 20) und die sich dichterisch dem Kult Amors verschrieben haben. Gemeint ist damit, dass nach der Liebeskonzeption des Dolce Stil Novo der Liebesgott Amor als Herr gesehen wird, der sich den liebenden Dichter untertan macht und der ihm zugleich seine Poesie eingibt, so dass diese rimatori unter dem Einfluss göttlicher Inspiration schreiben. Wichtig ist hierbei besonders der Begriff des edlen Herzens, des cor gentile, der sozusagen die Vorbedingung ist, denn Amor kann nur ein edles Herz »bewohnen«, wie der Titel der genannten Lehrkanzone Guinizzellis, Al cor gentil rempaira sempre Amore, andeutet. In diesem Gedicht wird die enge Verknüpfung zwischen dem edlen Herzen und Amor mit Hilfe verschiedener Metaphern, vor allem der des Feuers, durchgespielt, um zu zeigen, dass das eine nicht ohne das andere existieren kann bzw. dass beide von Natur aus zusammengehören (né fe’ amor anti che gentil core, / né gentil core anti ch’amor, natura, V. 3 f.), wobei das gentil core den Inbegriff aller Vollkommenheit seitens der Dame umfasst. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass die gentilezza, also der Seelenadel, an die Stelle des Geburtsadels tritt: »Anders als bei den Provenzalen ist die Liebe jedoch entfeudalisiert […].«28 Guinizzelli schafft somit die Grundlagen für »una nuova filosofia amorosa, fondata sull’aristocrazia dello spirito piuttosto che su quella del lignaggio o del censo.«29 Diese Perfektion geht so weit, dass die zu rühmende Epochen, S. 60. Regn, »Dantes Beatrice und die Poetik des Heils«, A. Schneider / M. Neumann (Hrsg.), Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Zwischen Mittelalter und Neuzeit, Regensburg 2005, S. 129–143, hier S. 135. 29  S. Carrai / G. Inglese, La letteratura italiana del Medioevo. Con la collaborazione di L. Trenti, Rom 2003, S. 62. Vgl. auch M. Picone, »Vita Nova« e tradizione romanza, Padua 1979, S. 57–61, I. Bertelli, Poeti del Dolce Stil Novo. Guido Gui27  Friedrich, 28  G.

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Geliebte in den Preisgedichten der Stilnovisten gerne mit einem Engel verglichen oder gar gleichgesetzt wird. Daher schreibt Guinizzelli ihr »d’angel sembianza« (V. 58) zu, was Cavalcanti und andere später übernehmen. So heißt es beispielsweise in dem Gedicht Fresca rosa novella von Cavalcanti – das im übrigen Dante gewidmet ist30 – angelicata crïatura und angelica sembranza.31 Im übrigen diente dieser Engel-Vergleich auch dazu, den Konflikt zu lösen, dem sich die aus der Tradition der höfischen Liebe stammenden Dichter ausgesetzt sahen: Sie feierten ihre Dame als ein über ihnen stehendes Wesen – ihr Blick war somit also immer »nach oben« gerichtet, wie Singleton pointiert formuliert: »[…] as domina she must be the last and only object of desire in her poet-lover’s upward gaze. How might he dare look beyond her?«32 Genau dadurch gerieten sie in Konflikt mit der christlichen Tradition: »Yet, as every troubadour knew, beyond and further up was God.«33 Eben dieses Problem spricht Guinizzelli in der sechsten und letzten Strophe seiner Kanzone an, wo er einen Dialog zwischen Gott und dem Dichter fingiert.34 Der Dichter rechtfertigt sich für seine Liebe genau mit der »Engelhaftigkeit« der Herrin ([…] Tenne d’angel sembianza / che fosse del Tuo regno; / non me fu fallo, s’in lei posi amanza, V.  58–60) – und versucht somit, die höfische Tradition mit der christlichen in Einklang zu bringen. Die Stilnovisten übernahmen wie erwähnt diesen Kunstgriff – bis hin zu Dante, der ihn auf seine eigene Art und Weise lösen wird. Zunächst greift Dante nun aber die Gedanken Guinizzellis zum Wesen Amors in seinem ebenfalls bereits erwähnten Sonett Amor e ‘l cor gentil sono una cosa (VN 11, 3–5) wieder auf. Auch hier wird noch einmal der von Natur aus enge Zusammenhang zwischen dem edlen Herzen und der Liebe bzw. dem Liebesgott hervorgehoben. Später wird er diese Identifikation noch zuspitzen, wenn er Beatrice mit Amor gleichsetzen wird (VN 15).35 Bemerkenswert ist zudem auch hier die Anordnung der Gedichte: Die Tatsache, dass Dante zu Beginn des Teiles, der dem stilo della loda gewidnizzelli e Lapo Gianni, Pisa 1963, S. 74 f sowie Marti, Storia dello Stil Novo, Bd. 1, S. 234–245. 30  Carrai / Inglese, La letteratura italiana del Medioevo, S. 71. 31  G. Cavalcanti, »Fresca rosa novella«, V. 18 f., Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Nr. I [vi], S. 491 f. 32  Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 68. 33  Ibd. 34  Cf. auch Friedrich, Epochen, S. 62 und 76 f. 35  Vgl. hierzu G. Seitschek, Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit. Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen, Berlin 2009, S. 160–162.

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met sein soll, zunächst ein Sonett einfügt, das sich so stark an Guinizzelli orientiert, ist ein klarer Hinweis darauf, dass er sich noch ganz im stilnovistischen Kontext bewegt.36 Der saggio, der in V. 2 erwähnt wird (sì come il saggio in suo dictare pone), ist wohl Guido Guinizzelli selbst.37 Erst im dritten Teil der Vita Nova, nach Beatrices Tod, wird Dante dezidiert eigene Wege einschlagen. Die Liebe zu einer solchen edlen, reinen Frau läutert auch den Liebenden und erweckt in ihm selbst alle Tugenden – dieses Grundmotiv zieht sich durch die Werke aller Stilnovisten hindurch, wie wir im einzelnen noch sehen werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der der Freundschaft bzw. der »Kollegialität«. Die Dichter des Dolce Stil Novo sind untereinander befreundet, sie nehmen aneinander Anteil, schicken sich sogar gegenseitig Frage- und Antwortgedichte. Diese Zusammengehörigkeit spielt in der Vita Nova bereits für das erste Gedicht, A ciascun’alma presa e gentil core (VN 1, 21–23) eine Rolle, da Dante hier eine ihm rätselhafte Erscheinung Amors schildert und seine Freunde bittet, sie möchten ihm bei der Deutung behilflich sein (in ciò che mi riscriva ‘n suo parvente, V. 3). Auch die Antwortsonette von Cino da Pistoia, Dante da Maiano und Guido Cavalcanti sind überliefert.38 2. Textbeispiele Anhand eines kurzen Durchganges durch einige Textstellen soll nun gezeigt werden, wie bereits bei den Stilnovisten das Motiv des veredelnden Einflusses der Herrin, besonders ihres heilsamen Grußes, durchgespielt wird. Exemplarisch soll je eine Textpassage der wichtigsten Vertreter des Dolce Stil Novo betrachtet werden. Wenden wir uns zunächst noch einmal Guido Guinizzelli zu, genauer seinem bekannten Sonett I’ vo’ del ver la mia donna laudare, in dessen Titel bereits das Lob anklingt (Guido Guinizzelli, Nr. X [xv])39: Io voglio del ver la mia donna laudare ed asembrarli la rosa e lo giglio: più che stella dïana splende e pare, 36  Cf.

21.

G. Gorni, »Guittone e Dante«, ders., Dante prima della Commedia, S. 19–

37  Gorni, Guittone e Dante, S. 20; cf. auch Picone, »Vita Nova« e tradizione romanza, S. 55. 38  Nach Dante Alighieri, Vita Nova, hrsg. v. L. C. Rossi, Mailand 1999, zu VN 2, 1 (S. 23). 39  G. Guinizzelli, Io voglio del ver la mia donna laudare, Contini (Hrsg.), P ­ oeti del Duecento, Bd. II, Nr. X [xv], S. 472.

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e ciò ch’è lassù bello a lei somiglio. Verde river’ a lei rasembro e l’âre, tutti color di fior’, giano e vermiglio, oro ed azzurro e ricche gioi per dare: medesmo Amor per lei rafina meglio. Passa per via adorna, e sì gentile ch’abassa orgoglio a cui dona salute, e fa’l de nostra fé, se non la crede; e no·lle po’ apressare om che sia vile; ancor ve dirò c’ha maggior vertute: null’om pò mal pensar fin che la vede.

In den Quartetten wird zunächst in eher herkömmlicher Manier die Schönheit der Herrin mithilfe einiger gängiger Vergleiche gepriesen (Blumen, Sterne etc.).40 Zweimal verwendet der Dichter das Wort (r)asembrare (V. 2, V. 5) und einmal somigliare (V. 4). Contini verweist in diesem Zusammenhang besonders auf das Hohe Lied: »La poetica dell’analogia […] s’ispira manifestamente al Cantico dei Cantici«41, denn dort fällt beispielsweise in 1, 9 ebenfalls die Wendung Equitatui meo in curribus Pharaonis assimilavi te, amica mea.42 Vergleiche spielen im Hohen Lied allgemein eine sehr große Rolle;43 meist werden sie in der Vulgata mit sicut oder similis eingeleitet, z. B. sicut lilium inter spinas (Cant. 2, 2) oder similis est dilectus meus capreae (Cant. 2, 8). In den Terzetten kommt Guinizzelli nun mehr und mehr auf die »innere Schönheit« der Dame, also ihre Tugendhaftigkeit bzw. moralische Vollkommenheit zu sprechen. Gleich zu Beginn des ersten Terzetts (am Ende des Verses 9) fällt das Schlüsselwort gentile, das im Gegensatz zu seinem Reimwort vile steht (V. 12) und damit natürlich auch diese inhaltliche Opposition hervorhebt. Die zentralen Begriffe salute und vertute (V. 10 bzw. 13) reimen ebenfalls miteinander. Bereits bei Guinizzelli begegnen also die Grundgedanken der stilnovistischen Lyrik, die sich bei allen Vertretern hindurchziehen: Die Herrin läutert den Liebenden, sie reinigt ihn von Fehlern, im vorliegenden Fall vom Stolz (abbassa orgoglio, V. 10), und schenkt Heil 40  Die oben bereits kurz angesprochene Ballade von Cavalcanti Fresca rosa novella setzt sich ihrerseits mit dem vorliegenden Sonett Guinizzellis auseinander (cf. M. Picone, »I due Guidi: una tenzone virtuale«, ders., Percorsi, S. 185–203, hier S. 187–192). 41  Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, S. 472. Auch Kablitz greift diesen Gedanken Continis auf (Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 36 f.). 42  Cant. 1, 8 (zit. nach: Biblia Sacra juxta vulgatam Clementinam, divisionibus, summariis et concordantiis ornata denuo ediderunt complures Scripturae Sacrae professores facultatis theologicae Parisiensis et Seminarii Sancti Sulpitii, Rom / Tournai / Paris 1956). 43  Cf. O. Keel, Das Hohelied, Zürich 1986, S. 35–39, v. a. S. 35 f.

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(dona salute, ibd.). Der Begriff salute spielt hier wiederum mit den Bedeutungen »Gruß« und »Heil«, was bei Dante später zentral sein wird. Auch das Motiv des Vorübergehens und Grüßens ist schon angelegt (passa per via […] / […] a cui dona salute, V.  9 f.).44 Es sei noch darauf hingewiesen, dass dieses Sonett Guinizzellis seinerseits bereits auf einen wichtigen Vorgängertext zurückgreift bzw. mit diesem in »Dialog« tritt, wie A. Kablitz ausführlich gezeigt hat.45 Es handelt sich um das Sonett Madonna ha ‘n sé vertute con valore des aus der Sizilianischen Dichterschule stammenden Notaro, Giacomo da Lentini.46 Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Der Vers 3 des obigen Gedichts (più che stella dïana splende e pare) spielt offensichtlich auf den Vers 5 des Sonetts von Giacomo da Lentini an (più luce sua beltate e dà sprendore). Auch das Reimwort pare aus Guinizzellis zitiertem Vers hat seine Entsprechung beim Vorgänger (V. 10 bei Giacomo da Lentini); allerdings wird es hier in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht (né fu ned è né non serà sua pare).47 Interessanterweise ist es nun gerade dieses Wort pare, das auch bei Cino da Pistoia, Cavalcanti und Dante eine wichtige Rolle spielt, wie wir noch sehen werden. Nun ist es aber auch der Begriff der vertute, der bei beiden Dichtern unterschiedlich verwendet wird, so Kablitz weiter, wodurch der »Ausgangspunkt des spezifisch stilnovistischen Frauenlobs begründet«48 wird. Während bei dem Sizilianer noch die Macht der Dame im Vordergrund stand, ist es nunmehr ihre »moralisch veredelnde Kraft«49, auf der »die […] stilnovistische Konzeption von Dame und Amor«50 basiert. Auch im nächsten Beispiel von Cino da Pistoia (um 1270–1337) steht das Spiel mit den Bedeutungen von vertute sowie salute und saluto im Mittelpunkt (Cino da Pistoia, Nr. XXV [ii])51: Tutto mi salva il dolce salutare che ven da quella ch’è somma salute, in cui le grazie son tutte compiute: con lei va Amor che con lei nato pare. auch Bertelli, Poeti del Dolce Stil Novo, S. 52 f. u. S. 76. Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 35–39. 46  G. da Lentini, Madonna ha ’n sé vertute con valore, Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. I, S. 81. 47  Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 36. 48  Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 39. 49  Ibd. 50  Ibd. 51  Cino da Pistoia, Tutto mi salva il dolce salutare, Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Nr. XXV [ii], S. 660. 44  Vgl. 45  Cf.

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E fa rinovellar la terra e l’âre e rallegrar lo ciel la sua vertute: giammai non fuor tai novità vedute quali ci face Dio per lei mostrare. Quando va fuor adorna, par che ‘l mondo sia tutto pien di spiriti d’amore, sì ch’ogni gentil cor deven giocondo. E lo villan domanda: »Ove m’ascondo?«; per tema di morir vòl fuggir fòre; ch’abassi gli occhi l’omo allor, rispondo.

In diesem Text ist das Spektrum noch erweitert durch das Wort salva gleich zu Beginn, so dass in den ersten beiden Versen bereits drei Begriffe aus diesem Wortfeld auftreten: salva, salutare (V. 1), somma salute (V. 2) – wir haben hier also noch eine Steigerung durch somma. In den folgenden Versen steht erneut das Motiv der moralischen Vollkommenheit im Vordergrund (in cui le grazie son tutte compiute, V. 3), das noch um den Gedanken des Erneuerns der Erde erweitert wird: E fa rinovellar la terra (V. 5). Die Herrin wird gezeigt, wie sie bei den Betrachtern die spiriti d’Amore (V. 10) weckt – auch dies wird uns bei Dante, v. a. in Tanto gentile e tanto onesta pare (V. 12 f.) wieder begegnen. Der Begriff adorna (V. 9) evoziert zugleich auch das oben behandelte Sonett von Guinizzelli, heißt es doch dort ebenfalls in V. 9: Passa per via adorna, e sì gentile. Allerdings gibt es bei Cino da Pistoia noch eine interessante Textvariante, denn in der Ausgabe von Ceriello lautet der entsprechende Vers des vorliegenden Gedichts: Quando va fuor per via, par che ’l mondo.52 Diese Lesart würde wiederum auf die Vita Nova vorausweisen, denn das Motiv der gentilissima, wie sie Dante im Vorübergehen auf der Straße grüßt, kehrt dort mehrfach wieder. Es sei z.  B. verwiesen auf Donne ch’avete, V.  32: […] che quando va per via sowie auf die einleitende Prosa zu Tanto gentile in VN 17, 1: Questa gentilissima donna, di cui ragionato è nelle precedenti parole, venne in tanta gratia delle genti, che quando passava per via, le persone correvano per vedere lei […]. In leicht abgewandelter Form findet sich der Gedanke auch im ersten Grußsonett (Negli occhi porta, VN 12, 2–4, V. 3 f.): ov’ella passa, ogn’om ver’ lei si gira, / e cui saluta fa tremar lo core. Wir werden diesen Text noch genauer untersuchen. Eine weitere auffällige Parallele zwischen Cino und Dante ergibt sich durch das markant am Versende stehende Wort mostrare (V. 8), das im bereits mehrfach erwähnten Sonett Tanto gentile an genau derselben Stelle steht, sowie nicht zuletzt durch die Konstruktionen pare (V. 4) und par che 52  Cino da Pistoia, Tutto mi salva il dolce salutare, G. R. Ceriello (Hrsg.), I rimatori del Dolce stil novo, Mailand 2003 (11950), Nr. II, S. 148.



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(V. 9), welche sich ebenfalls in Tanto gentile, V. 1 (pare) sowie in den Versen 7 und 12 (jeweils par che) wiederfinden. In den Versen 11 f. tritt die uns von Guinizzelli her bereits bekannte Opposition gentil cor – villano auf, wobei der villano aus Scham darüber, dass er es nicht wert ist, sich der engelgleichen Herrin zu nähern, die Augen senkt (ch’abbassi li occhi l’omo allor, V. 14) – auch dieses Motiv wird uns noch mehrfach begegnen, nicht zuletzt ebenfalls in Tanto gentile (V. 4). Eine Reihe der soeben evozierten Motive kehrt auch im nun folgenden Beispieltext von Dino Frescobaldi (um 1271–ca. 1316) wieder (Dino Frescobaldi, Nr. I)53: Quest’è la giovanetta ch’Amor guida, ch’entra per li occhi a ciascun che la vede; quest’è la donna piena di merzede in cui ogni vertù bella si fida. Vienle dinanzi Amor che par che rida, mostrando ‘l gran valor dov’ella siede; e quando giunge ov’umiltà la chiede, par che per lei ogni vizio s’uccida. E quando a salutare Amor la ‘nduce, onestamente li occhi mòve alquanto, che danno quel disio che ci favella. Sol dov’è nobiltà gira sua luce, il su’ contraro fuggendo altrettanto, questa pietosa giovanetta bella.

Auch hier steht wieder die Tugendhaftigkeit der Herrin im Vordergrund, welche über mehrere Verse hindurch als »tema con variazioni« durchgespielt wird: So ist in V. 4 zunächst allgemein von ogni vertù die Rede, in V.  6 ebenso von ‘l gran valor, während in V. 7 eine Tugend explizit erwähnt wird, welche im stilnovistischen Kontext ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, nämlich die umiltà. Ebenfalls deutlich hervorgehoben wird der Gedanke, dass die Dame aufgrund ihrer großen Tugend von den Lastern läutern kann (par che per lei ogni vizio s’uccida, V. 8 – man beachte auch hier wieder die Konstruktion par che!). Nicht zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass auch in diesem Sonett der Gruß der Herrin genannt wird (V. 9), wobei ein weiteres Motiv ins Spiel kommt, dass wiederum bei Cavalcanti und Dante fortgeführt werden wird, nämlich das Zuwenden der Augen (li occhi mòve, V. 11). 53  D. Frescobaldi, Quest’è la giovanetta ch’Amor guida, Ceriello (Hrsg.), I rimatori del Dolce stil novo, Nr. I, S. 121. (In der Ausgabe von Contini ist dieses Gedicht nicht enthalten.)

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Ein gutes Beispiel für die Blick-Thematik ist auch das Gedicht Nr. XV von Lapo Gianni (1275–~1328)54: Nel vostro viso angelico amoroso vidi i belli occhi e la luce brunetta, che ‘nvece di saetta mise pe’ miei lo spirito vezzoso. Tanto venne in su’ abito gentile quel novo spiritel ne la mia mente, che ‘l cor s’allegra de la sua veduta; dispuose giù l’aspetto segnorile, parlando a’ sensi tanto umilemente, ch’ogni mio spirit’ allora ‘l saluta. Or hanno le mie membra canosciuta di quel segnor la sua grande dolcezza, e ‘l cor con allegrezza l’abraccia, poi che ‘l fece virtuoso.

Hier finden sich eine ganze Reihe Begriffe aus dem Wortfeld »Augen« (bzw. »Gesicht«), »Sehen« etc., so in gleich in V. 1 (viso angelico) – hier wird auch der Gedanke des »Engelhaften« mit aufgerufen –, in V. 2 (vidi […] i begli occhi), V. 7 (veduta) und V. 8 (aspetto). Auch die Gedanken der gentilezza sowie der Tugendhaftigkeit allgemein begegnen uns hier erneut, so in V. 5 (gentile), in V. 9 (umilemente) und am Schluss als letztes Wort des Sonetts in V. 14 (virtuoso). Das Motiv des heilbringenden Grußes klingt an in V.10 (saluta). Die Engelgleichheit der Herrin wird bei Lapo Gianni u. a. auch thematisiert in einer Ballade, die mit eben diesem Begriff beginnt (Nr. IV [vi], V.  1–4)55: Angelica figura novamente di ciel venuta a spander tua salute, tutta la sua virtute ha in te locata l’alto dio d’amore.

Auch hier legt der Dichter erneut den Hauptakzent darauf, dass die Herrin vom Himmel gekommen ist, um ihr Heil zu verbreiten (spander tua salute); wiederum steht der Schlüsselbegriff salute im Reim mit virtute.56 Kommen wir nun zu Dantes »primo amico«, wie er ihn in der Vita Nova nennt57, nämlich Guido Cavalcanti (ca. 1259–1300). Sein bekanntes Sonett 54  Lapo Gianni, Nel vostro viso angelico amoroso, Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Nr. XV [ii], S. 601. 55  Lapo Gianni, Angelica figura novamente, Contini (Hrsg.), Poeti del Duecento, Bd. II, Nr. IV [vi], S. 577. 56  Vgl. auch Marti, Storia dello Stil Novo, Bd. 2, S. 525. 57  VN 15, 3; cf. auch VN 2, 1. S. hierzu auch G. Gorni, »Vita Nova, libro delle ›amistadi‹ e della ›prima etade‹ «, ders., Dante prima della Commedia, S. 133–147, bes. S.  140 f.



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Chi è questa che vèn, ch’ogn’om la mira greift viele Elemente auf, die schon bei den Vorgängern wie Guinizzelli zu finden waren, und verarbeitet sie weiter58, während Dante seinerseits sich selbst auf dieses Gedicht beziehen wird (Guido Cavalcanti, Nr. IV)59: Chi è questa che vèn, ch’ogn’om la mira, che fa tremar di chiaritate l’âre e mena seco Amor, sì che parlare null’omo pote, ma ciascun sospira? O Deo, che sembra quando li occhi gira, dical’ Amor, ch’i’ nol savria contare: cotanto d’umiltà donna mi pare, ch’ogn’altra ver’ di lei i’ la chiam’ ira. Non si poria contar la sua piagenza, ch’a le’ s’inchin’ ogni gentil vertute, e la beltate per sua dea la mostra. Non fu sì alta già la mente nostra e non si pose ‘n noi tanta salute, che propiamente n’aviàn canoscenza.

In diesem bekannten Preisgedicht von Dantes Freund werden in erster Linie ebenfalls die Schönheit, Reinheit und Tugendhaftigkeit der Herrin besungen. Allerdings geschieht dies in stilistisch etwas ausgefeilterer Form als bei den oben behandelten Dichtern: Während die meisten von ihnen – wie gesehen – die Vorzüge der Dame mit immer wiederkehrenden, fast stereotypisch anmutenden Versatzstücken rühmten, bewegen wir uns mit Cavalcanti gewissermaßen schon auf einer etwas höheren Ebene. Denn letzterer fügt zu den uns bereits bekannten Elementen (die auch hier nicht fehlen dürfen) ein neues hinzu, das E. R. Curtius zu den sogenannten »Unsagbarkeitstopoi« zählt.60 Im vorliegenden Sonett Cavalcantis sticht dieses Motiv der »Unsagbarkeit« besonders hervor, zieht es sich doch wie ein roter Faden durch das ganze Gedicht hindurch: So groß sind die Vorzüge der Dame, dass man sie mit Worten kaum auszudrücken vermag. So heißt es im ersten Quartett: […] parlare / null’omo pote […] (V. 3 / 4), im zweiten Quartett i’ nol savria contare (V.  6), im ersten Terzett Non si poria contar (V. 9), im zweiten Terzett schließlich propiamente n’aviàn conoscenza (V.  14). Damit erscheint der Unsagbarkeitstopos in jeder Strophe in leicht abgewandelter Form. Einen zusätzlichen Kunstgriff wendet Cavalcanti an, 58  Cf. auch Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 43  f.; Picone, »Vita Nova« e tradizione romanza, S. 64 f. sowie ders., I due Guidi, S. 196–199. 59  G. Cavalcanti, Chi è questa che vèn, ch’ogn’om la mira, Contini (Hrsg.), P ­ oeti del Duecento, Bd. II, Nr. IV [iv], S. 495. Vgl. auch C. Angiolieri (Hrsg.), Le Rime di Guido Cavalcanti, Siena 2007, S. 7. 60  E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern / München [1948] 91978, S. 168–171. Cf. auch Friedrich, Epochen, S. 66.

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indem er sein Gedicht mit einer rhetorischen Frage einleitet, die sich in Verbindung mit einem komplexen Nebensatzgefüge über vier Verse, also das erste Quartett hinzieht: Chi è questa che vèn, ch’ […] / che […], /  e […], sì che […], ma […]? (V. 1–4). Die Herrin wird somit von Anbeginn als mystifiziert dargestellt. So hebt auch A. Kablitz hervor, dass dieses Gedicht Cavalcantis »als eine Überbietung Guinizzellis inszeniert ist«61. Dies ist nicht zuletzt erneut anhand eines Zitats aus dem Hohen Lied nachzuweisen, setzt doch der Text ein mit der Frage Chi è questa che ven […] (V. 1). Im Canticum Canticorum kommt diese Wendung mehrfach vor; so heißt es in 3, 6: Quae est ista quae ascendit per desertum […]? (cf. auch 8, 5) und in 6, 9: Quae est ista quae progreditur quasi aurora consurgens, pulchra ut luna […]? Die uns mittlerweite vertraute Thematik der Tugendhaftigkeit und des Heilbringens ist auch bei Cavalcanti vertreten in den Begriffen umiltà (V. 7), vertute (V. 10) sowie salute (V. 13). Ferner ist der »Liebesseufzer« (sospira; V. 4) zu erwähnen, ebenso das Motiv das Zuwendens der Augen (li occhi gira, V. 5) – Gedanken, die uns sogleich bei Dante wieder begegnen werden. 3. Zusammenfassung Das Denken bzw. Dichten der Stilnovisten kreist vornehmlich um die schöne, reine, edle und tugendhafte Herrin, die in ihrer Vollkommenheit so hoch über allen anderen steht, dass sie beinahe den Engeln des Himmels gleichgesetzt werden kann. Zugleich hat sie aber auch die Kraft, also vertute oder virtute, andere moralisch zu läutern, allen voran natürlich den sie verehrenden Dichter. Der Liebesgott Amor ist eng mit der Dame verbunden – so heißt es beispielsweise bei Cavalcanti mena seco Amore (V. 3), bei Cino con lei va Amor che con lei nato pare (V. 4). Zudem gibt der Liebesgott dem Dichter seine parole, seine Dichtungen ein; er weckt also in ihm die Liebe und bewegt ihn zugleich auch zum Dichten – in der stilnovistischen Terminologie ist dieses Dichten oft einfach mit »Sprechen« wiedergegeben (parlare, favellare, dire). In diesem Zusammenhang sei noch kurz auf die bekannte Passage aus Dantes Purgatorio verwiesen, von der die Bezeichnung Dolce Stil Novo ihren Ursprung hat. Im 24. Gesang trifft Dante auf seinen Dichterkollegen Bonagiunta da Lucca. Dieser fragt ehrfürchtig, ob er tatsächlich den Verfasser der Zeilen Donne ch’avete intellecto d’amore vor sich habe (er zitiert also eben die bereits erwähnte erste lange Kanzone der Vita Nova, welche den stilo della loda einleitet), woraus sich ein kurzes poetologisches Gespräch ergibt (Purg. 24, 49–57). Dabei bezeichnet Bona61  Kablitz,

Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 43.



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giunta die Verse Dantes und seiner Zeitgenossen eben als den dolce stil novo – in Abgrenzung von der sizilianisch-toskanischen Lyrik des frühen und mittleren 13. Jahrhunderts.62 Der Grundgedanke hierbei ist eben diese Inspiration Amors, die mit folgenden Worten im Dialog zwischen dem Jenseitswanderer Dante und Bonagiunta wiedergegeben wird (Purg. 24, 52– 57)63: E io a lui: »I’ mi son un che, quando Amor mi spira, noto, e a quel modo ch’e’ ditta dentro vo significando«. »O frate, issa vegg’io«, diss’elli, »il nodo che ‘l Notaro e Guittone e me ritenne di qua dal dolce stil novo ch’i’ odo!«

Novo bedeutet in diesem Zusammenhang in erster Linie »neuartig«, es verweist aber zugleich auf ein durch die Liebe erneuertes Leben – durchaus auch im christlichen Sinn (in Analogie zur geistlichen Erneuerung durch die Gnade).64 Diese mehrschichtige Bedeutung des Wortes spielt auch eine Rolle für den Titel der Vita Nova.65 Hier bezieht sich das Adjektiv im Werktitel zum einen auf Dantes Lebensalter, die Adoleszenz, zum anderen schwingt auch die Anspielung auf ein neues, spiritualisiertes Liebeskonzept mit.66 Auch die Bedeutung von dolce berührt verschiedenen Sinnebenen: zum einen stammt dieses Adjektiv aus der Rhetorik und steht mit dem mittleren Stil in Verbindung, dem die Eigenschaften des Sanften, Anmutigen, Süßen zugeschrieben werden – also alles, was typisch für Liebesdichtung ist. Zum anderen kommt es aus der christlichen Mystik und bedeutet eine Art Verzückung; hier wird es gebraucht für die Wirkung des Liebesgottes Amor.67 IV. Drei Preis-Sonette aus der Vita Nova Kehren wir nun zurück zu Dante, um zu sehen, wie bei ihm diese Thematik durchgespielt und weiterentwickelt wird. Besonders anhand dreier Lobsonette aus dem Mittelteil der Vita Nova lässt sich deren enge inhalt­ 62  Cf. auch S. Carrai, La Lirica toscana del Duecento. Cortesi, guittoniani, stilnovisti, Bari 1997, S. 63–65 und M. Picone, Guittone, Guinizzelli e Dante, ders., Percorsi, S. 169–184, v. a. S. 169 f. 63  Dante, Purgatorio, zit. nach: Dante Alighieri, La Divina Commedia, hrsg. v. A. M. Chiavacci Leonardi, 3 Bde., Mailand 1991–1994, Nachdr. 2005. 64  Cf. Friedrich, Epochen, S. 53. 65  Cf. auch Carrai / Inglese, La letteratura italiana del Medioevo, S. 100. 66  Nach G. Regn, Dantes Beatrice, S. 135 und 137. 67  Friedrich, Epochen, S. 53–55.

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liche Verknüpfung untereinander sowie der Bezug zu den Vorgängertexten deutlich machen. Es handelt sich um die Sonette Negli occhi porta la mia donna Amore (VN 12, 2–4), Tanto gentile e tanto onesta pare (VN 17, 5–7) sowie Vede perfectamente ogne salute (ebenfalls VN 17, 10–13), die von Dante explizit dem stilo della loda zugeschrieben werden. Da es nun vor allem um den Lobpreis der Geliebten geht, »nimmt die dargestellte Anwesenheit des dichtenden Ich in den Rühmgedichten […] drastisch ab. […] In allen [drei Lobsonetten] hat das liebende und dichtende Ich die Stelle eines Subjekts – auch grammatisch – geräumt […].«68 Bereits das erste Sonett, Negli occhi porta, ist ein Antwortgedicht69 auf das oben behandelte Chi è questa che ven von Cavalcanti und hat in erster Linie die wunderbaren Wirkungen von Beatrices Gruß zum Thema (VN 12, 2–4): Negli occhi porta la mia donna Amore, per che si fa gentil ciò ch’ella mira; ov’ella passa, ogn’om ver lei si gira, e cui saluta fa tremar lo core, sì che, bassando il viso, tutto smore, e d’ogni suo difetto allor sospira: fugge dinanzi a·llei Superbia ed Ira. Aiutatemi, donne, farle onore. Ogne dolcezza, ogne pensero umile nasce nel core a chi parlar la sente, ond’è laudato chi prima la vide. Quel ch’ella par quando un poco sorride, non si pò dicer né tenere a mente, sì è novo miracolo e gentile.

R. Warning hat eindrucksvoll gezeigt, wie Dante Gedanken und Motive von Cavalcanti aufgreift, zugleich aber verändert und überbietet.70 Als Beispiel seien einige zentrale Begriffe bzw. Reimwörter genannt, die bei beiden Dichtern vorkommen: mira, gira, sospira. Das Interessante hierbei ist, dass Dante mehrfach einen Subjektwechsel vornimmt, so Warning weiter.71 Während es bei Cavalcanti hieß ogn’om la mira (V. 1), lautet die korrespondierende Wendung bei Dante ella mira (V. 2); das ogn’om verbindet Dante dagegen nun mit gira (ogn’om ver lei si gira, V. 3), während es bei Cavalcanti auf die Augen der Dame bezogen ist: […] che sembra quando li occhi gira (V. 5). Auch der Seufzer, der bei Cavalcanti noch unmittelbar mit dem Unsagbarkeitstopos verknüpft war ([…] sì che parlare / null’omo Dichtung über Dichtung, S. 45. Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 295. 70  Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 296. 71  Ibd. 68  Wehle, 69  Cf.

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pote, ma ciascun sospira; V.  3 f.), erfährt bei Dante eine Umdeutung, denn hier wird er zum »Seufzer der Reue«72, der in engem Zusammenhang steht mit den Wirkungen von Beatrices Gruß. Denn dieser bewirkt zunächst, wie die Verse 4–6 zeigen, dass der Angesprochene sich seiner Unzulänglichkeit und seiner Fehler bewusst wird und beschämt den Kopf senkt (V. 5). Erst danach kommt ein weiterer Effekt des wunderbaren Grußes zutage, nämlich das Vertreiben von Lastern wie Hochmut oder Zorn (fugge dinanzi a·llei Superbia ed Ira, V. 7) – womöglich stehen diese als pars pro toto; man kann also davon ausgehen, dass Beatrice die Macht hat, alle sieben peccata capitalia zu vertreiben.73 Damit ist Dante viel konkreter als sein Vorgänger, der die gentil vertute (V. 10) und die salute (V. 13) seiner donna ganz im Vagen gelassen hatte. Auch der Begriff der ira war zwar bei Cavalcanti vorgekommen, aber unter anderem Vorzeichen, nämlich als Abgrenzung von der umiltà der Herrin (V. 7 f.). Eine weitere Parallele eher formaler Natur findet sich in der Wendung fa tremar lo core (V. 4) – bei Cavalcanti hatte es geheißen che fa tremar di chiaritate l’âre (Chi è questa che vèn, V. 2). In den Terzetten geht Dante nun dazu über, die positiven Effekte des Grußes auf denjenigen, der begrüßt wird, hervorzuheben. Besonderes Gewicht legt er auf die innere Erneuerung, findet doch diese Umwandlung im Herzen (nel core, V. 10) statt: Ogne dolcezza, ogne pensero umile / nasce nel core a chi parlar la sente (V. 9 f.). Der Unsagbarkeitstopos, der sich – wie gesehen – bei Cavalcanti durch das ganze Sonett hindurchzog, wird hier bei Dante auf das letzte Terzett verschoben. Man könnte auch dies als eine weitere Überbietung seines Vorgängers interpretieren, findet Dante im Gegensatz zu Cavalcanti doch sehr wohl Worte, seine Herrin zu rühmen. Erst in den letzten Versen des Gedichts (V.  12–14) greift auch Dante auf diese Unsagbarkeit zurück – um hierbei gleich einen Begriff einzuführen, der die Spiritualisierung Beatrices weiter vorantreibt: sì è novo miracolo e gentile (V. 14). Beatrice ist also nicht nur gentile, sondern sie ist sogar ein Wunder (miracolo). Das Wort erscheint hier erstmals in der Vita Nova und wird im zweiten Lobsonett Tanto gentile wieder aufgenommen, wie wir gleich sehen werden. Zudem verwendet Dante es noch drei (!) weitere Male im Zusammenhang mit der Dreifaltigkeit, und zwar im Exkurs über die Zahl Neun (VN 19), deren enger Zusammenhang mit Beatrice ihren wunderbaren Charakter unter­ mauert. Dantes Beweisführung lautet in etwa: Drei ist die Wurzel der 72  Ibd.

73  Auch hier gibt es Parallelen bei den Vorgängertexten, hatte es doch schon bei Guinizzelli geheißen: ch’abassa orgoglio a cui dona salute (Io voglio del ver, V. 10); bei Frescobaldi per lei ogni vizio s’uccida (Quest’è la giovanetta, V. 8).

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Neun (Lo numero del tre è la radice del nove, VN 19, 6) – damit stammt Beatrice direkt aus der Dreifaltigkeit.74 Dass die »Minnedame«75 als miracolo bezeichnet wird, ist eine weitere Neuerung gegenüber den Stilnovisten; in keinem der zuvor analysierten Gedichte taucht dieser Begriff auf.76 Wenn Dante daher seine Herrin als novo miracolo feiert, überbietet er erneut die Vorgänger und zeigt Beatrice als etwas »nie Dagewesenes«.77 Eben diesen Gedanken wird er in Tanto gentile fortführen – und so sei zuletzt noch darauf hingewiesen, dass gentile als allerletztes Wort des vorliegenden Gedichtes Negli occhi porta eine exponierte Stellung innehat. Nun wird es in ebenso markanter Position zu Beginn des zweiten Grußsonetts wieder aufgenommen, diesmal verstärkt durch tanto (VN 17, 5–7): Tanto gentile e tanto onesta pare la donna mia quand’ella altrui saluta, ch’ogne lingua deven tremando muta e gli occhi no l’ardiscon di guardare. Ella si va, sentendosi laudare, benignamente d’umiltà vestuta; e par che sia una cosa venuta da cielo in terra a miracol mostrare. Mostrasi sì piacente a chi la mira, che dà per gli occhi una dolcezza al core, che ‘ntender no·lla può chi no·lla prova; e par che della sua labbia si mova un spirito soave pien d’amore, che va dicendo all’anima: Sospira. 74  Cf. zur Zahl Neun als numero amico Beatrices (VN 19, 3 bzw. 5) Seitschek, Schöne Lüge, S. 181–183. 75  Regn, Dantes Beatrice, S. 135 et passim. 76  Aus eben diesem Grunde erscheint die Gleichsetzung von Beatrice als Engel und als Wunder bei M. Santagata nicht ganz zutreffend, wird doch Beatrice in der Vita Nova nur zweimal als Engel bezeichnet, zum einen gleich zu Beginn kurz nach dem innamoramento (questa angiola giovanissima, VN 1, 9); zum andern just in der einleitenden Prosa zu Tanto gentile, wo andere Personen wie folgt über Beatrice sprechen: Questa non è femina, anzi è de’ bellissimi angeli del cielo (VN 17, 2). Die stilnovistische Gleichsetzung zwischen donna und angelo ist in der Vita Nova ausgeblendet bzw. eben überboten. Dieser Gedanke der Überbietung sowie der Spiritualisierung Beatrices wird bei Santagata nicht erwähnt. Cf. M. Santagata, »La donna del miracolo«, ders., Amate e amanti. Figure della lirica amorosa fra Dante e Petrarca, Bologna 1999, S. 13–61, hier S. 24; s. auch S. 27 f. et passim. 77  Auch das Epitheton mirabile wird in der Vita Nova mehrfach auf Beatrice angewendet, und zwar an bedeutsamen Stellen, so gleich im Zusammenhang mit ihrem ersten Gruß in VN 1, 12 sowie bei der Grußverweigerung in VN 5, 4; die Reihe ließe sich noch fortsetzen. Ebenso gebraucht Dante des öfteren den Begriff maraviglia, wenn er von Beatrice spricht, beispielsweise in der Giovanna / Primavera-Episode (Io mi senti’ svegliar dentro allo core, VN 15, 7–9, V. 11).



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Dieses tanto (V. 1) erfordert eine Konsequenz – und im anschließenden Konsekutivsatz (ch’ogne lingua deven tremando muta / e gli occhi no l’ardiscon di guardare, V. 3 f.) werden denn auch die Auswirkungen von Beatrices Gruß erneut thematisiert, wiederum mit starkem Rückbezug zu Cavalcanti einerseits und Negli occhi porta andererseits. Denn das Erzittern und Verstummen lässt sowohl das tremar Cavalcantis wieder anklingen (Chi è questa che vèn, V.  2) als auch den Unsagbarkeitstopos (ch’ogne lingua deven tremando muta, V. 3). Der zweite Effekt, der in V. 4 zum Ausdruck kommt (e gli occhi no l’ardiscon di guardare) nimmt den Gedanken der beschämten Reue aus Negli occhi porta wieder auf, wo V. 5 lautet: sì che, bassando il viso, tutto smore. Dieses Bereuen der eigenen Sünden und Schwächen ist die Voraussetzung für die moralische Läuterung, die durch den Gruß Beatrices bewirkt wird – ja sogar schon durch ihren Blick, denn in Negli occhi porta hatte es geheißen che si fa gentil ciò ch’ella mira (V. 2), während das Verb mira in Tanto gentile auf den Betrachter bezogen wird: Mostrasi sì piacente a chi la mira (V. 9). Mostrasi nimmt hier den unmittelbar vorhergehend Vers 8 wieder auf (a miracol mostrare) und leitet zugleich die Terzette ein, in denen wiederum die effetti miracolosi Beatrices ausgemalt werden, die in beiden Gedichten unter dem Oberbegriff der »Süßigkeit« im Herzen zusammengefasst sind: Ogne dolcezza, ogne pensero umile / nasce nel core a chi parlar la sente (Negli occhi porta, V. 9 f. – also ebenfalls zu Beginn des ersten Terzetts) bzw. che dà per gli occhi una dolcezza al core (Tanto gentile, V. 10). Dieser Gedanke der dolcezza, der aus der Mystik stammt78, kehrt in allen Gedichten auch in einer Reihe von Adjektiven wie etwa soave oder piacente wieder – zugleich wird natürlich auch der Dolce Stil Novo evoziert. Ein einziges Sonett reicht Dante nicht aus, um Beatrice angemessen zu rühmen, daher folgt sogleich ein weiteres.79 Dass zwei Gedichte in einem Kapitel stehen, ist eine Besonderheit, die in der Vita Nova insgesamt nur dreimal vorkommt, und zwar jedes Mal an bedeutenden Stellen.80 Im vorliegenden Fall geht es Dante darum, Beatrices Vorzüge unter verschiedenen Aspekten zu preisen. Im ersten, Tanto gentile, stand wie gesehen der Gruß und seine heilsame Wirkung auf Dante selbst im Vordergrund, während das zweite, Vede perfectamente, den veredelnden Einfluss auf die anderen don78  Zum Einfluss der Mystik in der Vita Nova s. auch Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 60 f. 79  Cf. zu den Lobsonetten auch De Robertis, Il libro della »Vita Nuova«, S. 136– 142. 80  Die anderen beiden, VN 3 und VN 13, präludieren jeweils den Tod Beatrices: In VN 3 stirbt eine Freundin von ihr, in VN 13 ihr Vater. Daneben gibt es noch drei Kapitel in der Vita Nova, die aus reiner Prosa bestehen (Kap. 16, 19 und 31); damit ist die Symmetrie des Werkes wiederhergestellt.

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ne hervorhebt. Auch durch die Wendung tanto gentile sind diese beiden Sonette eng verbunden, da diese im nächsten Gedicht, Vede perfectamente, zu Beginn des zweiten Terzettes wieder aufgenommen wird (VN 17, 10–13): Vede perfectamente ogne salute chi la mia donna tra le donne vede: quelle che vanno con lei son tenute di bella gratia a Dio render merzede. E sua beltate è di tanta virtute, che nulla invidia all’altre ne procede, anzi le face andar seco vestute di gentilezza, d’amore e di fede. La vista sua fa ogni cosa umile; e non fa sola sé parer piacente, ma ciascuna per lei riceve onore. Ed è negli acti suoi tanto gentile, che nessun la si può recare a mente che non sospiri in dolcezza d’amore.

In diesem Gedicht geht es nicht mehr explizit um den Gruß Beatrices, wohl aber um das »Heil« (salute, V. 1), das von ihr ausgeht. Dieses wird sogar noch mehr hervorgehoben durch perfectamente und ogne – die Spiritualisierung Beatrices wird also weiter gesteigert. In diesem Fall wird ihr wunderbarer Einfluss ausgeweitet auf die sie umgebenden Damen, welche allein aufgrund der Präsenz der gentilissima ihrerseits ingentilite, also »veredelt« werden, wie Dante es an anderer Stelle (VN 13, 11) ausdrückt. Diese gentilezza, der Seelenadel, wird – wie G. Regn treffend zusammenfasst – »zum Schlüsselbegriff einer Innerlichkeit, in der die Frau zwar unberührbare Herrin bleibt, aber gleichwohl weniger durch ihren Stolz ausgezeichnet ist als vielmehr durch Ehrsamkeit, Sanftheit und Demut.«81 Diese Vorzüge gehen von Beatrice auf die anderen donne über, wie Dante in diesem Sonett hervorhebt: So ruft Beatrices Vorrang bei ihren Gefährtinnen keinen Neid hervor (nulla invidia all’altre ne procede, V.  6), sondern sie nehmen zu an Tugenden: le face andar seco vestute / di gentilezza, d’amore e di fede (V. 7 f.). In den Terzetten vergrößert sich der Personenkreis, dem die wunderbaren Wirkungen zuteil werden, ein weiteres Mal (ogni cosa, V. 9 und ciascuna, V. 11), wie Dante auch selbst in der zugehörigen Prosa kommentiert: […] non solamente nelle donne, ma in tutte le persone, e non solamente nella sua presentia, ma ricordandosi di lei, mirabilemente operava (VN 17, 15). Der Begriff des Wunderbaren wird explizit im Adverb mirabilemente gekennzeichnet.82 Regn, Dantes Beatrice, S. 136. interessante Deutung findet sich bei Santagata: Das »wahre Wunder«, das Beatrice vollbringt, bestehe in der Vergrößerung des Personenkreises, dem die wunderbaren Wirkungen zuteil werden – also nicht mehr nur der elitären Gruppe der 81  G.

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Das Motiv der anderen edlen Damen zieht sich durch die ganze Vita Nova hindurch. Immer wieder sieht man Beatrice im Kreis anderer donne gentili auftreten, Dante selber unterhält sich mit ihnen – beispielsweise auch an der zentralen Stelle, wo er den Übergang zum stilo della loda erläutert. So lautet ja der Titel der zugehörigen Kanzone Donne ch’avete intellecto d’Amore. Und auch im dritten Teil, nach Beatrices Tod, wird sich dies noch fortsetzen. Im vorliegenden Fall erkennt man die Verknüpfung mit dem eben genannten ersten Grußsonett, Negli occhi porta, denn hier lautet der 8. Vers: Aiutatemi, donne, farle onore. Hier werden die Damen sogar aufgerufen, sich am Preis der Beatrice zu beteiligen. Übrigens wird auch der Begriff onore wieder aufgenommen in Vede perfectamente, diesmal sozusagen unter umgekehrtem Vorzeichen, denn hier sind es die anderen Frauen, die durch Beatrice Ehre erhalten (ciascuna per lei riceve onore, »jede erhält durch sie Ehre«, V. 11). Von hier spannt sich ein weiterer Bogen zum letzten Sonett der Vita Nova, Oltre la spera che più larga gira (VN 30, 10–13), denn dort kehrt diese Wendung riceve onore wieder, wie wir gleich noch sehen werden. Ein weiterer Gedanke ist bei diesem Sonett hervorzuheben, nämlich die Häufung von Begriffen aus dem Wortfeld »sehen«, woraus abzuleiten ist, dass nicht nur der Gruß Beatrices wie in den vorangegangenen Gedichten, sondern bereits ihr Anblick die Macht hat, die Umstehenden zu läutern und zu veredeln. La vista sua fa ogni cosa umile (V. 9) – mit diesem Vers werden die Terzette eingeleitet, aber bereits in den ersten beiden Versen fällt zweimal das Verb vede, wodurch ein starker Akzent auf dieses »Sehen«, den Anblick der Herrin gelegt wird – und dies in einem der letzten Lobgedichte, die Dante – in der Fiktion der Vita Nova – zu ihren Lebzeiten verfasst: Noch ist Beatrice also zu sehen, noch ist sie auf Erden – nach ihrem Tod wird Dantes sehnsuchtsvoller Seufzer sie in der Ewigkeit suchen und dort ebenfalls »sehen« – aber eben nicht mehr konkret oder litteraliter, sondern in der Vorstellung, gewissermaßen im sensus anagogicus –, denn im letzten Gedicht der Vita Nova, Oltre la spera (VN 30, 10–13), wird genau dieses Verb vedere ebenfalls zweimal wiederkehren: Vede una donna che riceve onore (Oltre la spera, V.  6) und Vedela tal […] (V.  9). Interessanterweise geht Dante nun im letzten Terzett von Vede perfectamente vom Anblick Beatrices zur Erinnerung an sie über – auch dies ist möglicherweise eine indirekte Vorankündigung ihres Todes – wie er selbst liebenden Dichter, sondern jedem, den sie nur anblickt bzw. grüßt. Damit, so Santagata weiter, entwickle sich auch die Liebeslyrik fort: »Il vero miracolo di Beatrice è forse questo: l’avere impresso alla lirica d’amore la spinta per trasformarsi da criptico alfabeto per iniziati, per coloro che già sanno, in strumento per comunicare a chi vorrebbe o dovrebbe sapere«, Santagata, La donna del miracolo, S. 61; cf. auch S. 46–51.

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in der oben zitierten Prosa dazu explizit deutlich macht: […] ricordandosi di lei […] (VN 17, 15). Im Sonett selber wird dies durch die Formulierung recarsi a mente ausgedrückt (Vede perfectamente, V. 12–14): Ed è negli acti suoi tanto gentile, che nessun la si può recare a mente che non sospiri in dolcezza d’amore.

Dante knüpft hiermit sehr eng an das unmittelbar vorhergehende Lobsonett an, indem er dessen Titel noch einmal aufruft: tanto gentile (V. 12). Das Wort gentile stellt sogar eine besonders enge Verknüpfung zwischen allen drei behandelten Lobsonetten her, da es überall in markanter Position wiederkehrt: Das erste, Negli occhi porta, endet mit diesem Wort (V. 14); das nächste nimmt es bekanntlich gleich in Vers 1 gewissermaßen als Titel wieder auf, sogar noch verstärkt durch tanto: Tanto gentile e tanto onesta pare …; und das dritte schließlich greift eben diese Wendung zu Beginn des zweiten Terzetts (also V. 12) wieder auf, und zwar wiederum am Versende: Ed è negli acti suoi tanto gentile. Auch hier, im vorliegenden Fall, erfordert dieses tanto wiederum eine Folgerung. Beim ersten hatte diese geheißen ch’ogne lingua deven tremando muta (Tanto gentile, V. 3), beim zweiten Mal lautet sie nun che nessun la si può recare a mente / che non sospiri in dolcezza d’amore. Es handelt sich also beide Male um einen leicht variierten Unsagbarkeitstopos, der jeweils verknüpft ist mit den zentralen Begriffen, die wir bereits gesehen haben: Zittern, Seufzen, Süßigkeit der Liebe. So zieht sich auch das Wort dolcezza, Süßigkeit, durch alle drei behandelten Gedichte hindurch. Eine weitere enge Verklammerung zwischen allen drei Sonetten bildet der bekannte »Liebesseufzer«. So erscheint das Wort sospira in Negli occhi porta, V.  6 (am Versende), in Tanto gentile, V. 14 sowie Vede perfectamente ebenfalls in V. 14 – also in den beiden letztgenannten jeweils im letzten Vers, in Tanto gentile sogar wiederum am Versende; somit ist es das letzte Wort des Gedichtes. Auf parallel konstruierte Verse wurde oben im Zusammenhang mit tanto … che bereits hingewiesen; es sei jedoch noch ein weiteres wichtiges (Reim-)Wort erwähnt: Es handelt sich um den Begriff pare, der sich ebenfalls durch alle drei Dante-Sonette hindurchzieht. Dante bezieht sich damit wiederum auf Cavalcanti, aber auch auf Guido Guinizzelli und Cino da Pistoia – allerdings wird das Wort bei allen Dichtern semantisch unterschiedlich verwendet, wie A. Kablitz eingehend untersucht hat.83 Die Reihe ließe sich noch fortsetzen. Festzuhalten bleibt in jedem Fall, dass wir es hier mit dem bemerkenswerten Beispiel einer »Textfiliation« zu tun haben, wobei die intertextuellen Referenzen zwischen den einzelnen 83  Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, S. 49–55. Zu der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs bei Dantes Vorgängern s. v. a. ebd. S. 49.



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Gedichten ein konstitutives Merkmal bilden.84 Hervorzuheben ist dabei auch, dass ein weiterer wesentlicher Bestandteil dieser Lyrik in der angeblichen unmittelbaren göttlichen Eingebung liegt, wie Dante in der Vita Nova mehrmals explizit formuliert (z. B. VN 6, 7: […] mi giunse volontà di scrivere parole rimate; VN 9, 1: mi mosse una volontà di dire […] parole; VN 10, 13: Allora dico che la mia lingua parlò quasi come per sé stessa mossa […]). Die Gegensätzlichkeit zwischen diesen beiden Elementen – das angeblich spontane »Sprechen« aufgrund direkter Inspiration Amors einerseits und das raffinierte, ausgesuchte und kunstvolle intertextuelle Spiel einerseits85 – ist es, die auch heute noch bei der Lektüre fasziniert. V.  Der Tod Beatrices / Beatrice beata Aus der wunderbaren Natur Beatrices ergibt sich fast notwendigerweise die Folgerung, dass ihr Verbleiben auf Erden nur von kurzer Dauer sein kann, da ein solch quasi-übernatürliches Wesen in den Himmel »gehört«. Nachdem Beatrice als von Gott gesandtes Wunder, als Heilbringerin, eben als donna della salute und beatrice zelebriert worden war, kehrt sich mit ihrem Sterben dieser Gedanke gewissermaßen um, da sich der Blick des Dichters nunmehr auf den Himmel richtet. Bereits in Donne ch’avete hieß es Madonna è disïata in sommo cielo (V. 29). Mit dem Sterben Beatrices nun erfüllt sich dieser Wunsch – und Dante leitet auf eindrucksvolle Weise zu diesem zentralen Ereignis der Vita Nova über: Denn im Anschluss an die oben behandelten Gedichte des stilo della loda verfasst Dante zum selben Thema noch eine Kanzonenstrophe mit dem Titel Sì lungiamente m’à tenuto Amore (VN 18, 3–5). Diese bricht jedoch unvollendet ab – und das folgende Kapitel setzt unvermittelt ein mit einem Zitat aus den Lamentationes des Propheten Jeremias (Jer. 1, 1): Quomodo sedet sola civitas plena populo! facta est quasi vidua domina gentium (VN 19, 1). Erst danach erklärt Dante, wie er während der Arbeit an dieser Kanzone unversehens vom Tode Beatrices überfallen wird (VN 19, 1): Io era nel proponimento ancora di questa canzone, e compiuta n’avea questa soprascripta stantia, quando lo Signore della iustitia chiamòe questa gentilissima a gloriare sotto la ‘nsegna di quella Regina benedecta Maria, lo cui nome fue in grandissima reverenzia nelle parole di questa Beatrice beata. 84  Cf. hierzu Kablitz, Intertextualität als Substanzkonstitution, v. a. S. 24–62; Zitat S. 24 et passim. 85  R. Warning hat diese Gegensätzlichkeit in seinem bereits zitierten Aufsatz treffend charakterisiert: »Die Dimension freilich, in der sich der stilo de la loda tatsächlich konstituiert, ist nicht die der – vertikalen – Inspiration, sondern der – horizontalen – imitatio literarischer Vorbilder.« (Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 295).

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Anhand dieser Textstelle lässt sich bereits verdeutlichen, wie Beatrice mit ihrem Sterben glorifiziert und unter die Heiligen eingereiht wird – der stilo della loda wird auf eine höhere, transzendente Ebene gehoben und vollzieht sich nunmehr in einem spirituellen Kontext. Dadurch, dass der Tod der Herrin überhaupt thematisiert wird, entfernt sich Dante nunmehr vollständig von seinen Vorgängern: »Neither Guinicelli nor Cavalcanti had written ­poems on the death of the beloved.«86 War bereits die Grußverweigerung ein wesentliches strukturierendes Element in der Handlung der Vita Nova, so ist der Tod Beatrices das zentrale Ereignis schlechthin.87 Dies ist auch daran erkennbar, dass er im Laufe des Werkes durch eine Reihe von Vorzeichen angekündigt wird: So stirbt bereits in Kap. 3 eine Freundin von Beatrice, in Kap. 13 ihr Vater. In 14 ist Dante selbst krank und sieht in einer Vision ihren Tod, der in vielen Details mit dem Tod Christi analog dargestellt wird; es bebt beispielweise die Erde, und der Himmel verdunkelt sich.88 Diese Vision schildert Dante in der zweiten langen Kanzone, die genau in der Mitte aller metrischen Teile der Vita Nova steht (Donna pietosa e di novella etate; VN 14, 17–28).89 In Kap. 19 tritt dieser Tod nun tatsächlich ein, aber interessanterweise geht Dante hier gar nicht ausführlich darauf ein, sondern fügt statt dessen den oben erwähnten Exkurs über die symbolische Bedeutung der Zahl Neun ein, die in vielerlei Hinsicht mit Beatrice verknüpft ist. Auch kündigt hier Dante explizit noch einmal ein neues Thema, nuova materia (VN 19, 8) an – wir sind nun also im dritten und letzten Teil der Vita Nova (19–31 bzw. XXVIII–XLII). Die nun folgenden Gedichte handeln zunächst einmal vor allem von Dantes Trauer über den Tod der Geliebten (so etwa die dritte lange Kanzone Gli occhi dolenti per pietà del core; VN 20, 8–17). Zum anderen wird sie aber nunmehr als Heilige des Himmels gepriesen, wie sich bereits aus der oben zitierten Textstelle herauskristallisiert: Beatrice wird von Gott dahin zurückgerufen, von wo sie ausging – und ein zusätzlicher Akzent wird auf die göttliche Gerechtigkeit gelegt: lo Signore della iustitia chiamòe questa gentilissima. Die Glorifizierung Beatrices wird gleich mehrfach ausgedrückt; zum einen wird sie gerufen a gloriare, also »um an der Glorie teilzuhaben«, zum anderen wird sie als Beatrice beata mit einem stark marianischen Be86  Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 95. Cf. dazu auch Wehle, Dichtung über Dichtung, S.  19 f. 87  Cf. Warning, Imitatio und Intertextualität, S. 293. 88  Zur Analogie zwischen Beatrice und Christus in der Vita Nova cf. Singleton, An Essay on the Vita Nuova, S. 20–24, G. Regn, ›Allegorice pro laurea corona‹: Dante, Petrarca und die Konstitution postmittelalterlicher Dichtungsallegorie, Romanistisches Jahrbuch, 51 (2000), S. 128–152, hier S. 133–135 sowie Santagata, La donna del miracolo, S. 48–51 u. 57 f. 89  Cf. zur Todesvision ausführlich Seitschek, Schöne Lüge, S. 176–181.



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zug bezeichnet.90 Das Epitheton gentilissima, das Dante auch zu ihren Lebzeiten auf Beatrice angewendet hatte, tritt in der Vita Nova insgesamt 27mal auf – auch hier spielt die Zahlensymbolik um die Zahlen Drei und Neun eine Rolle.91 Zu beachten ist dabei natürlich auch der Superlativ gentilissima, der nur für Beatrice zutrifft, während die Form gentile für andere auftretende Damen, etwa die donne schermo gebraucht wird. Neben diesem Adjektiv tritt nun verstärkt ein weiteres auf, das sie ganz klar als Heilige des Himmels ausweist: Insgesamt sechsmal wird Beatrice gloriosa genannt92, weitere dreimal findet sich das dazu gehörige Adverb gloriosamente im Text93 – insgesamt also wieder neunmal. Dante hat sich nunmehr weit entfernt vom Frauenlob der Stilnovisten – aus der stilisierten donna angelicata ist die spiritualisierte gloriosa Beatrice geworden. VI. Trauer und Transzendenz Die zuvor bereits angesprochene Abwärts- und Aufwärtsbewegung – Beatrice war als von Gott gesandtes Wunder vom Himmel gekommen und wurde nun dorthin zurückgerufen – wird verstärkt wieder aufgenommen im letzten Sonett der Vita Nova, in dem dieser Transzendenzbezug besonders deutlich aufscheint (VN 30, 10–13): Oltre la spera che più larga gira passa ‘l sospiro ch’esce del mio core: intelligenza nova, che l’Amore piangendo mette in lui, pur sù lo tira. Quand’elli è giunto là ove disira, vede una donna, che riceve onore, e luce sì, che per lo suo splendore lo peregrino spirito la mira. Vedela tal, che quando ‘l mi ridice, io no·llo ‘ntendo, sì parla sottile al cor dolente, che lo fa parlare. So io che parla di quella gentile, però che spesso ricorda Beatrice, sì ch’io lo ‘ntendo ben, donne mie care.

Der zuvor bereits erwähnte Seufzer kehrt in substantivierter, ja geradezu personifizierter Form wieder und wird vom Dichter in den Himmel »ent90  Marianische Anspielungen bzw. Analogien gibt es mehrfach in der Vita Nova, auch schon zu Beatrices Lebzeiten. So wird sie beispielsweise in VN 5 als regina delle vertudi bezeichnet (VN 5, 2). 91  Nicht nur 3 · 9 = 27, sondern auch 33 – also die Selbstpotenzierung der 3. 92  VN 1, 2; 21, 1; 22, 1; 26, 2; 28, 1. 93  VN 14, 7; 29, 1; 31, 3.

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sandt«, wohin er sich mithilfe einer intelligenza nova (V. 3), einer neuen Einsicht begeben kann und wo er die glorifizierte donna in ihrer Herrlichkeit erblickt (vede una donna, che riceve onore, / e luce sì, che per lo suo splendore / lo peregrino spirito la mira, V.  6–8). Soweit die Aufwärtsbewegung in den beiden Quartetten. Die entsprechende Abwärtsbewegung findet nun in den Terzetten statt, wo der »Seufzer«, der mittlerweile zum »Pilgergeist« geworden ist (peregrino spirito, V. 8) sozusagen zum Dichter zurückkehrt und berichtet, was er »gesehen« hat: quando ‘l mi ridice (V. 9). Im letzten Terzett steht der Dichter, das Subjekt, nun selbst im Zentrum (So io […], V.  12), bis er mit der Anrede an die donne im letzten Vers gewissermaßen wieder »festen Boden unter den Füßen hat« (donne mie care, V. 14). Zugleich spannt sich mit dieser Anrede an die Damen ein Bogen zurück zur Einleitung des stilo della loda, denn die zugehörige Kanzone trägt bekanntlich den Titel Donne ch’avete intellecto d’amore. Abgesehen davon werden die donne natürlich an vielen weiteren Stellen in der Vita Nova angesprochen, wie wir gesehen haben. Nicht zuletzt deshalb kann man dieses Gedicht beinahe als eine Art Synthese des stilnovistisch orientierten Frauenlobs deuten. Zugleich verdichtet sich hier aber auch der Lobpreis der gloriosa Beatrice im Himmel. Die Grundthemen der Vita Nova werden noch einmal durchgespielt: An erster Stelle natürlich die Liebe zu Beatrice an sich, die aber gleich mit der Trauer um sie verbunden wird – daher auch der sehnsuchtsvolle Seufzer (sospiro; V. 2), der zusätzlich auch auf die oben interpretierten Lobsonette zurückverweist. Die Thematik der Trauer wird fortgesetzt in cor dolente (V. 11). Der stilo della loda wird wieder aufgerufen in una donna che riceve onore (V.  6) – damit werden zwei der Lobsonette zitiert: Aiutatemi, donne, farle onore (Negli occhi porta, V. 8) und ciascuna per lei riceve onore (Vede perfectamente, V. 11). Ebenso kehrt das Frauenlob am Ende in den Versen 12 / 13 wieder: […] quella gentile / […] Beatrice. Dadurch wird zum einen noch einmal betont, dass Beatrice der Inbegriff der gentilezza ist, zum anderen wird auch an den engen Zusammenhang der Liebeslehre des Dolce Stil Novo mit dem cor gentile erinnert. Diese uns bereits vertraute Thematik wird nun in einen spirituellen bzw. transzendenten Kontext überführt und erhält somit einen neuen, höheren, ja geradezu anagogischen Sinn. Ziel des sospiro ist das Empyreum, der Sitz Gottes und der Seligen, der jenseits der letzten Himmelssphäre liegt (Oltre la spera che più larga gira, V. 1). Im zweiten Quartett wird daher auch beschrieben, was Dantes spirito im Himmel sieht, nämlich den »Zustand« der seligen Beatrice. Dieser wird mit einer ausgeprägten Lichtmetaphorik umschrieben, wie sie später auch das Paradiso kennzeichnen wird. Auffällig stark vertreten sind das Wortfeld »Licht« und – wie oben bereits angedeutet – das Wortfeld »sehen«, so gleich zu Beginn des ersten Terzetts: Vedela



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tal (9): Der spirito sieht Beatrice »in einem solchen Zustand« (tal), dass es mit irdischen Ausdrucksmitteln nicht zu beschreiben ist – hier kehrt also der Unsagbarkeitstopos wieder. Paradoxerweise findet sich aber gerade in den Terzetten eine Anhäufung von Verben aus dem Wortfeld »sprechen« (ridice, V. 9; parla, V. 10; lo fa parlare, V. 11; parla, V. 12; ricorda, V. 13 – im Sinne von »erwähnen«). Wenn wir uns erinnern, dass im stilnovistischen Diskurs parlare und dire auch im Sinne von »Dichten« verwendet wird, könnte man diesen Kunstgriff Dantes auch als eine weitere Überbietung des stilnovistisch orientierten Frauenlobs deuten: Obwohl er den Unsagbarkeits­ topos gewissermaßen als Stilmittel einsetzt, ist er sehr wohl imstande, seine Herrin zu rühmen – und zwar in nie dagewesener Weise, nämlich indem er sie unter die Heiligen des Himmels einreiht und ihr eine spirituelle, überzeitliche Komponente verleiht. Dadurch löst er zugleich auch den oben angesprochenen Konflikt der Stilnovisten auf eine neue Art und Weise: er lässt die weltliche Liebe zu einer irdischen Frau in der ganz transzendenten caritas aufgehen. Beatrice ist für Dante nicht die stilisierte donna angelo, sondern donna della salute, die ihn zu Gott hinführt. Bereits zu ihren Lebzeiten liegt seine Seligkeit darin, ihren Lobpreis zu singen; ihr Gruß bedeutet ihm zugleich Heil. Durch ihren Tod wird jedoch seine Liebe zu ihr auf eine noch höhere, spirituell-transzendente Ebene gehoben: Da seine Gedanken sie im Himmel bei Gott suchen, verschmilzt Dantes Liebe zu ihr gleichsam mit der Gottesliebe, seine Liebe ist völlig in überirdische caritas umgewandelt. Dass Beatrice für Dante dennoch nicht an die Stelle Gottes tritt, sondern für ihn eine Art Mittlerin darstellt, machen die letzten Worte der Vita Nova deutlich: E poi piaccia a colui che è sire della cortesia che la mia anima sen possa gire a vedere la gloria della sua donna, cioè di quella benedecta Beatrice, la quale gloriosamente mira nella faccia di Colui »qui est per omnia secula benedictus«.

Panegyrik in der englischen Renaissance: George Puttenhams epideiktische Poetik und Shakespeares Verwendung des Enkomiums Von Wolfgang G. Müller I. Von der deliberatio zur laudatio in der Poetik der Renaissance Es gibt wohl kaum ein anderes Thema, das von so zentraler Bedeutung für die literarische Kultur der Renaissance ist wie die Panegyrik. Innerhalb der drei rhetorischen Hauptgattungen, Gerichtsrhetorik (genus iudiciale), politische Rhetorik (genus deliberativum) und Festrhetorik (genus demonstrativum), kam der Festrhetorik und damit der Panegyrik zunehmend große Bedeutung zu.1 In der Erziehung der künftigen Anwälte war die forensische Rhetorik ein unverzichtbarer Bestandteil, von großem Nutzen für die spätere Rechtspraxis. Der Klassiker auf diesem Gebiet ist Thomas Wilsons Arte of English Rhetorike (1553).2 Für die politische Rhetorik gab es noch relativ wenig öffentlichen Spielraum, aber in der Schule und der Universität wurde die Kunst der Disputation intensiv gepflegt. Die privilegierte Gattung der Rhetorik war aber die Epideixis oder das genus demonstrativum. Diese war von so großer Bedeutung für die Literatur der Renaissance, dass Coluccio Salutati, Schüler Petrarcas und Kanzler von Florenz, dem Redner als vir bonus dicendi peritus den Dichter als vir optimus laudandi peritus gegenüberstellte.3 Die Epideixis umfasst Lob und Tadel. Sie ist im feudalen System ein Mittel, die Einstellung gegenüber Personen höheren Rangs auszudrücken, wobei die Rhetorik des Lobs, d. h. die Panegyrik, bei den vielfältigen festlichen Anlässen am Hof gepflegt wurde. Weil dabei die ästhetische Qualität der Rede, die Schönheit und Kunstfertigkeit der Sprache, 1  Dieser und der nächste Absatz folgt Heinrich F. Plett, Rhetoric and Renaissance Culture, Berlin-New York 2004. 2  Hierzu Wolfgang G. Müller, »Directions for English: Thomas Wilson’s Art of Rhetoric, George Puttenham’s Art of English Poesy, and the Search for Vernecular Eloquence«, The Oxford Handbook of Tudor Literature, hg. Mike Pincombe, Cathy Shrank, Oxford-New York 2009, 307–322. 3  Hierzu O. B. Hardison, Jr., »The Orator and the Poet: the Dilemma of Humanist Literature«, Journal of Medieval and Renaissance Studies 1 (1971), 33–44, hier 36.

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eine herausragende Rolle spielte, war die Übertragung in epideiktische Dichtungsgattungen eine natürliche Folge, wie z. B. in Preisgedichten auf eine (weibliche) Person (blazon), Geburtstagsoden, Hochzeitsgedichten, Trauerelegien und Gedichten anlässlich militärischer Erfolge. Die Epideixis spielt durchaus eine politische Rolle im Kampf um Positionen am Hof, denn der Höfling konnte durch die Kunst der panegyrischen Rede und Dichtung Ansehen gewinnen und seine Aufstiegsmöglichkeiten verbessern. Ein herausragender Text zur Theorie der panegyrischen Rhetorik und Literatur ist The Arte of Poesie, die 1589 anonym veröffentlich wurde, aber in der Forschung einmütig George Puttenham zugeschrieben wird. Dabei handelt es sich um ein höfisches Konversationsbuch,4 das dazu dienen sollte, es dem englischen Höfling, der als poeta orator, Dichter und Rhetor in einer Person, verstanden wurde, sich am Hof als einem Ambiente mit vielfältigen sozialen Spannungen und einem strikten Verhaltenskodex zu behaupten. Speziell war es das Ziel dieser Poetik, die Hofdamen und Höflinge in der Kunst des schönen Scheins zu unterweisen, die Hauptaufgabe sowohl des Höflings wie des Dichters sei, »[to teach] Ladies and young Gentlewomen, or idle Courtiers, desirous to become skilful in their owne mother tongue […] beau semblant, the chiefe profession aswell of Courting as of poesie« (132, S iiijv).5 Der panegyrische Grundzug der Poetik zeigt sich schon darin, dass sie Königin Elisabeth gewidmet ist – ›tending to the most worthy prayses of her Maiesties most excellent name‹ (2, AB iijv) – und dass das Frontispiez ihr Portrait mit der Aufschrift ›A colei Che se stessa raßomiglia, & non altrui‹ trägt.6 Diese doppelte Hommage belegt Puttenhams Ideal des höfischen Diskurses, das der epideiktischen Gattung Vorrang einräumt. Die Bewegung vom forensischen zum epideiktischen Genre ist hier vollständig vollzogen. Für Puttenham sind die Dichter Sprachrohr von Lob und Tadel: »the Poets being in deede the trumpetters of all praise and also of slaunder« (28, F ijv). In seiner innovativen Klassifikation der literarischen Gattungen, die einen großen Teil seiner Schrift ausmacht, benutzt Puttenham Lob und Tadel als bestimmende Definitions4  Die Eigenschaft von The Arte of Poesie als Konversationsbuch wurde erkannt von Daniel Javitch, »Poetry and Court Conduct: Puttenham’s Arte of English Poesie in the Light of Castiglione’s Cortegiano«, Modern Language Notes 87 (1972), 865–882. 5  Zitiert wird nach The Arte of English Poesie, London 1589. 6  »Für diejenige, die nicht mit anderen verglichen werden kann« [Übersetzung  – WGM]. Es ist bemerkenswert, dass Puttemham am Ende eines Überblicks über die englischen Dichter Königin Elisabeth als überragende Dichterin preist, die in den Gattungen der Ode, der Elegie und des Epigramms und auch sonst exzelliert habe, wofür es keine historische Evidenz gibt. Hierzu Müller, »Directions for English«, 318.



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kriterien. Die politische Bedeutung der panegyrischen Rhetorik offenbart sich am Ende des Buchs, als Puttenham sein Lob der Königin erneut und um ein höheres Amt bittet: »I presume so much vpon your Maiesties most milde and gracious iudgement howsoeuer you conceiue of myne abilitie to any better or greater seruice« (258, LI iijv). Der hier erfolgende Bezug auf aufstrebende Geister, die sich mit Staatsangelegenheiten beschäftigen wollen – »these great aspiring mynds and ambitious heads of the world seriously searching to deale in matters of state« – gewährt einen Blick auf den Hof als eine Welt der Patronage, des Machtspiels und des Ehrgeizes.7 Shakespeares dramatisches Werk befindet sich insofern in Übereinstimmung mit der Präferenz der Renaissance für die Panegyrik, als in ihm die Rhetorik des Lobs umfassend in Erscheinung tritt, jedoch kaum als den Bau seiner Dramen als ganze bestimmendes Ausdrucksmittel, sondern an einzelnen Stellen, die in der Regel rhetorische und dramatische Höhepunkte bilden und für die Gesamtaussage der Werke von erheblicher Bedeutung sind. Man darf Shakespeares Werke auch nicht einfach als Ausdruck der höfischen Kultur seiner Zeit verstehen. Gegenüber der Affirmation des Höfischen dominiert eindeutig die Hofkritik,8 was sich auch in seiner spezifischen Verwendung panegyrischer Ausdrucksformen zeigt.9 II. Das Spiel mit den rhetorischen Gattungen in der Forumsrede des Antonius in Julius Caesar Ein Drama, in dem das Enkomium signifikant hervortritt, ist Julius Caesar, z. B. in Cäsars Selbstapotheose vor seiner Ermordung und in den Enkomien in den Sterbeszenen. Diese Lobreden bleiben hier unberücksichtigt.10 Nur das abschließende Enkomium, das Antonius über dem Leichnam von Brutus hält, sei zitiert, This was the noblest Roman of them all. All the conspirators save only he, Did that they did in envy of great Caesar. 7  Hierzu Frank Whigham, Ambition and Privilege: The Social Tropes of Elizabethan Courtesy Theory, Berkeley 1984. 8  Zur Hofkritik immer noch Claus Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik, Berlin 1973. 9  In mancher Hinsicht gründet sich dieser Beitrag auf frühere Arbeiten des Verfassers zu rhetorischen Mitteln und Bauformen bei Shakespeare, aber seine Konzeption und Textauswahl sind weitgehend neu. Siehe als Vorarbeit besonders »Encomium and Apotheosis in Shakespeare’s Dramatic Works«, Texting Culture – Culturing Texts, hg. Anja Müller-Wood, Trier 2008, 25–41. 10  Vgl. Müller, »Encomium and Apotheosis«, 29–30.

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He only in a general honest thought And common good to all made one of them. His life was gentle, and the elements So mixed in him that Nature might stand up And say to all the world, ›This was a man.‹ (V.5.67–74)11

weil es eine besondere dramatische Funktion aufweist. Dieses Enkomium, das sich der Apotheose annähert, wird nämlich ausgerechnet von Antonius gehalten, der das ganze Stück hindurch der Feind von Brutus war und ihn verbal verunglimpft hatte. Antonius übernimmt an dieser Stelle die Funktion des Lobredners. Er tritt damit gleichsam aus den Konflikten des Dramas heraus. Das ist als eine der Techniken der Schlussgebung zu verstehen. Ich wende mich aber einer im Hinblick auf Shakespeares Verwendung des Enkomiums wesentlich komplexeren Rede zu, der Rede des Antonius auf dem Forum in Akt III.2. Brutus hat Antonius im Tumult nach der Ermordung des Diktators gegen den Widerstand des Cassius die Erlaubnis gegeben, eine Leichenrede auf Cäsar zu halten. Jeder Angriff auf die Verschwörer habe zu unterbleiben, aber von Cäsar könne er alles Gute sagen: You shall not in your funeral speech blame us; But speak all good you can devise of Caesar. (III.1.247–248)

Damit ist der Rede des Antonius der Rahmen vorgegeben, an den sich der Redner auch hält oder zu halten scheint. Er spricht eine laudatio auf den toten Cäsar, und er tadelt, zumindest nach außen hin, die Verschwörer nicht. Im Gegenteil lobt er sie, besonders Brutus, ausdrücklich. Das insistierend wiederholte »Brutus is an horourable man« ist das deutlichste Zeichen dieser zur Schau gestellten laudatorischen Intention. Der Satz ist, wenn wir so wollen, eine laudatio im Kleinen. Antonius treibt in seiner Rede ein raffiniertes Spiel mit der Rhetorik und den rhetorischen Gattungen. Wenn er immer wieder Brutus’ Ehrenhaftigkeit betont, suggeriert er nicht nur das Gegenteil des wortwörtlich Gesagten, sondern er benutzt das Prinzip ironischer Subversion auch auf der Ebene der Gesamtstruktur der Rede.12 Er funktioniert die Redegattungen um. Er nutzt die laudatio, um Wirkungen einer accusatio, einer Anklage gegen die Verschwörer, und einer deliberatio, einer Aufforderung zur Rache zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist auch die zumeist unbefriedigend behandelte Frage zu erörtern, warum Shakespeare Brutus seine Rede in Prosa und Antonius seine Rede in Versen 11  Alle Shakespeare-Zitate sind der Ausgabe von Stephen Greenblatt, The Norton Shakespeare, New York 1997 entnommen. 12  Zur Frage der Ironie in der Rede des Antonius Wolfgang G. Müller, »Verbal Irony in Shakespeare’s Dramatic Works«, Bi-Directionality in the Cognitive Sciences, hg. Marcus Callies, Wolfram R. Keller, Astrid Lohöfer, Amsterdam / Philadelphia 2011, 195–211, hier: 205–206.



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sprechen lässt. Die englische Renaissance-Poetik, wie etwa auch die Poetik der französischen Pléiade, vertritt die Auffassung, dass gebundene Sprache der rhetorischen Ausgestaltung durch Tropen und Figuren mehr Möglichkeiten gibt als die Prosa, dass die Verssprache also wirkungsmächtiger und damit rhetorischer ist als die Prosa.13 Im rhetorischen Triumph des Anto­nius über den Brutus liegt also, in diesem Kontext gesehen, ein Sieg des Verses über die Prosa vor. Hinzu kommt, dass, was unter den Kritikern kaum einer bemerkt hat, die Rede von Brutus völlig frei von übertragenem Wortgebrauch ist,14 während Antonius reichen Gebrauch von Metaphern, Meto­ nymien und anderen Tropen macht. Antonius erscheint also, aus der Perspektive der Renaissance-Poetik betrachtet, als poeta-orator, als eine Ver­ einigung von Redner und Dichter, die dem Ideal des Panegyrikers in Puttenhams Poetik entspricht. Nur dass Puttenham eine Nutzung der Rhetorik zu Zwecken von Lüge und Betrug ausgeschlossen wissen wollte. Man würde wohl zu weit gehen, wenn man Antonius insgesamt als Personal­ union von Dichter und Rhetoriker verstehen würde, ein Ideal, das in der Renaissance immer wieder beschworen wurde. Dazu ist Antonius zu sehr Machtpolitiker und Demagoge, aber zum kulturgeschichtlichen Verständnis seines rhetorischen Triumphs über Brutus ist der Kontext der panegyrischen Rhetorik- und Dichtungskonzeption des Zeitalters, namentlich Puttenhams, erforderlich. III. Exemplum und Enkomium in der Selbstrechtfertigung des Protagonisten am Schluss von Othello Ein anderes Beispiel dafür, mit welcher Kunst Shakespeare das Enkomium in die Handlung seiner Dramen einzufügen versteht, ist der Schluss der Tragödie Othello. Nach der Ermordung seiner Frau Desdemona, zu der er durch Iagos perfide Überredungsstrategie bewegt wurde, spielt Othello zunächst keine gute Rolle. Die sterbende Desdemona nimmt die Schuld auf sich. Othello akzeptiert ihre Interpretation der Vorgänge zumindest für einen Moment: »You heard her say, herself, it was not I« (V.2.136). Wenn er dann sagt »She was as false as water« (V.2.144), stellt er sich selbst das denkbar schlechteste Zeugnis als tragischer Held aus. Er bezeichnet sich als einen 13  Eine andere Position vertritt Coluccio Salutati. Siehe Wolfgang G. Müller, »Ars Rhetorica und Ars Poetica. Zum Verhältnis von Rhetorik und Literatur in der englischen Renaissance«, Renaissace-Rhetorik. Renaissance Rhetoric, hg. Heinrich F. Plett, Berlin / New York 1993, 225–234, hier: 232. 14  Eine rühmliche Ausnahme ist Brian Vickers, der sagt, »It is also significant that Shakespeare gives Brutus no imagery in prose«, The Artistry of Shakespeare’s Prose, London 1968, 244.

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ehrenwerten Mörder, der nichts aus Hass, sondern alles um der Ehre willen getan hat, »an honourable murderer«: »For naught I did in hate, but all in honour« (V.2.300–301). In seinem letzten Monolog versucht er jedoch in einem auf sich selbst bezogenen Enkomium, einem encomium ad se ipsum, das seinesgleichen in der Literatur sucht, sich vor den venezianischen Gesandten zu rechtfertigen. In diesem Monolog und der damit zusammenfallenden Handlung handelt es sich um einen außerordentlichen Versuch, wieder heroische Größe zu gewinnen. Es ist kein Raum für eine ausführliche Analyse dieser Rede, die Othello als Botschaft dem Staat Venedig überbracht wissen will. Ich beschränke mich auf den Schluss, in dem sich Othello auf ein früheres Ereignis in seiner Laufbahn als venezianischer General bezieht: And say besides that in Aleppo once, Where a malignant and a turbaned Turk Beat a Venetian and traduced the state, I took by th’ throat the circumcised dog, And smote him thus. He stabs himself.   (V.2.361–365)

Othello vollbringt hier einen großen Selbstinszenierungsakt. Er inszeniert seine Selbsthinrichtung in Analogie zu einer exemplarischen Handlung, die er ehemals als General im Dienst Venedigs vollbracht hat. Das heißt, in der Rede verbindet sich das Enkomium mit einem Exemplum. So wie das Enkomium auf den Sprecher selbst bezogen ist, so entstammt auch das Exemplum dem eigenen Leben des Sprechers. Die Szene ist kontrovers diskutiert worden. Mir geht es darum zu erläutern, wie Shakespeare hier Enkomium und Exemplum zusammenbringt und zwei Handlungen überlagert, erstens Othellos frühere, aus moralischer Entrüstung entstandene Tat (die Tötung eines Ungläubigen, eines Türken, der einen Venezianer geschlagen und den Staat Venedig verunglimpft hatte) und seine gegenwärtige Selbsttötung, die eine Selbsthinrichtung ist. Durch die Überlagerung dieser beiden Taten versucht Othello, seinen Selbstmord auf eine höhere Ebene zu heben. Er demonstriert, dass er mit sich selbst wie mit einem Verleumder des Staats umzugehen weiß. Er identifiziert sich dabei mit einem ethnisch und religiös Andersartigen, einem »beschnittenen Türken« (»a circumcised dog«),15 was seine eigene Problematik im Drama evoziert, aber dennoch sieht er sich als einen edlen Helden, der mit einer abartigen Kreatur umgehen kann, selbst wenn es sich um ihn selbst handelt. Wie Shakespeare in dieser Szene das Enkomium zu dramatischer Wirkung bringt, ist schlechterdings unübertrefflich. 15  Da das Beschneiden bei Muslimen ein religiöser Ritus ist / war, impliziert Othellos verächtlicher Bezug darauf, dass er kein Mohammedaner ist. Siehe Othello, The Arden Shakespeare, Third Edition, hg. E. A. J. Honigmann, Walton-on-Thames 1997, 343.



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IV. Die Subversion des Enkomiums: Preisreden auf den Kriegshelden in Coriolanus Die Enkomien in der Liebestragödie Antony and Cleopatra habe ich an anderer Stelle eingehend behandelt.16 Hingewiesen sei nur darauf, dass sich die Enkomien der Liebenden in diesem Drama zu leidenschaftlichen Apotheosen steigern. Im Unterschied soll auf das vergleichsweise asketisch anmutende politische Römerdrama Coriolanus eingegangen werden, in dem die panegyrische Rhetorik wie übrigens auch ihr Gegenteil, die Invektive (die vituperatio), eine zentrale Rolle bei der Entfaltung der politischen und ideologischen Belange des Stücks spielen. Leider ist eine ausführlichere Erörterung der politischen Problematik des Stücks hier nicht möglich.17 Ich werde auf die epideiktische Rhetorik im Hinblick auf den Protagonisten, den Kriegshelden Martius, eingehen, der nach dem Sieg über die Volsker den Beinamen Coriolanus erhalten hat. Was den inneren Konflikt in Rom angeht, ist Martius der erbittertste Feind der Hungersnot leidenden Rebellen, der die Wunden wieder aufreißt, die Menenius Agrippa mit seiner großen Rede über den Staat als einen Organismus aus Leib und Gliedern zu schließen versucht hat. Martius ist mit seinen wütenden Invektiven gegen die Plebeier der größte Vertreter der Rhetorik der Invektive und zugleich in den vielen Lobreden, die auf ihn gehalten werden, das prominenteste Objekt der Panegyrik. Das Enkomium ist politisch so wichtig in dem Rom des Stücks, weil eine erfolgreiche militärische Laufbahn den Ausgangspunkt für eine politische Laufbahn bildet. Durch die Rhetorik des Lobs wird der Kriegsheld als geeigneter Kandidat für das höchste Staatsamt empfohlen. Das erste Enkomium auf Martius spricht der römische General Titus Lartius, der glaubt, dass der in der allein in der Stadt des Feindes eingeschlossene Held nicht mehr am Leben ist: O noble fellow, Who sensibly outdares his senseless sword And, when it bows, stand’st up! Thou art lost, Martius. A carbuncle entire, as big as thou art, Were not so rich a jewel. Thou wast a soldier Even to Cato’s wish, not fierce and terrible Only in strokes, but with thy grim looks and The thunder-like percussion of thy sounds Thou mad’st thine enemies shake as if the world Were feverous and did tremble. (I.5.23–32) 16  Müller,

»Encomium and Apotheosis«, 30–32. solche findet sich in Wolfgang G. Müller, Die politische Rede bei Shakes­ peare, Tübingen 1979. 17  Eine

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Diese Rede, die den Charakter eines Nachrufs annimmt, ist auf die Heldenhaftigkeit des zu Rühmenden ausgerichtet. Die Kriegstüchtigkeit war bekanntlich ein beliebtes Thema in der Literatur und Kunst der Renaissance. Es ist aufschlussreich, das zitierte Enkomium aus Shakespeares Stück mit der allegorischen Wiedergabe des Kriegs von Thomas Sackville The Mirror for Magistrates zu vergleichen: Lastly stood Warre in glittering armes yclad. With visage grym, sterne lookes, and blackely hewed In his right hand a naked sworde he had, That to the hiltes was al with blud embrewed: And in his left (that kinges and kindomes rewed) Famine and fyer he held, and therewythall He razed townes, and threwe downe towers and all.18

Der essentielle Unterschied zwischen den beiden Passagen ist offensichtlich. Sackvilles Wiedergabe des Kriegs lässt sich der Ästhetik des Schrecklichen zuordnen. Es handelt sich um eine Angst einflößende Darstellung des Kriegs und des Unheils, das er über das Land bringt. Shakespeares Darstellung ähnelt der Sackvilles, was die Furcht erregende Qualität der Wiedergabe betrifft. Es handelt sich aber um ein Enkomium, eine Preisrede auf den Kriegshelden, dem Nobilität zugeschrieben wird, so schrecklich er auch aussehen und handeln mag. Diese zeigt sich im Vergleich des Kriegshelden mit einem Edelstein. Die auffallendste Eigenschaft des Enkomiums liegt aber im Vergleich des Kriegshelden mit einem Schwert. Wir erfahren, dass Martius in seiner Tapferkeit mit seinen Sinnen sein fühlloses Schwert übertrumpft. »[He] sensibly outdares his senseless sword.« Wie das Wortspiel – die Paronymie von ›sensibly‹ und ›senseless‹ – es zugespitzt ausdrückt, wird im kämpfenden Helden eine Steigerung der Vernichtungskraft über die der Tötungswaffe erkennbar. Durch seine donnergleichen Kampfgeräusche (»The thunder-like percussion of thy sounds«) versetzt der Held seine Feinde in Angst und Schrecken. Was für den außerfiktionalen Hörer als eine Perversion des Konzepts der Humanität erscheinen mag, eine Deutung, die Shakespeare beabsichtigt haben mag, erscheint in der Wertewelt des Dramas als Ausdruck der virtus, als Mannhaftigkeit im alten Sinne des Wortes. Das Enkomium weist somit Doppeldeutigkeit auf, die auch sonst noch in der Rede und in den anderen Enkomien auf Martius erkennbar wird, z. B. wenn er in einer Lobrede von Cominius als »a thing of blood, whose every motion / Was timed with dying cries« (II.2.105–106), als wahre Tötungsmaschine bezeichnet wird. Später in dem Drama wird Martius, der nach seinem Sieg bei Corioli Coriolanus genannt wird, in einem Enkomium, das zugleich Apotheose ist, als Gott bezeichnet: 18  The Mirror for Magistrates, hg. Lily B. Campbell, Repr. New York 1960, 311–313.



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[…]He is their god. He leads them like a thing Made by some other deity than nature, That shapes man better, and they follow him Against us brats with no less confidence Than boys pursuing summer butterflies, Or butchers killing flies. (IV.6.95–99)

Der Vergleich Coriolans mit Jungen, die Schmetterlinge töten, stellt eine Beziehung her zu einem andersartigen Enkomium, das in einer Frauenszene erscheint, für die es in Shakespeares Quelle kein Vorbild gibt. In dieser Interieurszene sind Volumnia und Virgilia, Coriolanus’ Mutter und Frau, mit Hausarbeit beschäftigt. Valeria macht ihnen einen Besuch. Sie sprechen über Coriolanus’ kleinen Sohn. Valeria erzählt, wie sie den Jungen einmal einmal beobachtet hat, als er einen Schmetterling verfolgte und zerriss: O’ my word, the father’s son! I’ll swear ‘tis a very pretty boy. O’ my troth, I looked upon him o’ Wednesday half an hour together. He’s such a confirmed countenance! I saw him run after a gilded butterfly, and when he caught it he let it go again, and after it again, and over and over he comes, and up again, catched it again. Or whether his fall enraged him, or how ‘twas, he did so set his teeth and tear it! O, I warrant, how he mammocked it! (I.3.54–61)

Dieses Enkomium hat einen narrativen Charakter. Es stellt sich als ­ nekdote dar, ein Beispiel für das kriegerische Wesen, das schon in dem A Kind erscheint. Es ist als Parabel zu verstehen. Der Schmetterling verkörpert die Leichtigkeit und Anmut, der Junge, der ihn tötet, die brutale Gewalt, die auf bloße Zerstörung aus ist. Die Frauen können sich nicht genug tun über das kindliche Heldentum des Jungen. Der Junge erscheint hier als eine Art Double seines Vaters. In ihm sehen wir die Vernichtungskraft des Vaters aus einer neuen Perspektive. Als Valeria am Ende ihrer Erzählung berichtet, wie der Junge wütend und mit gefletschten Zähnen den Schmetterling in Stücke zerreisst, ruft seine Großmutter begeistert aus: »One on’s father’s moods« (I.3.62), und Valeria fügt hinzu, »Indeed, la, ‘tis a noble child.« (I.3.6) Valerias Enkomium weist eine Verwandtschaft mit dem auf, was Alexander Pope als ›vile Encomium‹ bezeichnet: »That when aim at praise, they say I bite. / A vile Encomium doubly ridicules.«19 Insgesamt veranschaulichen die Enkomien in Coriolanus den unbestritten hohen Wert, den die Römer des Dramas militärischem Heldentum und seinem destruktiven Potential zuerkennen. Gleichzeitig sprechen diese Ruhmreden gegen sich selbst. Coriolanus, ein Drama, das militärisches Heldentum vordergründig exzessiv zu rühmen scheint, hat einen Subtext, der Krieg und Heldentum in Frage stellt. Man ist versucht von einem Anti-Kriegsstück zu 19  Imitations of Horace, »Epistle to Augustus«, 409–410. Zitiert nach Alexander Pope, Poetical Works, hg. Herbert Davis, London-New York-Toronto 1966, 372.

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sprechen, wenn diese Benennung nicht viel zu einfach für die komplexe politische Thematik des Werks wäre. V. Die Lobrede im Kontext der Freundschaft: Hamlets Enkomium auf Horatio Als Beispiel einer Lobrede im klassischen Sinne, die allerdings der Handlung des Dramas anverwandelt ist, sei nun Hamlets Enkomium auf seinen Studienfreund Horatio betrachtet. Diese ist in den Dialog der beiden Figuren in der zweiten Szene des dritten Akts integriert, der in ein Enkomium des Prinzen auf den Freund übergeht. In dieser Lobrede taucht das das im Zusammenhang der Freundschaft seit der Antike diskutierte Problem der Schmeichelei auf und darüber hinaus, wie ich andernorts dargelegt habe,20 eine Fülle von Topoi der Freundschaftstheorie: Hamlet What ho, Horatio! Horatio Here, sweet lord, at your service. Hamlet Horatio, thou art e’en as just a man As e’er my conversation coped withal. Horatio O my dear lord – Hamlet Nay, do not think I flatter; For what advancement may I hope from thee, That no revenue hast but thy good spirits To feed and clothe thee? Why should the poor by flattered? No, let the candied tongue lick absurd pomp, And crook the pregnant hinges of the knee Where thrift may follow fawning21. Dost thou hear? – Since my dear soul was mistress of her choice And could of men distinguish, her election Hath sealed thee for herself; for thou hast been As one in suff’ring all that suffers nothing, A man that Fortune’s buffets and rewards Hath ta’en with equal thanks; and blest are those Whose blood and judgement are so well commingled That they are not a pipe for Fortune’s finger To sound what stop she please. Give me that man That is not passion’s slave, and I will wear him In my heart’s core, ay, in my heart of heart, As I do thee. […] (Hamlet, III.2.46–67)

Die Lobrede erwächst aus dem Dialog der beiden Männer, die sich am dänischen Hof wieder treffen. Die Begrüßung des auftretenden Horatio 20  »Shakespeares Darstellung von Freundschaft im Kontext philosophischer Freundschaftskonzepte«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 47 (2006), 115–140. 21  Hier folge ich der zweiten Quart-Ausgabe. Die Folio-Ausgabe hat »feigning«.



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durch Hamlet ist freudig, ja enthusiastisch, während Horatio der Euphorie seines Freundes zurückhaltend begegnet. Der Prinz preist Horatio als einen rechten Mann (»just man«); er habe noch nie mit einem solchen gesprochen. Horatio wehrt Hamlets rühmende Worte ab, woraufhin der Prinz klarstellt, dass es sich bei seinen Worten keinesfalls um Schmeichelei handele, weil er von jemandem wie Horatio, der keine Einkünfte (»no revenue«) habe und arm (»poor«) sei, keinen Vorteil erwarten könne. Hier wird zwar der Rangunterschied zwischen den beiden bekräftigt, aber zugleich wird deutlich gemacht, dass Hamlet in Horatio eine menschliche Qualität würdigt, die unabhängig von sozialen Hierarchien besteht. Dass sittlicher Wert unabhängig vom sozialen Status sein kann, ist eine Einsicht, die in der antiken Freundschaftstheorie immer wieder ausgesprochen wird. Hamlets Betonung der Tatsache, dass seine Freundschaft mit Horatio das Ergebnis der freien Wahl seiner »Seele« sei – zweimal erscheint das Wort »Wahl« (»choice«, »election«) – stimmt mit Montaignes Auffassung überein, der gemäß die wahre Freundschaft Resultat von »our owne voluntarie choice and libertie« ist.22 Die Freundschaft mit Verwandten – sogar die zwischen Brüdern – ist laut Montaigne deshalb von geringerem Wert, weil sie durch das Gesetz und die Pflicht der Natur (»the law and dutie of nature«) befohlen sei. Montaigne sagt, dass auch in der Ehe die für die freundschaftliche Bindung entscheidende Wahlfreiheit nicht gegeben sei. Sie sei ein Bund, in dem nichts frei sei als der Beginn, »a covenant which had nothing free but the entrance«.23 Dass die Freundschaft verwandtschaft­ lichen Beziehungen gegenüber überlegen ist, ist ein in der Antike immer wieder wiederholter Topos. In Shakespeares Drama, in dessen Zentrum eine Familie mit zutiefst gestörten Beziehungen ihrer Mitglieder steht, ist es folgerichtig dass sich der Protagonist seinen Freund außerhalb des Fami­ lienverbunds sucht. Das zeigt sich auch in Hamlets Verhalten Rosencrantz und Guildenstern gegenüber. Hier bietet sich die Chance einer weiteren Freundschaft, die aber scheitert, weil Hamlet erkennen muss, dass sich seine beiden Schulkameraden in die Ausforschungs- und Spionagestrategien seines Stiefvaters haben einbinden lassen und dass sie als opportunistische und schmeichlerische Höflinge für die Freundschaft untauglich sind. Shakespeare schränkt die Individualität dieser beiden Figuren zudem dadurch ein, dass er sie als Zwillingsfiguren präsentiert, die immer zusammen auftreten und keine unabhängige Identität haben.24 Es wird im Laufe des Dramas 22  Michael Montaigne, The Essayes of Michael Lord of Montaigne, done into English by John Florio, 3 Bde., London 1908, I, 230. 23  Montaigne, Essayes, I, 232. 24  Manfred Pfister, Das Drama (München 1977), 237, nennt solche Figuren »szenisch konkomitant«. Siehe zur Freundschaft in Hamlet u. a. Maurice A. Abiteboul, »Hamlet, Rosencrantz et Guildenstern ou la fin d’une amitié: un minidrame dans

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deutlich, dass für Hamlet nur die Freundschaft mit einem Partner möglich ist, was, wie oben dargelegt, nach antiker Auffassung die ideale Form der freundschaftlichen Beziehung ist. Am Höhepunkt des Enkomiums sagt Hamlet, er trage den Freund ›im Herzensgrund, ja in des Herzens Herzen‹: »In my heart’s core, ay, in my heart of heart« (Z. 73 ) Hier taucht, rhetorisch durch das dreimal in verschiedenen Kasus wiederholte Wort ›heart‹ akzentuiert (Polyptoton), der Topos der antiken Freundschaftstheorie von der Verschmelzung zweier Seelen in der Freundschaft auf. In der spezifischen rhetorischen Prägung dieses Verses, die »heart of heart« wie eine Übersetzung aus lat. »cor cordis« erscheinen läßt25, hat man eine rhetorische Virtuosität gefunden, die echte Gefühle ausschließe und zu »the courtier’s repertoire«26 gehöre, und sogar gemeint, dass Hamlet Horatio belüge. Wenn man allerdings die Häufung von Topoi der klassischen Freundschaftstheorie in Hamlets Rede an Horatio berücksichtigt, erkennt man, dass es offensichtlich die Intention des Dramatikers ist, hier eine humanistische Dimension in Hamlets Charakter sichtbar werden zu lassen. Die Lobrede ist in diesem Zusammenhang eine angemessene Form für Hamlets Ausdruck von Freundschaft. VI. Prophetie und Enkomium in Henry VIII In meinem letzten Beispiel möchte ich die bei Shakespeare nicht seltene, aber in seinem späten Drama Henry VIII (1613) besonders auffällige Verschmelzung von Enkomium und Prophetie erläutern.27 Da es hier um die Untersuchung eines rhetorischen Gestaltungsmittels geht, wird auf wichtige Fragen wie die der Autorschaft des Dramas nicht eingegangen werden. Die hier zu betrachtendes Szene V.4 wird im Allgemeinen Shakespeare zugeschrieben, es gibt aber auch Gründe, sie dem Mitautor John Fletcher zu attribuieren.28 Heinrich VIII. steht im Kontext der späten romantischen ›La Tragédie d’Hamlet‹ «, Cahiers Élisabéthains  28 (1985), S. 45–60, Keith Doubt, »Hamlet and Friendship«, Hamlet Studies 17 (1995), 54–62. 25  John Jones, Shakespeare at Work (Oxford 1995), 111, kommentiert: »By deploying a scrap of wild etymology unpon his image of the heart’s inmost sanctum, its final privacy and solitude, Shakespeare effects the kind of deception I have been speaking of, a mental trompe l’oeil whereby he makes us think we are observing Hamlet think.« 26  Jones, Shakespeare at Work, 114. 27  Zur Form der Prophezeiung im Werks Shakespeares Wolfgang G. Müller, »Die prophetische Rede in Shakespeares Königsdramen«, Zukunftsvoraussagungen in der Renaissance, hg. Klaus Bergdoldt, Walter Ludwig, Wiesbaden 2005, 344–364. 28  Siehe King Henry VIII., The Arden Shakespeare, hg. Gordon McMullan, London 2000, 427, Anmerkung.



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Stücke Shakespeares, die in einem Geist der Versöhnung geschrieben wurden und in denen Ideen wie die der Vergebung prominent hervortreten. Offensichtlich wollte der Dramatiker ein im Hinblick auf die Genese des elisabethanischen Zeitalters sehr wichtiges – obzwar auch nicht gerade angenehmes – Thema, die Scheidung des Königs von seiner Ehefrau und seine Heirat mit Anne Boleyn, im Bemühen um eine ausgleichende Darstellung auf die Bühne bringen.29 Für diese Interpretation sprechen einige prophetischen Äußerungen, in denen das enkomiastische Element hervortritt. Die erste dieser Äußerungen stammt von Lord Chamberlain, der Anne Boleyn – bei Shakespeare heißt sie Anne Bullen – im Auftrag des Königs Avancen macht. In einem Beiseite kommentiert er ihre Schönheit und Ehrenhaftigkeit und damit ihre Eignung als Königin: »who knows yet / But from this lady may proceed a gem / To lighten all this isle.« (II.3.77–79) Mit dem Hinweis, dass aus Anne Bullen ein Juwel entstehen könne, das die ganze Insel erleuchten würde, ist Elisabeth I. gemeint, die Tochter von Heinrich VIII. und Anne Boleyn. Der Lord ahnt, was er eigentlich gar nicht ahnen kann. Das Publikum weiß aber, dass was der Lord als eine glorreiche Möglichkeit für die Zukunft wähnt, während Elisabeths Regierungszeit Wirklichkeit geworden ist. Die in Rede stehende junge Frau ist für das Drama eben nicht nur wichtig als künftige Ehefrau Heinrichs VIII., sondern vor allem weil sie die Mutter Elisabeths I. sein wird. Die prophetische Äußerung zeigt, dass für Shakespeare die Geschichte Heinrichs VIII. im wesentlichen Vorgeschichte Elisabeths I. ist. Eine weitere Äußerung dieser Art folgt unmittelbar auf die dramaturgisch überraschende Information, dass Heinrich mit Anne verheiratet ist, während Kardinal Wolsey noch seine eigenen Hochzeitspläne für den König verfolgt. Der Herzog von Suffolk sagt mit schon größerer Gewissheit: »I persuade me, from her [Anne] / Will fall some blessing to this land which shall / In it be memorized.« (III.2.50–52) Auf diese Weise wird Heinrichs Wechsel der Ehefrau gerechtfertigt, ein Wechsel, der für die im Stück sehr positiv gezeichnete Katherine, wie der Autor nicht verhehlt, großes Leid verursacht. Das kummervolle Schicksal der ersten Ehefrau wird in dem Drama allerdings mehr als aufgewogen durch die Leistung der zweiten Frau Heinrichs, die dem Land Königin Elisabeth schenkt. Die Konzeption des Dramas, gemäß der innerdramatisches Geschehen sich außerdramatisch, d. h. historisch, nämlich durch die erfolgreiche Regentschaft Elisabeths, rechtfertigt, zeigt sich am deutlichsten in der letzten Szene des Dramas, in der Elisabeth, die Tochter Heinrichs und Annes, getauft wird. Zu diesem Anlass hält Bischof Cranmer eine panegyrische 29  Hierzu Wolfgang G. Müller, »Shakespeare’s Last Image of Royalty«, Henry VIII in History, Historiography and Literature, hg. Uwe Baumann, Frankfurt a. M. etc. 1992, 223–239.

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Rede, welche die Segnungen der Regentschaft Elisabeths verheißt. Die Rede ist in toto im Tempus des Futurs gehalten. Hier wird nur die erste Hälfte der Rede zitiert: Let me speak, sir, For heaven now bids me, and the words I utter Let none think flattery, for they’ll find ‘em truth. This royal infant – heaven still move about her – Though in her cradle, yet now promises Upon this land a thousand thousand blessings Which time shall bring to ripeness. She shall be – But few now living can behold that goodness – A pattern to all princes living with her, And all that shall succeed: Saba was never More covetous of wisdom and fair virtue Than this pure soul shall be. All princely graces That mould up such a mighty piece as this is, With all the virtues that attend the good, Shall still be doubled on her. Truth shall nurse her, Holy and heavenly thoughts still counsel her. Her foes shake like a field of beaten corn, And hang their heads with sorrow. Good grows with her. In her days every man shall eat in safety Under his own vine that he plants, and sing The merry songs of peace to all his neighbours. God shall be truly known, and those about her From her shall read the perfect ways of honour, And by those claim their greatness, not by blood. (Henry VIII, V.4.14–38)

Wichtig ist, dass die Prophezeiung aus Mund eines Geistlichen kommt, des Bischofs Cranmer, der Heinrichs Ehe mit Anne Bullen unterstützt hat, während der frühere geistliche Machthaber am Hofe, Cardinal Wolsey, Widerstand geleistet hatte. Cranmer spricht auf Geheiß Gottes. Seine Rühmung Elisabeths schöpft aus der Topik des Herrscherlobs. Er sieht voraus, dass sie vorbildliche Herrscherqualitäten und die höchsten Tugenden in sich vereinigen wird, dass sie von ihrem Volk geliebt und von ihren Feinden gefürchtet sein wird und dass sie Frieden, Wohlstand und Glück für alle sichern wird. Cranmers Prophezeiung reicht in ihrem hier nicht zitierten zweiten Teil noch über die Regierungszeit von Königin Elisabeth hinaus bis zur Regentschaft ihres Nachfolgers Jakob I., dem ebenso viel Lob gespendet und dem eine weitere glorreiche Zukunft verhießen wird. Hier wird also die Zukunftsvoraussage bis zu der Zeit geführt, in der das Drama entstand, und sogar noch darüber hinaus. Henry VIII ist das einzige der hier betrachteten Dramen, in dem panegyrische Rhetorik im Sinne Puttenhams in einem höfischen Kontext hervortritt. Insofern ist dieses späte Historienstück eine Ausnahme im Werk Shakespeares, das insgesamt dem Hof und dem Höfi-



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schen sehr viel Kritik und Spott und Hohn entgegenbringt. Von Puttenhams Preis der Königin hebt sich die Lobrede in Henry VIII aber insofern deutlich ab, als Königin Elisabeth hier nicht die Eigenschaften einer herausragenden Dichterin zugeschrieben werden. Von der höfischen Kultur, wie sie Puttenham vertritt, in welcher der Höfling und der Dichter eine Personalunion eingehen und es deshalb folgerichtig ist, dass auch die Herrscherin als Dichterin vorgestellt wird, kann in Henry VIII nicht die Rede sein. Das Drama verschweigt auch die Tatsache, dass der König selbst Verfasser und Komponist von Liedern war.30 Darin zeigt sich, dass Henry VIII ein genuin politisches Drama ist, in dem es um die Ehe des Königs als ein politisches Phänomen und um die politischen und religiösen Veränderungen in der Reformationszeit geht. VII. Generische Vielfalt in Shakespeares Verwendung des Enkomiums Wenn es denn einen Sinn hat, Shakespeares Verwendung des Enkomiums in Beziehung zu George Puttenhams epideiktischer Poetik zu setzen, dann liegt dieser zumindest darin, dass ein solches Vorgehen einmal mehr zeigt, dass sich der englische Dramatiker jeder normativen Poetik, zumal einer höfischen, widersetzt und eigene Wege der Gestaltung sucht. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass für Shakespeare die Panegyrik, die in seiner Zeit ubiquitär war, eine große Herausforderung darstellte. So ließ sich nachweisen, dass Shakespeare dem Enkomium neue poetische Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet hat. Der Dramatiker experimentiert mit dem Enkomium etwa in Antonius’ Forumsrede in Julius Caesar, in der die laudatio auf den toten Cäsar in eine accusatio gegen Brutus und die anderen Verschwörer umgebildet wird und die Verunglimpfung des Gegners sogar mit den Mitteln der Panegyrik (»Brutus is an honourable man«) erfolgt. Eine ironische Unterhöhlung der Panegyrik findet sich auch in den Enkomien auf den Kriegshelden in Coriolanus. Eine besondere Eigenart des Enkomiums bei Shakespeare liegt, wie sich zeigen lässt, in der Verbindung des Enkomiums mit anderen rhetorischen Formen wie Exemplum (Othello), Ekphrasis (Coriolanus, Antony and Cleopatra), Nachruf (Julius Caesar), Parabel (Coriolanus), Anekdote (Coriolanus) und Prophetie (Henry VIII). Shakespeare nutzt wie auch sonst in seinen Dramen die Rhetorik in einzigartiger Weise, um dramatische Wirkungen zu erzielen. Von hohem Interesse ist auch die Art, wie die Enkomien in die dramatische Handlung integriert 30  Theo Stemmler, »The Songs and Love-Letters of Henry VIII«, Henry VIII in History, Historiography and Literature, hg. Uwe Baumann. Frankfurt a. M. etc. 1992, 97–111.

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sind. In Hamlet beispielsweise entwickelt sich Hamlets Enkomium auf ­Horatio aus dem Dialog. Die Lobrede macht eine Aussage über den Freund und zugleich charakterisiert sie den Protagonisten, der eine Tendenz zum Monologisieren hat und sich an dieser Stelle in einem längeren Redestück über die hervorragenden Eigenschaften des Freunds äußert, die ihm in seiner isolierten Position am Hof von größter Wichtigkeit sind. Die Lobreden sind dramatische Höhepunkte, die zugleich Momente der Bedeutungsverdichtung darstellen, die für die Gesamtinterpretation der Dramen von erheblicher Relevanz sind.

Muss man verrückt sein, um die Liebe zu loben? Der Débat de Folie et d’Amour von Louise Labé als Amor-Lehre und / oder Lob der Torheit Von Béatrice Jakobs ›Liebe macht blind‹, sagt der Volksmund und verweist damit oft scherzhaft auf die Eigenart von Verliebten, Schwächen und Fehler, die sie bei Dritten schon längst mokiert hätten, bei der geliebten Person schlicht zu übersehen. Ist der erste Sturm der Liebe dann vorüber, lässt diese ›Blindheit‹ meist nach, was dazu führt, dass Schwächen und Fehler nicht mehr aus Liebe übersehen, sondern aus Liebe toleriert werden. Die wechselnde Haltung der Liebenden ist – darin ist man sich wohl einig – auf das Wirken der Liebe, also von Amour, zurückzuführen. Nach einem Blick in die 1555 erschienenen Œuvres complètes der Louise Labé,1 vor allem in den Débat de Folie et d’Amour würde man die Situation allerdings anders bewerten. Ein entsprechendes Verhalten von Liebenden wird im Débat nämlich keinesfalls als von Amour ausgelöst gedeutet, sondern als Ausdruck von Unvernunft, das heißt von Folie. Diese wird dort als junge Göttin und Begleiterin von Amour präsentiert, der, so die Fiktion, nach einer denkwürdigen Auseinandersetzung eben mit Folie sein Augenlicht verlor und seither auf Hilfe angewiesen ist.2 1  Das Erscheinungsdatum der Gesamtausgabe der Werke – so verzeichnet auf deren Titelblatt – ist das einzige gesicherte Datum bezüglich des Lebens und Schaffens von Louise Labé, deren Existenz und Lebenswandel in der Forschung ebenso diskutiert werden wie ihre Stellung als ›weibliche Petrarkistin‹. Berücksichtigt wird diese Debatte im Folgenden nur insoweit, als sie für die Einbindung des Débat de Folie et d’Amour in die literarischen Traditionen seiner Entstehungszeit von Bedeutung ist. Eine Zusammenschau des aktuellen Stands der Diskussion um »die Frage nach Labés Identität« bietet Ursula Hennigfeld in »Défense et illustration de la Femme Française? Louise Labé und der weibliche Petrarkismus«, Strategien von Autorschaft in der Romania. Zur Neukonzipierung einer Kategorie im Rahmen literatur-, kultur- und medienwissenschaftlich basierter Geschlechterkategorien, hg. Claudia Gronemann, Tanja Schwan und Cornelia Sieber, Heidelberg 2012, 17–30, hier 18. 2  Cf. Louise Labé, »Débat de folie et d‘amour«, eadem, Œuvres complètes (Sonnets, Élégies, Débat). Édition, préface et notes par François Rigolot, Paris 1986, 47–103, passim.

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Dem Débat zufolge macht Liebe also nicht blind, sie bzw. die sie vertretende allegorische Figur Amour, ist blind – allerdings fast ausschließlich bei Labé und weiteren Autoren, deren Werke im Atelier des Lyoneser Druckers Jean de Tournes3 gedruckt und deren Titelblätter von Bernard Salomon gestaltet wurden, einem Graveur aus Lyon, den der imprimeur-marchand oft und gern zur Illustration seiner Bücher heranzog.4 Die Mehrheit der Buchillustratoren und Maler wie beispielsweise Caravaggio, für die Amour im 16. Jahrhundert zu den häufigsten und beliebtesten Motiven zählte, zeigen den Liebesgott damals zwar übereinstimmend als nackten Jüngling mit Flügeln, Köcher, Pfeil und Bogen, aber in der Regel ohne Augenbinde und damit sehend.5 3  Jean de Tournes legte großen Wert auf die äußere Gestalt der Werke, die sein Atelier verließen und auf diese Weise mit seinem Namen verbunden waren: »Ses livres sont toujours richement imprimés en beaux caractères et élégamment disposés, mais ils sont en outre richement illustrés de bois gravés dessinés spécialement par l’artiste lyonnais Bernard Salomon«, Natalie Zemon Davis, »Le monde de l’imprimerie humaniste: Lyon«, Histoire de l’Edition française. 4 vols., hg. Roger Chartier und Henri-Jean Martin, Paris 21989, hier vol. I, 303–336, hier 315. 4  Zu den Arbeiten von Salomon für de Tournes cf. ausführlich Peter Sharratt, Bernard Salomon. Illustrateur lyonnais. Genf 2005, 33–45 sowie Mirelle Huchon, Louise Labé. Une créature en papier. Genf 2006, 37ss, 254. Abb. 1 zeigt das von Salomon für de Tournes gestaltete Titelemblem eines Gedichtbandes von Marguerite de Navarre: Suite des Marguerites de la Marguerite des Princesses (Lyon 1547). Die Blindheit von Amour wird hier durch die derzeit in die Stirn geschobene Augenbinde angedeutet. Abbildung entnommen aus: Sharratt, Salomon, Illustrations, 393–520, hier 448, dort auch weitere Werke von Salomon, die einen blinden Amour zeigen. 5  Cf. Sabine Poeschel, Handbuch der Ikonographie: sakrale und profane Themen der bildenden Kunst, Darmstadt 32009, Lemma: Amour. Dass Amour in der Darstel-



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Abb. 2

Labé schlägt also mit ihrer Vorstellung eines seiner Sehkraft beraubten Amour einen Sonderweg ein, der einer Erklärung bedarf. Diese ist – zumindest im Rahmen der Fiktion des Débat – schnell gefunden: Die Autorin liefert sie gleich im dem Débat vorangestellten argument:6 Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Götter Amour und Folie. Beide sind zu einem Festmahl bei Jupiter eingeladen, kommen allerdings ziemlich spät und geraten angesichts des bereits geschlossenen Portals in Streit darüber, wem von ihnen es aufgrund seiner Macht und Würde eher zustehe, als erster durch die noch geöffnete kleine Tür zu gehen. Als Worte nicht mehr ausreichen, greift Amour zu seinem Bogen, um Folie mit einem Pfeil zu treffen, diese weicht allerdings aus, indem sie sich unsichtbar macht und rächt lung von Caravaggio (i. e. Michelangelo da Merisi; Amour als Sieger 1602, Öl auf Leinwand, Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie [156  ×  113  cm], Inv.Nr. 369) in Abb. 2 nicht blind ist, ergibt sich nicht nur aus der fehlenden Augenbinde, sondern vor allem durch den klaren, direkten Blick Richtung Betrachter. In den Pfeilen in der rechten Hand des Liebesgottes sind die genannten üblichen Attribute, die alle mit dem Bogenschießen in Verbindung stehen, zusammengefasst. Abbildung entnommen aus Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung, hg. Jürgen Harten und Jean-Hubert Martin (Museum Kunst-Palast / Düsseldorf), Ostfildern 2006, 115. 6  Cf. im Folgenden Labé, Œuvres / Débat, 47 (argument).

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sich anschließend an Amour für seinen Angriff, in dem sie ihm die Augen ausreißt. Als sich Amour über seine Verstümmelung und die damit einhergehende Hässlichkeit beklagt, verhüllt Folie dessen leere Augenhöhlen mit einer Binde, die allerdings, von den Parzen verzaubert, nie mehr zu lösen sein wird. Nachdem sich Venus, die Mutter von Amour, beim Göttervater Jupiter über das ihrem Sohn zugefügte Leid beklagt hat, beraumt dieser eine Gerichtsverhandlung an, in der zunächst Folie gehört wird, anschließend die Rechtsbeistände der beiden Delinquenten zu Wort kommen. Nach Abschluss der Plädoyers fällt Jupiter nach Rücksprache mit den Göttern sein Urteil. Wie dieses aber ausfällt, verschweigt Labé im argument und erklärt damit tatsächlich nur die Blindheit des Liebesgottes, nicht aber, wie es mit diesem weitergeht. Um dies zu erfahren, muss der Leser7 – als unter der Macht von Amour stehender an dessen Schicksal fast ebenso interessiert wie dieser selbst – sich der Lektüre des Débat widmen oder neugierig dessen letzte Seite aufschlagen, um den Schiedsspruch Jupiters zu lesen. Entscheidet man sich für die zweite Variante, wird man zunächst enttäuscht: Der Göttervater erlässt nur eine einstweilige Verfügung, die immerhin die nächsten »trois fois, sept fois neuf siecles«8 – also rund 190.000 Jahre – gelten soll, und bestimmt: »Et guidera Folie l’aveugle Amour et le conduira ou bon lui semble«.9 Damit wird Folie bis auf Weiteres dazu verdammt, den blinden Amour zu führen. Aber ist sie damit ihm hierarchisch untergeordnet, sodass die vom Göttervater angeordnete Situation wirklich einer Bestrafung von Folie gleichkommt? Im Gegensatz zum Deutschen, das eine Genus-Markierung im Dativpronomen vorsieht, ist das indirekte Objekt »lui« im Französischen in der maskulinen und femininen Form identisch. Wird im Deutschen schon durch die Genus-Markierung deutlich, welcher der beiden Beteiligten in Zukunft die Opfer von Amour und Folie aussucht und damit ›gewonnen‹ hat, bleibt diese Frage aufgrund des unbestimmten »lui« im Französischen offen, der Sieger ungekrönt. Dass die aufgezeigte Ambivalenz des Richterspruchs von Labé beabsichtigt ist, steht wohl außer Frage: Nicht nur, weil ihre Texte generell von einem virtuosen Umgang mit der französischen Sprache zeugen. Wie bereits dargestellt, erscheinen die Werke von Labé bei einem der angesehensten Drucker von Lyon, Jean de Tournes. Er selbst oder einer seiner Mitarbeiter hätte eine Unklarheit an so bedeutender Stelle nach Rücksprache sicher bereinigt. Für eine gewollte Zweideutigkeit der Aussage spricht auch die vertauschte Reihenfolge von Folie und Amour am Ende des 7  Im Folgenden wird die männliche Form als neutrale Form zur Bezeichnung beider Geschlechter verwendet. 8  Cf. Labé, Œuvres / Débat, 103. 9  Cf. Labé, Œuvres / Débat, 103.



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Textes: Während im Titel des Werkes zuerst Folie und dann Amour genannt wird, schließt das Werk mit dem Hinweis »Fin du Débat d’Amour et de Folie«10. Auch dies wäre von einem aufmerksamen Lektor sicher nach Absprache korrigiert worden. Warum also gestaltet Labé den Débat in vorliegender Weise? Vermeidet sie Partei zu ergreifen und stellt den Text deshalb sowohl in die Tradition des paradoxen Enkomium als auch in diejenige der idealisierenden Amorlehren, die beide im zeitgenössischen Lyon en vogue waren um sich in jedem Fall einen literarischen und damit auch finanziellen Erfolg zu sichern? Oder ergibt sich die sentence am Ende des Débat aus der Gesamtkonzep­tion der Œuvres complètes, die ja neben dem Débat auch noch drei Elegien11 und 24 Sonette12 aus der Feder von Labé selbst sowie gleichfalls 24 »Ecriz de divers Poètes a la louenge de Louize Labé Lionnoize«13 enthalten? Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, werden im Folgenden zunächst einzelne discours des Débat inhaltlich und strukturell analysiert und im Kontext der zeitgenössischen literarischen Traditionen erhellt. Anschließend wird die Gesamtkonzeption der Œuvres im Fokus der Untersuchung stehen, und es wird die enge Verbindung zwischen Débat, Élégies und Sonnets aufgezeigt. In Verbindung mit einem Blick auf die Rezeption des Werkes wird das auch in der Forschung viel diskutierte Ende des Débat schließlich als rhetorische Strategie der Autorin entlarvt. I. Der Débat de Folie et d’Amour erstreckt sich auf etwa 50 Druckseiten. Von diesen entfallen zwei Drittel auf die etwa gleichlangen Plädoyers der beiden Verteidiger, das heißt von Apolon14 zugunsten von Amour und von Mercure, der sich für die Belange von Folie einsetzt.15 Dem die beiden Reden umfassenden discours V gehen vier weitere discours voraus, in denen zunächst in discours I der Sachverhalt dargestellt wird, anschließend in discours II die Klage von Venus bei Jupiter. Discours III umfasst die Organisation der Gerichtsverhandlung. Interessanterweise beginnt der Prozess aber nicht gleich im Anschluss in discours IV, was inhaltlich durchaus möglich Œuvres / Débat, 103. Louise Labé, Elégies, eadem, Œuvres, 107–118. Die erste Élégie (I) zählt 118 Verse, die beiden folgenden (II und III) umfassen jeweils 104 Verse. 12  Cf. Louise Labé, Sonnets, eadem, Œuvres, 120–135. 13  Varii, »Ecriz de divers Poètes a la louenge de Louize Labé Lionnoize«, Labé, Œuvres, 142–200. 14  Cf. Labé, Œuvres / Débat, 65–80. 15  Cf. Labé, Œuvres / Débat, 81–102. 10  Labé, 11  Cf.

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gewesen wäre, da alle Beteiligten bereits mit ihren Aufgaben betraut worden waren. Stattdessen ist dem Plädoyer Apolons ein Abschnitt vorgeschaltet, in dem sich der Liebesgott unter der Überschrift »Cupidon vient donner le bon jour à Jupiter«16 letztlich selbst verteidigt. Der wenn auch kurze Dialog zwischen Amour und Jupiter enthält zahlreiche, später teilweise auch von Apolon angesprochene Elemente einer Amor-Lehre, so dass hier zunächst der Eindruck eines Ungleichgewichts zugunsten von Amour entsteht. Folie scheint nämlich im Rahmen des Débat nicht die Gelegenheit zu bekommen, sich selbst zu verteidigen … Wenn Apolon sein Plädoyer mit der Aufforderung an Jupiter beginnt, im Folgenden gut zuzuhören,17 weil auch das Wohl und Wehe seines Reichs von Amour, dem Urheber aller Ordnung und der »vraye ame de tout l’univers«18 abhängt, macht er damit gleich von Anfang an deutlich, aus welcher philosophischen Lehre er im Folgenden seine Argumente zur Verteidigung seines Klienten zu ziehen gedenkt: Die zitierte Formulierung ist nämlich – wie viele weitere – eindeutig von Marsilio Ficinos Kommentar zu Platons Symposium, In convivium Platonis sive de Amore inspiriert.19 Ende des 15. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der lateinischen Übersetzung der Werke Platons veröffentlicht und seit den 1540 Jahren auch auf Italienisch und Französisch greifbar, bildet Ficinos De Amore eine der wesentlichen Grundlagen der sogenannten neuplatonischen Liebesphilosophie, die seit dem späten 15. Jahrhundert die abendländische Liebeslyrik prägte.20 Eine Ausrichtung der Verteidigungsrede für Amour am Werk des Florenti16  Cf. Labé, Œuvres / Débat, 62, Discours IV erstreckt sich von Seite 62–64. Im Folgenden wird neben der Seitenzahl stets auch der discours durch römische Ziffern angegeben. 17  Cf. Labé, Œuvres / Débat, V, 65: »d’autant plus me devras tu atentivement escouter«. 18  Labé, Œuvres / Débat, V, 65. 19  Dieser lateinisch verfasste Kommentar in sieben orationes von Ficino zu Platons Symposion ist das Ergebnis der jahrelangen Beschäftigung des Florentiners mit der platonischen Philosophie, die er zum Teil unter Rückgriff auf die Texte von Neuplatonikern wie Plotin oder Proklos für die christliche Weltsicht fruchtbar zu machen wusste, cf. dazu ausführlich Clemens Zintzen: Grundlagen und Eigenarten des Florentiner Humanismus, Mainz / Stuttgart 1990, passim, insbesondere 23ss. Die Formulierung »vraye ame de tout l’univers« nimmt beispielsweise die Überschrift von caput 2 der oratio tertia auf: »Amor est auctor omnium et servator«, cf. Marsilio Ficino (Marsile Ficin), Commentaire sur le Banquet de Platon. Texte du manuscrit autographe présenté et traduit par Raymond Marcel. Paris 1956, III, 2. Die römische Ziffer verweist auf die oratio, die arabische auf das Kapitel, dessen Überschrift in Klammern ergänzt ist. 20  Cf. Jean Festugière, La philosophie de l’amour de Marsile Ficin et son influence sur la littérature française du XVIe siècle. Paris 21980, 40ss.



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ners, das selbstverständlich auch in den literarischen Kreisen von Lyon gelesen und geschätzt wurde,21 konnte also durchaus zu einer positiven Aufnahme bei der Leserschaft führen – und zu einem Verständnis des Débat als Amorlehre, also als philosophisches Werk, dessen Verfasser das Ziel verfolgt, die unerklärliche Wirkmacht des Liebesgottes Amour zu erläutern und in prägnante Lehrsätze zu fassen.22 Entsprechende Texte entstanden im Laufe des 15. Jahrhunderts und besonders seit dem Erscheinen des Werks von Ficino in großer Zahl und stießen im Allgemeinen auf reges Interesse.23 Viele von ihnen entstammten auch der Presse von Labés Drucker Jean de Tournes, so 1551 die unter dem Titel De l’amour veröffentlichte französische Übersetzung der Dialoghi d’Amore von Giuda Abarbanel, genannt Leone Ebreo.24 Das gleichfalls vom Florentiner Neuplatonismus beeinflusste Werk, dessen sich neben Labé noch weitere Autoren der literarischen Zirkel von Lyon bedienten,25 schlägt sich – zum Teil gar bis auf den Wortlaut genau – in mehreren Passagen der Verteidigungsrede von Apolon nieder. Als Beispiele für die enge Anlehnung des Plädoyers an die genannten Vorbilder seien neben 21  Zu einem dieser Dichterzirkel – der oft in Analogie zur späteren Pléiade als École lyonnaise bezeichnet wird – gehörten neben Louise Labé unter anderen Pernette de Guillet und Maurice Scève, cf. dazu. François Rigolot, Louise Labé Lyonnaise ou la Renaissance au Féminin. Paris 1997, 17. Rigolot plädiert hier zu Recht für die Verwendung des lateinischen Begriffs sodalitium lugdunense für die »communauté culturelle« der genannten Autoren. 22  Es sei daran erinnert, dass im Mittelpunkt des Symposion von Platon ein Redewettstreit steht: Die Teilnehmer am Gelage: Phraidros, Pausanias, Eryximachos, Aristophanes, Agathon, Sokrates sowie der später dazukommende Alkibiades verpflichten sich dazu, eine Lobrede auf Eros zu halten, wird der Gott der Liebe doch von den Dichtern nur selten besungen (cf. Platon, »Συμπόσιον (ἢ περὶ ἀγαθοῠ ἠθικός) – Le Banquet (ou De l’Amour; genre moral«, idem, Œuvres complètes IV / 2. Texte établi et traduit par Léon Robin. Paris 1962, 177b–e). In den sieben Reden wird die Liebe in all ihren Facetten vorgestellt, was das Symposion – wie am Beispiel von Ficinos Kommentar deutlich sichtbar – zu einem naheliegenden Ausgangspunkt für die Entwicklung späterer Amor-Lehren macht. 23  Cf. Festugière, Philosophie, 63ss. 24  Die Dialoghi d’Amore des portugiesischen Juden Giuda Arbabanel wurden 1535 posthum in Rom veröffentlicht, 1551 wurden sie sowohl vom Pléiademitglied Pontus de Tyard als auch von Denis Sauvage ins Französische übertragen. Die Übersetzung von Sauvage erschien jedoch beim Konkurrenten von De Tournes, dem Drucker Rouille. Zu Leben und Werk des Philosophen cf. Santino Caramella, »Nota«, Leone Ebreo (Giuda Arbabanel), Dialoghi d’Amore. A cura di Santino Caramella. Bari 1932, 413–446, passim; zum Erfolg seiner Texte in Frankreich cf. ibid. 436, dazu Huchon, Labé, 245. Die jüdische Namenform des Autors wird in der Kritik unterschiedlich notiert, im Folgenden wird die von Caramella verwendete Variante benutzt. 25  Cf. dazu Festugière, Philosophie, 94 (Scève), 109 (De Guillet) sowie die Intro­ duction von Gérard Defaux in der von ihm besorgten kritischen Ausgabe der Délie von Maurice Scève (Genf 2004), xi–clxxxviii, besonders xxxiiiss.

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den von Labé klar eingehaltenen Regeln für eine laus amoris26 die Ausführungen über den Ursprung der Liebe27 sowie der Hinweis auf die besonders von Ebreo betonte Liebe als Quelle der Selbsterkenntnis genannt.28 Die Konzeption des Plädoyers für Amour als Amor-Lehre kann damit als erwiesen gelten. Das heißt aber nicht, dass der gesamte Débat als solche gelesen werden sollte. Dagegen spricht nicht nur, dass Mercure in seiner Rede zugunsten von Folie einige Aspekte der neuplatonischen Lehre, wie beispielsweise den Beginn der Liebe ab aspectu, dezidiert in Zweifel zieht: Dire que c’est la force de l’œil de la chose aymée, et que de là sort une sotile evaporacion, ou sang, que nos yeus reçoivent, et entre jusqu’au cœur: ou comme pour logé un nouvel hoste, faut pour luy trouver sa place, mettre tout en desordre: Je say que chacun le dit: mais, s’il est vray, j’en doute.29

Um seine Ablehnung dieses zentralen Konzepts neuplatonischer Liebeslehre zu unterstreichen und dessen Gültigkeit vollends in Frage zu stellen, führt Mercure ausgerechnet solche Liebesbeziehungen an, die schon aufgrund der ›Zusammenstellung‹ der jeweiligen Partner nicht nach dem von Ficino beschriebenen Muster funktionieren können und gibt es auf diese Weise dem Lachen preis: Car plusieurs ont aymé sans avoir ù cette occasion, comme le jeune Gnidien, qui ayma l’œuvre fait par Praxitelle. Quelle influxion pouvoit il recevoir d’un œil marbrin ? Quel sympathie y avoit il de son naturel chaud et ardent par trop, avec une froide et morte pierre? Qu’est-ce donq qui l’enflammoit ? Folie, qui estoit logee en son esprit. Tel feu estoit celui de Narcisse. Son œil ne recevoit pas le pur sang et sutil de son cœur mesme: mais la fole imaginacion du beau pourtrait, qu’il voyoit en la fonteine, le tormentoit.30 26  Cf. dazu beispielhaft den Aufbau des Plädoyers von Apolon (Labé, Œuvres / Débat, V, 65–80) und die in Ficin, Commentaire I, 2 (»Qua regula laudandus sit amor«) vorgeschlagene Struktur einer laus amoris: »Ea igitur perfecta laudatio est, que precedentem rei recenset originem, presentem formam narrat, sequentes ostendit eventus«. 27  Cf. die Ausführungen von Apolon zu den möglichen Ursprüngen der Liebe (Labé, Œuvres / Débat, V, 70s) und die entsprechenden Kapitel bei Ficin, Commentaire, I, 3 (»De origine amoris«) und VI, 7 (»De amoris ortu«). Darüber hinaus ist der gesamte dritte Dialog der Dialoghi von Ebreo diesem Thema gewidmet, cf. Ebreo, Dialoghi, III, insbesondere seconda parte B (»Prima questione: Se l’amore nacque«) und C (»Seconda questione: Quando nacque l’amore«). 28  Cf. die Aussagen von Apolon (Labé, Œuvres / Débat, V, 74) und die Angaben in Ebreo, Dialoghi III, II, D β: »Amore, bellezza e conoscenza«, bei Ficino – wenn auch weit weniger ausgestaltet – finden sich die entsprechenden Hinweise in Ficin, Commentaire V, 8 »De amoris virtute«. 29  Labé, Œuvres / Débat, V, 92, cf. dazu Ficin, Commentaire, VI, 10 »Que dotes amantium propter amoris patrem«, darin vor allem »Amor […] ab aspectu ducit originem«. 30  Labé, Œuvres / Débat, V, 92 / 93. Labé lässt Mercure hier auf zwei Beispiele aus ›seinem‹ antik-mythologischen Erfahrungshorizont zurückgreifen: Von einem Jüng-



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Wie es sich für den Fürsprecher von Folie wohl gehört, bringt dieser mit solcherart Umdeutungen – wird doch die Entwicklung dieser Liebesbeziehungen nicht mehr Amour, sondern Folie zugesprochen – den bisher wohlgeordneten Argumentations- und Handlungsstrang des Débat – ziemlich durcheinander: Hatte Apolon beispielsweise in seinem Plädoyer die Erfindung und vor allem den Erfolg der Mode Amour beigemessen, da dieser bei Verliebten den Wunsch entstehen lässt, sich der geliebten Person stets in einer Weise zu präsentieren, die diese erfreut oder zumindest nicht verärgert: Apres que l’homme a composé son corps et complexion à contenter l’esprit de l’aymée, il donne ordre que tout ce qu’elle verra sur lui ou lui donnera plaisir, ou pour le moins elle n’y trouvera à se facher. De là ha ù source la plaisante invencion des habits nouveau.31

beansprucht Mercure eben diese Erfindung der Mode für seine Klientin. Dabei geht der Götterbote, der nicht umsonst auch als Gott der Beredsamkeit32 galt, auf rhetorisch so geschickte Weise vor, dass die schlichte Darstellung des gleichen Sachverhalts durch Apolon demgegenüber vollständig in Vergessenheit gerät und die Zuhörerschaft respektive der Leser die ja grundsätzlich angenehme Erfindung der Mode wohl als Pluspunkt für Folie verbuchen wird: Mais Folie lui esveille l’esprit, fait chanter, danser, sauter, habiller en mole façons nouvelles, lesquelles changent de demi an en demi an, avec tousjours quelque aparence de raison, et pour quelque commodité. […] Et pour ces petites folies, et invencions, qui sont tant en habillemens qu’en contenances et façons de faires l’homme en est mieus venu, et plus agréable aus Dames.33

Die Kleidung respektive deren Stil ist allerdings – darin sind sich die Beteiligten einig – durchaus nicht das einzige, was Menschen verändern, um einer geliebten Person zu gefallen. So weist Amour selbst im Gespräch mit ling aus Knidos, der sich in die von Praxiteles gefertigte Marmorstatue der Aphrodite / Venus verliebte, berichtet Plinius Maior in seiner Naturalis Historiae, cf. C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde. Lt.-Dt. – Die Steine. Hrsg. und übers. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp. Darmstadt 1992, XXXVI, 21. Die Liebe von Narcissus zu seinem Spiegelbild schildert Publius Ovidius Naso in den Metamorphoses, herausgegeben und übersetzt von Gerhard Fink, Düsseldorf-Zürich 2004, III, vv. 406–493. Die römische Ziffer verweist auf das Buch. Zur Infragestellung der neuplatonischen Liebeslehre durch Mercure cf. Edith Joyce Benkov, »The re-making of Love: Louise Labé’s Débat de Folie et d’Amour«, Symposium 46 / 2 (1992), 94–104, hier 98: »Mercure de-Platonizes love«, cf. dazu auch Abschnitt II des vorliegenden Aufsatzes. 31  Labé, Œuvres / Débat, V, 74. 32  Cf. Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. 15 vols., ed. Hubert Cancik und Helmut Schneider, Stuttgart / Weimar 2001, Lemma: Mercurius. 33  Labé, Œuvres / Débat, V, 91.

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Jupiter auf die Notwendigkeit intensiver Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen einem selbst und der geliebten Person hin und rät, so sich Übereinstimmungen finden lassen, diese zu nutzen oder sich anderenfalls zu ändern, um die Liebe zu erhalten: »il faut soigneusement chercher quel est le naturel de la personne aymée: et connoissant le notre, avec les commoditez, façons, et qualitez estre semblables, en user: si non, le changer«.34 Apolon bestärkt anschließend diesen Gedanken, indem er in seinem Plädoyer die Macht des Liebesgottes betont, Menschen zur Veränderung ihres naturel zu bewegen: Et par ce vient, que les Amans choisissent les façons de faire, par lesquelles les personnes aymées auront plus d’ocasion de croire l’estime et reputation que lon ha d’elles. […] car il ha incessament au cœur l’object de l’amour, qui lui cause un désir d’estre dine de recevoir la faveur [de l’objet aimé], laquelle il scet bien ne pouvoir avoir sans changer son naturel.35

Wie nicht anders zu erwarten, rät auch Mercure den Verliebten, sich zu verändern um der geliebten Person zu gefallen: »Si votre Amie ne vous veut estre telle, il faut changer, et naviguer d’un autre vent«36 und illustriert diese Aufforderung gleichsam mit einer Fülle erfolgreicher Wandlungen. So beispielsweise Zethe et Amphion ne se pouvoient acorder; pource que la vacacion de l’un ne plaisoit pas à l’autre. Amphion ayma mieus changer, et retourner en grace avec son frère. Si la femme que vous aymez est avare, il faut se transmuer en or, et tomber ainsi en son sein.37

Auf diese Weise gelingt es ihm erneut, seine Sicht der Dinge – und eben nicht die von Apolon und Amour – im Gedächtnis seiner Zuhörer zu verankern. Diese Strategie greift umso besser bei den Lesern der Œuvres complètes, werden sie doch den von Mercure angebrachten Hinweis auf die Frauen, die, um ihren Dichterehemännern zu gefallen, Nadel und Faden 34  Labé, Œuvres / Débat, IV, 63. Zu dieser sogenannten theorie of transformation cf. Benkov, Re-making, Symposium, 99 / 100. 35  Labé, Œuvres / Débat, V, 73 / 74. 36  Cf. Labé, Œuvres / Débat, V, 99 / 100. 37  Cf. Labé, Œuvres / Débat, V, 100. Die Beispiele stammen erneut aus der ›Welt‹ von Mercure: Zethos und Amphion, die Söhne von Jupiter und Antiope sollten gemeinsam die Stadtmauern Thebens errichten. Während aber Zethos körperliche Betätigung gewöhnt war und ihm deshalb diese Arbeit leicht von der Hand ging, musste Amphion, ursprünglich den Musen zugewandt und ein vorzüglicher Leierspieler sich seinem Zwillingsbruder anpassen und sein Leben verändern, cf. Hesiod, »Fragmenta selecta«, idem, Opera. Theogonia – Opera et Dies – Scutum – Fragmenta selecta. Ediderunt Reinhold Merkelbach et Martin Litchfield. West. Editio altera cum Appendice Nova Fragmentorum, Oxford 1983, 111–226, fr. 182. Jupiter verwandelte sich in einen Goldregen und verführte auf diese Weise Danae (cf. Ovid, Metamorphoses, VI, v. 113).



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gegen Feder und Buch austauschten – »Plusieurs femmes, pour plaire à leurs Poëtes amis, ont changé leurs paniers et coutures, en plumes et livres«38 – auf die Situation von Labé beziehen, die im Widmungsbrief der Œuvres complètes ihre Zeitgenossinnen, die »dames vertueuses« von Lyon, eben dazu ermunterte: Je ne puis faire autre chose que prier les vertueuses Dames d’eslever un peu leurs esprits par-dessous leurs quenouilles et fuseaus, et s’employer à faire entendre au monde que si nous ne sommes faites pour commander, si ne devons nous estre desdaignees pour compagnes tant es afaires domestiques que publiques de ceux qui gouvernent et se font obeïr.39

Wenn Mercure das Thema ›Veränderungen um der Liebe willen‹ dann mit den Worten abschließt: »Or, me dites, si ces mutacions contre notre naturel ne sont vrayes folies«40 kommt man nicht umhin, ihm gerade aufgrund der hier vorgenommenen Verallgemeinerung zuzustimmen, obwohl man vorher vielleicht Amour und seinem Anwalt gewogen war. Lässt sich wie gezeigt Apolons Verteidigungsrede in Verbindung mit discours IV als Amor-Lehre lesen, so liegt es nahe, das Plädoyer von Mercure in die Tradition des paradoxen Enkomium zu stellen, jener Textsorte, die mit der 1511 veröffentlichten Μσριαφ Ενκομιον von Erasmus von Rotterdam ihre neuzeitliche Form und seither oft nachgeahmtes Modell erhalten hatte.41 Tatsächlich wurden in der Nachfolge des Humanisten zahlreiche Lobreden auf nichtige oder im allgemeinen verhasste Phänomene des täglichen 38  Labé, Œuvres / Débat, V, 100: ähnlich ibid, V, 97: »Au lieu de filer, coudre, besongner au point, leur estude est se bien parer, promener es Eglises, festes et banquets pour avoir toujours quelque rencontre de ce qu’elles ayment. […] Elles prennent la plume et le lut en main: escrivent et chantent leurs passions et en fin croyt tant cette rage, que’elles abandonnent quelquefois pere, mere, maris, enfans, et se retirent ou est leur cœur«. 39  Cf. Louise Labé: »Epistre dedicatoire A.M.C.D.B.L. (A Mademoiselle Clemence de Bourges, Lyonnaise)«, eadem, Œuvres, 41–43, hier 42. Zum Widmungsbrief an Clemence de Bourges, der als Grundlagentext für eine genderorientierte Labéforschung angesehen werden kann, cf. Hennigfeld, Défense, Gronemann / Schwan / Sieber, Strategien, 21 sowie ausführlich Christine Clark Evans, »The feminine Exemplum in Writing: Humanist Instruction in Louise Labé’s Letter Preface to Clémence de Bourges«, Exemplaria 6 / 1 (1994), 205–221 und Rigolot, Renaissance, jeweils passim. 40  Labé, Œuvres / Débat, V, 100. 41  Das Werk erschien unter diesem Titel erstmals in Paris, ab der zweiten Ausgabe – 1512 bei Schürer in Straßburg – wurde der griechischen Bezeichnung die lateinische Übersetzung Laus stultitiae beigegeben. Ab 1520 war zudem eine französische De la declamation de louenges de folie (Paris), seit 1539 eine italienische Fassung La Moria d’Erasmo in volgare (Venedig) greifbar. Aufgrund des großen Erfolgs und der damit einhergehenden weiten Verbreitung des Werkes ist davon auszugehen, dass Labé die Moriae kannte oder gar ein Exemplar ihr Eigen nannte, cf. Rigolot, Renaissance, 202.

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Lebens verfasst und auf diese Weise – wie auch schon in Brants Narrenschiff – lachend Kritik an den zeitgenössischen Gegebenheiten in Kirche und Gemeinwesen, aber auch im täglichen Miteinander geübt.42 Hatte aber Brant in seinem Werk noch die allegorische Figur der Narrheit auftreten und vor ihrer eigenen Sündhaftigkeit warnen lassen,43 bietet Erasmus eine fröhliche, sich selbst lobende stultitia: Lubitum est enim paulisper apud vos Sophistam agere […] veteres imitabor, qui quo infamen Sophorum appellationem vitarent, Sophistae vocari malverunt. Horum studium erat, Deorum ac fortium virorum laudes encomiis celebrare. Encomium igitur audietis, non Herculis, neque Solonis, sed meium ipsum, hoc est stultitiae.44

Dass man ihre Rede allerdings nicht ernst zu nehmen braucht, macht sie gleich zu Beginn deutlich »audietis, si modo non gravabimini dicenti praebere aures, non eas sane, quas sacris Concionatoribus, sed quas fori circulatoris, scurris ac morionibus, consuevistis arrigere«45 zumal Erasmus selbst 42  Zur Bedeutung des Narren, dessen sprichwörtliche Freiheit sich sowohl die Verfasser literarischer Texte als auch die Organisatoren bestimmter Feste wie Karneval oder fête des fous zunutze machten cf. ausführlich Joël Lefebvre, Les fols et la folie. Étude sur les genres du comique et la création littéraire en Allemagne pendant la Renaissance. Paris 2003 (Neudruck der Ausgabe von 1968), passim, insbesondere 77–277 sowie Heather Arden, Fools’ Play. A study of satire in the sottie. Cambridge 1980, 60ss. Der monde à l’envers des Narren, in dem dieser straflos Kritik an den Gegebenheiten der Welt äußern kann, ist das grundlegende Prinzip der dramatischen Form sottie, die sich in Frankreich neben der farce im ausgehenden 15. sowie vor allem in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute. 43  Cf. beispielsweise Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben. Hrsg. von Manfred Lemmer. Tübingen 4 2004, »Ein vorred in das narren schiff«; dazu Lefebvre, Fols, 124ss. 44  Erasmus von Rotterdam, Μσριαφ Ενκομιον sive Laus stultitiae. Deutsche Übersetzung von Alfred Hartmann, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Wendelin Schmidt-Dengler (Erasmus Werke 8 / 2), Darmstadt 1975, 10. Da Labé sich möglicherweise in der Gestaltung des Plädoyers von Mercure auch in Wortwahl und Ton von der französischen Fassung hat inspirieren lassen, seien im Folgenden auch die entsprechenden Passagen zitiert: »Les sophistes veulx ensuvuir a philosophes anciens non pas du gens daujourdhui mais ceulx qui ont invente nouvelles fictions / superstitions et follie desquels estoit lestude celebrer totallement par Vers a mettres nommez eucomicques / les louenges des dieux et hommes heroiques  : parquoy vous ourez doncques ses louenges / lesquelles ie veulx chanter / fondées sur lestat des insipiens folz et erratiques ; cesst assavoir mon enchomie non pas celle dhercules le fort ne du philosophie solon mais de moy mesmes qui me nomme follie«; Erasme (Desiderius Erasmus), De la declamation de louenges de folie. Paris 1520, I, fueil IIr / v. Die römische Ziffer verweist auf das Kapitel. 45  Erasmus, Ενκομιον, 10 / 11; Erasme, Declamation, I, fueil IIr: »non pas telle que aux sainctz predicateurs / concernateurs et prophestes vous avez concede / mais pareille quavez de coustume prester aux folz circulateurs, bateleurs et autres telz semblables«.



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die Ausführungen von Stultitia im dem Werk vorangestellten Widmungsbrief an Thomas Morus als »declamatiuncula«46 – Redeübung – bezeichnet, eine Qualifikation, die er in der einleitenden Überschrift zu Beginn des Textes gar wiederholt: »Moriae Enkomium: id est stultitiae laus desiderii Erasmi Roterdami declamatio«.47 Eben als ein solches rhetorisches Übungsstück erweist sich bei näherem Hinsehen auch die Verteidigungsrede Mercures für Folie. Der Gott der Beredsamkeit macht von Anfang an deutlich, dass er sein Plädoyer nicht mit einer Entschuldigung beginnen werde: N’atendez point Jupiter, et vous autres Dieu immortels, que je commence mon oraison par excuses (comme quelquefois le font les Orateurs, qui creignent estre blamez, quand ils soutiennent des causes apertement mauvaises.48

Auf diese Weise kennzeichnet er seine Rede als dem genus admirabile vel turpe zugehörig.49 Derartige Angelegenheiten von geringer Glaubwürdigkeit, die entweder dem sittlichen Empfinden oder der Logik zuwiderlaufen, zu verteidigen oder sie gar zu loben, gehört seit der Antike zum rhetorischen Übungsbetrieb, getreu dem Motto: wer eine unglaubwürdige Sache überzeugend vertreten kann, dem gelingt im Ernstfall die Verteidigung einer ›echten‹ Streitsache mühelos.50 Dass Folie sich in dieser Hinsicht als Gegenstand eignet, lässt sich wohl ebenso wenig bestreiten wie die Tatsache, dass die Rede von Mercure tatsächlich nach allen Regeln der rhetorischen Kunst ausgearbeitet ist und die 46  Erasmus, »Erasmus Rot. Thomae Moro suo s. d.«, Erasmus, Ενκομιον, 3–6, hier 3. Dieser Widmungsbrief ist in der französischen Fassung nicht enthalten. 47  Erasmus, Ενκομιον, 9. Erasme, Declamation, I, fueil Ir  : »Erasme Roterodame de la declamaton des louenges de folie / stile facettieux et profitable pour congnoistre ses erreurs et abus du monde«. Das französische Werk trägt den Hinweis auf den Status des Textes als Redeübung zudem bereits im Titel. 48  Cf. Labé / Œuvres / Débat, V, 81. 49  Den genus admirabile (vel turpe) als einen der möglichen Arten von Rechtsfällen »genere causae« definiert Quintilian im vierten Buch der Institutio Oratoria: »Genera porro causarum plurimi quinque fecerunt: honestum, humile, dubium vel anceps admirabile, obscurum […], quibus recte videtur adici turpe, quod alii humili, alii admirabili subiciunt. Admirable autem vocant quod est praeter opinionem hominum constitutum« (Marcus Fabius Quintilianus: M. Fabi Quintiliani Intitutionis oratoriae. Libri duodecim. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Michael Winterbottom, 2 vols, Oxford 1970, hier vol. I; IV, 1, 40, cf. dazu Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie. München 21963, § 37). 50  Cf. Quintilian / Institutio, IV, 2, dazu Lausberg / Handbuch; §§ 37, 470. Zur Bedeutung entsprechender Redeübungen cf. Joachim Knape, Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte. Stuttgart 2000, 133–173 (zur Institutio oratoria, insbesondere zu Buch I und II).

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Götter des Olymps ebenso in den Bann ziehen und an ihrer bisherigen Einstellung zweifeln lässt51 wie den Leser. Ein weiteres Indiz für eine mögliche Lesart des Plädoyers für Folie als paradoxe Lobrede ist dessen Nähe zum damals sehr erfolgreichen, anonymen Werk La pazzia. Der 1540 erstmals erschienene Text fand im zeitgenössischen Lyon reißenden Absatz52 und wurde deshalb 1567 von Jean de Thiers ins Französische übersetzt und unter dem Titel Les louanges de la Folie traicté fort plaisant en forme de paradoxe bei Rigaud in Lyon gedruckt und veröffentlicht.53 Ton und Inhalt von La Pazzia und Débat sind über weite Strecken identisch, was wohl auch dazu geführt haben muss, dass für das zeitgenössische Publikum, dem ja La Pazzia gut bekannt war, zahlreiche Passagen der laus amoris bei Labé einen fast ironischen Anstrich erhielten, da Labé nun Merkmale der Liebe zuordnete, die in La Pazzia der Narrheit zukamen.54 Die bereits angesprochene Unordnung, die aufgrund der Mehrfachzuordnung von Merkmalen und Fertigkeiten durch Mercure in den Argumentations- und Handlungsstrang des Débat zu Ungunsten von Amour gebracht wird, wirkt demnach bis über die Grenzen des Werks hinaus. 51  Tatsächlich zeigte sich die Zuhörerschaft, die nach dem Plädoyer von Apolon geschlossen hinter Amour stand: (»Incontinent qu’Apolon ut fini son acusation, toute la compagnie des Dieus par un fremissement, se montra avoir compassion de la belle Deesse là presente, et de Cupidon, son fils. Et ussent volontiers tout sur lheure condamné la Deesse Folie«; Labé / Œuvres / Débat, V, 81) nach der Rede von Mercure »diversement afeccionnez et en contrarietez d’opinions, les uns se tenans du coté de Cupidon, les autres se tournans à aprouver la cause de Folie« (Labé /  Œuvres / Débat, V, 102). 52  Cf. Huchon / Labé, 136 / 137, 241, hier auch Informationen zum Erfolg des Paradox’ als literarische Form allgemein sowie in Lyon – und damit auch bei den potentiellen Lesern des Débat. 53  Anonym, Les Louanges de la folie. Traicté fort plaisant en forme de Paradoxe. traduict d’Italie en François par messire Iean du Thier. Lyon 1567. Da Benoît Rigaud mit der Spezialisierung auf kleinformatige Bücher und libelles eine andere Druck- und Veröffentlichungsphilosophie verfolgte als de Tournes, waren die beiden zwar Zeitgenossen, aber keine Konkurrenten auf dem Buchmarkt, was den Autoren durchaus zugute kam, konnten sie doch recht problemlos auf die im Atelier des anderen erschienenen Bücher Bezug nehmen, ohne in einen Loyalitätskonflikt zu geraten, cf. dazu Zemon Davis / Lyon, Chartier / Martin / Histoire, 332. 54  Parallel zu den Ausführungen in La Pazzia gestaltet sind beispielsweise die bereits zitierten Passagen zur Beschäftigung der Frau sowie zur Herkunft der Musik (cf. Labé, Œuvres / Débat, V, 75s): Letztere wird im Débat allerdings Amour zugeschrieben, in Les louenges Folie (cf. Anonym, Les louenges, 312 (CCXVIII). Da eine Ausgabe von La pazzia derzeit nicht greifbar ist, wird auf die französische Ausgabe Bezug genommen. Bei der eingeklammerten römischen Ziffer in Kursivdruck handelt es sich um den in Les louenges notierten Verweis auf die Seitenzahl einer italienischen Ausgabe. Zu weiteren Parallelen und Unterschieden zwischen La Pazzia / Les louenges und Débat, cf. ausführlich Huchon / Labé, 241–250.



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Ein gewisses ›tolles‹ Durcheinander liegt allerdings auch im Einflussbereich von Mercure selbst vor. Er wird nämlich viermal von seiner Klientin unterbrochen, die jeweils direkt Amour anspricht. Angezeigt werden diese Zwischenrufe von Folie allerdings lediglich durch die Pronomina, so dass ein hohes Maß von Aufmerksamkeit nötig ist, um den Sprecherwechsel überhaupt zu bemerken: (1) Que bien que tu te montres ingrat à ce coup, fils de Venus, quand tu calomnies le bon vouloir que t’ay porté et interprètes à mal ce que je t’ay fait pour bien.55 (2) Et pource qu’Amour s’est voulu munir, tant qu’il ha pù, de la faveur d’un chacun, pour faire trouver que par moy seule il ayt reçu quelque infortune, c’est bien raison qu’après avoir ouy toutes ses vanteries, je lui conte à la verité de mon fait.56 (3) Reconnois donq, ingrat Amour, quel tu es, et de combien de biens je te suis cause? Je te fay grand, je te fay eslever ton nom, voire et ne t’ussent les hommes reputé Dieu sans moy. Et après que t’ay toujours acompagné, tu ne me veus seulement abandonner, mais me veus ranger à cette sugeccion de fuir tous les lieus ou tu seras.57 (4) Demeure donc en paix, Amour: et ne viens rompre l’ancienne ligue qui est entre toy et moy: combien que tu n’en susses rien jusqu’à present. Et n’estime que je t’aye crevé les yeus, mais que je t’ay montré, que tu n’en avois aucun usage auparavant, encore qu’ils te fussent à la teste.58

Die Botschaft aller vier Einwürfe ist en gros dieselbe: Wie die zahlreichen von ihrem Verteidiger angeführten Beweise belegen, werde Amour schon seit jeher von Folie begleitet und habe sich seiner Augen bis dato nicht bedient – anderenfalls wäre beispielsweise niemand mehr bereit, sich zu verlieben, da er von vorneherein wüsste, welche Schwierigkeiten und Gefahren auf ihn zukämen: Niemand laufe sehenden Auges in sein Unglück!59 Diese Zwischenrufe von Folie sind eine direkte Reaktion auf die von Apolon geforderte Strafe, man solle Folie verbieten, sich Amour »de cent pas à la ronde«60 zu nähern. Führt man sich nun noch einmal den Schiedsspruch Jupiters vor Augen, entsteht der Eindruck, als habe Folie mit Hilfe von Mercure ihren Willen Œuvres / Débat, V, 84. Œuvres / Débat, V, 88. 57  Labé, Œuvres / Débat, V, 98. 58  Labé, Œuvres / Débat, V, 101. 59  Cf. Labé, Œuvres / Débat, V, 101 / 102: »si jamais ils [i. e. les Amants] voyent, et entendent clerement le peril ou ils sont, combien ils sont trompez et abusez, et qu’elle est l’espérance qui les fait toujours aller avant, jamais n’y demeureront une seule heure«. 60  Cf. beispielsweise Labé, Œuvres / Débat, V, 68. 55  Labé, 56  Labé,

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durchgesetzt, unterscheidet sich die durch das Urteil herbeigeführte Situa­ tion doch kaum von der von Folie geforderten bzw. seit jeher vorhandenen. Bleibt die Frage, welcher der beiden Partner die Opfer aussucht? Spielt man unter den gegebenen Umständen aber beide Varianten gedanklich durch, kommt man zu einem identischen Ergebnis. Die zu Beginn gestellte Frage nach der Motivation der Ambivalenz muss damit neu formuliert werden: Auf der Grundlage der bisherigen Textanalyse, die den Débat zwar auch als Amor-Lehre, vor allem aber als paradoxes Enkomium ausweist, stellt sich die Frage, warum Labé dem Text ein provisorisches zweideutiges Ende gibt, anstatt Folie im Rahmen der paradoxen Tradition als klare Siegerin aus dem Streit hervorgehen zu lassen. Eine Antwort darauf ergibt sich, wenn man den Débat nicht als Einzeltext sondern im Zusammenhang der Œuvres complètes betrachtet. II. Wie alle offiziellen Druckerzeugnisse des 16. Jahrhunderts verfügen auch die Werke von Labé über ein sogenanntes privilège du roi, das dem Drucker für eine bestimmte Zeitspanne gewissermaßen die Exklusivrechte an einem von der Zensur genehmigten Werk sichert und Raubdruck unter Strafe stellt. Um jede Verwechslung zu vermeiden, enthalten diese im Buch abgedruckten Texte neben den rechtlichen Vorschriften immer eine genaue Beschreibung des Werkinhalts. Bei Labé lautet diese »Quelque Dialogue de Folie et d’Amour: ensemble plusieurs Sonnets, Odes et Epistres, qu’aucuns ses Amis auroient souztraits«.61 An die Stelle des korrekten Titels Débat de Folie et d’Amour tritt hier »quelque Dialogue de Folie et d’Amour«. Angesichts der unterschlagenen von Labé selbst verfassten Sonetten und Elegien mag man diese Ungereimtheit zunächst auf eine Unachtsamkeit des Schreibers zurückführen. Die Tatsache aber, dass Maurice Scève, einer der engsten Vertrauten von Labé, sein zu ihrem Lob verfasstes Sonett mit den Worten »En grace du Dialogue d’Amour et de Folie«62 überschreibt, legt die Vermutung nahe, dass das Werk von den Zeitgenossen damals eher als dialogue denn als débat wahrgenommen wurde. Welche Merkmale des Textes von Labé mögen hierzu Anlass geben? In ihrer grundsätzlich identischen Gestalt als Wechselrede zwischen zwei, gelegentlich auch mehr Gesprächspartnern unterscheiden sich beide Formen im Wesentlichen durch ihre Herkunft und – daraus resultierend – 61  Privilège

du roi, Labé, Œuvres, 37 / 38, hier 37. Labé, Œuvres, 145. Titel von Sonett III: »En grace du Dialogue d’Amour et de Folie, œuvre de D. Louise Labé Lionnoize«. 62  Varii / Ecriz,



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durch ihren mehr oder weniger offenen Ausgang. Während sich der Débat aus dem mittelalterlichen conflictus entwickelte, ist der dialogue eher am ciceronianischen Dialog orientiert, steht im Mittelpunkt des einen also die Suche nach einer Antwort, im Zentrum des anderen die Freude am Gedankenaustausch in utramque partem.63 Vor diesem Hintergrund wird die Bezeichnung des Prosatextes von Labé als dialogue durch die Zeitgenossen nachvollziehbar: Im Débat wird zwar auch, wie in den zahlreichen mittelalterlichen Streitgesprächen seiner Traditionslinie, in denen sich corps und âme, clerc und chevalier gegenüberstehen, die Frage nach der hierarchischen Stellung von zwei Kontrahenten gestellt, diese hat aber kaum christlich-moralische Implikation.64 Allerdings wird – und das ist hier entscheidend – am Ende des Débat keine eindeutige Antwort gegeben. Stattdessen erfreuen sich bei Labé die Beteiligten – allen voran Mercure und Folie – am intellektuellen Redewettstreit, was den Text in die Nähe von Renaissancedialogen rückt.65 Deren Ziel besteht eher darin, Mitwirkende und Leser auch über den Text hinaus zum Nachdenken anzuregen, denn die 63  Cf. Gert Ueding (ed.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. 10 vols, Berlin 1992–2012, Lemma: Debatte: Die Debatte – französisch débat – wurde zwar seit dem 13. Jahrhundert immer öfter unabhängig vom universitären und damit streng reglementierten scholastischen Rahmen praktiziert, zentrales Anliegen blieb jedoch stets die konkrete Lösung des debattierten Problems. Dem débat eng verwandt ist der mittelalterliche, oft didaktisch orientierte conflictus sowie das gleichfalls auf eine Lösung ausgerichtete Streitgedicht, cf. Robert Auty e. a. (ed.), Lexikon des Mittelalters. 9 vols., Stuttgart 1999 e. a, Lemma: Debatte (mit Verweis zum Streitgedicht). Im Mittelpunkt eines Dialogs hingegen steht der Austausch über politische oder ethische Fragen nach ciceronianischem Vorbild. Dabei sind das ingeniöse Gedankenspiel und der geschliffene sprachliche Ausdruck wichtiger als das diskutierte Problem per se, ibid, Lemma: Dialog; ebenso Ueding, Wörterbuch, Lemma. Dialog. 64  Cf. dazu François Rigolot, »Préface«, Labé, Œuvres, 7–27, hier 10. 65  Als Renaissancedialoge ciceronianischer Manier lassen sich beispielsweise die bereits erwähnten Dialoghi d’Amore von Ebreo fassen, in denen die Dialogpartner Filone und Sofia um Wert und Inhalt der Liebe ringen, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Um ähnliche Themen drehen sich auch die Diskussionen der devisants im Heptaméron von Marguerite de Navarre. Sie debattieren im Anschluss an jede der 72 erzählten Novellen, die mehrheitlich von Liebesangelegenheiten handeln, über das Verhalten der Beteiligten, ohne dass sich die Argumentationslinien und Einstellungen der Gesprächsteilnehmer im Einzelnen nachvollziehen lassen, da sie zahlreiche Widersprüche und Lücken enthalten. Auch hier geht es der Autorin eher darum, geistreiche Gespräche abzubilden, als Bewertungen zu formulieren (cf. Gisèle Mathieu-Castellani, La conversation conteuse. Les nouvelles de Marguerite de Navarre. Paris 1992, 72s.). Als gemeinsames Vorbild beider Texte lässt sich wiederum Il Cortegiano von Baldassare Castiglione fassen, in dem der Autor den Meinungsaustausch gebildeter Damen und Herren am Hof von Urbino über die Eigenschaften des perfekten Hofmanns – auch in Hinblick auf die Liebe – entwirft. Zur Dialogtradition im Cortegiano sowie allgemein zum Einfluss des Werks auf den Débat cf. Enzo Giudici, Influssi italiani nel Débat di Louise Labé. Rom 1953, 11–19.

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aufgeworfenen Probleme wirklich zu lösen.66 Der ambivalente Schiedsspruch von Jupiter muss demnach weniger als Nicht-Abschluss des Débat denn als Öffnung und Einladung zum Weiterlesen und Weiterdenken interpretiert werden. Das erklärt auch, warum Labé Folie nicht als eindeutige Siegerin aus dem Rechtsstreit hervorgehen lässt. Die Autorin hat ihre ­Œuvres complètes als Gesamtwerk konzipiert, die im Débat begonnene Diskussion um das Verhältnis von Amour und Folie wird demnach in Élegies und Sonnets weitergeführt.67 Bevor abschließend ein Blick auf diese geworfen wird, bleibt die Frage zu beantworten, warum Labé den ersten Text ihrer Werkausgabe dennoch »Débat« genannt hat, obwohl sie ihn als offenen dialogue gelesen wissen wollte? Die Entscheidung für die ›alte‹ Gattungsbezeichnung débat ergibt sich zunächst aus der strukturellen Ähnlichkeit des Textes mit mittelalterlichen Formen. Tatsächlich sind nämlich die beiden seitenlangen Verteidigungsreden von Apolon und Mercure eher den Stellungnahmen in mittelalterlichen conflictus und débat vergleichbar als den Wortmeldungen in Renaissancedialogen. Die Entscheidung für den Begriff ›débat‹ hat aber auch eine strategische Seite: Hätte Labé den ersten Text ihrer Œuvres complètes von vornherein dialogue genannt, wäre wohl über die dann weitaus weniger überraschende Ambivalenz der sentence des Göttervaters kaum je so viel nachgedacht worden. Indem die Autorin diese Formulierung wählt, möchte sie sich das Interesse und die Anteilnahme ihrer Leserschaft auch für die weiteren, vielleicht weniger kurzweiligen Teile ihrer Werke sichern. In welchem Maße die lyrischen Abschnitte des Werks von Labé die Diskussionen des Débat fortsetzen, sei im Folgenden anhand einiger Passagen exemplarisch erläutert. Hatte man als Leser erwartet, dass infolge des Schiedsspruchs von Jupiter Folie und Amour in den lyrischen Texten gleichermaßen Beachtung finden, wird man bei der Lektüre der drei élégies zunächst ernüchtert. Auf den ersten Blick scheint sich nämlich alles um die »servage de dur Amour«68 zu drehen, der das lyrische Ich, wie auch schon zahlreiche Gestalten aus Mythologie und Geschichte, unterstellt ist. Die Einflüsse von Folie hingegen scheinen kaum zur Sprache zu kommen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass Folie einzig in der Formulierung »Ne veuillez pas condamner ma simplesse / Et jeune erreur de ma fole jeunesse«69 direkt präsent ist, Amour bzw. das Verb aymer oder die entsprechenden Derivate 66  Cf. dazu Christian Mouchel: Cicéron et Séneque dans la rhétorique de la Renaissance. Marburg 1990, 40s. 67  Cf. Benkov, Re-making, Symposium, 98. 68  Labé, Œuvres / Elégies, I, vv. 58 / 59. Die römische Ziffer verweist auf die Elegie. 69  Labé, Œuvres / Elégies, III, vv. 5 / 6.



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hingegen fast in jeder Verszeile. Damit erweisen sich die Elegien zunächst sehr traditionell als Liebesdichtung, eine Ausrichtung, die Labé selbst im Débat sanktioniert hatte: Mais qui fait tant de Poëtes au monde en toutes langues. N’est-ce pas Amour? Lequel semble estre le suget, duquel tous Poëtes veulent parler. Et qui me fait attribuer la poësie à Amour: ou dire, pour le moins, qu’elle est bien aydée et entretenue par son moyen? C’est qu’incontinent que les hommes commencent d’aymer, ils écrivent vers.70

Die Parteinahme für Amour ist jedoch trügerisch: Bei näherem Hinsehen wird nämlich deutlich, dass die Wirkmacht von Amour hier oftmals in einer Weise und in Bezug auf Bereiche dargestellt wird, die im Débat entweder Folie allein oder Amour und Folie gleichzeitig zugeschrieben worden waren. Dies zeigt sich beispielhaft in der zweiten élégie: Im Mittelpunkt des Textes steht die Klage des lyrischen Ich um einen »Ami«71 auf Reisen, dessen Rückkehr seit langem erwartet wird. Stärker als um all die anderen Gefahren, denen der Freund ausgesetzt ist, sorgt sich die »aymante ame«72 um die Treue des Reisenden: […] peut estre ton courage S’est embrasé d’une nouvelle flame, En me changeant pour prendre une nouvelle Dame : Jà en oubli inconstamment est mise La loyalité que tu m’avois promise.73

Die Angst, vom »ami infidèle«74 betrogen zu werden, prägt die gesamte élégie, immer wieder beschwört das lyrische Ich seine Liebe und seine Vorzüge gegenüber anderen Frauen,75 formuliert gar bereits die eigene 70  Labé, Œuvres / Débat, V, 76, ähnlich: »Brief, le plus grand plaisir qui soit apres amour, c’est d’en parler«. Es sei zudem daran erinnert, dass die Elegie, abgeleitet von gr. ἔλεγοϚ, Klagelied, gattungsgeschichtlich gerade in Form der Liebeselegie besondere Ausformung erfuhr (cf. Cancik / Schneider / DNP, Lemma: Elegie II A / C). Wenn Labé sich also entscheidet, Elegien zu schreiben, ist die Ausrichtung auf die Liebesthematik fast ebenso traditionell wie im Fall der Sonette, die als lyrische Form seit den Texten der Sizilianischen Dichterschule, spätestens aber seit dem Erfolg des Canzoniere von Petrarca, mit der Liebesthematik verknüpft sind. 71  Labé, Œuvres / Elégies, II, v. 4. 72  Labé, Œuvres / Elégies, II, v. 96. 73  Labé, Œuvres / Elégies, II, vv. 16–20. 74  François Rigolot, »Louise Labé et les ›Dames lionnoises‹: les ambiguïtés de la censure«, Lawrence D. Kritzman (ed.), Le signe et le texte. Études sur l’écriture au XVIe siècle en France, Lexington 1990, 13–26, hier 21. 75  Cf. beispielsweise »Je ne dy pas qu’elle ne soit plus belle / Mais que jamais femme ne t’aymera / Ne plus que moy d’honneur te portera«; Labé, Œuvres / Elégies, II, vv. 71–73, dazu Rigolot, »Ambiguïtés«, Kritzman, Signe, 21s.

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Grabinschrift, um dem Geliebten die Liebe zu beweisen.76 Da aber die Untreue des Mannes in keiner Weise erwiesen, die Frau vielmehr seit zwei Monaten ohne jede Nachricht ist,77 erweist sich das lyrische Ich hier zwar durchaus unter der servage de dur Amour, gleichzeitig aber von Folie beeinflusst, verantwortlich für jedes »cœur soupconneus et jalous«.78 Dies wird umso deutlicher, verbindet man die Klagen des lyrischen Ich aus Élegie II mit der Beschreibung der Gefühlslage eines Eifersüchtigen aus dem Débat: Et si de fortune survient quelque jalousie, comme il avient le plus souvent, on ne rit, on ne chante plus: on devient pensif et morne: on connoit ses vices et fautes: on admire celui que l’on pense estre aymé: on parangonne sa beauté, grace, richesse, avec celui duquel on est jalous: puis soudain on vient à depriser : qu’il n’est possible qu’il face tant sans devoir que nous, qui languissons, mourons, brulons d’Amour.79

Die Beobachtungen, die Mercure hier als Auswirkungen von Folie beschreibt, treffen mehrheitlich auch auf das lyrische Ich der zweiten Elegie zu, was einmal mehr beweist, dass Folie und Amour eng miteinander verbunden sind bzw. – um im Bild des Débat zu bleiben – Folie die stete Begleiterin des Liebesgottes ist. Ein hierarchisches Verhältnis zwischen den beiden lässt sich hier allerdings ebenso wenig erkennen wie in den anderen Elegien und in den Sonetten. Wer liebt, verändert sich: Im Débat reklamierten bekanntlich sowohl Amour als auch Mercure für sich, Ursache einer solchen Veränderung zu sein. Das lyrische Ich der ersten Elegie hatte diesbezüglich zwar scheinbar eindeutig Stellung bezogen und die Veränderung von Liebenden am Beispiel der kriegerischen Königin Semiramis mit dem Einfluss von Amour erklärt: Que le plaisir d’armes plus ne te touche: Mais seulement languis en une couche? Tu as laissé les aigreurs Martiales Pour recouvrer les douceurs geniales. Ainsi Amour de toy t’a estrangee Qu’en te diroit en une autre changée,80 Labé, Œuvres / Elégies, II, vv. 101–104. Labé, Œuvres / Elégies, II, vv. 49–51. 78  Labé, Œuvres / Débat, V, 95. 79  Labé, Œuvres / Débat, V, 95. 80  Labé, Œuvres / Elégies, I, vv. 85–90. Semiramis ist eine legendäre babylonische Königin. Überliefert sind von ihr vor allem ihre Schönheit, ihre eindrucksvollen Bauten – darunter die hängenden Gärten – und ihre Feldzüge bis nach Indien (cf. Konrat Ziegler e. a (ed.), Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s (sic!) Realencyclopädie der classischen Altertumskunde. München 1975, Lemma: Semiramis), auf die auch Labé hier anspielt. 76  Cf. 77  Cf.



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dem aufmerksamen Leser des Débat wird jedoch die Doppelbödigkeit dieser Aussage kaum entgehen, so dass die vorliegende transformation81 auch als Erweis der Macht von Folie interpretiert werden kann. Hatte Labé das lyrische Ich der élégies ebenso wie im Débat die Menschheit allgemein als épris par Amour et Folie gezeichnet, präsentiert die Autorin in den Sonnets nun ein lyrisches Ich, das sein ›Liebesglück‹ bis zu einem gewissen Grad selbst zu steuern vermag. Ein Beispiel für diese Haltung ist sonnet XX. Auch hier wird Veränderung thematisiert: Predit me fut que devoit fermement Un jour aymer celui dont la figure Me fut descrite: et sans autre peinture Le reconnu quand vy premierement Puis le voyant aymer fatalement Pitié je pris de sa triste aventure: Et tellement je forcay ma nature Qu’autant que luy aymay ardentement82

Der Beginn einer Liebe wird hier zum vom Menschen beeinflussbaren Akt und damit seiner mystischen Seite beraubt – an der neuplatonischen Theorie des innamoramento ab aspectu hatte ja bereits Mercure gezweifelt.83 Sich verlieben wird hier als Willensakt beschrieben: ›Ich soll den mir zugedachten Mann lieben,84 also tue ich es und verändere seinetwegen mein Wesen – »je force ma nature« – um ihn so innig zu lieben wie er mich‹.85 Mag die Veränderung hier nicht aus Liebe sondern um der arrangierten Liebe willen – und damit letztlich aus Folie stattfinden – erweist sich das Gedicht, wie die meisten Sonette der Sammlung, als Illustration der theoretischen Aussagen im Débat. Dies gilt in besonderem Maße für Sonett XVIII. Es steht in der Tradition der basia-Gedichte, die seit der Antike die Freuden körperlicher Liebe feiern.86 Gestaltet die Autorin mit den beiden Quartetten erneut Benkov, Re-making, in Symposium, 99 / 100. Œuvres / Sonnets, XX, vv.1–8. 83  Cf. Labé, Œuvres / Débat, IV, 92, dazu Wilson Baldridge, »La présence de la Folie dans les Œuvres de Louise Labé«, Renaissance and Reformation / Renaissance et Réforme XXV 4 (1989), 371–379, passim. Auf die Augen als Angriffspunkt für Amour hatte auch das lyrische Ich der ersten élégie hingewiesen: »Que premiers j’ù d’Amour, je vois les armes / Dont il s’arma en venant m’assaillir / C’était mes yeus, dont tant faisois saillir / De traits […]«. Unter dem Einfluss der Débatlektüre wirkt jedoch auch diese Aussage ambivalent. 84  Cf. Labé, Œuvres / Sonnets, XX, vv. 1–4. 85  Cf. Benkov, Re-making, Symposium, 100. 86  Zur Tradition der basia-Gedichte seit Catulls Carminae (V, VII) cf. Cancik / Schneider / DNP, Lemma: Kuss II, C. sowie ausführlich Alfred Ramminger, Motivgeschichtliche Studien zu Catulls Basiagedichten, Würzburg 1937. 81  Cf.

82  Labé,

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die Situation des Kusses dichterisch aus,87 zeigt sie – als deutliches Echo der Worte von Amour im Débat88 – im ersten Terzett dessen Folgen für die Liebenden auf: Lors double vie à chacun en suivra. Chacun en soy et son amy vivra Permets m’Amour penser quelque folie89.

»Permets m’Amour penser quelque folie« – Folie erscheint hier als selbstverständliche Begleiterin von Amour, wie es von ihr selbst, aber auch von Jupiter vorgesehen wurde. Eine Parteinahme für die eine oder andere Macht, etwa in der Hinsicht, dass in den lyrischen Texten eher die von Amour als die von Folie vertretenen Konzepte umgesetzt, so dies überhaupt feststellbar ist, oder umgekehrt, ist nicht erkennbar und wohl auch nicht gewollt – sonst hätte Labé ihre Œuvres complètes nicht in vorliegender Weise konstruiert. »Et guidera Folie l’aveugle Amour …«, dass Jupiters Richtspruch von späteren Rezipienten wie beispielsweise Jean de La Fontaine90 nur in dieser kurzen Form übernommen wurde, ist auf der Basis der bisherigen Textanalyse nur verständlich, ist doch der zweite Teil der sentence »et le conduira ou bon lui semble« inhaltlich ohne Bedeutung. Strategischen Sinn erhält die Formulierung lediglich im Kontext des Gesamtwerks – als Aufforderung zum Nachdenken und Weiterlesen. Um den Erfolg ihrer Werkausgabe zu sichern, bediente sich die Autorin der damals ihrem Umfeld beliebten literarischen Traditionen – und ihres rhetorischen Geschicks!

87  Labé, Œuvres / Sonnets, XVIII, vv. 1–8. Cf. dazu ausführlich Baldridge / Présence, Renaissance, 377. 88  Cf. Labé, Œuvres / Débat, IV, 64: »Lors tu sentiras bien un autre contentement, que ceus que tu as eu par le passé: et au lieu d’un simple plaisir, en recevras un double. Car autant y ha il de plaisir à estre baisé et aymé, que de baiser et aymer«. 89  Labé, Œuvres / Sonnets, XVIII, vv. 9–11. 90  »Le résultat enfin de la suprême Cour / Fut de condamner la Folie / A servir de guide à l’Amour«; Jean de La Fontaine, Fables, Introduction et chronologie par Alain-Marie Bassy-Bibliographie et notes par Yves Le Pestipon, Paris 1995, XII, 14, vv. 29–31. Die römische Ziffer verweist auf das Buch, die arabische auf die Ordnungszahl der Fabel. Für weitere Beispiele cf. die von Rigolot in seiner Werkausgabe besorgte Zusammenstellung »Regards sur Louise Labé«, Labé, Œuvres, 233–262.

Lob und Tod in Michelangelos Dichtung Von Sylvia Schreiber Morti li morti, i vivi parean vivi1 La fama tiene gli epitaffi a giacere; non va né inanzi né indietro, perché son morti, e el loro operare è fermo.2

Michelangiolo incoronato dalle Arti3 (1615–1617) lautet der Titel eines Gemäldes, das der Florentiner Maler Sigismondo Coccapani (1583–1643) für die Casa Buonarroti in Florenz angefertigt hatte [Abb. 1]. Das Bild fügt

Abb. 1: Sigismondo Coccapani, M ­ ichelangelo incoronato dalle Arti (o Michelangelo incoronato dalle Muse) 1615–1617, Florenz, Casa Buonaroti (La rivista online di Storia dell’Arte e Archeologia dell’Upter – Anno 1, Nu­mero  3 – Copyright by Upter / Università Aperta, http: /  / arte.upter.it / ?p=410, Fig. 4). 1  Dante, Purg. 12, 67, Dante Alighieri, La Divina Commedia. Purgatorio, ann. e comm. da Tommaso Di Salvo con illustrazioni, Milano 1993, 224. 2  Michelangelo, Rime, a cura di Enzo Noè Girardi (Scrittori d’Italia 217), Bari 1960, 13. Im Folgenden wird, wenn nicht anders angegeben, nach dieser Ausgabe zitiert, u. zw. wird jeweils nur die Nummer des Textes angeführt. 3  Auch: Michelangiolo incoronato dalle Muse.

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sich in die Reihe jener Darstellungen, die den Künstler als uomo universale preisen. Hier wird er bekränzt mit dem Lorbeer der Bildhauerei, der Musik, der Malerei und der Architektur. Dass die Malerei dem Betrachter ein geöffnetes Buch mit Schrift und Bild präsentiert, ist ein deutlicher Hinweis auf die Würdigung der poetischen Begabung Michelangelos.4 Mittlerweile wird Michelangelo Buonarroti (1475–1564)5 auch im Rahmen der Literaturwissenschaft als Dichter anerkannt und erforscht, was eine Reihe von kritischen Textausgaben und umfangreiche Studien belegen.6 Wieweit sein lyrisches Werk unter dem Zeichen der Panegyrik gesehen werden kann, wurde bislang kaum untersucht. Aus den zahlreichen Biographien geht Michelangelo als ein Ausnahmekünstler hervor, um den Herrscher- und Fürstenhöfe in und außerhalb Italiens rivalisierten. Zum Unterschied von den Hofdichtern, die sich meist einem Mäzen verschrieben, um ihn zeitlebens verbal zu glorifizieren, wechselten die Künstler je nach Auftraggeber ihr Domizil und mussten oder konnten ihre Arbeit nicht auf einen Hof oder eine Stadt konzentrieren. Um ihren Ruhm zu sichern, ließen sich Päpste und Fürsten noch zu Lebzeiten prächtige Monumente und Grabdenkmäler errichten. Auf diese Art und Weise wurde Michelangelo bereits früh und immer wieder mit der Todesthematik konfrontierten. Der Auftrag, der den Künstler nahezu sein ganzes Leben beschäftigte, war das Grabmal für Papst Julius II. Die Medicigräber in Florenz sind weitere Bespiele für die bestellte Auseinandersetzung mit dem Tod. In der berühmten Pietà verknüpfen sich Leben und Tod in einzigartiger Weise, im Jüngsten Gericht sind Tod und Auferstehung in gleichem Maße präsent. Auch in der Dichtung Michelangelos verbindet sich das Leben immer wieder mit dem Tod, das Leiden zieht sich leitmotivisch durch sein poetisches Werk. Am deutlichsten zeigt sich dies naturgemäß in den Gelegenheitsgedichten zum Tod verehrter Persönlichkeiten und in den Epitaphien, in denen das funerale Thema wie in den Grabmonumenten bereits in die Form eingeschrieben ist. Das Rühmen ist hier ein posthumes. Michelangelo ist wie in der Kunst auch in der Lyrik eine Ausnahmeerscheinung, zum einen weil die verbale Kunstform nicht zu sei4  Weitere Beispiele für die bildliche Darstellung Michelangelos als Dichter vgl. »I ritratti di Michelangelo come poeta«, http: /  / arte.upter.it / ?p=410, 25.12.2012. 5  Eigentlich Michelangiolo di Lodovico Buonarroti Simoni. 6  Vgl. z. B. Susanne Gramatzki, Zur lyrischen Subjektivität in den Rime Michel­ angelo Buonarrotis, Heidelberg 2004, Grazia Dolores Folliero-Metz, Le Rime di Michelangelo Buonarroti nel loro contesto. Introduzioni michelangiolesche di Gianluca Tedaldi, Prefazione di Enzo Noè Girardi, Heidelberg 2004 und Claudia-Elisabetta Schurr, Vittoria Colonna und Michelangelo Buonarroti. Künstler und Liebespaar der Renaissance, Tübingen 2001.



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nen genuinen Begabungen gehört, zum anderen, weil er sich trotz des vorherrschenden Gebotes der Imitatio und der Gemeinplätze der Gelegenheitsdichtung schon aus seiner besonderen Situation heraus von den zeitgenössischen Hofpoeten abhob. Als unabhängiger Dichter war er viel weniger zum Lobpreis einzelner Fürsten verpflichtet als in seiner Funktion als künstlerischer Hoflieferant. Michelangelo ist also nicht der typische Lobredner oder Lobdichter, sein Panegyrik ist in Stein gemeißelt. Verbales Lob geschieht nicht im Rahmen von Fest- oder Prunkreden, sondern in lyrischen Texten, die – wenngleich traditionellen Mustern verpflichtet – aus okkasionellen Momenten seiner dramatischen Existenz entstehen. Die Auseinandersetzung scheint aber insofern gerechtfertigt, als das Lobesthema in den Gedichten und Sprüchen Michelangelos eine bedeutende Rolle spielt. An Dante, Petrarca und an zeitgenössischen Modellen geschult, formt es sich, geprägt vom Neoplatonismus, zu einer Art von Lyrik, in der Lob und Tod eng beieinander liegen. Michelangelos Biographie schreibt sich in die Zeit von Humanismus und Renaissance ein. Die Congiura dei Pazzi (1478) hat der aus Caprese Gebürtige wohl nicht bewusst erlebt, die politisch und kulturell so bedeutende Stellung von Lorenzo de’ Medici durfte er hingegen aus unmittelbarer Nähe erfahren. Der kunst- und literaturinteressierte Fürst war auf die Geschicklichkeit des Knaben in der Bildhauerschule in seinem Skulpturengarten aufmerksam geworden und nahm ihn an seinen Hof. Am Familientisch der Medici lernte Michelangelo die geistige Elite der Zeit kennen, vor allem die

Abb. 2: Domenico Ghirlandaio, Annuncio dell’angelo a Zaccaria. Detail (1485–1490) (http: /  / commons.wikimedia.org / wiki / File:Cappella_ tornabuoni,_10,_annuncio_dell’angelo_a_zaccaria.jpg).

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Vertreter des Florentiner Neoplatonismus, Cristoforo Landini und Marsilio Ficino, wie sie gemeinsam mit Poliziano auf dem berühmten Fresko von Ghirlandaio in der Capella Tornabuoni in der Basilica von Santa Maria Novella in Florenz zu erkennen sind [Abb. 2]. Auch Pico della Mirandola, der Dichter Girolamo Benivieni7 u. v. a. zählten dazu. Nach dem Tod Lorenzos verließ der junge Künstler den Hof. Er machte sich mit dem Gedankengut Savonarolas vertraut und erlebte sein republikanisches Regime in Florenz mit. Vor dem Einfall der Franzosen 14948 floh er nach Bologna und fand in Gianfrancesco Aldovrandi nicht nur einen Auftraggeber (z. B. für das Grabmal des Hl. Dominikus), sondern auch einen begeisterten Zuhörer bei der Rezitation von Dante-Versen.9 Noch nicht 25jährig vollendete Michelangelo die Pietà für die Grabka­ pelle im Petersdom, die ihm Kultstatus einbrachte [Abb. 3]. Die körper­ lichen Anstrengungen, die ihm die monumentalen Skulpturen und Fresken zur päpstlichen und fürstlichen Prachtentfaltung abverlangten, ließen ihm wenig Zeit für höfisches Gesellschaftsleben. Auch darf der Prunk der ita­ lienischen Renaissance nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land immer wieder Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen war. Als Florentiner war Michelangelo zudem gespalten zwischen seiner Heimatstadt und dem päpstlichen Rom, wo ihn die wechselnden Kirchenfürsten – zuweilen selbst aus dem Hause Medici – festhalten wollten.10 Anlässlich der Vollendung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle umreißt Giorgio Vasari in seiner Michelangelo-Vita die wechselseitige Erhöhung von päpstlicher Herrschaft und künstlerischer Verherrlichung: »Beatissimo e fortunatissimo Paulo terzo poichè Dio consentì che sotto la protezione tua si ripari il vanto che daranno alla memoria sua [= di Michelangelo] e di te le penne degli scrittori! Quanto acquistano i meriti tuoi per le sue virtù!«11 7  Wie auch Walter Binni feststellt, soll Benivieni Michelangelo in seiner Lyrik sehr geprägt haben. Vgl. Binni, Michelangelo scrittore, Torino 1975, S. 40. 8  Die Medici lebten von 1494–1512 im Exil. Vgl. Götz-Rüdiger Tewes, Kampf um Florenz – Die Medici im Exil (1494–1512), Köln 2011. 9  Vgl. das Gemälde von Francesco Vinea, Michelangelo che legge le sue poesie in casa Aldovrandi, 1863, Firenze, Galleria degli Uffizi, Gabinetto dei Disegni e delle Stampe, http: /  / arte.upter.it / ?p=410, (gesehen am 25.12.2012), Fig. 8. 10  Zum historischen und soziokulturellen Hintergrund der italienischen Renaissance siehe Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien: Ein Versuch, Große illustrierte Phaidon-Ausgabe, Wien [1934]; Peter Burke, The Italian Renaissance. Culture and Society in Renaissance Italy 1420–1540, London-Batsford 1972; Fernand Braudel, Modell Italien. 1450–1650, aus dem Französischen übersetzt von Siglinde Summerer und Gerda Kurz, Stuttgart 1991. 11  Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architetti. Brani scelti con Introduzione e Note di Paolo d’Ancona, Milano 1929, 476. – »Glückselig und gesegnet bist Du o dritter Paul, da Gott zugelassen hat, daß unter Deinem



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Abb. 3: Michelangelos Pietà (1499 / 1500), Petersdom, Vatikan (Fotografie Harald Schreiber).

»Wie sehr sind Deine Verdienste durch seine Kunst erhöht worden«12, schreibt er, nicht ohne die wichtige Funktion der Schriftsteller – und somit auch seine eigene – zu rühmen. Nicht weniger als fünf Päpste – Julius II., Clemens VII., Paul III., Julius III. und Pius V. wollten am Glanz von Michelangelos Kunst partizipieren,13 daneben der türkische Sultan, der französische König, Kaiser Karl V., die Signorìa von Venedig, der Herzog Cosimo de’ Medici.14 Michelangelo nahm es sich heraus, Rufe auch abzulehnen,15 Auftragswerke unvollendet zu lasSchutze der Ruhm sich verbreitete, welchen die Federn der Schriftsteller Dir und ihm bewahren werden! Wie sehr sind Deine Verdienste durch seine Kunst erhöht worden!«, Giorgio Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister bis zum Jahre 1567. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schorn u. Ernst Förster, neu hg. u. eingeleitet von Julian Kliemann, Bd. V, Darmstadt 1983, 352. 12  Ibid. 13  Erlebt hat Michelangelo insgesamt 13 Päpste (Sixtus IV., 1471–1484, Innozenz VIII., 1484–1492, Alexander VI., 1492–1503, Pius III., 1503 (3 Tage), Julius II. 1503–1513, Leo X. (Giovanni de’ Medici) 1513–1521, Adrian VI., 1522–1523, Clemens VII. (Giulio de’ Medici) 1523–1534, Paul III. 1534–1549, Julius III. 1550– 1555, Marcellus II., 1555 (drei Wochen), Paul IV., 1555–1559, Pius IV. (Giovanni Angelo Medici), 1559–1565). 14  Vgl. G. Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, 418. 15  Im höheren Alter schreibt er z. B. an Herzog Cosimo de’ Medici: »[…] per la età e indisposizione mia non posso quanto vorrei e che sarebbe il debito mio di fare

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sen oder sie in seinem Sinne zu vollenden.16 Wenn man der Künstlerlegende glauben darf, musste sogar Papst Julius II. ihm nachreisen, um ihn zur Vollendung seines berühmten Grabmals zu bewegen. Das Bild des Künstlers in ständigem Kampf um den gerechten Lohn, belastet mit den Sorgen des Alltags, wie es aus den Lettere hervorgeht und durch die Legenden seiner Biographen Condivi und Vasari geschürt wurde,17 ist jedenfalls mit kritischer Distanz zu betrachten, denn weder hat Michel­ angelo in Armut gelebt, noch ist er einsam gestorben. Neueren Biographien zufolge war er zumindest in den letzten Lebensjahren berühmt, reich und unabhängig.18 Er wünschte dann auch nicht mehr als »Michelagniolo scultore« angesprochen zu werden sondern als »Michelangniolo Buonarroti«, ein souveräner Künstler, der sich bewusst über den reinen Handwerker stellte »[…] ché io non fu’ mai pictore né scultore come chi ne fa boctega.«19 Georgia Illetschko, Autorin des Bildbandes Ich Michelangelo spricht vom »Habitus des Künstler-Souveräns, der mit Päpsten, Fürsten und Königen wie mit seinesgleichen verkehrte.«20 Mit der Glorifizierung von Fürsten- oder Herrscherpersönlichkeiten stiegen die Renaissancekünstler auch selbst zu einem bislang unvorstellbaren sozialen Rang auf. Michelangelo hat es vor allem beim Juliusgrabmal meisterhaft verstanden, mit der Verherrlichung der maiestas papalis auch seine eigene Kunst zu verewigen [Abb. 4].21 per servizio di Vostra Eccellenza e della Nazione […],« unterzeichnet »Di vostra Eccelenza servitore Michelagniolo Buonarroti. Allo illustrissimo et eccellentissimo signor duca di Firenze et Siena mio padrone osservandissimo.« (Michelangelo, Rime e lettere, a cura di Paola Mastrocola, Torino 1992, lettera 327, 642) (Es ging um die Kirche San Giovanni dei Fiorentini in Rom). 16  Als er 1551 wegen verschiedener Intrigen vor den Papst zitiert wird, um die Gestaltung der Königs-Nischen zu klären, meinte er, dass er nicht verpflichtet sei »Ew. Herrlichkeit, oder irgendwem vorher zu berichten was ich vorhabe; Eures Amtes ist Geld herbeizuschaffen und es vor Dieben zu sichern, für die Zeichnungen des Baues aber müsst Ihr mich sorgen lassen.« (Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, 374). 17  »Ich lebe hier in großer Kümmernis und unter härtester körperlicher Anstrengung und habe keine Freunde und will auch keine haben; und ich habe nicht einmal so viel Zeit, dass ich das Nötigste essen kann,« schreibt er 1509 an seinen Bruder in Florenz (zit. n. Georgia Illetschko, Ich Michelangelo. München u. a. 2003, o. S. [28] »Io sto qua in grande afanno e con grandissima fatica di corpo, e non ho amici di nessuna sorte, e no’ ne voglio; e non ho tanto tempo che io possa mangiare el bisonio mio.« (Michelangelo. Rime e lettere, a cura di Paola Mastrocola, Torino 1992, 356). 18  Vgl. Daniel Kupper, Michelangelo. Reinbek bei Hamburg 2004, 128. 19  Brief vom 2. Mai 1548 an den Neffen Lionardo in Florenz, Rime e Lettere, 234, 559. 20  Vgl. Illetschko, Ich Michelangelo, 48.



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Abb. 4: Grabmal Julius II., Moses, um 1513, Höhe 235 cm, San Pietro in Vincoli, Rom (Illetschko, Ich Michelangelo, 72).

In den Dreißiger- und Vierzigerjahre des Cinquecento pflegte er mit Vittoria Colonna und Tommaso de’ Cavalieri Freundschaften in höchsten Adelskreisen. Dennoch liegen Lob und Tod, bzw. Lob und Klage in der Lyrik Michelangelos eng beisammen. Jenseits aller biographischen Begründungen handelt es sich um lyrische Topoi, derer sich Michelangelo ebenso bediente wie einst die Troubadours, später die Sizilianer oder die Dichter des dolce stil novo. Auch bei Petrarca hatte sich die jugendliche Leidenschaft für Laura in den späteren Reue- und Schamgedichten in ein rhetorisches Klagen verkehrt. In den Gedichten Leopardis sind Jugend und Schönheit für das lyrische Subjekt ebenfalls unerreichbar und daher Ursache für Leid und Klage. Die apostrophierte Schönheit erstrahlt im Kontrast mit dem (eigenen) Hässlichen nur noch heller.22 Michelangelo praktizierte in den Liebesgedichten »die in der 21

21  Siehe auch Franz-Joachim Verspohl, Michelangelo Buonarroti und Papst Ju­lius II.: Moses – Heerführer, Gesetzgeber, Musenlenker, Göttingen 2004. 22  Vielleicht hat die Verletzung des Nasenbeins, die ihm schon in jungen Jahren sein Mitschüler Torregiano zugefügt hatte, mit dazu beigetragen, dass der Dichter stets fremde Schönheit der eigenen »bruttezza« entgegenstellte.

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Petrarca-Nachfolge gängige Kunst der Lamentatio«, so Georgia Illetschko, er beherrschte das »Zelebrieren des Schmerzes«.23 In den Todesgedichten und Epitaphien gehört das Lob naturgemäß zum vorgegebenen Ritual. In der Spätphase wandeln sich die Texte Michelangelos zusehends zum Gotteslob, wie gleichzeitig in seiner Kunst Kreuzigungsdarstellungen und Varianten der Pietà zu dominierenden Themen werden.24 * Als Textgrundlage der Rime wird in den meisten neueren Editionen und Studien zu Michelangelo die standardisierte kritische Ausgabe von Enzo Noè Girardi (Bari 1960) verwendet.25 In der schwierigen Datierungsfrage gibt es zuweilen divergierende Auffassungen zwischen den einzelnen Herausgebern. Michelangelo hatte seine Verse oft auf die Rückseite von Rechnungen, auf Skizzen oder in Briefe geschrieben, manches lässt sich aus dem jeweiligen Anlass erschließen, manches ist nur orthographisch annähernd einem Datum zuordnen. Unter den lyrischen Formen verwendete Michelangelo – seiner Zeit entsprechend – vor allem Sonette, aber auch Madrigale, die ihm größere formale Freiheit einräumten, ferner Sestinen, Oktaven, zuweilen auch Terzinen. Der Überperfektion des »sonettismo«26 seines Jahrhunderts, wie Walter Binni Ich Michelangelo, 50. auch Illetschko, Ich Michelangelo, 58. 25  Enzo Noè Girardi, Michelangelo Buonarroti, Rime. Bari, 1960; Girardi verwendet eine modernisierte Schreibweise, bezieht sich aber, was Quellen und Datierungen betrifft auf die Sammlung der Rime di Michelagnolo Buonarroti, Raccolte da Michelagnolo suo nipote, Florenz 1623, auf die Version der Rime di Michelangelo Buonarroti, pittore, scultore e architetto, cavate dagli autografi e pubblicate da Cesare Guasti Florenz 1863, vor allem aber auf Die Dichtungen des Michelangniolo Buonarroti, hg. und mit einem kritischen Apparat versehen von Carl Frey, Berlin 1897, der an der ursprünglichen Schreibweise festhielt und dem Texten einen ausführlichen kritischen Apparat hinzufügte. Mit einer Vorbemerkung von Hugo Friedrich und mit erweitertem Apparat wurde diese Version neu hg. von Herman-Walther Frey, Berlin, 1964). In der Reihe der Classici Italiani (UTET Torino) erschienen 1992 Rime e Lettere, hg. von Paola Mastrocola. Die Ausgabe hält sich in der Systematik an Girardi, übernimmt aber nicht seine modernisierte Schreibweise. Durch die Anordnung des kritischen Apparates in den Fußnoten kommt sie dem Leser aber eher entgegen (broschierte Ausgabe 2006). Weitere Ausgaben erschienen z. B. bei Garzanti, Rime. Introduzione, note e commento di Stella Fanelli, Prefazione di Cristina Montagnani, Mailand 2006 oder in der Reihe BUR, Rime di Buonarroti Michel­ angelo, Biblioteca Univ. Rizzoli, Mailand 2010. Unter den neueren Übersetzungen ist vor allem Michael Engelhard, Michelangelo: Sämtliche Gedichte, Italienisch und deutsch, Frankfurt a. M. 1992 zu erwähnen und die bebilderte Ausgabe der Gedichte Michelangelos, übersetzt von Thomas Flasch, mit einem Nachwort von Gustav Seibt, Berlin 2000. 26  Walter Binni, Michelangelo scrittore. Torino 1975. 23  Illetschko, 24  Vgl.



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ihn nennt, setzte Michelangelo unzählige Bruchstücke entgegen. Ähnlich wie in seiner Kunst blieb es auch in der Lyrik oft beim non-finito. Viele dieser Fragmente erinnern in ihrer Kombination von Ernst und Scherz an die volkstümlichen Gedichte Lorenzo de’ Medicis oder Francesco Bernis. In den ersten Jahren seines lyrischen Schaffens scheint sich der Künstler angesichts der Zwangsbeglückung, die ihm der streitbare Papst Julius II. mit dem Auftrag der Sixtinischen Decke bereitet [Abb. 5], in der Dichtung ein Ventil zu suchen, seiner Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Die Texte sind geprägt von an Karikatur grenzender Selbstironie, oder aber von bitterer Kritik an den Zeitumständen.

Abb. 5: Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle. (1473–1481), Vatikan, Rom (http: /  / commons.wikimedia.org / wiki / File:Lightmatter_ Sistine_Chapel_ceiling.jpg).

Das vielzitierte Sonett »I’ ho già fatto un gozzo in questo stento« (Die Müh’ hat mir schon einen Kropf gebracht), von dem Thomas Mann vermutet, es sei auf dem Gerüst der Sistina entstanden,27 wird von einer Skizze des arbeitenden Malers flankiert [Abb. 6.] Das monumentale Deckengemälde zur Demonstration päpstlicher Prachtentfaltung findet in diesem Sonett sein verbales Gegenteil. Es handelt sich um ein komisch-tragisches Selbstportrait des Künstlers, das nach einer Reihe von Tiervergleichen und deftigen Beschreibungen in eine captatio benevolentiae an einen gewissen Giovanni mündet, »a quel proprio di Pis27  Vgl.

Thomas Mann, Michelangelo in seinen Dichtungen, Celerina 1950, 7.

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Abb. 6: Selbstbildnis während der Ausmalung der Sixtinischen Decke, mit autographischem Sonett (1508–1512), Feder, 283–200 mm, Archivio Buonarroti, XIII, Fol. 111 (­Michelangelo: Graphie und Bio­gra­phie. Zeichnungen und Schriften des Meisters, hg. von Lucilla Bardeschi Ciulich und Pina Ragionieri, Roma 2002, 35).

toia«, dem das Gedicht auf der Rückseite des Blattes gewidmet ist.28 Der Maler, der eigentlich Bildhauer ist und sein möchte, lässt sein überdimen­ sionales Fresko vom Rede-Subjekt als »pittura morta« bezeichnen und scheint am Ende nach Lob und Ehrenrettung zu ringen, wo er doch ein Auftragswerk mit höchstem Prestigegewinn schaffen durfte. I’ ho già fatto un gozzo in questo stento, come fa l’acqua a’ gatti in Lombardia’ o ver d’altro paese che si sia, ch’a forza ‘l ventre appicca sotto ‘l mento.

Die Müh’ hat mir schon einen Kropf gemacht Wies Wasser Katzen in der Lombardei, Vielleicht auch anderswo, wo es auch sei, Mein Nabel nähert sich dem Kinn mit Macht.

La barba al cielo, e la memoria sento in sullo scrigno, e ‘l petto fo d’arpia, e ‘l pennel sopra ‘l viso tuttavia mel fa, gocciando, un ricco pavimento.

Der Bart steht himmelwärts, des Geistes Fracht Fühl ich im Kreuz, mein Busen gleicht dabei Harpyenbrüsten, meine Pinselei Träuft ins Gesicht mir reichste Farbenpracht.

E’ lombi entrati mi son nella peccia, e fo del cul per contrapeso groppa, e ‘ passi senza gli occhi muovo invano.

Dieweil die Lende in den Wanst sich drängt, Hält mir der Arsch das Kreuz im Gleichgewicht; Und geh ich, kann ich meine Füß’ nicht seh’n.

28  Es handelt sich nach Girardi um Giovanni di Benedetto da Pistoia, der 1540 Kanzler der Florentinischen Akademie war, vgl. Michelangelo, Rime e lettere, 71, Fn. 19.



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Dinanzi mi s’allunga la corteccia, e per piegarsi adietro si ragroppa, e tendomi com’arco sorïano.

Vorn fühl’ ich, wie sich meine Schwarte längt, Und hinten, wie es mir an ihr gebricht, Weil ich mich wie ein Syrerbogen dehn’.

Però fallace e strano surge il iudizio che la mente porta, ché mal si tra’ per cerbottana torta.

Und wirr und seltsam geh’n Mir die Gedanken schon im Kopf herum – Wer schießt schon grad, ist die Kanone krumm?

La mia pittura morta difendi orma’, Giovanni, e ‘l mio onore, non sendo in loco bon, né io pittore. (5)

Stell dich, Giovanni, drum Vor meine Ehr’, mein totes Malwerk hin: Hier geht’s mir schlecht, weil ich kein Maler bin.29

Anstelle von enkomiastischen Texten an den Papst und Auftraggeber verfasste Michelangelo Sonette, die den Materialismus und das kriegerische Gehabe der Kurie beklagen, die höchste geistliche Güter für die kriegerische Aufrüstung veräußert. »Qua si fa elmi di calici e spade / e‚’l sangue di Cristo si vend’a giumelle«, (Aus Kelchen läßt man Helm und Schwert hier schweißen,  / Und Christi Blut ist’s, das die Kassen füllt). Der Text wird von Frey und Girardi mit 1512 datiert, als der Papst, »quel nel manto« (v. 11), sich auf den Krieg gegen Frankreich vorbereitet. Invektiven gegen das Papsttum sind in der römischen Geschichte Tradition, man findet sie aber auch in Dantes Divina Commedia (Inf. XXVII, 85 ff., Par. XVIII, 115 ff., XXVII, 40 ff.) oder in Petrarcas Canzoniere (114, 136, 137, 138). 29

Qua si fa elmi di calici e spade e ‘l sangue di Cristo si vend’a giumelle, e croce e spine son lance e rotelle, e pur Cristo pazïenzia cade.

Aus Kelchen läßt man Helm und Schwert hier                   schweißen Und Christi Blut ist’s, das die Kassen füllt, Aus Kreuz und Dornen werden Speer und Schild, Selbst Christus würde die Geduld hier reißen.

Ma non ci arrivi più ‘n queste contrade, ché n’andre’ ‘l sangue suo ‘nsin alle stelle, poscia c’a Roma gli vendon la pelle, e ècci d’ogni ben chiuso le strade.

Doch herzukommen sollt’ Er sich verbeißen, Weil hier Sein Blut mehr als die Sterne gilt Und Haut und Haar nicht Romas Habgier stillt – Hier trifft Er nicht das Heil, das Er verheißen.

S’i’ ebbi ma’ voglia a perder tesauro, per ciò che qua opra da me è partita, può quel nel manto che Medusa in Mauro;

Käm je mich Lust an, Schätze zu verlieren, Weil Werk und Wirkung mählich von mir weichen, Tät der im Mantel, was Medusa tat.

ma se alto in cielo è povertà gradita, qual fia di nostro stato il gran restauro, s’un altro segno ammorza l’altra vita?  (10)

Doch kann nur Armut in den Himmel führen, Was wird aus uns, wenn dieses andere Zeichen’ Das andere Leben schon zu Boden trat?

Aus der Florentiner Zeit (1520–32) stammt ein Epitaph30, das sich auf die Grabdenkmäler für Lorenzo und Giuliano in der Medici Kapelle in 29  Die Übersetzungen der Gedichte stammen aus der zweisprachigen Ausgabe von Michael Engelhard, der sich an die Nummerierung von Girardi hält. 30  Während Epitaph (griech. èpitáphios, lat. Epitaphium) in der Rhetorik vor allem als Grabinschrift in dichterischer Form (meist als Epigramm), bzw. verstanden wird (vgl. Gert Ueding (Hg), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2: Bie-Eul, Tübingen 1994, Sp. 1306), ist in der bildenden Kunst das Gedächtnismal eines Verstorbenen damit gemeint. Von Michelangelo werden diese Epitaphien besonders reich ausgebildet

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Florenz bezieht,31 Panegyrik(en) aus Stein für die wenig glorreichen Nachfolger von Lorenzo il Magnifico [Abb. 7, Abb. 8] La fama tiene gli epitaffi a giacere; non va né inanzi né indietro, perché son morti, e el loro operare è fermo. (13)32

Der Tod wird als Sieger über Zeit und Ruhm gestellt. Entsprechend ironisch ist die Glorifizierung der Medici-Fürsten in altrömischem Kostüm zu lesen, darunter die vier in liegender Position erstarrten Allegorien der Zeit – Nacht und Tag, Morgen- und Abenddämmerung.

Abb. 7: Grabmal Giuliano de’ Medicis mit den liegenden Figuren Nacht und Tag (1521–1534) Florenz, Museo delle Cappelle Medicee, Neue Sakristei. (Cristina Acidini Luchinat, Michelangelo. Der Bildhauer, übers. v. Petra Kaiser u. Martina Kempter, Fotografien von Aurelio Amen­ dola, München 2010, 160).

Abb. 8: Grabmal Lorenzo de’ Medicis mit den Figuren der Abenddämmerung und der Morgendämmerung. Florenz, Museo delle Cappelle Medicee, Neue Sakristei. (Cristina Acidini Luchinat, Michelangelo. Der Bildhauer, 174).

Zeit und Vergänglichkeit sind Themen, mit denen sich Michelangelo in eine lange Dichtungstradition einschreibt. zu mehrgeschossigen Architekturen, mit reicher plastischer Ausgestaltung (vgl. Brockhaus-Enzyklopädie in 24 Bd., Bd. 6, 19., völlig neu bearb. Aufl., Mannheim 1988). 31  Mastrocola datiert es mit 1519–21. 32  »Der Ruhm macht hier die Grabfiguren liegen; Er geht nicht vorwärts, nicht zurück, denn sie sind tot, ihr Wirken ist erstarrt.«



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Aus den Zwanzigerjahren stammt auch eine Reihe von Texten, meist in Oktaven, die sich als eine Art derb-burleske Lobesdichtung definieren lassen. Vergleiche ergeben sich mit der Nencia da Barberino von Lorenzo de’ Medici, mit dem parodistischen Gegenstück der Beca di Dicomano von Luigi Pulci; aber auch mit den derb-komischen Sonetten von Dantes Zeitgenossen Gino da Pistoia (1270–1336 / 37).33 Was sich am Beginn wie ein Dante-Vers zum Lobe einer donna gentile anlässt, mündet in eine Reihe grotesker Vergleiche aus dem Tier- und Pflanzenreich und steigert sich mit wenig schmeichelhaften Bildern aus dem kulinarischen Bereich zu einer wohl ironisch zu verstehenden Todesdrohung bei Liebesentzug. Tu ha’ ‘l viso più dolce che la sapa, E passato vi par sù la lumaca, tanto ben lustra, e più bel c’una rapa; e denti bianchi come pastinaca, in modo tal che invaghiresti ‘l papa; e gli occhi del color dell’utriaca; e’ cape ‘bianchi e biondi più che porri: ond’io morrò, se tu non mi soccorri.  (20) […]

Dein Antlitz ist noch süßer, meine Liebe Als Most und glänzt, als hätte eine Krake Drauf geschleimt und schöner als ‘ne Rübe. Dein Zahnweiß strahlt wie eine Pastinake, Daß selbst der Papst sich gerne daran riebe; Die Augenfarbe gleicht dem Theriake: Dein Haar ist blond und weißer noch als Zwiebeln: Ach; ich vergeh – erlös mich von den Übeln.

Das Frauenlob verkehrt sich in diesen Oktaven in spöttische Frauenverachtung. Die Verse bewegen sich zwischen Selbstparodie und grotesken Verzerrungen stilnovistischer und petrarkistischer Motive. Leben und Tod, lyrisches Ich und apostrophiertes Du stehen sich kontrastiv gegenüber, das Vergänglichkeitsmotiv verwandelt sich in eine derbe Komik, die von bitterem Humor gekennzeichnet ist. Mit dem Rühmen des Unrühmlichen und mit der Frauenschmähung erweist sich Michelangelo in der Blütezeit des Petrar­kismus als heftiger (oder deftiger) Antipetrarkist. In die Dreißigerjahre und Vierzigerjahre des Cinquecento fallen die Beziehungen zu Tomaso de’ Cavalieri und Vittoria Colonna.34 In den Texten aus dieser Zeit verknüpft sich der Topos von der Unerreichbarkeit des Liebesobjekts mit den neoplatonistischen Lehren, mit denen Michelangelo in seinen Jugendjahren am Hofe der Medici vertraut gemacht worden war. Sinnliche Liebe wird als Vorstufe zur geistig-spirituellen Liebe erblickt. Die pessimistische Grundhaltung, die der Dichter den Klagen des lyrischen Subjekts in den Mund legt, aber auch Bilder und Formen scheinen von Petrarca entlehnt. In seiner Huldigung an den jungen Cavalieri verarbeitet 33  Z. B. Tu lustri più che non fa l’or filato (ed. Livorno 1884, 168), vgl. Enzo Noè Girardi, Studi sulle rime di Michelangelo, Milano 1964, 147. 34  Vgl. dazu die bereits zitierten Arbeiten von Susanne Gramatzki, Grazia Dolores Folliero-Metz und v. a. von Claudia-Elisabetta Schurr (Fn. 6).

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Michelangelo das rhetorische Formeninventar und die Motive von unsterblicher Schönheit einerseits und flammender Vergänglichkeit andererseits. Die neoplatonische Liebesauffassung bietet sich in idealer Weise zu Lösung des Problems der homoerotischen Liebesbeziehung. Der folgende Text, den Girardi um etwa 1533 ansetzt, ist wahrscheinlich an Cavalieri gerichtet.35 Dal dolce pianto al doloroso riso, da una etterna a una corta pace caduto son: là dove ‘l ver si tace, soprasta ‘l senso a quel da lui diviso.

Aus süßen Klagen in ein schmerzlich Lachen Und aus dem ew’gen in den kurzen Frieden Fiel ich: und ist das Wahre erst verschieden, Sind es die Sinne, die zum Herrn sich machen.

Né so se dal mie core o dal tuo viso la colpa vien del mal, che men dispiace quante più cresce o dall’ardente face de gli occhi tuo rubati al paradiso.

Ich weiß nicht, ob sich zu den Ungemachen, Die weniger schmerzen, wenn sie heißer sieden,’ Mein Herz oder dein Augenpaar entschieden, In dem sich Himmelsfackeln hell entfachen.

La tuo beltà non è cosa mortale, ma fatta su dal ciel fra noi divina; ond’io perdendo ardendo mi conforto

Denn deine Schönheit ist kein sterblich Ding, Sie ward von oben göttlich uns geschaffen;: Drum tröst ich mich, vergehend, in den Flammen.

Ich weiß, dass ich, dir nah, mir selbst mißling. c’appreso a te non esser posso tale. Bestimmt jedoch der Himmel sich selbst die Waffen, Se l’arme il ciel del mie morir destina, chi può, s’i’ muoio, dir c’abbiate il torto? (78) Die mich vernichten, wer will dich verdammen?

Das doppelten Oxymoron, das durch die Alliterationen und die Konsonanz »doloroso riso« im ersten Vers noch potenziert wird, bis zur unsterblichen Schönheit, die vom Himmel kommt, und der rhetorischen Frage am Schluss spielt Michelangelo sämtliche Register stilnovistischer und petrarkistischer Liebes- und Lobeslyrik durch. Michelangelo hat Tommaso de’ Cavalieri und Vittoria Colonna nicht nur in seinen Texten besungen, er hat auch eine Reihe sogenannter presentation drawings für sie angefertigt. Wie in der Lyrik des dolce stil novo die donna gentile den Dichter zum Dichten inspirierte, so sind diese Zeichnungen Spiegelbilder einer bellezza divina, die dem Künstler seine kreative Kraft verleihen. Nicht von ungefähr werden diese Idealbildnisse von Vasari als teste divine bezeichnet. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das schöne Buch von Andreas Schumacher, Michelangelos teste divine. Idealbildnisse als exempla der Zeichenkunst.36 Mit Vittoria Colonna (1492–1547), aus dem römischen Adelsgeschlecht der Colonna, Herzogin von Pescara, die selbst einen Canzoniere von über 100 Sonetten und Canzonen verfasste, verband Michelangelo eine tiefe Freundschaft. 35  Frey ist auch dieser Meinung, zieht allerdings in Erwägung, dass das Gedicht auch von einer geliebten donna nach dem Tod Vittoria Colonnas inspiriert gewesen sein könnte. 36  [Tholos – Kunsthistorische Studien hg. von Georg Satzinger, Bd. 3], Münster 2007.



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Abb. 9: Studie einer Frau (Vittoria ­ olonna?) um 1540, British Museum, C London (Illetschko, Ich Michelangelo, 149).

In einem Madrigal aus den Vierzigerjahren wird die Skulptur, bzw. das künstlerisches Ich thematisiert, in dem sich die Härte einer donna aspra e dura spiegelt. An die Pietrosen Dantes gemahnend, wird das Thema der rauhen Herrin aufgegriffen, die aber letztlich, umgesetzt in Stein, als Schönheit neu ersteht und als solche in der memoria eingeprägt bleibt. S’egli è che ‘n dura pietra alcun somigli talor l’immagin d’ogni altri a se stesso, squallido e smorto spesso il fo, com’i’ son fatto da costei. E par ch’esempro pigli ognor da me, ch’i’ penso di far lei. Ben la pietra potrei per l’aspra suo durezza, in ch’io l’esempro, dir c’a lei s’assembra; del resto non saprei,        mentre mi strugge e sprezza, altro sculpir che le mie afflitte membra. Ma se l’arte rimembra agli anni la beltà per durare ella, farà me lieto, ond’io le’ farò bella.”  (242)

Wie wohl ein Künstler, eigene Züge wählend, Ein Bildnis meißelt, daß ihm selber gleich So mach ich’s bleich und elend, Wie sie mich schon seit langer Zeit gemacht. Zum Vorbild nahm ich mein Gesicht, wenn sie zu bilden ich gedacht. Und wenn ich’s recht betracht, Schlägt in der rauhen Härte Des Steins, in den ich schlag, sich ihre nieder; Und weil sie Tag und Nacht mich kränkte                und zerstörte, Meißel ich nichts als meine wunden Glieder. Doch läßt die Kunst sie wieder Für alle Zeit in Schönheit auferstehn, Macht sie mich froh, und ich sie ewig schön.

Im folgenden Sonett (1536 oder 1538–41 / 42) wird die Liebe mit dem Kunstwerk verglichen, das der Bildhauer aus dem Marmorblock herausschlägt, in dem er alles Überflüssige (soverchio) wegmeißelt. Doch wie seine Kunst nicht ausreiche, sein Ziel zu erreichen, fehle ihm auch in der Liebe diese Kunst, die brennende Verehrung kann nur den Tod ihm bringen.

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Non ha l’ottimo artista alcun concetto ch’un marmo solo in sé non circonscriva col suo superchio, e solo a quello arriva la man che ubbidisce all’intelletto.

Es kann der beste Künstler nichts erdenken, Was nicht der Marmor schon in sich enthielt, Und der allein erreicht, worauf er zielt, Dem Geist und Sinne seine Hände lenken.

Il mal ch’io fuggo, e ‘l ben ch’io mi prometto, in te, donna leggiadra, altera e diva, tal si nasconde; e perch’io più non viva, contraria ho l’arte al disïato effetto.

Erhoffte Freuden, Übel die mich kränken, Sind, hohe Herrin, so in dir verhüllt; Und weil mich nun kein Leben mehr erfüllt, Kann mir die Kunst, was ich ersehn’, nicht                  schenken.

Amor dunque no ha, né tua beltate o durezza, o fortuna, o gran disdegno, del mio mal colpa, o mio destino o sorte,

Amor hat nicht noch deine Schönheit schuld, Noch Härte, Mißgeschick an meinem Leid, Verachtung nicht noch meines Schicksals Geißel,

Wenn du in deinem Herzen Tod und Huld se dentro del tuo cor morte e pietate Zugleich verbirgst und ich, nicht recht gescheit, porti in un tempo, e che ‘l mio basso ingegno non sappia, ardendo, trarne altro che morte. (151) In Flammen mir daraus den Tod nur meißel.

Der nächste Text, der wahrscheinlich an die sterbenden Vittoria Colonna 1547 gerichtet ist, thematisiert das Sterben und die Entrückung der verehrten donna, von der der Dichter traditionsgemäß nur »il bel volto« in himmlischer Verklärung preisgibt. Die Schönheit definiert sich lediglich aus dem Engelsvergleich, der hier allerdings in umgekehrter Form geschieht. Come portato ho già piú tempo in seno l’immagin, donna, del tuo volto impressa, or che morte s’appressa, con previlegio Amor ne stampi l’alma, che del carcer terreno felice sie ‘l dipor suo grieve salma Per procella o per calma con tal segno sicura, sie come croce contro a’ suo avversari; e donde in ciel ti rubò la natura, ritorni, norma agli angeli alti e chiari, c’a rinnovar s’impari là sù pel mondo un spirto in carne involto, che dopo te gli resti il tuo bel volto.  (264)

Schon lang trag, Herrin, ich in mir dein Bild Das mir dein Antlitz in mein Herz gedrückt, Nun, da schon nahe rückt Der Tod, laß Lieb’es prägen, mir zum Heile, Daß selig und gestillt Die Seele aus dem irdischen Kerker eile. Sei’s stille oder heule Der Sturm, mit diesem Zeichen Bin, wie durch’s Kreuz, vor Feinden ich gefeit; Du kehr als Norm, der alle Engel gleichen; Woher du kamst, heim in die Ewigkeit, Daß hier in Raum und Zeit Aus ihrer Hand sich neu ein Geist verleibe Und dieser Welt dein schönes Antlitz bleibe.

Zum fixen Inventar panegyrischer Dichtung gehören die bereits erwähnten Epitaphien im Sinne von Grabinschriften oder Huldigungssprüchen für Verstorbene.37 Michelangelo hat in den Vierzigerjahren die berühmten Epitaphien auf Cecchino Bracci verfasst, den Neffen seines engen Vertrauten und Mitarbeiters Luigi del Riccio, der im Alter von erst 15 Jahren 1544 gestorben ist. Die Themen Tod und Vergänglichkeit ergeben sich naturgemäß aus dem aktuellen Anlass und sind in die Gedichtform eingeschrieben, wie das concetto in den unbehauenen Stein. Das Lob ist hier ein von bitterer Ko37  Vgl.

Fn. 31.



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mik gezeichnetes. Hugo Friedrich nennt diese Epitaphien »die ersten gehaltreichen Conceptismen italienischer Kurzdichtung, ein in Scherz gehüllter Ernst«.38 Statt eine Portraitbüste39 anzufertigen schreibt Michelangelo Grabgedichte für den schönen Jüngling, aus denen schließlich ein ganzer Zyklus von etwa 50 Texten entsteht. La beltà che qui giace al mondo vinse di tanto ogni più bella creatura, che morte, ch’era in odio alla natura, per farsi amica a lei, l’ancise e stinse. (183)

Die Schönheit, die hier ruht, ließ in der Welt Erbleichen jede schöne Kreatur, So dass der Tod, dem feind ist die Natur, Um sich ihr freund zu machen, sie gefällt.

Se morte ha di virtù qui ‘l primo fiore del mondo e di beltà, non bene aperto, anzi tempo sepulto, i’ son ben certo che più non si dorrà chi vecchio muore.  (205)

Ward hier zu früh begraben und verdorben Der Tugend Blüte und der Schönheit Preis; Die kaum erblüht, wird, wie ich sicher weiß, Kein Mensch mehr klagen, wenn er alt gestorben.

Eine gesonderte Gruppe von Gedichten bezieht sich auf das Lob der Kunst und der Schriftstellerei. Kunstwerke tragen zur höfischen Prachtentfaltung bei. Ihre Verherrlichung in der panegyrischen Dichtung dient ebenso der memoria, d. h. dem Überdauern der irdischen Existenz, wie sie selbst. Beide haben die Funktion, der Vergänglichkeit entgegenzuwirken. Michel­ angelo greift diesen Gedanken in einem Sonett an Vasari auf, das er ihm als Dank für die Übersendung der Vite degli artisti zurückschickt. Abgesehen von der feinen Ironie, die das Lobgedicht auf den jungen Zeitgenossen enthält, der die Schönheit der Natur zwar nicht mit Zeichenstift und Pinsel [so wie er selbst], dafür aber mit Worten noch zu übertreffen verstehe, ist hier wiederum das Motiv der Erinnerung zu finden, die allein Tod und Vergänglichkeit besiegen kann. »Stile« und »colori« stehen metonymisch für die Architektur und die Malerei.40 Wenn er durch die Verherrlichung der Künstler den eigenen Ruhm besiegelt, wie Michelangelo in der Schlussterzine feststellt, dann lässt er auch seinen Laudator an diesem Ruhm partizipieren, indem er das Sonett in seine Vite aufnimmt, sodass beide Künstler gleichermaßen vom wechselseitigen Lob profitieren 38  Hugo Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt am Main, Klostermann 1964, 368. 39  Interessant ist, dass Michelangelo kaum Portraits, weder von seinen Mäzenen noch von seinen engen Freunden, anfertigte. Er porträtierte Tommaso de’ Cavalieri auf einem Karton, was vorher und danach nie wieder geschah, weil er es verabscheute, etwas dem Lebendigen ähnlich zu gestalten, wenn es nicht von unendlicher Schönheit war, vgl. Spanke, Porträt – Ikone – Kunst: methodologische Studien zur Geschichte des Portraits in der Kunstliteratur, Paderborn 2004, 91. Vgl. auch Schumacher, Michelangelo teste divine (FN 36). 40  Vasari stellt sich übrigens in seinem Selbstportrait nicht mit Zeichenstift und Pinsel, sondern mit der Schreibfeder in der Hand dar.

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Se con lo stile, e coi calori avete alla natura pareggiato l’arte, anzi a quella scemato il pregio in parte, ch’l bel di lei più bello a noi rendete.

Habt mit den Farben und mit Eurem Stift Ihr in der Kunst schon die Natur erreicht, Ja fast so seht, dass diese jener weicht, Weil Eure Schönheit ihre übertrifft;

Poi che con dotta man posto vi sete a più degno lavoro, a vergar carte, quel che vi manca, a lei di pregio in parte, nel dar vita ad altrui, tutto togliete.

Füllt ihr Papier nun mit gelehrter Schrift Zu höherem Werk, dass ihr der Ruhm erbleicht Leben zu schenken, Ruhm, den Ihr vielleicht Bisher entbehrtet, doch nun ganz ergrifft.

Che se secolo alcuno omai contese in far bell’opre, almen cedale, poi che convien c’al prescritto fine arrive.

Denn ein Jahrhundert, das sich unterwindet, Wer Schöneres schaffe, mit Natur zu streiten, Muß doch sich am gesetzten Ziel ergeben.

Or le memorie altrui, già spente, accese tornando fate, or che fien quelle e voi, malgrado d’esse, etternalmente vive.  (277)

Ihr aber macht, dass wieder sich entzündet Erinnerung, die erlosch, um zu bereiten Ihr und Euch selbst, trotz allem, ewiges Leben.

Seinem großen Vorbild Dante hat Michelangelo mehrere Sonette gewidmet. Schließlich ist er ihm nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Kunst zu Dank verpflichtet. Die Darstellung des Jüngsten Gerichts in der Sixtinischen Kapelle würde sich hervorragend als Illustration der Divina Commedia eignen. Wie sehr Michelangelo mit Dante vertraut war, wird auch von Vasari rühmend hervorgehoben. »Die Todten schienen todt, die Lebenden lebendig«41 zitiert er aus der Divina Commedia (Purg. 12,67); diese lebens- bzw. todesnahe Darstellung zeige sich besonders im Ausschnitt mit dem Fährmann Charon (Inf. III, 109 ff).42 Dass Michelangelo Dante im Jüngsten Gericht verewigt hat, scheint auch Vasari übersehen zu haben (Vgl. Abb. 9–12). Das Lob Dantes verbindet sich in einem der Sonette mit bitterer Klage an die Stadt Florenz, die seinem bedeutendsten Sohn die Tore für immer verschlossen hatte. Quante dirne si de’ non si può dire, ché troppo agli orbi il suo splendor s’accese; biasmar si può più ‘l popol che l’offese, c’al suo men pregio ogni maggior salire.

Das, was man sagen muß, kann keiner sagen, Weil allzuhell sein Licht die Welt beschenkte; Leicht ist’s, das Volk zu tadeln, das ihn kränkte, Doch schwer, sich an sein kleinstes Lob zu wagen.

Questo discese a’ merti del fallire per l’util nostro e poi a Dio ascese, e le porte, che ‘l ciel non gli contese, la patria chiuse al suo giusto desire.

Er fuhr, zum Heil uns, tief ins Tal der Plagen, Bevor er seinen Schritt nach oben lenkte; Das Tor, das ihm der Himmel nicht verschränkte, Die Heimat hat es vor ihm zugeschlagen.

Ingrata, dico, e della sua fortuna a suo danno nutrice, ond’è ben segno, ch’a più perfetti abonda di più guai.

Die, Undankbare, du mit deinen Sünden Dein dunkles Schicksal nährst, dies ist dein Zeichen; Die Allerbesten marterst du zumeist.

Fra mille altre ragion sol ha quest’una: se par non ebbe il suo exilio indegno, simil uom né maggior non nacque mai. (250)

Nur einen nenn’ ich dir aus tausend Gründen: Hat solch ein schnöder Bann nicht seinesgleichen, So kam zur Welt auch nie ein größerer Geist.

Vite, 348. Vasari, Leben der ausgezeichnetsten Maler, 350.

41  Vasari, 42  Vgl.



Lob und Tod in Michelangelos Dichtung

Abb. 10: Dante, Das Jüngste Gericht, Vatikan, Sixtinische Kapelle (Giovanni Fallani. Dante autobiografico. Napoli 1975, 49).

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Abb. 11: Corrado Gizzi, Michelangelo e Dante, Milano 1995, 229 erkennt ein anderes Dante-Bildnis in der Sixtinischen Kapelle, vom Eingang gesehen auf der linken Seite, in der zweiten Lünette, die Zorobabel, Abiud und Eliachim gewidmet ist.

Abb. 12: Das Jüngste Gericht, Vatikan, Sixtinische Kapelle (Fotografie Harald Schreiber).

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Sylvia Schreiber

Das Rühmen Dantes, das bereits in den ersten beiden Versen mit einer Palette enkomiastischer Topoi zum Ausdruck gebracht wird, dem Unsagbarkeitstopos, dem Bescheidenheitstopos, der paradoxen Hyperbel – verbindet sich hier mit Michelangelos Schicksal, denn auch er ist letztlich ein fuoruscito seiner Heimatstadt. Das zweite Quartett verweist auf die Divina Commedia, in der sich Dante selbst das Tor zum Paradiso öffnet, während ihm Florenz verschlossen bleibt. In einem weiteren Sonett verherrlicht er den Dichter als »lucente stella«, und wünscht sich in Gestalt des lyrischen Ichs, an seiner Stelle zu sein: »Fuss’io pur lui!« Der Wunsch nach dem Unerreichbaren ist hier nicht auf ein Liebesobjekt, sondern auf das große Vorbild fokussiert, das »dal ciel discese e col mortal suo« aus demselben »Nest« hervorging wie er selbst und ob seiner Leistungen unbedankt blieb. Zum Unterschied von Dante kann Michelangelo aber zumindest posthum in seine Heimatstadt zurückkehren. Dal ciel discese e col mortal suo, poi che visto ebbe l’inferno giusto e ‘l pio, ritornò vivo a contemplare Dio per dar di tutto il vero lume a noi.

Vom Himmel stieg er, leibhaft, und dann kehrte Aus Höllentiefen und von Läuterungshöhen Er heim, vor Gottes Angesicht zu stehen, Auf daß er uns der Wahrheit Licht bescherte.

Lucente stella, che co’raggi suoi fe’ chiaro a torto ‘l nido, ove nacqu’io, né sare’ ‘l premio tutto ‘l mondo rio; tu sol, che la creasti, esser quel puoi.

O heller Stern, des Strahl zu unrecht ehrte Das Loch, wo ich den ersten Tag gesehen; Und böt’ sich ihm die böse Welt zu Lehen, Nur Du Herr, weißt, was wert ist seinem Werte.

Di Dante dico, che mal conosciute fur l’opre suo da quel popolo ingrato, che solo a’ iusti manca di salute.

Von Dante sprech ich – er ward schlecht erkannt Von jenem undankbaren Volk von Toren, In dem sein Heil nie ein Gerechter fand.

Fuss’io pur lui! Ch’a tal fortuna nato, per l’aspro esilio suo co’ la virtute dare’ del mondo il più felice stato.  (248)

Wär ich nur er! – zu solchem Los geboren, Für solche Tugend ins Exil verbannt, Gäb ich wie gern das Glück der Welt verloren.

Zweifellos nimmt Michelangelo im Rahmen der Panegyrik eine Sonderstellung ein. Als Künstler fertigte er Panegyriken aus Marmor und aus Farbe, die häufig mit dem Todesthema zusammenhingen. In seinen Versen verband er Leben und Tod, Schönheit und Vergänglichkeit, Jugend und Alter, sodass das Preisen immer ein gedämpftes, das Loben immer ein klagendes blieb. In seiner doppelten Position als Hofkünstler und autonomer Genius versuchte sich Michelangelo die Souveränität des Künstlers zu erhalten. Verbale Schmeichelei und Fürstenlob sind nicht sein Geschäft. Seine Gedichte propagieren nicht das öffentliche Ereignis, sie dienen auch nicht der Glorifizierung der wechselnden Mäzene – diese Funktion hat seine Kunst zu erfüllen –, sondern sind eine Variante seines universellen künstlerischen Schaffens.

Subversive Panegyrik Von Christoph Ehland I. Einleitung Dieser Beitrag widmet sich einer eigenständigen Gattung der englischen Panegyrik im 17. Jahrhundert, die lange von der Forschung vernachlässigt oder lediglich gestreift wurde. Konkret geht es um die Lobreden, die während der jährlich stattfindenden Festlichkeiten zur Einsetzung des sogenannten Lord Mayor der City of London gehalten wurden. Im Rahmen der äußerst aufwendigen und kostspieligen Festumzüge stellten diese Reden einen festen Bestandteil des alljährlichen Rituals dar, für das eminente Autoren der Zeit wie Anthony Munday, Thomas Dekker, Thomas Middleton, Thomas Heywood oder Thomas Jordan von den städtischen Gilden verpflichtet wurden. Die Verbindung zwischen Kunst und Kommerz in der Lord Mayor’s Show, d. h. den durchaus auch handfesten Macht- und Wirtschaftsinteressen der Kaufleute im Rahmen der festlichen Inszenierungen, ist oftmals in der Wissenschaft als anrüchig empfunden worden und hat mit Hinweis auf die daraus resultierende ästhetische Zweitklassigkeit des vorliegenden Materials beinahe zur gänzlichen Meidung dieser Texte geführt. In der Vergangenheit hat es lediglich zaghafte Versuche gegeben, die Reden der Vergessenheit zu entreißen. Joanne Altieris Studie The Theatre of Praise1 von 1986 enthält eine noch relativ lose Einordnung des Textmaterials im weiteren Kontext panegyrischer Dichtung im 17. Jahrhundert. Erst in den letzten Jahren erfährt die Textgruppe eine größere Aufmerksamkeit. 2011 legte Tracey Hill mit Pageants of Power2 die erste umfangreiche Studie zur Geschichte der Lord Mayor’s Show vor, die sich auch dem vorhandenen Textmaterial zuwendet. Heute muss man nicht unbedingt mit den Überzeugungen des New Historicism sympathisieren, um zu erkennen, dass uns gerade wegen der engen Verknüpfung ökonomischer mit künstlerischen Interessenslagen in den Texten der Lord Mayor’s Show der Zeithorizont des 17. Jahrhundert in 1  Cf. Joanne Altieri, The Theatre of Praise: The Panegyric Tradition in Seventeenth-Century English Drama, Newark 1986. 2  Tracey Hill, Pageants of Power: a cultural history of the early modern Lord Mayor’s Show 1585–1639, Manchester 2011.

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eindrücklicher Virulenz gegenübertritt. Die bemerkenswert große Zahl der Texte, die sich bis heute noch im Original erhalten hat, gibt dabei zwar nur einen indirekten Einblick in die visuelle Prachtentfaltung der Veranstaltungen, sie enthalten jedoch die zentralen Reden, die im Rahmen der Festumzüge gehalten wurden, sowie die panegyrische Widmungen an den amtierenden Lord Mayor und seine Livery Company, die der jeweilig beauftragte Autor der Druckversion hinzugefügt hat. 1. Stadtbürgerlicher Ehrgeiz im London der frühen Neuzeit – eine Einleitung Um sich der besonderen Problematik einer stadtbürgerlichen Panegyrik bewusst zu werden, ist es sinnvoll, sie im Kontext der besonderen Situation Londons als Macht- und Wirtschaftzentrum im 17. Jahrhundert zu betrachten. Keine andere Stadt Englands durchläuft eine rasantere Entwicklung und keine andere wird so zentral mit den Schicksalsfragen der Nation zwischen Bürgerkrieg, Republik und Restauration verbunden sein. Das schnelle Wachstum der Metropole an der Themse, die nachhaltig von der Blockade südniederländischer Häfen wie Antwerpen profitiert, berührt nicht zuletzt das hegemoniale Gleichgewicht in der Stadt. Insbesondere die aufstrebende Schicht der Händler und Kaufleute beginnt sich zusehends zu emanzipieren. Im Jahr 1607 legt der Dramatiker Francis Beaumont mit seiner Komödie The Knight of the Burning Pestle (dt.: Der Ritter von der flammenden Mörserkeule) einen kuriosen Text vor, der nicht nur das Theater als Massen­ medium seiner Zeit satirisch durchleuchtet, sondern auch eine Blick auf das sich verändernde soziale Gefüge Londons zulässt. Sein Stück öffnet mit einer im besten Wortsinn merkwürdigen Szene: In dem Moment, in dem der Prologsprecher auf die Bühne tritt, und mit einer Lobrede auf die Stadt das Stück einleiten möchte, wird er jäh unterbrochen: Enter Prologue. [Gentlemen seated on stage, CITIZEN,   WIFE and RAFE in the audience below.] Prologue. From all that’s near the court, from all that’s great Within the compass of the city walls, We now have brought our scene. Enter CITIZEN, [climbing to the stage.] Citizen. Hold your peace, goodman boy. Prologue. What do you mean, sir? Citizen. That you have no good meaning. This seven years there hath been plays at this house; I have observed it, you have still girds at citizens, and now you call your play The London Merchant. Down with your title, boy; down with your title! Prologue. Are you a member of the noble city?



Subversive Panegyrik Citizen. Prologue. Citizen. Prologue. Citizen. Prologue. Citizen.

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I am. And a freeman? Yea, and a grocer. So, grocer, then, by your sweet favour, we intend no abuse to the city. No, sir? yes, sir! […] You seem to be an understanding man: what would you have us do, sir? Why, present something notably in honour of the commons of the city.3

Die Störung der Fiktion, die sich hier anbahnt, hat Brecht’sche Qualität: Indem der Prolog sozusagen ins Stück kollabiert, macht Beaumont die Gestalt des impertinenten Krämers zum Mittler eines metatheatralischen Elements, die einerseits die Grenzen der Fiktion austestet, andererseits aber auch das Geltungsbedürfnis der aufsteigenden Klasse der Händler in der Londoner City satirisch ausleuchtet: Weil ihm die Darstellung seiner Zunft und Klasse im komödiantischen Theater seiner Zeit missfällt, verlangt der Krämer von den überraschten Schauspielern, ein heroisches, gar am Ende völlig unpassender Weise ein tragisches Stück aufzuführen. Der Streit, der sich hier entspinnt, wird das Stück prägen. Die verzweifelten Schauspieler müssen mit ansehen, wie der anmaßende Krämer zur wortstarken Unterstützung gleich noch seine Frau auf die Bühne hievt, um mit ihr gemeinsam in die Regie des Geschehens einzugreifen. Als ihr Trojanisches Pferd installieren sie ihren Gesellen Ralph als Schauspieler auf der Bühne, der fortan als ihr Korrektiv immer dann im Stück der Schauspieler interviert, wenn ihnen der Plot zu langweilig oder zu unmoralisch erscheint. Das Ergebnis ist eine Farce mit Anspielungen auf Cervantes Don Quichotte, in der Ralph als Ritter von der Flammenden Mörserkeule durch das Stück der Schauspieler stapft und auf die Anweisungen seiner Herrschaft den tragischen Helden mimt. Gegen Ende werden sie aber auch dieser improvisierten Abenteuer satt und es verlangt ihnen nach einem anderen Mittel, um die Ehre der Stadtbürgerschaft gewürdigt zu wissen: Citizen. Boy. Citizen.

Let Rafe come out on May Day in the morning and speak upon a conduit, with all his scarfs about him, and his feathers and his rings and his knacks. Why, sir, you do not think of our plot; what will become of that, then? Why, sir, I care not what come of’t. I’ll have him come out, or I’ll fetch him out myself. I’ll have something done in honour of the City. Besides, he hath been long enough upon adventures.4

3  Francis Beaumont, The Knight of the Burning Pestle, hg. Sheldon P Zitner, Manchester 2004, Prologue, Zeilen 1–26. 4  Francis Beaumont, The Knight …, Interlude IV, Zeilen 9–17.

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Wieder wird das Stück der Schauspieler gestört. Ralph soll nun in einem Fantasieornat der Zünfte (»with all his scarfs about him«) eine Rede schwingen. Das Ganze ist absurd. Keine Frage. Aber dem Krämer ist es eben nicht lediglich darum zu tun, dass seine Zunft nicht durch das eigentliche Stück der Schauspieler beleidigt wird, er will sich und seinesgleichen auch »geehrt« (»I’ll have something done in honour of the City«) sehen. Auch wenn sich die Debatte, die sich zwischen den Störenfrieden und den Schauspielern entspinnt, vordergründig um den Gegenstand des Theaterstücks dreht, so sind doch bei genauer Betrachtungen die Einwände des Krämers getrieben von geradezu panegyrischem Ehrgeiz. Die Ironie des Stücks liegt darin, dass, indem vorgeführt wird, wie der Krämer versucht, die Fiktion im Sinne seiner Zunftehre zu korrigieren, er als deren Vertreter auf der Bühne durch seine tölpelhaften Anmaßungen selbst der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Dieser Ausschnitt soll diesem Beitrag als Einleitung dienen, da sich in der satirischen Brechung des stadtbürgerlichen Ehrgeizes dessen besondere Verwobenheit mit den panegyrischen Traditionen seiner Zeit zeigt. Beaumont und Fletcher karikieren hier ein Geltungsbedürfnis, das in der dramatischen Fiktion ebenso unkultiviert wie deplatziert wirkt. Gleichzeitig setzt die Satire aber gerade das Vorhandensein eines gesteigerten stadtbürger­ lichen Selbstbewusstseins voraus. Tatsächlich ist über den Verlauf des 17. Jahrhundert zu beobachten, wie inmitten der politischen Brüche und Wirren der Zeit um den englischen Bürgerkrieg (1642–49) das stadtbürgerliche Selbstverständnis eine rasante Emanzipation durchläuft. Im jährlichen Rhythmus der Stadt stellt die Lord Mayor’s Show in diesem Zusammenhang ein wichtiges öffentliches Medium dar, in dem der Ehrgeiz aber auch der hegemoniale Anspruch der Stadtbürgerschaft vermittelt und ausgehandelt werden kann. Zwar wird im Stück von Beaumont und Fletcher die Lord Mayor’s Show nicht explizit genannt, mit den Mai-Feierlichkeiten (»May Day«) wird vom Krämer jedoch eine andere Londoner Tradition erwähnt, in der Lobreden auf die Stadt und ihre Amtsträger eine wesentliche Rolle spielen. Wenn Wissenschaftler zuweilen behaupten, die Stadtbürgerschaft »äffe«5 in ihrer Panegyrik lediglich das monarchische Paradigma nach, drängt sich bei Betrachtung der Situation im vorliegenden Bühnenstück die Frage auf, wie sich die Funktionskontexte und rhetorischen Strategien im Zuge der Aneignung und Entwicklung panegyrischer Rituale im stadtbürgerlichen Milieu neu kalibrieren müssen. Aus dieser Überlegung ergeben sich eine Reihe von Leitfragen für die folgende Beschäftigung mit dem Textkorpus der Lord 5  Cf. Joanne Altieri, The Theatre of Praise: The Panegyric Tradition in Seventeenth-Century English Drama, Newark 1986, 16.



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Mayor’s Shows als Teil einer eigenständigen panegyrischen Tradition: Wie und was wird im Rahmen des jährlichen Ereignisses zum Gegenstand des Lobes? Welchen Veränderungen unterliegt das zumeist in monarchischem Kontext verwandte panegyrische Medium, wenn es im stadtbürgerlichen Milieu übernommen wird? Welche politische Aufgeladenheit erfährt das Medium und Ritual durch die Übernahme in seinem neuen Kontext? Um diesen Punkten in der Folge nachgehen zu können, ist es hilfreich, sich zunächst mit der Begrifflichkeit selbst zu befassen und sich der festlichen Einsetzung des Lord Mayors in seinen spezifischen Bezugnahmen und Funktionskontexten anzunähern. 2. Begrifflichkeiten Das begriffliche Herangehen an die Panegyrik in diesem Beitrag ist im Zusammenhang mit der stadtbürgerlichen Adaptation der Gattung notwendigerweise relativ offen. In Hinblick auf die genauen Abgrenzungen innerhalb der epideiktischen Rede – zu nennen ist hier vor allem die Frage der Unterscheidung zwischen Enkomium und dem panegyrischen Schreiben – ist die Gattungsdefinition gelegentlich sogar eher fließend. Die hier befürwortete Offenheit ist zumindest teilweise dem Wesen der zu untersuchenden Texte geschuldet, die in ihrem stadtbürgerlichen Kontext oft changierend versuchen, verschiedenen Ansprüchen der Akteure und Interessengruppen gerecht zu werden. Andererseits zeigen sich in den Texten selbst rhetorische Verortungen, die unweigerlich die Gattungsgrenzen ausdehnen. Streng genommen – und rein gattungstheoretisch betrachtet – sind die Reden der Lord Mayor’s Show immer auf der Grenze zwischen panegyrischer Schmeichelei und wohlmeinender Ermahnung angesiedelt.6 Ein didaktischer Unterton ist oft nur schwerlich zu überhören und das Loben in den meisten Fällen unausgesprochenen Regularien der Ermahnung unterworfen. In dieser Mischung aus Lob und Belehrung spiegeln sich für das 17. Jahrhundert typische Unterscheidungsmerkmale der englischen Epideixis. James Garrison hat im Rahmen seiner Untersuchung von John Drydens panegyrischer Dichtung die zeitgenössischen Begriffsbestimmungen des 17. Jahrhunderts verglichen. Aus seiner Zusammenstellung der Definitionen in den gängigen Wörterbüchern der Zeit wird schnell deutlich, dass die Lexikographen deutliche Unterschiede zwischen dem Enkomium und der Panegyrik machen. Letztere setzt im Vergleich mit dem Enkomium nicht nur den öffentlichen Rahmen der Lobrede zwingend voraus, sondern wird von den Zeitgenossen 6  Dabei geht die Ermahnung deutlich über das in der klassischen Rhetorik übliche Maß hinaus, da politische Rücksichtnahmen eine deutlich wichtigere Rolle spielten (cf. Tracey Hill, Pageants of Power: a cultural history of the early modern Lord Mayor’s Show 1585–1639, Manchester 2011, 272 f.).

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mit sehr unterschiedlichem Beigeschmack wahrgenommen. So definiert John Bullokar in seinem Buch An English Expositor (London, 1616) den Gattungsunterschied wie folgt: Panegyricall. That which is spoken flatteringly in praise of some great person: Also it signifieth, stately, honorable, magnificent, or a speech made of many great matters together. Encomium. A praise.7

Im Jahr 1656 tritt in Thomas Blounts Glossographia (London, 1656) die vorher schon merkliche Differenz noch eindrücklicher hervor: Panegyrick. A licentious kind of speaking or oration, in the praise and commendation of Kings, or other great persons, wherein some falsities are joyned with many flatteries. Encomium. A praise or song in commendation of any person.8

Unschwer ist zu überhören, wie negativ der Lexikograph die Panegyrik wahrnimmt. Aus dem schmeichelnden Reden bei Bullokar (»flattering«) ist bei ihm nun ein Sprechakt geworden, der nicht nur lasterhaft (»licentious«) ist, sondern die Schmeichelei sogar mit Unwahrheiten spickt (»falsities«). Es ist der rhetorische Zungenschlag der späten Republik unter Oliver Cromwell, in der der anti-monarchische Gestus zum guten Ton gehört.9 Wieder 20 Jahre weiter und nach der Restauration der Monarchie akzentuiert sich der Gattungskontrast bei Elisha Coles in seinem An English Dictionary (London, 1676) sich wieder etwas abschwächt: Panegyrick. a general assembly or Solemnity, also an Oration in praise of Great Personages. Encomium. a speech in the Praise or Commendation of any.10

Auch wenn Blounts offensives Misstrauen gegenüber der Panegyrik nicht unbedingt die Regel ist und bis zu einem gewissen Maße den politischen Umschwüngen der Zeit geschuldet sein dürfte, ist doch bei allen Definitionen spürbar, dass im Gegensatz zum Enkomium, dessen Denotation laut Garrison klarumrissen und dessen Konnotation als Lobrede stets neutral bleibt11, die Panegyrik eine Textform darstellt, die in seinem Funktionsrahmen als politisch aufgeladen angesehen wird. Spiegelt man diese Überlegung nun zurück in den Funktionskontext, in dem die hier zur Diskussion stehenden Reden eingebettet sind, ist fraglos 7  James 8  Ibid.

D. Garrison, Dryden and the Tradition of Panegyric, Los Angeles 1975, 5.

James D. Garrison, Dryden …, 6. D. Garrison, Dryden …, 5. 11  Garrison schreibt: »[T]he definitions of ›encomium‹ are consistent in denota­ tion and neutral in connotation« (ibid., 4). 9  Siehe

10  James



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richtig, dass Lob immer auch ein komplexes politisches Instrument darstellt, das bei den Lord Mayor’s Shows zwischen dem Ehrgeiz der Stadtbürger der Stadt London und dem Herrschaftsanspruch der Krone in unmittelbarer Nachbarschaft vermitteln muss. Ob und wie diese Vermittlung jeweils gelingt, ist vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des 17. Jahrhunderts in England besonders interessant zu diskutieren. In diesem Zusammenhang ist durchaus auch nach dem republikanischen Gedankengut zu fragen, das hier womöglich durchscheint. Denn man sollte nicht vergessen, dass England das Jahrhundert mit Sorge um die Nachfolge seiner greisen Königin Eliza­ beth I. betritt, die Eruptionen des Bürgerkriegs und des puritanischen Regimes Oliver Cromwells durchlebt und nach der vorübergehenden Restaura­ tion der Stuart-Dynastie am Ende des Jahrhunderts mit der Bill of Rights als eine konstitutionelle Monarchie nicht wenige proto-republikanische Ideen in seinem Staatsgebilde verwirklichen wird.12 II. Die Lord Mayor’s Show Um das jährliche Ritual der Lord Mayor’s Show und ihrer panegyrischen Reden besser einordnen zu können, soll an dieser Stelle kurz die Geschichte des Amts und der Zeremonie Erwähnung finden. Der sogenannte Lord Mayor fungiert bis heute als der Bürgermeister der City of London. Dabei ist es wichtig, dass die Stadt London sich aus mindestens zwei unterschiedlichen Körperschaften zusammensetzt: die City of Westminster als Sitz des Regenten und seiner Regierung und die City of London als eigenständige Körperschaft unter Regierung des von den Gildemitgliedern gewählten Lord Mayors. Historisch geht die Funktion des Lord Mayor als oberster Repräsentant der Stadtbürgerschaft bis ins Mittelalter zurück, als der Stadt durch die Krone eine rechtliche Sonderstellung eingeräumt wurde. Das Amt des Lord Mayors ist damit seit seiner Schaffung Ausdruck der Privilegien der Stadt.13 12  Douglas Bush stellt in Hinblick auf die geistesgeschichtliche Entwicklung England über die ersten 60 Jahre des 17. Jahrhundert fest: »While all ages are ages of transition, there are some in which disruptive and creative forces reach maturity and combine to speed up the normal process of change. In the history of England […], the seventeenth century is probably the most conspicuous modern example […] of such acceleration. In 1600 the educated Englishman’s mind and world were more than half medieval; in 1660 they were more than half modern.«, Douglas Bush, The Oxford History of English Literature: Early Seventeenth Century 1600–1660, Oxford 1990, 1. 13  Der Eintrag zum Lord Mayor in The London Encyclopedia zeigt, wie eng das Amt mit den hegemonialen Abwägungen der Krone schon seit seiner Schaffung verbunden ist: »In 1215, five weeks before he was forced to sign Magna Carta, King John, hoping for the support of the City, granted a new charter which allowed an-

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Schon 1215 wird es in der Magna Carta auch verfassungsrechtlich institutionalisiert, bedarf aber strenggenommen der ständigen Bestätigung durch den jeweiligen Souverän. Die Sonderstellung der Stadt London wird u. a. dadurch deutlich, dass William Hardel in seiner Funktion als Lord Mayor der einzige »bürgerliche« Vertreter ist, der die Magna Carta als Keimzelle der englischen Verfassung unterzeichnen darf. Seit dem 13. Jahrhundert wird der Lord Mayor dann nicht mehr von der Krone ernannt, sondern von den Mitgliedern der städtischen Gilden – der sogenannten Livery Companies – auf ein Jahr gewählt. Das Privileg stellt eine quasi-Autonomie Londons her, die durch alle Wirren der Jahrhunderte nicht nur vehement verteidigt, sondern beständig ausgebaut wurde. Bis heute ist die City ein unabhängiger Teil Londons. So es ist seit der Zeit von Elisabeth I. Tradition, dass der Regent symbolisch an das Stadttor klopft, bevor er / sie die Stadt betreten darf. Für die Diskussion in diesem Beitrag sind die Einsetzungszeremonien von Bedeutung, die die jährliche Wahl eines neuen Lord Mayor seit 1535 traditionell begleiten. Die Prozession – zu Wasser und zu Lande – führt den neugewählten Lord Mayor von der Guildhall, dem Sitz der Londoner Stadtregierung, an das Themseufer, von wo er sich in einer Bootsparade flussaufwärts nach Westminster begibt. In Westminster angekommen, legt der Lord Mayor vor den Vertretern der Krone seinen Amtseid auf den König ab, bevor er wieder flussabwärts in die City zurückkehrt. Dort beginnt bei Ankunft der eigentliche Festumzug. Eine von Feuerwerk und Musik begleitete Prozession durch die Stadt, die an symbolischen Punkten der Stadttopographie – wie z. B. dem Landepunkt des Lord Mayor in der City, vor der St. Paul’s Cathedral oder vor der Guildhall – angehalten wird, um dort der Aufführung kleiner allegorischer Szenen beizuwohnen. Während dieser dramatisierten Sequenzen tritt üblicherweise jeweils eine Figur in wechselndem allegorischen Gewand aus der Szene heraus und hält eine Lobrede. Obwohl die Lord Mayor’s Show zunächst eine Feierlichkeit ist, die vor allem im rituellen Jahresrhythmus der Stadtgesellschaft verankert ist, weist sie in ihrer Grundanlage doch gleichzeitig deutlich über diesen engeren Funk­ tionskontext hinaus. Die Gesamtsymbolik der Lord Mayor’s Show ist für die Positionierung und das Selbstverständnis der Stadt bedeutsam: Einerseits hebt sie die City in ihrer Bedeutung als Wirkungskreis des neuen Lord Mayor hervor, andererseits koordiniert sie in ihren stadttopographischen wie inhaltlichen Bezügen das Verhältnis zwischen der City als Sitz der Stadtbürgerschaft und nual elections to be held on condition the Lord Mayor presented himself to the King or his justices for approval and to ›swear fealty‹.«, Ben Weinreb et al., The London Encyclopedia, London 2008, 513.



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Westminster als Sitz des Königs und seiner Regierung. Die Verknüpfung der verschiedenen Elemente der Festlichkeiten – von den Paraden zu Wasser und zu Lande bis zur szenisch-dramatischen Ausgestaltung der Einzeletappen – versinnbildlicht in seinen ritualisierten Abläufen das hegemoniale Verhältnis zwischen Stadt und Krone. So wird der eigentliche Demutsakt der Eidzeremonie vor den Vertretern der Krone in Westminster eingebettet in demonstrativ prächtige Schiffsparaden auf dem Fluss. Wahrscheinlich dürfte wirtschaftliche Lobbyarbeit der Themseschiffer ein Grund gewesen sein, Teile der Veranstaltung auf das Wasser zu verlagern. Die Entscheidung bedingt aber auch eine symbolische Akzentuierung, da sie die institutionelle Trennung zwischen der City und Westminster durch die Bootsparade besonders deutlich vor Augen führt und gleichzeitig in ihren ikonographischen Bezügen mit Gondeln und Barkassen vermag, auf die Dogeneinsetzung in der Republik Venedig zu verweisen. Versieht dieses Element die Veranstaltung implizit mit republikanischen Untertönen – die Republik ­Venedig und ihre Verfassung bildet in der Tat in der Bildlichkeit wie der Rhetorik der Lord Mayor’s Show eine feste Referenzfolie – ist kaum zu übersehen, wie die aufwendige Ausgestaltung der Ereignisse zu Lande selbstbewusst auf die triumphalen königlichen Einzugsfestivitäten der Renaissance bezugnehmen. Dieser Zusammenhang wird von den Veranstaltern auch selbst gesehen und zuweilen hergestellt: Als im Jahr 1625 Charles I. die anlässlich seines Amtsantritts vorbereiteten Festlichkeiten – aus Desinteresse oder Kalkül – schlicht wieder absagt und die umfänglichen Festbauten, die bereits errichtet worden waren, wieder einreißen lässt, sehen die Livery Companies ihre Festlichkeiten anlässlich der Einsetzung des Lord Mayor als probaten Ersatz für die der Stadtbevölkerung entgangenen Vergnügungen. III. Panegyrische Gegenstände Schaut man sich die Bezugsysteme im traditionellen panegyrischen Herrscherlob an, wird im Rahmen ihrer Adaptation in den Reden der Lord Mayor’s Show schnell deutlich, dass es sich hier zwar auch um das Lob von hervorgehobene Personen handelt, diese aber als nur vorübergehend gewählte Amtsträger wahrgenommen werden und damit als festeingebunden in die körperschaftliche Organisation der Gilden und der Stadtregierung. Das Wahlamt bedingt, dass die Rhetorik des Lobens im Rahmen der Lord Mayor’s Show die Aufmerksamkeit immer auf die übergeordneten Kontexte lenkt. Das Lob dient damit ganz zentral der identitären Selbstvergewisserung der Stadtbürgerschaft und ihrer Mächtigen. Zum Gegenstand der panegyrischen Reden werden in wechselnder Ordnung und Hervorhebung dabei die Person des neugewählten Lord Mayors sowie seine Stellung und Bedeu-

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tung in der Stadthierarchie. Daneben tritt außerdem das Lob der jeweiligen Livery Company, der der Lord Mayor angehört, sowie die Ehrerbietung gegenüber der City of London. Zuletzt mischen sich nicht selten patriotische Töne in diesen panegyrischen Reigen und positionieren auf diese Weise die Stadt London und ihre Bürgerschaft prominent im Zentrum der britischen Nation. Die unterschiedlichen Bezüge sind eng miteinander verwoben und bilden rhetorisch ein selbstverstärkendes System: So impliziert die rühmende Betonung der außergewöhnlichen Eigenschaften des neuen Amtsinhabers die besondere Bedeutung der Funktion des Lord Mayors, wobei dieses Lob wiederum die Qualitäten der Person hervorhebt. Auch ist der Ruhm der Stadt für die Panegyriker immer gleichbedeutend mit dem des gewählten Amtsinhabers und seiner Livery Company und umgekehrt. Die Argumentation setzt dabei stillschweigend voraus, dass die Stadt körperschaftlich durch die Gilden und ihre Vertreter gebildet und regiert wird und somit ihr Lob unweigerlich wiederum auf diese zurückstrahlt. Zum Beispiel lässt Thomas Jordan in seinem Text für die Show des Jahres 1675 London als eine allegorische Figur zum neugewählten Lord Mayor sprechen: You are the Sun-beams that break through the cloud / […] / Brightly to shine in Londons Hemisphere / The influence with which you are induc’d / Are Prudence, Justice, Temperance, Fortitude.14

Nur drei Jahre zuvor, 1672, verwendet er die gleiche Metaphorik allerdings in umgekehrter Ordnung: The Rising Sun, my Lord, doth worship you. / The Sun of this Metropolis, whose Heat / And Light, lends lustre to the Sacred Seat of even-handed Justice.15

Die panegyrische Rhetorik scheint fast beliebig mit seinem metaphorischen Arsenal spielen zu können. Bedeutung hat nur die meist hyperbole Hervorhebung der in körperschaftlicher Abhängigkeit zueinander agierenden Funktionsträger. Dies mag selbstverständlich, fast langweilig erscheinen, bildet aber für die Lord Mayor’s Show in ihrer historischen Entwicklung im 17. Jahrhundert ein semantisches Feld, das den Panegyrikern die Möglichkeit zur subtilen Akzentverschiebung lässt. Denn obwohl die Eckpunkte des Lobes im Rahmen der jährlichen Veranstaltung durch das Ritual festzuliegen scheinen, entstehen im Schatten der jeweiligen panegyrischen Ausleuchtung feine Bedeutungsrelationen, denen nicht selten politisches Gewicht zugemessen werden muss. Wichtig ist dabei, dass das Lob dazu geeignet ist, wichtige Abgrenzungen vorzunehmen, die einerseits innerhalb der stadtbürgerschaft­ 14  Thomas 15  Thomas

London 1672.

Jordan, The Triumphs of London, London 1675. Jordan, London Triumphant: or The City in Jollity and Splendour,



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lichen Gemeinschaft ihre Bedeutung entfalten oder aber andererseits nach außen wirken. Und obwohl der beabsichtigte Effekt zuweilen derselbe zu sein scheint, wird doch ein unterschiedliches Bewusstsein deutlich. Um die politische Dimension der panegyrischen Gattung im Kontext der Lord Mayor’s Show aufzuzeigen, sollen im Folgenden ausgesuchte Textbeispiele mit Blick auf die wesentlichen Bezugssysteme untersucht werden, die die Reden während des Ereignisses aufgreifen und prägen. Zu nennen sind hier einerseits die Stellung des Lord Mayor innerhalb der Stadt und andererseits das durch das Amt repräsentierte Verhältnis zwischen der Stadt und der Krone. In diesem Zusammenhang hat schon Garrisons Vergleich der lexikographischen Einträge zur Panegyrik gezeigt, dass die jeweiligen Definitionen der Gattung dazu geeignet sind, die Veränderung in der politischen Rhetorik und ihrer öffentlichen Funktion über das 17. Jahrhundert abzubilden. Insbesondere wird es aufzuzeigen sein, wie die Texte der Lord Mayor’s Show das Selbstverständnis der City of London vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung des 17. Jahrhunderts spiegeln. Das erste Beispiel stammt aus dem Jahr 1616 und zeichnet ein eindrückliches Bild vom Selbstbewusstsein der Stadtbürgerschaft. Verfasst vom Dramatiker Anthony Munday feiert es die Amtseinsetzung von John Leman aus der Gilde der Fischhändler. Der Text, der in seinen Ehrenbekundungen den üblichen Pfaden folgt, enthält im Rahmen des Festumzugs aber eine außergewöhnliche Inszenierung, die auf dem Gräberfeld vor der Kathedrale von St. Paul’s vorgesehen war: In einer allegorischen Szene wird Sir William Walworth, ein Lord Mayor, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts das Amt inne hatte, durch die figürliche Inkarnation der Stadt London zum Leben erweckt: And seeing this dayes solemnitie Honour thine owne Soceitie Of Fishmongers, a worthy band, Fam’d both to Citie, and the Land, By thy rare deed of loyaltie, Upon the king’s proud enemy: Sir William Walworth, doe what may Remaine in thee, to crowne this day With generall fullness of content: For thereto all our hopes are bent.16

Die Ansprache erwähnt zu erwartende Aspekte des panegyrischen Bezugsfelds der Lord Mayor’s Show. Sie bereitet mit der Nennung der Gilde der Fischhändler (»Soceitie / Of Fishmongers«) sowie der Stadt und der 16  Alle Zitate aus Anthony Munday, Chrysanaleia: The Golden Fishing: Or, ­Honour of Fishmongers, London 1616.

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Krone wichtige Anknüpfungspunkte für die Rede, die dem Untoten Sir William Walworth schließlich in den Mund gelegt wird. In dieser wird der neue Lord Mayor des Jahres 1616 und dessen Zugehörigkeit zur gleichen Gilde wie die des wiederauferstandenen Amtsvorgänger hervorgehoben: All happy blessings crowne (I pray,) Londons and Lemans wedding day. Observing that faire Liverie; You are of mine owne Company. How can I then, but ioy to see Such eminence and high degree.

Das Bild der Lord Mayor’s Show als Hochzeitstag zwischen dem Lord Mayor und der Stadt ist hier ebenso bemerkenswert wie die makabre Inszenierung selbst, denn beides ehrt zwar den Lord Mayor und seine Livery Company, rückt aber in letzter Konsequenz das Amt in seiner Bedeutung für die weitere Stadtgemeinschaft in den Mittelpunkt. Obschon der gerade gewählte Lord Mayor in dieser Szene selbst wenig Erwähnung findet und die Geistererscheinung insbesondere auf historische Ereignisse anspielt, ist dieser Auftritt dazu geeignet, nicht nur die besondere Rolle des Amts für die zivile Ordnung der Stadt zu ehren, sondern vor allem ihn als Schützer der Krone hervorzuheben. Die Rückbesinnung auf Sir William Walworth ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig, denn letzterer hatte Wat Tyler, den Anführer der Bauernrevolte von 1381, bei der Verteidigung von London Bridge der Legende nach mit eigenen Händen erschlagen. Indem nun dieses historische Ereignis durch die Figur des Amtsvorgängers in ihrer Lobrede auf den amtierenden Lord Mayor aufgegriffen wird, gelingt es der Stadtbürgerschaft, sich als tragendes Glied in den Staatskörper einzutragen. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass historische Bezugnahmen für das Verhältnis zwischen Stadt und Krone einen zentralen Argumentationspunkt darstellen. Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts sehen sich die Livery Companies nämlich als »time-honoured institutions« und sehen ihre Privilegien aus ihrer langen Tradition begründet. Der Dramatiker Thomas Heywood, der für alle Lord Mayor Shows in den 1630er Jahren die Texte verfasst, beginnt jedes seiner panegyrischen Redekonvolute mit einer historischen Aufzählung der bedeutenden Lord Mayors. So repetitiv diese Ehrenbekundungen in der steten Abfolge von Jahr zu Jahr wirken mögen, sie verdeutlichen doch das Selbstbewusstsein einer städtischen Körperschaft, die ihr Stammrecht aus der Kontinuität ihrer Tradition ableitet. Lob ist im Rahmen der Lord Mayors Show immer auch politisch motiviert. In der Abfolge der Texte ist dabei zu beobachten, wie sich zusehends auch hegemoniale Töne in den Reden wahrnehmen lassen. Ein Text, der diese besondere Aufgeladenheit in ihrer rhetorischen Anlage eindrücklich demonstriert, ist Thomas Dekkers Brittannia’s Honor von 1628. Dekker ehrt



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mit dem Textkonvolut Richard Deane als neu gewählten Lord Mayor, der der Worshipful Society of Skinners (dt. Gilde der Gerber) angehört. Schon in der Hervorhebung der Adressaten zu Beginn seines Textes als »Honorable Praetor« und »Noble Consuls« – gemeint sind hier die Aldermen of the Corporation of London (dt. die Ratsherren der Stadt London) – akzentuiert sich mit der Anspielung auf die Antike ein besonderer Tonfall: As thus in State, shee herselfe is Glorious; so have all our Kings held it fit to make her chiefe Ruler eminent, and answerable to her greatnesse. The Praetorian Dignity is therefore come from the ancient Romans, to invest with Robes of ­Honor, our Lord Maior of London: Their Consuls are our Sheriefes; their Senators our Aldermen.

Die Antikenvergleiche sind ein fester Bestandteil der Vorstellungswelten der Lord Mayor’s Show. Troia17 dient ebenso regelmäßig als Vergleichsmaßstab wie die im Auszug verwendeten Amtsbezeichnungen der römischen Republik. Der Stolz auf das Wahlamt des Lord Mayor nach antikem Vorbild ist ein wichtiger Aspekt der Stadtidentität und stärkt deren republikanisches Bewusstsein. Die im Textauszug erkennbare Argumentation wirkt zunächst nach innen: Das Lob des Lord Mayor als primus inter pares hebt ihn in seiner Funktion hervor, schließt die Körperschaft aus der er hervorgeht allerdings ausdrücklich mit ein. Dies hat zunächst ein didaktisches Ziel, denn es erinnert den Amtsinhaber an die Körperschaft, die ihm seine Macht auf Zeit verliehen hat und fordert auf diese Weise Demut von ihm ein. Gleichzeitig schwingt in der starken Betonung des Wahlamts auch noch etwas anderes mit. Ähnliche Argumentationsketten lassen sich in den meisten der Texte vor dem englischen Bürgerkrieg finden. Thomas Heywood schreibt im Jahr 1635, »never was any more freely voyc’t in his Election, and therefore none more hopefull in expectation« und betont wiederum im Jahr 1638, wie der Lord Mayor sein Amt »by generall suffrage, and the unanimous harmony of a free Election« verliehen bekommt.18 Obwohl man vorsichtig sein sollte und kein anachronistisches demokratisches Verlangen auf Seiten der Gildevertretung voraussetzen darf, sind je nach Kontextsetzung republikanische Untertöne unüberhörbar. Im Vordergrund steht aber stets das Lob der kooperativen und geregelten Zusammenarbeit innerhalb der Stadtbürger17  Im 12. Jahrhundert erzählt Geoffrey of Monmouth in seiner Geschichte der englischen Könige Historia Regum Britanniae, dass Brutus, der Urgroßenkel von Aeneas, nach langer Wanderung in Britannien landet und London als New Troy (dt. Neues Troia) gründet (siehe John Cannon (Hrsg.), The Oxford Companion to British History, Oxford 1997, 135). 18  Tracey Hill hat in ihrer umfassenden Untersuchung der Lord Mayor’s Show vor dem Bürgerkrieg herausgestellt, dass »the City of London had a complex variety of such ritual events, all of which contributed to its sense of itself as a political body founded on election principles« (Tracey Hill, Pageants of Power: a cultural history of the early modern Lord Mayor’s Show 1585–1639, Manchester 2011, 34).

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schaft. Dass dies ein Lob ist, das im Umkehrschluss genau eine solche Mitwirkung auch bei den Regierungsgeschäften der Krone verlangt, ist eine der unausgesprochenen Provokationen der Lord Mayor’s Show. Die lobende Überhöhung der Stadt und ihrer Ämter gelangt schon deswegen zu besonderer Bedeutung, da sie wichtige Analogien zulässt und dadurch nicht zuletzt unterschwellige Kritik zu üben versteht. Wendet man sich wieder Thomas Dekkers Konvolut an Reden und Zeremonien für die Lord Mayor’s Show von 1628 zu, ist es wichtig zu berücksichtigen, dass sich in diesem Jahr die Amtseinsetzung des neuen Lord Mayor in eine besonders agitierte Phase der Herrschaft von Charles I. einpassen muss. Der Versuch des Königs, ohne das Parlament Steuern zu erheben, war im Sommer des Jahres am Widerstand der Parlamentarier gescheitert.19 Charles sah sich schließlich gezwungen mit der Petition of Right die Mitbestimmungsrechte des Parlaments in den Staatsgeschäften offiziell anzuerkennen. In dieser Situation erlangen die impliziten Analogien in Dekkers Text ausgesprochene Brisanz. Obwohl der tatsächliche Herrschaftsbereich des Lord Mayor gerade mal etwas mehr als eine Quadratmeile umfasst, dehnt Dekker diesen in scheinbar riesige Dimensionen aus: The Extension of the Lord Maiors power, is every yeare to bee seene both by Land and Water: Downe as low as Lee in Essex: Up, as high as Stanes in Middlesex: In both which places, he keepes personal Courts. His House is a Chancery: He the Chancellor to mittigate the fury of Law: Hee the Moderator between the griping Rich and the wrangling Poore. All the City, Orphans call him Father: All the Widdowes call him their Champion. His Table lyes spread to Coutiers, and Free to all Gentlemen of fashion.

Dekker zimmert hier eine argumentative Einheit aus Stadtgeographie und den richterlichen Befugnissen des Lord Mayor, bei der Letzterer als »Father« und »Champion« der Bevölkerung mit quasi-königlichen Attributen versehen wird. In dieser Argumentationskette liefert die Show selbst den augenfälligen Beweis des Machtanspruchs: More to Proclaime his Greatness, what Vice-roy is install’d with louder popular acclamations? What Deputie to his Sovereigne goes along with such Triumphs? To behold them, Kings, Queenes, Princes, and Embassadors (from all parts of the World) have with Admiration, reioyced.

Der Lord Mayor wird wie ein »Vice-roy« provokant neben den König gestellt. Nur wenige Zeilen weiter steigert sich dieses Selbstbewusstsein weiter und Dekker sieht den Lord Mayor sogar »like a Prince«, der königlichen Vergnügungen nachgeht: »The Lord Maior of London (like a Prince) hast likewise his Variety of Noble Recreations: As Hunting, Shooting, Wrastling, before him […].« Es sind die Attribute, die hier den bürgerlichen 19  Siehe

hierzu Kurt Kluxen, Geschichte Englands, Stuttgart 1991, 291 f.



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Vertreter auszeichnen. Der Pomp und die rhetorische Strahlkraft der feier­ lichen Amtseinsetzung ist dabei Beweis und Begründung eines quasi-königlichen Machtanspruchs. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass die panegyrischen Reden verstärkt die Symbole und Allegorien der Stadt mit denen der Nation durchweben: Die Bühnen, die für die Reden auf dem Weg des Lord Mayor durch die Stadt aufgestellt werden, sind mit den Rosen Englands (»the Roses of England«) und den Farben des Königreichs (»the Cullors of the King­dome«) geschmückt. Die Verbindung zwischen städtischem Glanz und dem Schicksal der Nation wird hier wie selten zuvor beschworen: So remarkable for Priority and Power, that hers is the Master-wheele of the whole Kingdome: As that moves, so the maine Engine works. London is Admiral all over the Navy Royall of the Cities […].

Die Verwendung maritimer Symbolik ist in der Lord Mayor’s Show durchaus üblich, bezieht sich in der Regel jedoch auf London als Stadt des überseeischen Handels und die Livery Companies als die Protagonisten der sich immer weiter spannenden Warenströme, die an der Themse angelandet werden. Das Bild, das von Dekker hier zum Ruhm der Stadt bemüht wird, mischt jedoch die übliche maritime Metaphorik mit ebenso hierarchischen wie militärischen Konnotationen. Die Führungsrolle Londons wird durch das hier bemühte Bild nicht nur gegenüber konkurrierenden Handelsstädten beansprucht, sondern ganz unverhohlen auch in England selbst. Die Zeitgenossen werden in diesem Zusammenhang die Anspielung auf die Navy verstanden haben, denn ist es gerade deren Finanzierung, die das Parlament gegen den König 1628 aufbrachte.20 Dekker nutzt seine Lobreden und beschwört die verfassungsmäße Einheit. Gleichzeitig formuliert er Londons hegemonialen Anspruch: Es mag da nicht mehr verwundern, wenn er feststellt, dass »London, and her Royal Daughter (Westminster) are Representative body of the general State«. Das Bild der Stadt als Mutter Westminsters mag zwar grundsätzlich im Falle Londons aus der Geschichte begründet sein – schließlich liegt die Stadtgründung Londons Jahrhunderte vor der Verlagerung des Regierungssitzes aus Winchester an die Themse von Westminster21 –, die Provokation liegt jedoch darin begründet, dass durch die Familienmetaphorik die Stadt in ihrer Mutterrolle mit dem König als Vater der Regierung in Westminster stillschweigend vermählt wird. Was als schmeichelhafte Annäherung von den Panegyrikern rhetorisch verpackt wird, kann je nach Lesart auch als ein 20  N. A. M. Rodger, The Safeguard of the Sea: A Naval History of Britain, 660– 1649, London 2004, 371. 21  Siehe John Cannon (Hrsg.), The Oxford Companion to British History, Oxford 1997, 590.

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provokanter hegemonialer Gestus verstanden werden. Tatsächlich diskutiert der Text unterschwellig die Frage nach der staatlichen Autorität und der in der Magna Carta verankerten Mitbestimmungsrechte. Dass dies nicht Teil einer systematischen Ermächtigungsstrategie ist, wohl aber Indiz des allmählichen Emanzipationsprozesses ist, den die Stadtbürgerschaft in ihrem Selbstverständnis durchläuft, ist für die verfassungsgeschichtliche Entwicklung Englands im 17. Jahrhundert wichtig festzuhalten. In den Jahren vor dem Bürgerkrieg werden diese Fragen angesichts des fortschreitenden Vertrauenszerfalls der Stuartmonarchie auch für die Panegyriker dringlicher. Bei dem ansonsten eher zurückhaltenden Thomas Heywood mischen sich nun deutlich schrillere Töne unter das panegyrische Einerlei der jährlichen Ehrenbekundungen. 1639, dem Jahr in dem sich die Spannungen zwischen König und Parlament vor dem Hintergrund der kriegerischen religiösen Konflikte in Schottland weiter verschärfen, schlagen an der letzten Station der ansonsten freudigen Feier Heywoods panegyrische Lobreden in einen geradezu verzweifelten Friedensappell um. Die Architektur, die den Rahmen für die letzte Rede darstellt, baut in ihrer Ikonographie auf den Kontrast zwischen Allegorien des Friedens und des Krieges: An artificiall Architecture […] presenteth the calamities of War, & the blessednesse of peace, status Pacatus; bearing the Title of the Whole Triumph: In one part thereof are exprest to the life, the figures of Death, Famine, Sicknesse, Rage, &c. in the other Prosperity, Plenty, Health, Wealth […].22

Dass mit diesen Bildern mehr als nur dekorative Elemente für die Feierlichkeiten beabsichtigt sind, wird unter anderem daran deutlich, dass der Verfasser sich immer wieder mit Erklärungen und Anmerkungen zu Wort meldet, die deutlich über die üblichen in den Texten enthaltenen Regieanweisungen und Beschreibungen der Festaufbauten hinausgehen. Heywood entschuldigt sich sogar dafür bei seinen Lesern: »I desire not to swell these few pages to small purpose«. Seine Ausführungen zum Krieg sind von besonderer Intensität: So erinnert der Autor daran, dass »Domesticke War is the over-thro and ruine of all Estates, and Monarchies«. Der didaktisierende Ton und die moralisierende Botschaft der Textversion spiegeln wieder, was die Ausstattung des Festumzugs während der Feierlichkeiten ihrem Publikum eindrücklich vor Augen führen: The more to illustrate this Tryumph, it is graced by the Company of Artillery men compleatly armed, to expresse Warre: and the Livery and gown-men being the Embleme of Peace.

Die panegyrischen Reden nehmen diese Elemente schließlich in sich auf. An der letzten Station spricht die allegorisierte Gestalt der Stadt (»The 22  Alle folgenden Zitate aus Thomas Heywood, Londini Status Pacatus: Londons Peaceable Estate, London 1639.



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Genius of the City«) und lobt den Lord Mayor nicht mehr nur als Beschützer Londons und des Handels, sondern beschwört ihn geradezu als nationalen Wächter der »true Religion« und der »continuance of Peace«. Abgesetzt gegen eine geradezu apokalyptische Schreckensvision eines Bürgerkrieges wird der Lord Mayor als Wahrer des Friedens gepriesen. War, to the unexperienc’d, pleasant showes, But they who in the Progresse and the Close Shall trace it, know it horrid; ‘Tis a time Destin’d, to the revenge, and scourge of Crime: A time, […] When Massacre, (all quarter quite denying) Revells admist the flying, crying, dying. It is a Time when Stratagem surrounds, And the beleaguered City close impounds: […] When Plague makes friend, the friend; brother, the brother; The Harmlesse, armelesse; murder one another.

In einer Randnotiz fügt Heywood dieser Beschreibung der Grauen des Krieges hinzu: »As lately in Germany«. Der englische Blick auf die Wirren und Schrecken des Dreißigjährigen Krieges befördert das Bild der »solehappy Isle«. Nur, dass nun nicht mehr die Monarchen selbst als Garanten des Friedens gelobt werden, sondern die stadtbürgerlichen Repräsentanten und Würdenträger zu Hoffnungsträgern werden. In Heywoods Beitrag zur letzten Lord Mayor’s Show vor dem Bürgerkrieg wird die panegyrische Schmeichelei von der Verzweiflung getrieben und entwickelt so eine ganz neue politische Dimension. Zeichnet sich bis zum Bürgerkrieg in den Zwischentönen der Lord Mayor’s Show eine deutliche Entfremdung zwischen Stadtbürgerschaft und der Krone ab, die schließlich bei Heywood offener Besorgnis den Weg bereitet, ist für die Zeit der Restauration wahrnehmbar, dass sich umfänglicher um die Darstellung der Einheit zwischen Krone, City und Nation bemüht wird. Es stabilisiert sich hier auch metaphorisch ein Zusammenwirken des politischen Systems, das von den Erfahrungen des Bürgerkriegs zeugt. Zudem heben die Panegyriker zuweilen zu umfänglichen Erklärungen der Veranstaltung an, um Missverständnissen und Fehlinterpretationen ihrer Symbolik vorzubeugen. Thomas Jordan führt mit Bezug auf den rituellen Gang des Lord Mayor nach Westminster im Jahr 1675 aus: At the new Palace-Stairs orderly all Do make a Lane to pass him to the Hall, Where having took an Oath tha he will be Loyal and faithful to his Majesty, His Government, his Crown, and Dignity, With other Ceremonials said and done,

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In order to his Confirmation; Sealing of Writs in Courts, and such like things, As shew his power abstracted from the Kings He takes his leave o’th’ Lords and Barons, then With his Retinue he retreats again To th’ Waterside and […] And scu’d along the River till he comes Up to Pauls Wharf, where Guns and thundering Drums Proclaim his Landing […].23

Aus dem Demutsakt der Eidzeremonie, den die visuelle Prachtentfaltung der Lord Mayor’s Show leicht wie einen Triumphzug erscheinen lässt, wird hier ein integrativer Akt der Loyalität. Es ist dabei bemerkenswert, dass der Verfasser es nicht nur für notwendig hält, die Route der jährlichen Veranstaltung seinen Lesern zu erklären, sondern vor allem das Ritual des Amtseids auf den König explizit als Beweis der Treue der Stadt gegenüber der Krone betont. Die Trennung der Etappen zwischen Westminster und der City erscheint nun nicht mehr als ein von Konkurrenz geprägtes Gegeneinander, sondern als ein verfassungsrechtliches Miteinander. Fast möchte man meinen, dass die Erfahrungen des Bürgerkriegs und der Zeit unter Oliver Cromwell die Stadtbürgerschaft bewogen hat, die alten Zweideutigkeiten ihrer Veranstaltung nun durch didaktisierende Erklärungen zu entschärfen. Spätestens mit der Glorious Revolution, in der die Stuart-Herrschaft beendet wird und England sich mit der Bill of Rights zu einer konstitutionellen Monarchie wandelt, ist dann erkennbar, dass sich die Widersprüche und Spannungen, die vor allem in den Lord Mayor’s Shows bis 1639 spürbar sind, auflösen. Die Ehrenbekundungen im Rahmen der Veranstaltungen befleißigen sich zusehends eines Diskurses, der auffällige Parallelen zu den panegyrischen Huldigungen des neuen Königs William of Orange zeigt. Dieser wird als Held und Repräsentant der neuen verfassungsrechtlichen Ordnung geehrt. Die Lobreden der Lord Mayor’s Show integrieren sich fortan rhetorisch in diese Ordnung. IV. Schlussbemerkung Die oftmals hegemonialen Funktionskontexte der Panegyrik bedingen, dass die Gattung von Veränderungen in der politischen Ordnung direkt betroffen ist. Tatsächlich ist feststellbar, dass die Wahrnehmung der Panegyrik im 17. Jahrhundert sich entsprechend der politischen Umwälzungen wandelt. James Garrison stellt in seiner Studie zur panegryischen Dichtung fest, dass spätestens zu Beginn des 18. Jahrhundert die Gattung Panegyrik erschöpft sei. Sie werde zusehends nur noch satirisch verwandt und verschwinde so 23  Thomas

Jordan, The Triumphs of London, London 1675.



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aus der öffentlichen Wahrnehmung.24 Schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist erkennbar, dass die Panegyrik so sehr an Ansehen und Glaubwürdigkeit verloren hatte, dass sie den Autoren verdächtig war. Anlässlich der Lord Mayor’s Show von 1691 gibt Elkanah Settle einen Einblick in das veränderte Begriffsverständnis der Zeit. In seiner Homage an die Worshipful Company of Drapers (dt. Gilde der Fellhändler) schreibt der Dichter: And as for any Poetical Harangue to the Drapers Encomium, let it suffice that whilst there are Verdant Plains and Bleating Flocks, those innocent Panegyrists will do you more Justice, and speak much better than any flourish from the Pen of / Your most Obliged / Humble Servant / E. Settle25

Das Bild, das Settle hier bemüht, ist eigentümlich. In der von ihm entworfenen Szenerie erscheinen die Schafe zwar als logisches Attribut der Woll- und Fellhändler, ihre Funktion ist aber eine rhetorische, die für das zeitgenössische Verständnis der epideiktischen Gattungen von Bedeutung ist. Im Rahmen der Lord Mayor’s Show gibt der Dichter vor, dass er seinen Text als ein Enkomium ohne politische Ambitionen verfasse. Die Panegyrik, das schmeichelnde und politisierte Loben, überlässt er den blökenden Schafen auf der grünen Wiese und befleißigt sich selbst mit einem Lob, das scheinbar diese Untertöne nicht kennt. Er wendet sich auf diese Weise bewusst von der Panegyrik ab. Den Schafen, die er in seiner arkadischen Szene bemüht, kommt dabei eine Doppelrolle zu: Einerseits wertet ihr Blöken die Panegyrik als wertlose Lobhudelei, der sich der Dichter enthalten sollte. Andererseits sind sie die einzigen, die in ihrer natürlichen Unschuld schon durch ihre reine Existenz als Panegyriker taugen. Settles Bild scheint inkonsequent, denn obwohl man meinen könnte zu vernehmen, dass das panegyrische Loben in dem Moment obsolet geworden ist, in dem der Ehrgeiz der Stadt in der Verfassung von 1689 aufgeht, bleibt am Ende doch eher fraglich, ob die Stadtbürgerschaft von blökenden Schafen gelobt werden will.

24  James D. Garrison, Dryden and the Tradition of Panegyric, Los Angeles 1975, 34–36. 25  Elkanah Settle, The Triumphs of London, London 1692.

Der Eigenname als Mittel der literarischen Erfindung: über die Lobgedichte zur Zeit der Belagerung von La Rochelle (1628) Von Stéphane Macé Schon während der Belagerung der protestantischen Stadt La Rochelle im Jahre 1628 und noch ein paar Jahre später wurden Hunderte von Lobgedichten geschrieben, die (manchmal sogar im Voraus!) den Sieg der königlichen Armee feierten. Eine solche Begeisterung, die die berühmtesten Dichter der Zeit (Malherbe, Racan, Colletet …) sowie die große Menge der Unbekannten (Bridard, Gaberot, Saigeot …) ergreift, sollte uns nicht völlig überraschen – wenn wir auch heutzutage leider gewohnt sind, diese panegyrische Literatur zu unterschätzen. Da diese Schriftsteller oft von einem Stipendium abhängig waren (was uns immer verdächtig vorkommt!), und da sie ihre Texte sehr schnell schreiben mussten, um keine Verspätung in Bezug auf den Lauf der Geschichte zu riskieren, vermuten wir nämlich, dass diese Texte hauptsächlich von dokumentarischem oder historischem Wert sind, dass sie aber ästhetisch reizlos sind. Doch könnten sie leicht Bewunderung erwecken, wenn wir etwas neugieriger wären! Im Grunde genommen gibt es prinzipiell keinen richtigen Unterschied zwischen dieser offiziellen Literatur und den anderen Kunstformen, die ebenfalls die Größe der Mächtigen hochpreisen – ich denke z. B. an das berühmte Porträt Ludwigs XIII., das Philippe de Champaigne 1635 für die »Heldengalerie« (»galerie des hommes illustres«) des Palais ­Royal malte, dessen Hintergrund den Damm schildert, den Richelieu bauen ließ, um die Stadt von der See abzusondern und die Einwohner auszuhungern1; im Bereich der Musik können wir das Ballet de la prospérité des armes de la France erwähnen, das von Guillaume de Bouzignac komponiert wurde und noch im Jahre 1641 den königlichen Sieg feiert2. In dieser Sammlung von Texten über La Rochelle sind einige poetische Gattungen zu entdecken, die anderswo sehr selten erscheinen. Ich möchte 1  »Portrait de Louis XIII couronné par la Victoire«, Paris, Musée du Louvre. Siehe Lorenzo Pericolo, Philippe de Champaigne, Paris, La Renaissance du Livre, 2002, S. 118–32. 2  Diese Balletmusik wurde neulich angenommen: Musiques au temps de Riche­ lieu (»La Simphonie du Marais«, Hugo Reyne (Leitung), hg. vom Conseil Général de Vendée, »Musiques à la Chabotterie«, 2008).

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die Sonderrolle der Eigennamen (nämlich derjenigen der Sieger – Riche­ lieu, Ludwig XIII., Bassompierre – aber sogar die der Besiegten, z. B. Buckingham) als Mittel der literarischen Erfindung untersuchen: Anagrammspiele (wie z. B. bei Hilaire Soulas, der eine vollständige Sammlung nach dieser Methode veröffentlicht), Antonomasie (besonders in den poetischen Gattungen, die mit dem Epos verwandt sind, oder die mit der rhetorischen amplificatio zu tun haben), Echo-Gedichte – nach dem Vorbild antiker Dichtung – sind oft verwendete Formen. Es handelt sich aber nicht nur um Formen: hier entsprechen Grammatik und Stilistik einer deterministischen und aristokratischen Ideologie, die Namen und persönliches Schicksal eng verbindet. Ich muss ehrlich sagen, dass ich mich für die offizielle Literatur, und besonders für die Lobgedichte, die zur Zeit der Belagerung von La Rochelle geschrieben wurden, erst seit kurzem interessiere. Am Anfang war es reiner Zufall, dass ich dieses Korpus entdeckt habe: seit ein paar Jahren arbeite ich über die amplificatio (als rhetorischen Begriff), und ich wollte versuchen, literarische Texte in dieser Hinsicht zu lesen, um (vielleicht) darin deutliche Spuren der rhetorischen Theorie zu finden: z. B. habe ich mich auch für die Predigten von Bossuet interessiert, oder noch für die Trostbriefe und Trostgedichte, die von Malherbe und seinen Schülern am Anfang des 17. Jahrhunderts verfasst wurde). Es kam natürlich nicht in Frage, die offizielle Literatur zu vernachlässigen, die mit dem rhetorischen encomion und dadurch mit der amplificatio verwandt ist. Da ich nur über wenig Zeit verfügte und diese Literatur hauptsächlich als exemplum lesen wollte, habe ich natürlich an die Belagerung von La Rochelle gedacht: dieses historische Ereignis ist sehr berühmt, und da es sich um eine beschränkte Periode handelt, war ich so naiv zu glauben, dass ich das ganze Korpus ziemlich schnell beherrschen könnte! Hier kam meine erste Überraschung: 1627, also vor der Erstürmung der protestantischen Festung (die königliche Armee ist gerade angekommen, und der König selbst, der krank war, musste unterwegs haltmachen, bis er wieder gesund war), feiert man schon den Sieg, und in den nächsten Jahren wurden Hunderte von Gedichten geschrieben und an allen Ecken und Enden des Königtums veröffentlicht: Selbstverständlich in Paris (der Hauptstadt), natürlich in Bordeaux (der nächsten Großstadt in der Gegend von La Rochelle), aber auch in Lyon, Grenoble, Rouen, Blois, Avignon, Angers, Poitiers, La Flèche, Troyes, Reims, Angoulême … und sogar in Venedig! Sodann habe ich eine zweite Überraschung erlebt: Selbst wenn einige Schriftsteller sich damit begnügten, Richelieu und Ludwig XIII. zu schmeicheln, konnte man hier auch echte Schätze entdecken, und es lohnte sich wirklich, diese Produktion sorgfältig zu lesen. In dieser Sammlung von



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Texten über La Rochelle erscheinen nämlich ein paar poetische Gattungen, die sonst (soviel ich weiß) nirgends zu anzutreffen sind: z. B. werden Gebete aus dem lateinischen Ritus (De profundis, Miserere, Confiteor, Ne reminiscaris  …) bearbeitet und mit einer Dichtung in französischer Sprache so vermischt, dass jedes lateinische Zitat einen anderen Sinn gewinnt und in die französische Syntax eingebunden ist!   Aux piés de vostre Majesté Nous nous jettons à teste nuë, Requerans, par humilité, Que de nostre faute connuë Ne reminiscaris   Noz cœurs fiers, comme des lions, Contre vous enflambez de rages, Ont forgé ces rebellions: Mais nous n’avons point esté sages, Domine.   Vous estes seul entre les Rois, Que le TRES-Juste l’on appelle, Pouvant, en la rigueur des Loix, Punir à droict, de peine telle, Delicta nostra.   Nous les confessons hautement: Octroyez-nous en vostre grace. Noz maux en viennent justement, Et de nostre trop grande audace, vel parentum nostrorum   Mais, BON ROY, tournez, s’il vous plaist, Tournez voz armes loin-arriere, Nous nous rendons: ouy. C’en est fait. Exaucez donc nostre priere, neque vindictam sumas.   Personne, apres DIEU sinon vous, Fut-il un second Alexandre, N’oseroit s’attaquer à nous, Pour nous chastier, o[u] reprendre de peccatis nostris.   HENRY, l’admirable Vainqueur, Estoit plus Clement, que severe. Voulez-vous avoir ce Bonheur, Que tel on vous tienne & revere? Parce Domine3. 3  Nicolas Soret, Le Ne reminiscaris des Rochellois. Au Roy, Reims, Simon de Foigny, 1628, S. 3–5. Nach diesem Modell findet man auch folgende Texte, die anonym veröffentlicht wurden: Le De Profundis de La Rochelle, envoyé à l’illustrissime Roy d’Angleterre, Par un courrier réformé, 1627; Les Lamentations

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Jede Strophe ist völlig in sich geschlossen und bildet einigermaßen eine Einheit, aber der Dialoge zwischen beiden Sprachen lässt eine andere Logik spüren, und erinnert uns natürlich an die Ur-Struktur des jeweiligen lateinischen Gebets. Dank dieses Beispiels können wir feststellen, dass unsere Dichter sich auch darauf verstehen, um Dialoge, Allegorien oder sogar manchmal Prosopopoiien zu schaffen, die die politische Macht preisen und dabei auch die Kraft der lyrischen Stimme rühmen. In diesem Zusammenhang möchte ich kurz ein seltsames Echo-Gedicht von Jean-Cécile Frey besprechen. Hier muss zuerst in Erinnerung gerufen werden, dass die Gattung des Echo-Gedichts aus der antiken Literatur stammt, und dass mehrere Texte dieser Art in der Anthologia Graeca zu finden sind. Am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts wurde diese Form erneut verwendet, besonders im Bereich der Hirtendichtung und der Schäferspiele (bei Guarini, Honoré d’Urfé und vielen unbekannten Dichtern (Bernier de la Brousse, Baddel, du Mezelet, Des Vallottes, Livet4 …). Ein unglücklicher Hirt sondert sich ab, erreicht eine felsige Landschaft und lässt der Klage über seine Not freien Lauf. Plötzlich ist, ob im Voraus berechnet oder nicht, eine geheimnisvolle Stimme zu hören: Die Nymphe Echo wohnt nämlich in diesen Felsen, und ihre Antworten gelten als Orakelspruch oder als Trostrede. Normalerweise ist dies für den Dichter ein Mittel, um seinen Einfallsreichtum zur Schau zu stellen. Der Hirte sagt zum Beispiel:    Il ne me faut donc plus souspirer le tourment,    Que j’endurois alors que je vivois pour elle, Ou bien si je plaindray mes maux incessamment?   cesse, Amant5.

Jean-Cécile Frey bietet ein Echo-Gedicht auf Latein (was in diesem Kontext schon seltsam ist) und passt diese traditionelle Form der Hirtendichtung oder der Elegie an ein anderes Genre an: Es handelt sich hier bloß um Panegyrik, und der Orakelspruch hat als einziges Ziel, den königlichen Sieg im Voraus zu melden. du Jeremie Rochelois. Paris, François et Julien Jacquin, [1628]; Le Miserere mei des Rochelois, sur la fin de leur misere, 1628. 4  Daniella Dalla Valle, »Le thème et la structure de l’écho dans la pastorale dramatique française au xviie siècle«, in Le Genre pastoral en Europe du XVe au XVIIe siècle, Saint-Étienne, Publications de l’Université de Saint-Étienne, 1980, S. 193–198; Yves  Le Hir,  »Sur deux poèmes d’Honoré d’Urfé dans L’Astrée«, Travaux de linguistique et de littérature, Band  X, n. 1, 1972, S. 169–170; Stéphane Macé, L’Éden perdu: la pastorale dans la poésie française de l’âge baroque, Paris, H.  Champion, 2002, S. 126–127 und 190–197. 5  »Soll ich mich denn endlos beklagen? Hör auf, du Liebhaber!«, Charles Livet, Le Démocare sanglant, Lyon, Vincent de Cœursilly, 1623, S. 212v–213.



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Quosnam, Rex Auguste, ex tanta Gallorum nobilitate, & quemnam ex Martiis potissimùm principibus censes armandum? ARMANDUM. (…) Quibus quid quæso Rex magnus subridens, & capite abnuens, respondit LUDOVICUS? VICUS. (…) Virtutes verò, Echo, quomodo vocabis RICHELIAS? HELIAS. (…) Sed obsidione dum Rupes, dum maria premuntur, Angli fugantur trucidantur, qualis fuit BASSOMPIEREUS? ÆREUS. (…) Aut edic, qualisnam fuerit BUKINGANUS? ANUS6.

Ich muss zwar gestehen, dass Frey kein großer Virtuose ist. Trotzdem führt uns dieses Gedicht direkt zu einem neuen Stoff (ich habe nämlich vor, die Rolle des Eigennamens als technisches, grammatisches Hilfsmittel zu untersuchen, und nicht nur Dichtungsformen zu katalogisieren). Normalerweise hat der Eigenname keine besondere Bedeutung und er hat keinen anderen Zweck, als die Identität eines Individuums zu festigen. Manchmal könnte natürlich der Name eine Eigenschaft schildern (z. B. können wir vermuten, dass ein Mensch, der sich Schuhmacher nennt, wahrscheinlich Vorfahren hatte, die wirklich Schuhmacher von Beruf waren – aber er selbst mag Metzger sein, oder sogar ein Formel 1-Pilot). Ein Mensch, der sich »Klein« nennt, hatte vielleicht kleine Vorfahren, aber er selbst mag zwei Meter groß sein, usw. Nach und nach hat der Name seinen semantischen Inhalt verloren: Dies hat auf dem grammatischen Gebiet der Sprachforscher und Philosoph Saul Kripke mit der berühmten Theorie des »starren Designators« deutlich erklärt7 (wohingegen bisher in der klassischen Eigennamentheorie, z. B. bei Frege, Russell oder Wittgenstein, die Beschreibungen und der semantische Gehalt konstitutiv waren). Umgekehrt scheint Jean-Cécile Frey zu denken, der Name habe eine wirkliche Bedeutung: Qualis fuit Bassompierreus (Marschall von Bassompierre war eine Hauptfigur der königlichen Armee). Wie hat er sich benommen? – Aereus / pierreus (als ein eiserner Mann / als ein Mensch aus Stein). Qualis fuit Buckinganus (der berühmte General, der die englischen Hilfstruppen an6  Jean-Cécile Frey, Echo rupellana Jani Cæcili Frey, Paris, Denis Langlois, 1628, S. 6–14. 7  Saul A. Kripke, Naming and Necessity, Harvard University Press, 1980 (Deutsche Übersetzung: Name und Notwendigkeit, aus dem Englischen von Ursula Wolf, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 2005). In Anschluss an ihn haben manche Forscher dieses Problem bearbeitet: bgl. z. B. Marie-Noëlle Gary-Prieur, Grammaire du nom propre. Paris, PUF coll. »Linguistique nouvelle«, 1994; Paul Siblot, »De la signifiance du nom propre«, Cahiers de praxématique n°8, 1987, S. 97–114; Kirstin Jonasson, Le Nom propre. Constructions et interprétations, Louvain-la-Neuve, Duculot, 1994.

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führte und nach einer Schlacht auf der Ile de Ré mit Schimpf und Schande nach England fliehen musste)? – Anus (er hat sich wie eine alte Frau verhalten – und man kann sogar eine andere Bedeutung ahnen, die noch weniger anständig wäre!). Der Echo-Effekt hat hier mit einem Schicksal zu tun, das schon im Voraus besiegelt ist, und das nur einer realisieren mag. Der einzige Grund, weshalb die ganze Ahnenreihe der Bassompierre oder der Buckingham existierte, besteht darin, dass der letzte der Linie das Programm vollenden könnte, das im Namen sozusagen einbegriffen ist! Eine ähnliche Anschauung findet man auch bei den Schriftstellern, die für Anagrammspiele schwärmen. Zum Beispiel hat Hilaire Soulas8 eine vollständige Sammlung nach dieser Methode veröffentlicht. Natürlich könnten wir uns damit begnügen, die Virtuosität zu schätzen, und Soulas hat tatsächlich eine merkwürdige Erfindungsgabe – obgleich seine Anagramme nicht immer ganz perfekt gebaut sind: Ein Buchstabe mehr oder weniger ist aber kein echtes Problem und soll nicht als eine zu große Ungeschicklichkeit bestraft werden. Wenn man das Anagrammspiel überfliegt, muss man den Eindruck gewinnen, dass es genau geschrieben ist. Die richtige Frage dabei wäre diejenige nach der Ideologie, die sich dahinter versteckt. Francis Goyet9 zieht eine Parallele zwischen Anagramm und Syllogismus: Diese literarische Gattung hat tatsächlich zum Ziel, etwas zu beweisen. Goyet ist aber der Meinung, dass der Schriftsteller sich damit begnügen soll, nur ein Anagramm pro Eigenname zu komponieren: Sonst würde die Beweisführung an Wirksamkeit verlieren. Im Gegenteil scheint hier Soulas zu glauben, dass der Eigenname eine unerschöpfliche Quelle ist: RICHELIEU. Cheri du Ciel Je tüe l’Hidre. ARMAND JEAN DU PLESSIS. Manne issüe de Paradis. (…) ARMAND JEAN DU PLESSIS. Rien plus amand des Lys. Puissant dedans la Mer. Il rend Privas sans ame. Demandant il a pris Suse. Sa main rüine des Alpes. 8  Hilaire Soulas, Anagrammes sur les noms du Roy, de la Reyne, de Mr. le Cardinal duc de Richelieu, de Mr le Cardinal de Lyon, & de Monsieur l’Evesque de Poictiers. Poitiers, veuve Antoine Menier, 1630, S. 7–8. 9  Francis Goyet, »La preuve par l’anagramme. L’anagramme comme lieu propre au genre démonstratif«, Poétique 46, 1981, S. 229–246.



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ARMAND JEAN DU PLESSIS DE RICHELIEU. Il [a] desarmé l’hideus aspic de venin. Il a chassé l’ennemi de Dieu de Privas. Phare né du Ciel vrais (sic!) amand des Lis. Il chassera du Païs l’ennemi de Dieu.

Im Namen Richelieu (entweder kurz oder lang gemeint:«Richelieu / Armand Jean du Plessis / Armand Jean du Plessis de Richelieu») sind schon im Voraus alle Siege einbegriffen; der Name soll alle Episoden der militärischen Karriere anzeigen: die Belagerung von La Rochelle, die Eroberung von Privas, die Erstürmung von Suze, den Übergang über die Alpen, usw. Der Name ist also eine ideale Zusammenfassung aller Eigenschaften des Mannes Richelieu: Er ist dem Königtum treu (»Rien plus amand des lys«), als Kardinal ist er natürlich fromm und deshalb vom Himmel geliebt (»Cheri du Ciel«), was ihn fast zu einem zweiten Erlöser macht (»Manne issue de Paradis«). Wenn man jetzt den Namen Richelieu hört, muss man auf einmal alle diese Aspekte betrachten: Durch das literarische Spiel hat plötzlich der Eigenname ein neues Gewicht gewonnen – und das entspricht ganz genau dem alten rhetorischen Sinn des Begriffs emphasis: ein Wort, das besonders entwicklungsfähig ist10. Man sieht auch, dass das Anagrammspiel – wenn es ernst gemeint ist – einer deterministischen Ideologie entspricht: Wie wir es schon bei dem Echo-Gedicht festgestellt haben, ist die Logik des Eigennamens umgekehrt. Alle Vorfahren Richelieus haben nur gelebt, um den Erfolg des Letzten des Namens vorzubereiten: nur er hat La Rochelle erobert, er nur hat in Privas gesiegt, er nur hat das Programm des Namens wirklich gefüllt. Als letzter der Reihe, und nicht als erster. Wir können noch hinzufügen, dass die förmliche Entwicklung des Namens, mit allen aristokratischen Titeln, eine besondere Bedeutung gewinnt (sogar eine symbolische Bedeutung): Je länger der Name, desto außergewöhnlicher das Schicksal des Menschen. Mit den Buchstaben wächst die Zahl der Kombinationen und der Möglichkeiten, die vielfältigen Vorzüge des Gelobten hervorzu­heben. 10  Siehe L’emphase, entre copia et brevitas, XVIe-XVIIe siècles, hg. von Mathilde Levesque und Olivier Pédeflous, Paris 2009. Charles Vialart, der Bischof von Avranches war und sich auch um Rhetorik kümmerte, erklärt, dass das Anagramm eine Technik der amplificatio sein kann: »Le second lieu d’où on tire des raisons pour amplifier, n’est pas de si grande importance, & neantmoins il ne le faut pas negliger. C’est le nom mesme de la chose dont il s’agit. Car il y a de gentilles remarques à faire quelquefois sur les noms, particulierement lors qu’ils sont donnez avec quelque cause en rapportant les Ethimologies, ou bien les anagram[m]es, qui ne sont pas une invention nouvelle, puis qu’elles ont esté en usage chez les Egyptiens, & parmy les Grecs, il y a un long cours d’années.«, Tableau de l’éloquence françoise, où se voit la maniere de bien escrire. Paris 1632, S. 213.

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Die Etymologie (als rhetorischer locus) kann natürlich auch als ein dichterisches Mittel verwendet werden: Das haben wir schon bei Jean-Cécile Frey gespürt, aber es soll dank der folgenden Verse von Chézard de Matel noch deutlicher erscheinen: Et que son nom pris dans les armes ARMAND soit dans nos estendards Au fort des plus chaudes alarmes L’Oriflambe de nos Soudards11.

Hier klingt der Name als ein wirklicher Versammlungs- oder gar Schlachtruf, gemäß einer vermeintlichen Etymologie: Armand wäre eine Abkürzung von Armandum est («zu den Waffen!»). Einigermaßen ist der Name ebenso wirksam wie die Person selbst, weil er dem Schicksal des großen Hauptmanns völlig entspricht. Hier haben wir es mit einer sehr konkreten Dichtung zu tun, die eine allegorische Entwicklung erlaubt und das alte Ideal Ut Pictura Poesis vollkommen illustriert. Ich möchte diese Überlegung über Determinismus etwas fortführen, und ein paar Worte den Titeln und Übernamen widmen. Jeder weiß natürlich, dass alle Könige grundsätzlich »groß« sind. Um sich den Beinamen »der Große« zu erobern, muss dann ein König wirklich »sehr groß« sein, sonst gibt es keinen Unterschied zu den anderen! In Frankreich ist es nur zweimal geschehen: Nach dem Kaiser Carolus Magnus haben nur Heinrich IV. und Ludwig XIV. diesen Titel erworben. Es kommt zwar öfter vor, dass die Dichter Ludwig XIII. auch »den Großen« nennen, aber das hat die Geschichte nicht im Gedächtnis behalten. Für die Historiker sowie für seine Zeitgenossen ist Ludwig XIII. »Louis le Juste« (»der Gerechte«). Es muss angemerkt werden, dass ihm dieser Beiname gegeben wurde, als er noch ein Kind war und noch keine wirkliche Gelegenheit gehabt hatte, zu beweisen, ob er wirklich gerecht war oder nicht. Am Ende der Belagerung von La Rochelle musste er sich entscheiden: Sollte er den Rebellen verzeihen, oder nicht? Der König hatte schon die Jahre 1622 / 23 in Südfrankreich verbracht, um die Protestanten zu bekriegen, aber ohne großen Erfolg. Die Stadt Montauban hatte er nie erstürmen können. Nach dem Sieg in La Rochelle war er in einer günstigeren Lage, und es war Zeit für eine Versöhnung. So entschied er sich für das Verzeihen. Diese Strategie haben aber seine Zeitgenossen überhaupt nicht verstanden. Dieser König hieß doch »Ludwig der Gerechte«, und die Gerechtigkeit forderte, dass die Majestätsbeleidigung schwer bestraft würde. Die Verbrecher waren des Todes würdig – nach dem alten Recht gab es keine andere 11  Jean Chézard de Matel, Les Louanges Guerrieres de Monseigneur le Cardinal de Richelieu, Paris 1629,  4.



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Lösung. Canaye, de Ruelle und Fronton du Duc12 fragen sich, ob man den richtigen Beinamen gewählt hatte, und ob »Louis le Clément« (»Ludwig der Gnädige«) nicht geeigneter gewesen wäre: C’est ce qu’ils doivent à sa Bonté, à laquelle ils seront ingrats tandis qu’ils demeureront seuls à recognoistre un benefice, qui luy est en quelque façon prejudiciable, luy ostant le nom de JUSTE, vray est qu’il le change en celuy de TRESCLEMENT13.

Fronton du Duc entfaltet sogar eine allegorische Auseinandersetzung zwischen Gerechtigkeit und Gnade. Natürlich ist schließlich die Gerechtigkeit der Sieger, aber man fühlt deutlich, dass der Autor nicht ganz einverstanden ist. Wir müssen uns daran erinnern, dass mindestens drei Viertel der Bevölkerung der Stadt La Rochelle während der Belagerung an Hunger oder Krankheit gestorben waren – diese Literatur riecht wirklich nach Blut! Wie dem auch sei, man muss auf solche Beinamen besonders achten. Jedes Mal, wenn wir das Adjektiv oder das Adverb gerecht in einem Text treffen, können wir sicher sein, dass der König andeutungsweise gelobt wird und dass dieses Wort ein »Stellvertreter« oder ein Merkmal des Eigennamens ist. Zum Schluss möchte ich noch von einem letzten Gebrauch des Eigennamens sprechen, und zwar von der Antonomasie. Diese rhetorische Figur ist mit der amplificatio eng verbunden, wenn es auch in den theoretischen Texten nicht immer ausdrücklich steht. In seiner Analyse der amplificatio erwähnt aber Quintilian die Kategorie des Vergleichs (comparatio)14. Er fügt noch hinzu, dass es sich unbedingt um eine comparatio a minore handelt. Wenn man die Größe eines Königs unterstreichen will – unterstreichen ist das beste Wort, um die klassische Theorie der amplificatio verstehen zu können – muss man ihn mit einem geringen König oder einer niedrigen Person vergleichen. In der offiziellen Dichtung sind zahlreiche Antonomasien zu finden, die als ein mögliches Hilfsmittel oder eine Versetzung dieser rhetorischen Technik zu lesen sind. Wenn Harlay de Champvallon folgende Verse15 schreibt: 12  Jean Canaye, Eloge du Roy; Victorieux & Triomphant de La Rochelle, Paris, Sébastien Cramoisy, 1629; Le Sieur de Ruelle, Remonstrance aux Rochelois sur l’obeissance qu’ils doivent au Roy. Paris 1628; Jean [Fronton] du Duc, La Rochelle Souz-mise, Bordeaux, 1629. 13  Jean Canaye, op. cit., 31. 14  »Quattuor tamen maxime generibus video constare amplificationem, incremento, comparatione, ratiocinatione, congerie. (…) Verum ut hæc amplificatio ›i. e., per incrementum‹ in superiora tendit, ita quæ fit per comparationem incrementum ex minoribus petit. Augendo enim quod est infra necesse est extollat id quod superpositum est (…)«: Marcus Fabius Quintilianus, Institutio Oratoria, VIII, 4 (»De amplificatione«), § 3 und 9. 15  [Achille de Harlay de Champvallon, Marquis de Breval], Au Roy, Sur la Prise de La Rochelle, Paris 1628, 4.

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Parmy les accidens d’une telle advanture, Quand chacun se laissoit toucher de la douleur, Nostre Grand Richelieu, ce sage Palinure, Changea-t-il de couleur? En vain les factieux esperoient qu’une ville Empescheroit les Lys de voir le Siecle d’or: Car qu’est-ce que ne peut le cœur de nostre Achille Conduict par son Nestor?

vergleicht er Richelieu mit dem »weisen Palinurus«, einer bekannten Figur der Aeneis. Aeneas’ Steuermann jedoch musste scheitern (er fiel ins Wasser und ertrank), während Richelieu »groß« und deshalb immer erfolgreich ist. In der nächsten Strophe wird Richelieu mit Nestor verglichen (während eine Parallele zwischen Achilles und dem König Ludwig XIII. gezogen wird). Der Leser könnte natürlich glauben, dass Richelieu und Nestor auf der gleichen Ebene stehen – dennoch weiß ein jeder, dass Nestor ein Greis war, so dass die Weisheit bei dem 43-jährigen Richelieu noch merkwürdiger vorkommt; Achilles war sicherlich der größte Held des Trojanischen Kriegs, aber er ist nach Patroklos’ Tod ein einsamer und scheuer Mensch. Ludwig XIII. wird im Gegenteil von seinem Volk geliebt, was das besitzanzeigende »nostre Achille« diskret unterstreicht. Beide bilden ein vollkommenes Paar: Der Minister ist noch weiser als Palinurus und Nestor zusammen, und der Rangordnung gemäß bleibt natürlich der König der richtige Held. Ihnen ist also keine Kriegstat unmöglich, was die Syntax der rhetorischen Frage uns spüren lässt. Für die Helden sind die Wege zum Ruhm breit und frei! Im Grunde genommen ist dieser Rückgriff auf die Antonomasie dem Anagrammspiel manchmal sehr ähnlich, insofern das Letztere auch mit dem Vergleich zu tun haben mag (z. B. enthält schon das Anagramm »Je tue L’hydre« (»Ich töte die Hydra«) einen Vergleich zwischen Richelieu und Herkules). Der Unterschied besteht darin, dass dieser Vergleich beim Anagramm gelegentlich vorkommt und implizit bleibt, während er bei der Antonomasie automatisch und explizit erscheint. Wir können feststellen, dass manche Gedichte ganze Reihen von Antonomasien bieten: Lors ce grand Cardinal, ce Nestor, ce Cinee, Cet Acathe fidele à nostre juste Ænée, Qui porte en son esprit les conseils de son Roy (…) Qu’on ne me parle plus de la Digue de Tyr, Quand le grand Pelean l[a] voulut investir: Celle de nostre Roy passe autant l’ancienne, Que la vage Ocean la rade Tyrienne16. 16  Jean Heudon, La Théoclée sur les Victoires du Roy, et prise de La Rochelle, par Me Jean Heudon, Advocat en la Cour, Paris 1628,  9 und 12.



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In diesem Fall hat auch die Antonomasie nicht nur mit der comparatio zu tun, sondern auch mit der gradatio (Stufenfolge) oder mit der congeries (Anhäufung), also mit anderen Formen der amplificatio, die Quintilian auch erwähnt. Also benutzt man verschiedene Techniken zusammen, was be­sonders auffällig vorkommt und deshalb häufig den edleren literarischen Gattungen vorbehalten bleibt. Dies findet man nämlich in den großen Oden – Malherbe selbst verfasste ein Gedicht über La Rochelle im Jahre 162717 – oder selbstverständlich im Epos (hier soll angemerkt werden, dass die Form des Epos nach und nach das Hauptmodell wird, je mehr man sich vom Jahre 1628 und vom Konflikt selbst entfernt: die Dichter haben natürlich etwas mehr Zeit, um ihre Texte zu vervollkommnen!18). Wenn man ein solch umfangreiches Korpus entdeckt, gewinnt man leicht die Überzeugung, dass es wirklich schade wäre, diese Literatur länger außer Acht zu lassen. Ich weiß nicht, ob alle Dichter sich Lorbeeren erworben haben, aber es besteht kein Zweifel, dass wir von dieser reichen Produktion viel lernen können. Vielleicht weniger über die historischen Ereignisse (dafür haben wir bessere Quellen), als über die uns heute so seltsam erscheinende Mentalität der Menschen des 17. Jahrhunderts.

17  François de Malherbe, Pour le Roy allant chastier la Rebellion des Rochelois, et chasser les Anglois qui en leur faveur estoient descendus en l’Isle de Ré. Ode, 1627. 18  Ein gutes Beispiel dafür wäre das Heldengedicht von Samuel Martin, La Rochelle au Roy Tres-chrestien Louis le Juste, Paris, 1634, das also sechs Jahre nach dem Ende des Konflikts veröffentlicht wurde.

Artige Schmeichelei oder schuldige Höflichkeit? Komplimentieren im 17. und 18. Jahrhundert Von Cathrin Hesselink Im 17. und 18. Jahrhundert wurden zu wiederkehrenden Feiertagen, besonderen Einschnitten im Jahres- und Lebenslauf sowie in alltäglichen Situationen Komplimente ausgetauscht. Zu diesen im höflichen Umgang obligaten Äußerungen gehören beispielsweise Neujahrskomplimente, Komplimente zur Geburt, Kondolenzkomplimente, aber auch solche Komplimente, die bei alltäglichen Begegnungen auf der Straße oder bei einer Tanzveranstaltung ausgetauscht wurden. Die Komplimente waren in der frühen Neuzeit vielfacher Kritik ausgesetzt. Ein vielgenannter Ablehnungsgrund dieser vorwiegend mündlichen Äußerungen ist ihr fehlender oder stark eingeschränkter Wahrheitsgehalt. So erklärt Christoph Schorer 1643 in seinem Vnartig Teutschen Sprach-Verderber Dann Complementen ist soviel als gepräng (gut teutsch /   Auffschneiderey /   Betrug /   Heucheley / ) […] Also solche heutige Auffschneidereyen /   wie schön sie äusserlichen thon nach lautten /   sind im Hertzen doch nicht eines Drecks werth […] Was erlogen ist /   das muß mit Complimenten gezieret werden. Vnd was mit Complimenten gezieret ist daß ist erlogen. […] Vor dieser Zeit ist alles getrew vnd ohne gefehrt zu gangen /   Ja war ja /   vnd Nein war nein /   jetzunder machet man so viel Wort /   vnd ist doch nichts dahinter.1

Schorers Kritik betrifft das aus Frankreich importierte Komplimentier­ wesen, das im 17. Jahrhundert den kommunikativen Umgang deutscher Oberschichten maßgeblich geprägt hat. Es ist Teil des elitären höflichen Umgangs und sieht sich mit der Natürlichkeitsforderung konfrontiert, die besonders seit dem 18. Jahrhundert an den Umgang gestellt wurde.2 Wurde bereits im 17. Jahrhundert besonders von lutherischen Geistlichen Kritik 1  Christoph

11.

Schorer, Vnartig Teutschen Sprach-Verderber, o. O., 1643, 4–6 und

2  Vgl. Thomas Hübel, »Der erlaubte und der geforderte Schein. Aporien der Höflichkeitskonzepte bei Immanuel Kant und Rudolph von Jhering«, Brigitte Felderer / Thomas Macho (Hg.), Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München 2002, 143–154, hier 143.

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gegen den Schein des Umgangs geäußert, so verstärkte sich im 18. Jahrhundert die Ablehnung. Nun galt es allgemein als Kälte und nicht mehr als positive Selbstdarstellung, sich höflich zu verstellen.3 Als zentrale verbale Ausdrucksform von Höflichkeit ist das Komplimentierwesen Teil dieses Diskurses. Wie sich Komplimentierbücher und andere Komplimentieranleitungen in diesen Zusammenhang positionieren, ob und inwiefern sie als Anleitungen zum kritisierten Verhalten auf Argumente und Forderungen der Komplimentiergegner eingehen und wie natürlich und ehrlich die Komplimentierbeispiele einzuschätzen sind, soll im Folgenden untersucht werden. Am Grad des Einbezugs der ablehnenden Argumente kann auch ihre Kraft im öffentlichen Diskurs erahnt werden. Es ist dabei davon auszugehen, dass die Gegenargumente erst ab einem gewissen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung in den Komplimentieranleitungen Eingang fanden. Um die Kritik am Kompliment einordnen zu können, muss bedacht werden, dass der Begriff »Kompliment« einem Bedeutungswandel unterlegen ist. Denkt man an das heutige Kompliment, kann die Diskussion um das frühmoderne Komplimentieren nur unzureichend erfasst werden.4 Daher wird zunächst die Begriffsnutzung im 17. Jahrhundert geklärt, um dann zum Hauptanliegen überzuleiten: der Untersuchung der Authentizität von Komplimentierbeispielen und des Natürlichkeitsdiskurses innerhalb des Komplimentierwesens. Beispiele für frühmodernes Komplimentieren sind heute vor allem in der zu solchem verbalen Verhalten anleitenden Gattung der Komplimentier­ bücher erhalten. Komplimentierbücher erschienen vom 17. Jahrhundert bis um 1900, heute sind allein weit über 40 Exemplare mit Nennung des Gattungsnamens im Titel nachweisbar, viele weitere müssen als verloren gel3  Vgl. Helmut Lethen / Caroline Sommerfeld, »Schein zivilisiert«, Brigitte Felderer / Thomas Macho (Hg.), Höflichkeit. Aktualität und Genese von Umgangsformen, München 2002, 155–173, hier 160 f. 4  Eine Debatte um das Weiterleben des frühmodernen Kompliments im heutigen Kompliment führten Manfred Beetz und Karl-Heinz Göttert. Beetz betont in seinem Beitrag »Komplimentierverhalten im Barock« eine Relation der Anstandstradition des 17. und 18. Jahrhunderts mit der modernen Höflichkeitsauffassung. Er legt damit die von ihm später wieder relativierte und von Göttert kritisierte Auffassung nahe, dass die heutigen Komplimente Aufschlüsse über ihre frühmodernen Namensvettern ermöglichten. Göttert hingegen betont, dass die Aufklärung dem Komplimentieren im frühmodernen Sinn ein definitives Ende beschert habe. Vgl. Manfred Beetz, »Komplimentierverhalten im Barock. Aspekte linguistischer Pragmatik an einem literarhistorischen Gegenstandsbereich«, Wolfgang Frier (Hg.), Pragmatik, Theorie und Praxis, Amsterdam 1981, 135–181 und Karl-Heinz Göttert, »Legitimation für das Kompliment. Zu den Aufgaben einer historischen Kommunikationsbetrachtung«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, LXI (1987), 189–205.



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ten.5 Ihre Wurzeln sind sowohl in der Tradition der Rhetorik als auch in der der Verhaltenslehren zu finden. Je nachdem, welchen Schwerpunkt die zum mündlichen Kompliment anleitenden Werke bilden, können sie, jedoch selten trennscharf, den Komplimentierrhetoriken oder den Komplimentier- und Sittenbüchern zugehörig bezeichnet werden.6 Beide Formen sind didaktisierte Anleitungen zum Umgang, deren Fokus bis etwa 1830 auf dem verbalen Verhalten in Form von Komplimenten liegt. Im 19. Jahrhundert verselbstständigt sich der Gattungsbegriff, die Komplimentanleitungen verschwinden aus den Werken und übrig bleiben reine Anstandslehren. Doch die früheren Exemplare der Gattung erfüllen ihr titelgebendes Versprechen und leiten mit Exempeln und theoretischen Texten zum Komplimentieren an. Ergänzt werden diese Anleitungen zuweilen um Titularbücher, die über angemessene Anreden informieren, Tranchierbücher, die die Vorschneidekunst erläutern und Sammlungen von Redewendungen, die zur Auflockerung und zum Vergnügen ins Gespräch eingestreut werden können. Das erste uns bekannte so genannte Komplimentierbuch in deutscher Sprache trägt den Titel Ethica Complementoria Complementier=Büchlein und wurde zunächst anonym veröffentlicht. Der durch seine besonders hohe Produktion hervortretende Autor Georg Greflinger ist ab 1656 als Bearbei­ ter angegeben. Das in der Erstauflage 94 Seiten umfassende Buch ist mit 45 nachgewiesenen Auflagen das erfolgreichste Komplimentierbuch deutscher Sprache. Sein Erscheinungszeitraum erstreckt sich von 1643 bis 1727. Es lassen sich nur geringe Veränderungen in diesem Zeitraum erkennen. Variabler dagegen sind die Beifügungen. Späteren Auflagen werden ein Trenchierbuch,7 eine Sammlung von Züchtigen Tisch- und Leberreimen8 5  Dies legt die Anzahl der nicht mehr nachweisbaren Auflagen nahe. So nennt zum Beispiel J. J. Alberti die uns als fünfte bekannte Auflage von 1843 die 14. Auflage des Neusten Complimentierbuchs. Neben den Komplimentierbüchern mit dem Gattungsnamen im Titel gibt es noch weitere Werke, die zur Gattung zu zählen sind. Dies ist der Fall wenn das Hauptziel oder eines der Hauptziele die Komplimentieranleitung ist. Hierzu gehört zum Beispiel: Johann Hieronymus Lochner, Kunst zu reden in gemeinem Umgang oder Gründliche Anleitung Complimenten […] fertig abzulegen. Nürnberg 1730. 6  Vgl. Manfred Beetz, Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeutschen Sprachraum, Stuttgart 1990, 57–71. 7  Anonym, »Complementier-Büchlein. darinn eine Richtige Art abgebildet wird /   wie man so wol mit hohen /   als mit nidrigen Persohnen /   auch bey Gesellschafften vnd Frawen=Zimmer hoffzierlich reden vnd vmbgehen sol. vermehret Dabey ein Anhang Etlicher Alamodischer Damen Sprich=wörter«, Georg Greflinger, Cochleatio novissima. Das ist /   Ware Abbildung der heut zu Tag zu viel vblicher Kunst der Löfflerey. Liebstadt (fing. Druckort) 1648, 194–321. 8  Anonym, Ethica Complementoria, Das ist: Complementir-Büchlein, in welchem enthalten, eine richtige Art, wie man sowol mit hohen als nidrigen Standes-Personen, Bei Gesellschafften und Frauen-Zimmer hoffzierlich reden und umbgehen solle.

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und Etliche alamodische Damen-Sprichwörter9 angehängt. Im Vorwort erfährt der Leser die angebliche Vorgeschichte des Druckes. Bereits vor dem Druck kursierte das Werk in handschriftlicher Form, so der anonyme Autor im Jahr 1643. Da es so beliebt sei, aber das Abschreiben so mühevoll, habe er sich der Drucklegung angenommen.10 Dem Titel zufolge ist das Komplimentierbuch ein Werk, in dem der Leser sich über den Umgang mit unterschiedlichen Menschen informieren kann. Die Begegnung mit Personen von hohem Stand, von niedrigerem Stand und auch den angemessenen Kontakt mit Frauen soll der Leser hier lernen können. Das titelgebende Versprechen wird im Werk weitgehend eingelöst. Die Ethica Complementoria bietet dem Leser eine theoretische Anleitung und viele anwendungsbezogene Tipps, aber nur wenige, unvollständige und in indirekter Rede gehaltene Komplimentbeispiele, an denen sich der Leser bei seiner eigenen Produktion orientieren kann. Die Erläuterungen zum Kompliment sind gespickt mit Schwänken und »gelehrten Discursen«11. Auflockernde Exkurse empfiehlt das Büchlein übrigens auch seinen Lesern für die eigenen Konversationen, wie die Komplimentdefinition im Nebensatz zeigt: Vnd heisset Complementum oder complementiren, höffliche zierliche Geberden /   Reden und Thaten bey Leuten führen /   mit geschickten Sachen angefüllet /   Sich und anderen damit zu nützen und zu belüstigen.12

Allgemein gehalten ist Komplimentieren dieser Erläuterung nach eine Äußerung oder eine Geste oder sogar eine Tat, die durch Historien und Diskurse ergänzt und aufgelockert wird. Ein Kompliment soll nützlich und angenehm sein für den Rezipienten, aber auch für den Handelnden selbst. Der Nutzen für den Komplimentierenden ist auf zwei Ebenen zu finden. Zum Einen wird die Umgangsatmosphäre für Angesprochenen und Sprecher verbessert. Zum Anderen beweist der Sprecher, dass er die Anforderungen der Höflichkeit kennt und zu erfüllen vermag. Damit signalisiert er einen gewissen Status. Die Ethica Complementoria ist aufgrund des weiten BlickEnth. außerdem: Euphrosinen von Sittenbach Züchtige Tisch- und Leber-Reimen, An jhre Gespielinnen. Neues TrenchirBüchlein Wie man rechter Art und itzigen Gebrauch nach, allerhand Speisen ordentlich auf die Tafel sezen, zierlich zerschneiden und vorlegen, auch artlich wiederum abheben soll, [Hamburg] 1660. 9  Anonym, Complementier-Büchlein. darin eine Richtige Art abgebildet wird /   wie man so wol mit hohen als niedrigen Persohnen /   auch bey Gesellschafften und Frauen-Zimmer hofzierlich reden vnd umb gehen sol. vermehret. Dabey ein Anhang Etlicher Alamodischer Damen Sprichwörter, Hamburg 1647. 10  Vgl. Anonym, Ethica Complementoria Complementier=Büchlein, Nürnberg 1643, Vorwort, unpag. 11  Anonym, Ethica Complementoria (1643), unpag. 12  Anonym, Ethica Complementoria (1643), unpag.



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feldes, der häufigen Anmerkungen zum allgemeinen Verhalten und der vergleichsweise geringen Fokussierung auf rhetorische Ausgestaltung des Kompliments als Komplimentier- und Sittenbuch einzuordnen. Christian Weise dagegen positioniert das Komplimentierwesen wesentlich deutlicher im Rhetorikdiskurs. Rhetorisches Grundlagenwissen und praktische Erfahrungen sind für Weise wichtige Voraussetzungen für gewandtes Verhalten in Gesellschaft und für das einem Höflichen obligate Komplimentieren. In der zweiten Abteilung des Politischen Redners, die sich wie die Überschrift mitteilt, auf die »Vbung mit den Complimenten«13 konzentriert, bettet Weise seine Anweisung zum Komplimentieren in einen rhetorischen Kontext ein. Neben der Adressierung an den Hofmeister wird dies durch die gesamte Anlage des Politischen Redners angezeigt. Weise beginnt sein Werk mit einer Abteilung zu den »Schul=Reden«, die er für grundlegend für die Ausbildung des politischen Redners hält. Für die Ausarbeitung von Komplimenten zu weitläufigeren bürgerlichen Reden verweist er ebenfalls auf die »Schul=Reden«.14 Für alle Komplimente führt der Autor ein Dispositionsschema ein, das dem Höflichen erlauben soll, eigenständig dem Anlass entsprechende Komplimente zu formulieren. Ein regelgerechtes Kompliment besteht nach Weises dispositio aus drei Teilen. Das Redeziel, der Anlass oder die auszuführende Sprechhandlung wie »gratulieren« oder »kondolieren« wird in der propositio genannt. Bei Bedarf kann an dieser Stelle als Untergliederung der propositio die kurze Reden gliedernde Chrie genutzt werden.15 Das Kernstück des Kompliments liegt in der insinuatio, der »artigen Schmeicheley /   darmit die Sache recommandirt, und der andern Person ihre Gewogenheit gewonnen wird.«16 Insinuation kann über verschiedene Mittel, wie Lob, die Nennung des richtigen Titels des Angesprochenen, das Sprechen von zukünftigem oder aktuellem Glück sowie der Schaffung einer freundschaftlichen Atmosphäre erreicht werden.17 Schließlich verabschiedet sich der Redner insinuierend, indem er gute Wünsche und seine Dienstergebenheit ausdrückt.18 Die einzelnen Teile können je nach Anlass unterschiedlich platziert werden. Die insinuatio wird im Politischen Redner, anders als in der humanistischen Rhetorik, nicht mehr verschämt verborgen, sondern prononciert geäußert. 13  Christian Weise, Politischer Redner, Kronberg 1974 (Reproduktion von Leipzig 1683), S. 161–434. 14  Weise, Politischer Redner, 439. 15  Vgl. Weise, Politischer Redner, 181. Auf die in der Forschung gelegentlich vertretene Auffassung, Weise beschreibe den Komplimentaufbau insgesamt als eine Chrie, konnte ich keinen Hinweis finden. 16  Weise, Politischer Redner, 182 f. 17  Vgl. Weise, Politischer Redner, 182–205. 18  Vgl. Weise, Politischer Redner, 169.

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Weise nennt drei Formen des Vorkommens eines so gegliederten Kompliments: als eigenständige Kurzrede,19 innerhalb von Reden20 und innerhalb von Gesprächen.21 Komplimente können somit als Mikro-Elemente verstanden werden, die sowohl autonom als auch im Kommunikationsrahmen der Rede und der Konversation angebracht werden können.22 Das Gespräch weist unter diesen drei Anwendungsmöglichkeiten eine Besonderheit auf. In ihm treffen durch die Verwendung des Dispositionsschemas für das Kompliment zwei entgegengesetzte Ziele aufeinander: Die Geplantheit des Kompliments stößt an die Vorstellung von freiem Gespräch. Christian Hunold spricht sich in diesem Zusammenhang wie viele andere Kritiker gegen eine pedantische und starr regelgeleitete Nutzung der Komplimente aus.23 Im Politischen Redner von 1683 erläutert Weise neben der dispositio und den Einsatzmöglichkeiten auch den Zweck und die Seinsweise der Komplimente: »Complimenten sind dergleichen Reden /   damit in der Conversation, der Mangel würcklicher Auffwartung gleichsam ersetzet und vollgefüllet wird.«24 Gegenüber der Definition in der Ethica Complementoria ist die Gestik und sind die »Thaten« in den Hintergrund gerückt, die Rede ersetzt nun beides, sogar wenn »ein Mangel würcklicher Auffwartung«25 vorliegt. Wirkliche Taten, Geschenke oder »Dienste« sind substituierbar durch Komplimente, so kann der freundschaftliche Umgang entlastet werden von aufwendigen Beweisen der Zuneigung. Die Komplimente erfordern weniger Anstrengung und Investition, sind daher weit verbreitet, um eine gute Beziehung zum Rezipienten anzuzeigen. Eine Rückübersetzung von Komplimenten in eine reale Tat, also in eine tatsächliche Diensterweisung, ist dagegen eine seltene Ausnahme. Diese Tatsache gilt auch als Angriffspunkt der Kritiker. Form einer »continuirlichen Rede«, Weise, Politischer Redner, 218. pflegt bißweilen dergleichen Vortrag [von Komplimenten, C. H.] in eine weitläufftige Oration gleichsam eingewickelt zu werden.« Weise, Politischer Redner, 439. 21  »Hingegen etliche Conversations-Complimenten in einer offt wiederholten Red und Antwort bestehen«, Weise, Politischer Redner, 218. 22  Vgl. auch Johann Andreas Fabricius: Philosophische Oratorie, Kronberg 1974, (Reproduktion von Leipzig 1724), 410. Er sieht in Komplimenten sowohl eigenständige Kurzreden als auch Elemente, die in Gesprächen eingeflochten werden können. 23  Vgl. Christian Hunold, Die Manier Höflich und wohl zu Reden und Leben, Hamburg 1730, 12–17. Vgl. zu den vorangegangenen Ausführungen zur Rhetoriktradition im Komplimentierdiskurs auch Cathrin Hesselink, »Der Zusammenfall von Rhetoriktradition und Gesellschaftsethik in den Komplimentierbüchern des 17. Jahrhunderts«, Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 2012 hrsg. von Manfred Beetz, 47–60. 24  Weise, Politischer Redner, 161. 25  Weise, Politischer Redner, 161. 19  In

20  »Doch



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Beispiele für Komplimente liefert der Rhetoriklehrer Weise seinem handlungsorientierten Anspruch gemäß reichlich. Dabei lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: Zum einen gibt Weise im Politischen Redner verschiedene Komplimentbeispiele zu bestimmten Anlässen, wie Namenstag, Überreichung eines Geschenks oder auch nur allgemeiner Empfehlung. Diese Exempel finden sich sowohl in Form von mündlichen Komplimenten als auch in Form von Komplimentierbriefen. Zum anderen ist im Politischen Redner die Complimentier-Comödie eingefügt,26 die die Schüler vor allem mit Blick auf begleitende Gestik und die Situationsgebundenheit der Komplimente zu Übungszwecken aufführen sollten. Hierin finden sich fast ausschließlich in den Dialog sich einfügende Komplimente und Komplimentierversatzstücke. Die Komplimente sollen nun laut Weises Anleitung nach einem festgelegten, an antike Rhetoriktradition anknüpfenden Schema aufgebaut werden. Es finden sich im Vergleich der einzelnen Beispiele neben Gemeinsamkeiten im Aufbau auch Ähnlichkeiten in Wortverbindungen einzelner Komplimente. All das weist zusätzlich zur schon bekannten theoretischen dispositio auf einen gewissen Grad der Ritualisierung oder Routinisierung dieser Äußerungen hin und widerstrebt einem vollkommen flexiblen, individuellen und aufrichtigen Umgang. Komplimente sind, um die Begriffsinventur abzuschließen, »Interaktionsri­ tuale«27, die mit freundlichen, ehrerbietenden Worten dem Gesprächspartner ein Wohlwollen, eine allgemeine Einstellung der Gunst und der Verpflichtung signalisieren sollen. Sie werden sowohl in feierlichen als auch in alltäglichen Situationen ausgetauscht. Eine Komplimentantwort ist dabei obligatorisch. Daneben finden sich zu ganzen Gesprächen erweiterte Komplimentwechsel, sogenannte Komplimentierkonversationen. Kennzeichnend ist aber vor allem, und darauf soll noch näher eingegangen werden, dass beim Komplimentieren der Beziehungsaspekt den Inhaltsaspekt überlagert.28 Grundsätzlich ist die Wirkungsweise von Komplimenten eine insinuierende. Dem Angesprochenen wird ein gutes Gefühl vermittelt. Mittel dazu sind: Signale der Gewogenheit, des Respekts und der Sympathie zu senden, seinen eigenen relativen Stand im Gespräch zu verringern, beispielsweise durch Schlechterbewertung der eigenen Person oder etwas mit ihr Verbundenem und den des Gegenübers durch entsprechende Erhöhung zu verbessern.29 Politischer Redner, 294–434. Frühmoderne Höflichkeit 111. 28  Beetz, Frühmoderne Höflichkeit 135–141. 29  Beetz, Frühmoderne Höflichkeit 258–275. 26  Weise, 27  Beetz,

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Im Absolutismus hatte die Rhetorik aufgrund fehlender Notwendigkeit mehrheitlicher Urteilsfällung ihre politische Wirkung verloren.30 So erfuhr die Rhetorik eine Verschiebung in den Privatbereich der Kommunikation und eine drastische Reduktion der Redegattungen. Allein die Lobrede war fortan relevant.31 So erklärt auch Gottsched in seiner Ausführlichen Redekunst allein die Lob- und Schimpfreden noch als von Bedeutung. In drei Klassen sei das genus demonstrativum zu unterteilen: die lobende Rede, die lehrende Rede und, obwohl eigentlich nicht rhetorisch, sondern der »Wolredenheit« zuzuordnen, die Komplimentierrede. Sie wird dennoch zum genus demonstrativum gezählt, weil rhetorische Bildung für ihre Ausarbeitung von Vorteil sei. Gottsched führt aus, dass »[w]er das Schwerere kann, der wird mit Kleinigkeiten leicht zurechte kommen«.32 Genauer kann die eingeschränkte Rhetorizität und die Insinuationsbewegung der Komplimente an einer Anleitung zum Aufbau von Abschiedskomplimenten aus der Ethica Complementoria gezeigt werden: Jm Auffbrechen kan das Valet-Complement auff diese [gemeint sind die anwesenden Personen, C. H.] dreyerley dirigiret werden /   Nemblich auff Bedanckung /   Bitte vnd Gegenerbietung. Bedanckung für geleistete erfrewliche conversation, daß man jhn hätte zu derselbigen gewürdiget /   man verspüre daraus gute beharrliche affection vnd Vertrawlichkeit /   etc. Bitte /   man wolle seine schlechte præsentz vnd discurse nicht übel auffnehmen /   sondern alles im besten vermercken /   man wolle bey gepflogener Freundschafft allezeit verharren vnd günstig verbleiben /   etc. Gegenerbietung /   Man erbiete sich hin wider mit gebührlicher Observantz zu aller beheglichen Diensten /   welche man /   mit empfelung in Göttliche getrewe Obacht zu allem glücklichen Wolergehen /   stets zu erweisen wolle geflissen seyn vnd verbleiben. Dieses nun kan nach Gelegenheit der Personen /   Orts /   Zeit vnd anderer Vmbstände der Gebühr varijret werden / 33

Das Komplimentierbuch bietet hier eine einfache dispositio für Komplimente. Die Situation unterscheidet sich jedoch von der klassischen Ausgangslage eines Rhetors: Komplimente sind dialogisch geprägt und müssen 30  Vgl. Christian Weise, Neue Proben von der vertrauten Redens=Kunst, Dresden und Leipzig 1700, Vorrede a3f. 31  Vgl. Hans-Jürgen Gabler, »Machtinstrument statt Repräsentationsmittel: Rhetorik im Dienste der Privatpolitic«, Rhetorik, 1980, 9–25, hier 14 f.; Markus Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991, 243 f. und Beetz, Frühmoderne Höflichkeit, 31. 32  Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, Leipzig 1759, 111. Vgl. auch Hesselink, Der Zusammenfall von Rhetoriktradition und Gesellschaftsethik. 33  Anonym, Ethica Complementoria (1643), unpag.



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der Situation und den vorhergegangenen Gesprächsbeiträgen angepasst werden, selbst bei weitgehend vorhersehbaren Komplimentieranlässen wie der Gratulation. Die Schematisierung des Abschieds aus einer nicht restlos in Vorhinein vorhersehbaren Situation zeigt an, dass der gesamte Umgang, folgt man der Darstellung dieses Komplimentierbuches, als stark routinisiert verstanden wurde. Darüber hinaus ist an diesem Kompliment Einiges über den Aufbau und den Zweck der Komplimente ableitbar. Die Hauptarbeit eines jeden Kompliments besteht wie gezeigt in der Anzeige von Verbundenheit, von einer positiven Einstellung zum Empfänger. Vor allem wird dazu die Insinuation genutzt, wobei der Rezipient erhoben wird und der Sprecher sich selbst erniedrigt. Der Dank erfüllt im Beispiel aus der Ethica Complementoria vor allem die Funktion der Adressatenerhebung, die Bitte dient vorwiegend der Selbstdegradierung und die Gegenerbietung schließlich entlässt die Angesprochenen mit dem Hinweis, beim Sprecher etwas gut zu haben. Letzteres spielt deutlich auf die Substituierbarkeit von echten Diensten durch Komplimente an. Zwar betont der anonyme Autor, wie alle anderen Autoren, die ihm folgen werden, dass Angemessenheit und damit ein gewisser Grad an Flexibilität entscheidend für den Erfolg eines Kompliments sei, doch schon die hier angeführte Strukturiertheit zeigt eine gewisse Konventionalisierung der Komplimente im Gesprächs- oder Umgangsablauf. Individualität ist hier also bis zur einen bestimmten Grad unerwünscht, Variationen sollen bestimmten Regeln gehorchen. Doch wie verhält sich ein von einer Gesellschaft Scheidender, von dem die Konvention ein Lob der Unterhaltung fordert, wenn ihm die Konversation langweilig, uninspiriert und unangenehm erschien? Wenn er kein Bedürfnis hat, seinen Gegenüber auch nur einen kleinen Freundschaftsdienst zu erweisen? – Er folgt trotz allem dem Bauplan der Komplimentierbücher. Sein Kompliment dient nämlich neben der Beziehungsstabilisierung auch als eine Art Werbeaktion für ihn selbst. Er weist sich mit der Einhaltung und Erfüllung von Höflichkeitskonventionen als höflicher Mensch aus. Das ist gemeint, wenn in der Ethica Complementoria und auch bei Weise betont wird, dass die Komplimente den Sprechern nützlich seien,34 um die eigene Person zu empfehlen.35 Dem anderen angenehm zu sein, ist der Höflichkeiten vordergründig höchstes Ziel. Hinter diesem Ziel aber steht der Wunsch, selbst als Höflicher anerkannt zu werden. Aus dieser Doppelbödigkeit entstehen paradoxe Situationen, in denen, wer sich selbst erniedrigt, sich als höflicher Mensch 34  Vgl. 35  Vgl.

Anonym, Ethica Complementoria (1643), unpag. Weise, Politischer Redner, 169.

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ausweist und somit auf Umwegen sein Ansehen erhöht. Erving Goffman unterscheidet entsprechend zwischen Ehrerbietung, die man erweist, und Benehmen, das man zeigt. Beides ist nur theoretisch zu trennen, in Wirklichkeit gestaltet sich eine Ausdifferenzierung beider Begriffe äußerst schwierig.36 Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Kompliments muss also reformuliert werden: Welches Handlungsziel überwiegt in einem Kompliment, die Ehrerbietung oder das Benehmen? Will der Komplimentierende in erster Linie dem anderen ein gutes Gefühl geben, will er die Beziehung stabilisieren oder ist seine eigentliche Absicht die Selbstdarstellung? Schon aufgrund der Routinemäßigkeit des eben vorgestellten Kompliment­ ablaufs erscheint es unwahrscheinlich, dass die Beziehungsarbeit in jedem Anwendungsfall der wahren inneren Einstellung des Sprechers entsprochen hat. Entscheidbar ist dies heute bei den meisten uns bekannten Komplimenten aus mehreren Gründen nicht. Überliefert sind uns nämlich die Komplimente vorwiegend in zwei Verwendungszusammenhängen, als Protokolle und Berichte realer Situationen und aus vielen Anleitungen zur verbalen Höflichkeit, vor allem aus Komplimentierbüchern und ihren Beispielkomplimenten. Aus dem realen Umgang sind über Berichte und Protokolle vorwiegend Zeremonialkomplimente erhalten. Zeremonialkomplimente sind Komplimente, die sich durch ihre Anbringungssituation auszeichnen, sie werden vor allem in einigermaßen starren zeremoniellen Abläufen beispielsweise von Diplomaten in Vertretung vorgetragen. Sie haben zugewiesenen Platz im zeremoniellen Repräsentationsgefüge.37 Die Zeremonialkomplimente unterliegen aufgrund ihres Äußerungsrahmens einem starreren Ablaufplan und lassen entscheidend weniger Abänderungen zu als Komplimente, die als individuelle Sprachhandlungen angebracht werden. Die Unterscheidung zwischen Zeremonialkomplimenten und individuellen Komplimenten, die nicht im zeremoniellen Rahmen genutzt werden, ist entscheidend. Zeremonialkomplimente beruhen eindeutig auf diplomatischem Kalkül und haben keine Bedeutung im privaten Umgang. Ich möchte hingegen mein Augenmerk auf Komplimente legen, wie sie beispielsweise in der Ethica Complementoria behandelt werden, solche also, die im alltäglichen Umgang von Personen eines höheren und möglicher­ 36  Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunika­ tion, Frankfurt am Main 1986, 90. 37  Vgl. zum Zeremonialwesen Vec, Miloš, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, Frankfurt am Main 1998.



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weise auch mittleren Ranges zum grundlegenden Kommunikationsinventar zählten. Die meisten solcher uns schriftlich überlieferten Komplimente sind in Komplimentierbüchern zu finden. Unter diesen Beispielkomplimenten, die zweifelsohne Idealisierungen darstellen, finden sich nur wenige in Kontexte eingebettet, die einen Schluss über die innere Einstellung des Sprechers zuließen. Reale individuelle Komplimente sind uns dagegen nur in Ausnahmefällen erhalten. Eine Rekonstruktion der inneren Einstellung von Komplimentierendem zum Empfänger scheitert an unzureichendem Datenmaterial. Denn es stehen uns zu wenig reale Situationen dokumentierende Quellen zur Verfügung und zudem geben die Anleitungen, wie beispielsweise Komplimentierbücher, lediglich idealisierte und häufig zusammenhanglose oder -arme Beispiele aber keine real ausgetauschten Komplimente wieder. Wir können zwar nicht die innere Einstellung der realen Redner zum Rezipienten rekonstruieren, dafür können wir aber die Einstellung auf einer anderen Stufe der Authentizität heute mit größerer Sicherheit annehmen. Zumeist wird wohl das Bestreben des Komplimentierenden, den anderen mit einem guten Gefühl und einer positiven Grundstimmung zu verlassen, seiner wirklichen inneren Zielsetzung entsprochen haben, und sei es nur damit er selbst sich als höflicher, in Gesellschaft gewandt agierender Mensch verstanden wissen kann. Ehrlich ist der Komplimentierende also aller Wahrscheinlichkeit nach in seiner Zielgerichtetheit. Die Selbstdarstellung scheint in vielen Fällen ein Motivationsfaktor des Komplimentierens gewesen zu sein. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Kompliments am Beispiel des Valetkompliments nach dem Schema der Ethica Complementoria muss demnach differenziert beantwortet werden. Die inhaltliche Aussage muss im jeweiligen Anwendungsfall des Schemas nicht unbedingt der wirklichen Einstellung und den wirklichen Ansichten des Sprechers entsprochen haben. Was eingehalten werden musste, war nicht die Wahrheitsverpflichtung, sondern die Höflichkeitsverpflichtung. Einhaltung der Höflichkeitskonvention mit dem Ziel der Selbstdarstellung geht hier also vor Ehrlichkeit. Dies bestätigt auch ein Komplimentierbuch, das eine Hierarchisierung für die Möglichkeiten des Umgangs vornimmt. Jeder anderen Verhaltensoption sei eine aufrichtige Höflichkeit vorzuziehen. Verdecke die Höflichkeit nur einen fehlerhaften Charakter und damit Abneigung, so sei dies zwar an den trockenen und künstlichen Äußerungen erkennbar, aber immerhin noch einer aufrichtigen Unhöflichkeit und rücksichtslosen Offenheit vorzuziehen.38 38  [Johann August Friedrich Schmidt], Handbüchlein des guten Tons und der feinen Gesellschaft: ein neues Complimentirbüchlein, Ilmenau 1832, Vorwort V f.

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Die freiwillige Verpflichtung zur Höflichkeit erfüllt neben der individuellen Selbstbehauptung aber auch einen gesellschaftlichen Zweck. Bei Begegnungen zweier Menschen herrscht generell eine Unvorhersagbarkeit des zukünftigen Handelns des Partners, eine wechselseitige Kontingenz.39 Es herrscht Unklarheit über die zu erwartende Art des Umgangs und damit über die Haltung, die der Partner vom Handelnden erwartet. Erst durch eine ähnliche Sozialisation oder durch ein gemeinsames Symbolsystem ist eine Eindämmung der Unwägbarkeiten des Umgangs möglich. Höflichkeitskonventionen und Interaktionsrituale repräsentieren dieses gemeinsame Symbolsystem und machen den Umgang berechenbar. Sie bieten durch die Vorhersagbarkeit der Haltungen und Handlungen eine Art prophylaktischer Kontingenzkontrolle. Dies gilt vor allem in Situationen, in denen der Höflichkeitsakt nicht mit der inneren Einstellung übereinstimmt. Komplimente sind in dieser gesellschaftlichen Organisation nur die verbale Umsetzung einer allgemeinen, nicht uneigennützigen Selbstverpflichtung zur Berechenbarkeit und somit eine Art Stabilitätssicherung des Umgangs oder sogar friedenserhaltende Maßnahme. Die Beteiligten einigen sich auf die Einschränkung ihrer Freiheit der Ausdruckswahl zugunsten einer Sicherheit im äußeren Umgang. Es ist zu betonen, dass diese Art des »Vertrags« nicht gesamtgesellschaftlich wirksam war, sondern im Fall der Komplimente bestimmte Subkulturen betraf. Wenn ich also von Höflichkeitsregeln und Komplimentierregeln spreche, sind damit immer nur Regeln einer bestimmten, vorwiegend elitären Gruppe gemeint. In den meisten Fällen ist eine Entscheidung über den die Beziehung betreffenden Wahrheitsgehalt von Komplimenten nicht möglich. Solche Komplimente jedoch, die in eine Handlung eingebettet sind, sind dagegen schon eher analysierbar. Einen reichen Schatz an solchen nicht real ausgetauschten Komplimenten hat uns Christian Weise in einer Vielzahl seiner Schauspiele hinterlassen. Das Schauspiel mit der wohl höchsten Komplimentdichte ist Weises bereits erwähnte Complimentir-Comödie, die er im Politischen Redner abdrucken ließ. Sie war zwar nicht vorrangig zur Aufführung geplant, doch die Schüler sollten ausgewählte Szenen im Unterricht spielen, um ihren gesamten Auftritt im Ernstfall der höflichen Gesellschaft zu proben. Besonderes Augenmerk sollte der Hofmeister dabei auf die Gestik des agierenden Schülers legen. In der Complimentir-Comödie bestehen die meisten Unterhaltungen aus Konversationskomplimenten, die sich von der strikteren dispositio der Komplimente lösen aber die gleiche Grundbewegung der Insinuation vollziehen. Kontrastiv führt Weise die beiden zu vermeidenden Extreme des 39  Vgl. Harald Haferland / Ingwer Paul, »Eine Theorie der Höflichkeit«, Harald Haferland / Ingwer Paul (Hg.), OBST – Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 52. Höflichkeit, 7–69, hier 41–46.



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übermäßigen, starren, zu bildreichen Komplimentierens und der unverständigen, alles wörtlich nehmenden Rezipienten von Komplimenten vor. Vorbildlich aber komplimentieren die Adeligen sich gegenseitig. In der Komplimentierkomödie ist Prinz Reinhard Inkognito in Antwerpen, er gibt sich als gewöhnlicher Adliger aus. Schnell findet er mit Hilfe des Franzosen Roderich Anschluss an die ansässige adelige Gesellschaft und lernt dort Rosine kennen, um die er zu werben beginnt. Als Reinhard wegen ausbleibender Wechsel in Geldnöte gerät, bittet er Roderich während eines beispielhaften Komplimentiergesprächs um Hilfe. RODERICH  Monsieur, wenn er meine Wenigkeit unter seine Diener zehlen wil /   hat er sich alles getreuen Beystandes unfehlbar zu versichern. REINHARD  Und solches werd ich iederzeit mit danckbaren Diensten erkennen. RODERICH  Monsieur, es ist mir leid /   daß ich kein Mittel bißhero gesehen habe solches im Wercke darzustellen /   was ich offt mit blossen Worten habe versprechen müssen. REINHARD  Monsieur, ich dörffte fast unhöfflich seyn /   und eine Gelegenheit zu einer sonderbaren Freundschafft an die Hand geben. RODERICH  Monsieur, nun habe ich erst eine Probe /   daraus ich seiner guten Gewogenheit gewiß bin. Ich bitte /   er wolle mich nicht lange auffhalten. Hier ist meine Hand /   stehet die Sache in meinem Vermögen /   so werde ich mich erfreuen /   daß meine Dienste so glücklich sind einem vornehmen Freund zu vergnügen. REINHARD  Monsieur, mein Verlangen ist dieses: Ich habe aus Italien Briefe erhalten /   da ich in 14. Tagen auf einen Wechsel vertröstet werde. Weil ich aber in währender Zeit etwas möchte benöthiget seyn /   als ist meine dienstliche Bitte /   Monsieur wolle mir mit einem guten Rathe beysprechen. RODERICH  Monsieur, ich wolte wündschen /   er hätte nur sein Anliegen gestern entdeckt /   so hätte ich die 200. Cronen in meinem Wirtshause noch nicht bezahlet /   und hätten sie gleich zu seinen Diensten stehen sollen. Doch er lasse mir noch etwas Zeit /   ich will mich besinnen. […]40

Dieser Gesprächsablauf ist sehr konventionell. Roderich versichert Reinhard seiner Dienerschaft, Hilfsbereitschaft und Treue. Reinhard kann, weil die beiden sich zuvor auf eine etwas informellere Freundschaft verständigt hatten, es wagen, seinen Freund um Geld zu bitten, zumal er tatsächlich mit einer baldigen Wiedererlangung seiner Liquidität rechnet. Roderich hilft seinem Freund zwar nicht mit Geld aus, gibt diesen negativen Bescheid aber höflich und bietet an, eine andere Lösung zu finden. Allein dem Gespräch nach kann Roderichs höflich verpackte Ablehnung sowohl einer positiven wie einer negativen inneren Einstellung zu Reinhard entsprechen. Sein eigenes Ansehen hat Roderich jedoch durch Einhaltung der Höflichkeitsregeln nicht gefährdet. Die wirklichen Beweggründe Rode40  Weise,

Politischer Redner, 383 f.

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richs sind aber dem Zuschauer und Leser bereits bekannt: Reinhard hat zuvor seine Sympathie für Rosine seinem neuen Freund Roderich anvertraut. Roderich ist ebenfalls ernsthaft an einer ehelichen Verbindung mit Rosine interessiert, entdeckt dieses aber seinem neuen Freund nicht. Stattdessen plant er eine Intrige und schwärzt seinen Konkurrenten bei Rosines Mutter an. Schließlich sagt Roderich nach der negativen Antwort auf Reinhards Bitte zu sich selbst: RODERICH  Wer mir in das Gehäge wil gehen /   der darff mich nicht umb Mittel ansprechen /   dadurch meine Cabale sol verderbt werden. Doch bin ich erfreuet /   daß dem guten Menschen schon Geld mangelt. Denn auff solche Masse wird er wenig gegen meine Person erhalt /   und damit bin ich eines halben Centners von meinen Sorgen lassen.41

Roderich nutzt also den Deckmantel des Kompliments für seine Intrige und zur Erreichung seiner Ziele. Damit fällt sein Verhalten, gemessen an den Maßstäben des Handbüchlein des guten Tons, in die mittlere Kategorie des Verbergens seines defizitären Charakters. Statt seine Abneigung offen zur Schau zu tragen, verpflichtet ihn die Höflichkeit zur Vorspielung von Zuneigung. Weise argumentiert anders als Alvensleben nicht auf der ästhetischen Ebene, sondern stärker auf die Moral verweisend. Statt das geschliffene Äußere über alles zu stellen, wagt Weise auch moralische Beurteilungen des Verhaltens vorzunehmen. Es ist dabei kein Zufall, dass Weise Roderich als Franzosen vorgestellt hat. Der französische Complimenteur sei tendenziell ein Lügner, so informiert schon der Vorredner der Komplimentierkomödie seine Zuschauer. Im red­ lichen Deutschland aber entspräche die angezeigte positive Einstellung der wirklichen. Hier nimmt Weise eine Engführung von moralischen und ästhetischen Vorgaben vor, die eine Art Utopie beschreibt. Nicht das Komplimentierwesen selbst wird hier abgelehnt, sondern das missbrauchte Kompliment ohne entsprechende Einstellung. Nach Weise ist nun der Missbrauch der Komplimente ein Übel, das allen guten Dingen passiert. Das sei aber kein Grund, das Komplimentieren damit vollständig zu verwerfen, lässt er Reinhard in einem Gespräch über Komplimente mit Rosine sagen.42 Es sind nun zwei Arten des Komplimentierens angesprochen worden: Das auf der Beziehungsebene ehrliche, die positive innere Einstellung zum Gesprächspartner wiedergebende und das eine positive Einstellung zum Gesprächspartner nur vorgebende, doch trotzdem äußerlich betrachtet höfliche Komplimentieren. Die erste Form ist die moralisch kaum angreifbare, die zweite dafür die Interessantere. Für die gesamte Höflichkeit beschrieb Rousseau im Emile diese Unterscheidung folgendermaßen: Politischer Redner, 386. Weise, Politischer Redner, 367.

41  Weise, 42  Vgl.



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Die wahre Höflichkeit besteht darin, den Menschen eine wohlwollende Gesinnung zu bezeigen, sie offenbart sich leicht, wenn man sie hat; für den, der sie nicht hat, ist man gezwungen, ihren äußeren Schein zur Kunstfertigkeit herabzuwürdigen.43

Entsprechend der Natürlichkeitsforderung hierarchisiert Rousseau die »wahre Höflichkeit« in eine authentische und eine vorgespielte. Unterscheiden sich innere Einstellung und Äußerung voneinander, gibt es wiederum mehrere Möglichkeiten für die Gründe dafür: Erfüllt der Redner damit lediglich die auf ihn gerichteten Erwartungen, die Höflichkeitskonventionen oder setzt er Komplimente strategisch ein, um sich einen individuellen Vorteil zu verschaffen? Harald Haferland und Ingwer Paul haben ein Evolutionsschema für verbale Höflichkeit aufgestellt, das ich zur Behandlung dieser Frage hinzuziehen möchte. Die Evolution schreitet demnach auf drei Stufen voran. Die erste Stufe bildet die der elementaren Höflichkeit, auf der Höflichkeitsregeln implizit gewusst werden und sich in habitualisierten Verhaltensformen manifestieren. Die zweite Stufe ist die der kodifizierten Höflichkeit auf der Höflichkeitsregeln explizit gewusst werden. Auf der dritten Stufe der reflektierten Höflichkeit wird jede Situation individuell, unter Anwendung des impliziten und des expliziten Höflichkeitswissens interpretiert. Die reflektierte Höflichkeit wird nicht wie auf der mittleren Stufe statusbezogen eingesetzt, sondern personenbezogen angewandt. Der reflektiert höflich Handelnde demonstriert durch sein Verhalten außerdem, dass er das entsprechende Wissen und Können besitzt. Neben der Höflichkeit selbst erfüllt die reflektierte Höflichkeit also auch eine Selbstdarstellungsfunktion. Alle drei evolutionären Stufen der Höflichkeit sind in einer Gesellschaft zugleich gültig und präsent. Haferland und Paul beschreiben Höflichkeit daher als »eine Spur, die die soziale Evolution im Verhalten von Individuen hinterlässt.«44 Die Höflichkeitskonventionen, die vor allem auf der zweiten Evolutionsstufe sichtbar werden, haben sich historisch aus markierten Formen entwickelt. Ursprünglich war Höflichkeit eine markierte Form des Sprechens. Haferland und Paul gehen davon aus, dass der erste Sprecher einer Höflichkeitsform diese auch genauso meinte. Die markierten Formen nutzten jedoch bei häufigerer Nutzung zu Standardformen ab und verflachten schließlich zur Konvention.45 43  Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, hg. von Martin Rang und übers. von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1963, 686. 44  Haferland / Paul, »Eine Theorie der Höflichkeit«, 33. 45  Vgl. Haferland / Paul, »Eine Theorie der Höflichkeit«, 34–38 und Gudrun Held, Verbale Höflichkeit. Studien zur linguistischen Theoriebildung und empirische Untersuchung zum Sprachverhalten französischer und italienischer Jugendlicher in Bitt- und Dankessituationen, Tübingen 1995, 25–27.

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Auf die Komplimente angewandt, kann damit Folgendes angenommen werden: Offensichtlich haben sich im Laufe der Zeit Konventionen gebildet, deren Einhaltung eine Person als höflich und deren Nichtbeachtung und Brechung eine Person als unhöflich kennzeichnen. Eine dieser Konventionen forderte im 17. Jahrhundert von Vertretern eines höheren Standes angemessenes Komplimentieren. Diese Konventionen sind, so die Vermutung Haferlands und Pauls, entstanden aus ehemals auch auf der Beziehungsebene als wahr verstandenen und ehrlich gemeinten Aussagen und haben sich routinisiert, ritualisiert und erlagen einer Bedeutungserosion. Damit verloren die Aussagen ihren wörtlichen Inhalt und waren nunmehr Zeichen für eine innere Einstellung. Die schematisierten, nahezu ritualisierten Komplimente sollten demnach eine positive innere Einstellung zum Rezipienten anzeigen oder vorgeben. Zugleich aber sind höfliches Verhalten und Komplimentieren Merkmale von Hofleuten. Aus Prestigegründen wollten auch Menschen niedrigeren Standes den Hofleuten in ihrer Umgangsform ähneln. Als Statusmerkmal verbreiteten sich höfische Umgangsformen schließlich auch in niedrigere Stände. So konnte es dazu kommen, dass allgemein selbst das Vorgeben einer inneren Einstellung als Zeichen von Höflichkeit galt und auch heute noch gilt. Komplimentieren erhielt damit eine zusätzliche Signalwirkung: Der Sprecher wies sich selbst als höflicher Mensch aus. So sehr die Verstellung des Höflichen, also das Vorgeben echter Anteilnahme und Sympathie angeklagt werden kann, hat dieses Verhalten doch den entscheidenden Vorteil, den Umgang berechenbar zu machen, Kontingenz zu mindern. Die höchste Stufe der Höflichkeit ist erreicht, wenn die Höflichkeit nicht mehr nur konventionalisiert sondern reflektiert angewandt wird. Wenn nicht mehr die Konventionen unbedacht erfüllt werden, Komplimente gedankenlos angebracht werden, sondern Höflichkeiten und Komplimente eingesetzt werden, wenn sie sinnvoll erscheinen und ausgesetzt werden, wenn es nicht notwendig ist, zum Beispiel bei sehr intimer Freundschaft. Ein strategisches Höflichkeitsverhalten zeichnet dann auch den Typus des Politicus aus. Es wurde nun häufig angenommen, dass im Barock eine sehr konventionalisierte Höflichkeit geherrscht habe. Formalisierte Anreden, umständliche Sprache, bildreiches Wortgepränge sollten eine Erfüllung oder auch Übererfüllung der Konventionen anzeigen. Die Annahme war, dass mit der Frühaufklärung diese Stufe überwunden wurde, indem ein natürlicheres, aber zugleich reflektiertes Höflichkeitsverständnis wirksam wurde und eine Kritik an berechnendem Einsatz von Höflichkeit laut wurde.46 46  Vgl.

Beetz, Frühmoderne Höflichkeit 258–275.



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Diese Entwicklung ist zwar in ihrer Tendenz richtig beschrieben worden, doch sollte bedacht werden, dass nach Haferland und Paul alle Evolutionsstufen gleichzeitig vorkommen können. Im Falle der barocken Höflichkeit ist dies auch nachweisbar. Schon in der Ethica Complementoria wurde ja die Möglichkeit des zielgerichteten Einsatzes von Komplimenten betont: Man solle sich und anderen mit ihrer Hilfe »nützen und […] belüstigen«.47 Reflexionen über die Vorteile und Abwege des Komplimentierens finden sich dann prominent bei Christian Weise, vor allem in den 1680er Jahren mit dem Politischen Redner inklusive der Complimentier-Comödie, aber auch in anderen Schauspielen, beispielsweise dem Schauspiel vom Niederländischen Bauern. In einem Gespräch zwischen Reinhard und Rosine in der Complimentier-Comödie werden der Nutzen und die Schwierigkeiten des Komplimentierens erörtert.48 Rosine ist kritisch und hinterfragt die Praxis des Komplimentierens, bei der die entsprechende positive innere Einstellung zum Gesprächspartner fehlt. Reinhard, in seinem Stand als Prinz erwartungsgemäß der in höflichen Fragen Qualifiziertere der beiden, erläutert, dass Komplimente der Nächstenliebe dienten und eine angenehme Umgangsatmosphäre schafften, selbst wenn es vereinzelt Missbräuche gäbe. Wer aber nur als Höflichkeit gedachte Komplimente, beispielsweise eine Diensterbietung, für bare Münze nehme, und einen wirklichen Dienst erwarte, der sei ein Narr. Nebenbei bemerkt ist dies eben der Irrtum, dem Reinhard aufgesessen ist, als er Roderich um einen Kredit gebeten hat. Der Aufbau des Gesprächs zwischen Roderich und Rosine ist typisch für die Erörterung des Wahrheitsgehalts der Komplimente. In mehreren Komplimentierbüchern wird die gleiche Konstellation wie bei Weise genutzt, um die populäre Kritik am Komplimentierwesen zurückzuweisen. Dabei nimmt stets die Frau die Kritikerposition ein und der Mann übernimmt die pragmatische Verteidigung des Kompliments. Die Kompromisslösung des Mannes scheint zwar realiter umsetzbar und schützt das Komplimentieren vor seiner Verbannung aus dem geselligen Umgang, gibt dafür aber die Absolutheit moralischer Ansprüche preis, die vom weiblichen Gegenspieler eingefordert wurde. Ein Grund für diese Rollenaufteilung findet sich in der klassischen Dialogkonstellation bei Komplimenten an Frauen. Der männ­ liche Part pflegt gewöhnlich der Dame wegen ihrer ausgezeichneten Merkmale zu schmeicheln. Empfangene Komplimente sind konventionell entweder an den Komplimentierenden zurückzugeben oder abzulehnen. Im schmeichelnden Gespräch zwischen Mann und Frau lehnt die Bekomplimentierte zumeist das Lob ab und unterstellt ihrem Partner reine Konven­ tionserfüllung. Aus dieser Konstellation kann sich eine grundlegendere Ethica Complementoria (1643), unpag. Weise, Politischer Redner, 366–369.

47  Anonym, 48  Vgl.

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Komplimentierkritik wie die behandelte entwickeln.49 Dass diese aber wieder nur Teil des gängigen Komplimentierspiels zwischen Mann und Frau ist und eben keine ernsthaft geführte Grundsatzdebatte, legt gerade die feste Rollenverteilung und die routinemäßige Argumentation nahe. Zudem täten Komplimentierbuchautoren schlecht daran, ihren Gegenstand substanziell zu verwerfen. Trotz der Ablehnung des Lügenvorwurfs im Komplimentierbuch wurden schon im 17. Jahrhundert Höflichkeitskonventionen nicht völlig einseitig präsentiert. Stattdessen waren sich zumindest einige der Komplimentierbuchschreiber der beziehungsstabilisierenden Funktion des Komplimentierens bewusst und konnten, unbenannt, zwischen Inhaltsaspekt und Beziehungsaspekt der Interaktionsrituale unterscheiden. Ob nun Komplimente als schuldige Höflichkeit der Stufe der konventionalisierten Höflichkeit entsprachen oder aber berechnend als artige Schmeichelei eines reflektierten Höflichkeitsverständnisses eingesetzt wurden, ist wohl nur in wenigen Einzelfällen sicher zu entscheiden. Maßgeblich ist aber die Erkenntnis, dass in den Komplimenten beide Ausprägungen bereits angelegt sind und sie das Potential besitzen zur bloßen Konventionserfüllung und zur reflektierten Äußerung verbaler Höflichkeit. Eine bewusst zur Manipulation genutzte Komplimentierkunst, wie die Roderichs, die von heutigen Lesern wohl mit einen bitteren Beigeschmack gelesen wird, war schon im 17. Jahrhundert nicht unumstritten. Der Einbezug kritischer Positionen in Komplimentieranleitungen weist darüber hinaus auf einen gewissen Verteidigungsdruck der Anleitungswerke hin und führt vor, dass die Komplimentierkritik bereits im 17. Jahrhundert so erstarkt war, dass sie vom Komplimentierwesen nicht gänzlich ignoriert werden konnte.

49  Vgl. im Ansatz Anonym, Neues Complimentierbuch, oder Anweisung zu einer vernünftigen und anständigen Aufführung, Wien 1771, 51–59.

Von der monarchistischen zur republikanischen Rhetorik: die Panegyrik in der Académie Française des 18. Jahrhunderts Von Volker Kapp Auf den ersten Blick mag die Thematisierung des Wandels von einer Rhetorik, die eine Monarchie als politisches System voraussetzt, zu einer republikanischen Rhetorik für das französische 18. Jahrhundert dem Risiko des Banalen ausgesetzt sein, denn wie sollte die Französische Revolution mit der Monarchie nicht auch deren rhetorische Praktiken beseitigt haben, deren Stellenwert in der Akademie ich zunächst (1) skizzieren werde? Die Wortführer der Französischen Revolution ziehen einen radikalen Trennungsstrich zur rhetorischen Kultur des Ancien Régime, mit deren Theorien ihre glühenden politischen Reden nichts gemeinsam haben sollen. Der Essai sur l’art oratoire (1799) von Joseph Droz, das einzige theoretische Werk über die neue, revolutionäre Rhetorik,1 bleibt marginal, weswegen sein Verfasser auch im Kaiserreich eine bescheidene Position behalten und selbst die Res­ tauration nicht fürchten musste, in der die durch die Exzesse der Revolution diskreditierte Rhetorik wieder, selbstverständlich in gewandelter Form, zu einem Eckpfeiler des Bildungswesens wird. Die Revolutionäre haben zu Recht die Académie Française als Brutstätte monarchistischer rhetorischer Kultur angesehen und geschlossen. Sie trafen damit deren Selbstverständnis, verkannten jedoch die dort erfolgte Herausbildung einer republikanischen Rhetorik, deren Entstehen in der Aufklärung mein zweiter Punkt skizzieren wird. Mein dritter Punkt beschäftigt sich mit Antoine-Léonard Thomas (1732–1785), dessen Praxis und Theorie epideiktischer Rede dieser republikanischen Rhetorik Anerkennung verschafft. Ich runde den Gedankengang abschließend (4) mit einem Hinweis auf die Predigt ab.

1  Vgl. Jean-Paul Sermain, Une rhétorique républicaine: l’Essai sur l’art oratoire de Joseph Droz (1799), Éric Négrel / Jean-Paul Sermain (Hgg.), Une expérience rhétorique. L’éloquence de la Révolution. Oxford 2002, S. 257–267.

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I. Das heutige Verständnis weist der Académie Française primär die Aufgabe der Sprachnormierung zu, deren politischer Charakter schon im 17. Jahrhundert bewusst war. Das damit zusammenhängende Projekt, eine Grammatik zu erstellen, ist gescheitert. Der Anspruch, Leitlinien für eine Rhetorik bzw. eine Poetik zu erarbeiten, gehörte für Richelieu zur Kulturpolitik, ist aber durch die von ihm durchgesetzte offizielle Kritik an Corneilles Le Cid belastet worden. Der Artikel 26 der Statuten erhebt ausdrücklich Wörterbuch, Grammatik und Rhetorik / Poetik zu den Zielsetzungen der Académie. Was hat dies alles mit epideiktischer Rede zu tun?2 Die Panegyrik wird zentral, seit Ludwig XIV. 1672 die Rolle des Protektors übernommen und den Louvre für deren Sitzungen geöffnet hat. Am 3.  Februar 1671 nutzte bereits Paul Pellisson-Fontanier die damals noch ohne breite Öffentlichkeit vonstattengehende Aufnahme von Harlay de Champvallon, des neuen Erzbischofs von Paris, zu einer Lobrede auf den König. Das bot sich deshalb an, weil dessen Vorgänger Hardouin de Péréfixe de Beaumont, der bei dieser Gelegenheit, dem Ritual entsprechend, zu würdigen war, als Erzieher des Sonnenkönigs fungierte. Pellisson ließ den Erzieher hinter seinem Schüler verblassen, weswegen seine Antwort an Harlay »Panégyrique du Roi Louis Quatorzième« betitelt wird.3 Er verfolgte die politische Absicht, der Akademie einen zentralen Stellenwert unter den mit solcher Panegyrik beschäftigten Institutionen und Personen zu erobern. Das damit erreichte Ziel benennt Claude Fleury 1696 in seiner Antrittsrede treffend: die Akademie sei »zum Gipfelpunkt ihres Ansehens gelangt, als sie der Herrscher für würdig hielt, in seinem Palast zu residieren und selbst deren Protektion zu übernehmen«.4 Der König honorierte die Panegyrik mit Privilegien für die »Unsterblichen« wie das Bereitstellen von sechs Plätzen bei Theateraufführung am Hof. 1676 schenkt er ihr vierzig »fauteuils«, während zuvor nur der »directeur« einen besaß und die restlichen Mitglieder sich mit einem Stuhl begnügen mussten.5 Dieses Geschenk 2  Vgl. dazu Alain Génetiot (Hg.), L’Éloge lyrique, Nancy 2008 und Marc Dominicy / Madeleine Frédéric (Hgg.), La mise en scène des valeurs. La rhétorique de l’éloge et du blâme, Lausanne / Paris 2001. 3  Vgl. Histoire de l’Académie Française par Pellisson et d’Olivet avec introduction, des éclaircissements et notes par M. Ch.-L. Livet, Paris 1858, Bd. I, S. 332–347 und Les panégyriques du roi prononcés dans l’Académie Française. Édition critique. Texte établi et présenté par Pierre Zobermann, Paris 1991, S. 93–104. 4  »Enfin l’Académie est arrivée au comble de sa gloire, lorsque le Prince l’a jugée digne de la loger dans son Palais, & d’en prendre la protection par lui-même«, Claude Fleury, Opuscules, Nismes 1780, Bd. III, S. 158. 5  Bis heute hat sich der Begriff »fauteuil« für einen Sitz in der Académie gehalten.



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wurde als Gleichstellung aller vierzig »Unsterblichen« interpretiert und in jener hierarchisch gegliederten Gesellschaft als bemerkenswert empfunden.6 Es kommt einer Aufwertung der Aristokratie des Geistes gegenüber dem Geburtsadel gleich. Die Anleihe an die alte Vorstellung, dass die Sachwalter des Wortes für die Verewigung der Herrscher sorgen, schreibt epideiktischer Rede eine politische Funktion zu, die von den Aufklärern, so meine These, zugunsten der gesellschaftlichen Stellung der »philosophes« republikanisch umgedeutet wird. Darauf werde ich gleich noch eingehen. Die neu aufgenommenen Mitglieder mussten seit 1672 in ihrer Antrittsrede, neben Richelieu als Gründer, den König als Protektor verherrlichen. Seit 1677 wurde jährlich am 25.  August, dem Fest des heiligen Ludwig, eine publikumswirksame Feier begangen, der Ludwig XIV. fern blieb. Sie begann mit einem feierlichen Hochamt, damals noch ein prestigereiches gesellschaftliches Ereignis, dessen Predigt ins Lob des heiligen Vorfahren die Würdigung des derzeitigen Herrschers einzubeziehen hatte. In der anschließenden öffentlichen Sitzung trug einer der »Unsterblichen« einen Panegyrikus auf den König, andere ihre eigens verfassten Huldigungsadressen vor. Seit 1671 wurde ein »prix d’éloquence«, seit 1701 überdies ein »prix de poésie« ausgelobt und am 25. August ausgehändigt. Einer der »Unsterblichen« las die prämierten Reden bzw. Dichtungen, meistens ebenfalls zum genus demonstrativum gehörend, vor. So entwickelte sich die Akademie »zu einem der Zentren epideiktischer Rede«.7 Inwiefern kennzeichnet dieses Panegyrik monarchistische Rhetorik? Abbé Genest erhebt am 27.  September 1698 in seiner Antrittsrede den König zum »Modell einer neuen Art von Beredsamkeit«.8 Er geht verschiedene Bereiche von Sprache bis zur Klimax durch, niemals habe jemand perfekter die Ausdrucksweise eines Herrschers besessen, somit niemand je besser als der jetzige König gesprochen,9 der die Macht besitze, eine Übereinstimmung von Wort und Sache zu schaffen. Diese pointierte Aussage, die in erster Linie eine Huldigung an den Machthaber beinhaltet, meint jedoch Histoire de l’Académie Française, Bd. II, S. 21 f., S. 479. l’Académie se définit de plus en plus comme l’un des centres d’éloquence épidictique«, Zobermann, Les panégyriques du roi, S. 11. 8  »[…] le modelle d’un nouveau genre d’éloquence«, Recueil de plusieurs pièces d’éloquence et de poësie presentées à l’Académie Françoise pour les Prix de l’année MDCXCIX, avec plusieurs discours qui ont été prononcez dans l’Académie en différentes occasions, Paris 1699, S. 101. Jean-Baptiste Coignard, Imprimeur ordinaire du Roi, & de l’Académie Française, erhält 1693 das Recht, alle Reden zu veröffentlichen, doch veröffentlicht er erst 1698 seine Sammlung von Antrittsreden. 9  »Definissez hardiment quel est le langage des Rois, le langage de la Souveraineté & de l’Empire, votre Protecteur l’apprend à tout le Monde, à vous-mesmes, à sa Cour, à tous ses Sujets, à tous les Estrangers; jamais on ne parla mieux en Roy«, Recueil, S. 101. 6  Vgl.

7  »[…]

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auch das sprachliche Faktum schlechthin und lässt sich in dieser Funktion als Leitlinie vieler Antrittsreden und Panegyrika belegen. Hier muss ich eine Bemerkung zur Person von Genest einfügen, dem Abbé d’Olivet in einem vielsagenden Brief seiner offiziösen Darstellung der Geschichte dieser Akademie10 totale Ignoranz bescheinigt. Genest sei auf abenteuerlichem Weg in die Klientel französischer Hocharistokratie gelangt und habe dann Karriere als Dichter gemacht. Als Sohn einer Hebamme bleibt er Analphabet bis zu seiner Lehre als Kalligraph, wird Opfer englischer Piraterie, unterrichtet seine Muttersprache bei englischen Aristokraten und Pferdeliebhabern, denen der Duc de Nevers Pferde abkauft. Dessen Agenten bewegen Genest zur Rückkehr nach Frankreich und verschaffen ihm eine Situation im Nevers’ Gefolge, den er bei zwei erfolgreichen Feldzügen des Sonnenkönigs begleitet. Er feiert – als Naturtalent – dessen Siege in Oden, die sozusagen das unmittelbar Erlebte zu Panegyrik gestalten und nicht nur die anwesenden Krieger, sondern sogar den König selbst in Entzücken versetzen. In seiner Antrittsrede rühmt sich Genest seines Eifers als Panegyriker des Königs.11 Besser ist wohl der Sitz im Leben von monarchistischer Rhetorik kaum zu illustrieren. Diese Informationen, die in den Augen von D’Olivet Genest nicht herabwürdigen sollen, entschuldigen vielleicht seine mangelnde Originalität, denn bereits in der Lobrede auf den Sonnenkönig vom 25.  August 1673 äußert Abbé Paul Tallemant le Jeune denselben Gedanken,12 der sich keineswegs auf fragwürdige Topik jener Panegyrik beschränkt, denn der Jesuit Dominique Bouhours schloss schon zuvor seinen programmatischen Dialog über den Rang des Französischen in den europaweit beachteten, wenn auch viel kritisierten Les entretiens d’Ariste et d’Eugène (1671) damit ab.13 Erst 10  Histoire

de l’Académie Française, Bd. II, S. 363–384. n’irois-je point, Messieurs, si je suivois l’habitude passionnée que j’ay à loüer ce grand Roy  ?« Recueil, S. 105, Abbé Boileau bescheinigt ihm: »[…] vous fustes le premier qui après la prise de Mastric mistes le laurier sur le front du Vainqueur, & dans le champ de bataille chantastes une Ode digne de la Majesté du triomphe«, Recueil, S. 117. 12  »Comme c’est principalement à la pureté de la Langue que s’applique cette Compagnie, l’Eloquence naturelle de LOUIS, l’heureuse facilité qu’il a à s’expliquer, le choix & la pureté des paroles dont il se sert, & ce charme inexplicable qu’il répand dans toutes choses qu’il dit, l’ont fait à juste titre Protecteur de l’Académie«, Zobermann, Les panégyriques du roi, S. 123. 13  »Mais savez-vous que notre grand Monarque tient le premier rang parmi ces heureux génies, & qu’il n’y a personne dans le Royaume qui sache le Français comme il le sait. Ceux qui ont l’honneur de l’approcher, admirent avec quelle netteté, & avec quelle justesse il s’exprime. Cet air libre & facile […] entre dans tout ce qu’il dit; tous ses termes sont propres, & bien choisis, quoiqu’ils ne soient point recherchés; toutes ses expressions sont simples & naturelles; mais le tour qu’il leur 11  »Où



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D’Alembert münzt in seinem Éloge de Genest seine Wiedergabe des Briefs von D’Olivet kritisch um, weil ihm eine völlig andere epideiktische Rhetorik vorschwebt, die er 1755 im Artikel »éloge« der Encyclopédie polemisch dem Prunken mit Redeschmuck und 1759 in seinen Réflexions sur les éloges académiques als Lob der »gens de lettres« dem Rühmen der Mächtigen gegenüberstellt und überordnet.14 II. Charles Perraults Lobgedicht auf den Sonnenkönig entzweite 1687 die Académie und löste die »Querelle des Anciens et des Modernes« aus, die ebenso den Aufklärern zugutekam wie die Berücksichtigung der Naturwissenschaftler in seinem Werk Les hommes illustres qui ont paru en France pendant ce siècle (1697–1700).15 Fontenelles vertieft diesen Aspekt in seinen Éloges des Académiciens de l’Académie royale des sciences morts depuis 1699. D’Alembert beruft sich auf Fontenelle als sein Vorbild.16 Die »Modernes« um Fontenelle haben von der Personalpolitik der Anhänger monarchistischer Rhetorik gelernt, wie man durch Berufung der entsprechenden Leute der Aufklärung auch in der Académie Française ein Forum verschaffen kann. Nutznießer dieser Strategie ist 1695 Abbé de SaintPierre.17 Selbst D’Alemberts Éloge erwähnt, dass dieser Abbé zum Zeitpunkt seiner Aufnahme noch nichts publiziert hatte. Eine seiner andern donne est le plus délicat, & le plus noble du monde. […] il parle si bien, que son langage peut donner une véritable idée de la perfection de notre langue«, Dominique Bouhours, Les entretiens d’Ariste et d’Eugène. Édition établie et commentée par Bernard Beugnot et Gilles Declercq, Paris 2003, S. 180 f. 14  »Les princes sont, pour l’ordinaire, beaucoup plus loués durant leur vie qu’après leur mort; la plupart des gens de lettres ont un sort contraire«, D’Alembert, Œuvres, Genève 1967, Bd. II, 1, S. 150. 15  »On a crû que cette diversité de caractères auroit son agrément; d’ailleurs comme l’intention principale de ce Recueil est de faire honneur à nostre siecle, on a crû ne devoir pas oublier ceux qui ont excellé dans les beaux Arts, & dont les Ouvrages n’ont pas moins élevé la France au dessus des autres Etats, que les prodiges de valeur de nos grand Capitaines, que la sagesse consommée de nos grands Politiques, & que les admirables découvertes que nos gens de Lettres ont fait dans toutes les Sciences«, Charles Perrault, Les hommes illustres qui ont paru en France pendant ce Siecle, Paris 1697, préface unpag. 16  »Les réflexions philosophiques sont l’âme et la substance de ce genre d’écrit […] c’est en cela que l’illustre secrétaire de l’Académie des sciences a surtout excellé […] pour obtenir quelque place après Fontenelle dans la carrière qu’il a si glorieusement parcourue, il faut nécessairement prendre un ton différent du sien«, Œuvres, Bd. II, 1, S. 152 f. 17  Vgl. Olaf Asbach, Staat und Politik zwischen Absolutismus und Aufklärung, Hildesheim 2006, S. 115.

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Schwächen, seinen schlechten Stil, erklärt D’Alembert mit einer leidenschaftlichen Sorge für das öffentliche Wohl,18 die 1718, infolge seiner Kritik an der Regierung der Régence im Discours sur la Polysynodie, zu einem Ausschluss aus der Académie führte, wobei ihm auf Intervention des Regenten sein »fauteuil« bis zum Lebensende erhalten blieb. Wenn man im Internet auf der offiziellen Seite der Académie seinen Namen aufruft, wird lediglich die Zeit angegeben, während der er einen »fauteuil« besaß, ohne Einzelheiten über seine Suspendierung zu erwähnen. Man erkennt daran, wie stark das heutige Frankreich in der Aufklärung verwurzelt ist. Saint-Pierre regte im Oktober 1712 u. a. an, die Panegyrik in den Statuten der Académie neu zu definieren. In der Folge der lebhaften Debatte seines Vorschlags einer Modifikation der Statuten unter den anwesenden »Unsterblichen« wurden die Abwesenden, von denen einige nicht in Paris wohnten, um eine schriftliche Meinungsäußerung gebeten. Die bekannteste Antwort, Fénelons Lettre à l’Académie, deren ursprünglicher Titel Réflexions sur la grammaire, la rhétorique, la poétique et l’histoire lautet,19 bringt die Historiographie ein, weil sie epideiktische Rede zum Fixieren des Bildes des Monarchen für die Nachwelt nutzt. Dies ist wiederum eine Bestätigung der bekannten und schon lange praktizierten Prinzipien monarchistischer Panegyrik. Schon 1699 rechnete Jean-Baptiste-Henri du Trousset Valincour, Nachfolger Racines im Amt des »historiographe du roi« wie in der Académie in seiner Antrittsrede den weniger ausgeschmückten historiographischen Stil zum genus demonstrativum. Racine habe im Rahmen seiner Ernennung zum »historiographe« auf dramatische Dichtung verzichtet und die Sprache der Götter, also Dichtung, mit dem einfachen Stil der Historiographie vertauscht, die »die reine Wahrheit noch wunderbarer als die Poesie mit all ihrem Redeschmuck zur Geltung bringt«.20 Damit nennt er ein Theorem, 18  »[…] surtout l’étude qu’il avait fait de la langue française, moins à la vérité en orateur et en homme de goût, qu’en grammairien philosophe, lui ouvrirent les portes de l’Académie. […] Devenu membre d’une compagnie dont l’objet principal est la perfection du style, il ne se crut pas obligé pour cela de donner plus de soin à sa manière d’écrire; […] il ne voulait pas forcer la nature, craignant que les efforts inutiles qu’il ferait pour la dompter, ne fussent autant de momens perdus pour ses chères spéculations morales et politiques«, Œuvres, Bd. III, 1, S. 251 f. 19  Vgl. die knappe Charakterisierung dieses Werkes durch Verf. in Rolf Günter Renner / Engelbert Habekost (Hgg.): Lexikon literaturtheoretischer Werke, Stuttgart 1995, S.  327 f. 20  »[…] il n’y a rien de plus propre à faire comprendre toute la grandeur du régne du Roi, que d’avoir vû deux hommes [=Boileau et Racine] si capables d’employer pour sa gloire toute la magnificence de ce qu’on appelle le langage des Dieux, renoncer à cet avantage pour transmettre à la postérité d’un style simple & sans fard cette Histoire, où la vérité toute pure sera encore plus merveilleuse que la fiction même soutenue de tous les ornements de la Poësie«, Recueil, S. 151.



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das D’Alemberts Konzept des »éloge historique« als Prinzip epideiktischer Rede demokratisiert. Der Antrittsrede Fénelons als Nachfolger von Pellisson bescheinigt Marie de Brinon in ihrem Brief an Leibniz rhetorische Qualität, die sie gegen die Schwäche vieler Lobesschriften der Académie abgrenzt.21 Die heutige Forschung streitet sich noch darüber, ob der König Fénelon als dessen Nachfolger nur deshalb vorschlug, weil er von Pellisson bezeugte, dieser habe aus seiner Hand die Sakramente empfangen wollen, sei aber zuvor verstorben. Ludwig XIV. hatte Fénelon, der sich als Erzieher des Duc de Bour­ gogne seit 1689 den Ruf eines sanften, tief gläubigen Seelsorgers erworben hatte, zum sterbenden Pellisson beordert, um den Verdächtigungen, dessen Konversion zum Katholizismus sei opportunistisch gewesen, ein Ende zu bereiten. Die französischen Aufklärer haben Fénelon für sich reklamiert, wobei deutsche Germanisten ihn noch heutzutage ohne Zögern als Frühaufklärer betiteln, doch bleibt das Rhetorikkapitel seiner Lettre à l’Académie unzweifelhaft monarchistisch. Es beginnt mit zwei Gemeinplätzen, dass 1.  Rhetorik mit dem klimatisch bedingten Temperament eines Volkes und 2. mit dem politischen System zusammenhängt. Zu dieser Topik gehört auch der unterschiedliche rhetorische Raum: Bei den griechischen Republiken fallen große Entscheidungen in der Volksversammlung, bei der französischen Monarchie im Kabinett, weswegen in einer Monarchie die politischen und institutionellen Voraussetzungen für die Entfaltung rhetorischer Talente fehlten.22 An diesem Punkt setzen die Bestrebungen zu einer Modifikation der Panegyrik an. Während »Unsterbliche« mehr als ein Jahrhundert lang diesen Nachteil durch das hyperbolische Sprechen über die Bedeutung des Monarchen für die Sprachkultur auszugleichen suchten, setzte 1758 Charles Pinot Duclos als »Secrétaire perpétuel« der Académie endgültig durch, die Thematik des »prix d’éloquence« aus staatsbürgerlichen Erwägungen auf das »Lob berühmter Persönlichkeiten der Nation« auszurichten. Diesen Wechsel hat sein 21  Mme de Brinon meint noch in ihrem Brief vom 15.04.1693, diese Antrittsrede würde vermutlich nur einem erlesenen Kreis bekannt und nie gedruckt, doch bemerkt sie: »[…] l’on loüe fort l’eloge qu’il a fait de luy [=Pellisson] en y entrant […] l’eloge du roy qui devient difficille à faire par le grand nombre de loüange que l’on lui a donné qui ont espuisé les autheurs et qui empeche qu’on ne dise plus rien de nouveau n’a point tari monsieur de Fenelon, son esprit a trouvé des ressources dans l’abondance du sujet. […] il avoit dit des choses que personne n’avoit encore ditte, ce n’a point esté pour faire sa cour car le roy est au dessus de tout cela, et il aime mieux meriter des eloges que de les recevoir«, Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe I, 9, Berlin 1975, S. 99. 22  Vgl. Fénelon, Œuvres. Édition présentée, établie et annotée par Jacques Le Brun, Bd. II, Paris 1997, S. 1143 f.

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Nachfolger als »Secrétaire perpétuel«, D’Alembert, auf seine Éloges historiques übertragen, die programmatisch die Hyperbolik des genus demonstrativum monarchistischer Panegyrik gegen die historische Wahrheit unumstrittener Verdienste von »gens de lettres« austauschen, um die unter dem Obertitel »philosophes« vereinigte geistige Elite sogar dem Fürsten gleichzustellen.23 Damit zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, demzufolge Leistungen im kulturellen Sektor als entscheidende Beiträge zum öffentlichen Wohl interpretiert, historische Fakten gegen Hyperbolik sowie sprachlicher Ausdruck gegen die vermittelten Inhalte ausgespielt werden. Es liegt in der Logik dieser Entscheidung, die »Dichter und Redner« durch »gute Schriftsteller auf allen Gebieten: Grammatik, Philosophie, Geschichte, schöne Künste, ja Gelehrsamkeit und Naturwissenschaft«24 zu ergänzen, deren Leistungen überdies durch das Fortschrittsdenken relativiert werden. D’Alembert bescheinigt beispielsweise Saint-Pierre, inzwischen zu Gemeingut gewordene Vorstellungen in schlechtem sprachlichem Ausdruck verbreitet zu haben, sieht ihn jedoch durch sein Engagement für die richtige Sache, seine ehemalige Innovation und seine gute Absicht rehabilitiert.25 Darin manifestiert sich der bekannte grundlegende Wandel der rhetorischen Kultur, der jedoch keineswegs mit dem weniger beachteten von monarchistischer zu republikanischer Rhetorik identisch ist. Dieser spielt sich innerhalb des Parameters epideiktischer Rede ab. Die Panegyrik für den König übergeht D’Alembert in seinen Réflexions sur les éloges académiques zugunsten epideiktischer Rede über die »gens de lettres«, deren Aufwertung durch die Gesellschaft sein Hauptanliegen ist. Die Gleichstellung von Geburtsadel und Aristokratie des Geistes, die anlässlich der vom Sonnenkönig geschenkten »fauteuils« bereits angesprochen wurde, erhält nun eine gesteigerte Bedeutung, denn diese Gleichstellung sei, 23  »[…] nous espérons que les gens de lettres qui sont l’objet des éloges suivans ne paraîtront pas indignes de l’hommage que nous leur rendons. […] C’est par les actions qu’il faut louer ceux qui le méritent; l’éloge d’un homme de lettres doit donc être le récit de ses travaux«, Œuvres, Bd. II, 1, S. 151. 24  »Cette compagnie a donc besoin d’ouvrir ses portes, non-seulement aux orateurs et aux poëtes, mais aux bons écrivains dans tous les genres, grammaire, métaphysique, histoire, beaux-arts, érudition même et sciences exactes«, Œuvres, Bd. II, 1, S. 157. 25  »Tout a concouru à la disgrâce qu’ils [= ses écrits] ont éprouvée; des idées quelquefois singulières, quelquefois impraticables, quelquefois minutieuses; des vérités même, qui peu communes encore, lorsqu’il écrivait, sont maintenant usées et triviales, voilà pour le fond: la forme est moins attrayante encore; longueurs, défaut de méthode, négligence de style, et jusqu’à la singularité de l’orthographe […] Mais la passion du bien public, qui partout inspire l’auteur, demande grâce pour lui aux âmes honnêtes. Quelquefois même cette passion si noble donne de l’énergie et de la chaleur à son style«, Œuvres, Bd. III, 1, S. 255.



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so das Vorwort zu seinen Éloges, »eine der wesentlichen Grundlagen« der Statuten der Académie.26 Diese benötige, so D’Alembert, in ihren Reihen den Geburtsadel und Personen von gesellschaftlichem Rang.27 Den Geburtsadel zitiert er vor das Tribunal der Geschichte, um dort dessen Verdienste abzuwägen. Toussaint Rose, der 1675 Valentin Conrarts »fauteuil« erhält, lobt er beispielsweise dafür, Ludwig XIV. dazu bewogen zu haben, den »Unsterblichen« einen Platz unter jenen einzuräumen, deren offizielle Ansprachen ‚politische‘ Anregungen als Panegyrik vortragen, die somit monarchistische Rhetorik betreiben.28 Hingegen missbilligt er, dass Rose die Absicht des Königs unterstützt habe, den »Unsterblichen« eine höhere Vergütung zukommen zu lassen. Das müsse man mit Unkenntnis vor seiner Aufnahme in die Akademie entschuldigen, denn »égalité, désintéressement, liberté« seien die Prinzipien der »Unsterblichen«.29 Die Revolutionäre haben den Begriff des »désintéressement« durch die »fraternité« ersetzt, eine pikante Analogie, die den Übergang zur republikanischen Rhetorik nahelegt. III. Im »Éloge de Mongin« mokiert sich D’Alembert über die Predigt, mit der sich Edme Mongin als junger Priester auch in der Académie Française einen Namen machte, und gleichzeitig über die erbaulichen Themen des »prix d’éloquence« von 1671–1758, unter die Duclos einen Schlussstrich zog. Diese Wende besiegelt nach seiner Meinung ein Autor, dessen Beredsamkeit die »Helden des Vaterlands« angemessen lobt und dafür fünf Preise der Aca­ démie hintereinander errang,30 Antoine-Léonard Thomas. Thomas dichtet z. B. ein patriotisches Kurzepos über den Tod von Jumonville, der 1754, laut französischer Version des Geschehens, als Botschafter von den Amerikanern erschossen wurde, oder eine Versepistel über das Volk als Stütze des Staa26  »L’égalité académique n’est donc pas une simple prérogative de l’Académie Française, mais un des fondemens essentiels de sa constitution, et qu’on ne pourrait ébranler sans anéantir l’Académie«, Œuvres, Bd. II, 1, S. 159. 27  »[L]’Académie a besoin […] de membres distingués par la naissance et par le rang, et dont la cour soit le séjour ordinaire et naturel«, Œuvres, Bd. II, 1, S. 158. 28  »L’académicien qui était alors directeur […] alla, suivi de toute la compagnie en corps, haranguer le roi à Saint-Germain, à la suite du parlement, de la chambre des comptes et de la cour des aides«, Œuvres, Bd. II, 1, S. 162. 29  »Égalité, désintéressement, liberté. Ces trois mots sont écrits dans le cœur de tous les gens de lettres qui la composent, et de tous ceux qui sont dignes d’y aspirer«, Œuvres, Bd. II, 1, S. 163. 30  »Un écrivain qui s’est rendu célèbre dans cette carrière par cinq victoires éclatantes et consécutives, et qui, par son éloquence et ses vertus, s’est montré digne de lui, et leur a montré d’avance le prix de leur succès dans la place qu’il occupe aujourd’hui si dignement parmi nous«, Œuvres, Bd. III, 1, S. 330.

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tes.31 Den »prix d’éloquence« erhält er 1759 für seinen »Éloge de Maurice, comte de Saxe«, 1760 für den des Kanzlers D’Aguesseau und 1761 für den von René Duguay-Trouin, der es vom einfachen Matrosen zum »lieutenant général« bringt und damit durch persönliche Tapferkeit alle Standesschranken überwindet und ein Prinzip vorwegnimmt, das landläufig erst Napoleon zugeschrieben wird. 1663 huldigt er Sully, schwärmt aber eigentlich für Henri IV, den er als Feldherrn rühmt und zu einem aufgeklärten Herrscher umdeutet. Sein »Éloge de Louis Dauphin de France« schreibt dem früh verstorbenen Thronfolger die »Liebe für das öffentliche Wohl« zu und benutzt sogar die Formel, sein Panegyrikus sagte nichts außer, was durch das öffentliche Wohl diktiert sei.32 1767 handelt seine Antrittsrede in der Académie vom »homme de lettre comme citoyen«.33 Der Aufgeklärte schulde seinem Vaterland als Krieger sein Blut, als Jurist die Verteidigung des Rechts, als Priester den Dienst am Altar; das einfache Volk packe zu und der »homme de lettres« diene der Wahrheit.34 Und der König? Von ihm ist vorwiegend unter dem Begriff eines »homme d’état« die Rede, dem der »homme de lettres« für seine Regierungsgeschäfte nützliche Materialien bereitstellt.35 Dem »philosophe« huldigt Thomas in seinem »Éloge de René Descartes«36 (1765), wofür 31  »C’est toi qui des Estats soutenant la puissance,  /  Répands sur ces grands corps la gloire & l’abondance«, Thomas, Œuvres diverses. Nouvelle édition, première partie, Amsterdam 1767, S. 55. 32  »Dans cet éloge, je ne dirai rien qui ne soit dicté par l’amour du bien public«, Thomas, Œuvres, Paris 1773, Bd. IV, S. 233. 33  Œuvres, Bd. IV, S. 327. La Harpe sagt 1776 in seiner Antrittsrede in der Académie Française vom homme de lettres: »C’est celui dont la profession principale est de cultiver sa raison, pour ajouter à celle des autres. […] Jaloux d’étendre & de multiplier ses idées, il remonte dans les siècles, & s’avance au travers des monumens épars de l’Antiquité, pour y recueillir, sur des traces souvent presque effacées, l’ame & la pensée des Grands Hommes de tous les âges«, La Harpe, Œuvres, Paris 1778, Bd. III, S. 316. 34  »Au moment où l’homme est éclairé par la raison […] la Patrie s’en empare […] Le Guerrier dit, je te donnerai mon sang; le Magistrat, je défendrai tes loix; le Ministre de la Religion, je veillerai sur tes autels; un peuple nombreux, du milieu des ateliers & des campagnes, crie, je me dévoue à tes besoins, je te donne mes bras; l’Homme de lettres dit, je consacre ma vie à la vérité, j’oserai te la dire«, Œuvres, Bd. IV, S. 327 f. 35  »[…] l’Homme d’Etat seul choisira dans la foule des idées, tout ce qui peut s’appliquer aux besoins du gouvernement & de la Patrie.  /  La gloire de l’Homme qui écrit […] est donc de préparer des matériaux utiles à l’Homme qui gouverne«, Œuvres, Bd. IV, S. 334. 36  »Descartes ne fut donc ni Magistrat, ni Militaire, ni Homme de cour. Il consentit à n’être qu’un Philosophe, qu’un homme de génie, c’est-à-dire rien aux yeux du peuple. […] L’amour de la vérité n’est plus dans son cœur un sentiment ordinaire; c’est un sentiment religieux qui élève & remplit son ame«, Œuvres, Bd. IV, S.  29 f.



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ihn Voltaire in einem Brief lobt.37 Den aufgeklärten Monarchen preist er wiederum in seinem »Éloge de Marc-Aurèle«.38 La Harpe behauptete, diese Panegyrika verdankten allein ihrem Thema den überwältigenden Erfolg,39 für unsere heutige Sicht ist hingegen die Vorstellungswelt der Aufklärung ihr eigentlicher Eckpfeiler. Inwiefern sich darin republikanische Rhetorik ankündigt, erkennt man im Essai sur les éloges (1773). Die bereits in Fénelons Lettre à l’Académie erwähnte Topik des Gegensatzes von Rhetorik in den griechischen Republiken und in der französischen Monarchie kehrt bei Thomas wieder, erhält jedoch dadurch einen gewandelten Stellenwert, dass die griechischen Verhältnisse hyperbolisch verklärt und zum Maßstab für alle Panegyrik erhoben werden. Epideiktische Rede komme aus Ägypten, wo sie in erster Linie mit dem Totenkult verbunden war. Nur sekundär hänge sie mit den Olympischen Spielen bzw. mit Isokrates oder der Sophistik zusammen, die das Vorbild für alle späteren Lobreden abgaben. Die christliche Liturgie schiebt der Essai zugunsten einer politisch orientierten Moral beiseite, deren Sachwalter der Philosoph ist. Sokrates bildet das Modell des Philosophen und Platons Phaidon wird für die epideiktische Rede reklamiert.40 Damit kommt ein Gleichheitsprinzip dahingehend zum Tragen, dass nämlich nur jene gelobt werden, die ihr Leben für ihren Staat, lauter freie und kriegerische Republiken, hingegeben 37  Vgl. »Ce n’est point là un discours académique; c’est un excellent ouvrage d’éloquence & de philosophie. Autrefois nous donnions pour sujet du prix, des textes faits pour le Séminaire de S. S. …; aujourd’hui les sujets sont dignes de vous«, Œuvres, Bd. IV, S. 224 f. 38  »C’étoit à la philosophie sur le trône à venger ces insultes faites au genre humain. O vous qui n’êtes ni praticiens, ni sénateurs, ni riches, mais qui êtes des citoyens & des hommes, je ne crains pas que vos imprécations secrettes se mêlent aux louanges dont j’honore la mémoire de votre Empereur!«, Thomas, Éloge de Marc-Aurèle, Amsterdam – Paris 1775, S. 74. La Harpe preist diesen Éloge mit der Feststellung: »Si ce n’est pas-là de l’éloquence, de la grandeur & du génie, il n’y eut jamais. […] La gloire ne peut être sentie que par de belles ames & n’est dispensée que par des mains pures; il ne manquera rien à celle de M. Thomas […]« Sur l’Éloge de Marc-Aurèle par M. Thomas, Œuvres, Paris 1778, Bd. VI, S. 143– 153, S.  152 f. 39  »Le succès des éloges du maréchal de Saxe, du chancelier d’Aguesseau, de Duguai-Trouin, de Sulli, fut principalement dû à la supériorité de ces sujets sur ceux qu’on avait couronnés depuis cent ans«, La Harpe, Lycée ou Cours de littérature ancienne et moderne, Paris 1813, Bd. XIII, S. 231 f. 40  »On ose dire que nul éloge, ni ancien, ni moderne, n’offre un tableau si grand. La mort d’un homme juste est un objet sublime par lui-même: mais si ce juste est opprimé, si l’erreur traîne la vérité au supplice, si la vertu souffre la peine du crime […] alors je ne connois pas d’objet plus grand dans la nature: & tel est le spectacle que nous présente Platon, en décrivant la mort de Socrate«,Thomas, Œuvres, Bd. I, 119 f.

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haben.41 Perikles, Kriegsmann und Redner zugleich sei durch seine Eloquenz 40 Jahre zum »Monarchen einer Republik« geworden. Sein Erfolgsrezept bestehe darin, dass er die Athener durch Feste korrumpiert, durch Siege sowie durch Leichenreden auf deren Opfer beeindruckt habe.42 Die Römer seien kriegerische Barbaren und kulturell »Schüler, Bewunderer und Tyrannen«43 der Griechen gewesen. Der Alte Cato und Cicero bezeugen, dass die Römer nur tatsächliche Verdienste von Verstorbenen gelobt hätten,44 doch spielt Thomas Ciceros Bündnis mit den Mächtigen gegen die unbestechliche Haltung Catos unter den Vorzeichen von Republik gegen Monarchie aus.45 Dabei nimmt er die Umwandlung der römischen Republik in eine Monarchie aufs Korn, weswegen Augustus, das Modell für alle Panegyrik des »siècle de Louis XIV«, von Thomas zum Mörder und Tyrannen herabgewürdigt wird. Horaz wie Vergil werden als Speichellecker getadelt.46 Es wundert nicht, dass der berühmte Panegyrikus von Plinius auf Trajan schlechter wegkommt als Tacitus, der keinen verfasst hat, aber mit seiner Charakterisierung von Tiberius, Caligula und Claudius als Historiker sozusagen die tadelnde epideiktische Rede exemplarisch vorgeführt hat. Diese Funktion als Tadler nimmt Thomas für sich selbst als Vorbild einer republikanischen Panegyrik, die alle Fürsten im Horizont freiheitlicher Staatsform und Gesinnung beurteilt. Er schreibt der griechisch-römischen 41  »En Egypte, où la politique étoit liée à la religion, on se proposoit sur-tout de faire régner la morale dans toutes les classes de citoyens: dans la Grèce, composée de républiques libres & guerrières, on s’attachoit à élever les ames & à y nourrir le mépris des dangers & de la mort. Ainsi les éloges funèbres n’étoient accordés au nom de l’Etat, qu’à ceux qui étoient morts pour l’Etat«, Œuvres, Bd. I, S. 66. 42  Périclès »à la fois capitaine & orateur […] redoutable à la Grèce, & corrupteur d’Athènes. On sait qu’il enivra le premier les Athéniens de spectacles & de fêtes, & leur donna des vices pour les gouverner; mais ce fut son éloquence qui le rendit quarante ans monarque d’une république. […] Ce fut après la guerre de Samos, où il avoit lui-même commandé, & remporté plusieurs victoires, qu’il prononça cet éloge funèbre«, Œuvres, Bd. I, S. 67 f. 43  »Les arts du génie, ils ne les dûrent qu’à ce mêmes Grecs dont ils furent en tout les disciples, les admirateurs & les tyrans«, Œuvres, Bd. I, S. 149 f. 44  »On célébroit les grandes actions ou les vertus, non pas les titres«, Œuvres, Bd. I, S. 157. 45  »[…] Cicéron, malgré son génie, fut quelquefois plus orateur qu’homme d’Etat. On doit être encore plus fâché de trouver dans les ouvrages de ce grand homme son discours contre Marcellus, qui n’est, en grande partie, que l’éloge de César, & de César maître de Rome. […] On s’étonne quelquefois que l’homme qui avoit loué le destructeur de la liberté romaine, ait eu le courage de louer Caton, vengeur & martyre de la liberté«, Œuvres, Bd. I, S. 163 f. 46  »Sous Octave, deux hommes qui étoient nés libres, & qui tous deux avoient vu les proscriptions, louèrent à l’envi l’assassin qui, à force d’art & de souplesse, avoit asservi Rome. J’en demande pardon à ces deux hommes, mais il faut les nommer; c’est Horace & Virgile«, Œuvres, Bd. I, S. 203.



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Antike wie später die Französischen Revolutionäre eine republikanische Vorbildlichkeit zu, unterscheidet sich lediglich dahingehend von deren Anschauungen, dass er die Republik nicht zum totalen Feind der Monarchie erhebt und alle Monarchen in Tyrannen verwandelt. Dabei knüpft er an vertraute Vorstellungen des französischen Humanismus an47 und trägt im Grunde genommen Prinzipien weiter, die schon der Epoche Ludwigs XIV. zur Darstellung ihres Selbstverständnisses und ihrer politischen Zielsetzungen dienten. Um diese Zusammenhänge näher zu beleuchten, müsste ich die lange Partie des Essai sur les éloges über das französischen 17. Jahrhundert analysieren und mit der staatstheoretischen Diskussion der Aufklärung konfrontieren, was den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. IV. Anstatt einer obsoleten Zusammenfassung meiner Ergebnisse möchte ich abschließend die Predigt einbeziehen, der Thomas wesentlich mehr Aufmerksamkeit als der Liturgie widmet. Die Predigt muss aber auch deshalb besonders thematisiert werden, weil die Revolutionäre die Leichenrede aus dem kirchlichen in den politischen Raum verlagern wollten. Schon vor der Revolution sympathisierte eine maßgebliche Predigtlehre mit dem Konzept epideiktischer Rede von Thomas. Jean Siffrein Maury (1746–1817) lobt in seinem Essai sur l’éloquence de la chaire (1777) die »Revolution«, die Thomas in der Rhetorik bewirkt hat,48 nicht ahnend, welche »Revolution« ihm als Abgeordneter des Klerus in der Nationalversammlung bevorstand und ihn später zum Exil in Rom zwingen würde. Sein äußerst erfolgreicher Traktat unterstreicht die Gemeinsamkeiten der epideiktischen Rede von Thomas mit den auf der Kanzel vorgetragenen Ideen bzw. ihrer Mo47  Marc Fumaroli bezeichnet die von Thomas vertretene Konzeption als »homélie philosophique«. Er wertet mit Recht die Neuartigkeit seiner epideiktischen Rede als »très relative. Elle répondait en fait à la nostalgie très ancienne de l’humanisme français pour une éloquence ›républicaine‹, qui ranimait, pour les Modernes, celle de Démosthène et de Cicéron«, Trois institutions littéraires, Paris 1994, S. 69 f. 48  Kapitel 49 trägt die Überschrift »De la révolution que M. Thomas a opérée dans le genre oratoire« und wiederholt den Begriff  in der Feststellung: »[…] il a concouru à l’heureuse révolution qui a ranimé le goût de l’art oratoire dans la partie des éloges, où il a déployé autant d’éloquence que Fontenelle avait montré de sagacité; […] les ouvrages du panégyriste de Marc-Aurèle doivent nous être à jamais précieux par l’union si touchante et si rare du savoir, du génie et de la vertu«, Principes d’éloquence pour la chaire et le barreau Par Son E. Monseigneur le Cardinal Maury, ex-Député aux États Généraux en 1789, Paris An XIII – 1805, S. 187 f. Diese Ausgabe unterscheidet sich durch ihren Titel von den zahlreichen anderen Auflagen des Essai im späten 18. und im 19. Jahrhundert. Sie bezieht die Gerichtsrede nur im Titel ein, der zur Religionspolitik Napoleons passt und ein Prinzip der Anpassung signalisiert.

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ral49 und verlangt gleichzeitig vom Prediger eine Ausrichtung am »Stil der Bibel«.50 Damit möchte er die Predigtreform des Konzils von Trient aktua­ lisieren, dessen Ruf nach biblischer Paränese er aufgreift.51 Leider ist er völlig blind für die fundamentalen Divergenzen zwischen der langen Tradition christlicher Rhetorik, die sich immer wieder auf die einfache biblische Ausdrucksweise beruft, und der republikanischen Epideiktik von Thomas, die letztlich in die laizistischen Reformbestrebungen der Revolutionäre münden wird. Maury hat die monarchistische Panegyrik erfolgreich praktiziert, 1771 wird sein Panegyrikus auf Fénelon von der Académie gelobt, 1772 obliegt ihm der offizielle Lobpreis des Heiligen Ludwig, in denen er jeweils Ideale der Aufklärung christlich verklärt.52 Er gehört zu den Gutmeinenden, die hellsichtig für die Zeichen der Zeit sind, sich aber doch täuschen. Dies illustriert seine Antrittsrede in der Académie Française von 1785, wo er Ludwig XVI. dafür lobt, als erster Herrscher in seinem Palast »Statuen der bedeutenden Menschen seiner Nation« errichtet zu haben, um »die Künste zu fördern und in der ganzen Gesellschaft die Liebe zum Ruhm zu entzünden«.53 Im Gegensatz zu Thomas misst er die erfolgreiche Rede nicht am Ethos antiker republikanischer Gesinnung, sondern an der Fähigkeit, die Affekte der Zuhörer zu dominieren. Fénelon ist für ihn Vorbild dieser nicht 49  So beginnt das Kapitel »De l’emploi de l’Écriture Sainte« mit der Behauptung: »Le genre que M. Thomas a cultivé tient beaucoup du genre de la chaire, par l’élévation des idées et le ton moral qui leur sont communs« (Principes d’éloquence, S. 188), ohne dass Maury Unterschiede zwischen der Ethik der philosophes und biblischer Weltsicht benennt. 50  »La Bible est pour le style des prédicateurs ce qu’est la Mythologie pour l’élocution des poètes. On trouve dans les livres saints des pensées si sublimes, des expressions si énergiques, des peintures si éloquentes, des allégories si heureuses, des sentences si profondes, des élans si pathétiques, des sentiments si tendres, qu’il faudrait se les approprier par goût, si on était assez à plaindre pour ne les point rechercher par zèle et par piété«, Principes d’éloquence, S. 189. 51  »[…] pour ranimer le goût de l’éloquence évangélique, on emploie parmi nous les mêmes moyens qui excitèrent une si heureuse émulation dans les beaux jours du siècle de Louis XIV«, Principes d’éloquence, S. 214. 52  La Harpe charakterisiert das Neue an Maurys »Panégyrique de saint Louis«: »Il s’est rendu son sujet propre & l’a fait paraître nouveau. […] C’est sur-tout sous le titre de Législateur & de Bienfaiteur des hommes qu’il a considéré son héros […]«, Sur le Panégyrique de S. Louis, roi de France; par M. l’Abbé Maury, Œuvres, Paris 1778, Bd. V, S. 317. 53  »Louis XVI est pour l’histoire le premier souverain qui se soit fait un devoir d’acquitter cette dette importante de la patrie, en élevant des statues, dans son palais, aux grands hommes de sa nation, et en faisant servir l’émulation dont il anime les arts, à réveiller l’amour de la gloire dans tous les ordres de la société«, Principes d’éloquence, S. 28.



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als epideiktisch, sondern als pathetisch qualifizierten Rede,54 deren theologische Fundierung die ideologischen Grundlagen der republikanischen Panegyrik von Thomas verkennt. An seinen guten Absichten ist nicht zu zweifeln, wohl aber an seiner Fähigkeit, die Verhältnisse richtig einzuschätzen. Er geht angesichts der politischen Entwicklung in Frankreich nach Rom ins Exil und erhält dafür zunächst den Rang eines Bischofs, dann eines Kardinals. Selbst Bonaparte wird ihm zum Verhängnis, denn er lehnt ihn zunächst ab, revidiert seine Meinung angesichts des Konkordats mit dem Heiligen Stuhl, hält ihm aber noch nach seinem Sturz die Treue, wird deshalb in Rom eingesperrt und verliert seinen Bischofssitz. Diese knappen Hinweise auf seine Biographie erübrigen eine umfangreiche Detailanalyse seines Rhetorikkonzepts, das aber trotz des persönlichen Scheiterns von Maury im 19. Jahrhundert in klerikalen Kreisen weiterhin hohes Ansehen genoss, weil dessen kirchliche Bewunderer sich mit dem Zeitgeist arrangieren wollten. Die zur Panegyrik gehörende Memorialkultur haben die Revolutionäre klarer politisch einzuschätzen gewusst als deren rhetorische Dimension. Joseph Droz ist sich als Rhetoriker völlig bewusst, dass die Leichenreden ein Angelpunkt und ein Zankapfel des ideologischen und kulturellen Umbruchs sind. Er spielt deshalb die patriotischen Huldigungen der Revolutionäre gegen die Leichenfeiern im Ancien Régime als Zeugnisse historischer Wahrheit gegen deren rhetorische Verbiegung durch den Klerus aus. Wenn Droz den religiösen durch einen profanen Raum ersetzt, ändern sich die Begriffe und Theo­ rien nicht wesentlich,55 was die Blindheit von Maury und seinen klerikalen Anhängern verständlicher erscheinen lässt. Es ist offensichtlich schwierig, die rhetorische Dimension historischer Umbrüche zu durschauen. Daraus ergibt sich folgendes Fazit: Die Rhetorik der Leichenrede ist durch die Académie Française im 18. Jahrhundert längst zu einer republikanischen geworden, bevor die Revolution die Monarchie gestürzt hat. 54  »Il est une éloquence douce et coulante, qui, loin d’exciter de violentes secousses, s’insinue sans effort dans l’ame, et y réveille les plus tendres affections; c’est une suite de sentimens naturels et touchans qui s’épanchent avec abondance, et au moment où on les éprouve on oublie l’orateur qui les inspire, on croit s’entretenir avec soi-même. […] Telle est l’éloquence de Fénélon. La première partie de son Discours pour le sacre de l’Électeur de Cologne est écrit avec l’énergie et l’élévation de Bossuet, la seconde suppose une sensibilité qui n’appartient qu’à Fénélon«, Principes d’éloquence, S. 201. 55  Droz situiert das Genre richtig: »Les éloges funèbres font partie des discours destinées aux fêtes publiques«, er irrt sich aber, wenn er behauptet, dass »[c]e genre d’ouvrage doit prendre un nouveau caractère« (Essai sur l’art oratoire, Paris 1800, S. 214). Seine Polemik gegen die Leichenpredigten für die »dépositaires de l’autorité« im Ancien Régime ist ebenso wenig neu wie die Charakterisierung des Genres: »Les éloges funèbres sont un hommage que la patrie paie aux grands citoyens qu’elle a perdus, et l’orateur est l’organe de la douleur publique«, Essai sur l’art oratoire, S. 215.

Anfangsgründe des Erhabenen. Zur protoästhetischen Funktion des Herrscherlobs in Schillers Karlsschulreden Von Marc Seiffarth Im 18. Jahrhundert kommt es durch die Herausbildung der Ästhetik als eigenständiger philosophischer Teildisziplin zu einer Bedeutungsminderung der Rhetorik, genauer gesagt: zu einer Trennung rhetorisch-funktionaler Reden und genuin poetischer Texte, wobei letztere nun zunehmend als Ergebnisse eines autonomen künstlerischen Schaffensprozesses verstanden werden.1 Im Zuge dieser Neubestimmung des Verhältnisses von Rhetorik und Poetik nimmt Friedrich Schiller eine Sonderstellung ein, da er »zwar die kantisch-idealistische Abwertung der Rhetorik aufgreift, andererseits jedoch die für eine rhetorische Ästhetik zentralen Kategorien übernimmt […]«2 und in neue Kontexte, etwa die Moralphilosophie Hutchesons, Fergusons und 1  Vgl. Klaus L. Berghahn, Art. »Schillers philosophischer Stil«, Schiller-Handbuch, hg. Helmut Koopmann, 2., durchges. und aktual. Aufl., Stuttgart 2011, 304– 318, hier 305; vgl. hierzu ausführlich Georg Braungart, Dietmar Till, Art. »Rhetorik«, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. Klaus Weimar u.  a., 3  Bde., Berlin 1997–2003, Bd. 3, 290–295, hier 293 f.: »Um 1700 zeigt das rhetorische System deutliche Auflösungserscheinungen. […] Das 18. Jh. bedeutet den Abschluß dieser langsamen Erosionsphase.« Infolge von »Ausdifferenzierungs- und Verschiebungsprozesse[n]« (ibid.) erhält die Rhetorik einen aufgrund ihrer pragmatischen Zielsetzung marginalisierten Standpunkt im System der ›schönen Künste‹. Vgl. andererseits die optimistische Einschätzung bei Herman Meyer, »Schillers philosophische Rhetorik«, Euphorion 53 (1959), 313–350, hier 322 f.: »Die Goethezeit stand noch in der bis in das 6. Jahrhundert vor Christo zurückreichenden und wohl nie ganz unterbrochenen Tradition, in welcher und durch welche die Rhetorik eine unvergleichlich mächtige literarische und kulturelle Wirklichkeit war.« 2  Gert Ueding, Art. »Schiller und die Rhetorik«, Schiller-Handbuch, hg. Helmut Koopmann, 2., durchges. und aktual. Aufl., Stuttgart 2011, 202–209, hier 202; Immanuel Kant, »Kritik der Urtheilskraft«, ders., Werke. Akademie-Textausgabe, 8  Bde., Berlin 1968, Bd. 5, 165–485, hier 327: »Die Beredsamkeit, sofern darunter die Kunst zu überreden, d. i., durch den schönen Schein zu hintergehen (als ars oratoria), und nicht bloße Wohlberedenheit (Eloquenz und Stil) verstanden wird, ist eine Dialektik, die von der Dichtkunst nur so viel entlehnt, als nöthig ist, die Gemüther von der Beurteilung für den Redner zu dessen Vortheil zu gewinnen und dieser Freiheit zu benehmen; kann also weder für die Gerichtsschranken noch für die Kanzeln angerathen werden.«

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schließlich Kants, überführt. Dass ferner die rhetorisch mehr oder weniger komplexen Strategien der Kritik an den Fürstenhöfen, wie sie durch Schiller selbst und viele seiner Zeitgenossen, etwa Klopstock und Schubart, erfolgen, keine Besonderheit der vorrevolutionären Zeitumstände sind, ist bereits gezeigt worden. Der junge Schiller wird zuweilen in eine kritisch-subversive Tradition eingereiht, die sich von Sebastian Brant und Thomas Morus bis in das 18. Jahrhundert zu Friedrich Carl von Moser und Gotthold Ephraim Lessing erstreckt. Das explizite Fürstenlob und die latente Fürstenkritik gehen dabei meist eine Verbindung ein – bei Schiller in besonderer Weise: Schon während der Zeit auf der Hohen Karlsschule, wo Schiller die Namenstagsund Geburtstagsfeiern der herzoglichen Mätresse mit fast schmeichlerischen Gedichten und Reden verbrämen mußte, kündigte sich seine Opposition gegen das persönliche Regiment des Herzogs und seine höfische Erscheinungsform an: im sezessionistischen Freundschaftskult, in freiheitlichen Stammbucheinträgen für befreundete Mitschüler und in einigen Gedichten, in denen Schiller Themen wie die höfische Mätressenwirtschaft mit bitterem Pathos behandelt.3

Diese polemische Einstellung gilt dem höfischen Alltag, geprägt durch Etikette und Zeremoniell, den Schiller in seinen Karlsschuljahren von 1773 bis 1780 erlebt. Der Redner zu Hofe ist von der Gunst seines Herrschers direkt abhängig, weswegen sich auch seine Rede in einem formalen Rahmen bewegt, der – zumindest an der textuellen Oberfläche – wenig Spielraum für Kritik, Ambiguität und das bisweilen subversive Potenzial der Sprache lässt. Die Bewertung der Schillerschen Reden innerhalb der Forschung, ihre schwer zu bestimmende Stellung zwischen bloßer Schmeichelrede4 und subtiler Fürstenkritik, lässt noch eine dritte Deutungsmöglichkeit zu: Der Eleve tritt dem Herzog als selbstbewusster Adept aus dessen eigener Akademie entgegen und verkörpert ganz selbstverständlich das dort vermittelte Pensum »sensualistische[r] Moralphilosophie«5. Bei den Reden handelt es sich um 3  Helmuth Kiesel, »Bei Hof, bei Höll«. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller (Studien zur deutschen Literatur 60), Tübingen 1979, 234 f. 4  Das Generalverdikt der ›blanken Schmeichelei‹ bei den höfischen Anläsen zu Schillers Zeit scheint vor allem durch die Forschung des 19. Jahrhunderts vorangetrieben worden zu sein, vgl. etwa die Einschätzung bei Jakob Minor, Schiller. Sein Leben und seine Werke, 2 Bde., Berlin 1890, Bd. 1, 212: »Auf uns Kinder des neunzehnten Jahrhunderts machen diese Hofreden freilich einen unerfreulichen Eindruck durch den Ton kriechender Schmeichelei, welcher durch die stehende Versicherung der Festredner, daß der Verdacht der Heuchelei von ihnen fern bleiben möge, nur noch verstärkt wird.« 5  Peter-André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2 Bde., München 2000, Bd. 1, 107 f. Vgl. die Einschätzung bei Friedrich Strack, »Schillers Festreden«, Schiller und die höfische Welt, hg. Achim Aurnhammer u. a., Tübingen 1990, 111–126, hier 116:



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Schillers »früheste Gehversuche auf dem Gebiet der Moralphilo­sophie«6. Er spricht anlässlich des höfischen Festes in chiffrierter Weise auch über die eigene Situation in der Erziehungsanstalt, etwa die durch den Herzog erfolgte Zurechtweisung in Form der Ablehnung seiner ersten Dissertationsschrift, Philosophie der Physiologie.7 Friedrich Schiller demonstriert ein durchweg zwiegespaltenes Verhältnis zur eigenen Erziehung an der Hohen Karlsschule. Während sich der angehende Dichter nach seiner Flucht aus Stuttgart im September 1782 inhaltlich als überzeugter Kritiker hö­ fischer Kasualdichtung profiliert, verdankt er seiner schulrhetorischen Ausbildung formal, d. h. motivisch und stilistisch, einen maßgeblichen Teil jener Wortgewalt, die seine Gedichte und Dramen der 1780er Jahre auszeichnet.8 Die beiden Festreden Schillers, verfasst und gehalten anlässlich der Geburtstagsfeiern für Franziska von Hohenheim am 10. Januar 1779 und 1780, haben an diesem Arsenal pathetischer Formeln und philosophischer Topoi, das die frühen Werke gleich einer Signatur durchzieht, erheblichen Anteil. Sie bewegen sie sich im Spannungsfeld ernsthafter Panegyrik und didaktisch-funktionaler Repetition dessen, was in dem mit fünfzehn Wochenstunden sehr umfangreichen Philosophieunterricht der Karlsschule vor allem durch den Lehrer Jakob Friedrich Abel, ferner im Bereich der Rhetorik und Stilistik durch Balthasar Haug und dessen Vorlesung Teutsche Sprache, Schreibart und Geschmack, vermittelt wurde.9 So spricht man zuweilen von »Als Huldigungsreden bleiben sie einer überlebten höfischen Kultur verpflichtet, die ihren Anspruch verspielt hatte; als wissenschaftliche Erörterungen jedoch weisen sie in die Zukunft eines bürgerlich aufgeklärten Zeitalters, das den Forderungen der Tugend gerecht werden wollte. Beides in einer Symbiose zu vereinigen, war die heikle Aufgabe, vor der die Karlsschüler standen.« 6  Wolfgang Riedel, Art. »Schriften der Karlsschulzeit«, Schiller-Handbuch, hg. Helmut Koopmann, 2., durchges. und aktual. Aufl., Stuttgart 2011, 582–610, hier 592. 7  Der Herzog ordnet nach Durchsicht der Gutachten am 13. November 1779 an, Schiller müsse noch ein weiteres Jahr in der Akademie verbleiben, zur ›Domestikation‹ seines jugendlichen Feuers, »so daß er alsdann einmal, wenn er fleißig zu seyn fortfährt, gewiß ein recht großes Subjectum werden kann.« (Friedrich Schiller, Werke. Nationalausgabe, begr. von Julius Petersen, fortgef. von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. seit 1992 von Norbert Oellers, 43 Bde., Weimar 1943 ff., Bd. 3, 262. [im Folgenden abgekürzt mit der Sigle NA gefolgt von der arabischen Band- und Seitenzahl; Hervorhebungen des Autors wurden, soweit nicht anders vermerkt, übernommen]); vgl. dazu Alt, Schiller, Bd. 1, 165. 8  Vgl. hierzu bereits die Einschätzung der von Schiller verwendeten Topoi der Lobpreisung Franziskas bei Emil Staiger, Friedrich Schiller, Zürich 1967, 105: »Um dieselben Gedanken kreisen die Laura-Oden der Anthologie, die Hymne ›Der Triumph der Liebe‹, Amalias Lied im dritten Akt der ›Räuber‹ und das Gedicht ›Die Freundschaft‹, das später in die ›Philosophischen Briefe‹ eingelegt worden ist.« 9  Die Urteile der Forschung über die Reden sind heterogen und vertreten unterschiedliche methodische Standpunkte. Luserke-Jaqui spricht von der Möglichkeit

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»moralphilosophischen Schulübungen«10, die schematisch an einem vom Herzog vorgegebenen Thema vollzogen werden und deren eigenständiger Wert mehr als fraglich ist. »Schwankend zwischen humanistischer Schul­ rede und höfischer Festrede werden die schriftlichen Exerzitien der Karlsschüler zu Redekunststücken.«11 Gerade dieses vergleichsweise offene Konzept ermöglicht jedoch produktive Überschneidungen der genera dicen­ di aus der Schulrhetorik, wie etwa die Integration deliberativer Elemente in das ansonsten demonstrative Redegenus, umrahmt von einem epideiktischen Redekontext in Einleitung und Schluss.12 Es gibt von Schillers Seite keine spätere Bezugnahme auf die Karlsschulreden – dies müsste nach seiner Flucht aus Stuttgart und dem daraus resultierenden Zerwürfnis mit dem Landesherrn auch verwundern; jedoch haben einzelne Motive, etwa die ideengeschichtlich prominente great chain of being13 und die damit eng verknüpften Tugendkonzepte aus Adam Fergusons Grundsätzen der Moralphilosophie und Francis Hutchesons Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue eine erhebliche Ausstrahlung auf spätere Texte Schillers. Als Belege dafür können beispielsweise motivische Versatzstücke angeführt werden, wie die allegorische Darstellung des Herrschers als sonnengleiche Instanz der Tugend und deren erhabene Wirkung, die u. a. mit dem Bild des niederknienden Seraph assoziiert wird. Zwar wird der produktionsästhetische Nexus, bestehend aus dem Philosophieunterricht der Karlsschule, den Gedichten aus der Anthologie auf das Jahr 1782 und den Philosophischen Briefen, immer wieder betont,14 einer Doppellektüre – kritische und affirmative Redeteile gleichermaßen anerkennend, vgl. Matthias Luserke-Jaqui, »Über Schillers Semele oder Beobachtungen über das Schreiben linker Hand«, ders., Über Literatur und Literaturwissenschaft. Anagrammatische Lektüren, Tübingen u. a. 2003, 155–178, hier 165; vgl. auch ders., Art. »Schriften aus der Karlsschulzeit (1774−1780)«, Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von dems., Stuttgart 2005, 339–343, hier 341. Die Ursache dieser ambivalenten Lektüre ist text- bzw. adressatenimmanent: »[Die Festredner, M. S.] wollen zum einen Franziska verherrlichen, zum andern aber auch sich selbst und ihre Zuhörer für die Tugend begeistern, als deren vollendete Verkörperung die Gräfin von Hohenheim gefeiert wird.«, Martina Eicheldinger, »Rhetorische Elemente in den Reden der Karlsschüler auf Franziska von Hohenheim (1779)«, Schiller und die höfische Welt, hg. Aurnhammer, 94–110, hier 105. 10  Alt, Schiller, Bd. 1, 107. 11  Strack, »Schillers Festreden«, 114. 12  Eicheldinger, »Rhetorische Elemente«, 95, 105. Vgl. außerdem Riedel, Art. »Schriften der Karlsschulzeit«, 591. 13  Vgl. Arthur O. Lovejoy, The great chain of being. A study of the history of an idea, Cambridge, Mass. 1948. 14  Vgl. Strack, »Schillers Festreden«, 118; Peter Michelsen, »Studien zu Schillers ›Räubern‹. Erster Teil«, Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 8 (1964), 57–111, darin vor allem die Wirkung der Ballett-Reformen J. G. Noverres am Stutt-



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eingehende Analysen dieser motivisch-strukturellen Überschneidungen bilden aber die Ausnahme.15 Schillers erste Rede mit dem Titel Gehört allzuviel Güte, Leutseligkeit und große Freigiebigkeit im engsten Verstande zur Tugend? gehorcht dem durch Quintilians Institutio oratoria vorgegebenen Schema der partes orationis16 und passt diese dem konkreten Anlass der Festrede an.17 Schiller exponiert zu Beginn seine Redesituation als Panegyrist: »[…] Ich freue mich des erhabenen Gegenstands meiner Rede. Ich freue mich doppelt der Tugend Lobredner zu seyn, im Tempel der Tugend.«18 Im Interesse einer captatio benevolentiae wird hier das Telos der Rede, das Lob der Herrschertugend, in einer chiastischen Struktur vorweggenommen. Als Klimax werden sodann »Verstand«, »Liebe« und »Tugend« auf scheinbar notwendige Weise miteinander verknüpft: Der Verstand habe zu prüfen, ob die Neigungen zu Glückseligkeit, Liebe und damit schließlich zur Tugend führten.19 Gleich im Einstieg dichotomisiert der Redner, dort ist »die schimmernde Tat vor dem Auge der Welt«, begleitet vom »Klatschen des Beifalls der Menge«, hier, im Redner selbst, die innere Quelle der Tat, »die zwischen Tugend und Untugend entscheidet.«20 Diese Quelle identifiziert Schiller mit der Liebe zur Glückseligkeit, die sich wiederum vom »scharfsehende[n] Verstand« leiten lässt. Das Wesen der Tugend wird im Hauptteil der Rede als »Band von Liebe und Weisheit« bestimmt: Was ist also das Wesen der Tugend? Nichts anders, als Liebe zur Glückseeligkeit, geleitet durch den Verstand – Tugend ist das harmonische Band von Liebe und Weißheit! Und was anders, wenn ich hinaufstaune an das höchste Urbild der Tugend? – Was wars, das die Weisesten leitete, eine Welt aus dem Chaos zu erheben? – Unendliche Liebe […].21

Die christlich-neuplatonisch gestaltete Liebesphilosophie dieser Zeilen, die das Abstraktum ›Tugend‹ apostrophiert, muss zugleich als Hinwendung zum garter Hof zwischen 1760 und 1767 und deren Absicht, das ›Natürlichkeitsstreben‹ der Aufklärung abzubilden, 71–82; Gert Ueding, Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition, Tübingen 1971, 144–153. 15  Diese Ausnahmen sind zuvorderst Gerhard Friedl, »Die Karlsschüler bei höfischen Festen«, Schiller und die höfische Welt, hg. Achim Aurnhammer u. a., Tübingen 1990, 47–76 sowie Strack, »Schillers Festreden«. 16  prooemium, narratio, argumentatio (probatio, refutatio), peroration, vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 4. Aufl., Stuttgart 2008, § 261 f., 147–149. 17  Vgl. Eicheldinger, »Rhetorische Elemente«, 96 sowie Alt, Schiller, Bd. 1, 102 f. 18  NA 20, 3. 19  Vgl. ibid. 20  Ibid. 21  NA 20, 4.

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großen Vaterbild Herzog Karl Eugens und der Franziska von Hohenheim gelesen werden, der, wie es in der peroratio heißt, »Menschenfreundinn« und »Mutter«22. Der Triumph einer Tugend, die Widerstände zu überwinden weiß, gilt dem Redner als göttlichste Eigenschaft, die wiederum das »harmonische Band von Liebe und Weißheit«23 zwischen den Menschen konstituiert und verstärkt. Dieses Sinnbild des einigenden Bandes findet sich auch in dem Gedicht Fantasie an Laura aus der Anthologie auf das Jahr 1782: Tilg die Göttin aus der Geister Orden,   Sie erstarren in der Körper Tod, Ohne Liebe kehrt kein Frühling wieder,   Ohne Liebe preißt kein Wesen Gott!24

Das lyrische Ich, hier von Liebe zum konkreten Gegenüber Laura erfüllt, beschwört denselben Liebesbegriff, der den Menschen mit der übrigen Schöpfung verbindet, wie Schiller zwei Jahre zuvor in seiner Schulrede. In zwei anaphorischen Versen wird beschrieben, wie die Welt ohne Liebe aussehen müsste und man ist bei der Vorstellung des nicht wiederkehrenden Frühlings versucht, an das 1796 entstandene Gedicht Klage der Ceres zu denken, worin besagte Göttin ihren jährlich sich erneuernden Schmerz über den Verlust der Tochter Proserpina an den Herrscher der Unterwelt äußert.25 Ferner findet sich eine Entsprechung der sonnengleich strahlenden Richtergestalt Karl Eugens in dem an Klopstocksche Oden angelehnten Gedicht An die Sonne: Das »[h]errlichste[] Fürbild der Edeln«26 wird darin von der gesamten Natur begrüßt und gefeiert, analog der Tugend, die in Schillers Rede von der gesamten Menschheit angebetet werden soll. Auch in der berühmten Ode An die Freude, 1785 aus Dankbarkeit an seinen Mäzen und Freund Körner verfasst, erscheint die Freude als einigendes Band, das »des Dulders Bahn« zu »der Tugend steilem Hügel« leitet.27 Sogar die »Sonnen«, die hier an mehreren Stellen im Plural auftauchen, werden durch die universale Kraft der Freude von ihrer Bahn abgelenkt. Die Exempla des Mittelteils tasten loci classici der verehrungs- bzw. verabscheuungswürdigen Persönlichkeiten ab: Sokrates, nach der Darstellung in Mendelssohns Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, sowie Marc Aurel fungieren als leuchtende Vorbilder der Tugend, Julius Caesar und Augustus hingegen als Beispiele einer volks- und tugendfernen Herrschaft.28 22  NA

20, 9. 20, 4. 24  NA 1, 46. 25  Vgl. NA 1, 279–282. 26  NA 1, 52. 27  Vgl. NA 1, 170; vgl. ebenfalls Alt, Schiller, Bd. 1, 107. 28  Vgl. Alt, Schiller, Bd. 1, 103. 23  NA



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Schillers Rede weist durch ihre stets präsente Vollkommenheitslehre bereits voraus auf ein zentrales Element seiner Ästhetik, das in der Forschung als ›Totalitätsforderung‹ verhandelt wird. Wenn Schiller im argumentierenden Teil seiner ersten Rede die falsche Güte disqualifiziert und fordert, dass sich »Liebe« und »Weißheit«29 zur Tugend vereinen sollen, dann lässt dies bereits die Forderung nach Vereinigung von Sinnlichkeit und Vernunft zum ›ganzen Menschen‹ erahnen, die die ästhetischen Schriften aus Schillers Jenaer Zeit bestimmt. Noch in den Notizen zu den unvollendet gebliebenen Maltesern schreibt Schiller (vermutlich 1799) mit Bezug auf die Figur La Valette, den Ordensgroßmeister von Malta: Die Existenz des Moralischen kann nur durch die Totalität bewiesen werden, und ist nur durch diese schön und das Höchste. In Begleitung jener Festigkeit sind also Zartheit, lebhafte Beweglichkeit, Wohlwollen, Mäßigung, Weichheit, Milde, kurz alle schöne menschliche Tugenden. Ihre Verbindung macht den Großmeister zu einem liebenswürdigen und wahrhaft großen Menschen.30

Die Vereinigung von Liebe und Weißheit, hier der ›schönen, menschlichen Tugenden‹ und der ›Festigkeit‹, die in den Karlsschulreden bereits proponiert wurde, findet hier eine dramenpoetisch wirksame Ausbuchstabierung. Am Ende mündet Schillers Rede in stürmischen Wortkaskaden, zahlreichen Aposiopesen und dem hyperbolischen Gebrauch klassischer Lobtopoi wie den »Tränen der Dankbarkeit und Freude« und dem Hinweis auf »die Pracht dieser Versammlung«31. Zu Recht ist darauf verwiesen worden, dass Schiller keine kausale Verknüpfung oder gar eine nach schulphilosophischen Maßstäben plausible Deduktion der Tugend beabsichtigt.32 Es zeigt sich gerade hierin das noch ungebrochene Vertrauen des Eleven in die Suggestivkraft seiner durch die eigene Lektüre beeinflussten Bild- und Exempelwahl. Die zu Anfang der Rede eingeforderte ›Leitung des Verstandes‹ hinsichtlich der ›richtigen‹, zur Glückseligkeit führenden Liebe erfolgt in Schillers eigenem Schaffen erst im Zuge der Schriften, die nach der KantLektüre im Jahre 1791 entstehen. Die finale Apotheose des Fürstenpaars, die Identifikation mit der Tugend selbst, erscheint ähnlich konstruiert: Wenn dann der gröseste Kenner, der schärfste Richter der Tugend Tugend belonet? – Carl – wo hat Ihn je der Schein geschminkter Tugend geblendet? – Carl – feyert das Fest von Franziska! – Wer ist größer der so die Tugend ausübt – oder der sie belohnet? – beedes Nachahmung der Gotheit! – Ich schweige – […].33 29  NA

20, 5. 12, 45. 31  NA 20, 9. 32  Strack, »Schillers Festreden«, 117. 33  NA 20, 9. In der späteren, redigierten Fassung der Rede, wird Karl Eugen noch stärker zum Inbegriff der Tugend stilisiert, vgl. NA 21, 106–113. 30  NA

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Der Kreis schließt sich – Herzog Karl Eugen und Franziska von Hohenheim erfüllen dem Panegyristen zufolge das Kriterium der Gottähnlichkeit, das zuvor als Erkennungsmerkmal der wahren Tugend ausgelobt wurde. Gelegentlich werden Schillers Reden in der Forschung parodistisch anmutende Züge unterstellt, was sicher der historischen Redesituation nicht gerecht wird;34 es wirft jedoch ein Schlaglicht auf unser heutiges, weithin verkürztes Verständnis für panegyrische Reden, die bereits zu Schillers Zeit hoch umstritten waren. Johann Georg Sulzer vermerkt in seinem Nachschlagewerk Allgemeine Theorie der Schönen Künste unter dem Lemma ›Lobrede‹: In unsern Zeiten und nach unsern Sitten sind die öffentlichen Lobreden in die dunkeln Hörsäle der Schulen verwiesen. Es ist auch sehr gut, daß weder Gesetze, noch eingeführte Gebräuche, Lobreden auf gewisse Personen nothwendig machen; da vermuthlich in den meisten Fällen, der Redner sich in der Verlegenheit finden würde einem magern Stoff durch mühsame und doch nicht hinreichende gewaltsame Mittel aufzuhelfen.35

Trotz dieser ausdrücklichen Distanzierung lässt Sulzer die identitätsstiftenden Aspekte panegyrischer Reden weiterhin gelten. Gerade »Lobreden auf verstorbene Wolthäter des Staates« könnten »zur Beföderung der wahren Beredsamkeit«36 nützlich sein. Schiller rezipiert Sulzer vermittelt über Abels Philosophieunterricht an der Hohen Karlsschule und fühlt sich vermutlich nicht zuletzt deswegen besonders genötigt, seine Rede ausreichend zu legitimieren. Die zweite Karlsschulrede hält Schiller am 10. Januar 1780. Sie trägt den Titel: Die Tugend in ihren Folgen betrachtet. Die Fragestellung nimmt somit die entgegengesetzte Richtung: Nicht die Merkmale der Tugend sollen gepriesen werden, sondern ihre Folgen. Schiller dringt ohne ausführliches exordium direkt zum Kern der Sache vor: Es ist also die Frage: Wie ist die Tugend in ihren Folgen betrachtet? deßjenigen vollkommen würdig, der, ein Vater in Mitte einer jauchzenden Jugend, den göttlichen Wunsch äusserte: o daß ich alle glücklich machen könnte! – vollkommen würdig, an diesem Freundschafts-Feste feyerlich beantwortet zu werden.37

Nach dieser rhetorischen Verbeugung vor dem Herzog wird die Gräfin apostrophiert und es schließt sich der erörternde Teil seiner Rede an. Das 34  Vgl.

Luserke-Jaqui, Art. »Schriften aus der Karlsschulzeit (1774–1780)«, 340. Georg Sulzer, Art. »Lobrede«, ders., Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, 4 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1793, Bd. 3, 283. 36  Vgl. Eicheldinger, »Rhetorische Elemente«, 107, wo die Einschätzung vertreten wird, Balthasar Haugs Meinung hinsichtlich der »erzieherischen Qualitäten« panegyrischer Reden sei derjenigen Johann Georg Sulzers nahe. 37  NA 20, 30. 35  Johann



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Motiv der Annäherung an das Göttliche, die von Mendelssohn über Abel vermittelte platonische homoíosis theô38, tritt noch stärker hervor als in der ersten Rede: Ja, wenn wir dann noch höher hinaufsteigen, wenn wir finden, daß alle Vollkommenheit der geistigen Weesen die Nachamung, das Wohlgefallen, die Verherrlichung der Gottheit zum äussersten Ziel hat, so mus diese Gleichheit, diese Übereinstimmung mit den Eigenschaften der Gottheit, dieses ihr Wohlgefallen, diese ihre Verherrlichung der Maasstab aller moralischen Handlungen seyn.39

Die hier geäußerten »metaphysischen Optionen«40 des Menschen, Unsterblichkeit, Vervollkommnung und Gottähnlichkeit, finden poetisch eine Entsprechung in Schillers Räubern und ästhetisch in der Theosophie des Julius, dem Herzstück der 1786 erschienenen Philosophischen Briefe, die als primäres Dokument der Schillerschen Jugendphilosophie gelten.41 Das Konzept des einigenden Bandes der Tugend aus der ersten Rede wird nun eine Stufe komplexer reformuliert: »Derjenige Zustand eines denkenden Geistes, durch welchen er am fähigsten wird, Geister vollkommener zu machen, und durch Vervollkommnung derselben selbst glückselig zu sein, dieser Zustand wäre die Tugend.«42 Als Exempla zur Kontrastierung von Tugend und Laster benützt Schiller den römischen Kaiser Trajan sowie den spartanischen Gesetzgeber Lykurg; als Gegenbeispiele des Lasters werden die französischen Aufklärungsphilosophen Voltaire und La Mettrie angeführt.43 Im Rahmen des Unterpunktes Folgen der Tugend auf das Ganze, dem ersten inhaltlichen Hauptteil der Rede, wird wiederum »das Band der allgemeinen Liebe«44 beschworen, 38  Vgl. Platon, »Theaitetos«, ders., Werke, 8 Bde., Darmstadt 2005, Bd. 6, übers. von Friedrich Schleiermacher, 176b,c: Der Weg aus der sterblichen Natur ist die »Verähnlichung mit Gott soweit als möglich; […].« Vgl. außerdem Alt, Schiller, Bd. 1, 106. 39  NA 20, 31. 40  Vgl. Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideen­ geschichte der medizinischen Schriften und der ›Philosophischen Briefe‹ (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 17), Würzburg 1985, 156. 41  Vgl. Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller, 154. 42  NA 20, 31. 43  Vgl. NA 20, 33 sowie Strack, »Schillers Festreden«, 116. In der Abneigung gegen die französische Aufklärung zeigt sich früh Schillers moralischer Rigorismus, den er als Mediziner wie als Festredner kultiviert; in der ersten Dissertation, Philosophie der Physiologie von 1779, heißt es: »Diese Meinung [i. e. philosophischer Materialismus, M.  S.] mit Gewalt ersonnen, die Erhabenheit des Geistes zu Boden zu drücken, und die Furcht einer kommenden Ewigkeit einzuschläfern, kann nur Thoren und Böswichter bethören; der Weise verhöhnet sie.« (NA 20, 12) Vgl. dazu auch Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller, 10, Anm. 34. 44  NA 20, 32.

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Liebe wird zum »grose[n] Band des Zusammenhangs aller denkenden Naturen«.45 In Kabale und Liebe, dem ersten bürgerlichen Trauerspiel Schillers, wird die kosmische Liebestopik der Karlsschulrede in einen bürgerlich-empfindsamen Tugenddiskurs überführt. Ferdinand von Walter, Präsidentensohn am herzoglichen Hof, legitimiert seine Liebe zur Bürgerstochter Luise Miller mit dem »Riß zum unendlichen Weltall«46, der schwerer wiege als sein Adelsdiplom. Deutlich ist zu erkennen, wie das pathosorientierte Formulierungsgeschick Schillers in der harschen Adelskritik und in der Konzeption der dramatis personae fortwirkt. Die durch den bedingungslos liebenden Ferdinand zurückgewiesene Mätresse Lady Milford, eine der wenigen Figuren, die im Verlauf des Dramas weiterentwickelt werden, reflektiert kurz vor der finalen Katastrophe die eigene Zerrissenheit zwischen dem rein ideellen Begriff ihrer Tugend und den notwendig gewordenen Zugeständnissen: LADY MILFORD […] (nach einer Pause, lebhaft) Es ist geschehen! – Gehoben das furchtbare Hinderniß – Zerbrochen alle Bande zwischen mir und dem Herzog, gerissen aus meinem Busen diese wütende Liebe! – – In deine Arme werf ich mich, Tugend! – Nimm sie auf, deine reuige Tochter Emilie! – Ha! wie mir so wohl ist! Wie ich auf einmal so leicht! so gehoben mich fühle! Groß, wie eine fallende Sonne, will ich heut vom Gipfel meiner Hoheit heruntersinken, meine Herrlichkeit sterbe mit meiner Liebe, und nichts als mein Herz begleite mich in diese stolze Verweisung […].47

»Liebe« und »Tugend« als positive Leitbegriffe sowie die »fallende Sonne« als Verweis auf die gefallene Tugend erscheinen an einer Schlüsselstelle des Dramas, das damit an jenen moralischen Diskurs anknüpft, der in den Karlsschulreden als panegyrische Allegorie des Herrschers begonnen hat und nun bereits jene Abgründe der Natur integriert, die Schiller später unter Rückgriff auf die Theorie des Erhabenen dramenpoetisch funktionalisieren wird. Das Erhabene, das schon bei Edmund Burke und Immanuel Kant als ›zweistufige Ästhetik‹,48 bestehend aus Repulsion und Attraktion, bestimmt ist, findet in der pantheistischen, doch gleichwohl dualistisch geprägten Naturtopik aus Schillers Jugend einen geeigneten Anknüpfungspunkt.49 Auch in der Verschwörung des Fiesko zu Genua finden sich Hinweise auf die Karlsschulrede. In der berühmten Sonnenaufgangsszene im 3. Akt problematisiert der Graf von Lavagna die eigene Rolle im Spiel um die Macht: 45  Ibid. 46  NA

5N, 24 (I / 4). 5N, 142 (IV / 8). 48  Vgl. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart / Weimar 1995, 155. 49  Vgl. ibid.: Zelle verweist auf die zahlreichen Dualismen in Schillers ästhetischer Terminologie, z. B. ›Anmut‹ / ›Würde‹ oder ›naiv‹ / ›sentimentalisch‹. 47  NA



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FIESKO […] er macht die Glasthüre auf. Stadt und Meer vom Morgenroth überflammt. Fiesko mit starken Schritten im Zimmer Daß ich der gröste Mann bin im ganzen Genua? und die kleineren Seelen sollten sich nicht unter die Große versammeln? – aber ich verleze die Tugend? steht still. Tugend? – der erhabene Kopf hat andre Versuchungen als der gemeine – Solt er die Tugend mit ihm zu theilen haben? – Der Harnisch, der des Pygmäen schmächtigen Körper zwingt, solte der einem Riesenleib anpassen müssen? […] Gehorchen und Herrschen! – Seyn und Nichtseyn! Wer über den schwindlichten Graben vom letzten Seraph zum Unendlichen sezt, wird auch diesen Sprung ausmessen.50

Der letzte Seraph beschreibt als höchster und letzter Vorbote Gottes ein Motiv, das bereits in der ersten Karlsschulrede anklingt, wenn Schiller dort den Seraph auffordert, sich vor dem Thron der Tugend zu verbeugen.51 Fiescos Monolog kann somit als poetische Inversion der Tugendapotheose aus der Karlsschulrede gelesen werden. Der ›Vorbildcharakter‹, insbesondere bezüglich der Wortkaskaden und des schwindelnden Pathos, ist bereits mehrfach konstatiert worden: Die ästhetische Kraft der höfischen Festlichkeiten mußte Schiller nur von den vergöttlichten Fürsten und ihrem verherrlichten Wirken auf seine eigenen Ideen lenken, er mußte ›eine einzige Umkehrung der Maximen‹ vornehmen, von der die ästhetische Kraft unberührt bleibt […].52

Der zweite Teil der Rede weist noch deutlicher in Richtung einer Ästhetik des Erhabenen. Und was sind nun diese innere Folgen der Tugend? Jede tugendsame Seele wird hierinn meiner Antwort zuvorkommen, jede im stillen bei sich empfinden, daß sie […] ein gleicher und unerschütterter Karakter gegen alle Vorfälle des Menschlichen Lebens sey, der jeden Schmerz stumpf, jedes Vergnügen doppelt empfindlich macht, […] der ihn dereinst in den Schreken jenes furchtbaren Tages nicht verlassen wird, wenn unter Domitianen irrdische Throne schwanken, […] wenn ach vielleicht ein Einziger nicht erstikter Gedanke zwischen Tod und Himmel entscheiden wird. In diesem Augenblick des Entsezens wird dem Tugendsamen der Donnerton des Gerichts Jubellied seyn, die Stimme des Weltrichters Stimme des rufenden Vaters; jetzt wird sein Auge glänzen in ewigem Strale, wenn auf des Frevlers Auge ewiges Dunkel sinkt –53

Die Überlegung gipfelt im stoischen Ideal der gleichmütigen Seele, die sich nicht von Affekten erschüttern lässt und daher gelassen dem Jüngsten Tag entgegenblickt. Dieses Konzept weist voraus auf die ästhetischen Schriften der 1790er Jahre, die zwar kein rein stoisches Affektverständnis mehr vertreten, jedoch die Widerstandskraft im Gemüt des Zuschauers zu mobilisieren suchen. Schillers Bildungsbegriff beruft sich dann abermals auf die 50  NA

4, 66 f. (III / 2). NA 20, 8. 52  Friedl, »Die Karlsschüler bei höfischen Festen«, 52. 53  NA 20, 35 f. 51  Vgl.

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Wiederherstellung des »ganzen Menschen«54. Die getrennten Kräfte der Seele, »Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft«55, sollen wieder vereint werden. Die Kallias-Briefe sehen dafür zunächst das Konzept der Schönheit als »Freiheit in der Erscheinung«56 vor. Doch gerade am Ende der eigenen ästhetischen Positionsbestimmung kommt Schiller auf das bereits in den Karlsschulreden vorformulierte ›Widerstandskonzept‹ zurück. In der vermutlich noch um 1800 redigierten Schrift Über das Erhabene wird ein idealistischer Widerstand beschrieben, den der Mensch der Naturgewalt entgegensetzt, »wenn er aus der Natur heraustritt«57. Gemeint ist das (Selbst-)Gefühl des Erhabenen, doch Schillers Wortwahl reaktualisiert damit das furiose Finale der zweiten Schulrede. Dort heißt es über den tugendhaften Charakter, das dieser den Menschen selbst dann nicht verlasse, »wenn seine Augen im Tod nun dahinstarren, und Erd und Himmel vor ihm schwinden in Nacht, und Seele und Leib im feyerlichen Bruche sich losreissen, […].«58 Das Losreißen, der Bruch mit dem einigenden Band der Natur ist als Denkfigur bereits in den Räubern präsent, wenn Karl Moor seiner Räuberbande beim Anblick seines durch den Bruder Franz geschändeten Vaters zuruft: »Schaut her, schaut her! die Geseze der Welt sind Würfelspiel worden, das Band der Natur ist entzwey, die alte Zwietracht ist los, der Sohn hat seinen Vater erschlagen.«59 Auch die zweite panegyrische Arbeit Schillers mündet in der Verehrung Franziskas. Die Ruhe der Seele, die unerschütterliche Seele – dies ist für Schiller die sowohl nach innen fühlbare als auch nach außen sichtbare Folge der Tugend. So erscheint Gräfin Franziska am Ende als personifizierte Tugend: »Ruhe der Seele« und »himmlische Heiterkeit« zeigen sich in ihrem Antlitz.60 Deutlich tritt in dieser emphatischen Huldigung der Einfluss des Gedichts Empfindungen der Dankbarkeit hervor, das Schiller bereits 1778 im Auftrag des Herzogs zum Namenstag Franziskas anfertigen musste. Diese wird dort zum »holde[n] Himmelbild«61 der Tugend stilisiert: So wandelt Sie dahin auf Rosenpfaden Ihr Leben ist die schönste Harmonie, Umglänzt von tausend tugendsamen Thaten, Seht die belohnte Tugend! – Sie! 54  Schiller, 55  Ibid.

56  Brief 57  NA 58  NA 59  NA 60  NA 61  NA

»Über Bürgers Gedichte«, NA 22, 245.

an Körner vom 23.02.1793, NA 26, 202. 21, 39. 20, 36. 3, 114. (IV / 5). 20, 36. 1, 12.



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O Freunde laßt uns nie von unsrer Ehrfurcht wanken, Laßt unser Herz Franziskens Denkmahl seyn! So werden wir mit niedrigen Gedanken, Niemalen unser Herz entweyhn!62

Ein ähnliches Denkmal der Tugend und der Liebe errichtet Schiller in der Theosophie des Julius (3. Brief des Julius an Raphael): Denke Dir dann den Mann mit dem hellen umfassenden Sonnenblike des Genies, mit dem Flammenrad der Begeisterung, mit der ganzen erhabenen Anlage zu der Liebe. Laß in seiner Seele das vollständige Ideal jener großen Wirkung empor steigen – – […].63

Die intertextuellen Bezüge zwischen den Karlsschulreden und dem poetischen und ästhetischen Werk Schillers sind deutlich erkennbar. Getragen werden sie vor allem durch ein moralphilosophisch inspiriertes, von eigener Lektüre (Klopstock, Milton, Petrarca) bereichertes Liebes- und Tugendkonzept. Besonders in dramatischen Umschlagsmomenten und -monologen sowie in den zuvorderst an Klopstock angelehnten Oden rekurriert Schiller auch stilistisch auf seine frühen Erfahrungen als Panegyrist. Selbstverständlich müssen dabei die kritischen Zwischentöne der Reden berücksichtigt werden, die eine rein affirmative Lektüre ausschließen.64 Auch die leichte Akzentverschiebung innerhalb der zweiten Rede, die Franziska und nicht den Herzog in den Mittelpunkt stellt, empfiehlt Vorsicht bei der Deutung, da ein unterschwelliger »persönliche[r] Dialog«65 zwischen Schiller und dem Herzog zumindest nicht ausgeschlossen werden sollte; im Hintergrund steht dabei der Konflikt um Schillers abgelehnte Dissertation im Jahr 1779. Andererseits suchte Schiller stets nach wirkungs- und affektpoetischer Inspiration.66 In Übereinstimmung mit der Forschung der letzten Jahre lässt sich eine Kontinuität des ›Ideengebäudes‹ in Schillers Denken von der Karlsschule über das ›mittlere Werk‹ bis hin zu den den späten Dramen und Gedichten feststellen.67 Die festlichen Anlässe der Geburtstagsreden vor dem Herzog und der Reichsgräfin, dem höfischen Publikum, den Lehrern 62  Ibid. 63  NA

20, 123. Luserke-Jaqui, Art. »Schriften aus der Karlsschulzeit (1774–1780)«, 341 und Eicheldinger, »Rhetorische Elemente«, 108. 65  Strack, »Schillers Festreden«, 118. 66  Vgl. Ueding, Schillers Rhetorik, 3: »Das Rhetorische von Schillers Sprache, der in ihr sich ausdrückende hinreißende Wille, der einem rhetorischen Zwecke dient, wurde früh bemerkt und war bereits den Zeitgenossen eine nicht geringe Verlegenheit.« 67  Eine derartige Kontinuitätsthese für den Zeitraum nach Schillers Karlsschulaufenthalt hat zuletzt vertreten: Jörg Robert, Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte 72 (306)), Boston / Berlin 2011. 64  Vgl.

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und den Mitschülern haben Schillers Bewusstsein für die Macht pathetischen und erhabenen Sprechens mit Sicherheit geschärft. Panegyrik an deutschen Fürstenhöfen zu Ende des 18. Jahrhunderts erweist sich daher trotz bisweilen anachronistischer Züge und rigider Vorgaben als bedeutsamer Aspekt der rhetorischen Ausbildung. Im Falle der Schüler der Hohen Karlsschule qualifiziert dieser Teil der rhetorischen Ausbildung nicht nur für die höfische Laufbahn und den Staatsdienst; er bewirkt zudem Kreativität im Umgang mit dem erlernten Wissen und befördert auf diese Weise einen positiven Begriff von philosophischer Eklektik.

Zwischen Patriotismus und Empfindsamkeit. Zur panegyrischen Dichtung am Hof der Fürsten Czartoryski Von Ulrike Jekutsch Panegyrik auf Herrscher, Fürsten, Patrone und Mäzene war in der polnischen Adelsrepublik der Mitte des 18. Jahrhunderts problematisch geworden. Die zuvor gepflegte barocke Praxis der Lobpreisung hatte seit dem Beginn der Aufklärung an Prestige und Bedeutung verloren, man begriff sie mehr und mehr als eine pompöse rhetorische Gattung, die der postulierten Herrschaft der Vernunft widersprach.1 Seit den 1750er Jahren häuften sich die Attacken der Kritik, die sich vor allem auf zwei Aspekte richteten: erstens auf den Missbrauch der Panegyrik als leere Schmeichelei zum persönlichen Nutzen ihres Verfassers, zweitens auf die Wahl eines Gegenstands bzw. Adressaten, der dieser Lobpreisung unwürdig war. Andererseits wurden panegyrische Texte weiterhin geschrieben. Sie bedurften nun aber einer eigenen Rechtfertigung, die sich insbesondere auf die zwei genannten Kritikpunkte bezog. Panegyrik wurde neu als eine Gattung konzipiert, die als »szlachetny hołd« (edle Huldigung)2 für tatsächliche große Leistungen für das Wohl der Gesellschaft, für Tugend und Vernunft fungieren konnte, wenn die Motivation ihres Autors auf seine Bewunderung oder Dankbarkeit ohne persönliches Gewinnstreben zurückgeführt wurde. Postuliert wurde eine Panegyrik in didaktisch-pädagogischer Funktion, die nachweisbare vorhandene Tugenden und große Taten hochgestellter Männer besang und damit der Gesellschaft Muster vorbildlicher Lebensführung vorführte. Diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem in der poetischen und rhetorischen Praxis geführte Diskussion um Gegenstand und Funktion der Panegyrik wurde zu einem Faktor des literarischen und politischen Diskurses, der dazu beitrug, Meinungen nicht nur über poetologische Fragen, sondern 1  Julian Platt, »Panegirik«, Słownik literatury polskiego oświecenia, Red. Teresa Kostkiewiczowa, 2. Aufl., Wrocław / Warszawa / Kraków 1996, 391–395, hier: 392. 2  Dieser Ausdruck F.  N. Golańskis aus seiner einflussreichen, auf Charles Batteuxs Cours de belles-lettres (1747–1759) und La Portes École de littérature (1763) zurückgreifenden Abhandlung O wymowie i poezji (Über Rhetorik und Poesie), die nach der ersten Auflage 1786 noch zweimal (1788, 1808) herausgegeben wurde, wird zitiert nach: Platt, »Panegirik«, 392.

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über den Herrscher, die Gesellschaft und ihren Zustand zu formulieren und Autoritäten zu begründen.3 Bei der Behandlung der polnischen Lobpreisdichtung ist ein weiterer Aspekt zu bedenken: Die Panegyrik hat in der polnischen Adelsrepublik eine andere Ausprägung erfahren als in anderen Staaten Europas. Polen begriff sich als Rzeczpospolita (res pospolita), als eine auf der Gleichheit aller Adligen, ob kleiner szlachcic (Adliger) oder großer Magnat, beruhende republikanische Ordnung. Es entwickelte sich in der Frühen Neuzeit im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Staaten nicht zu einer absoluten Erbmonarchie, sondern blieb Ständestaat und Wahlmonarchie, in der der Adel, der ca. 10–12 % der Bevölkerung ausmachte, auf der Wahrung seiner »złota wolność«, der goldenen Freiheit, bestand. Zur »goldenen Freiheit« gehörte die freie Königswahl und v. a. das liberum veto: Jede Stimme im Reichstag, dem Sejm, galt gleich viel; alle Beschlüsse waren einstimmig zu fassen, d. h. die Gegenstimme eines Einzigen genügte, um einen Beschluss zu verhindern. Das im Sprichwort »szlachcic na zagrodzie rówien wojewodzie« (Der Adlige auf dem kleinen Hof ist dem Wojewoden gleich) formulierte Prinzip der Gleichheit war Grundlage der Gesellschaft:4 Auf dem eigenen Gut, so klein es auch sein mochte, stellte der Gutsherr das unangefochtene Haupt der patriarchalen Ordnung dar, er war niemandem untertan. Natürlich gab es dennoch ein Machtgefälle zwischen den Magnatenfamilien und dem kleinen Landadel in der Nachbarschaft seiner Güter bzw. in den in der Regel von Magnaten geführten Wojewodschaften, das sich häufig in einem Patron-Klienten-Verhältnis zwischen beiden ausdrückte. Dies berührte jedoch nicht das grundsätzliche Prinzip der Gleichheit aller Adligen. Klienten großer Herren verstanden sich ihren Patronen oder dem König gegenüber nicht als Untertanen, sondern als Gleiche. Dieses Prinzip wurde im Kontext des Aufklärungsdenkens und im Vorfeld der französischen Revolution neu aktualisiert. Dies wirkte sich auch auf die Panegyrik aus, die meist nicht aus der Position des Untertanen, sondern der eines Gleichrangigen geschrieben wurde. Franciszek Dionizy Kniaźnin,5 einer der bedeutendsten Autoren der polnischen Aufklärung, hat in seiner Eigenschaft als »Hofpoet« der Fürsten 3  Diese Auffassung hatte insbesondere Golański deutlich herausgestellt; Platt, »Panegirik«, 392. 4  Gotthold Rohde, »Die polnische Adelsrepublik um die Mitte des 18. Jahrhunderts«, F. B. Kaiser, B. Stasiewski (Hg.), Die erste polnische Teilung 1772, Köln / Wien 1974, 1–28, hier: 10. 5  Kniaźnin ist zunächst als Autor von Übersetzungen der Carmina des Horaz, zu deren Neuedition, Pieśni wszystkie Horacjusza przekładania różnych (Alle Lieder des Horaz. Übersetzungen verschiedener [Autoren], 2 Bde, 1773–75) er eine Reihe von Texten beisteuerte, bekannt geworden. Es folgten Publikationen in Zeitschriften



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Czartoryski Gedichte, Dramen, Opernlibretti und Panegyrica für die verschienensten Anlässe am Fürstenhof geschrieben. Die panegyrische Ausrichtung seines Werks ist bisher meist im Kontext andersartiger Zielsetzungen behandelt worden. So hat Teresa Kostkiewiczowa in ihrer grundlegenden Monographie Kniaźnin als lyrischer Dichter, in der sie die Entwicklung seiner Poetik im Kontext der die Epoche der Aufklärung in Polen kennzeichnenden Strömungen des Klassizismus, Rokoko und Sentimentalismus untersucht, ein Kapitel auch der Poetik der Gelegenheitsgedichte gewidmet und zugleich auf ein Paradox aufmerksam gemacht: Zwar publizierte Kniaźnin seit 1774 Panegyrik auf die Fürsten Czartoryski in Einzeldrucken und in der vom Kreis um den König herausgegebenen Zeitschrift Zabawy przyjemne i pożyteczne (Angenehme und nützliche Unterhaltungen), die seit 1771 zum maßgeblichen literarischen Periodicum der polnischen Aufklärung geworden war.6 Er nahm diese Texte aber zunächst nicht in die von ihm veröffentlichten Gedichtbände auf.7 Dies geschah erstmals in der dreibändigen Ausgabe seiner Werke 1787–1788,8 die damit zugleich eine Hinwendung des Dichters zur Behandlung gesellschaftlicher Ereignisse und politischer Diskurse seiner Zeit dokumentiert. Ebenso neu für den Autor sind in dieser Ausgabe Psalmenparaphrasen und religiöse Gedichte. Tereza Kostkie­wiczowa und Rolf Fieguth sprechen zurecht von einer Änderung seiner Auffassung der Poesie: Kniaźnin, der zuvor im Sinne des horazischen Prinzip des prodesse et delectare das Hauptgewicht auf das Vergnügen gelegt hatte, verbinde nun seine Poesie mit dem patriotischen Anliegen der Reform des polnischen Staates und widme sich der Aufgabe, »dem Ruhm Gottes, der Förderung der Tugend und der Stärkung des patriotischen Gedankens zu dienen«.9 Neben die vorherige Ausrichtung auf eine der Poetik des Rokoko verpflichtete angenehme, spielerische Poesie trat die neue Linie der reflexiven Gedankenlyrik und der Poetik der Empfindsamkeit. und mehreren Einzelbänden. 1776 erschien ein Band Fabeln, 1779 Erotyki (Liebesgedichte), 1781 ein Band lateinischer Gedichte und 1783 Wiersze (Verse), eine Sammlung von Gedichten, die auch den Zyklus Żale Orfeusza (Die Klagen des Orpheus) enthielten; sein Werk weist in vielen Aspekten auf die Moderne voraus; Teresa Kostkiewiczowa, Kniaźnin jako poeta liryczny, Wrocław / Warszawa 1971, 7 f. 6  Elżbieta Aleksandrowska, »Zabawy przyjemne i pożyteczne (1770–1777)«, Słownik literatury polskiego oświecenia, Red. Tereza Kostkiewiczowa, 2. Aufl., Wrocław / Warszawa / Kraków 1996, 687–690; hier: 689. 7  Kostkiewiczowa, Kniaźnin jako poeta liryczny, 99 f. 8  Franciszek Dionizy Kniaźnin, Poezje, 3 Bde, Warszawa 1787–1788. 9  Rolf Fieguth, »Sturm und Zephyr. Zur Poetik der Kontraste in der Komposition der Oden oder Lyrica in vier Büchern (1787) von Franciszek Dionizy Kniaźnin«, R. Hodel (Hg.), Zentrum und Peripherie in den slavischen und baltischen Sprachen und Literaturen. Festschrift zum 70. Geburtstag von Jan Peter Locher, Bern / Berlin usw. 2004, 9–32, hier 12.

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Indem Kniaźnin Texte in panegyrischer Funktion schrieb, reagierte er auf aktuelle Ereignisse und politische Entwicklungen im Land. Seine Hinwendung zur politisch-patriotischen Thematik ist erstens im Kontext der vom König begonnenen Umgestaltung der Rzeczpospolita nach der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 zu sehen.10 Die Teilung hatte dem polnischen Adel einen Schock versetzt, der ihn geneigt machte, die vorher z. T. abgelehnten Reformen des Königs zu unterstützen. Die Auflösung des Jesuitenordens im selben Jahr und die Übergabe der vom Orden betriebenen Schulen, Kollegien und Akademien an die Krone Polen führte zur Einrichtung der Komysja Edukacji Narodowej (Kommission für nationale Erziehung, abgekürzt KEN), die die Verwaltung der Schulen übernahm. Die KEN entwarf ein neues Unterrichtsprogramm nach den Ideen der Aufklärung, führte moderne Schulfächer ein und ließ neue Schulbücher erarbeiten und drucken. An der Arbeit der Kommission waren zahlreiche, z. T. vom König designierte Vertreter des Adels und die führenden Magnaten der Zeit, Fürst Aleksander August Czartoryski und sein Sohn Adam Kazimierz, beteiligt. Unter den Mitarbeitern der KEN waren auch viele der im Kreis um den König versammelten Autoren, die in ihren literarischen Werken die Ideen der Aufklärung und des Reformprogramms vertraten. Mitte der 1780er Jahre bekam der zwischenzeitlich durch innere Auseinandersetzungen und Intrigen erlahmte Reformimpetus neue Nahrung, und es begannen politische Reformen: 1787 wurde der Sejm einberufen, der vier Jahre lang tagen sollte, um eine große Reform der Rzeczpospolita zu planen. Erarbeitet wurde die am 3. Mai 1791 verkündete Verfassung, die die Umwandlung des Wahlkönigtums Polen in eine erbliche konstitutionelle Monarchie, ein Dreiklassenwahlrecht für den Sejm und die Abschaffung des liberum veto vorsah. Damit wären zwei der wichtigsten Ursachen für die Schwäche der Adelsrepublik Polen im 18. Jh. beseitigt worden, damit wurden aber auch von Russland garantierte Privilegien des Adels berührt. Die Verkündung der Mai-Verfassung führte daher zum Einmarsch russischer und preußischer Truppen und zur 2. Teilung Polens, der nachfolgende Aufstand gegen die Bedingungen der 2. Teilung zum nochmaligen Krieg und zur 3. Teilung 1795, die die Auslöschung des polnischen Staates bedeutete. Und damit kommen wir zum zweiten Aspekt der Hinwendung Kniaźnins zu einer patriotischen Panegyrik. Anfang der 80er Jahre war es zu einer Entfremdung der Fürsten Czartoryski vom König gekommen, die Fürsten hatten sich aus ihren Warschauer Palästen auf ihre Besitzungen nach Puławy zurückgezogen und bauten diesen Ort als Zentrum der Adelsopposition und zugleich als ein kulturelles Gegenmodell zum Königshof auf. König Stanis10  Zur Vorgeschichte und Bewertung der Ersten Teilung s. Hans Lemberg, »Polen zwischen Russland, Preussen und Österreich im 18. Jahrhundert«, F. B. Kaiser, B. Stasiewski (Hg.), Die erste polnische Teilung 1772, Köln / Wien 1974, 29–48, hier 39–47.



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law August Poniatowski, ein Vetter der Czartoryskis aus einer Nebenlinie, der mit einem Kreis gelehrter Männer und Dichter das Ziel der Transformation Polens in einen aufgeklärten Staat verfolgte, hatte das am französischen Vorbild orientierte Modell einer europäischen klassizistischen Kultur etabliert. Die an seinem Hof versammelten Autoren entwickelten und prägten die Poetik des Klassizismus, der dominanten Strömung in der Literatur der polnischen Aufklärung. Dieser Strömung hatte auch Fürst Adam Kazimierz Czartoryski angehört, der in den 1770er Jahren als Autor von Komödien und Abhandlungen zu ihrer Poetik hervorgetreten war.11 Während er im Warschauer Stadtpalais der Familie einen intellektuellen Salon führte, gestaltete seine Frau Izabela Czartoryska ihren Hof auf den Gütern vor der Stadt als ein Zentrum eleganter Gesellschaft im Stil des Rokoko.12 Seit der Verlegung ihrer Residenzen nach Puławy entwickelte die Familie dort seit Anfang der 1780er Jahre das Modell einer sich vom Klassizismus des Königshofes und vom Rokoko gleichermaßen abwendenden, sentimental und polnisch patriotisch ausgerichteten Kultur.13 Mit der Erneuerung der Reformbestrebungen in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre, die patriotisches Engagement zu einem Anliegen der ganzen (Adels-)Nation werden ließ, näherten sich die beiden Lager der Adelsopposition und des Königs wieder einander an. Kniaźnins Werkausgabe 1787–88 fällt genau in diese Zeit des erneuten Umbruchs in den Beziehungen der Fürstenfamilie zum König. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie die panegyrische Ausrichtung auf die Präsentation der Fürsten als musterhafte Aristokraten und liebevolle Familie, vorbildliche Herren ihrer Leute und um das Wohl des Landes besorgte tatkräftige Patrioten die Werkausgabe dominiert. Dies soll am Beispiel der den Mitgliedern der Familie gewidmeten Gelegenheitsgedichte aufgezeigt werden; Gedichte an Freunde und Kollegen, religiöse Gedichte und Psalmenparaphrasen werden allenfalls am Rande berücksichtigt. Zu11  Die einflussreichen poetologischen Abhandlungen, die eine große Bedeutung für die Popularisierung der hohen Komödie in Polen hatten, hat Czartoryski als Vorworte oder Beilagen zu seinen häufig gespielten Komödien publiziert. Dies begann mit der Komödie Panna na wydaniu (1771), die von einer Abhandlung zu Prinzipien der Übersetzung französischer Komödien ins Polnische begleitet wurde; der Komödie Kawa (1779) wurde List o dramatyce (Brief über die Dramatik) beigefügt. Die Abhandlungen Czartoryskis stützen sich v. a. auf französische Prätexte, genannt werden J.B. Du Bos Réflexions critiques sur la poésie et peinture (1719) und Jean Diderots Discours sur la poésie dramatique (1758); s. Dobrochna Ratajczakowa, Komedia oświeconych 1752–1795, Warszawa 1993, 97–112, hier 100. 12  Alina Aleksandrowicz, »Izabela Czartoryska«, Pisarze polskiego oświecenia, hg. Teresa Kostkiewiczowa und Zbigniew Goliński, Bd. 3, 609–629, hier 610–612. 13  Alina Aleksandrowicz, »Puławy«, Słownik literatury polskiego oświecenia, hg. Teresa Koskiewiczowa, 2. Aufl., Wrocław / Warszawa / Kraków 1996, 496–504, hier 498 f.

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nächst wird kurz auf die Biographie Kniaźnins und seine Beziehung zu der Fürstenfamilie eingegangen, bevor seine Darstellung der Czartoryskis anhand der Texte untersucht wird. I. Der Autor und die Fürsten Czartoryski im Kontext der Zeit Franciszek Dionizy Kniaźnin (1750–1807), der Sohn einer ursprünglich aus Smolensk stammenden weißrussischen Adelsfamilie, wurde in Vitebsk geboren, nach dem frühen Tod des Vaters von der Mutter erzogen und mit elf Jahren in das dortige Jesuitenkollegium gegeben.14 Dort wurde er drei Jahre später in das Noviziat aufgenommen und nach achtjähriger Schulausbildung und vierjährigem Studium 1773 als Magister am Warschauer Jesuitenkolle­ gium angestellt. In diesem Jahr erschienen auch seine ersten Gedichte – die bereits erwähnten Horaz-Übersetzungen – im Druck. Die wenig später durch die Bulle Clemens XIV. verkündete Aufhebung des Ordens zwang ihn, eine neue Anstellung zu suchen, die er in der Bibliothek der Brüder Załuski fand.15 Dort traf er mit dem einflussreichen Fürsten Aleksander August Czartoryski zusammen, der ihn als Sekretär in seiner Kanzlei einstellte. Damit begann seine lebenslange Verbindung mit den Czartoryski, dem allgemein im 18. Jahrhundert als »familia« bezeichneten Magnatengeschlecht, das über riesige Reichtümer und ausgedehnte Ländereien in und außerhalb Polens verfügte, einen bedeutenden politischen Machtfaktor darstellte und Wissenschaften und Künste großzügig förderte. Da Kniaźnin sich aber für die Arbeit in einer politischen Kanzlei als wenig geeignet erwies, wurde er an den Hof des Sohnes des Fürsten, Adam Kazimierz, transferiert, wo ihm die Aufgaben des Hofpoeten, Lehrers der Kinder und vor allem eines Mitarbeiters der Fürstin übertragen wurden. Kniaźnin lebte am Hof des Fürsten Adam und der Fürstin Izabella in ihren verschiedenen Palästen und Landsitzen und unterrichtete die Kinder in Polnisch und Latein. Zugleich fungierte er als eine Art Impresario, der Ereignisse und Feste des Fürstenhofes gemeinsam mit der Fürstin inszenierte, in Verse fasste, Stücke für das Hoftheater schrieb, bei »lebenden Bil14  Die Biographie folgt den Angaben in Andrzej Krzysztof Guzek, »Franciszek Dionizy Kniaźnin«, Pisarze polskiego oświecenia, hg. Teresa Kostkiewiczowa und Zbigniew Goliński, Bd. 1, Warszawa 1992, 567–585. 15  Die von den beiden bedeutenden Förderern der Aufklärung, dem Kronkanzler Polens und späteren Bischof von Krakau Andrzej Stanisław Załuski und seinem jüngeren Bruder Józef Andrzej Załuski, Bischof von Kiev, gegründete Einrichtung wurde 1747 als erste öffentliche wissenschaftliche Bibliothek Polens in Warschau eröffnet. Sie war als wissenschaftliches Zentrum des Landes geplant, zu dem auch eine nach dem Vorbild der Petersburger Akademie der Wissenschaften organisierte Wissenschaftliche Gesellschaft gehörte; s. Mieczysław Klimowicz, Oświecenie, Warszawa u. a. 1998, 23–27.



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dern«, Scharaden und anderen Vergnügungen Regie führte. Ab 1794 begannen sich Anzeichen einer geistiger Umnachtung zu zeigen,16 die ihn zwei Jahre später vollständig erfasste. Seine letzten elf Lebensjahre verbrachte er auf den Ländereien des Fürsten bei Puławy in der Obhut des Pfarrers und Dichterkollegen Franciszek Zabłocki. Kniaźnin war mit drei aufeinanderfolgenden Fürsten Czartoryski verbunden, zunächst mit Aleksander August (1697–1782), der mit seinen Fami­ lienverbindungen, einer sehr erfolgreichen Politik und einer reichen Heirat die herausragende Position der Familie im Polen des 18. Jahrhunderts begründet hatte,17 mit dessen Sohn und Nachfolger Adam Kazimierz (1734– 1823) und dem Enkel Adam Jerzy (1770–1861). Ebenso verbunden war er mit der Fürstin Izabela Czartoryska (1746–1835), als deren Sänger er sich wiederholt bezeichnete. Die Fürsten förderten nicht nur die Wissenschaften und Künste, sie waren auch selbst wissenschaftlich und künstlerisch tätig. Der dem Klassizismus verpflichtete Fürst Adam Kazimierz Czartoryski hatte sich in den 1770er Jahren mit Komödien und theoretischen Abhandlungen zu ihrer Poetik einen Namen gemacht; er verfasste ferner politische Memoranden und Traktate zu Fragen der Erziehung und Bildung.18 Die dem Rokoko verpflichtete Fürstin Izabela entwarf und gestaltete die Parkanlagen Powązki bei Warschau zu ihrer eleganten Residenz, sie verfasste auch Bücher zur Gartenkunst.19 In Puławy gewann dagegen die Kultur und Poetik des Sentimentalismus, der eine Bindung an die Aufrichtigkeit des Gefühls mit der Zulassung des Erhabenen verband, an Dominanz. An ihrem Hof waren wechselnde polnische und andere Wissenschaftler, Künstler und Dichter angestellt und versammelt, darunter bedeutende polnische Autoren der Zeit wie Kniaźnin selbst, der Komödienautor Franciszek Zabłocki, der führende Sentimentalist Franciszek Karpiński, der Dichter und Theoretiker des polnischen Rokoko Józef Szymanowski. Der Hof der Czartoryskis stellte damit ein äußerst anregendes Umfeld für die Entwicklung aller bereit.20 16  Vgl. dazu die Erinnerungen Adam K. Czartoryskis, zit. in der Einleitung zu: F.  D. Kniaźnin, Utwory dramatyczne, Warszawa 1958, 14. 17  Władysław Konopczyński, »Czartoryski, Aleksander August«, Polski słownik biograficzny, Kraków 1938, Bd. 4, 272–275; hier: 272 f.; Rohde, »Die polnische Adelsrepublik«, 23 f. 18  Helena Waniczkówna, »Czartoryski, Adam Kazimierz«, Polski słownik biograficzny, Kraków 1938, Bd. 4, 249–257. 19  Helena Waniczkówna, »Czartoryska, Izabela Elżbieta«, Polski słownik biograficzny, Kraków 1938, Bd. 4, 241–246; Alina Aleksandrowicz, »Izabela Czartoryska«, Pisarze polskiego oświecenia, hg. Teresa Kostkiewiczowa und Zbigniew Goliński, Bd. 3, Warszawa 1996, 609–638. 20  Zur Bedeutung Puławys als kulturellem Zentrum s. Alina Aleksandrowicz, »Puławy«, Słownik literatury polskiego oświecenia, hg. Teresa Kostkiewiczowa, 2. Aufl., Wrocław / Warszawa / Kraków 1993, 496–504, hier 498 f.

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II. Kniaźnins Panegyrica auf die Fürsten Czartoryski Kniaźnin gab 1787–1788 unter dem Titel Poezje eine dreibändige Ausgabe seiner Werke auf den – wie er im Vorwort formulierte – »odchlebny rozkaz tak zacnych i wysokich osób« (Bd. 1, S. VIII, schmeichelhaften Befehl so ehrenwerter und hoher Persönlichkeiten) heraus. Der Druck wurde durch Subskription finanziert, eine Form der Förderung, die die Abhängigkeit des Autors von nur einem Mäzen deutlich verringerte. Eine nahe Verwandte der Czartoryskis, die mit dem Großhetman von Litauen verheiratete Aleksandra Ogińska hatte Kniaźnin die Idee zu dieser Ausgabe und diesem Verfahren ihrer Finanzierung vorgeschlagen. Sie initiierte auch die Subskription, die dann von den Fürsten Czartoryski weitergeführt wurde.21 Das Subskribentenverzeichnis am Anfang des ersten und dann des dritten Bands listet 202 Namen auf, die der Hocharistokratie, dem höfischen und familiären Umfeld der Fürsten Czartoryski und der Ogiński, dem mittleren Adels sowie der Kollegen und Freunde Kniaźnins angehören.22 Diesem Förderkreis entsprechend ist die Werkausgabe mehreren Personen gewidmet. Der erste Band ist dem Fürsten Adam Kazimierz Czartoryski dediziert, der zweite der Fürstin Izabela Czartoryska. Beide Bände enthalten darüber hinaus einzelnen Texten vorangestellte Widmungen an andere Personen der Familie. Der dritte Band schließlich enthält nur noch eine Reihe von Einzelwidmungen.23 Die dreibändige Ausgabe der Poezje stellt keine Gesamtausgabe der bis zu diesem Zeitpunkt verfassten Werke des Dichters dar, sie enthält vielmehr eine Auswahl aus seinen schon veröffentlichten und unveröffentlichten Werken. Sie beginnt mit der Sammlung Oden, oder vier Bücher Lyrik, es folgen u. a. die beiden, Ereignisse am Fürstenhof besingenden, Verspoeme Balon, czyli Wieczory puławskie (Der Ballon, oder Abende von Puławy)24 und Rozmaryn (Rosmarin)25, mehrere Idyllen sowie die am Hof aufgeführten Opern MatkaKniaźnin jako poeta liryczny, 8 f. Mazurkowa, Literacka rama wydawnicza dzieł Franciszka Dionizego Kniaźnina (na tle porównawczym), Katowice 1993, 18–59 hier 97 f. 23  Die Widmungen untersucht Mazurkowa, Literacka rama wydawnicza. 24  Das Poem besingt den Bau eines flugfähigen Heißluftballons in Puławy, den die Erzieher der Kinder des Fürstenpaares zum Zwecke einer lehrreichen Sommerunterhaltung organisierten, als ästhetisches und wissenschaftliches Experiment und zugleich als patriotisches Verhalten einübendes Projekt; s. dazu Ulrike Jekutsch, »Leichte Poesie? Zum Verhältnis von ›lekkość‹ und ›trud‹ in F. D. Kniaźnins Balon, czyli Wieczory Puławskie«, Między Oświeceniem i Romantyzmem. Kultura polska około 1800 roku, Warszawa 1997, 87–100, hier 94–96. 25  Das in der Tradition des Epithalamiums stehende Poem besingt die Eheschließung Maria Czartoryskas mit Prinz Ludwig von Württemberg im Jahre 1784, s. dazu Kostkiewiczowa, Kniaźnin jako poeta liryczny, 70–97. 21  Kostkiewiczowa, 22  Bożena



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Spartanka (Die Mutter – eine Spartanerin) und die Oper Cygane (Die Zigeuner). Das an den Leser gerichtete Vorwort spiegelt – darauf haben schon Kostkiewiczowa und zuletzt Rolf Fieguth hingewiesen – die Distanzierung des Autors von einem Teil seiner bisherigen Werke: Kniaźnin, der sich nur hier zu seinem Poesiekonzept geäußert hat, reflektiert seine Abwendung von der leichten, galanten Poesie in der Tradition Anakreons und des literarischen Rokoko, indem er sich zur Scham über seine bisherigen Bücher bekennt, besonders der Erotyki, die nichts als »vox, vox, praeteraeque nihil« gewesen seien.26 Diese Verse seien »suche i dziecinne« (trocken und kindisch), sie enthielten nichts, »co wiek Stanisława ozdobnym czyni« (was das Zeitalter Stanisław Augusts zieren könne; Bd. 1, S. VIII).27 Eine solche Zierde sieht er in der Ausrichtung seiner Poesie auf die schwierige Lage des Landes und die patriotischen Anstrengungen zu seiner Reform.28 Zu diesem Zweck hat er erstmals für diese Ausgabe seine Gedichte mit Anmerkungen zu den realen Vorbildern der dort dargestellten Personen, zu den zugrundegelegten historischen Ereignissen und Anlässen sowie zu Übernahmen von Motiven oder Bildern aus dem Werk anderer Autoren versehen.29 An den Anfang der Werkausgabe hat Kniaźnin mit Ody, czyli Liryków IV. xięgi (Oden oder vier Bücher Lyrik) eine neue Auswahl seiner Gedichte gestellt. Sie sind alle im Haupttitel als Oden bezeichnet und pro Buch durchnummeriert,30 entsprechen aber nur zu einem Bruchteil den Anforde26  Bożena Mazurkowa diskutiert die (Nicht-)Berechtigung dieses Urteils, das Kniaźnin hier über seine frühere Poesie fällte: Die Forschung habe diese Werke inzwischen rehabilitiert, auch Kniaźnin selbst habe wohl keine absolute Distanzierung von seinen Frühwerken im Sinn gehabt, sondern den Leser eher auf die hier dokumentierte Veränderung seines Poesieverständnisses einstellen wollen (Mazurkowa, Literacka rama wydawnicza, 81–84). Für eine solche Interpretation spricht auch, dass er weiter Anakreontika und Bagatellen schrieb und publizierte, wenn auch in wesentlich geringerem Umfang. 27  Zitate aus den Oden oder vier Büchern Lyrik werden nach folgender Ausgabe angegeben: Franciszek Dionizy Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, Warszawa 1778, 1–218. Die Nachweise erfolgen im Haupttext mit der in runden Klammern gesetzten Nennung der Buchzahl (römisch) und der Seitenzahl (arabisch). 28  Bożena Mazurkowa, die die Frage der Gestaltung und Bedingungen der Edition seiner Publikationen erstmals anhand der Paratexte im Kontext der Konventionen der Epoche untersucht hat, hat die Änderung seiner Poesiekonzeption als bewusste Aussage über die Einbindung seiner früheren Poesie in die historische Entwicklung der polnischen Literatur der Aufklärung gelesen; Bożena Mazurkowa, Literacka rama wydawnicza, 81 f. 29  Kostkiewiczowa, Kniaźnin jako poeta liryczny, 100 f.; die Funktionen dieser Fußnoten sind ausführlich und übersichtlich aufgeschlüsselt in Mazurkowa, Literacka rama wydawnicza, 101–147. 30  Die Oden sind folgendermaßen auf die vier Bücher verteilt: Buch 1: 25, Buch 2: 27, Buch 3: 26, Buch 4: 29.

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rungen der Gattung Ode. Die insgesamt 107 Oden sind vielmehr eine bunte Mischung aus poetischen Sendschreiben, Panegyrica, Psalmenparaphrasen, Elegien, patriotischen, bukolischen Gedichten und poetischen Bagatellen, die nach dem Prinzip des Kontrastes komponiert zu sein scheint.31 Es lässt sich jedoch zugleich eine Graduation der patriotisch-erhabenen Linie im Auf- und Abschwellen ihrer Bedeutung in der Abfolge der Texte ausmachen. Von den 107 Gedichten des Bandes Ody sind 21 an die Fürsten Czartoryski gerichtet, hinzu kommen Panegyrica auf andere, mit ihnen verbundene Vertreter des Adels und der Magnaten. Im Folgenden sollen zunächst die einzelnen Mitglieder der Fürstenfamilie in ihrer Präsentation durch die ihnen gewidmeten Gedichte vorgestellt werden. 1. Aleksander August Czartoryski (1697–1782) Dem Fürsten Aleksander August Czartoryski, Wojewoden der Ruś, sind zwei Gedichte gewidmet. Aleksander August Czartoryski, der sich als erster der Familie nach der Liquidierung des Jesuitenordens Kniaźnins angenommen und ihn in seiner Kanzlei angestellt hatte, war einer der politisch aktivsten und mächtigsten Männer der Rzeczpospolita. Beide Gedichte auf den Fürsten nennen im Untertitel den Adressaten, beide sind in sechszeiligen Strophen im Elfsilber geschrieben. Das erste Gedicht trägt den Titel Oda VII. Cedr (Ode VII. Die Zeder; I: 18–21), das zweite, die Ode auf seinen Tod,32 nimmt das Bild der Zeder eingangs auf. Die Zeder gehört im Kontext der christlichen Ikonographie zu den biblisch konnotierten Bildern, die »Festigkeit und Stärke«, »Erhabenheit« und Größe bezeichnen33, in der 31  Rolf Fieguth spricht davon, dass Kniaźnin hier die »ostentativen Widersprüche zwischen dem sublimen Nachsänger Davidscher Psalmen, staatsbürgerlichen Moralisten und dem Dichter sehr unerhabener Anakreontika und Erotika förmlich zum Kunstprinzip erhoben« habe. Kniaźnin kombiniere die virtuos gehandhabte »leichte Poesie« mit solcher im erhabenen Stil, die von ihm praktizierte Technik der Kontraste diene nicht nur der Variation, sondern werde auch als implizites Argument für die Hinwendung zur Panegyrik eingesetzt. Mit den schroffen Übergängen von patriotisch-panegyrischem Ode zum Liebesidylle oder von der Psalmenparaphrase zum Trinklied hebe er zugleich die Freiheit des Dichters auf die Wahl seiner Themen gegenüber dem Adressaten hervor, gebe zu erkennen, dass er jederzeit »aus der Sphäre des Panegyrikons nach eigenem Belieben in die Sphäre der privaten Gefühlspoesie« überwechseln könne (Fieguth, Sturm und Zephyr, 13, 17). 32  Das zweite Gedicht folgt im 2. Buch der Oden: »Oda XVIII. Na smierć Xcia Augusta Czartoryskiego Woiewody Ruskiego« (Ode VIII. Auf den Tod des Fürsten August Czartoryski, Wojewoden der Rus’); Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 70–72. 33  Engelbert Kirschbaum SJ (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Rom / Freiburg [u. a.] 1994, 262–263; hier: 262.



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mittelalterlichen Rhetorik war sie – wie auch der Lorbeer – dem stilus gravis zugeordnet.34 Das erste, aus neun Strophen bestehende Gedicht Cedr (Die Zeder) zeichnet in der ersten Strophe die Ausgangssituation des Sängers, der, im Schatten einer hohen Zeder sitzend, in einen Dialog mit seiner Laute über die Frage tritt, wen er in diesem Augenblick, in dem er wohltätigen Schutz unter dem Dach des Baums gefunden habe, besingen solle. Die Antwort wird sofort gegeben: den Baum, seinen Wohltäter. Die folgenden Strophen 2–8 sind als ein mit emotionaler Anteilnahme des Sängers beschriebenes Naturbild aufgebaut, das im Dialog des Sängers mit der Zeder das Lob des Fürsten singt. Die Anrede mit dem vertrauten »Du« richtet sich so an den Baum als »Zierde des Waldes«, der alle anderen Bäume an Größe und Alter, Laub und Ehre übertrifft und sie unter seinen Schutz nimmt. Umgekehrt wird das Verhältnis der anderen Bäume ihm gegenüber als eines beschrieben, das von einer gewissen Rivalität der nachwachsenden jüngeren Stämme bei gleichzeitiger Anerkennung seiner Größe geprägt ist (»Zawżdy cię wyższym widziały i widzą«, I, 19). In Strophe 4 und 5 wird das Bild eines von einem verheerenden Unwetter verwüsteten und entlaubten Waldes mit gestürzten hohen, aber faulen Bäumen evoziert, die mit ihrem Sturz auch die unter ihnen wachsenden Pflanzen vernichten – ein auf emblematische Vorbilder zurückgehendes Bild,35 das hier die Situation Polens nach der u. a. auf den Verrat einiger hoher Magnaten zurückgehenden 1. Teilung Polens alludiert. Im Gegensatz dazu steht die Zeder unversehrt und hat alle jüngeren Bäume, Pflanzen und Tiere unter ihrem Schutz bewahrt: Hier blüht und grünt weiterhin alles, singen die Vögel, wachsen neue Triebe und Zweige. Im »gałąź znakomita, która cię pierwszym dosięga zawodem« (berühmten Spross, der dich als erster im Wettlauf erreichte; I, 20) wird dann der Sohn des Fürsten, Adam Kazimierz, als ein ihm würdiger Nachfolger eingeführt – die Allusion auf den Sohn wird in einer Fußnote verdeutlicht. Die letzte Strophe kehrt zum Sänger zurück, der die Lobpreisung seines Herrn im Schutz »przyiemne […] iey cienie« (ihr[es] angenehme[n] Schatten[s]; I,  21) als »słodkie […] odpocznienie« (süße Erholung; ibidem) benennt. Das zweite, dem Fürsten Aleksander gewidmete Gedicht ist auf seinen Tod geschrieben, die erste Zeile (»Runął na koniec i ów cedr wysoki!«; Gefallen ist schließlich auch jene hohe Zeder!; I, 70) nimmt das Bild der Zeder auf, eine Fußnote verweist auf die Übernahme aus dem Vorgänger34  Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Aufl. Tübingen / Basel 1993, 207, Anm. 3. 35  Vgl. die Beispiele für das Motto »Baum, im Sturm gebrochen«, Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Taschenausgabe, Stuttgart / Weimar 1996, 150–152.

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text. Wieder gestaltet die erste Strophe die Ausgangssituation, nennt die Trauer der Hinterbliebenen und gibt in den folgenden sechs Strophen der Muse das Wort, die sich mit einer Grabrede an die Trauernden wendet. Die Anrede »Bracia Polacy!« (Brüder Polen; ididem) spricht die gesamte Adelsnation an. Die Muse besingt die Verdienste des Fürsten um das Vaterland, die seinem Stand gemäßen Tugenden der Großzügigkeit, Herrlichkeit, der tätigen Sorge um die in einer Fußnote spezifizierte Förderung der Wissenschaften und Bildung im Lande, die er – wie die nächste Fußnote anmerkt – seinem Sohn vermacht habe. Sie besingt weiter seine persönlichen Eigenschaften: Standhaftigkeit, Tapferkeit und tiefschürfender Geist. Sie vergleicht ihn mit einem Fels, der auch im Unwetter fest und unerschütterlich stehe, und verheißt, dass sein Ruhm und Gedächtnis für immer in den Herzen bleiben werde. Die Muse schließt mit der Aufforderung an die »Brüder Polen«, dem Gestorbenen nachzueifern und auch die eigenen Nachkommen dazu anzuregen. Indem sie die Herrlichkeit und Tugenden des alten Fürsten besingen, halten sich die beiden Gedichte an die Argumente der traditionellen Panegyrik.36 Sie bedienen sich einer emblematisch tradierten, jedoch mit empfindsamer Lexik gestalteten Topik, beide vermeiden eine direkte Kommunikation zwischen Sender und Empfänger: Im ersten Gedicht wendet sich der Sänger an die Zeder als Bild für den Herrn und Patron, im zweiten Gedicht lässt er die Muse sprechen; diese Distanzierung zwischen Sänger und Besungenem lässt sich auch in den Gedichten an das Fürstenpaar Adam und Izabela Czartoryski erkennen. 2. Adam Kazimierz Czartoryski (1734–1823) Die Oden oder vier Bücher Lyrik enthalten insgesamt fünf direkt an den Fürsten Adam Kazimierz gerichtete Gedichte, das Widmungsgedicht und jeweils ein bzw. zwei Oden in Buch Eins bis Drei, die im Unterschied zu den an seinen Vater gerichteten Texten in vierzeiligen Strophen und in verschiedenen Strophenformen geschrieben sind. Der sorgfältig erzogene und höfisch gebildete Adam Kazimierz Czartoryski – er hatte in den 1750er Jahren drei längere, z. T. mehrjährige Reisen durch Europa, u. a. Rom, Österreich, London, unternommen, wo er nach der Absolvierung der Kavalierstour erste diplomatische Aufträge erfüllte – war von seinem Vater schon früh zur Wahrnehmung politischer Aufgaben herangezogen worden: mit 12 Jahren nahm sein Vater ihn zum ersten Mal zu einem Sejm mit, mit 22 wurde er zum Abgeordneten eines Kreises für den Landtag gewählt, seit 36  Kostkiewiczowa,

Kniaźnin jako poeta liryczny, 103.



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1758 hatte er das ehrenvolle Amt des Generalstarost von Podolien inne.37 Dennoch teilte der Sohn nicht den politischen Ehrgeiz seines Vaters, der alles unternommen hatte, um ihn 1764 zum polnischen König wählen zu lassen – Adam lehnte eine Kandidatur strikt ab,38 auch wenn er in den Positionen, die er im Land einnahm, politische Arbeit durchführte. Er war wesentlich stärker an der Aufgabe der Reform und Entwicklung des polnischen Bildungssystems, der Schulen, der Wissenschaften und Künste interessiert und richtete seine Aktivitäten vor allem auf diese Gebiete. Er war einer der aktivsten Mitglieder der Komysja Edukacji Narodowej und schrieb selbst zahlreiche Abhandlungen zu Bildungsfragen, über die Erziehung der Jugend, als erster in Polen auch der weiblichen Jugend; er initiierte und begleitete die Herausgabe der ersten polnischen politischen Zeitschrift der Aufklärung, Monitor (1765–1785);39 er beschäftigte sich mit Fragen der Poetik vor allem der Komödie und des Theaters, seit 1775 war er Arbeitgeber und Patron Kniaźnins. Dem ersten Band der Werkausgabe Kniaźnins ist eine Widmung an den Fürsten Adam Kazimierz Czartoryski40 und ein mit »Xiążę!« (I, XI; Fürst!) überschriebenes Widmungsgedicht vorangestellt,41 das die Zielsetzung des Autors formuliert, dem Fürsten als seinem Patron den gebührenden Dank darzubringen. Das aus fünf vierzeiligen Strophen bestehende Gedicht geht von zwei Beispielen künstlerischer Produktion in der Natur aus: Die erste Strophe beschreibt eine Nachtigall, die dem Frühling mit ihrem Gesang dankt, die zweite schildert Bienen, die dem ihrem Stock Schatten spendenden Baum und der dazugehörigen Nektar bereitstellenden Wiese ihren ­Honigertrag verdanken.42 In diese Reihe naturgegebener gegenseitiger Verpflichtung und natürlicher Danksagungen stellt sich auch der seine Gaben darbringende Autor: 37  Zofia Wołoszyńska, »Adam Kazimierz Czartoryski (1734–1823)«, Pisarze polskiego oświecenia, Red. Teresa Kostkiewiczowa, Zbigniew Goliński, Bd. 1, Warszawa 1992, 399–419; hier: 400–402. 38  Waniczkówna, »Czartoryski, Adam Kazimierz«, 249 f. 39  Wołoszyńska, »Adam Kazimierz Czartoryski«, 405 f. 40  Nur hier wird die volle offizielle Titelanrede verwendet: »J. O. Xiążęciu JMCI Adamowi Czartoryskiemu, Generałowi Ziem Podolskich, Orderów Orła Białego, S. Stanisława i S. Jędrzeia Kawalerowi &c.&c.« (Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, IX; Seiner Gnaden dem Fürsten und gnädigen Herrn Adam Czartoryski, General[starost] Podoliens, der Orden des Weißen Adlers, des Hl. Stanislaus und des Hl. Andreas Kavalier). 41  Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, XI–XII. 42  Im Kontext des Gedichts erscheint diese Strophe als ein Verweis auf das Bild des nektarsammelnden und honigproduzierenden Dichters; zum Bienengleichnis s. Jürgen von Stackelberg, »Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen imitatio«, Romanische Forschungen 68 (1956), 271–293.

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I ia, com zebrał za młodu, Pod twoim dachem ukryty; Niosęć zysk z twego ogrodu, Wieniec z róż twoich uwity.43 (I, XI)

Als Lohn wünscht sich der Autor die Freude des Fürsten über seine Poesie und ihre Anerkennung als eine ihm würdige Gabe. Das Widmungsgedicht präsentiert damit die Werke des Dichters als eine Gabe, die seiner als Naturgefühl entworfenen Dankbarkeit gegenüber dem Patron entspringt, der die materiellen Grundlagen und den nötigen Schutz für das Schaffen des Autors bereitstellt. Die vorrangige Intention ist also weniger die der Panegyrik, als vielmehr der Ausdruck der Dankbarkeit des Dichters in der Gestalt einer Gegengabe für die empfangenen Wohltaten; dies verweist auf die eingangs geschilderte aufklärerische Konzeption der Panegyrik und zugleich auf eine sentimentale Auffassung von der Würde des Individuums und der Beziehung zu seinem Patron. Die Aufrichtigkeit des durch den Dank gespendeten Lobs wird damit ebenso vorausgesetzt wie das Verdienst des Gelobten. In einem weiteren Gedicht des ersten Buchs, der an den Freund und Dichterkollegen Józef Szymanowski gerichteten Ode »Na panegiristów« (Auf die Panegyriker) distanziert sich Kniaźnin von einer konventionellen Lobpreisung unwürdiger Personen und nimmt indirekt für sich in Anspruch, »rechte Panegyrik«44 zu schreiben, d. h. eine solche, die sich an tugendhafte und wahrhaftig lobenswerte Adressaten und Gegenstände richte. In einer weiteren, an Karol Berken gerichteten Ode entwirft der lyrische Sprecher die Aufgabe der Poesie als Suche nach Wahrheit, die so lange dauern werde, wie der »tey lutni brzmenie / W narodzie wolnym« (I, 30; Klang dieser Laute in der freien Na­ tion) ertönen werde. Die Orientierung an der Wahrheit sichere dem Dichter Unsterblichkeit und garantiere allein »chwała prawdziwa« (wahren Ruhm; I, 32), sie kann aber nur in Freiheit verwirklicht werden. Das poetologische Thema wird so eng mit der Freiheit der Nation verbunden. Die erste an Adam Kazimierz gerichtete Ode erscheint im 1. Buch der Ody czyli Liryki an zweiter Stelle, nach der einleitenden Ode an Gott – eine Platzierung, die der Bedeutung des Fürsten für den Autor entspricht. Das Gedicht wendet sich an Adam Kazimierz als Marschall des Tribunals von Litauen, des obersten Appellationsgerichts für den Adel im litauischen Teil Polens.45 Das Gedicht bezieht sich auf die Jahre 1781 / 1782, als der Fürst Adam Kazimierz diese Funktion innehatte und sie, wie es in einer 43  »Und ich, was ich von klein auf sammelte, / Unter deinem Dach geborgen; / Bringe Ertrag aus deinem Garten, / Den Kranz, aus deinen Rosen geflochten.« [Übersetzung UJ]. 44  Fieguth, »Sturm und Zephyr«, 16. 45  Zu Czartoryskis Übernahme und Führung des Amtes s. Waniczkówna, »Czartoryski, Adam Kazimierz«, 252. Die Einrichtung des Tribunals hatte, darauf wird in



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Biographie heißt, vorbildlich erfüllte.46 Entsprechend trägt die Ode den Titel Kościoł Temidy (Kirche der Themis).47 In 15 vierzeiligen Strophen wird die gerichtliche Aufarbeitung von Übergriffen und Vergehen Adliger in Litauen als Kirche der Gerechtigkeit entworfen; als Quelle der Inspiration für die Richter dieses Tribunals wird Gott selbst genannt. Die Strophen 4–10 rufen  das symbolisch durch Sturm und Unwetter bezeichnete Teilungsgeschehen und das von ihm verursachte Unglück, die Not der litauischen Be­ völkerung, in Erinnerung. Zweimal exponiert sich der Sänger mit »widziałem« (ich sah) als Augenzeuge dieser Ereignisse, allerdings als ein unbeteiligter Z ­ uschauer, der das Geschehen aus einer gewissen Distanz und aus der ­Höhe betrachtet. Auch hiermit grenzt er sich von direkter Lobpreisung ab und unterstreicht seine Bedeutung als unparteiischer Zeuge.48 Mit dem Verweis auf das Beispiel Jupiters, der den Sohn des Phöbus auf seiner die Erde versengenden Fahrt mit dem Sonnenwagen durch einen Blitz fällte, rechtfertigt er die Einrichtung des Tribunals und entwirft sie als gerechte Strafe Gottes, der die Gehorsamen belohnt und die Aufrührer straft. Die Gerechtigkeit gewährende Arbeit des Tribunals erfülle das Volk mit neuem Vertrauen in seine Herren. Erst in den letzten zwei Zeilen des Gedichts wendet sich der Sänger direkt an den Fürsten mit dem Ausdruck seiner Freude über die Lobpreisungen, die dieser für die Leitung des Tribunals erhalten habe: Xiąże! To tylko z radością słyszałem, Ze ciebie wszyscy wielbili.49 (I, 8)

Das Lob des Fürsten wird hier als Wiedergabe der als einstimmig positiv vorgeführten allgemeinen Meinung über seine Leistung in diesem Amt präsentiert; die allgemeine Meinung erregt die Freude des Sängers. Eine weitere Ode beschreibt den Fürsten Adam Kazimierz als General(ny starosta) von Podolien, »als er seine Güter bereiste«.50 Mit dem Titel »Generalstarost« verwendet die Ode den höchsten Amtstitel, den er in Polen trug, und mit dem er stets als erstem bezeichnet wurde.51 Der Fürst besaß einer Anmerkung des Autors hingewiesen, der polnische König Stefan Batory im 17. Jahrhundert eingeführt. 46  Waniczkówna, »Czartoryski, Adam Kazimierz«, 252. 47  Kościoł Temidy. Do Xiążecia Adama Czartoryskiego Marszałka Trybunału Litt. (Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 5–8). 48  Kostkiewiczowa, Kniaźnin jako poeta liryczny, 111. 49  »Fürst! Das habe ich nur mit Freude gehört, / Dass dich alle rühmten.« 50  Es ist die Ode 14 im 2. Buch: »Oda XIV. Do Xcia Adama Czartoryskiego Generała Ziem Podolskich, gdy Dobra swoie obieżdżał«; Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 82–84. 51  Wołoszyńska, »Adam Kazimierz Czartoryski«, 402. Der Titel hatte in dieser Zeit eine fast nur noch symbolische Bedeutung, wurde aber als Ehrentitel geführt;

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ausgedehnte Ländereien in den Wojewodschaften Ruś, Podolien, Lubelsko, Podlasien und Wolhynien, dazu von seiner Frau her Güter in den Kreisen Włodawa, Terespol, Włoczyn u. a.,52 die er mit großem Hofstaat inspizierte. Adam Kazimierz bekannte sich zu der Ansicht, »najświętszym, najwinniejszyn jest obowiązkiem dla rządu każdego opieka nad stanem rolniczym« (die heiligste Pflicht für jede Regierung sei die Sorge um den Bauernstand).53 Er arbeitete Programme für ihre Bildung und Erziehung aus und »w swych rozległych dobrach otaczał ich stałą opieką« (umgab sie auf seinen Ländereien mit ständiger Fürsorge).54 Er ließ Umfragen zu ihrer Zinsbelastung durchführen, gründete eine Darlehenskasse für Bauern und sorgte für die wirtschaftliche Entwicklung seiner Ländereien. Das Gedicht thematisiert jedoch nicht das im Titel genannte ehrenvolle Amt des Fürsten, die Fülle seiner Ländereien oder seine Fürsorge für die Bauern, sondern die Freude seiner Leute über den Besuch ihres Herrn. Der lyrische Sprecher erscheint wieder in der Rolle des distanzierten Betrachters. Er wendet sich zunächst mit »widzisz« (du siehst) an den Adressaten und Leser und beschreibt in den ersten drei Strophen das sich ihm entfaltende Bild der herbeieilenden, sich tief verneigenden und den Herrn traditionsgemäß mit Brot und Salz begrüßenden Bevölkerung. Die 4. Strophe spricht die Muse an und präsentiert ihr als ein Gegenbeispiel zu der gleichbleibenden Verehrung der Landleute für ihren Herrn eine Episode aus der römischen Geschichte: die Reaktion des römischen Volkes auf den triumphalen Einzug der Scipionen nach dem Sieg über Karthago. Dort habe sich der anfängliche Jubel des Volkes beim Amblick der zur Schau gestellten Schmach der Besiegten in Mitleid mit ihnen und Abscheu über die Sieger verwandelt. Diese Gegenüberstellung nimmt der Sänger zum Anlass, die Frage an die Muse zu stellen, welcher Anblick, der des schrecklichen Kriegers oder der des von seinen Leuten geliebte Herr, sie stärker rühre: Któryź cię bardziey, strasznego hetmana, Czyli miłego swoim ludziom pana, Poruszył widok? Tamten serce przeszył,        Ten zaś ucieszył.55 (I, 83)

Wieder wird die emotionale Wirkung des Auftritts Adam Kazimierzs auf seine Leute ins Zentrum gestellt, diesmal wird die Rührung durch einen milden Herrn dem Anblick eines Schrecken erregenden Siegers vorgezogen. zum polnischen Titelgebrauch in dieser Zeit s. Rohde, »Die polnische Adelsrepublik«, 11. 52  Waniczkówna, »Czartoryski, Adam Kazimierz«, 252. 53  Waniczkówna, »Czartoryski, Adam Kazimierz«, 251. 54  Ibidem. 55  »Wer hat dir mehr den Blick gerührt, / der schreckliche Hetman, oder der seinem Volk / liebe Herr? Jener hat das Herz durchbohrt, / Dieser getröstet.«



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Die vorletzte Strophe schließlich wendet sich an den Fürsten selbst mit der mahnenden Aufforderung, den Wert und das Anliegen seiner Leute zu sehen und anzuerkennen; die letzte Strophe schließt nach einer Sentenz, die den christlichen Hinweis auf die Nächstenliebe mit dem auf die Bedeutung der Leute für den Bestand des Staates verbindet, und einer Wendung an die Muse, mit der der Sänger jedes Lob der allseits bekannten Güte als überflüssig wertet: Xiąże! Rzuć okiem: czołem tobie biją. Rzuć okiem na tych, co dla ciebie żyją; Szukając w tobie, za prace i plony,        Własney obrony. Trzoda to bliźnich, co się dla nas znoią, Przez których państwa i narody stoią. Muzo! Umilkniy: dobroć tobie znana         Zacnego Pana.56 (I, 83 f.)

Dies ist nicht nur eine Mahnung, die die umgekehrte Rührung des Fürsten durch die Aufopferung und Schutzbedürftigkeit seiner Leute fordert. Mit der Aussage, die Bauern seien die »Nächsten« und diejenigen, »przez których państwa i narody stoią« (durch die Staaten und Nationen bestehen), ruft der Sänger zwei traditionelle Konzepte polnischer Staatsauffassung auf: Erstens entspricht die Bedeutung, die hier dem Bauernstand zugewiesen wird, nicht nur aufklärerisch republikanischem Denken, sondern verweist auch auf die erste Dynastie polnischer Könige, die sich von dem sagenhaften Bauern Piast ableitete. Zweitens alludiert die Formulierung des Satzes die im Polen des 18. Jahrhunderts viel zitierte Maxime »Polska nierządem stoi« (Polen besteht durch Anarchie), mit der die Adelsrepublik stolz auf ihre Verfassung als demokratische bzw. aristokratische Nation verwies. Da diese Verfassung zugleich die Schwäche der Adelsrepublik begründete, gibt sich mit dem Verweis auf die Bauern als dem eigentlich staatstragendem Stand eine kritische Einstellung zu erkennen, die auf die Reformorientiertheit der Fürsten verweist. Das dritte, neunstrophige Gedicht trägt den Titel Ray Brzezanski (Das Paradies von Brzeżany) und bezieht sich auf eine Sommerresidenz der Familie im Dorf Raj nahe Stadt und Schloss von Brzeżany.57 Der Text bestä56  »Fürst! Sieh hin: sie verneigen sich bis zur Erde. / Sieh hin auf diese, die für dich leben; / Die in dir, für Mühe und Erträge, / Den eigenen Schutz suchen.  /  / Das ist eine Herde Nächster, die sich für uns mühen, / Durch die Staaten und Nationen stehen. / Muse! Schweige: Dir ist bekannt die Güte / Des hochwohlgeborenen Herrn.« 57  Es ist die Ode 11 im dritten Buch: »Oda XI. Ray Brzeżanski. Do Xcia Adama Czartoryskiego Generała Ziem Podolskich.« Dem ersten Untertitel ist eine Fußnote beigefügt, die die Bedeutung des Ortes erklärt: »Brzeżany, miasto i zamek w

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tigt eingangs die Angemessenheit des Namens »Paradies« für diesen Ort, doch der Sänger verzichtet auf eine Beschreibung seiner Schönheiten. Er beschränkt sich auf die mit ihm verbundenen Erinnerungen an vergangene Größe und Freuden. Brzeżany lag in der seit der 1. Teilung zu Österreich gehörenden Wojewodschaft Ruś, es war einst der Stammsitz der Magnatenfamilie Sieniawski, aus der die Mutter des Fürsten Adam Kazimierz stammte. Wieder übergibt der Sänger das Wort an die Muse, die mit wehmütigen Erinnerungen an frühere Zeiten der Freiheit beginnt, die jetzt dem Zwang der Fremdherrschaft gewichen sei: Na mieyscu owey lubey swobody,     Wszystko tu teraz pod musem. Trawim z goryczą owoc niezgody,     Pod ciężkim ięcząc Rakusem.58 (I, S. 127)

Die Muse führt diese Erinnerungen nicht konkret aus, sondern liest den Ort mit seiner Landschaft, die an den Wänden des Schlosses hängenden Porträts seiner früheren Herren als Anlass zur Klage über die verlorene Freiheit und das drückende Joch der neuen Herren. Mit dem Besuch des Fürsten sieht sie die frühere Freude zurückkehren, der Ort beginnt aufzuleben; sein baldiger Abschied lässt sie in Tränen versinken. Das Gedicht ist damit der Klage um die seit der 1. Teilung Polens im österreichischen Staatsgebiet gelegenen Güter gewidmet; diese Klage wird auch in weiteren Gedichten wie z. B. in Do Oyczyzny (An das Vaterland; Buch 4, Ode XIII) aufgenommen. Hier verbindet sich die Trauer über die unglückliche Lage der fürstlichen Güter mit der über die Verlusterfahrungen des Autors selbst, dessen Vaterhaus und Geburtsstadt in den seitdem zum Russischen Reich gehörenden Gebieten lagen. Die Oden an Adam Kazimierz entwerfen in ihrer Gesamtheit erstens die Dankbarkeit gegenüber dem Patron als natürliches Gefühl, zweitens zeigen sie den Patron an einem konkreten Beispiel als von allen gelobten gerechten Richter seiner Standesgenossen, drittens führen sie die ihm von seinen Untertanen dargebrachte Liebe und Verehrung vor und ermahnen ihn zu seiner Fürsorgepflicht, viertens zeigen sie ihn als einen patriotischen Polen, der unter der Teilung des Staates leidet. Die Texte gestalten das Lob des Fürsten nicht als Aussage seines Sängers, sondern übertragen es einer jeweils andeWwdztwie Ruskim; stolic niegdyś Sieniawskich, sławna kosztewnemi ich grobami. O pół mili ztamtąd, w pięknym bardzo mieyscu, rezydencja ich letnia, Raiem nazwana«; I, S. 126 (Brzeżany, Stadt und Schloss in der Wojewodschaft Rus; einstmals die Hauptstadt der Sieniawski, berühmt durch ihre kostbaren Grabstätten. Eine halbe Meile von dort [liegt] an einem sehr schönen Ort ihre Sommerresidenz, Paradies genannt.). 58  »Am Ort jener geliebten Freiheit, / Ist jetzt alles unter Zwang. / Wir kosten in Bitterkeit die Frucht der Zwietracht, / Stöhnen unter dem Joch Österreichs.«



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ren Instanz, der Muse, der Adelsnation und dem Volk. Der Sänger tritt damit als Lobender in den Hintergrund, er führt die seinem Herrn gewidmete Dankbarkeit und Liebe vor. 3. Izabela Czartoryska (1746–1835) Der Fürstin Izabela Czartoryska sind drei Gedichte direkt gewidmet, hinzu kommen drei weitere Texte, in denen sie Gegenstand der Darstellung ist.59 In die Ody wird sie mit zwei der zuletzt genannten Texte eingeführt. Im Unterschied zu den Gedichten an die Fürsten Aleksander August und Adam Kazimierz, die mit ihrem eigenem Namen genannt werden, verwendet Kniaźnin entsprechend der etablierten Konventionen der Rokoko-Anakreontik für die Fürstin den poetischen Namen Temira, enthüllt aber hier mit einer Fußnote die hinter diesem Namen stehende reale Person.60 Izabela Czartoryska hatte als einziges Kind eines ebenso politisch mächtigen wie reichen Mannes bedeutende Besitzungen in die »familia« eingebracht, sie war zunächst als eine tonangebende Dame der hohen Aristokratie in Erscheinung getreten. In den siebziger Jahren, als ihr Gatte das Warschauer Stadtpalais zum Ort seines intellektuellen Kreises machte, ließ sie das umfangreiche Gut Powązki vor der Stadt in einen Rokokopark umgestalten. Es entstand dort – etwas früher als das Trianon Marie-Antoinettes, mit dem Powązki häufig verglichen wird61 – eine ausgedehnte Parklandschaft mit Grotten, Wasserläufen und strohgedeckten Häusern, die der Erholung der Familie und ihrer Gäste sowie eleganten Schäferfesten diente. Als die Familie nach Puławy umsiedelte, kümmerte Izabela sich auch dort um die Ausgestaltung von Park und Schloss und entfaltete eine rege politische und künstlerische Tätigkeit, die auf die Entwicklung einer patriotischen polnischen Kultur zielte. Kniaźnin unterstützte sie dabei auch mit seinen literarischen Werken, die häufig als Vorlage für Festveranstaltungen in Powązki wie in Puławy dienten. In dem ersten, die Fürstin besingenden Text62 entwirft er sie als eine der Grazien, die die »göttliche Leier, auf der einst Horaz sang« zu hören fähig sind und mit »leichter Anmut« aufrichtige Bande zwischen »Witz, Herz und Arbeit« errichten (»Wam to nastraiać te związki szczyre / Dowcipu, serca i 59  Dies

III.

sind: Buch 1, Ode IV, XIV, XX; Buch 2, Ode XI, XXVII; Buch 3, Ode

Kniaźnin jako poeta liryczny, 101. »Puławy«, 498. Alina Aleksandrowicz bezeichnet Powązki als Realisierung des Ideals arkadischen Lebens, als »kostspieliges Spielzeug« seiner Herrin. 62  Das Gedicht trägt den Titel »Oda IV. Do Gracyy« (Ode 4. An die Grazien); Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 12 f. 60  Kostkiewiczowa, 61  Aleksandrowicz,

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pracy«, I, 12). Die vier Begriffe verweisen auf die drei poetischen Strömungen der Zeit: ›Anmut‹ und ›dowcip‹ (Witz)63 weisen in diesem Kontext vor allem auf die Rokokopoetik hin, ›serce‹ (Herz) alludiert das Rokoko und mehr noch den Sentimentalismus, ›praca‹ (Arbeit) wiederum die Ideologie des Klassizismus. Wenn im Folgenden der ›gute Geschmack‹ genannt wird, als dessen Richter der Sänger die Grazien apostrophiert, dann steht damit die nach Józef Szymanowski zentrale Kategorie der Rokokopoetik im Vordergrund.64 Den Grazien gebührt das Urteil des guten Geschmacks, sie bittet der Sänger, seine Leier mit ihrer Anmut und Liebenswürdigkeit zu 63  Der polnische Begriff ›dowcip‹ (Witz) entspricht dem des ›acumen‹, den M.K. Sarbiewski in seiner Abhandlung De acuto et arguto (1627) ausführlich als poetisches und rhetorisches Verfahren einer ungewöhnlichen und daher überraschenden Zusammenstellung üblicherweise weit auseinander liegender Ideen diskutiert hatte. »[Im acumen kommen] ein ästhetisches und ein kognitives Moment zusammen, wenn man den spielerischen oder artistischen Ansatz, der mit der delectatio korrespondiert, also den lusus verborum, einerseits und den intellektuellen Ansatz, der mit der admiratio korrespondiert und in der Findung ›ungewöhnlicher‹ Argumente und Vorstellungen besteht, andererseits als Realisierung dieser Momente begreift« (Renate Lachmann, »Rhetorik und Acumen-Lehre als Beschreibung poetischer Verfahren. Zu Sarbiewskis Traktat ›De acuto et arguto‹ von 1627«, Slavistische Studien zum VII. Internationalen Slavistenkongreß in Warschau 1973, hrsg. v. J. Holthusen, München 1973, 331–355, hier 334; s. auch: R. Lachmann, »Die problematische Ähnlichkeit. Sarbiewskis Traktat De acuti et arguto im Kontext concettistischer Theorien des 17. Jahrhunderts«, Slavische Barockliteratur 2: Gedenkschrift für Dmitrij Tschižewskij, hg. Renate Lachmann, München 1983, 87–114. Der Begriff ›dowcip‹ wurde in der klassizistischen Poetik wie in der Rokokopoetik des 18. Jahrhunderts in jeweils entsprechend modifizierter Definition verwendet; s. Barbara Otwinowska, »Dowcip«, Słownik literatury polskiego oświecenia, hg. Teresa Kostkiewiczowa, 2. Aufl., Wrocław / Warszawa / Kraków 1996, 65–70, hier 67–69. 64  Der eng mit dem Fürstenpaar verbundene Józef Szymanowski hatte 1779 die als Poetik des polnischen Rokoko geltende Abhandlung Listy o guście czyli o smaku (Brief über den Geschmack) herausgegeben, der eine Antwort auf den Vorschlag zur Einrichtung einer Kritischen Gesellschaft darstellte, die Kriterien für die Bewertung literarischer Werke erarbeiten sollte. Die »Briefe« entwickeln ein auf die zugleich ästhetisch und psychologisch gefasste Kategorie des Geschmacks gestütztes Literaturkonzept, das den »guten« Geschmack der eleganten Gesellschaft zum entscheidenden Instrument der Bewertung eines Werkes macht. Der so verstandene Geschmack setzt zunächst eine angeborene Fähigkeit der Erkenntnis des Schönen und der Anmut voraus, muss aber durch die Bekanntschaft mit vollkommenen Vorbildern und durch die Gesellschaft von Leuten mit ausgebildetem Geschmack erzogen werden; das Geschmacksurteil beruht auf einer bewusst entwickelten »czułość« (Empfindsamkeit), »delikatność« (Zartgefühl) und »trafność« (Treffsicherheit) der Person bzw. der guten Gesellschaft. Wichtigster Faktor der »trafność« ist der »Witz« (dowcip). Geschmack wird damit nicht als nur individuelle, sondern als eine auf der kollektiven Übereinstimmung einer gebildeten Elite beruhende Kategorie begriffen. Teresa Kostkiewiczowa, »Józef Szymanowski (1748–1801)«, Pisarze polskiego oświecenia, hg. Teresa Kostkiewiczowa und Zbigniew Goliński, Bd. 1, Warszawa 1992, 640–652, hier 642, 649 f.



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versehen, so daß seine Anmut und Patriotismus verbindenden Töne Temira gefallen werden: Czy wdzięczne dla niey tony nastroję;     Czy spletam wieńce miłości; Czy ogniem cnoty umysł móy zbroię     Na łonie drogiey wolności: Zycząc Oyczyźnie, by w związek miły     Serca iey synów swobodne Z cnotą i chwałą tak się złączyły;     Jako wy, lube i zgodne!65 (I, 13)

Die Fürstin wird damit in der Konvention des Rokoko als Richterin über Witz und guten Geschmack präsentiert, zugleich erscheint sie im Kreis der einträchtigen Grazien als Beispiel für die ersehnte freie Eintracht unter den Söhnen der polnischen Nation. Das zweite Gedicht besingt »Die Rose Temiras«66, einen hochgewachsenen wilden Rosenstrauch im Wald bei Puławy, den die Fürstin, wie wieder eine Fußnote erklärt, mit der Anlage eines schmalen Pfads und der Setzung eines mit einem Anakreon-Zitat beschrifteten Steines in ihre Parkanlage einbezogen hatte. Das Gedicht lässt die Rose sprechen, die sich als von Temira entdeckte und durch ihre Gnade in eine ehrenvolle Position versetzte Wildrose schildert, zu der der Betrachter die Augen erheben kann, die aber hinter ihren Dornen unerreichbar für ihn bleibt. Auch die an den Pfarrer Ignacy Nagurczewski, Probst von Brańsk, gerichtete Ode III des dritten Buchs mit dem Titel Kaskada beschreibt ein Werk Temiras.67 Wie eine Fußnote erläutert, geht es um einen Springbrunnen unweit von Wołczyn in der Wojewodschaft Brest Litowsk, den die Fürstin hat errichten und bei dem sie ein vor der Sonne schützendes Haus hat erbauen lassen. Mit einem Wort, sie hat einen locus amoenus geschaffen, an dem man glücklich sein und beim Rauschen des Wassers innere Ruhe finden kann. Der Adressat, Pfarrer Nagurczewski, wird gebeten, diesen Ort mit der üblichen Zeremonie einzuweihen und so ein Heiligtum Temiras zu schaffen, in dem »Tu my coroczną pamiątkę obchodzić, / Tu sypać róże …; / A wdzięcznym głosem na gęślach i lirze / Nieraz o piękney zanócim Temirze!« (wir ihrer jährlich 65  »Ob ich anmutige Töne für sie anstimme, / Ob ich Kränze der Liebe flechte; / Ob ich meinen Geist mit der Tugend Feuer wappne / Auf dem Schoß der teuren Freiheit:  /  / Ich wünsche dem Vaterland, dass in einem lieben Bund / Die freien Herze seiner Söhne / Mit Tugend und Ruhm sich so verbinden / Wie ihr, liebenswürdig und einträchtig!« 66  Es ist die vierzehnte Ode im ersten Buch der Oden: »Oda XIV. Róża Temiry«; Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 35 f. 67  Es ist die dritte Ode im dritten Buch der Oden: »Oda III. Kaskada«; Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 111 f.

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gedenken, Rosen streuen […] und mit holder Stimme die schöne Temira oft auf Laute und Leier besingen werden; I, 112). Beide Gedichte besingen die Fürstin als Schöpferin der Parkanlagen, wobei diese nicht als Gesamtwerk geschildert, sondern in Einzelaspekten vorgeführt werden. Dabei wird die Fürstin deutlich mit der Poetik des Rokoko, wie sie in Polen durch Józef Szymanowski vertreten wurde, in Verbindung gebracht. Erst die Ode XX im ersten der Vier Bücher der Oden trägt den realen Namen der Fürstin im Titel: Na urodziny Xiężny Izabelli Czartoryskiey, Generałowej Ziem Podolskich (Auf den Geburtstag der Fürstin Izabella Czartoryska, General[starost]in der Podolischen Länder).68 Der Sänger präsentiert sich zunächst als ein Mitglied des Glückwünsche darbringenden Chors, der mit anderen zusammen die Fürstin als Schöpfung der Grazien besingt, die in ihrer Person Anmut und Liebenswürdigkeit, Weisheit und Tugend, lebhaften Geist, Witz und Verstand vereinten. Erst in den letzten vier Strophen tritt der Sänger als Ich in Erscheinung und stellt sich die Frage, wie er sie angemessen preisen könne: Cóż powiem o tey bogini, Którey nad sercem moc dana? Którey się zawsze hółd czyni, A mało u ludzi znana? Czucia ią wyższe unoszą: Szczęściem powszechnym szczęśliwa. Łzy same dla niey roskoszą, Co iey gorliwość wyliwa. Tu ona, jak tarcza, staie, Naprzeciw wszelkim przypadkom: Tu wzór szlachetny wydaie Obywatelkom i matkom. Czyiaż to zacność takowa, W którey to wszystko zamknione? Xiężno! Zastąpią me słowa Oczy na ciebie zwrócone.69  (I, 47) 68  Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 45–47. Ehefrauen und Kinder wurden üblicherweise mit den entsprechenden grammatischen Formen der Titel des Ehemannes bzw. Vaters bezeichnet, s. Rohde, »Die polnische Adelsrepublik«, 11. 69  »Was sage ich über diese Göttin, / Der Macht über die Herzen gegeben? / Der immer gehuldigt wird, / Die aber den Leuten wenig bekannt ist?  /  / Gefühle heben sie höher empor: / Durch das allgemeine Glück ist sie glücklich. / Selbst Tränen sind für sie Wonne, / Die ihr Eifer vergießt. / / Hier steht sie wie ein Schild / Gegenüber allen Zufällen: / Hier gibt sie ein edles Beispiel / Staatsbürgerinnen und Müttern. / / Was ist eine solche Vornehmheit, / In der das alles beschlossen ist? / Fürstin! Meine Worte vertreten / Die auf dich gerichteten Augen.«



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Dieses Bild der Fürstin als Muster von Grazie, Tugend, patriotischem Staatsbürgertum und Mutterschaft wird im zweiten, direkt an sie gerichteten Gedicht aufgenommen (II, Oda XI).70 Es besteht aus sechs Strophen in zwei regelmäßig variierenden Formen – auf einen Vierzeiler im 8-Silber folgt ein Sechszeiler im 11-Silber. Dieses Gedicht ist als Monolog des Sängers gestaltet, der sich eingangs als ein Dichter unter vielen vorstellt, die die Adressatin mit Blumen überschütten. Seine die Züge der Fürstin tragende Muse zeigt ihm den Weg der Tugend, auf dem jeder Flitter unnötig wird, auf dem sie, von einem Schutzengel geleitet, leicht über Dornen, durch Heuchelei und Verleumdung geht und zum Himmel strebt wie der Adler zur Sonne. Die letzten zwei Strophen transformieren die Beschreibung der Muse in die Aufforderung an die Fürstin, genau diesen Weg zu gehen und ihre Kinder auf ihn zu geleiten: Idź o szlachetna tym torem, I daway przykład w narodzie; Jak ma płeć twoia z honorem O naszej myślić swobodzie. Te drogie szczepy, krwi twoiey plemiona, Uzbróy swym sercem, i prowadź swą ręką: Czuiąc Oyczyzna dzielne ich ramiona, Z wieczną cię będzie wspominać podzięką. Gdy z naszą chwałą chwała ich zaświeci, Rzeczesz szczęśliwa: moie to są dzieci!71 (II, 77 f.)

Neu gegenüber den ersten Gedichten auf die Fürstin ist hier die deutliche Hervorhebung ihrer Rolle als bewusste Staatsbürgerin und ihre Kinder im patriotischen Geiste erziehende Mutter. Dies entspricht nicht nur der Selbst­ inszenierung der Fürstin seit Beginn der 1780er Jahre, sondern auch den ­zeitgenössischen Diskussionen über die (adlige) Frau als gleichberechtigte Staatsbürgerin der polnischen Rzeczpospolita. Es wurde von liberaler Seite, zu der auch Fürst Adam Kazimierz gehörte, argumentiert, dass die Frau als erste Erzieherin ihrer Töchter und Söhne die Grundlagen für deren künftiges staatsbürgerliches Verhalten lege und damit eine wichtige Funktion für das Staatswesen erfülle, demnach auch als Staatsbürgerin anzuerkennen sei.72 70  Ode XI des zweiten Buchs der Oden: »Oda XI. Do Xiężny Izabelli Czartoryskiey Generałowej Ziem Podolskich« (An die Fürstin Izabella Czartoryska General[starost]in Podoliens); Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 76–78. 71  »Geh o Edle diesen Weg, / Und gib ein Beispiel im Volk; / Wie dein Geschlecht mit Ehre / über unsere Freiheit denken soll.  /  / Die teuren Reiser, deines Blutes Stamm, / Schirme mit deinem Herzen und führe sie bei der Hand: / Wenn das Vaterland ihre tätigen Arme fühlt, / Wird es deiner mit ewigem Dank gedenken. / Wenn ihr Ruhm mit unserem Ruhm aufleuchtet, / Sprichst du glücklich: Das sind meine Kinder.« 72  Zu den Diskussionen um die Bedeutung der Frau als Staatsbürgerin im Polen des 18. Jahrhunderts und den disbezüglichen Schriften A.K. Czartoryskis s. Claudia

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In diesem Kontext der Diskussionen um die Frau als Staatsbürgerin kann ein weiteres Gedicht, das die Fürstin weder adressiert noch erwähnt, als ebenfalls an sie gerichtet gelesen werden. Es ist die Ode XVII im 2. Buch mit dem Titel Matka obywatelka, die als Wiegenlied einer patriotischen Mutter an ihr Kind gestaltet ist, in dem die Mutter von dem auch sie erhebenden künftigem Ruhm des für das Vaterland kämpfenden Kindes träumt. Zugleich warnt sie vor der Gefahr des Verrats am Vaterland. Der Bezug auf Izabela war den damaligen Rezipienten unmittelbar zugänglich, denn Izabela inszenierte sich mehr und mehr als vorbildliche patriotische Mutter und Staatsbürgerin, die ihre Kinder zu musterhaften polnischen Patrioten erzog. Demonstrativ hatte sie das 1786 während einer der in Puławy abgehaltenen Zusammenkünfte der polnischen Adelsopposition getan, als sie in der Erstaufführung der Oper Matka Spartanka (Die Mutter – eine Spartanerin) vor über 500 adligen Gästen die Hauptrolle spielte.73 Der Text stammte von Kniaźnin, auch er ist in der dreibändigen Ausgabe abgedruckt; der Leser konnte die Bezüge also herstellen. Mit dieser Rolle übernahm Izabela zugleich auch das von ihrem Mann in Drugi list Doświadczyńskiego o edukacyi córek (Zweiter Brief Doświadczyńskis über die Erziehung der Töchter) entworfene Muster der polnischen Ehefrau und Mutter.74 Wie bereits erwähnt, hat Kniaźnin den zweiten Band der Poezje der Fürstin Izabela Czartoryska zugeeignet. Der Widmung »Do J.O. Xiężny JeyMci Izabeli z Hrabiów Flemingów Czartoryskiey, Generałowej Ziem Podolskich« (An Ihre Durchlaucht, die Fürstin und gnädige Frau Izabela Czartoryska, geb. Gräfin Fleming, General[starost]in Podoliens)75 folgt ein dreistrophiges Gedicht ohne Titel, das die Fürstin als Schöpferin der von ihrer Tugend und Anmut geprägten Residenz Puławy anspricht: Szczęśliwa tam ochota, Gdzie smak wiedzie do sławy. Szkołą nam twoia cnota, Parnasem są Puławy. Wieńce zebrałem chwały Na twoie wdzięków łące: Co z Muzami spletały Gracye ci służące. Pani! Kto w miłe lato Z ciepłem dostarzcał rosy; Kraft, Die Polin als Staatsbürgerin: Reformdebatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 2009, S. 20–31. 73  Aleksandrowicz, »Puławy«, 499. 74  Waniczkówna, »Czartoryski, Adam Kazimierz«, 251. 75  Kniaźnin, Poezje, Bd. 2, [3].



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Ziarno mu wdzięczne za to Pełne nachyla kłosy.76

Wenn die erste Strophe Glück und Vergnügen an die Voraussetzung des guten Geschmacks bindet und diese Verbindung als Beitrag zum Ruhm bewertet, die führende Rolle der Fürstin auf dem Weg zur Tugend hervorhebt und die Residenz als Parnass bezeichnet, dann beschreibt sie die Bedeutung des Ortes als bedeutendes kulturelles Zentrum Polens. Das der Fürstin vom Sänger dargebrachte Lob ist von den Musen gesammelt und geformt worden, es erscheint damit als kollektives und göttlich inspiriertes zugleich. Die dritte Strophe umschreibt wiederum die Dankbarkeit des Sängers gegenüber seiner Dienstherrin mit dem Naturbild des im Sommer vom Tau erquickten Korns, das seine Ähren als Zeichen der Dankbarkeit sich neigen lässt. Die Gedichte an die Fürstin zeigen Elemente der Rokokopoetik in Verbindung mit sentimentalen Konzepten und patriotischem Pathos. Damit verarbeiten sie Aspekte ihrer wechselnden Selbstinszenierung: dies ist zuerst die dem Rokoko geschuldete hohe Wertschätzung von Leichtigkeit, Liebenswürdigkeit, Grazie, Anmut und Witz, die Vorliebe für kleine intime Gesellschaften und Parklandschaften; dann kommen die sentimentalen Elemente der hohen Wertschätzung von Tugend, Aufrichtigkeit, Familie und Mutterschaft dazu, aus der schließlich auch ihre Hinwendung zu einer heroischen Auffassung der Mutterschaft und der eigenen Rolle als patriotischer Staatsbürgerin Polens erwächst. Als der erste Band der Werkausgabe Kniaźnins 1787 erschien, ist dieses Bild der Fürstin bereits ausgeprägt; in den folgenden Jahren wird es sich stärker ausformen, aber im Prinzip nicht mehr ändern. 4. Gedichte auf die Kinder des Fürstenpaares Die Kinder des Fürstenpaares wurden von privaten, z. T. wechselnden Hauslehrern, Erziehern und Gouvernanten erzogen, zu denen als langjährige Begleiter der Kinder und als ihr Lehrer in Deutsch und Latein auch Kniaźnin gehörte. Alle Kinder, die 1784 mit 19 Jahren verheiratete Maria, der damals 14jährige älteste Sohn Adam Jerzy (1770–1861),77 der zehnjährige Konstanty und die kleine Zofia, sind in den Oden ebenfalls mit Gedichten bedacht, wenn auch in unterschiedlichem Maße: An Adam Jerzy richten sich sechs 76  Kniaźnin, Poezje, Bd. 2, [3–4]: »Glücklich dort das Vergnügen / Wo Geschmack zu Ruhm führt. / Eine Schule [ist] uns deine Tugend, / Ein Parnass ist Puławy.  /  / Ich habe Ruhmeskränze gesammelt / Auf der Wiese deiner Reize: / Was die dir dienenden Grazien / Mit den Musen geflochten haben.  /  / Herrin! Wer im lieben Sommer / bei Wärme Tautropfen brachte, / Dem neigte das dankbare Korn /  dafür die vollen Ähren.« 77  Marceli Handelsman, »Czartoryski, Adam Jerzy«, Polski słownik biograficzny, Kraków 1938, t.  4, 257–269.

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Gedichte78, an den jüngeren Konstanty anderthalb – eins teilt er sich mit der jüngsten Tochter Zofia;79 ein an die älteste Tochter Maria anlässlich ihrer Hochzeit verfasstes Lied ist ebenfalls aufgenommen.80 Den Kindern sind damit insgesamt mehr Texte gewidmet als den Eltern, im Unterschied zu diesen werden die Kinder direkt mit ihrem Vornamen angeredet. Die den Eltern gegenüber gewahrte Distanzierung ist bei ihnen aufgegeben, Kniaźnin spricht aus der Position des Lehrers und Erziehers. Sie sind vor allem didaktisch und z. T. unterhaltsam ausgerichtet. Das Hochzeitslied für die nicht mehr in Puławy lebende Maria ist ein Reigenlied der Brautjungfern, das ihre Klage über den Verlust der Gefährtin entfaltet. Es verweist damit auf eine durch ihre Heirat in der Familie des Hofes entstandene Lücke. Die sechs Gedichte an den zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ersten Bands der Werkausgabe siebzehnjährigen Adam Jerzy sind pädagogisch-moralisch ausgerichtet. Als Beispiel für ihre Argumentation soll hier die Ode IX mit der Überschrift Herkules młody (Der junge Herkules) des ersten Buchs der Ody angeführt worden, die eine Episode aus dem Leben des Herkules erzählt.81 Die Entscheidung, die ihm abverlangt wird, wird hier als seine erste Heldentat präsentiert, die als eine moralische entfaltet wird: Der Sänger führt dem jungen Herkules zwei Frauen entgegen, die ihn vor die Wahl zwischen zwei Lebenswegen stellen. Die eine wird als verführerische Kokotte gezeichnet, die ihm ein leichtes Leben voll Schönheit, Luxus und Genuss ohne jede Anstrengung verspricht, die zweite als ernste, bescheiden gekleidete Dame, die ihn auf den engen Pfad der Tugend und des Dienstes am Vaterland führen will. Die zweite argumentiert mit dem Beispiel seiner berühmten Vorfahren, die diesen Weg gegangen seien; indem er ihnen nachfolge, erweise er ihnen und sich selbst die schuldige Ehre: Uważ krew drogą, którą cię zaszczyca; Z iakiego oyca, z iakiej iesteś matki! Jaki cię wychów przed światem zalica.      Są to dzieł przyszłych zadatki.82 (I, 26) 78  Das sind: Buch 1, Oda IX; Buch 2, Oda XXVII; Buch 3, Oda IV, XXI; Buch 4, Oda III, XXII. 79  Das sind: Buch II, Oda II; Buch IV, Oda XI. 80  Buch IV, Oda V. Maria Czartoryska ist auch das ebenfalls aus Anlass ihrer Hochzeit für sie geschriebene umfangreiche lyrische Poem Rozmaryn (Rosmarin) gewidmet (Kniaźnin, Poezje, Bd. 3, Warszawa 1788, 1–60). 81  Oda IX. Herkules młody. Do Adama Czartoryskiego Generałowicza Podolskiego (Der junge Herkules. An Adam Czartoryski, Sohn des General[starost] Podo­ liens); Kniaźnin, Poezje, Bd. 1, 23–27. 82  »Achte das teure Blut, das dich auszeichnet; / Von welchem Vater, von welcher Mutter du bist! / Welche Zucht dich der Welt empfiehlt. / Das sind die Anlagen künftiger Taten.«



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Die ihm mitgegebenen Anlagen und seine Erziehung sind nur Voraussetzungen für eigene Größe und Ruhm, die er selbst aus eigener Kraft wird erlangen müssen. Die letzte Strophe beschreibt die Entscheidung des von den Worten der Tugend entflammten Herkules, der ihr ohne weitere Überlegung folgt, und »tam zaszedł przez szlachetne dzieła, / Gdzie wiecznej dostał korony« (durch edle Taten dahin gelangte / Wo er die ewige Krone errang; I, 27). Den bekannten Heldentaten des Herkules wird damit die grundsätzliche Entscheidung für den Weg der Tugend und patriotischen Arbeit als erste vorangestellt. Eine direkte Empfehlung an den Schüler wird nicht ausgesprochen, das Gedicht beschränkt sich auf die Präsentation der mythischen Vorbildfigur. Das für die kleinen Kinder Konstanty, Zofia und ein zweites, am Hofe erzogenen Mädchen geschriebene Gedicht stellt ein spontan aus einer Kränkung entstandenes Versteckspiel der beiden Mädchen vor dem Jungen dar, das bald beim gemeinsamen Essen von Erdbeeren und Kirschen in Eintracht endet. Es bildet damit nicht nur eine Episode der Kinderspiele ab, sondern demonstriert auch die große Bedeutung der Eintracht. III. Zusammenfassung und Ausblick Die an die Fürsten Czartoryski gerichteten Panegyrica geben insgesamt ein differenziertes Bild der einzelnen Mitglieder der Familie Czartoryski als Muster tugendhafter und patriotischer, dabei anmutiger und liebenswürdiger Aristokraten. Der Fürst Adam Kazimierz wird mit bestimmten Bereichen seiner Tätigkeit als allgemein anerkannter Richter des Adels, als für seine Leute sorgende und von ihnen geliebter Grundherr und als unter der Teilung leidender Pole vorgestellt. Die Fürstin Izabela erscheint in der Rolle der Rokokodame einmal als Muster von Grazie und Anmut, aufgrund dessen sie als Richterin über die Künste fungieren kann, und zweitens als Gartenarchitektin, die Kunstwerke der gestalteten Natur und Orte der Erholung zugleich erschafft. Drittens wird sie als vorbildliche, ihre Kinder für den einträchtig handelnden Dienst am Vaterland erziehende patriotische Mutter und Staatsbürgerin gezeigt, als Beispiel für ihre Standesgenossinnen. Kniaźnin gestaltet damit in Ody weitgehend die Selbstentwürfe des Fürsten und der Fürstin, die er als seine übernimmt und ausgestaltet. Diese Entwürfe stehen in Übereinstimmung mit historisch nachweisbaren Aktivitäten des Fürstenpaares und erheben damit Anspruch auf Wahrhaftigkeit. In allen Fällen überträgt der Sänger das direkte Lob anderen, der Muse oder einer Menschenmenge, während er sich selbst als distanzierter Beobachter aus einer erhöhten Position situiert bzw. sich in seiner emotionaler Reaktion auf das von anderen gezollte Lob darstellt. Die Panegyrik Kniaźnins ist eine zurückgenommene, die mit dem Gestus des Zeigens und Vorführens arbeitet, die

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seine Übereinstimmung mit diesem Lob vor allem als Danksagung für Patron und Patronin formuliert. Seine Exempel und Bilder, seine Metaphern sind der Naturbetrachtung, der Emblematik und der antiken Mythologie entnommen, deren tradierte Topik im Geiste des Sentimentalismus aktualisiert wird. Konkrete Bezüge zu den gepriesenen Personen und Anlässen stellt er mit Fußnoten zu seinen Gedichten her. Die Texte sichern damit nicht nur die eindeutige Identifizierung der dargestellten Personen durch den Leser, sie inkorporieren zugleich Verfahren wissenschaftlicher Beglaubigung des Geschriebenen und verleihen den Texten die Aura des Authentischen und der Wahrhaftigkeit. Mit diesen Gedichten entwickelt Kniaźnin die Panegyrik im Sinne der polnischen Kultur der Aufklärung weiter als eine, die Wahrhaftigkeit anstrebt und als freie Gabe eines freien Mannes den Patronen, Mäzenen und Freunden dargebracht wird. Dabei prägt er mit seiner Darstellung der Fürstin insbesondere das Bild der matka-obywatelka, der Mutter, die zugleich und in gleichem Maße als Staatsbürgerin agiert und ihre Kinder in diesem Geiste erzieht. Dieses Bild wird in der Literatur und Kultur des 19. Jahrhunderts ausgebaut zum Mythos der matka polka, der Mutter Polin, der eine zentrale Rolle bei der Bewahrung polnischer nationaler Identität zugeschrieben wird. Die zum Lobe der Familie Czartoryski geschriebenen Texte werden in Oden oder vier Büchern Lyrik flankiert von anderen, die die Themen der Grazie, Liebenswürdigkeit, des einträchtig der Bildung, Kunst und der patriotischen Arbeit gewidmeten Hof- und Familienlebens aufnehmen und weiterentwickeln. Die Präsentation der Familie Czartoryski wird innerhalb der Oden gestützt durch Sendschreiben des Dichters an Freunde, Dichterkollegen und andere Hofangehörige, in denen der lyrische Sprecher dieselben und ähnliche moralische, politische und poetologische Fragen in einem vertrauten Dialog zwischen Gleichen erörtert. Diese Gedichte nehmen den patriotischen Diskurs ebenso auf wie die Psalmenparaphrasen und religiösen Hymnen. Wenn man schließlich die Oden im Gesamtkontext der dreibändigen Werkausgabe betrachtet, dann wird deren Ausrichtung auf die Präsentation der Fürsten Czartoryski als einer vorbildlich für das Wohl des Vaterlands lebenden und seine Kinder in diesem Geist erziehenden Familie noch deutlicher. Sie zeigt, dass die zum Umkreis der Familie gehörenden, an ihrem Hof lebenden Verwandten, Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler den moralisch-patriotischen Diskurs der Familie genauso mittragen wie ein großer Teil des polnischen hohen Adels. Und sie präsentiert den Selbstentwurf des Dichters als Teil der Familie des Fürstenhofes und als unabhängiger, selbständiger Autor zugleich.

Neulateinische Panegyrik für Habsburger Herrscher von Rudolf I. bis Franz Josef Von Franz Römer Panegyrik für Herrscher und andere hochrangige Persönlichkeiten wird in lateinischer Sprache zum ersten Mal in den Reden Ciceros in vollem Umfang greifbar. In De imperio Cn. Pompei (66 v. Chr.) preist er die Fähigkeiten des aufstrebenden Politikers in einer Weise, die zum Teil schon einem Fürstenspiegel nahekommt, und in der Dankesrede Pro Marcello (46 v. Chr.) rühmt er die Milde und Weisheit des Diktators Caesar. Mit dem Übergang von der Republik zur Monarchie tritt Panegyrik in den verschiedensten Formen und literarischen Genera auf. Vergils Aeneis wird seit der Antike häufig als Augustus-Panegyrik verstanden, was für die moderne Forschung ebenso einen wichtigen Ansatzpunkt darstellt wie der panegyrische Gehalt von Ovids Spätwerk. Direkt als Panegyrici präsentieren sich zwei Lobgedichte auf Messalla Corvinus, den großen Redner und engen Vertrauten des Augustus (Corpus Tibullianum 3,7: vor 27 v. Chr.; Ps.-Vergil, Catalepton 9). Dessen Stiefsohn Drusus, der in Germanien ums Leben gekommen war, wird in einem Trostgedicht an seine Mutter, der Consolatio ad Liviam, verherrlicht. Unter dem tyrannischen Kaiser Domitian loben die Dichter Martial und Statius nicht nur ihn selbst, sondern auch die Größen seines Hofes, und in der Spätantike überragt Claudians panegyrische Epik (um 400 n. Chr.) eine Reihe von Konkurrenten. Im 4. Jhdt. n. Chr. entsteht die Sammlung der XII Panegyrici Latini, elf Lobreden auf zeitgenössische Kaiser, denen als nun schon »klassisches« Musterbeispiel der Panegyricus des Jüngeren Plinius vorangestellt ist, in dem der – als Epistolograph wohl besser bekannte – Redner anlässlich seines Konsulats im Jahr 100 n. Chr. nicht nur für die Verleihung des Amtes dankt, sondern auch das Regierungsprogramm Trajans zum Gegenstand intensiver Propaganda macht. I. Eine Gratulationsrede aus dem Jahr 1486 Die Panegyrici Latini waren dem Mittelalter unbekannt, und als sie 1433 von Johannes Aurispa in Mainz wiederentdeckt wurden, galt das Interesse an dem Neufund in erster Linie der plinianischen Musterrede, die dann auch

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Spuren in der neulateinischen Panegyrik hinterließ. Neben punktuellen Zitaten oder Detailimitationen ist hier vor allem eine Gratulationsrede des vielseitigen Humanisten Ermolao Barbaro (1453–1493) zu erwähnen, die dieser im Auftrag der Signoria von Venedig anlässlich der Wahl Maximilians I. zum Römischen König 1486 in Brügge hielt, und zwar vor Friedrich III. und Maximilian selbst.1 Neben gelegentlichen Zitaten und Anklängen an den plinianischen Panegyricus lässt Barbaro bald durchblicken, dass er Parallelen zwischen der aktuellen Sicherung der Nachfolge und der Adop­ tion Trajans durch den greisen Senatskaiser Nerva erkennt. Der erste Teil der Rede gilt dem Lob Friedrichs, der sich angeblich nur schwer überwinden konnte, den eigenen Sohn zum Nachfolger zu designieren – aber dessen Vorzüge erlaubten einfach keine andere Wahl. Damit ist ein leichter Übergang zum zweiten Teil der Rede gefunden, zum Lob Maximilians, das – wie Barbaro analog zu Plinius (paneg. 2,3) versichert – keineswegs auf Schmeichelei beruht, denn Maximilians Leistungen werden sogar von seinen Feinden anerkannt – analog zu denen Trajans (paneg. 12). Im dritten Teil der Rede vereinigen sich die bisherigen Schwerpunkte »Friedrich« und »Maximilian« unter dem Gesichtspunkt der Wahl des letzteren zum Römischen König. Haec ingentia tua merita, propter quae Federicus, pater innocentissimus et gravissimus imperator, adduci persuaderique potuit uti te regem Romanum se vivo renuntiari pateretur. […] Quanto nunc, dive Federice, gaudio perfunderis, quod filius tuus, te incolumi, placere potest imperator! quam iucundum tibi, quod te comparari filio tuo sentis! et quoniam controversa res videtur, modo vincis, modo vinceris. Caeterum quid providentia tua dignius, amplitudini gloriosius, clementiae, pietati, foelicitati convenientius facere potuisses, quam uti quem ex utilitate publica fuit ut genuisses, eidem quoque per patrem et decus et nomen imperatoris accresceret? Macte ingenti utroque in rem publicam merito, etiam si difficile percipitur, ut inquit ille, pulchrius et honestius fuerit genuisse talem an cooptasse.2 1  Oratio Hermolai Barbari, Zachariae filii, legati Veneti, ad Federicum Imperatorem et Maximilianum Regem Romanorum, principes invictissimos, Venedig 1486 (Hain 2418, GKW 3344); Ermolao Barbaro, Epistolae, orationes et carmina, edi­ zione critica a cura di V. Branca (Nuova collezione di testi umanisti inediti o rari 5  & 6), 2 Bde., Firenze 1943, II 110–120. Franz Römer, »Kenntnis und Imitation des plinianischen Panegyricus bei italienischen Humanisten«, Grazer Beiträge, 16 (1989), 271–289 (3. Teil: Zur Wahl Maximilians). 2  »Das sind deine [Maximilian] großartigen Verdienste, um derentwegen Friedrich, ein selbstloser Vater und bedeutender Kaiser, dazu veranlasst und überredet werden konnte, zuzulassen, dass du noch zu seinen Lebzeiten zum Römischen König ernannt wurdest. […] Von welcher Freude, göttlicher Friedrich, bist du nun erfüllt, dass dein Sohn, während du noch bei vollen Kräften bist, als Kaiser akzeptiert wird! Wie erfreulich ist es für dich, zu merken, dass du mit deinem Sohn verglichen wirst! Und da die Sache strittig erscheint, bist du bald Sieger, bald wirst du besiegt. Was hättest du im übrigen deiner Fürsorge Würdigeres, für deine Größe Ruhmvol-



Neulateinische Panegyrik für Habsburger Herrscher

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Die im lateinischen Text kursiv gesetzten Stellen sind Plinius-Reminiszenzen, im Wesentlichen aus dem 89. Kapitel des Panegyricus, wo die Freude hervorgehoben wird, die sowohl Trajans Adoptivvater Nerva als auch dessen leiblicher Vater über seine großartige Bewährung empfinden müssen. Entsprechend dem Beginn von Kapitel 89 »quanto nunc, dive Nerva, gaudio frueris« wird bei Barbaro auch Friedrich zum »divus«, zu einer gottähnlichen Größe. Freilich musste der Redner das Verhältnis Nerva-Trajan auf Friedrich-Maximilian aktualisieren. Der Nachfolger darf nicht so klar dominieren wie bei Plinius (»optimus ipse non timuisti eligere meliorem«), vielmehr sind beide gleichwertig (»modo vincis, modo vinceris«). Weiters erübrigt sich die Frage, ob der Adoption, die jetzt zu einer Kooptation werden muss, oder der Rolle als leiblicher Vater mehr Bedeutung zuzumessen ist.3 Sie stellt sich für Friedrich überhaupt nicht, denn er vereint beides in seiner Person. Er ist sozusagen ein Nerva und ein Trajanus pater in einem, während Maximilian die Rolle eines neuen Trajan zufällt, also des römischen Kaisers, unter dem das imperium Romanum seine größte Ausdehnung erreicht hatte. Barbaro ist es gelungen, die plinianische Darstellung des Nachfolgeproblems für die speziellen Anforderungen seines Anlasses zu adaptieren und damit eine signifikante Parallele zwischen der gegenwärtigen und der antiken Situation zur Geltung zu bringen. Wenigstens implizit bestätigt er damit auch einen Anspruch, der wie ein roter Faden durch alle ideologischen und propagandistischen Konzepte des Hauses Habsburg läuft und daher auch in der Panegyrik häufig wiederkehrt: den Anspruch, als legitime Nachfolger der römischen Kaiser über ein neues imperium Romanum zu herrschen. II. Ein Wiener Forschungsprojekt Barbaro hat viele Nachfolger gefunden, z. B. Erasmus mit seinem Panegyricus auf Philipp den Schönen von 1504, doch soll diese Linie hier nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr wollen wir uns den Ansätzen und bisherigen Ergebnissen eines Projekts zuwenden, das seit etwa zwanzig leres, für deine Milde, Frömmigkeit und dein Glück Passenderes tun können, als dass dem, den du zum öffentlichen Wohl gezeugt hast, dass eben dem durch seinen Vater die Zier und der Name des Kaisers zuteil wird. Heil euch beiden für eure großartigen Verdienste um den Staat, auch wenn es schwer zu erkennen ist, wie jener [Plinius] sagt, ob es schöner und ehrenvoller war, einen solchen Mann gezeugt oder ihn an die eigene Seite gestellt zu haben.« [Übersetzungen – FR]. 3  Plinius hatte 89,2 auch den leiblichen Vater Trajans angesprochen: »Sed et tu, pater Traiane, […] quantam percipis voluptatem, cum illum […] tantum principem cernis, cumque eo, qui adoptavit, amicissime contendis, pulchrius fuerit genuisse talem an elegisse.«

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Jahren in Wien läuft und der poetischen Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache gilt.4 Gerade dieser Bereich war lange Zeit stark vernachlässigt worden, sodass einerseits in der Sekundärliteratur sowohl auf historischer als auch auf literaturwissenschaftlicher Seite noch erhebliche Lücken bestehen, anderseits ist die Suche nach relevanten Primärtexten schon dadurch erschwert, dass Bibliothekskataloge und Literaturgeschichten nur wenig Hilfe bieten. Letztere gehen im allgemeinen chronologisch vor und schlüsseln weitere Gesichtspunkte durch Indices auf. Panegyrik fällt dabei fast immer durch den Rost, denn sachlich wird sie oft als marginal empfunden, und rein formal handelt es sich nicht einmal um eine einheitliche Gattung: Vielmehr sind allein schon ihre poetischen Ausprägungen unter Epigrammen, Emblemen, Oden, Elegien, Eklogen, Epyllien und Großepen zu finden. In der ersten Phase des Projekts, als es bei weitem noch nicht die Menge an digitalen Hilfsmitteln gab, die der Forschung heute zur Verfügung stehen, konnte man an neue Texte nur durch eine genaue Durchsicht von Bibliotheksverzeichnissen in voller Länge herankommen, da sich die Schlagwortkataloge als äußerst lückenhaft erwiesen. Dennoch ist sehr schnell erkennbar geworden, welch umfangreiche Textbestände an lateinischer Habsburg-Panegyrik vor allem die Österreichische Nationalbibliothek, als die ehemalige Hofbibliothek, besitzt. An Ort und Stelle findet man in einzelnen Kategorien bis zum Zehnfachen des über Kataloge und Sekundärliteratur Erreichbaren, wie z. B. für die Epithalamien nachgewiesen werden konnte. Selbstverständlich sind Recherchen dieser Art an personelle und finanzielle Voraussetzungen gebunden, sodass im vorliegenden Fall zunächst die Bestände der Wiener und einiger großer monastischer Bibliotheken aufgearbeitet wurden. Zur Zeit aber liegt der Schwerpunkt bei der Hauptaufgabe des Projekts, der philologisch-literaturwissenschaftlichen Analyse der gefundenen Texte, zu der bereits eine Reihe von Publikationen, Diplomarbeiten und Dissertationen vorliegt und weitere vor der Veröffentlichung stehen. Deren gemeinsames Ziel ist es, auf der Grundlage einer genauen Untersuchung der klassischen Vorbilder die panegyrische Funktion von Zitaten und Imitationen aufzuzeigen. Es wird nämlich – im Gegensatz zu der eben referierten Skepsis – immer deutlicher, dass es auch im Bereich der poetischen Habsburg-Panegyrik durchaus Werke von hoher künstlerischer Qualität gibt. So zeichnet sich in der neueren Forschung 4  Projektvorstellungen: Franz Römer / Elisabeth Klecker, »Poetische HabsburgPanegyrik in lateinischer Sprache. Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek als Grundlage eines Forschungsprojekts«, Biblos, 43 (1994), 183–198; Elisabeth Klecker, » ›Nachleben antiker Mythologie in der Renaissance‹ und ›Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache.‹ Zwei Wiener Forschungsprojekte zur schöpferischen Antike-Rezeption in der frühen Neuzeit«, Wolfenbütteler RenaissanceMitteilungen, 21 (1997), 142–145; Elisabeth Klecker, »Neulateinische HabsburgPanegyrik in Drucken der Jesuitenuniversität Tyrnau«, Kniha 2001 / 2002, 95–109.



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generell ein gesteigertes Interesse und eine Neubewertung der Panegyrik ab, was neben der Klassischen Philologie in besonderem Maße für die Neolatinistik gilt.5 – Die folgenden Beispiele sind ausschließlich aus den Ergebnissen des Wiener Projekts gewählt. III. Epische Panegyrik für Maximilian I. Die Austrias des Riccardo Bartolini von 1516 zählt zu den wenigen panegyrischen Texten, die in der Wissenschaft schon relativ früh Aufmerksamkeit gefunden haben.6 Hier soll daher nur eine Stelle näher betrachtet werden, die methodisch von besonderem Interesse ist, da sie einen Extremfall panegyrischer Überhöhung auf der Basis kombinierter Antike-Reminiszenzen darstellt. Das Thema der Austrias ist der Bayerisch-Pfälzische Erbfolgekrieg von 1504 / 05, dessen Verlauf der Dichter jedoch sehr frei gestaltet und in antiker Tradition mit einer Götterhandlung begleitet, als deren Höhepunkt Juppiter am Ende des zwölf Bücher umfassenden Epos Maximilian und seine Nachfolger zur Weltherrschaft berufen wird. Wie ein Großteil der humanistischen Epik, so ist auch die Austrias in vieler Hinsicht vom Vorbild Vergils geprägt. So erscheint Maximilian als ein neuer Aeneas, nur dass seine pietas die des antiken Helden noch weit in den Schatten stellt. Darüber hinaus macht sich Bartolini die zu seiner Zeit relativ neue Kenntnis Homers zunutze, um den Kampf Maximilians gegen die pfälzischen Widersacher mit dem Kampf der Griechen gegen die Trojaner zu parallelisieren, für den es schon in der Antike eine Deutung als Kampf der Zivilisation gegen das Barbarentum gab. Dass der kultivierte Maximilian die Seite der Zivilisation vertritt, versteht sich von selbst. Aber auch im Kampf zeigt er seine unüberbietbare Größe: Als das kaiserliche Heer an die Donau gelangt, stößt es auf den erbitterten Widerstand des Flussgottes. Der Hister ruft sechzig Zuflüsse zu Hilfe, und die vereinten Wassermassen bringen Maximilian und die Seinen in äußerste Not. Die Szene erinnert an den Seesturm im ersten Buch der Aeneis, denn wie Aeneas richtet auch Maximilian ein Gebet zum Himmel (4,420–436): 5  Exemplarisch sei genannt: Hermann Wiegand, »Das Bild Kaiser Karls V. in der neulateinischen Dichtung Deutschlands«, Rhoda Schnur (Hg.), Acta Conventus NeoLatini Bonnensis. Proceedings of the Twelfth International Congress of Neo-Latin Studies, Bonn, 3–9 August, 2003 (Medieval and Renaissance texts and studies 315), Tempe, Ariz. 2006, 121–143. 6  Ad divum Maximilianum Caesarem Augustum Ricardi Bartholini De bello Norico Austriados libri XII, Straßburg 1516. Elisabeth Klecker, »Kaiser Maximilians Homer«, SFAIROS. Festschrift Hans Schwabl, Wiener Studien, 107 / 108 (1994 / 95), 613–637; Elisabeth Klecker, »Impius Aeneas – pius Maximilianus«, Wiener humanistische Blätter, 37 (1995), 50–65.

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Tunc rex extollens duplices ad sidera palmas 420 Aen. 1,93 »Iuppiter omnipotens, reges cui cura tuendi, si mortem oppetere atque anima divellere corpus nos«, ait, »ordiris, melius precor astrue fatum! O ter felices, quibus est occumbere bello concessum superis supremaque funera passi 425 arma inter potuere mori!« Sic talia fantem cf. Aen. 1,102 obruit undarum globus et densata volumen ingens aequora agunt. Tunc Iuppiter aethere summo despiciens Irim propere Thaumantida misit haec addens: »Istro qui iam tenet omnia fluctu 430 dic, coeat ripis proprioque nec exeat alveo. Qui nisi paruerit, sumptis delabere pennis Trinacrium ad littus aulaque arcesse Sicana Vulcanum, ut flammis audacem torreat Istrum.« Dixerat. Illa volans iuxta caput astitit amnis 435 atque Iovis mandata refert flammasque minatur.7

Die Szene, die »vergilisch« begonnen hat, findet eine »homerische« Fortsetzung im Sinn des Flusskampfes (Ilias 21,211–384), wo der Skamander zusammen mit dem zu Hilfe gerufenen Simois Achill zur Verzweiflung treibt, bis dieser in einem Gebet an Zeus um Rettung fleht. Nur das Eingreifen des von Hera gesandten Feuergottes kann den Skamander schließlich zur Aufgabe zwingen. – Die Parallelen sind evident, es fallen aber auch Unterschiede auf: Maximilians Gebet zeigt weniger Demut als Achill oder gar Aeneas, ja es klingt geradezu fordernd (»cui cura tuendi«), und schon zuvor ist er vor dem Flussgott nicht geflohen, sondern ihm vielmehr mit dem Schwert entgegengetreten. Durch diese kunstvolle Kombination einer Vergil- und einer Homer-Imitation hat Bartolini einen Maximilian geschaffen, der nicht nur die Vorzüge von Aeneas und Achill in sich vereint, sondern beide zusammen noch weit übertrifft: panegyrische Überbietung auf höchstem Niveau! 7  »Da erhebt der König seine beiden Hände zu den Sternen und spricht: ›Allmächtiger Juppiter, dessen Sorge dem Schutz von Königen gilt, wenn es dein Beginnen ist, dass ich den Tod erleide und den Leib von der Seele trenne, dann bitte ich dich, bestimme mir ein besseres Ende! Dreimal glücklich, denen es gewährt ist, im Kampf den Göttern zu unterliegen, und die, ans Ende ihres Lebens gekommen, zwischen Waffen sterben können!‹ Als er solches sprach, überschüttete ihn ein Schwall von Wogen, und Massen von Wasser wälzten sich mächtig heran. Da blickte Juppiter vom hohen Himmel herab, sandte eilig Iris, die Tochter des Thaumas, und trug ihr auf: ›Dem Ister, der mit seinen Fluten schon alles erfüllt, sage, er solle sich in seine Ufer zurückziehen und sein eigenes Bett nicht verlassen. Wenn er nicht gehorcht, gleite auf schnellen Flügeln an die trinakrische Küste [nach Sizilien] und hole Vulkan aus seiner sikanischen Höhle, dass er den frechen Ister mit seinen Flammen versenge.‹ So hatte er gesprochen. Da tritt jene im Flug zum Haupt des Flusses, überbringt den Auftrag Juppiters und droht mit Flammen.«



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IV. Zum Tod Philipps des Schönen (1506) 1. Bartolini fand auch einen Anlass, um Maximilians Sohns, Philipps des Schönen, zu gedenken, der im Jänner 1506 eine gefährliche Seefahrt gewagt hatte, um die Regierung in Kastilien antreten zu können. Dabei geriet er in einen furchtbaren Seesturm, konnte sich gerade noch an die englische Küste retten und erreichte erst Monate später das spanische Festland, wo er zwar als König von Kastilien anerkannt wurde, aber im September desselben Jahres völlig unerwartet starb. Sein früher Tod führte zu einer rückblickenden Idealisierung, die in Texten verschiedenster Art zum Ausdruck kam. Speziell das (angeblich) heroische Verhalten Philipps im Seesturm gab Anlass zu panegyrischer Verherrlichung, wie man sie schon in dem Augenzeugenbericht seines Leibarztes Luigi Marliano findet. Der erst 1514 edierte Text hat die Form eines Briefes, in dem Marliano einem besorgten Freund über seine Rettung aus der beinahe schon hoffnungslosen Lage berichtet, dabei aber keineswegs darauf vergisst, seine literarische Bildung zur Geltung zu bringen. So vergleicht er nicht nur Philipps Verhalten mit dem des Aeneas im vergilischen Seesturm, sondern sieht auch im selbstlosen Verhalten seiner Gattin Johanna ein Ebenbild berühmter antiker Frauen wie Arria (Plinius, epist. 3,16), die ihre Gatten in den Tod begleiteten. Im Grunde übertrifft Johanna sogar ihre antiken Vorbilder, da sie bereit ist, durch ihren Tod das Leben Philipps zu erkaufen. (Die Möglichkeit eines Vergleichs mit Alkestis hat Marliano allerdings übersehen.) Nun aber zu Bartolini: Im neunten Buch der Austrias führt er den politischen und kulturellen Aufschwung, den Deutschland in neuerer Zeit genommen hat, auf das Wirken Maximilians zurück und äußert den Wunsch nach einer langen Regierung des habsburgischen Kaiserhauses. Dies führt seine Gedanken freilich auch auf Philipp den Schönen, dem er einen längeren Exkurs widmet. Dessen erster Teil bewegt sich weitgehend im Bereich der konventionellen Panegyrik, der zweite beschreibt die gefährliche Seereise nach Spanien. Im Mittelpunkt dieser Szene steht jedoch nicht das heldenmütig-selbstlose Verhalten des jungen Herrscherpaares, wie wir es aus Marliano kennen. Vielmehr entwickelt Bartolini ein überraschendes Aition des furchtbaren Sturms: Neptun, der als Herr der Meere auch zur Bändigung von deren Gewalten verpflichtet ist, will die Last seiner Herrschaft nicht länger alleine tragen, zumal auch seine Brüder, Juppiter und Pluto, nicht ohne Unterstützung auskommen müssen, was Neptun schon lange ein Dorn im Auge ist. Kurz entschlossen erregt er, der im vergilischen Vorbild (Aeneis 1,34–156) die Wogen glättet, hier selbst einen Seesturm, um Philipp gewaltsam zu seinem Mitregenten zu machen, auch wenn dafür die ganze Flotte versinken muss. Erst im letzten Augenblick kann Juppiter mit Hilfe Merkurs die sinistren Absichten seines Bruders vereiteln. Die kaum übersehbaren komisch-parodistischen Züge die-

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ser Passage sind in der Komplexität von Bartolinis Vergil-Rezeption begründet, die man auch an anderen seiner Werke beobachtet hat. (So bricht im Odeporicon ein »Seesturm« auf der Donau aus.) Jedenfalls kann eine Szene, in der Philipp einerseits von einer göttlichen Macht zur Teilnahme an der Herrschaft ausersehen und anderseits vom höchsten aller Götter beschützt wird, der panegyrischen Intention des Epos keinen Abbruch tun.8 2. Der plötzliche Tod Philipps fand, wie zu erwarten, auch einen Widerhall in Trauergedichten. So veröffentlichte ein gelehrter, eher auf Routine setzender Dichter namens Remaclus Arduenna (Remacle d’Ardenne, ca. 1480–1524) im Jahr 1507 eine Elegia deploratoria, die weitgehend von den kriegerischen Ereignissen aus Philipps letzten Lebensjahren geprägt ist.9 Remaclus vergisst aber auch nicht, mit Hilfe eines passenden Vergil-Zitats (Aeneis 6,884: »purpureos spargam flores …«) einen Vergleich mit Marcellus, dem früh verstorbenen »Kronprinzen« des Augustus, zu ziehen. Außerdem leitet er das Gedicht mit einem Anklang an die fünfte Ekloge ein, die schon von dem antiken Vergil-Kommentator Servius als eine Allegorie auf den Tod Caesars verstanden wurde, womit Remaclus wohl andeuten will, dass dem Tod Philipps eine ähnliche weltgeschichtliche Bedeutung zukommt. 3. Eine weitere Elegie zu demselben Ereignis findet man an einem Ort, wo man derartiges wohl am wenigsten erwarten würde. Sie ist nur am Rande unter Habsburg-Panegyrik subsumierbar, soll aber hier nicht übergangen werden, weil sie den weiten Bereich illustriert, in dem man mit unserem Thema verwandte Texte finden kann. Es handelt sich um die Matrikel der Rheinischen Nation an der Universität Wien, die für die Jahre 1415–1582 erhalten und somit die ältesten ihrer Art sind.10 Neben den laufenden Eintragungen zu Perso8  Franz Römer, »Philipps des Schönen letzte Reise«, Eva Frimmová / Elisabeth Klecker (Hgg.), Itineraria Posoniensia. Zborník z medzinárodnej konferencie Čestopisy v novoveku, ktorá sa konala v dnoch 3.–5. novembra 2003 v Bratislave. Akten der Tagung Reisebeschreibungen in der Neuzeit, Bratislava, 3.–5.  November 2003, Bratislava 2005, 93–102; Elisabeth Klecker, »Mit Vergil im Seesturm – Parodie und Panegyrik bei Riccardo Bartolini«, Reinhold F. Glei / Robert Seidel (Hgg.), ›Parodia‹ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit (Frühe Neuzeit 120), Tübingen 2006, 321–344. 9  Franz Römer, »Lateinische Panegyrik für Philipp den Schönen«, Stefan Gasch / Birgit Lodes (Hgg.), Tod in Musik und Kultur. Zum 500. Todestag Philipp des Schönen (Wiener Forum für ältere Musikgeschichte 2), Tutzing 2007, 23–37.



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nalia und Finanzen finden sich immer wieder Berichte mit Bezug auf die Habsburger und auf die Reichspolitik, ohne dass ein klares Auswahlkriterium erkennbar wäre. Sie liefern auch keine neuen historischen Erkenntnisse, aber doch interessante Aufschlüsse über die Wahrnehmung und Wertung politischer Ereignisse durch einen zur Bildungselite gehörenden Personenkreis. Zum Jahr 1506 findet man unter dem Prokurator Andreas Misbek nach einem Prosavermerk über den Tod Philipps eine (wohl von Misbek selbst verfasste) Elegie. 10

Heu facinus! cecidit saeva rex febre Philippus,   Maxmiliane, tua est gloria, splendor, honos. Qui tibi tractandi Romana negocia semper   Assiduas operas auxiliumque dabat. Quot mala, quot clades heu tanta licentia mortis   Intulit, in cineres cum sinit ire virum. Cur veneranda mori permisti pectora, virtus?   Cur homini non es auxiliata tuo? Sed memores estote pias ad sidera mentes   Ire nec infernos posse subire lacus. Propterea quociens sacras accedimus aras,   Suppliciter pro te mistica dona damus. Tuque spiritibus, quorum tibi copia, divis   Mutua pro nobis vota, Philippe, dato.11

Das Gedicht beginnt mit einer Art Beileidsbezeugung an Maximilian, wendet sich aber bald ins Allgemeine, wobei Anklänge an antike Dichtung und antike Jenseitsvorstellungen zum Tragen kommen. Panegyrik ist am stärksten im drittletzten Distichon vertreten (»Sed memores …«), das die – unter anderem aus Ciceros Somnium Scipionis bekannte – Vorstellung aufgreift, dass um den Staat verdiente Männer nach ihrem Tod in die Sphäre der Fixsterne emporsteigen – so eben auch Philipp. Der Schluss der Elegie ist im christ­ lichen Sinn gestaltet. 10  Protocollum inclitae Nationis Rhenanae, Wien, Archiv der Universität Wien, cod.1, 223v: 1506 II Andreas Misbegius; Römer, »Lateinische Panegyrik« (wie Anm. 9); Franz ­Römer / Elisabeth Klecker, »Habsburger und Reichspolitik in den Matrikeln der Rheinischen Nation an der Universität Wien von 1485 bis 1531«, Friedrich Edelmayer / Martina Fuchs (Hgg.), Plus ultra. Die Welt der Neuzeit. Festschrift Alfred Kohler zum 65.  Geburtstag, Wien 2008, 259–278. 11  »Ach, welch Unheil! An einem grausamen Fieber starb König Philipp, Maximilian, dein Ruhm, dein Glanz und deine Ehre. Er hat dir immer, wenn du dich um die Angelegenheiten des Reiches bemühtest, eifrig Hilfe und Unterstützung geleistet. Wie viel Übel, wie viel Unheil hat, ach, diese schreckliche Willkür des Todes gebracht, als sie den Mann zu Asche werden ließ. Warum hast du, Virtus, zugelassen, dass dieser ehrwürdige Mensch sterben musste? Warum bist du deinem Gefolgsmann nicht zu Hilfe gekommen? Aber denkt daran, dass fromme Seelen zu den Sternen emporsteigen und nicht zu den Gewässern der Unterwelt hinabsteigen können. Sooft wir daher zu den heiligen Altären treten, opfern wir demütig für dich mystische Gaben. Du aber, Philipp, richte an die göttlichen Wesen, die dir nahe sind, deinerseits Gebete für uns.«

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V. Panegyrik für Karl V. und Ferdinand I. 1. Trotz Philipps frühem Tod blieb die deutsche Kaiserkrone im Besitz des Hauses Habsburg, denn auf Maximilian folgten dessen Enkel Karl V. und Ferdinand I. Es wird kaum überraschen, dass während der langen und ereignisreichen Regierung Karls die Produktion an panegyrischer Dichtung deutlich gestiegen ist. Ein dafür besonders geeignetes Ereignis war Karls Sieg über François Ier bei Pavia 1525, bei dem der französische König sogar in Gefangenschaft geriet. Die Folge waren nicht nur diplomatische Verwicklungen, sondern auch eine Flut von Dichtungen. Noch im selben Jahr erschien ein Siegeslied in einer – jedenfalls in unserem Zusammenhang – neuen poetischen Form, in der einer horazischen Ode: De mirabili victoria Caesarianorum adversus Gallos ac potentissimi regis captivitate. Ihr Autor ist der poeta laureatus Caspar Ursinus Velius (ca. 1493–1538 / 9), der spätere Hofhistoriker Ferdinands I. und Erzieher Maximilians II. Das genau hundert Verse umfassende Gedicht ist in alkäischer Strophe geschrieben.12 Es beginnt in der Art einer ars poetica mit Ausführungen über die großen römischen Dichter als Vorbilder für die Gegenwart, und erst in der achten Strophe kommt das eigentliche Thema zur Sprache. Es ist die virtus des Kaisers, dessen frühere Leistungen kurz zusammengefasst werden, bis in der Mitte der Ode (v. 49) endlich sein Name fällt. Die folgenden drei Strophen erreichen dann mit Pavia den Höhepunkt von Karls Ruhm: His tam secundis auspitiis sua et virtute Divum Carolus impiger Hispana rursum ad regna tendit ingrediens mare belluosum. Credetis o vos talia posteri? An facta vestram diminuent fidem miranda non audita priscis quae properans modo vidit aevum? Ferrata Caesar contudit agmina Regis superbi coepit et inclytum ipsum triumphatosque Gallos nunc populis Latioque monstrat.13

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12  De mirabili victoria Caesarianorum adversus Gallos ac potentissimi Regis captivitate C. Ursini Velii Ode, Viennae 1525. Franz Römer, »Zur Panegyrik in der Epoche Karls V.«, Alfred Kohler / Barbara Haider / Christine Ottner (Hgg.), Karl V. 1500– 1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, Wien 2002, 67–82. 13  »Unter diesen so günstigen Vorzeichen, mit seiner und der Götter Kraft eilte Karl unermüdlich wieder in sein spanisches Reich, fuhr hinaus auf das an Tieren reiche Meer. | Werdet ihr derartiges glauben, ihr Nachfahren? Oder werden die er-



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Karls virtus steht demnach auf einer Ebene mit der der Götter, so dass er endgültig in eine höhere, das menschliche Maß übersteigende Sphäre emporgehoben wird. Zu dieser leicht erkennbaren Sublimierung kommt noch eine weitere durch sparsam, aber gezielt gesetzte Reminiszenzen an horazische Lyrik, vor allem an das Siegeslied c. 4,14. Vers 49 »secundis auspiciis«, das seltene »beluosum« in Vers 52 und »ferrata agmina« in Vers 57 sind wörtliche Anklänge an die Horaz-Verse 16, 47, 29 f. Die von den Kriegstaten des Drusus und Tiberius ausgehende Ode legt auch insofern eine weitere Assoziation nahe, als sie letztlich zu einem Hymnus auf Augustus wird. Im folgenden wendet sich Velius Ferdinand als dem zweiten Enkel Maximilians zu, den er – zunächst überraschend – mit subtilen Anspielungen in noch größere Nähe zu Augustus setzt als vorher Karl, was anderseits zu seiner engeren persönlichen Bindung an Ferdinand passt, eine unterschwellige Bevorzugung, die sich auch bei anderen Autoren aus der Umgebung Ferdinands beobachten lässt und zweifellos im Sinn des auf Prestige bedachten jüngeren Habsburgers war.14 Zuletzt greift Velius ringkompositorisch wieder das Thema »Dichtung« auf: Sie wird sich zu höchsten Leistungen aufschwingen müssen, wenn sie den gewaltigen Leistungen der Habsburger gerecht werden will. 2. Im Bereich der panegyrischen Epik hat dies Antonio Sebastiano Minturno (ca. 1500–1574) versucht, der in drei Büchern De adventu Caroli V. imperatoris in Italiam (ca. 1536) die Reise Karls von Spanien nach Bologna beschreibt, wo er im Februar 1530 von Papst Clemens VII. gekrönt wurde.15 Die rechtliche und politische Problematik einer Kaiserkrönung außerhalb Roms wird von Minturno geschickt überspielt, indem er der begleitenden Götterhandlung breitesten Raum gibt. Etwas Besonderes hat er sich für die eigentliche Krönungsszene einfallen lassen, die er nicht direkt, sondern in Form einer Ekphrasis schildert. Voll Vorfreude auf Karls Ankunft lässt sich der Tiber ein Prachtgewand anfertigen, auf dem nichts anderes dargestellt ist als die Kaiserkrönung. Als Vorbild dient die Schildbeschreibung im achstaunlichen Taten euren Glauben mindern, (Taten) wie sie die Alten nie vernommen haben, die eben erst unsere bewegte Zeit gesehen hat? | Der Kaiser zerschlug die waffenstarrenden Scharen des stolzen Königs, nahm auch den hohen Herrn selbst gefangen und zeigt die Gallier jetzt im Triumph der Welt und Italien.« 14  Elisabeth Klecker, »Neulateinische Huldigungsdichtung für Ferdinand I.«, Jozef Baďurík / Kamil Sládek (Hgg.), Politický zrod novovekej Európy, Bratislava 2005, 128–142. 15  Antonii Sebastiani Minturni De adventu Caroli V. imperatoris in Italiam, ­Venedig 1564.

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ten Buch der Aeneis, doch im Gegensatz zu deren Vielfalt geht es bei Minturno nur um die Reise Karls und den Festakt, auf dessen Höhepunkt der Kaiser erscheint (3,408–412): Ipse sedens alte populis dat iura superbis, cuncta recognoscit placide missosque piorum undique legatos audit laetamque per omnem composito Hesperiam divulgat foedere pacem indicitque pius formidanda hostibus arma.16

Aen. 8,720–721

»Ipse sedens …« bezieht sich bei Vergil auf Augustus, mit dem Karl daher bei Minturno verglichen wird. Wieder begegnet uns der bekannte Anspruch der Habsburger, als die legitimen Nachfolger der römischen Kaiser zu regieren. 3. Was die panegyrische Würdigung Ferdinands I. betrifft, so sollen hier nur zwei Besonderheiten kurz erwähnt werden. (1) Ferdinands jüngster Sohn, Karl II. von Innerösterreich, erhielt eines Tages von niemand geringerem als Alexander dem Großen einen, noch dazu poetischen, Brief.17 Darin erteilt ihm der Welteroberer eine Reihe guter Ratschläge, deren wichtigster darin besteht, immer dem Vorbild des Vaters zu folgen. Wir haben hier den Typ eines »Himmelsbriefs« vor uns, den im vorliegenden Fall ein sonst wenig bekannter Dichter namens Roman Schmiedt 1558 anlässlich der Krönung Ferdinands verfasst hat. (2) Die Austrias des Rocco Boni von 1559 hat eine Rahmenhandlung, die Dantes Divina Commedia nachempfunden ist.18 Sie 16  »Er selbst spricht auf hohem Sitz den stolzen Völkern Recht. Alles prüft er in Ruhe, hört die von überallher entsandten Botschafter der Gerechten; nach Abschluss des Bundes verbreitet er über ganz Hesperien glückseligen Frieden und zeigt pflichtbewusst den Feinden schreckliche Waffen.« 17  Franz Römer, »Alexandri Magni epistola ad inclitum archiducem Austriae Carolum Divi imperatoris Ferdinandi filium. Literarische Fiktion im Dienste der Habsburgerpanegyrik«, Martin Korenjak / Karlheinz Töchterle (Hgg.), Pontes I. Akten der ersten Innsbrucker Tagung zur Rezeption der klassischen Antike (Comparanda 2), Innsbruck 2001, 224–243. 18  Franz Römer / Elisabeth Klecker, »Die Kaiserproklamation Ferdinands I. im Spiegel eines lateinischen Huldigungsgedichts. Zur Austrias des Rocco Boni (Wien 1559)«, Martina Fuchs / Alfred Kohler (Hgg.), Kaiser Ferdinand I. Aspekte eines Herrscherlebens (Geschichte in der Epoche Karls V. 2), Münster 2003, 217–233. Elisabeth Klecker, »Genuswahl – Genusmischung – Genusbruch als Ausdrucksmittel politischer Dichtung. Beispiele aus der neulateinischen Habsburg-Panegyrik«, Die Ideologie der Formen. Rhetorik und Ideologie in der frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des deutschen Sprachraums und seiner Ausstrahlung nach Ungarn (Studia humanitatis. Veröffentlichungen der Arbeitsgruppe für Renaissanceforschung der ungarischen Akademie der Wissenschaften 14), Budapest 2006, 67–80.



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zeigt große Vertrautheit mit der offiziellen Propaganda Ferdinands und wechselt nach zwei von vier Büchern vom epischen ins bukolische Genos. Diese recht ungewöhnliche Gestaltung des Werks erweist sich als eine durchaus originelle Idee, denn so wird Ferdinand schon durch die Wahl der literarischen Gattung als Friedensbringer präsentiert. VI. Vergilisches Herrscherlob im 16. Jahrhundert Galt die Panegyrik in allen bisher besprochenen Fällen dem regierenden bzw. dem zukünftigen Herrscher, so erschien 1576 unter Maximilian II. (1564–1576) ein Epos über den ersten Habsburger, der die Krone des Deutschen Reiches trug. In den drei Büchern De Rudolpho Habsburgico konzentriert sich Joachim Meister (1532–1587), ein Vertreter des schlesischen Humanismus, auf den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Rudolf I. und Przemysl Ottokar von Böhmen bis zur Schlacht von Dürnkrut und Jedenspeigen im August 1278.19 Das Werk zeigt große Nähe zu vergilischen Gedanken und Formulierungen, so dass es an einzelnen Stellen fast wie ein Cento wirkt. Allerdings verzichtet Meister darauf, heidnische Götter aktiv in die Handlung eingreifen zu lassen. Aus dem ersten Buch, das das vorangehende Geschehen in Deutschland schildert, soll hier nur ein Detail hervorgehoben werden: die Darstellungen auf Rudolfs Schild. Sie umfassen die Reihe der zukünftigen habsburgischen Herrscher bis Maximilian II., und ein Komet an deren Ende darf wohl als Symbol für den Kronprinzen verstanden werden, der als Rudolf II. bald zur Herrschaft gelangen sollte. Meisters Schildbeschreibung übernimmt also die Funktion von Vergils Römerschau in der Nekyia: Ein Christ, und erst recht ein Habsburger, steigt nicht in die Unterwelt hinab! Buch 2 spielt zunächst am Hof Ottokars, wo Prodigien wie im vierten Buch der Aeneis vor dem Tod Didos erscheinen, und wo Ottokars zweite Gattin Kunigunde wie die Furie Allecto zum Krieg hetzt. Inzwischen ist Rudolf mit seiner Heerschar bis an die Donau gelangt; da erscheint ihm der Flussgott Ister, analog zum Auftritt des Tiber Aen. 8,26–67. Die Einleitung und der Rahmen der Szene sind in engster Anlehnung an Vergil gestaltet: Nox erat et terris animalia somnus habebat, cum Caesar tristi turbatus pectora bello Danubii in ripa clarique sub aetheris axe procumbens seram accepit per membra quietem.20

Aen. 8,26–30

19  De Rudolpho Habsburgico Imp. Aug. Germanico libri tres editi a Ioachimo Meistero cognomento Gorlicio, Görlitz 1576. Franz Römer, »Aeneas Habsburgus. Rudolf I. in einer epischen Darstellung des 16. Jahrhunderts«, SYMPHILOLOGEIN. Festschrift Adolf Primmer, Wiener Studien, 114 (2001), 709–724. 20  »Nacht war es, und auf Erden umfing der Schlaf die Lebewesen, als der Kaiser, im Herzen verstört durch den traurigen Krieg, am Ufer der Donau unter dem

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In der folgenden Prophetie sind Vergil-Reminiszenzen sparsamer, aber an signifikanten Stellen eingesetzt. Im ersten Teil seiner Rede prophezeit der Ister die zukünftige Ausdehnung des Habsburgerreiches einschließlich der Entdeckung Amerikas, im zweiten erteilt er Rudolf Ratschläge für sein unmittelbares Handeln. Zuletzt gibt sich der Flussgott wie bei Vergil zu erkennen: »Ac ne vana putes: Ego sum, quem flumine pleno stringentem ripas cernis et culta secantem, Ister aquae diues fatorum conscius amnis. Hic mihi vasta domus, multis caput amnibus exit.« Sic ait atque lacu fluuius se condidit alto.21

Aen. 8,42 / 62–66

Es war eine sehr sinnvolle Idee des Autors, gerade die vergilische TiberProphetie in dieser Weise auf das Rudolf-Epos zu übertragen, denn dabei handelt es sich um die Szene, bei der die weitreichendsten Implikationen möglich sind: Rudolf kommt aus der Schweiz, er betritt also wie Aeneas erstmals den Boden seiner neuen Heimat, die zum Zentrum eines gewaltigen Reiches werden wird. Diese Analogie weist ebenso auf die zukünftige Größe des Habsburgerreiches hin wie die direkten Aussagen im ersten Teil der Rede. Daneben impliziert die Parallele zwischen dem Tiber und dem Hister eine solche zwischen Vienna und Roma, d. h. auch die Rolle Wiens als zukünftige Hauptstadt des habsburgischen imperium Romanum kann von einem aufmerksamen Leser mit verstanden werden. Nicht zuletzt ist es der Christengott selbst, der die Größe und Dauer des Habsburgerreiches prophezeit, und an ihn richtet Rudolf sein anschließendes Gebet: »Conditor omnipotens, rerum cui summa potestas, sis felix nostrumque leues miserate laborem. Da, quod nocturna somnus sub imagine portat, firma omen bonus et, si non indebita posco regna meis fatis, hac da considere terra et natos stirpemque domus serosque nepotes.«22

Aen. 10,18 Aen. 6,56 Aen. 6,66 f.

leuchtenden Himmelsgewölbe zur Ruhe sich legte und seinen Gliedern späte Erholung gönnte.« 21  » ›Und damit du nicht an ein Trugbild glaubst: Ich bin es, den du mit voller Flut die Ufer streifen und die Felder durchschneiden siehst, Ister, der wasserreiche Strom, der das Schicksal kennt. Hier habe ich meinen weiten Palast, mein Haupt erhebt sich aus vielen Strömen.‹ So sprach der Fluss und tauchte in die Tiefe des Wassers.« 22  » ›Allmächtiger Schöpfer, der du die höchste Macht über alle Dinge besitzt, sei mir gnädig, und mildere voll Erbarmen meine Mühsal. Gewähre, was der Schlaf in einer nächtlichen Erscheinung mit sich bringt, bestätige gnädig das Zeichen und, wenn ich ein für mein Schicksal nicht unverdientes Reich verlange, gewähre, dass ich in diesem Land einen Wohnsitz finde, meine Kinder, die Nachkommen meines Hauses und die späten Enkel.‹ «



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Im dritten Buch fällt dann die Entscheidung zugunsten Rudolfs, Ottokar fällt in der Schlacht. – Bemerkenswert ist noch, dass vor dem Kampf an Rudolf ein Flammenprodigium erscheint, wie in der Aeneis (2,682 ff.) an Iulus, dem Sohn des Aeneas. Dies darf wohl als Hinweis auf Maximilians Sohn Rudolf gesehen werden, wie denn überhaupt ein Epos auf den ersten Rudolf in der Situation von 1576 zumindest auch als Panegyrik für den zweiten zu verstehen ist. Aus der Schilderung weit zurückliegender Anfänge ein Lob der Gegenwart entstehen zu lassen, war das geniale Grundkonzept Vergils. Joachim Meister hat es in origineller Weise für die HabsburgPanegyrik fruchtbar gemacht. VII. Von Leopold I. bis Maria Theresia 1. Im 17. Jahrhundert, im Zuge der Gegenreformation in den habsburgischen Ländern, wurden die Jesuiten zu den wichtigsten Trägern der neulateinischen Literatur und damit auch der lateinischen Panegyrik. Als »Medienspezialisten« setzten sie Bild-Text-Kombinationen wie Embleme ein23 und pflegten auf der Bühne der Wiener Jesuitenuniversität opernhafte Festspiele, die ludi Caesarei – jenes Genus der Panegyrik, das bisher am ehesten in Literaturgeschichten Aufmerksamkeit fand. Wie sehr es jedoch auch hier noch philologischer Analyse bedarf, konnte für das berühmteste Stück, Nicolaus Avancinis (1611–1686) Pietas victrix (1659), gezeigt werden: Die zentrale Szene, eine Vision der Hl. Helena von der Zukunft des imperium Romanum unter den Habsburgern, ist von Vergils Römerschau inspiriert, während berühmte »Schauerszenen« Senecas zur Charakterisierung von Konstantins heidnischem Gegner Maxentius dienen.24 In dieser geschickten 23  Franz Römer / Elisabeth Klecker, »Bibel- und Antikerezeption in jesuitischer Huldigungsemblematik«, Florilegio de estudios de emblemática. A Florilegium of Studies on Emblematics. Actas del VI Congreso Internacional de Emblemática de The Society for Emblem Studies. Proceedings of the 6th International Conference of The Society for Emblem Studies. A Coruña, 2002, Valle Inclán 2004, 579–587; Franz Römer / Elisabeth Klecker, »Rezeption antiker Mythologie in barocken Huldigungsemblemen«, Joachim Dalfen / Christine Harrauer (Hgg.), Antiker Mythos erzählt und angewandt bis in die Gegenwart (Wiener Studien, Beiheft 28), Wien 2004, 133–155; Sonja Schreiner, »Traditionsbildung in emblematischen Gratulationen zu Hochzeiten im Hause Habsburg«, Florilegio de estudios de emblemática. A Florilegium of Studies on Emblematics. Actas del VI Congreso Internacional de Emblemática de The Society for Emblem Studies. Proceedings of the 6th International Conference of The Society for Emblem Studies. A Coruña, 2002, Valle Inclán 2004, 615–624. 24  Elisabeth Klecker, »Mythos und Geschichte auf der Bühne der ›ludi Caesarei‹. Seneca und Vergil in Nicolaus Avancinis Pietas victrix«, Peter Csobádi u. a. (Hgg.),

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Verschränkung von senecanischer Tragödie und vergilischem Epos wird der Sieg Konstantins des Großen an der Milvischen Brücke (312) zur Präfiguration der habsburgischen Auseinandersetzung mit den Osmanen, die 1683 in der Zweiten Wiener Türkenbelagerung ihren Höhepunkt erreichte – zweifellos in allen Gattungen der thematische Schwerpunkt der Panegyrik unter der langen Regierung Leopolds I. (reg. 1658–1705). 2. Zur Hochzeit des späteren Kaisers Josef I. (reg. 1705–1711) mit Amalia Wilhelmine von Braunschweig im Jahr 1699 schuf der Jesuit Engelbert Bischoff ein Kreis- oder Permutationsgedicht,25 um dessen zentrale Hemi­ epes Vivite io sponsi in acht Segmenten und sieben konzentrischen Kreisen Versfüße so angeordnet sind, dass sie zu immer neuen Distichen kombiniert werden können, die metrisch immer korrekt – und manchmal auch sinnvoll – sind (z. B. »Vivite io sponsi: Romanis excita clivis | iubila concertant, terra polusque favet«). Neben einer möglichen Assoziation mit Himmelskreisen und Sphärenharmonie ist die beinahe unendliche Zahl der Kombinationen ein Symbol für Ewigkeit, für die ewige Liebe des Brautpaares, aber auch für den ewigen Ruhm, den die Dichtung verleiht. 3. Die unter Karl VI. (reg. 1711–1740) entfaltete Bautätigkeit erforderte zahlreiche, oft ausführliche lateinische Inschriften und ließ die kaiserliche Sorge um die salus publica zu einem wichtigen Thema werden – auch wenn Politische Mythen und nationale Identitäten im (Musik-)Theater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2001 (Wort und Musik 54), Anif / Salzburg 2003, I 151–172; Elisabeth Klecker, »Turkish magic and Habsburg propaganda«, Blanka Szeghyová (Hg.), The Role of Magic in the Past. Learned and Popular Magic. Popular Beliefs and Diversity of Attitudes, Bratislava 2005, 200–211. 25  Engelbert Bischoff, Regium majestatis et amoris epithalamium […] Josepho I, Romanorum Hungariaeque regi coronato, archiduci Austriae ac Wilhelminae Amaliae, duci Hannoverianae […] dicatum, Wien 1699: Kreisgedicht am Ende der Sammlung. Elisabeth Klecker, »Sphärenklänge? Zum Hintergrund permutativer Kreisgedichte des Barock«, Ulrich Schlegelmilch / Tanja Thanner (Hgg.), Die Dichter und die Sterne. Beiträge zur lateinischen und griechischen Literatur für Ludwig Braun (Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge Beiheft  2), Würzburg 2008, 200–226; Franz Römer, »Neuplatonische Sphärenmusik in panegyrischem Kontext«, Maria-Christine Leitgeb / Stéphane Toussaint / Herbert Bannert (Hgg.), Platon, Plotin und Marsilio Ficino. Studien zu den Vorläufern und zur Rezeption des Florentiner Neuplatonismus. Internationales Symposium in Wien, ­ 25.–27.  Oktober 2007 (Wiener Studien, Beiheft 33), Wien 2009, 199–206.



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umstritten ist, ob Karl VI. planvoll eine »Staatsidee« mit Mitteln der Kunst propagieren wollte. Jedenfalls bot sich den Verfassern panegyrischer Dichtung reiche Anschlussmöglichkeit an die Dichtung eines Martial und Statius, die Bauten der flavischen Kaiser verherrlicht hatten; einen besonders dankbaren Gegenstand lieferte der Neubau der Hofbibliothek – der heutige Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek –, in dem Pallas Athene als Kriegs- und Friedensgöttin einen Tempel erhalten habe.26 Eine neue Gelegenheit für panegyrische Gelegenheitsdichtung schuf seit 1703 die Wiener Zeitung, das Wienerische Diarium, das mit zwei Erscheinungstagen pro Woche als aktuelle Publikationsplattform genutzt werden konnte: Regelmäßige poetische Einschaltungen des Hofdichters Johann Carl Newen von Newenstein sollten das Image der kaiserlichen Residenzstadt als neues Rom fördern und dokumentieren durch anspruchsvolle Antikebezüge indirekt das Bildungsniveau der anvisierten Leserschaft.27 4. Wie gut Panegyrik in der klassischen Dichtersprache auf schwierige Situationen reagieren konnte, zeigte sich nach dem Tod Karls VI. (1740), als das Aussterben des habsburgischen Mannesstamms zu bewältigen war: Maria Theresia (reg. 1740–1780) mit dem Patronymikon Carolis zu bezeichnen, reduzierte den Unterschied auf einen einzigen Buchstaben. Nicht allein durch die militärischen Auseinandersetzungen zu Beginn von Maria Theresias Regierung bedingt, sondern auch als Kompensation durch ein »männlich konnotiertes« literarisches Genus lässt sich die in besonderer Dichte entstehende Epik erklären: Vor dem Hintergrund der Aeneis konnte die Gründung der Dynastie Habsburg-Lothringen dem Hervorgehen des imperium Romanum aus dem zerstörten Troja angeglichen werden, Maria Theresia als Aeneas und Venus Genetrix in einer Person erscheinen. Zugleich ermöglichte es die spezielle Anlage von Vergils Aeneis – die trojanisch-römische Urgeschichte in Hinblick auf die augusteische Gegenwart 26  Elisabeth Klecker / Brigitte Mersich, »Nobiliora habitant nunc atria Musae. Der Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek in einem lateinischen Hochzeitsgedicht«, Biblos, 43 (1994), 41–57; Elisabeth Klecker / Franz Römer, »Die erste Leiterin der Nationalbibliothek. Minerva und Karl VI. in Ignaz Greiners ›Bibliothecae veterum deperditae in Augusta Vindobonensi Caesarea instauratae‹ «, Edith Stumpf-Fischer (Hg.), Der wohlinformierte Mensch – Eine Utopie. Festschrift für Magda Strebl zum 65.  Geburtstag, Graz 1997, 117–137. 27  Elisabeth Klecker / Franz Römer, »Comitia centuriata in regia Pisonis«, Ľudmila Buzássyová / Erika Juríková / Nicol Sipekiová (Hgg.), Decus Sapientiae (Sambucus, Supplementum 3), Trnava 2011, 156–169; Elisabeth Klecker, Die Sprache des neuen Rom. Johann Carl Newen von Newenstein und die lateinischen Medien im barocken Wien, Wien 2014 / 5 (im Druck).

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erzählt –, den Thronfolger Erzherzog Josef als neuen Augustus in den Blick zu rücken und so die Rückkehr zur Normalität, d. h. zu einem Herrscher männlichen Geschlechts, zu begrüßen.28 5. Die extreme Konsequenz von Vergil-Rezeption im Dienste der HabsburgPanegyrik bedeutet das Supplementum ad lib. VI. Aeneidos des Piaristen Ludwig Bertrand Neumann (1726–1777). Während Aeneis-Supplemente seit dem Humanismus die Handlung bis zum Tod des Aeneas fortgeführt haben, ergänzt Neumann die Römerschau des sechsten Buches, indem er nach einem kurzen Blick auf den Niedergang des imperium Romanum in der Spät­ antike dessen Wiederaufstieg unter den Habsburgern bis Maria Theresia und Josef II. darstellt: Unter ihnen sind die aurea saecula Wirklichkeit geworden, die Vergil (Aeneis 6,792) für Augustus prophezeit hatte. In höchst raffinierter Weise sollte das literarische Konzept Kontinuität über Jahrhunderte veranschaulichen und so dem Trauma der Diskontinuität, dem Nichthabsburger Karl VII. auf dem Kaiserthron, entgegenwirken.29 – In Summe ist ab der Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch ein Rückgang lateinischer Pan­ egyrik zu verzeichnen: In der Festschrift zur Eröffnung des neuen Universitätsgebäudes, des heutigen Hauptgebäudes der Akademie der Wissenschaften, im Jahr 1756 sind die lateinischen gegenüber italienischen, französischen, deutschen, ungarischen und englischen Beiträgen in der Minderzahl.30 VIII. Nachblüte im 19. Jahrhundert Im frühen 19. Jahrhundert kommt es zu einer Art Nachblüte poetischer Panegyrik. Noch Franz II. bzw. Franz I. von Österreich (reg. 1792 / 1806– 1835) ließ sich in einer Vielzahl mannigfaltiger Dichtungen bejubeln, z. B. 28  Elisabeth Klecker, »Maria Theresia und Aeneas. Vergilrezeption zur Bewältigung der weiblichen Erbfolge«, Camoenae Hungaricae, 2 (2005), 111–126. 29  Elisabeth Klecker, »Tradition und Moderne im Dienst des Herrscherlobes. Beispiele lateinischer Panegyrik für Maria Theresia«, Franz Eybl (Hg.), Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 17), Wien 2002, 233–247; Elisabeth Klecker, »Konkurrenz im Herrscherlob? Ein Drama der Wiener Piaristen von 1754«, Ladislav Kačic (Hg.), Piaristen und Schulwesen, Wissenschaft, Kunst in Mitteleuropa im 17.–19. Jahrhundert. Konferenzbericht (Svätý Jur 30.9.–2.10.2010), Bratislava 2012, 59–69. 30  Annamaria Lesigang-Bruckmüller, »Musae Francisco et Mariae Theresiae Augustis congratulantur. Eine Festschrift zur Eröffnung der Neuen Aula der Wiener Universität«, Christian Gastgeber / Elisabeth Klecker (Hgg.), Neulatein an der Universität Wien (Singularia Vindobonensia 1), Wien 2008, 383–414.



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nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht von Leipzig 1814, die Ladislaus Papp (Popp; 1789–1842) in einer langen Elegie als Befreiung Europas feiert.31 Gegen Ende des Gedichts (v. 147–151 von 186) greift er zu einem verbreiteten Topos: Caesare Te majus nil saecula prisca tulere,   Caesare Te melius nil novus orbis habet. Talis erat quondam proles invicta Philippi,   Talis erat Caesar, et Numa talis erat, Qualis Tu coleris totum, Francisce, per orbem.32

Demnach gab es nie einen größeren Kaiser als den gegenwärtigen. Dieser vereinigt in sich die Vorzüge des unbesiegten Alexander, des Politgenies Caesar und nicht zuletzt des weisen Königs Numa. Gleich drei Kaiser und deren Zeiten spiegeln sich in der Dichtung eines Mannes, der als Arzt in Dalmatien Karriere gemacht hat. Wilhelm Menis aus Brescia (1793–1853) begann 1833 mit einer Visio poetica für Franz I. in mehr oder weniger bukolischer Form, um bald darauf in einem Carmen elegiacum (1841) an Ferdinand I. (reg. 1835–1848) vor allem dessen Güte hervorzuheben. In die Zeit desselben Kaisers fällt Menis‘ Lehrgedicht Hygea (De arte bene diuque vivendi, 1838), das die bedeutenden Leistungen Österreichs im Bereich der Medizin und der Hygienegesetzgebung auf die Förderung von Seiten der Habsburger zurückführt. Menis setzt nicht nur die Reihe der VergilNachahmer mit Zitaten und Imitationen fort, er hat später auch noch ein Epos geschrieben und war offenbar bestrebt, schon durch die analoge Reihenfolge seiner Dichtungen als der Vergil seiner Zeit hervorzutreten. In den 1850 erschienenen drei Büchern mit dem einfachen Titel Radetzky verherrlicht er die Siege, die der greise Feldmarschall in Oberitalien 1848–49 erringen konnte, behandelt aber auch die innenpolitischen Ereignisse des Revolutionsjahres 1848 einschließlich der Abdankung Ferdinands zugunsten seines Neffen Franz Josef.33 Das traditionsgemäß mit vielen Vergil-Bezügen ausgestattete Epos be31  Elegia quam Caesari Augusto Francisco primo Austriae imperatori […] offerebat Ladislaus Basil. Papp Transilvanus […], Wien 1814. Franz Römer, »Lateinische Huldigungsdichtung für Habsburger des 19. Jahrhunderts«, Veronika Coroleu Oberparleiter / Ingrid Hohenwallner / Ruth Kritzer (Hgg.), Bezugsfelder. Festschrift für Gerhard Petersmann zum 65.  Geburtstag (Grazer Beiträge, Supplementband 11), Horn / Wien 2007, 261–271. 32  »Die alten Zeiten haben nichts hervorgebracht, das größer wäre als du, der Kaiser. Die neue Welt besitzt nichts Besseres als dich, den Kaiser. So war einst der unbesiegte Spross Philipps, so war Caesar, und auch Numa war so, wie du, Franciscus, auf der ganzen Welt verehrt wirst.« 33  Wilhelmi Menis RADETZKY De rebus gestis anno 1848–49, Jaderae 1850. Franz Römer, »Klassische Bildung im Dienst habsburgischer Propaganda: Lateinische Panegyrik in der Donaumonarchie«, International Journal of the Classical Tradition, 5 (1998), 196–204.

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ginnt mit einer Musenanrufung, in der die Worte »Dic arma virumque« einen Vergleich Radetzkys mit Aeneas nahelegen. Im ersten Buch spricht Vergil selbst in einer Vision zu dem von Sorgen bedrückten Dichter, die Schilderung der Revolution im zweiten Buch ist von Unterweltszenen mit großen Auftritten Plutos gerahmt, im dritten Buch prophezeit die personifizierte Italia Radetzky weitere Erfolge im Kampfgeschehen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Worte, mit denen der scheidende Kaiser Ferdinand seinem Nachfolger Franz Josef die Reichsinsignien übergibt (147 ff.): At iuvenis, regni cui transmittenda potestas, surgit, et accedens ad patrem more precantis exposcit veniam, regique subinde volutus 140 ante pedes se demissa cervice locavit. Excelso tum Fernandus caroque nepoti, qui sibi succedit vasti in moderamine regni, post ubi iam breviter dictis affatus amicis, Aen. 8,126;10,466 tradidit auratum sceptrum, capitique corona 145 imposita extensis palmis benedixit et inquit: »Tempus in omne tibi levia haec insignia regum sint, precor: Aeternae famae vestigia patrum, et quorum claro signaris nomine ab ortu, pone subi: Felix regna, semperque memento 150 Aen. 6,851 parcere subiectis, et iustam pondere lancem Aen. 8,853 aeque librando poenis urgere superbos.«34

Mit »parcere subiectis et debellare superbos« (Aen. 6,853) beendet Vergils Anchises seine Rede ebenso, wie es Ferdinand mit den zitierten Worten bei Menis tut. Das ist aber nicht nur eine deutliche Reminiszenz an Vergils berühmte Worte aus der Römerschau, sondern auch eine neuerliche Bekräftigung des habsburgischen Herrschaftsanspruchs in der Nachfolge des imperium Romanum. * Damit sind wir mit unserem Überblick zu Ende gekommen. Nach Menis – über dessen poetische Qualitäten man durchaus verschiedener Meinung 34  »Aber der junge Mann, dem die Macht im Reich übertragen werden soll, erhebt sich, tritt an seinen Vater in der Art eines Bittstellers heran und verlangt dessen Zustimmung. Dann wirft er sich vor die Füße des Königs und verharrt mit gebeugtem Nacken. Da spricht Ferdinand seinen erhabenen lieben Neffen, der ihm in der Regierung des weiten Reiches nachfolgt, kurz mit freundlichen Worten an. Dann übergibt er ihm das goldene Szepter, setzt ihm die Krone aufs Haupt, segnet ihn mit ausgebreiteten Händen und spricht: (147) ›Für alle Zeit mögen dir diese Insignien der Könige leicht sein, darum bitte ich. Den Spuren des ewigen Ruhms deiner Väter, deren glänzenden Namen du von Geburt an trägst, folge nach. Regiere glücklich und denke immer daran, die Unterworfenen zu schonen, ein ausgewogen gerechtes Urteil zu fällen und so die Hochmütigen mit Strafen zu bedrohen.‹ «



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sein kann – war in unseren Rahmen passende Literatur nur mehr vereinzelt feststellbar, etwa zur Silberhochzeit des Kaiserpaares im Jahr 1879. Dass diese seit eineinhalb Jahrhunderten ihren »Sitz im Leben« verloren hat, ist nicht zuletzt auf zwei ihrer Merkmale zurückzuführen, die zur Zeit ihrer Entstehung noch ein europaweites Publikum ansprechen konnten. Es sind dies die lateinische Sprache als universale Sprache der gebildeten Welt und ein an den klassischen Autoren geschulter, anspielungsreicher und daher auch anspruchsvoller Stil. Gerade durch ihr Aufgreifen und Fortführen antiker Traditionen ist die lateinische Panegyrik auch ein wichtiges Zeugnis für die hohe Bedeutung der Antike im Kultur- und Geistesleben der Neuzeit – wenigstens bis vor 150 Jahren.35

35  Für wichtige Hinweise und Ergänzungen (vor allem der Abschnitte zu Karl VI. und Maria Theresia) dankt der Verfasser Elisabeth Klecker, die seit dem Beginn des hier vorgestellten Projekts die Hauptarbeit dafür geleistet hat.

Lobendes Erziehen der Zeitschriftenbiographik der frühen amerikanischen Republik Von Tim Lanzendörfer Das lange 18. Jahrhundert, von der Glorreichen Revolution in Großbritannien samt ihren Auswirkungen in den britischen Kolonien Nordamerikas bis hin zum Beginn der einschneidenden Demokratisierung der amerikanischen Republik unter Präsident Andrew Jackson in den 1820er Jahren, war eine entscheidende Zeit für die Entwicklung der amerikanischen biographischen Literatur. Den klarsten Blick auf diese Entwicklung erlauben die Zeitschriften und Zeitungen der Zeit, in welcher die Debatte über die biographische Kultur geführt wurde und in denen die Mehrzahl an Biographien veröffentlicht wurde. Hier spielte sich auch der Widerstreit ab, der die Theorie der Biographik im gesamten Jahrhundert prägte: zwischen der panegyrischen und der realistischen Biographie. Beide Formen einte, dass sie sich der Erziehung der Leser verschrieben, ihren Lesern vermitteln wollten, wie man sich richtig, in aller Regel ›virtuous‹, also ›tugendhaft‹, zu verhalten habe. Im Laufe des Jahrhunderts wurde dabei aber die panegyrische Variante zunehmend kritischer gesehen: historisch der Lobpreisung von Fürsten gewidmet, zu Beginn des Jahrhunderts in den amerikanischen Kolonien primär zur Lobpreisung von Kirchenvätern verwendet, wurde die panegyrische Biographie nicht nur im Zuge der Säkularisierung im Zeitalter der Aufklärung weniger zentral, sondern für die Amerikaner nach der Revolution auch durch die neue republikanische Staatsform. Die Entwicklung der Biographik zeichnet hier zumindest im Ansatz die zunehmende Demokratisierung der Vereinigten Staaten nach. Zwar verfolgten die Biographien von Militärhelden direkt nach der Revolution noch klar die panegyrische Redeweise, gleichzeitig jedoch begannen die Amerikaner wachsenden Unmut gegenüber dem undifferenzierten Lob für Herrscher zu äußern. Spätestens im Krieg von 1812 zeichnete sich ab, dass selbst Nationalhelden nicht mehr mit Panegyriken gedankt werden konnte. Der reinen Panegyrik kehrten die Amerikaner langsam den Rücken; zumindest dem öffentlich immer wieder geäußerten Wunsch, durch Biographie zu erziehen, blieben sie allerdings weitgehend treu. Chronologisch zeichnet sich, zumindest vereinfacht, eine recht klare Entwicklung ab. Vor 1700 beschränkte sich die amerikanische Biographik auf

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Gedichte mit quasi-biographischem, panegyrischem Inhalt.1 1702 veröffentlichte dann Cotton Mather, wohl der bekannteste neuenglische Pastor seiner Zeit, seine Magnalia Christi Americana, in welcher etliche der puritanischen Kirchenväter mit Kurzbiographien in Prosaform bedacht wurden. Mathers Zugang zur Biographie war didaktisch und selektiv, so dass sich seine Texte am Ende komplett dem panegyrischen Duktus annäherten. In seiner Lebensbeschreibung von John Winthrop, dem ersten Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, schreibt Mather: Our New-England shall tell and boast of her Winthrop, a Lawgiver, as patient as Lycurgus, but not admitting any of his Criminal Disorders; as Devout as Numa, but not liable to any of his Heathenish Madnesses; a Governour in whom the Excellencies of Christianity made a most improving Addition unto the Virtues, wherein even without those he would have made a Parallel for the Great Men of Greece, or of Rome, which the Pen of a Plutarch has Eternized.2

Die hier vorgenommenen Parallelisierungen zwischen dem spartanischen Gesetzgeber Lycurgus, dem sagenhaften römischen König Numa, die jedoch explizit die jeweiligen Fehler ausklammern, rechtfertigen bei Mather den Superlativ, in welchem Winthrop das »Beste« des Christentums auf seiner Person vereinigt. Allerdings war Mather sich durchaus dessen bewusst, dass es sich bei den von ihm beschriebenen Personen um fehlerhafte Menschen handelte: aufgrund seines Wunsches, seine Leser zu moralischer und geistlicher Höhe zu führen, versagte er diesen aber ausdrücklich den Blick auf Schwächen und Unvollkommenheiten.3 1723, im Parentator, der Biographie über seinen Vater, erklärte er folgerichtig: And yet I Solemnly Declare, That my Pen should not have been Employ’d on this Occasion, if I had not been verily persuaded, That it would be a Thing Acceptable to the Glorious GOD, and Serviceable very many ways unto the cause of PIETY, to Exhibit the Conduct of 1  Vgl. Richard Hankins, »Puritans, Patriots, and Panegyric: The Beginnings of American Biography«, Studies in the Literary Imagination 9 (2). Herbst 1976, 95– 109. 2  Cotton Mather, Magnalia Christi Americana: or, the Ecclesiastical History of New England from Its First Planting in the Year 1620, unto the Year of our Lord, 1698, London 1702, 8. (Hervorhebungen im Original). »Unser Neuengland soll erzählen und sich rühmen in Winthrop, dem Gesetzgeber, geduldsam wie Lycurgus, doch nicht von seinen kriminellen Fehlern beseelt; fromm wie Numa, doch nicht seinem heidnischen Wahn verfallen; ein Gouverneur in welchem das Beste des Christentums sich zusammenfügte mit den Tugenden, wenn er auch selbst ohne diese eine Parallele zu den großen Männern Griechenlands oder Roms gewesen wäre, die Plutarch verewigt hat.« (Übersetzung – wie auch die folgenden – TL). 3  Vgl. Hankins, 99, aber auch Cotton Mather, Parentator. Memoirs of Remarkables in the Life and the Death of the Ever-Memorable Dr. Increase Mather. Who Expired, August 23, 1713, Boston 1724, 187.



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His Providence in the Life of a Good Man, and the Exemplary Methods taken by Such a Man, to do Good in the World.4

Mather stellt den panegyrischen Text, in welchem sein Vater Increase nicht fähig scheint, eine falsche Tat zu begehen, als gottgefällig dar, überhöht ihn also im Dienst der Erziehung der Leser zur Frömmigkeit. Für Mather war die Panegyrik, die Lobrede auf den Verstorbenen, die logische Konsequenz aus der Rolle der biographischen Gattung, wie eben auch das Neue Testament selber nur die Biographie eines exemplarischen Lebens sei.5 Panegyrik war hier nicht Selbstzweck: vielmehr sollte das präsentierte Exemplum dem Leser dienen, seine eigene Orientierung zu finden, sich entsprechend dem Beispiel zu verhalten und sich so dem moralisch-religiösen Optimum anzunähern, welches die Biographierten darstellten. Keine dieser Schriften waren natürlich im engsten Sinne Panegyriken – schon gar keine Lobgedichte! – auch verwendeten Mather und seine Zeitgenossen, wenn sie sich über ihre Schriften äußerten, diesen Begriff nicht als Beschreibung ihres Tuns. Der Begriff Panegyrik war im frühen 18. Jahrhundert in Wandlung, er wurde langsam für alle lobenden Textformen genutzt und dabei beständig kritischer gesehen. Wie James Garrison bemerkt, war die Panegyrik in England schon am Ende der Stuart-Herrschaft, also mit dem Tode Queen Annes 1714, »domestiziert als englisches Wort mit seinem eigenen Verbund von Obertönen und seinem eigenen charakteristischen Nutzen«.6 Diese Änderungen, wie auch der Wandel der Konzeption des biographischen Genres im Laufe des folgenden Jahrhunderts, fand zu großen Teilen im aufkommenden Zeitschriftengewerbe statt. Mit dem erstmaligen Erscheinen von Zeitschriften in London (zum Beispiel dem Spectator 1711) und Zeitungen auch in den Kolonien (zum Beispiel Franklins Pennsylvania Gazette 1728) entwickelte sich ein Aufschwung in Essayistik, und mit ihr auch in der Kurzbiographik. In den Zeitschriften und Zeitungen der Epoche verschwammen die Grenzen zwischen den beiden epideiktischen Gattungen Satire und Panegyrik. Gerade die Londoner Zeitschriften der 1730er und 1740er Jahre, die in den Kolonien ebenfalls gelesen wurden, ergingen sich mit Regelmäßigkeit in Texten, die sich metatextuell sowohl dem Genre der Panegyrik als auch ihren Subjekten über die Mittel der Satire näherten; der Begriff Panegyrik wurde hier explizit zum übertriebenen 4  Mather, Parentator. »Und doch erkläre ich feierlich, dass mein Stift aber nicht verwandt worden wäre, wäre ich nicht fürwahr überzeugt, dass dies ein dem glorreichen Gott akzeptables, und dem Weg der Frömmigkeit dienliches Ding sei, das Wirken der Vorsehung im Leben eines Guten Mannes auszustellen, und die herausragenden Methoden eines solchen Mannes, Gutes in der Welt zu tun.« (Hervor­ hebungen im Original). 5  Vgl. ibd. 2. 6  James Garrison, Dryden and the Tradition of Panegyric, Berkeley 1975, 16.

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Lob aller und von allem.7 So veröffentlichte das Gentleman’s Magazine satirische Panegyriken über Feigheit und schlechte Pfarrer, das London Magazine über Geld (im Stile von Tristram Shandy) und über die gemeine Laus, und auch amerikanische Magazine folgten dem Trend: das American Magazine präsentierte satirische Panegyriken über Pferd, Hund, und Esel. Der Aufschwung der Zeitschriften brachte nicht nur eine Vielzahl satirisch-panegyrischer Texte mit sich, er brachte auch eine Profilierung der Biographie und der Biographietheorie. Für die Entwicklung der Panegyrik im späteren 18. Jahrhundert war eine Frage maßgeblich, der sich das Gentleman’s Magazine im Frühjahr 1750 annahm: der Frage nach der Rolle von Wahrheit, von Loben und Erziehen. Das Gentleman’s Magazine meinte dazu: »Es ist nicht maßgeblich für die Natur der Panegyrik, dass ihr Name in großen Kursiva auf der Titelseite steht«, wichtig hingegen sei, dass in der lobenden Rede gleich welcher Gattung nicht die Grenzen der »unwidersprechlichen Wahrheit« überschritten werden. Hierin liege die ursprüngliche »wahre« Panegyrik, der gegenüber sich die »falsche« dadurch auszeichne, dass sie durch Rhetorik ausgleiche, was ihrem Subjekt fehle.8 Für die englische und in der Folge für die amerikanische Biographik war die Panegyrik mithin im eigentlichen Sinne keine Gattung, sondern eine Qualität sonstiger Schriften, ob nun der Geschichte oder der Biographik, die sich dadurch auszeichnete, dass sie Lobenswertes direkt zeigte, und sich nicht daran versuchte, Unerbauliches durch rhetorische Ausschmückung in Positiva zu verwandeln. Erziehung konnte nur da erfolgen, wo die Exzellenz des Subjekts wahrheitsgemäß dargestellt werden konnte, mithin also nur da, wo das Subjekt wirklich herausragend war. Schon damit stand das Gentleman’s Magazine aber eher am Ende der alten Entwicklung biographischen Denkens: im selben Jahr fand sich eine neue Strömung an prominenter Stelle, die für die letzten Dekaden des langen 18. Jahrhunderts im stetigen Widerstreit mit der alten treten sollte. Mit ihr entwickelte sich auch eine neue Konzeption des Erziehens durch Biographie, worauf ich im Folgenden eingehe. James Boswells Life of Samuel Johnson von 1792 war der Höhepunkt einer biographischen Revolution, die mit Samuel Johnsons eigenen Schriften in den Zeitschriften Rambler von 1750 und Idler sowie seinen biographischen Texten in The Lives of the Eminent Poets ihren Anfang fanden. Johnsons Biographie insistierte anders als vorherige Formen darauf, ihre Objekte auch im persönlichen Leben zu beleuchten, und, voralldingen, sie sowohl von ihren guten wie von ihren schlechten Seiten zu zeigen. Johnsons in verschiedenen Schriften dargelegte Biographietheorie war zugleich 7  Vgl. 8  Vgl.

ibd. »A Dissertation on Panegyric«, Gentleman’s Magazine 20. Mai 1750, 228.



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eine vollkommene Abkehr vom Konzept der Panegyrik: nicht mehr die großen Männer, die in ihrer Vollkommenheit gezeigt werden konnten (auch unter der Maßgabe des Gentleman’s Magazine, nur »wirklich« große Männer zu beschreiben) sondern letztendlich jeder Mensch war für die Erziehung der Leser geeignet: »Schon oft habe ich gedacht, dass sich selten ein Leben zugetragen hat, von welchem eine umsichtige und getreue Erzählung nicht nützlich sein würde«.9 Montaignes Diktum folgend, dass keiner seinem Kammerdiener gegenüber ein Held sein könnte, fand auch Johnson, dass die Biographik jenen vorbehalten seien sollte, die ihr Objekt persönlich und genau kannten. There are many who think it an act of piety to hide the faults or failings of their frinds, even when they can no longer suffer by their detection; we therefore see whole ranks of characters adorned with uniform panegyrick, and not to be known from one another, but by extrinsick and casual circumstances.10

Ungeachtet dieses Dilemmas erhoffte sich Johnson aber doch, dass seine Wünsche für die Biographik die Schwierigkeiten auktorialer Intention würden überwinden können. »Wenn wir den Toten Angedenken schulden, dann schulden wir dem Wissen, der Tugendhaftigkeit, und der Wahrheit doch noch mehr.« Johnsons Biographiekonzept wurde nach seinem Tod von James Boswell in der bereits erwähnten Biographie über Johnson selbst vervollkommnet: »Ich bekenne, nicht seine Panegyrik, die nur Lob sein müsste, sondern sein Leben zu schreiben; welches, wie groß und gut er war, man sich nicht als gänzlich perfekt vorstellen darf«.11 Johnsons Biographietheorie war in Amerika ebenso einflussreich wie in Großbritannien. So rekapitulierte ein Essay zu Samuel Johnson im Boston Magazine von 1785 die zentralen Argumente des Briten für das amerikanische Publikum. Johnsonische Biographie und Panegyrik im Sinne Mathers oder der Antike waren nicht vernünftig vereinbar, doch die Übertragung des Johnsonschen Prinzips nach Amerika stieß auf Schwierigkeiten. Als Leser britischer Zeitschriften und in Großbritannien gedruckter Bücher, als Kenner der römischen und griechischen Biographik durch die Übersetzungen Drydens und als begeisterte Leser Johnsons waren die ehemaligen Kolonisten viel eher in der britischen Tradition zu Hause, als in der eigenen puritanischen. Mit der Amerikanischen Revolution wurde das Verhältnis der Ame9  Samuel Johnson, »No. 60: The Dignity and Usefulness of Biography«, The Rambler, 2 Bde., 10. Aufl., London 1784, Bd. 2, 35–40, hier 37. 10  Ibd., 40. »Viele erachten es einen Akt der Demut, die Fehler und Misserfolge ihrer Freunde zu verstecken, auch wenn jene von deren Aufdeckung keinen Schaden mehr davon tragen können; daher sehen wir ganze Reihen von Charakterdarstellungen verziert mit immer gleichförmiger Panegyrik, und können die eine nicht von der anderen unterscheiden, außer durch äußere und zufällige Umstände«. 11  James Boswell, The Life of Samuel Johnson, LL.D., 2 Bde., London 1791.

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rikaner zur Panegyrik allerdings komplizierter: Auf der einen Seite fanden sich mit Generälen und anderen Militärhelden wie George Washington, Nathaniel Green, Richard Montgomery oder Joseph Warren Persönlichkeiten, welche für das junge Land die Möglichkeit eröffneten, eigene Idealbilder zu schaffen, deren heroische Eigenschaften den gewünschten Charakter des neuen Landes abbildeten, und für die die biographische Intention, den Menschen ohne Ehrabzeichen oder Verstellung zu zeigen, in seinem privaten Umfeld und intimen Handeln, keine zentrale Rolle spielten. Vielmehr wurden die Soldaten und Staatsmänner gerade in der öffentlichen Rolle für die republikanische Erziehung wichtig, als Sinnbilder für die neue Republik, und die zeitgenössische Kritik zeigte sich nicht immer von Johnson beeindruckt. So schrieb der Pennsylvania Mercury im Mai 1786, es sei »eine erbauliche und lobenswerte Tätigkeit, die Tugenden unserer Freunde in einer Panegyrik zu verewigen.« »Die Nachwelt«, so der Mercury, »hat ein Anrecht darauf; die Gesellschaft fordert es als Pflicht.«12 Die Schwierigkeiten, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen, erwiesen sich jedoch als vielfältig. Wie Sarah Purcell am Beispiel von Richard Montgomery ausführt, des Generals, der den Angriff auf Quebec 1776 anführte und dort starb, war überzeugende Lobrede angesichts der Komplexität der Situation – der Rechtmäßigkeit der Revolution und der einzelnen Taten der Gelobten – eine nicht für alle akzeptable Form, oft selbst für diejenigen nicht, die mit der Aufgabe der Panegyrik betraut worden waren.13 Für einige war sogar das gesamte Konzept der Panegyrik mit der republikanischen Gesellschaftsform nicht vereinbar. Im Jahr 1786 veröffentlichte der presbyterianische Pastor und Autor Timothy Dwight einen Aufsatz in der New-Haven Gazette. Laut Dwight handele es sich um eine Errungenschaft der Moderne, sich endlich von der Panegyrik zu lösen: der Entwicklung des guten Geschmacks, so Dwight, sei es zu verdanken, dass man die »Absurdität« erkannt habe, Dinge über ihr Maß hinaus zu loben. »Prahlend schreiben wir unsere eigene Panegyrik; geschmeichelt bekommen wir unsere Panegyrik von unseren Nachbarn geschrieben«.14 Geschmackvoll, so Dwight, seien beide Varianten nicht: schamlos sei das Interesse an der Lobpreisung in jedem Fall, und das nicht nur dort, wo es im persönlichen Umgang miteinander passiert, sondern überall. Selbst die traditionellen Grabreden lehnt Dwight ab: so seien die 12  »Mortuary Notice«, Pennsylvania Mercury and Universal Advertiser 143. 11.  Mai 1787, [3]. 13  Vgl. Sarah Purcell, Sealed With Blood: War, Sacrifice, and Memory in Revolutionary America, Philadelphia 2002, 9. 14  Timothy Dwight, »The Friend, No. XI, by James Littlejohn, Esq.«, The NewHaven Gazette, and the Connecticut Magazine 1 (19). 22.  Juni 1786, 145–146, hier 145.



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Traueransprachen in Europa schon länger auf dem Wege, sich von der Panegyrik des Verstorbenen abzusetzen. Amerika hänge dort etwas hinterher, so dass es letztlich »der Beweis für unseren zivilisatorischen Fortschritt sein wird, wenn dieser ignorante Wesenszug den Anstand betreffend aus unserem Nationalcharakter getilgt sein wird.« Im Wesen noch schlimmer sei nur der Brauch, auch lebenden Panegyriken zu widmen, sei es zu den öffentlichen Verabschiedungen der Absolventen an den Colleges oder bei der Einführung hoher gewählter Würdenträger. In allen diesen Ausdrucksformen der Lobrede sieht Dwight letztlich nicht mehr als die blinde Übernahme der historischen Gebräuche der amerikanischen Vorväter, Modi des Öffentlichen, die nicht mehr der Zeit entsprechen.15 Wenn Dwight hier von einer zivilisatorischen Entwicklung spricht, so spricht er gleichfalls von einer Demokratisierung, von einer Egalisierung der politischen Person, die der Entwicklung der Panegyrik widerspricht. Er beklagt sowohl das allzu große, ja übermäßige öffentliche Lob wie auch die Bereitschaft der Gelobten, dieses Lob entgegenzunehmen. »Diejenigen, an welche das Lob gerichtet ist, stehen auf, im Angesicht der versammelten Zuschauer, und stehen wie festgepflockt, während ihre herausragenden Eigenschaften vorgetragen werden«.16 Sowohl in der öffentlichen Huldigung von Würdenträgern von Universitäten und Parlamenten und Regierungen, wie auch in der Bereitschaft der Gelobten, sich dieser Würdigungen hinzugeben und sie gleichsam abzunehmen, erkennt Dwight implizit den Rückfall der Republik in die Strukturen der Monarchie. In der huldvollen Abnahme des öffentlichen Lobes, gerade dann, wenn es aus dem Plenum des Parlaments den Amtsträgern zukommt, und quasi mechanisch nicht deren eigentlichen Leistungen, sondern vielmehr »custom«, also den Gebräuchlichkeiten geschuldet ist, findet sich ohne Zweifel das Echo der höfischen Umgangsformen der britischen Monarchie. Für Dwight ist es nicht mit dem nationalen Charakter der Vereinigten Staaten vereinbar, derartige »öffentliche Ungehörigkeiten« weiterzuführen. Die Vereinigten Staaten, zum Zeitpunkt der Abfassung von Dwights Text seit gerade drei Jahren unabhängig, suchen in der Abkehr von der Lobrede, die für Dwight auch immer die unnötige Überhöhung des Gelobten anstrebt, ihr neues Gesellschaftsbewusstsein. Der Widerspruch zwischen der Suche nach Nationalhelden, der sich immer auch in der Überhöhung derer Leistungen und guten Charaktereigenschaften widerspiegelte, und dem Wunsch, sich von der biographischen Panegyrik zu lösen und stattdessen den ehrlichen Umgang mit den biographischen Objekten zu suchen, konnte die amerikanischen Biographik nicht wirklich lösen. 1791 verquickte die Zeitschrift American Museum in einem 15  Ibd., 16  Ibd.,

146. 145.

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Beitrag »Zur Wertigkeit des Ruhms« zwei Fragen: wie lange dauert es, bis sich ein Werk und dessen Ruhm als haltbar erweisen würden? Und wie lange kann sich Ruhm halten? Panegyrik, so das Museum, würde wohl etwa eine Stunde halten: »ihr Verderblichkeit gibt ihr diese kurze Spanne: man kann sie nicht lange aufheben, bevor sie gegessen werden muss«.17 Dem Museum war hier schon klar, dass sich Panegyrik in der zunehmend säkularen und demokratischen Gesellschaft nicht über den Moment hinaus würde halten können, dass ihre überbordenden Lobpreisung weder dem historischen Verdikt noch dem egalitäreren Grundgedanken der Republik würde entsprechen können. In der Folge der biographischen Revolution, die mit Samuel Johnson einherging, erkannte das Museum die Notwendigkeit, die genaue Charakterdarstellung dem »fulsome and unmerited panegyric« vorzuziehen.18 Dwight und dem Museum zum Trotze blieb die Biographie der frühen Republik dem Inhalt der Panegyrik verbunden, auch wenn der Begriff selbst sich weiterhin mit einem Stigma verband. So formulierte ein Leser des New-Hampshire Spy 1787 zwar vorsichtig, er würde sich mit seinem Nachruf auf John Wentworth der »Spezies dieser sklavischen Handelsware«, also der Panegyrik, annähern, erkannte dann aber gleichzeitig in Wentworth »heldenhafte Tapferkeit« und verweigerte sich jeglicher Kritik.19 Im selben Jahr erkannte der Pennsylvania Mercury, dass »Zeitungspanegyrik« in »allen Ländern viel zu häufig« sei, man aber in diesem speziellen Fall die panegyrische Anerkennung der verstorbenen jungen Dame nicht verweigern könne, so sehr habe ihr religiöser Eifer beeindruckt.20 Diese expliziten Äußerungen zum Thema waren sich des Konflikts zwischen dem gestiegenen kritischen Anspruch an die Biographik und ihrem eigenen Wunsch, zum einen niemandem zu nahe zu treten und zum anderen bedeutende Amerikaner nicht mit ambivalenten Lobreden zu belasten, durchaus bewusst. Implizit blieb das Prinzip der Panegyrik, das Loben des ‚virtuous life‘, im andauernden Lob der Zeitschriften für die Biographik Roms, speziell Plutarch und Tacitus. 1808 lobte die Monthly Anthology Tacitus‘ Biographie des Agricola, die sie John Marshall als Modell für seine Biographie von George Washington empfahl. Die Monthly Anthology hob dabei klar darauf ab, dass sich Tacitus nicht auf Fragen von Agricolas Privatleben eingelassen habe, 17  »On the Scale of Fame«, American Museum, or, Universal Magazine. Mai 1791, 274–276, hier 276. 18  »Eulogium on Benjamin Franklin, LL.D. &c &c«, The Universal Asylum and Columbian Magazine.  Mai 1790, 322–326, hier 323. 19  »Portsmouth, Jan. 19. [Obituary of John Wentworth]«, New-Hampshire Spy 1 (26). 19.  Januar, 1787. 102. 20  »Mortuary Notice«, Pennsylvania Mercury and Universal Advertiser 143. 11.  Mai 1787, [3].



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sondern eine klare Geschichte eines Lebens dargestellt, gerade weil es nichts Wichtiges aus Agricolas Leben außerhalb seiner militärischen Erfolge zu berichten gäbe.21 Für die Zeitschriften der frühen Republik war das Horaz’sche Diktum des utile dulci, also des Nützlichen und Angenehmen, des, wie es die Zeitschriften formulierten, ›entertaining and useful‹ ihre zentrale Eigenschaft. Auch der Biographie wurde eine solche Rolle zugedacht; so formulierte das Universal Asylum 1790 in einer Biographie Benjamin Franklins: »Die Leben der meisten Menschen bieten etwas amüsantes; und die Geschichte ihrer Laster und ihrer Tugenden, und deren Folgen, regen uns an, das eine zu vermeiden und das andere nachzuahmen«.22 Sowohl positive als auch negative Beispiele konnten diesen Anspruch erfüllen, wie das Asylum ein Jahr später ausführte; hier lag ein weiterer Punkt der Abkehr von der Panegyrik, die sich alleine Vorbildern annehmen konnte. Gleichzeitig bestand jedoch Uneinigkeit darüber, welche Aspekte des Lebens anderer nützlicherweise nacherzählt werden sollten. Die Monthly Anthology befand klar, dass sich nur »jene Charakterzüge« eigneten, die den Biographierten von »gewöhnlichen Männern« unterschieden. Wie das Magazin schnippisch bemerkte, hat »außer James Boswell […] wohl nie jemand daran gezweifelt, dass Johnson aß, trank, und schlief, wie gewöhnliche Männer auch«.23 In der Tat waren Satiren über Boswells doch oft sehr detaillierten Stil häufig, und die Beschwerden über Johnsonsche Biographik, die sich allzu oft in den Details verliere, ohne dabei das Wesentliche wirklich zu beschreiben, häuften sich ebenfalls. Der Krieg von 1812 zeigte dann die Reichweite des Wandels im biographischen Duktus. Hatte man sich der Offiziere der Revolution noch weitgehend im panegyrischen Modus erinnert, so verstanden die Zeitschriften während des Krieges von 1812, ihre Biographien viel deutlicher abzuheben von bloßen Lobpreisungen. 1813 schrieb Washington Irving in einer Biographie des Marineoffiziers Oliver Hazard Perry vorsichtig, es gäbe klar einen Punkt, »über welchen hinaus Jubel Beleidigung wird, und ehrlicher Stolz zu Einbildung erwächst«.24 In seinen Biographien, die alle implizit oder explizit der Preisung der Erfolge amerikanischer Marinehelden gewidmet waren, stellte Irving auch seine Abneigung gegen die Panegyrik klar: »Wir sind 21  Vgl. »Art. 13 [Review of The Life of George Washington.]«, The Monthly Anthology and Boston Review.  Mai 1808, 259–267. 22  »History of the Life and Character of Benjamin Franklin, LL.D. &c. &c. &c.«, The Universal Asylum and Columbian Magazine.  Mai 1790, 268–272, hier 268. 23  »R.«, »On Taste.«, The Monthly Anthology, and Boston Review. August 1808, 410–416, hier 413. 24  Washington Irving, »Biographical Memoir of Commodore Perry«, The Analectic Magazine. December 1813, 494–510, hier 487.

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dem Heldenmut der Feder und den Siegen des Tintenfasses überdrüssig«25 – das Ziel der Biographik müsse sein, »mit Gefühl, aber gemäßigt« über die Biographierten zu schreiben. Bedeutender vielleicht noch als die Tatsache, dass man sich zurückhaltender über seine Zeitgenossen äußerte, war die Vorsicht, mit der die Autoren abwogen, wie viel Lob sie aussprechen sollten. Für Washington Irving war dabei entscheidend, sich nicht zu »einer Eloge hinreißen zu lassen welche, wie ernstgemeint auch immer zu ihrer Zeit, von unaufgeregten Auge späterer Jahre als extravagant und übertrieben empfunden wird«.26 Irving griff hier implizit die Wertung der Panegyrik als extrem vergängliche Ware auf, deren Haltbarkeit sich nur durch eine ehrliche Bestandsaufnahme aller Charaktereigenschaften verlängern ließe. Dass selbst die nationalen Helden des Krieges von 1812 weder inhaltlich panegyrisch beschrieben wurden, noch die Forderung nach solchen Texten aufkam, spricht für den Verfall des panegyrischen Genres seit 1700. Die Überhöhung einzelner Männer trat zurück gegenüber der Überhöhung der Nation, und, etwas später, gegenüber der differenzierten Biographik, die versuchte, gerade Fehlerhaftigkeit als Erziehungsmittel zu sehen. Vielleicht das letzte Kompendium, in welchem die Panegyrik noch eine Hochzeit erlebte, war Joseph Delaplaines Repository of the Lives of Distinguished Americans, erschienen ab 1816. Der Autor der Biographien darin war Charles Caldwell, dessen Duktus in der Tat keinen Zweifel daran ließ, dass seine Objekte fast fehlerfrei waren. Die Rezensionen waren der Abwertung der Panegyrik in dieser Zeit entsprechend kritisch: für das Analectic Magazine kritisierte Ezekiel Sanford, »wenn der Autor zu allen Gelegenheiten den Superlativ verwendet, seien sie nun trivial oder wichtig, hätte er wissen können, dass sein Lob, wie alles andere, durch seine Häufigkeit billig wird«.27 Sanford führt an, dass Caldwell einmal George Washingtons Rückzug aus New York dem militärischen Sachverstand des Generals zuschreibt, wobei ihm der Nebel natürlich geholfen habe, und auf der anderen Seite meint, der General hätte mit Sicherheit auch bei der Schlacht von Trenton gesiegt, wäre es nicht neblig gewesen.28 Auch das Portico konnte sich eine Kritik nicht versagen: Mit beißendem Sarkasmus meinte ein Rezensent, bezugnehmend auf die als unglücklich empfundene Biographie eines noch lebenden Mannes: »Es mag manchmal einem guten Zwecke dienen, sich Panegyriken der Lebenden hinzugeben, welche, indem man sie die 25  Ibd.,

499.

Irving, »Biography of Captain James Lawrence«, The Analectic Magazine. August 1813, 122–143. 27  Ezekiel Sanford, »[Review of] A Repository of the Lives and Portraits of Distinguished Americans«, The Analectic Magazine.  September 1816, 193–210, hier 203. 28  Vgl. ibd. 202. 26  Washington



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Unterschiede zwischen ihren eigentlichen Verdiensten und dem von ihnen gezeichneten Bilde sehen macht, ihr zukünftiges Verhalten nach jenem Maßstab auszurichten, welcher der Panegyriker errichtet hat«.29 War man hundert Jahre zuvor noch der Ansicht, der natürliche Nutzen und die Daseinsberechtigung der Panegyrik lägen darin, die Nachwelt zu besserem Verhalten zu erziehen, ironisierte die Kritik hier genau diesen Anspruch: nicht die Nachwelt lässt sich durch Panegyrik erziehen, vielmehr mag es dem hoffentlich beschämten Subjekt der Panegyrik erscheinen, als müsse es dem übermäßigen Lob entsprechen, indem es sich verhält, wie die Panegyrik es – irrtümlich – schon für gegeben hält. Das lobende Erziehen hat in der frühen Republik die Panegyrik, trotz der immer wiederkehrenden Versuchung durch das Streben nach der Förderung einer nationalen Identität, hinter sich gelassen. An ihre Stelle tritt die Johnsonsche Biographik mit der Bereitschaft, auch aus schlechten Vorbildern und aus dem Alltäglichen wertvolle Anleitung für das Leben der späteren Generationen zu ziehen. Die Panegyrik trat als Gattung und primärer biographischer Duktus zu einem Zeitpunkt endgültig in den Hintergrund, wo man es vielleicht nicht erwartet hätte, nämlich während eines Krieges, der ohne weiteres der nationalistischen Überhöhung des Einzelnen hätte dienen können. Doch der Republik war die Panegyrik, könnte man vielleicht sagen, etwas unheimlich: sie passte nicht in das demokratische Grundverständnis, welches sich im zunehmenden Aufstieg der demokratischen Partei widerspiegelte und schließlich mit der Wahl Andrew Jacksons 1828 einen symbolischen Höhepunkt erreichte. 140 Jahre Geschichte amerikanischer Biographik sind somit zu einem Gutteil auch die Geschichte vom Abstieg des Erziehens der Leserschaft durch die Lobpreisung Verstorbener, hin zu einem differenzierteren Blick auf eine Vielzahl von Personen, die der Bildung und Erziehung einer demokratischen, republikanischen Bürgerschaft dienen konnte.

29  »A.«, »[Review of] Delaplaine’s Repository of the Lives and Portraits of distinguished Americans«, The Portico, a Repository of Science & Literature. 2 (5) (1815), 282–293, hier 286.

»Singt unserm großen Kaiser Ehre!«1 Herrscherlob und Herrschaftsverständnis in der Petersburger deutschen Gelegenheitsdichtung des 19. Jahrhunderts Von Ljuba Kirjuchina Am 4.  April 1867 versammelten sich die Mitglieder der Petersburger deutschen Handwerkervereinigung Zur Palme im blumengeschmückten Vereinssaal, um – wie das Palmblatt berichtet:2 »des Tages in dankbarem Gemüte zu gedenken, an dem Gottes Vaterhand so vor aller Welt sichtbarlich unseren geliebten Kaiser und Landesvater beschützt«.3 Der Vereinschor sang den Choral Nun danket alle Gott, und Pastor Marpurg hielt eine Festrede, in der er das Attentat auf Alexander II. (1818–1881) verurteilte,4 Gottes Wirken im Leben der russischen Herrscher pries und für die »Palmisten« dem Kaiser die Treue schwor. Zum Schluss forderte er die Ver1  Matthias Weithoffer, Die Freude der achtbaren Bürgergesellschaft bei den glorreichen Siegen Rußlands während des jetzigen Krieges, schilderte durch dieses Neujahrslied theilnehmend und ehrfurchtsvoll derselben treuergebener Schweitzer, Matthias Weithoffer, St. Petersburg 1814. 2  Der deutsche Verein Zur Palme wurde 1862 als wirtschaftliche Interessenvertretung der deutschen Handwerker sowie als Selbsthilfeorganisation in St. Petersburg gegründet. Bald avancierte er zu einem Ort, an dem Literatur in deutscher Sprache geschrieben und vorgetragen wurde. Eine wichtige Rolle im kulturellen und literarischen Leben des Vereins spielte die zwischen 1866 und1868 herausgegebene Wochenschrift Palmblatt (vgl. Ljuba Kirjuchina, Petersburger Mythos und Alltag. Deutsches literarisches Leben in St. Petersburg [1703–1917], Frankfurt am Main 2011, S. 323–330). 3  Palmblatt, Wochenschrift für die Interessen der Handwerker, herausgegeben vom Direktorium der »Palme«, Redakteur R. Schneider, St. Peterburg 1867, S. 133– 136. 4  Am 4.  April 1866 verübte Dimitrij Karakozov, Mitglied einer revolutionären Geheimorganisation, einen Anschlag auf Kaiser Alexander II. Der Anschlag wurde durch den Bauern Osip Komisarov verhindert, löste aber eingehende Untersuchungen aus, auf die eine Verschärfung der Zensur und die Kontrolle über alle möglichen Vereinigungen in Russland folgte (vgl. Heinz-Dietrich Löwe, »Alexander II. 1815– 1881.«, Die russischen Zaren 1547–1917, hg. Hans-Joachim Torke, München 1995, S. 315–338). Die feierliche Versammlung der Vereinsmitglieder samt Loyalitätsbekundung war also auch eine politische Maßnahme, die die Fortexistenz des Vereins sichern sollte.

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sammlung auf, sich von den Plätzen zu erheben und auf den Kaiser ein Hoch auszubringen. »Und in dieses dreimalige Hoch« – so das Palmblatt  – »stimmte mit begeisterter Seele die ganze Versammlung mit ein, der Sängerchor aber ließ die mächtigen Töne der Nationalhymne durch den Saal rauschen. Darauf trug Hr. R. Schneider ein von ihm verfasstes Gedicht, unsern geliebten Kaiser als den Wohltäter des Landes preisend vor, dessen Schlussverse [lauten]: D’rum, sei die Sprach’ verschieden, Die Dich, großer Kaiser, preis’t, Alle Seelen doch durchdringet Immer nur der eine Geist, Der aus tiefstem Herzensgrunde Jubelt in die Welt hinaus: Gottes Segen unserm Kaiser! Segen unserm Kaiserhaus!

[Diese Schlussverse wurden] mit unendlichem Jubel aufgenommen, in den hinein noch einmal die Volkshymne tönte«.5 Eine solche Veranstaltung zu Ehren eines russischen Herrschers war im kulturellen Leben der Petersburger deutschen Vereine keine Ausnahme. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb die Huldigung der Herrscher ein konstanter Bestandteil von feierlichen Versammlungen deutscher Institutionen und Vereinigungen in der russischen Hauptstadt. Segenswünsche und Treuebezeugungen sollten vor allem die Gunst des Kaiserhauses erringen und das Weiterbestehen der jeweiligen Institution sichern. Die Bestätigung der bestehenden Herrschaftsordnung und des mit ihr verbundenen Wertekanons durch Lob in der Casualpoesie ging auf die Huldigungstradition zurück, die im 18. Jahrhundert von deutschen Dichtern am russischen Zarenhof gelegt wurde.6 Zwar verlor die Huldigungsdichtung in Russland im 19. Jahrhundert ihre exklusive Stellung am Hof, fand jedoch im Gegensatz zur Literatur in russischer Sprache einen neuen Existenzraum im literarischen Leben der Petersburger Deutschen. Das Herrscherlob in Form 5  Palmblatt,

135–136. die eigentlich ersten Hofdichter traten am Hof der Zarin Anna Ioannovna (1730–1740) deutsche Professoren der Petersburger Akademie der Wissenschaften auf, deren Oden von russischen Dichtern ins Russische übersetzt wurden. Diese Übersetzungstätigkeit stellte eine wichtige Grundlage und Voraussetzung für die Entstehung der russischen Odenpoesie dar. Neben der französischen Ode wirkte die deutsche als ein normatives Modell für die Entwicklung der russischen Odendichtung (vgl. L. Pumpjanskij, »Lomonosov i nemeckaja škola razuma«, Russkaja literatura XVIII – načala XIX veka v obščestvenno-kul’turnom kontekste, Bd. 14 (1983), 3–44; G.S. Smith, »The Most Promoximate West: Russian Poets and the German Academicians 1728–41«, Russia and the World of the eighteenth Century, hg. R. P. Barlett, Ohio 1988, 360–370). 6  Als



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von Gelegenheitsgedichten avancierte zum besonderen Kommunikationsmittel der Untertanen mit ihrem jeweiligen Monarchen und galt als eine Untertanenpflicht, die zu erfüllen im 19. Jahrhundert die verschiedenen sozialen Schichten der Petersburger Deutschen sich anschickten. Neben den deutschen Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften, Professoren und Lehrern taten dies Schauspieler und Pastoren, Staatsbeamte, Militärangehörige, Ärzte, Diplomaten und Reisende, man kennt aber auch Handwerker und Schüler als Autoren von Lobgedichten. Kaiserliche Geburts- oder Namenstage, Jubiläen oder Siegesfeste, Krönungs- oder Todestage der Herrscher waren beliebte Anlässe, den jeweiligen Herrscher in Oden, Hymnen oder Liedern zu ehren. Diese Huldigungstexte wurden im ritualisierten Rahmen der Festveranstaltungen an Petersburger deutschen Einrichtungen vorgetragen, in Zeitungen, Sammelbänden oder im Sonderdruck veröffentlicht oder in einem individuell und sehr aufwändig gestaltetem Buchcover dem jeweiligen Herrscher als Geschenk übergeben.7 Im Vergleich zum 18. Jahrhundert nahm die Zahl von Autoren, die als Huldigungsdichter wirkten, vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich zu, sodass es legitim erscheint, von einer »Petersburger deutschen Panegyrik« zu sprechen.8 I. Sozial-politische Rahmenbedingungen für das Bestehen der deutschen Huldigungsdichtung in St. Petersburg Das Bestehen einer fast zwei Jahrhunderte umfassenden Tradition der deutschsprachigen Huldigungsdichtung in St. Petersburg lässt sich durch den besonderen Status dieser Bevölkerungsgruppe erklären.9 Die Mitwir7  Solche als persönliche Geschenke angefertigten Exemplare von Gelegenheitsgedichten wurden in verschiedenen Privatbibliotheken der Zarenfamilie aufbewahrt. Da diese Bibliotheken im Laufe der letzten Jahrhunderte verkauft, verschenkt oder mit anderen z. T. öffentlichen Büchersammlungen zusammengelegt wurden, lässt sich der Textkorpus der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung nicht vollständig erfassen. 8  Während der Recherchen zur deutschen Literatur in St. Petersburg ist es gelungen, zahlreiche deutschsprachige Gelegenheitsgedichte an die russischen Herrscher zu sammeln und zu systematisieren. Eine kommentierte Anthologie der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung im 18. und 19. Jahrhundert wird z. Z. von der Verfasserin zur Veröffentlichung vorbereitet. Sie erscheint voraussichtlich 2014 als dritter Band der Potsdamer Publikationsreihe Kulturen und Literaturen europäischer Re­ gionen. Kulturen unterwegs. Deutsche in St. Petersburg, die von Norbert Franz herausgegeben wird. 9  Die Geschichte der Deutschen in St. Petersburg wurde vom internationalen Seminar Deutsche in Russland: russisch-deutsche wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen an der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg systematisch aufgearbeitet. Das seit 1990 unter der Leitung von Frau Dr. Galina Sma-

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kung ausländischer und vor allem deutscher Fachleute am Aufbau der zweiten russischen Hauptstadt und an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes insgesamt entsprach den strategischen Interessen der russischen Herrscher. Deshalb waren die Deutschen seit der Gründung St. Petersburgs 1703 willkommene Gäste nicht nur in der Stadt sondern auch im ganzen Russischen Reich. Darüber schrieb 1831 der Petersburger Arzt und Dichter Friedrich Hinze: Russland […] stellt vertrauensvoll unsere Staatsmänner und Krieger in die Reihen der seinigen, setzt unsern Weisen und Denkern Lehrstühle, begünstigt unsern Handelsstand, belohnt, ermuntert unsere Künstler, und öffnet selbst dem betriebsamen Landmann […] seine gesegneten Fluren!10

Die Zahl der deutschen Bewohner von St. Petersburg stieg kontinuierlich an und erreichte 1881 mit acht Prozent (48.700) den Höchststand.11 Zu der nicht homogenen Gruppe der Petersburger Deutschen gehörten als gehobene Bildungsschicht neben den eingeheirateten (meist protestantischen) Prinzessinnen und ihrem umfangreichen deutschen Hofstaat, auch die aus den Ostseeprovinzen zugezogenen Deutschen adliger Abstammung.12 Auch Teile der hohen Beamtenschaft und des Militärs kann man dazu zählen. Im letzten Herrschaftsjahrzehnt Alexanders I. (1777–1825) und in der Regierungszeit Nikolaus’ I. (1796–1855) war die Zahl der deutschstämmigen Eliten am Hof und im Militär besonders groß.13 Diese Positionen waren mit einem nicht geringen Einkommen verbunden. Der Schriftsteller Treumund Welp, der die russische Hauptstadt in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts besuchte, vermerkte diesbezüglich in seinen Reiseerinnerungen: »Die Gehalte, welche vom Staate gezahlt werden, sind namentlich in Bezug auf die Verhältnisse der Hauptstadt nichts weniger als glänzend zu nennen«.14 Auch gina bestehende Seminar führte 15 internationale Konferenzen durch und veröffentlichte einzelne Konferenzbeiträge in der Reihe von Sammelbänden Nemcy v Rossii (Deutsche in Russland). 10  C[arl] Hinze, »Ein Wort der Sammler an ihre Leser«, ders., Magazin für Belehrung und angenehme Unterhaltung für deutsche Leser in Russland, 1. Jg., Nr. 1, St. Petersburg 1831, 1–4. 11  Peter Koeppen, Über die Deutschen in St. Petersburger Gouvernement, St. Petersburg 1850; Andreas Keller, Das Deutsche Theater und die Entwicklung der deutschen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert, Freiburg 1995. (Internet-Fassung der Magisterarbeit: http /  / www.hausarbeiten.de / faecher / vorschau / 216.html). 12  Aleksandra Semenova, »Russko-nemeckie dinastičeskie svjazi«, Nemcy v Rossii: Istoriko-dokumental’noe izdanie, hg. Galina Smagina, St. Petersburg 2004, 12– 37. 13  Natalija Juchnjeva, »Ėtničeskije gruppy i ich obščinnaja žizn’ v starom Peterburge«, Mnogonacional’nyj Petersburg. Istorija, religija, narody, St. Petersburg 2002, S.  84 ff. 14  Treumund Welp, Petersburger Skizzen, Bd. I. und II., Leipzig 1842, 200.



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die sogenannten Reichsdeutschen, die nur zeitweise in der Hauptstadt als Gelehrte, Ärzte und Unternehmer wirkten, fanden dort bessere Karrierechancen als in ihrer Heimat. Nach dem Studium in Deutschland kamen sie in die russische Hauptstadt und begannen ihren Weg in die höhere gesellschaftliche Position mit einer Tätigkeit in aristokratischen Häusern. Mit dem Ruf an die Akademie der Wissenschaften bzw. an die Universität oder mit einer Anstellung im medizinischen Dienst erlangten viele den Titel nadvornyj sovetnik (Hofrat) oder statskij sovetnik (Staatsrat)15, was ihnen bedeutende materielle und gesellschaftliche Vorteile einbrachte.16 Das besondere Vertrauen der Zaren zu den Deutschen führt Hinze darauf zurück, dass das russische »Regentenhaus durch Bande des Bluts den Fürsten des [deutschen] Volks verwandt« war.17 In der Wahrnehmung der russischen Zeitgenossen galten aber vor allem die deutschen Bäcker, Uhrmachermeister und Schuster als die Deutschen.18 Die Handwerkerberufe und kaufmännische Tätigkeiten ermöglichten den Deutschen in St. Petersburg einen schnellen gesellschaftlichen Aufstieg und wirtschaftliche Erfolge. Treumund Welp berichtete darüber: »Gevatter Handwerker verdient in St.  Petersburg Geld. […] Meister und Gesellen [arbeiten] für ziemlich hohen Lohn, der leicht das Doppelte, ja oft Dreifache von dem betragen kann, womit man in Deutschland die Arbeit bezahlt«.19 Auch der durchaus kritische Russlandbeobachter Johann Georg Kohl meinte über die Aufstiegschancen seiner Landsleute: »Es gibt in Petersburg Tischler, die sich Millionen zusammenhobelten, Schneider, die sich Paläste zusammennähten, Klaviermacher, die ihre Töchter an russische Gardeoffiziere verheirateten, und Schuster, deren Luxus den Neid mancher deutschen Barone erregen könnte«.20 Neben den ökonomischen Vorteilen erwähnen vielen deutsche Reiseschriftsteller das besondere Ansehen der Deutschen in der russischen Hauptstadt. Hermann Wimmer sah einen Nachweis für die hohe Wertschätzung der Deutschen vor allem in der Bereitschaft der russischen Aristokraten, »lieber einen [deutschen] Schuhmacher, als einen inlän15  Die siebt- oder fünfthöchste Stufe der 14-stufigen von Peter I. eingeführten Rängetabelle. 16  Trude Maurer, Hochschullehrer im Zarenreich: ein Beitrag zur russischen Sozial- und Bildungsgeschichte, Köln 1998. 17  Hinze, Ein Wort der Sammler an ihre Leser, S. 5. 18  Lew Kopelev, »Deutsch-russische Wahlverwandtschaft«, Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zur Reformen Alexanders II., hg. Dagmar Hermann und Alexander L. Ospovat, München, 1998, 16. 19  Welp, Petersburger Skizzen, 188–190. 20  Johann Georg Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, 2 Teile, Dresden und Leipzig 1841, 229.

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dischen Professor zum Schwiegersohn« zu nehmen.21 Und Treumund Welp stellte fest: »Eigenthümlich ist auch die Neigung von Nationalrussen in Petersburg, sich deutsche Frauen zu wählen. Vielfach hörte ich die Versicherung, ›nur einer Deutschen könne man sein Hauswesen zur Verwaltung anvertrauen!‹ «.22 Die privilegierte Position der Petersburger Deutschen wurde auch dadurch gestärkt, dass bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die ethnische und konfes­ sionelle Zugehörigkeit bei der Anstellung in der Staatsverwaltung keine Rolle spielte. Nicht einmal das Beherrschen der russischen Sprache war erforderlich. Deutsche Kirchen und Bildungseinrichtungen, Bibliotheken und Vereine, Buchhandlungen, Zeitungen und Zeitschriften, gastronomische Einrichtungen und nicht zuletzt das deutsche Hoftheater ermöglichten den Vertretern der deutschen Minderheit, ihre eigene Sprache und Kultur auch im Alltag zu pflegen. In einem 1886 in Berlin anonym veröffentlichten Aufsatz hieß es: »Gibt es doch in ganz Europa keine zweite nichtrussische Stadt, in welcher das deutsche Element eine so fest gefügte, allen Kulturbedürfnissen und Genüssen Rechnung tragende Organisation besäße, wie gerade St. Petersburg«.23 Der gehobene ökonomische und soziale Status der Deutschen in St. Petersburg liefert eine plausible Erklärung für die besondere Loyalität der Minoritätszugehörigen gegenüber dem russischen Staat und dem Herrscherhaus. Die deutschstämmigen Minister, Offiziere und Beamte gehörten zu den treusten Untertanen und festesten Stützen des Zarenhauses.24 Selbst die deutschen Pastoren waren »zuerst Diener des Kaisers und nebenbei sodann Diener ihres Gottes«.25 Die besondere Beziehung der Petersburger Deutschen zum russischen Herrscherhaus fand in zahlreichen Huldigungsgedichten ihren Ausdruck. II. Charakteristik der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung Die Petersburger deutsche Huldigungsdichtung des 19. Jahrhunderts ist ausschließlich eine Casualpoesie, die die bestehende Herrschaftsordnung durch Lob bestätigt. Die Texte entsprechen im Wesentlichen den gattungsspezifischen Konventionen und sind nach stereotypen Gliederungsmustern aufgebaut. Die Sprache dieser Dichtung ist durch die phrasenhaften casual21  Hermann Wimmer, Die Deutschen in Russland. Eine patriotische Zeitskizze, Leipzig 1847, 94. 22  Welp, Petersburger Skizzen, 173–174. 23  O. Nemo, »Das Deutschtum in St. Petersburg«, Deutsches Leben Da und Dort (Zehnpfennig-Bibliothek). Nr. 4 (Berlin 1886), 28–29. 24  Kopelev, »Deutsch-russische Wahlverwandtschaft«, 65. 25  Welp, Petersburger Skizzen, 177.



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poetischen Formeln geprägt, die Freude bzw. Trauer, Lobpreis, Ermahnung, Treueversicherung und Dienstanbietung zum Ausdruck bringen. Als Anlässe wählten die Dichter häufig besondere zeitgenössische Ereignisse, die die Konstruktion eines positiven Herrscherbildes ermöglichten: Man machte militärische oder wirtschaftliche Erfolge zum Thema, aber auch politische Entscheidungen, die ein Regent traf und die für eine der Petersburger deutschen Einrichtungen von Belang war. In jedem Fall wurde dabei immer ein äußerst positives Russlandbild entworfen. Das Huldigungsgedicht zeichnete die Herrscher nicht als individuelle Charaktere, es entwarf vielmehr einen Idealtyp des Regenten, und die Herrschertugenden wurden mit Hilfe bekannter und kanonisierter Taten aus der antiken Mythologie, der biblischen Überlieferungen und der Geschichte dargestellt. Die Eigenschaften der historischen Helden wurden häufig auf den zu huldigenden Monarchen übertragen. Das Inventar war so wenig spezifisch, dass ein und dasselbe Lobgedicht gleich mehreren Herrschern gelten konnte. So widmete z. B. Pfarrer Friedrich Seider26 Alexander I. anlässlich des Krönungstages eine Ode, die er – mutatis mutandis – acht Jahre zuvor schon einmal an Katharina II. gerichtet hatte. Die leichten Veränderungen betrafen im Wesentlichen genderspezifische Bezeichnungen, statt »Mutter des Vaterlandes« hieß es nun »Vater des Vaterlandes« usw.27 Auch Friedrich Hinze veröffentlichte anlässlich des Todes Nikolaus’ I. eine Elegie, für die er mehr als die Hälfte der Verse wortgetreu seinem Trauergedicht auf Alexander I. entnommen hatte.28 Diese beiden Beispiele veran26  Biographische Angaben zu den hier und weiter erwähnten Petersburger deutschen Dichtern finden sich in der elektronischen Datenbank der Verfasserin »Deutsches literarisches Leben in St. Petersburg (1703–1917)« unter: http: /  / www.slavistik. uni-potsdam.de / petersburg / frameset.html. Die Datenbank bietet Recherchemöglichkeiten zu Leben und Werk der von 1703 bis 1917 in St. Petersburg wirkenden deutschsprachigen AutorInnen. Die Datenbank versucht, der Einbindung der literarischen Produktion in den Zusammenhang des Alltagslebens dadurch Rechnung zu tragen, dass sowohl biographische also auch bibliographische Daten aufgenommen wurden. Die Strukturierung erlaubt die Suche nach literarischen Werken, professionellen Kontakten der Autoren, kulturellen Aktivitäten bestimmter Berufsgruppen, sozialen Konstellationen etc. 27  Friedrich Seider, Ode bey der glorreichen Wiederherstellungsfeier des Friedens mit der Ottomanischen Pforte, Ihro Majestät der Unsterblichen Catharina der Zweiten, Kayserin und Selbstherrscherin aller Reußen, Handschriftlich hinzugefügt: von dem unglücklichen Pastor F. S. Seider allerunterthänigst zugeeignet. Im Jahr 1793, o. O; Friedrich Seider, Der Kayserkrone Seiner Majestät Alexander des Ersten, Kaysers und Selbstherrschers aller Reussen etc. etc. etc in tiefster Ehrfurcht geweiht von Friedrich Seider, Moskau 1801. 28  Friedrich Hinze, Russlands Trauer: Ein allegorisches Gedicht auf den Tod des Kaisers Alexander I., St. Petersburg 1826; Friedrich Hinze, Das weinende Russland: Allegorisches Gedicht, St. Petersburg 1855.

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schaulichen die generelle Tendenz der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung zu einem redundanten System. Obwohl der überwiegende Teil der Gedichte hohen ästhetischen Anforderungen nicht standhält, da sich die preisende Darstellung der Herrscher lediglich der bereits habitualisierten Motive und Sprachschablonen bedient, erfüllt die Petersburger deutsche Huldigungsdichtung neben ihrer primären Intention, dem jeweiligen kaiserlichen Adressaten Hochachtung und Untergebenheit zu zollen, noch weitere kulturhistorisch relevante Funktionen. Als Casualdichtung verkörpert das Herrscherlob z. B. auch »eine Form des kulturellen Gedächtnisses«.29 Indem die Huldigungsdichtung die Werke und die Tugenden der Herrscher hochgradig idealisierend abbildet, sorgt sie nicht nur dafür, dass der Ruhm des jeweiligen Regenten verewigt wird, sondern auch dafür, dass die zeitgenössischen Wert- und Normvorstellungen im Bezug auf das Herrscherideal in der Erinnerung der Nachwelt erhalten bleiben. Der Schauspieler Johann Christoph Kaffka erhebt in seinem Lobgesang auf Alexander I. explizit den Anspruch, durch sein Werk ein »ehrenvolle[s] Denkmal« für den bewundernswerten Kaiser zu errichten.30 Als »literarisch geformte memoria« übermitteln die Texte die zeitgenössischen Vorstellungen vom idealen Throninhaber damit auch vom legitimen Herrscher.31 Sie ermöglichen Erkenntnisse über das spezifische Herrschaftsverständnis, aber auch über die Identität der Schreibenden. Dies soll im Weiteren untersucht werden. III. Herrschaftsverständnis in der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung des 19. Jahrhunderts In den deutschsprachigen Lobgedichten auf Alexander I., Nikolaus I. und Alexander II. wird das Wesen der russischen Monarchie als die Herrschaft verstanden, die Max Weber als die ›Chance‹ definiert, »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«.32 Dieser Herrschaftsbegriff unterscheidet sich grundsätzlich vom Machtbegriff dadurch, dass die Herrschaft auf der Gehorsamsbereitschaft der Be29  Stefanie Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm: Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof, Tübingen 2002, 9. 30  [Johann Christoph] Kaffka, Den Edlen in St. Petersburg weihet diese Blätter bey seiner Abreise der Schauspieler Kaffka, St. Petersburg 1801. 31  Kerstin Heldt, Der vollkommene Regent: Studien zur panegyrischen Casual­ lyrik am Beispiel des Dresdner Hofes August des Starken, Tübingen 1997, 19. 32  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, 28.



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herrschenden beruht, während die Macht »den eigenen Willen auch gegen Widerstreben« durchsetzt.33 Die Lobeshymnen der Petersburger deutschen Dichter bringen nicht nur den Gehorsam den Herrschern gegenüber zum Ausdruck, sie veranschaulichen auch den als Grundlage einer Herrschaft dienenden Legitimitätsglauben der Untertanen und die differenzierten »Motive der Fügsamkeit«, die nach Weber sowohl die Art der Herrschaft definieren als auch die notwendigen Voraussetzungen für die Stabilität der Herrschaft schaffen.34 Den Legitimitätsansprüchen der russischen Kaiser und ihren Anstrengungen, den Glauben an die Legitimität ihrer Herrschaft zu wecken und zu pflegen, begegnet die panegyrische Casualdichtung durch eine demonstrative Gehorsamsbereitschaft (bzw. das entschlossene Gehorchenwollen) der Untertanen. Während Max Weber von der Geschichte der Gesellschaften modellhaft drei reine Typen der legitimen Herrschaft ableitet und damit zwischen der legalen, traditionalen und charismatischen Herrschaft unterscheidet, weisen die in der deutschen Huldigungsdichtung entworfenen Gestalten von den drei im 19. Jahrhundert herrschenden Zaren verschiedene Kombinationen von Merkmalen aus dem Legitimitätskanon der Herrschaft auf. 1. Russische Zaren als Repräsentanten der ›legalen Herrschaft‹ Die in der Huldigungsdichtung reflektierte Wahrnehmung der russischen Monarchie zeugt vom festen Glauben an die Rechtmäßigkeit der bestehenden Herrschaftsordnung. Alle drei Zaren erscheinen als Herrscher, deren Legitimität keinerlei Nachweise bedarf. Sie besitzen nicht nur das durch die Geburt gesicherte Herrschaftsrecht, sie verkörpern in ihren Personen auch den Rechtssinn. Diese besondere Gabe befähigt die Zaren, die Rechtsordnung aufrechtzuerhalten. Von Alexander I. wird behauptet: »Dir sind heilig Menschenrechte«.35 Er erscheint als »Kaiser ›groß und mild‹, / so gnädig und gerecht«, wobei »Gerechtigkeit ist sein Gesetz, / Und nicht die Macht des Heers«.36 Gerecht werden alle Untertanen behandelt, ohne Ausnahme: 33  Ebd. 34  Ebd.

S.  122 ff. Zadig, An den Kaiser Alexander I. Von dem Arzt Zadig, St. Peters-

35  [Abraham]

burg 1802. 36  Johann Daniel Ernst Thoritz, Bey der frohen und beglückenden Zurückkunft Sr. Kaiserl. Majestät Alexander I. von der Armee in Seine Residenz in tiefster Ehrfurcht geweihet von Johann Daniel Ernst Thoritz (Prediger in Novgorod), St. Petersburg 1806.

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Selbst der Verwiesne, der Verbrechen büßt, Fühlt seine sanfte Richterhand […].37

Die Herrscher sorgen nicht nur für Recht und Ordnung, sondern auch für Gerechtigkeit. Sie wird vor allem durch die persönliche Barmherzigkeit des jeweiligen Herrschers hergestellt. So ragt Alexander I. besonders dadurch hervor, dass er »der Unschuld Rechte schützt«.38 Auch während der Regierungszeit Nikolaus’ I. erscheint Russland »als des Rechtes Hort […] / Den Wohlwollen und Milde schmücken«,39 denn der Kaiser ließe »Gnade […] vor Recht ergehen«40 und übe »mit hoher Segenshand / Recht und Tugend«.41 Auch zu seinem Sohn, Alexander II., spricht ein Untertan erwartungsvoll: Du liebest und ehrest Gott und Seine Rechte; Du liebst Gerechtigkeit […].42

Im Hinblick auf die Legitimität der Herrschaft geht es in den Texten kaum einmal um real bestehende juristische Regeln bzw. um eine für alle Mitglieder der Gesellschaft gültige säkulare Rechtsordnung. Unter Recht und Gesetz, die sowohl die Herrscher bei der Befehlsausübung als auch die Untertanen bei der Befehlsausführung befolgen, wird in den meisten Texten der sakrale, im russisch-orthodoxen Glauben begründete zakon (Gesetz) verstanden. Dieses auf Gottes Gnade beruhende Gesetz legitimiert die Herrschaft und verpflichtet den Herrscher zur Verantwortung für sein Reich vor Gott. Der Glaube an die von Gott gegebene Rechtsmäßigkeit der Herrschaft und an die Gerechtigkeit der Herrscher ist die Grundlage für Bereitschaft der Untertanen, die herrschende Ordnung kritiklos zu akzeptieren und ihren 37  J. C. Evert, Am Gedächtnisfeste der Thronbesteigung Seiner Kaiserlichen Majestät Alexander Pawlowitsch 1815, o. O. 1816. 38  Baron Hubertus von Harrer, Gesänge zur Feier des Namentages Seiner Majestät des Kaisers Alexander I. in der Freimaurerloge Peter zur Wahrheit, o. O. 1814. 39  Julie Charlotte von Uexküll, In Veranlassung der gottseligen Vollendung unseres erhabenen Gebieters des Selbstherrschers aller Reussen etc. etc. etc. Nicolai des Isten ruhmreichen Andenkens – und der Thronbesteigung des Durchlauchtigsten Sohnes Allerhöchst des Verewigten, unseres Allergnädigsten Monarchen Alexander des IIten., St. Petersburg 1857. 40  Heinrich Eduard Heinitz, Nachhall am Sarkophage Seiner Majestät des in Gott ruhenden Hochseligen Kaisers Nicolaj Pawlowitsch. Geboren am 25-ten Juni 1796, gestorben am 18-ten Februar 1855, St. Petersburg 1855. 41  [Ferdinand Hess], Zum Krönungsfeste Seiner Kaiserlichen Majestät Nikolai Pawlowitsch, Selbstherrscher aller Reussen und Ihrer Kaiserlichen Majestät Alexandra Feodorowna am 22sten August 1848 in tiefster Ehrfurcht dargebracht, St. Petersburg 1848. 42  Heinrich Eduard Heinitz, Fest-Gedicht zur Kaiser-Krönung Seiner Majestät, Unseres Erhabenen, Glorreichen Herrn und Kaisers Alexander Nikolajewitsch und Ihrer Hohen Kaiserin Maria Alexandrowna in Moskau. Verfasst von Heinrich Eduard Heinitz, Natur-Dichter, St. Petersburg 1856.



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Regeln bedingungslos zu folgen. Es ist eine quasireligiöse Überzeugung, die nicht in Zweckrationalität gründet, sondern in transzendenten Motiven. 2. ›Traditionale Herrschaft‹ der Romanov-Dynastie Die Lobgedichte heben besonders deutlich hervor, dass die bestehende Herrschaft nicht nur eine jahrhundertelange Tradition hat, sondern auch durch diese Tradition legitimiert ist. Die Rechtmäßigkeit der durch die Romanov-Dynastie vertretenen Herrschaft wird »auf Grund der Heiligkeit altüberkommener […] Ordnungen und Herrengewalten« anerkannt, wobei die Herrscher »kraft traditional überkommener Regel bestimmt« sind.43 Die Texte stellen die erbliche Nachfolge als ein signifikantes Merkmal der russischen Herrschaft dar, durch die die historische Kontinuität gesichert wird. Häufig verwenden sie die aufgehende Sonne als tradierte Metapher für die Beständigkeit der Monarchie. Die Herrschaftsübernahmen werden in der Huldigungsdichtung so dargestellt, als wären sie von den verdienstvollen Vorfahren aus dem Jenseits angeordnet, um ihr Werk zu vollenden. Die Odendichter lassen häufig die Vorfahren – meist Peter I. und Katharina II. – die Ermahnung bestimmter Herrscherpflichten aussprechen oder direkte Aufträge für die Gestaltung der Politik und Wirtschaft erteilen. Bei der Darstellung der lobenswerten Eigenschaften des jeweiligen Herrschers rücken die familiären Bezüge zu den verdienstvollen Vertretern der Dynastie in den Vordergrund. Daher tritt Alexander I. generell als Enkel der großen Katharina auf. Nikolaus I. ist in erster Linie der Bruder des Europa­ befreiers. Alexander II. wird als »des großen Nikolaus Sohn«, als »der heil’ge Spross der Rurikseiche«44 und als Nachfolger der anderen großen Regenten gefeiert: Der Kaiser ALEXANDER ist ein Antonin! Ist Titus uns! Und so wie PETER groß! An Milde Seinem Oheim ALEXANDER gleich; An Willenskraft dem weisen NIKOLAI, Den großen Vater sich zum Vorbild wählend, Wird Russland unter ALEXANDER glücklich sein.45

Der Bezug auf die Tradition verleiht der Autorität des Herrschers mehr Gewicht und stärkt die Hoffnung auf das Wohlergehen der Untertanen. Wirtschaft und Gesellschaft, S. 130. von Schleicher], Ode zur Krönungsfeier Ihrer Kaiserlichen Majestäten Alexanders II. Nikolajewitsch, Kaisers und Selbstherrschers aller Reussen, und Seiner Erhabenen Gemahlin, der Hohen Frau und Kaiserin, Maria Alexandrowna den 26. August 1856, St.  Petersburg 1856. 45  Heinitz, Fest-Gedicht zur Kaiser-Krönung Seiner Majestät. 43  Weber, 44  [Franz

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Selbst die herausragenden Eigenschaften eines Herrschers werden als eine vererbbare Begabung gewertet, die in der Tradition wurzelt. Zugleich zeigen die panegyrischen Casualgedichte der Petersburger Deutschen, dass die Herrschaftstradition auch hohe Anforderungen an die Mo­ narchen stellt. Durch die Tradition sind sie verpflichtet, den Tugenden ihrer Vorfahren zu entsprechen. Solche Erwartungen sind in den Texten nicht nur an den jeweiligen Herrscher gerichtet, sondern an das gesamte Herrscherhaus. So heißt Schneider die dänische Prinzessin Dagmar als Braut des Thronfolgers46 in Russland im Namen von Millionen ihrer zukünftigen Untertanen herzlichst willkommen, wünscht ihr Glück und Segen, empfiehlt aber dabei, an der gegenwärtigen Kaiserin Beispiel zu nehmen: Sei Ihr Ebenbild: Herzensgut und mild, Rings beglückend, segenspendend, Alles stets zum Besten wendend […].47

Ähnlich wie die Ermahnung an die Herrscherpflichten gilt häufig auch das Lob nicht jedem einzelnen Herrscher, sondern in seiner Person der gesamten Romanov-Dynastie. Ihre Gehorsamsbereitschaft begründen die Untertanen mit dem Alltagsglauben an die Heiligkeit der Tradition und der durch sie erkorenen Herrscher. Ihre Loyalität ist dabei wertrational, beruht faktisch jedoch unter anderem auf einer schlichten Gewöhnung. 3. Herrschertugenden als Merkmale der ›charismatischen Herrschaft‹ Der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung liegt die Auffassung zugrunde, dass die Herrscher außergewöhnliche Menschen mit hervorragenden Fähigkeiten seien. Alle drei Herrschergestalten weisen charismatische Züge auf, die durch Vergleiche mit Helden aus der Geschichte oder der antiken Mythologie verbildlicht werden. Alexander I. erscheint als »Jupiter […] in erborgter Hülle«48 und er habe »Herakles Muth«.49 Seine »Herrschers Kro46  Im Sommer 1864 wurde die dänische Prinzessin Dagmar (1847–1928) mit dem Großfürsten Nikolai, Sohn Alexanders II. von Russland, verlobt. Zur Hochzeit kam es jedoch nicht, da Nikolai erkrankte und im April 1865 in Nizza starb. Im Juni 1866 verlobte sie sich mit Nikolais jüngerem Bruder und neuem Thronfolger, Großfürsten Alexander, dem späteren Alexander III. von Russland (1857–1894). Nach der Konversion zum russisch-orthodoxen Glauben erhielt Prinzessin Dagmar den Namen »Marija« und russifizierte den Vatersnamen (»Tochter des Theodors«) in Fedorovna. 47  Schneider, »Willkommensode«, Palmblatt 1866, S. 321–322. 48  Friedrich Adelung, Lob des Caesars von Calpurnius. Alexandern dem Allgeliebten ehrfurchtsvoll gewidmet am 12 März 1802. Von Friedrich Adelung, St. Petersburg 1802, S. 6–7.



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ne« sei »geweiht zur Unsterblichkeit«.50 Adelung vergleicht die charismatische Wirkung Alexanders I. auf sein Reich mit der aufgehenden Sonne, die alles belebt und zum Wachstum anregt. Er bezeichnet den Herrscher wegen seiner besonderen Ausstrahlung als »Russlands beglückende Sonne« und wegen seines attraktiven Äußeren als einen »himmlischen Jüngling«.51 49

Auch Nikolaus I. werden in der Huldigungsdichtung besondere Fähigkeiten zugesprochen. Er sei im Stande, »Cyclopische Werke«52 zu besiegen. Neben seiner Größe als Herrscher besitze er auch ein »edles Herz« und ist fähig, allein durch seinen Blick Ruhe und Frieden zu stiften.53 Er ist der Herrscher, in dem sich das Heldenhafte mit Weisheit und Nächstenliebe auf ideale Weise verbindet: Kennst Du den Held? Der stets mit Manneskraft Das Gute fördert und das Edle schafft; Der kraftgestählt an hoher Weisheit reich.54

Alexander II. schließlich wird als »Abbild Gottes« gepriesen.55 Seine persönlichen Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und seine besondere Ausstrahlung erwecken die Begeisterung der Untertanen: […] Freundlichkeit, vermählt mit jener Würde, Die unverkennbar einen »Kaiser« zeigt, Lacht aus dem Antlitz des Gesegneten, Bezaubert das Herz.56

Solche besonderen Eigenschaften der Herrscher wie Weisheit, Frömmigkeit und Glaubenskraft, kriegerische Entschlossenheit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit legitimieren die in Oden vertretene Überzeugung vom Auserwähltsein der herrschenden Dynastie. Der jeweilige Herrscher wird als unmittelbar von Gott erkoren angesehen und seine Herrschaft als gottgewollt gedeutet. Alexander I. wird als »Himmelgeborener«57 und als »Junger Fürst […] mit Götterkuß«58 bezeichnet. Sein Zarenthron ist der »Sitz der Br Solvangen, Am 12 December 1815, o. O. 1815. Der Kayserkrone Seiner Majestät Alexander des Ersten, 1801. 51  Friedrich Adelung, Empfindungen am 12. März 1801, St. Petersburg 1801. 52  [(Christian) Friedrich Gräfe], Die Säule des Engels, den 30. August 1834, o. O. 1834. 53  P…s, K… von, Gedicht zur Krönung Sr. Majestät des Kaisers Nikolai des Ersten Selbstherrscher aller Reussen. Den 22ten August 1826, o. O. 1826. 54  Heinrich Eduard Heinitz, Vermischte Gedichte. I. Kennst du das Land?, St. Petersburg 1854. 55  Heinitz, Fest-Gedicht zur Kaiser-Krönung Seiner Majestät,1856. 56  Ebd. 57  Seider, Der Kayserkrone Seiner Majestät Alexander des Ersten, 1801. 58  Zadig, An den Kaiser Alexander I., 1802. 49  Zeno

50  Seider,

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Erdengötter«59 und seine Thronbesteigung wird grundsätzlich als göttliche Vorsehung betrachtet: Denn zum Beglücken schuf Dich der Gottheit Hauch, Asträa führt im Triumph Dich zum Thron hinauf; Minerva reichte Dir die Krone, Heil Dir und Jubel, o Alexander!60

Auch Nikolaus I. wird als »begeisterter Held« dargestellt, »dessen Gewalt ist von Gott«.61 Er wird auch als Gottes »Stell-Vertreter« hier auf Erden genannt.62 Am Beispiel der Choleraepidemie, die im Sommer 1831 in St. Petersburg ausbrach, zeigt Heinitz die besondere Rolle von Nikolai I. als Wundertäter, Retter und Tröster seines Volkes: Als die Cholera kam angezogen, Als verging der Mensch in Noth und Angst, Kamst Du wie ein Retter angeflogen, Selbst die Cholera zu flieh’n Du zwangst; ›Gott vertraut‹, sprachst Du zu Deinen Kindern, Denn des Volkes Vater warst ja Du! ›Gott vertraut!‹ Er wird den Jammer mindern, Und Dein Kaiser-Wort sprach Trost uns zu.63

Der Text vermittelt den Eindruck, dass die Epidemie allein durch die wundersame Wirkung des kaiserlichen Wortes beendet wurde. Seine Ermahnung an das Volk, auf Gott zu vertrauen, bewirkte Heilung und stellte die gestörte Ordnung wieder her. Alexander II. ist in erster Linie »ein brünst’ger, demutsvoller Beter« für sein Land und Volk und erst dann »Russlands hoher Zaar«.64 Er steht in einer besonderen Gunst des Schöpfers, so dass sich auf sein Gebet der Himmel öffnet und die Engel um den »Gottgesalbten« Monarchen schweben. Seine Krönungsfeier wird zu einem kollektiven transzendenten Erleben, in dem sich Himmel und Erde harmonisch vereinen. Die Beziehung der Untertanen zu einem solchen Herrscher wird von einer außergewöhnlichen Hingabe an die besonderen Fähigkeiten der Herrscherpersönlichkeit getragen. Die uneingeschränkte Treue der Untertanen zum charismatischen Herr59  Ebd.

Der Kayserkrone Seiner Majestät Alexander des Ersten, 1801. Friedrich Gräfe], Der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg bey ihrer ersten Säcular-Feier den XXIX. December MDCCCXXVI. Für wenige aus dem Griechischen übersetzt vom Verfasser [(Christian) Friedrich ­Gräfe], o. O. 1826. 62  Heinrich Eduard Heinitz, Vermischte Gedichte. V. Gebet, St. Petersburg 1854. 63  Heinitz, Nachhall am Sarkophage Seiner Majestät … 1855. 64  [Schleicher], Ode zur Krönungsfeier Ihrer Kaiserlichen Majestäten Alexanders II. Nikolajewitsch, 1856. 60  Seider,

61  [(Christian)



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scher wird nicht weiter begründet. Das Vertrauen in die besonderen Qualitäten des Herrschers beruht ausschließlich auf der Gemütsbewegung der Untergebenen und wird affektuell verursacht. 4. Der Zar als ›guter Hirte‹ Der Glaube an den göttlichen Ursprung der Romanov-Dynastie findet seinen Höhepunkt in den pastoralen Zügen der Herrscher. Die Herrschaft der russischen Zaren erscheint in der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung als eine ganz eigentümliche Form von Staatsgewalt, die Michel Foucault im Bezug auf die modernen westeuropäischen Staats- und Verwaltungssysteme als ›Pastoralmacht‹ definiert. Im Unterschied zu den für die Herrschaftsmechanismen des 20. Jahrhunderts relevanten Legitimitätskriterien bedient sich die Petersburger deutsche Panegyrik auch des christlichen Ethik-Codes, um die Akzeptanz der Herrschaft zu begründen und herausragende Herrscherqualitäten hervorzuheben. Der religiöse Code wird dabei auf die politische Realität ausgedehnt, und entsprechend weist die Huldigungsdichtung den Zaren die besondere Fähigkeit zu, ihre Untertanen nicht »zur Erlösung in der anderen Welt zu führen, sondern« – um es mit Foucault zu sagen – »ihnen das Heil in dieser Welt zu sichern«.65 Dieses besteht in Lebensstandard und Sicherheit. So wird Alexander I. als »der Russen Schild, der jedes Ungewitter abgewandt« bezeichnet.66 Während seiner Herrschaft sei »im weiten Land […] jedes Leid verschwunden, / Und Russlands gold’ne Zeit ist da«.67 Nikolaus I. wird als der Herrscher dargestellt, »der Heil verheißt in milden Blicken«,68 aber auch als »Meister« und »Schöpfer«, der seinem Volk »den süssen Frieden, / und mit dem Frieden auch die Wohlfahrt« gebracht hat.69 Und Alexander II. schuf aus seinem Reich »ein Paradies die Russenwelt!«.70 In den Darstellungen der Herrschergestalten lässt sich eine Erweiterung der traditionellen Herrscherpflichten erkennen, denn die Pastoralmacht geht weit über die Befehlserteilung hinaus. Im Unterschied zu einem König, der 65  Michel Foucault, »Das Subjekt und die Macht«, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, hg. Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow, Frankfurt am Main 1987, S. 248. 66  Hermann Friedrich Kilian, Ode an Seine Majestät unsern gnädigen Monarchen Alexander I. in tiefster Unterthänigkeit gewidmet von Hermann Friedrich Kilian, St. Petersburg 1815. 67  Kaffka, Den Edlen in St. Petersburg weihet … 1801. 68  Uexküll, In Veranlassung der gottseligen Vollendung unseres erhabenen Gebieters … 1857. 69  [Friedrich Hinze], Friede, St.  Petersburg 1856. 70  [Schleicher], Ode zur Krönungsfeier Ihrer Kaiserlichen Majestäten Alexanders II. Nikolajewitsch … 1856.

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von seinen Untertanen Opfer fordert, um seine Herrschaft zu erhalten, zeigt ein pastoraler Herrscher die Bereitschaft, sich in Extremsituationen wie Kriegen, Epidemien oder Naturkatastrophen »für das Leben und Heil der Herde zu opfern«.71 Der pastorale Herrscher ist selbstlos. Vor allem in den Oden an Alexander I., die anlässlich des Sieges über Napoleonische Armee verfasst wurden, erscheint der Zar als ein Held, der für seine Untertanen »selbst den Tod […] nicht flieht«72 und als derjenige, der »dem Völkerwohl sein Leben […] weiht«.73 Sein Bruder Nikolaus I. trägt die gleichen Heldenzüge, denn er kämpft gegen die Feinde seines Reiches »stets ohne Furcht und Tadel«.74 Es ist für das in der Huldigungsdichtung entworfene Herrschaftsmodell bezeichnend, dass der Herrscher über sein Reich nicht nur als ein Ganzes regiert, sondern sich auch »um jedes einzelne Individuum während seines ganzen Lebens kümmert«.75 Alexander I. ist dem fürsorglichen Vater gleich, »der seine Kinder führt«.76 Er habe sich besonders dadurch verdient gemacht, dass ihn »des Armen Loos« und »selbst des ehrvergeßnen Kindes« kümmert.77 Dabei liebe er sie »rein und inniglich wie Brüder«.78 Über seinen mildtätigen Regierungsstil wird behauptet: Er wird mit gnäd’gem Blick, – mit Vaterliebe fragen: Ist jemand noch von euch, den Kummer muthlos drückt? Dann wird Er helfen, nicht verscheuchen den, der’s wird wagen Zu bitten – und er wird durch Gnade seyn beglückt.79

Auch Nikolaus I. erscheint als treu sorgender Landesvater, der unermüdlich darum bemüht ist, Wohltätigkeit zu üben: Er, der Schutz-Geist vieler Tausend Armen, Fühlt und lindert stets mit Hocherbarmen, Und in seiner hohen Heldenbrust, Schlägt ein Herz von Mitleid, Lieb’ und Lust.80 Das Subjekt und die Macht, 248. Ode an Seine Majestät unsern gnädigen Monarchen Alexander I. …

71  Foucault, 72  Kilian,

1815. 73  Zadig, An den Kaiser Alexander I., 1802. 74  Heinitz, Nachhall am Sarkophage Seiner Majestät … 1855. 75  Foucault, Das Subjekt und die Macht S. 248. 76  Kilian, Ode an Seine Majestät unsern gnädigen Monarchen Alexander I. … 1815. 77  Zadig, An den Kaiser Alexander I., 1802. 78  Ebd. 79  [E. Carl Becker], Gedicht auf die Rückkehr Seiner Kaiserlichen Majestät unseres Allergnädigsten Kaisers Alexander I. gewidmet Ihro Kaiserlichen Majestät der Allergnädigsten Kaiserin Mutter Maria Feodorowna in tiefster Unterthänigkeit von einem Teutschen aus Moskau [E. C. Becker], St.  Petersburg 1815. 80  Heinitz, Vermischte Gedichte. V. Gebet, 1854.



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Alexander II. bekäme bereits bei der Krönung von seinem Genius den Auftrag, für sein Volk zu sorgen: Du liebst Gerechtigkeit, willst lieblich Vater Für jeden unter Deinem Volke seyn Dem Armen, der vor Dir des Kummers Träne Weint, willst Du nie Deine Huld entzieh’n.81

Die Textbeispiele zeigen, dass die als Pastoralmacht verstandene Herrschaft auf einer besonderen Interaktion zwischen dem Herrscher und seinen Untertanen beruht: Der Herrscher erforscht die Seelen seiner Untertanen, kennt ihre Sorgen und Nöte, versteht ihre nicht ausgesprochenen Bedürfnisse und Wünsche und geht wirksam darauf ein. Die Zaren als Pastorenfiguren sind in der Lage, ihrem Volk Wohlstand und Geborgenheit zu gewähren. Die Untertanen fühlen sich aus Dankbarkeit dazu verpflichtet, wie es Friedrich Hinze schreibt: »den wohl wollenden, väterlichen Absichten einer weisen und gerechten Regierung vollkommen zu entsprechen«.82 Im Idealmodell der Beziehung zwischen den Herrschern und den Untertanen, das in der Petersburger Huldigungsdichtung entworfen wird, sichert die Herrschaft nicht nur die sorgenfreie Existenz ihrer Untertanen, sie bietet ihnen auch eine Projek­ tionsfläche für die Identitätsbildung und gibt auch Identitätsmuster vor. IV. Die Identität der Schreibenden Es ist bemerkenswert, dass in der Huldigungsdichtung Hinweise auf die Alterität der Schreibenden als Zugehöriger der deutschen Minderheit in Russland äußerst selten vorkommen. Allein die deutsche Sprache tritt als Identitätsmerkmal der Autoren auf, das die Dichter in ihren Texten jedoch nicht zum Thema machen. Ganz seltener weisen die Verfasser explizit auf ihre ethnische Zugehörigkeit hin. Bötticher bezeichnet sich als »Teuton«, der Alexander I. »als Herr und Vater kennt«.83 Friedrich Adelung gibt an, »dankbarer Sohn Rutheniens« zu sein, wobei seine Dankbarkeit dem russischen Herrscher gilt.84 Kaffka nennt sich zwar einen »Fremdling«, stimmt aber stolz in den Chor der Lobesgesänge von den treuen Untertanen ein.85 Kilian erwähnt im Chor der Völker, die den Monarchen »jubelnd preisen«, auch sein »Hermanns Volk«.86 81  Ebd.

Ein Wort der Sammler an ihre Leser, 4. Bötticher, Am Namenstage unseres allgeliebten Kaisers Alexander des Ersten, St. Petersburg 1804. 84  Adelung, Empfindungen am 12. März 1801, 1801. 85  Kaffka, Den Edlen in St. Petersburg weihet … 1801. 86  Kilian, Ode an Seine Majestät unsern gnädigen Monarchen Alexander I. … 1815. 82  Hinze, 83  Karl

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Baron Hubertus von Harrer versteht sich dagegen als ein Russe. Er schreibt: Uns Reussen ward dies Erdenglück, Dies schöne Loos zu Theil; Drum rufen wir mit frohem Blick: Ihm, unserm Kaiser, Heil!87

Auch C. F. von Lange deutet seine Ode als einen Ausdruck vom »treuen Rossens Herz«.88 Häufig treten die Verfasser der Oden nicht als Angehörige einer ethnischen Gruppe auf, sondern als Repräsentanten einer Institution, die im Dienste des jeweiligen Herrschers steht. Die Identitätsbildung erfolgt über die für Staat und Herrscher nützliche gesellschaftliche Tätigkeit. Wie der Gesamttenor der deutschen Huldigungsdichtung auf russische Zaren deutlich zu verstehen gibt, erfüllt die Herrschertreue eine wichtige identitätsstiftende Funktion. Baron von Harrer bezeichnet in seiner Ode die Loyalität dem Staat und Herrscher gegenüber als die einzige Konstante in der sich schnell verändernden Welt. Er schreibt: »Die Bürgertreu wird ewig fortbestehen«.89 Die gesellschaftliche Rolle als Untertan der russischen Herrscher wird damit zum wesentlichen Identitätsmerkmal erklärt. Das in der Petersburger deutschen Huldigungsdichtung reflektierte Selbst- und Herrschaftsverständnis legt die Schlussfolgerung nahe, dass die Petersburger Deutschen zur jenen ›Gruppe von Menschen‹ gehören, die nach Max Weber ein für das Funktionieren der Herrschaftsverhältnisse erforderliches »Minimum an Gehorchenwollen, also Interesse am Gehorchen«90 sichert und damit die Herrschaft überhaupt ermöglicht.

87  Harrer, Gesänge zur Feier des Namentages Seiner Majestät des Kaisers Alexander I. … 1814. 88  C. F. von Lange, Am Geburtstage unserer allergnädigsten Kaiserin Elisabeth Alexiewna geweiht von C. F. v. Lange, Capitain der Armee den 13. Januar 1813, St. Petersburg 1813. 89  Baron Hubertus von Harrer, Zur Feier des Elisabethfestes am 47sten Stiftungstage der ersten Bürgerclubbe in St. Petersburg und dem Tage der Einweihung ihres neu verschönten Lokals, am 5. September 1817, St. Petersburg 1817. 90  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28.

Amerika feiert sich selbst: Die Rhetorik des 4. Juli Von Rüdiger Kunow In diesem Beitrag gehe ich einer Form gelingender sozio-kultureller Praxis nach, die für die Herausbildung der nationalen Identität der U.S.A. in ihrer frühen Entwicklungsphase von herausragender Bedeutung war: Den Festreden aus Anlass des Unabhängigkeitstages (des 4.  Juli). Hierzu skizziere ich zunächst den historischen Hintergrund, auch den religiösen Kontext, vor dem dieses spezifisch US-amerikanische Ritual seine Bedeutung gewann; danach stelle ich einige wenige Beispiele aus Fourth of JulyReden vor, wobei ich den Schwerpunkt auf die Zeit vor dem Bürgerkrieg lege, aber auch kurze Ausblicke bis unsere Tage wage, um dann im Schlussteil diese kommunikative Praxis als »democratic iterations« im Sinne Seyla Benhabibs zu lesen, als historisch frühe Manifestation einer frühen, ständiger Stabilisierung und Bekräftigung bedürftigen demokratischen Öffentlichkeit. I. Schon lange vor der Unabhängigkeit der 13 britischen Kolonien in Nordamerika war die dortige politische Ordnung eine eminent öffentliche Ordnung. Der u. a. von Habermas beschriebene »Strukturwandel der Öffentlichkeit« hin zur allmählichen Herausbildung eigenständiger Formen öffentlicher Meinung und Meinungsbildung auf der Basis neuer Kommunikationsformen und -techniken, vornehmlich der Drucktechnik – all dies hat sich im Zeitraum von 1620 bis 1776 kontinuierlich, mitunter auch in panikhaften Schüben (Salemer Hexenwahn von 1692, Great Awakening, ab ca. 1734) herausgebildet und somit viel früher vollzogen als im Mutterland oder anderswo in Europa. Die normative Dimension der sich entwickelnden bürgerlichen Öffentlichkeit wurde im kolonialen Nordamerika ganz selbstverständlich durch die (post)puritanische Religiosität geprägt. Durch die hierokratische – heute würde man vielleicht sagen, fundamentalistische – Orientierung der Puritans wurde das Eindringen eines religiösen Vokabulars und religiöser Rhetorik in den öffentlichen Sprachgebrauch nicht nur erleichtert, sondern geradezu zum Ziel gesellschaftlicher Entwicklung gemacht: »Religion wird

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zum kommunalen Prozess eines Dialogs um gesellschaftliche Ideale […]«1 und – so möchte ich ergänzen – sie lieferte auch gleichsam die materielle wie informationelle Infrastruktur für diesen Dialog. Das meeting house war überall im puritanischen Neu-England der wichtigste Raum für die hier als Öffentlichkeit versammelten Gläubigen. Stärker als bei anderen Kirchen der Reformation war der Gemeinschaftsentwurf des Kalvinismus auf eine eng geknüpfte community of saints angelegt, vor der der einzelne Gläubige rechenschaftspflichtig war. Weitere wichtige Strukturmerkmale waren das gleichfalls öffentliche Bekehrungserlebnis und die oft sehr lange, dabei religiöse und alltagspraktische Aspekte verknüpfende Predigt –immerhin auch eine Form epideiktischer Beredsamkeit. Die Zentralstellung dieser Redeform in den Kirchen der Reformation lieferte gewissermaßen das kommunikative Muster, nachdem auch später noch, etwa in der frühen Republik, Öffentlichkeit hergestellt und strukturiert wurde. Da die Predigt wie die in ihr enthaltenen Ermahnungen und Wegweisungen auch nach dem Gottesdienst intensiv besprochen wurden, bildete sich in und um religiöse Rituale herum ein Raum Ort bürgerlicher Diskussion, vergleichbar mit denen, die sich etwas später in Europa vom bürgerlichen Salon in die Kaffeehäuser entwickelten. Mit jenen Räumlichkeiten hatte das meeting house die Funktion gemein, der Einüben eines »kritischen Geschäfts« der ständigen Reflexion und Revision der Gemeinschaftspraxis zu dienen, das sich in den Kolonien schon sehr auf die Politik ausdehnen sollte. Allerdings bleibt festzuhalten, dass Vielfalt der religiösen Gruppierungen innerhalb des Protestantismus auch zur Herausbildung einer Vielzahl von Sub-Öffentlichkeiten führte. Ohne Robert N. Bellahs inzwischen recht abgegriffenen Begriff der »Zivilreligion« hier erneut bemühen zu wollen, lässt sich feststellen, dass die Herausbildung einer sakral-politischen Diskurstradition ein Spezifikum der US-amerikanischen politischen Kultur darstellt, das am Fourth of July als Nationalfeiertag, gerade im 19. Jahrhundert seine beispielhafte Ausbildung erfuhr. II. Nach der politischen Unabhängigkeit stand die politische Elite des Landes vor einer Situation, die man in der heutigen Theoriesprache als »postkolonial« bezeichnen würde. In der jungen Nation waren kulturelle Lebensformen, die gleichsam die Knotenpunkte in einem Netzwerk von Überliefe1  Matti Justus Schindehütte, Zivilreligion als Verantwortung der Gesellschaft. Religion als politischer Faktor innerhalb der Entwicklung der Pancasila Indone­ siens, Hamburg 2006, 61.



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rungen bildeten, nicht eben zahlreich und wegen der damals schon vorhandenen weltanschaulichen Pluralität nicht von weitreichender Wirkung. Wenn, in den Worten des Revolutionshistorikers Gordon Wood: »To be an American could not be a matter of blood; it had to be a matter of common belief and behavior«,2 so stellte sich die Frage, wie ein solcher demokratischer Konsens in Überzeugungen und Verhaltensformen herzustellen war. Die Anforderungen an einen funktionalen öffentlichen Diskurs waren also ebenso dringend wie hoch. Vor diesem Hintergrund behalf man sich mit einem Verfahren, das im weiteren Verlauf der historischen Entwicklung auch für andere moderne Gesellschaften typisch werden sollte, dem Versuch nämlich, gesellschaftlichkulturelle Normalität und »Normativität aus Spiegelbildern herbeigezogener Vergangenheiten [zu] schöpfen«.3 Dabei wurde mit besonderer Intensität auf die sogenannten classics der Antike zurückgegriffen, wobei mehr als die polis-Demokratie des 5. Jahrhunderts in Athen das Rom der späten Republik zum Leitbild wurde, was sich im Übrigen auch in der Möblierung des öffentlichen Raums niederschlug, wie man an der Architektur dieser Zeit erkennen kann. Anders allerdings als die Bauten blieben viele der vom Vorbild der klassischen Antike geprägten Ideale der frühen Republik wie etwa das Jeffersonische Modell einer Nation unabhängiger Grundbesitzer nur auf eine kleine Elite beschränkt und wurden sehr schnell von den Realitäten einer Einwanderungsgesellschaft überholt. Zudem hatte die Revolution durch populäre Redner wie Thomas Paine u. a. und durch eine intensive publizistisch-propagandistische Tätigkeit eine affektiv sehr aufgeladene und daher auch volatile Öffentlichkeit geschaffen, wie nicht zuletzt die häufigen lokalen Unruhen zeigten.4 Umso dringlicher war es daher, in den Worten von John Adams, jene »positive Passion for the public good, the public Interest […] in the Minds of the People« zu verankern, ohne welche – jedenfalls nach Meinung der politischen Elite – »there can be no Republican Government, nor any real Liberty.«5 Alexis de Tocqueville als auswärtiger Beobachter der Verhältnis2  Gordon

336.

Wood, The Radicalism of the American Revolution, New York 1992,

3  Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen, Frankfurt / Main 1985, 21. 4  Zu den Details vgl. Malini J. Schueller und Edward Watts (Hg.), Messy Beginnings: Postcoloniality and Early American Studies, Newark 2003. 5  »Adams writing to Writing Mercy Otis Warren in 1776« zit. Paul A. Rahe, Republics Ancient and Modern: Classical Republicanism and the American Revolution, Chapel Hill 1994, 23.

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se in der jungen Republik war dann auch nicht der einzige, der sich Gedanken darüber machte, wie unter den Vorzeichen einer demokratischen Gesellschaft, in der, wie er sagte, »the mind of each member is unattached to that of his fellow citizen«6 sich Verhaltensformen herausbilden und stabilisieren könnten, ohne die eine gelingende demokratische Praxis sich nicht würde entwickeln können. Einer der Wege, die sich in der Folgezeit als gangbar erweisen sollten, war die öffentliche Selbstvergewisserung in wiederkehrenden quasi-religiösen Ritualen. Hierzu bot die intensive Feierkultur der jungen Republik mit ihren zahlreichen lokalen und regionalen Fest- und Gedenktagen eine gute Grundlage. Dabei kam naturgemäß dem Tag, an dem die Declaration of Independence 1776 veröffentlicht worden war, also dem 4.  Juli, eine Zentralstellung zu. Dieses Datum wurde, in den Worten Sacvan Bercovitchs, zum »high holy day of American civil religion«.7 In den Tagen der Jungen Republik entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts sich eine Kultur des Filiopietismus, eine an der Erfahrungswelt von Vorbildern, dem was die Römer mos majorum nannten, orientierte Weltsicht, die im vielem ziemlich genau dem entsprach, was Nietzsche später monumentalische Geschichte nennen sollte. Zugleich aber ist die religiöse Wurzel des Begriffs »Filiopietismus« wirklich ernst zu nehmen, denn es waren noch immer religiöse Formen, die für die Beschwörung von Gemeinsinn gewissermaßen die kommunikative Infrastruktur boten. So erhielten, wie Paul Goetsch und Gerd Hurm zeigen, die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung den Status von sacred scriptures, und George Washington wurde jener »divinely appointed Moses who led his people out of the hands of tyrannny.«8 Das ist – verkürzt formuliert – der Stoff, aus dem die nationalen Träume waren, die in der frühen Republik in den alljährlichen Feiern zum Unabhängigkeitstag beschworen wurden. Dies geschah in formalen Ansprachen, die mit unterschiedlichen rhetorischen Ambitionen und Perfektionsgraden in nahezu jeder Gemeinde gehalten wurden und von denen anzunehmen ist, dass in ihnen, wie im Titel meines Vortrags formuliert, Amerika sich selbst lobte, also enkomiastische Aspekte eine wichtige Rolle spielten.

de Tocqueville, Democracy in America, New York 1898, 2 Bde., I, 252. Bercovitch, »The Ritual of American Consensus« (1978); zit. in Gerd Hurm, »The Rhetoric of Continuity in Early Boston Orations«, The Fourth of July: Political Oratory and Literary Reactions, 1776–1876, (ScriptOralia 45), hg. Paul Goetsch und Gerd Hurm, Tübingen 1992, 277; das folgende Zitat in diesem Band, 8. 8  Ibid. 6  Alexis

7  Sacvcan



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III. Mein erstes Textbeispiel ist eine Ansprache von Daniel Webster aus dem Jahre 1826. Daniel Webster (1782–1852) war eine der formativen Figuren, die die politische Kultur in der Jungen Republik maßgeblich prägten. Rechtsanwalt und Politiker war Webster ein äußerst begabter und zunehmend auch gefragter öffentlicher Sprecher. Seine Rede zum 50. Jubiläum der Schlacht von Bunker Hill (1825) machte ihn fast über Nacht zu einer nationalen Berühmtheit. Ihm kam daher die Ehre zu, bei der Trauerfeier für zwei der berühmtesten Founding Fathers, Thomas Jefferson (3. Präsident) und John Adams (2. Präsident), in der Faneuil Hall in Boston MA, zwar nicht am 4.  Juli, sondern wenige Tage später (nämlich am 2. August 1826), jene Ansprache zu halten, die sehr bald quasi-kanonischen Status erhielt und noch heute in Schulen gelehrt wird und auch als Musterbeispiel für die Rhetorik des 4.  Juli gelten kann. Die Agenda von Websters Ansprache lassen sich mit einer Formel der amerikanischen Public Address Studies als Transferleistung »from physical encouter to encounter in memory« beschreiben.9 Dazu verbindet der Redner das Genre des Nekrologs, der Totenrede auf die beiden Founding Fathers, mit einer breiteren epideiktischen Zielsetzung. Es ging Webster vor allem darum, über den Rückblick auf die Lebensleistung von Adams und Jefferson das Wesen und die Ziele der Amerikanischen Republik zu zelebrieren und auf diese Weise, also performativ neu ins Werk zu setzen. Eine solche doppelte Zielsetzung lag nahe, angesichts des einschneidenden Ereignisses, das der Tod beider Präsidenten in der Entwicklung der jungen Nation markierte. Beide starben am gleichen Tag, dem 4. Juli, und somit ausgerechnet am 50. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung – ein Ereignis, das von vielen Zeitgenossen als ein Zeichen göttlicher Vorsehung verstanden wurde und das daher besonderer hermeneutischer Anstrengungen bedurfte. Damit setzt Websters Rede auch ein: This is an unaccustomed spectacle. For the first time, fellow-citizens, badges of mourning shroud the columns and overhang the arches of this hall. These walls, which were consecrated, so long ago, to the cause of American liberty, which witnessed her infant struggles and rung with the shouts of her earliest victories, proclaim, now, that distinguished friends and champions of that great cause have fallen. ADAMS and JEFFERSON are no more […]10 [Hervorhebung im Original]. 9  Kathleen Hall Jamieson; zit. in James M. Farrell, »The Speech Within: Trope and Performance in Daniel Webster‘s Eulogy to Adams and Jefferson.«, Rhetoric and Political Culture in Nineteenth-Century America, hg. Thomas W. Benson, East Lansing 1997, 15–37, hier 22. 10  Daniel Webster. »Discourse in Commemoration of the Lives and Services of John Adams and Thomas Jefferson, delivered in Faneuil Hall, Boston, August 2,

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»Adams and Jefferson are no more« – diese hier anaphorisch wiederholte Aussage wird zu einem Leitmotiv von Websters Ansprache, einem Leitmotiv, das er dialektisch wendet, um Verlust in Gewinn umzudeuten und die Kontinuität zwischen der Amerikanischen Revolution – »one of the greatest events in human history« – und der Gegenwart seiner Rede hervorzuheben: ADAMS and JEFFERSON, I have said, are no more. As human beings, indeed, they are no more. […] To their country they yet live, and live for ever. They live in all that perpetuates the remembrance of men on earth; in the recorded proofs of their own great actions, in the offspring of their intellect, in the deep-engraved lines of public gratitude, and in the respect and homage of mankind. [Hervorhebung im Original]

Webster versucht an dieser Stelle, der damals bereits recht konventionellen Idee des Weiterlebens der Toten in der Gemeinschaft, dadurch gewissermaßen neues Leben einzuhauchen, dass er sie in eine Lichtmetaphorik einkleidet: a truly great man, when Heaven vouchsafes so rare a gift, is not a temporary flame, burning brightly for a while, and then giving place to returning darkness. It is rather a spark of fervent heat, as well as radiant light, with power to enkindle the common mass of human kind; so that when it glimmers in its own decay, and finally goes out in death, no night follows, but it leaves the world all light, all on fire from the potent contact of its own spirit. Bacon died; but the human understanding, roused by the touch of his miraculous wand to a perception of the true philosophy and the just mode of inquiring after truth, has kept on its course successfully and gloriously. Newton died; yet the courses of the spheres are still known, and they yet move on by the laws which he discovered, and in the orbits which he saw, and described for them, in the infinity of space. [Hervorhebungen im Original]

Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich, wie sorgfältig Websters Rede komponiert ist. Sie nutzt das klassische Inventar der Rhetorik, Antithesen, Assonanzen, Parallelismen, um die Hörerschaft zu fesseln. Zudem variiert Webster geschickt das Tempo: historisch-summierende Abschnitte wechseln sich ab mit Detailschilderungen aus dem Leben seiner beiden Protagonisten. Der wohl wichtigste Kunstgriff Websters in dieser Rede besteht indes darin, dass er, ähnlich den dumb shows im elisabethanischen Theater, innerhalb der rhetorischen Dramaturgie seiner Rede eine eigene dramatische Szene aufbaut, nämlich die Konfrontation von Henry Adams mit einem Gegner der Unabhängigkeit. Webster eröffnet diese Szene mit großem Gestus: Let us, then, bring before us the assembly, which was about to decide a question thus big with the fate of empire. Let us open their doors and look upon their delib1826«. http: /  / digital.library.umsystem.edu / cgi / t / text / text-idx?g=&c=webster&cc=web ster&tpl=browse.tpl; zuletzt besucht 21.03.2013; alle folgenden Zitate nach dieser Quelle; unpaginiert.



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erations. Let us survey the anxious and care-worn countenances, let us hear the firm-toned voices, of this band of patriots. HANCOCK presides over the solemn sitting; and one of those not yet prepared to pronounce for absolute independence is on the floor, and is urging his reasons for dissenting from the declaration. ›Let us pause! This step, once taken, cannot be retracted.‹ […] It was for Mr. Adams to reply to arguments like these. We know his opinions, and we know his character. He would commence with his accustomed directness and earnestness.

Schon bei Dionysos v. Halikanassos kann man nachlesen, dass sich der genos panegyrikos oft und nicht immer positiv mit dem des theatrikos verbindet, doch Websters Kunstgriff, diese Szene einzuführen, sollte sich in der Rezeption seiner Rede als Glücksgriff erweisen. Die Zeitgenossen, die rätselten, wann und wo und ob Adams diese Ansprache einstmals gehalten hatte, zitierten sie in ihren eigenen Reden und so wurde dieser Teil von Websters Text ein Teil der Erinnerungskultur der Vereinigten Staaten und sogar immer wieder auswendig zitiert. Hierzu muss man wissen, dass die Sitzungen des Continental Congress und später auch des US Kongresses nicht protokolliert wurden, es also keine offiziellen Quellen gab, auf welche die Späteren zurückgreifen konnten. Indes, in seiner privaten Korrespondenz räumte Webster ein, dass diese Rede von ihm erfunden wurde. Er stellte sich dabei bewusst in die Tradition antiker Historiographen mit ihren erfundenen Feldherrnreden. So konnte dann auch ein Zeitgenosse mit mehr Recht als ihm selbst klar war, sich an Livius erinnert fühlen.11 Außerdem sei daran erinnert, dass in der Mitte der 1820er Jahre die wissenschaftliche Historiographie der U.S.A., für die schon eine Dekade später Namen wie Bancroft oder Francis Parkman12 stehen sollten, noch in den Kinderschuhen steckte. Für Webster wie für die kulturelle Elite seiner Zeit war die imaginative Nachempfindung historischer Ereignisse in rhetorisch anspruchsvoller Form ein durchaus legitimer, wenn nicht sogar der privilegierte Weg, die Vergangenheit für die Herausbildung eines US-amerikanischen Nationalgefühls zu nutzen, also zu »usable past« im Sinne von Warren Susman13 zu machen. Schaut man sich diese Stelle der Rede noch einmal genauer unter dem Gesichtspunkt der imaginativen Vergegenwärtigung an, so kann man erkennen, dass der Redner durchaus »ehrlich« ist, indem er Fiktionssignale setzt: Let us, then, bring before us the assembly, which was about to decide a question thus big with the fate of empire. Let us open their doors and look upon their deliberations. Let us survey the anxious and care-worn countenances, let us hear the firm-toned voices, of this band of patriots. HANCOCK presides over the so11  Zit

in Farrell, »The Speech Within«, 16. Bancroft, History of the United States (1834–76), Francis Parkman, The Oregon Trail (1847). 13  Warren I. Susman, »History and the American Intellectual: Uses of a Usable Past«, American Quarterly, 16 (I964), 243–263. 12  George

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lemn sitting; and one of those not yet prepared to pronounce for absolute independence is on the floor, and is urging his reasons for dissenting from the declaration. ›Let us pause! This step, once taken, cannot be retracted.‹ […] It was for Mr. Adams to reply to arguments like these. We know his opinions, and we know his character. He would commence with his accustomed directness and earnestness.14 [Hervorhebungen im Original]

Es gäbe noch vieles an dieser Rede zu zeigen; für den Zweck dieser Darstellung sei nur festgehalten:. Websters Ansprache war unzweifelhaft das, als was sie schon die Zeitgenossen sahen und was heute als Konsens in der Public Address-Forschung in den U.S.A. gelten kann, nämlich: »one of the nation‘s most significant rhetorical acts« ihrer Zeit.15 Sie verbindet in sehr effektiver Weise das genus demonstrativum mit der ars praedicandi und stiftet auf diese Weise ein republikanisches Imaginäres, in dem sich das junge Amerika selbst wiedererkennen und sich selbst belobigen kann. Zugleich aber, und indem sie sich ganz bewusst die Vergänglichkeit der Taten auch großer Männer zuwendet, trägt diese Rede einer besonderen Ambivalenz eines jeden republikanischen Imaginären Rechnung, das Pheng Cheah als das »peculiar living-in-dying of the nation« beschrieben hat.16 Als ein Höhepunkt der rhetorischen Kultur der frühen Republik haftet Websters Funeral Speech zudem noch eine andere, oft übersehene Qualität an, die man als katechontisch oder schlichtweg auch als holding action bezeichnen kann. Hierzu ist aus kulturhistorischer Sicht anzumerken, dass Webster sich sehr wohl eines Strukturwandels der Öffentlichkeit seiner Zeit bewusst war, eines Wandels, der ihm zutiefst suspekt war. So wollte er mit seiner Rhetorik noch einmal den Primat des gesprochenen Wortes in der Öffentlichkeit gegenüber einer immer weiter um sich greifenden Verschriftlichung verteidigen.17 Dieser Versuch indes war weniger erfolgreich als die Rede selbst, wie der weitere Gang der Dinge zeigen sollte. IV. Ich möchte mich im folgenden – freilich in weniger ausführlicher Weise – einem Beispiel zuzuwenden, das ebenfalls als ein Höhepunkt der Kul14  Daniel

Webster. »Discourse«. Unpaginiert. »The Speech Within«, 32. 16  Pheng Cheah, »Spectral Nationality: The Living-On [sur-vie] of the Postcolonial Nation in Neocolonial Globalization.«, Becomings: Explorations in Time, Memory, and Futures, hg. Elizabeth Grosz, Ithaca 1999, 176–200, hier 188. 17  Farrell, »The Speech Within«, 23; James Jasinski, »Rearticulating History in Epideictic Discourse: Frederick Douglass‘s ›The Meaning of the Fourth of July to the Negro‹ «, Rhetoric and Political Culture in Nineteenth-Century America, hg. Thomas W. Benson, East Lansing 1997, 71–89, hier 71. 15  Farrell,



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tur öffentlicher Rede in der frühen Republik gelten kann, jedoch eine diametral entgegensetzte Perspektive eröffnet. In der nun zu behandelnden Ansprache, wird jenes kollektive »we the people«, das Webster noch ohne Selbstzweifel apostrophieren zu können glaubte zum Problem und damit auch zum Thema. Am 4. Juli 1852 hielt eine der führenden Figuren der Abolitionistenbewegung, der ehemalige Sklave Fredrick Douglass in Rochester NY eine Rede mit dem programmatischen Titel »The Meaning of July Fourth for the Negro«. Seine leidenschaftliche Ansprache schreibt sich ganz bewusst in die Tradition der Fourth of July Oratory ein, nicht nur, um sie sodann subversiv zu hinterfragen, sondern weil der Redner eben hier jenen filiopietistischen Ort erkennt, an dem das »amerikanische Dilemma«, die Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung sichtbar wird. Zum Zeitpunkt von Douglass‘ Rede war die demokratische Öffentlichkeit des Landes US-emotionalisiert und polarisiert wie seit den Tagen der Unabhängigkeit nicht mehr. Die damals vertagte Frage nach dem recht­ lichen Status der afro-amerikanischen Bevölkerung spaltete das Land die politische Elite, die religiösen Leitfiguren und sogar einzelne Familien. Die Bewegung der Abolitionisten, in der übrigens Frauen zum ersten Mal im öffentlichen Raum sichtbar und hörbar wurden – diese Bewegung nutzte die damals modernsten Mittel der Publizität, hatte aber politisch keinen Durchbruch erzielen können. Zwei Jahre vor Douglass‘ Rede hatte die politische Elite noch einmal einen Kompromiss zwischen Nord- und Südstaaten vereinbaren können, um das Auseinanderbrechen des Landes zu verhindern. Teil dieses Kompromisses war das Fugitive Slave Law, das Sklavenbesitzern des Südens das Recht zugestand, entflohene Sklaven auch auf dem Boden der »freien« Nordstaaten zu verfolgen und von dort in die Sklaverei zurückzuführen. Was auf den ersten Blick wie ein Triumph des Südens aussah, war in Wirklichkeit ein public relations-Disaster. Denn nun konnte jeder sehen, wie Afroamerikaner, darunter Frauen und Kinder, unter brutaler Gewalt wieder in Ketten gelegt wurden. In der Folge radikalisierte sich die öffentliche Meinung im Norden und die Kluft zum sklavenhaltenden Süden vertiefte sich. Dies ist, in aller Kürze, der Kontext, in dem Douglass, ebenfalls ein begabter und erfahrener Redner, das Wort ergriff. Und wie Webster hält auch er einen political sermon. Doch während Webster, sowohl als Person wie auch wegen seiner gesellschaftlichen Stellung, sich ganz unzweifelhaft als Sprecher (s)einer Gemeinschaft fühlen und von dieser Subjektposition aus seine fellow citizens adressieren konnte, konnte sich Douglas seiner eigenen Rolle ebenwenig gewiss sein wie dessen, wer eigentlich seine fellow citizens sein könnten und wollten. Diese Situation prägt erkennbar die Eröffnung der Rede:

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He who could address this audience without a quailing sensation, has stronger nerves than I have. I do not remember ever to have appeared as a speaker before any assembly more shrinkingly, nor with greater distrust of my ability, than I do this day. A feeling has crept over me quite unfavorable to the exercise of my limited powers of speech.18

Zwar folgt Douglass hier der rhetorischen Konvention der captatio benevolentiae, dennoch zeigen vor allem die vielen komparativischen Formulierungen wie (»stronger nerves«, »more shrinkingly«, »greater distrust«), dass hier eine implizit dualistische Kommunikationssituation vorliegt. Während Websters Rede kombinatorisch und summierend angelegt war, ist die von Douglas disjunktiv, »an ironic embodiment and enactment«, wie ein Kritiker feststellte.19 Ironisch deshalb, weil sie immer wieder Widersprüche zwischen Sein und Sollen, Sein und Schein, Redner und Zuhörer akzentuiert, wie beispielsweise in der folgenden Passage: The papers and placards say that I am to deliver a Fourth of July Oration. This certainly sounds large, and out of the common way, for me. […] The fact is, ladies and gentlemen, the distance between this platform and the slave plantation, from which I escaped, is considerable–and the difficulties to be overcome in getting from the latter to the former are by no means slight. […] Fellow-citizens, above your national, tumultuous joy, I hear the mournful wail of millions! whose chains, heavy and grievous yesterday, are, to-day, rendered more intolerable by the jubilee shouts that reach them. If I do forget, if I do not faithfully remember those bleeding children of sorrow this day, »may my right hand forget her cunning, and may my tongue cleave to the roof of my mouth! To forget them, to pass lightly over their wrongs, and to chime in with the popular theme, would be treason most scandalous and shocking, and would make me a reproach before God and the world. My subject, then, fellow-citizens, is American slavery. I shall see this day and its popular characteristics from the slave‘s point of view.20

Im weiteren Verlauf seiner Rede, auf den ich hier aus Platzgründen nicht detailliert eingehen kann, kontrastiert Douglass immer wieder die gerade am 4.  Juli gefeierten Ideale der Unabhängigkeitserklärung inklusive des berühmten Monitums »that all men are created equal« mit der Realität der Sklavenhaltergesellschaften, besonders des Südens der U.S.A. Mit dieser Kritik steht Douglass in einer US-amerikanischen Tradition, die Samuel P. Huntington einmal als »i-v-i gap« (ideal vs. institution) bezeichnet hat.21 Die rhetorische Form, die Douglass dafür wählt, und die in den gewählten 18  »The Meaning of the Fourth of July for the Negro, by Frederick Douglass«; http: /  / www.historyisaweapon.com / defcon1 / douglassjuly4.html; alle Zitate im folgenden nach dieser Quelle; unpaginiert. 19  Vgl. hierzu die Diskussion bei Jasinski »Rearticulating«, 72. 20  »The Meaning of the Fourth of July for the Negro«, o. S. 21  Samuel P. Huntington, American Politics: The Promise of Disharmony, Cambridge1981, 31–60.



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Zitaten nur kurz anklingen konnte, ist religiösen Ursprungs, die sogenannte Jeremiade, eine spezifisch nordamerikanische Form der Bußpredigt, die religiöse Erweckungsbewegungen des 18. Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil der Öffentlichkeit gemacht hatten. In einem Gestus, der gleichermaßen säkular-politisch wie religiös ist, und dabei auf Bibelzitate [Psalm 137:6] nicht verzichtet, will Douglass seine fellow citizens davon überzeugen, zu den Idealen der Founding Fathers zurückzukehren, das revolutionäre Erbe der Vorväter zum Abschluss zu bringen und die Sklaverei abzuschaffen. Die Rhetorik der Jeremiade gibt sich systemsprengend, wirkt letztlich aber sytemstabilisierend, denn sie ist immer ein der Memoria verpflichtete Aufruf zurück ad fontes. Dem entspricht, dass Douglass an keiner Stelle eine völlig andere Gesellschaft fordert. Vielmehr sagt er gegen Ende seiner Rede: »Allow me to say, in conclusion, notwithstanding the dark picture I have this day presented, of the state of the nation, I do not despair of this country. There are forces in operation which must inevitably work the downfall of slavery.«22 Wie nach ihm Martin Luther King in seiner berühmten »I have a Dream«-Ansprache will auch er letztlich Integration, nicht Revolution. V. À propos der Webster-Rede war bereits kurz davon die Rede gewesen, dass im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts die politische Öffentlichkeit immer weniger durch das gesprochene Wort hergestellt wurde. Eine letzte große Ausnahme bildete Abraham Lincoln, vor allem dessen Gettyburg Address aus dem Jahre 1863, die inzwischen gewissermaßen kanonischen Status genießt als Ausdruck amerikanischer Identität und der Mission der Vereinigten Staaten. Aber auch er bzw. sie konnte den allgemeinen Trend nicht umkehren, wonach die öffentliche Sphäre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den U.S.A. nicht mehr durch rhetorische Stellungnahmen einzelner geprägt wurde, sondern durch die aufkommenden Massenmedien, und hier besonders die Yellow Press, also die Boulevard-Blätter von William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer. Wie sicher die Herren der neuen Medien sich ihrer Sache waren, erhellt vielleicht eine kleine, möglicherweise apokryphe Anekdote vom Vorabend des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898. Der Verleger Hearst hatte damals einen der berühmtesten Zeichner seiner Zeit angeworben, um die anstehende Kriegsberichterstattung entsprechend ansprechend illustrieren zu lassen (Lithographien kamen damals gerade erst auf). Auf die Frage dieses Zeichners nach der Wahrschein22  »The

Meaning of the Fourth of July for the Negro«, o. S.

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lichkeit eines Krieges soll Hearst geantwortet haben: »you furnish the picture, I furnish the war.«23 Parallel zu dieser Entwicklung hat sich auch der Stellenwert der Rhetorik zum Unabhängigkeitstag verändert. Ich kann die Entwicklung hier nicht nachzeichnen, sondern nur ganz kurz an zwei Beispielen die weitere Entwicklung andeuten, die neben vielen anderen den Publizisten Gary North unlängst zu der Frage veranlasst hat, »How does a nation preserve public allegiance in a world in which public patriotic celebrations are a distant memory of old people?«24 Mein erstes Beispiel ist die Rede Franklin Delano Roosevelts zum 4.  Juli 1941. Sie entstand im Kontext von Entwicklungen, die man getrost weltgeschichtlich nennen kann und die Rolle der U.S.A. im 20. Jahrhundert verändern sollten. Wenige Tage zuvor hatte Nazi-Deutschland die Sowjetunion angegriffen, und die deutschen Truppen schienen auf dem Wege zu einem weiteren Blitzkrieg bzw. Blitzsieg zu sein. Die US-Bürger. die ein Jahr zuvor mit dem Versprechen Roosevelts, sie aus dem Krieg in Europa herauszuhalten, dazu gebracht worden waren, ihn für eine bislang nie dagewesene dritte Amtszeit zu wählen, waren in ihrer Mehrheit gegen eine militärische Intervention ihres Landes. Vor diesem Hintergrund musste es Roosevelt darum gehen, seine Zuhörer auf das Kommende, den von ihm für unausweichlich gehaltenen Eintritt in den Krieg, vorzubereiten. Er tut dies, indem er aus der herbeizitieren Vergangenheit der Founding Fathers den globalen Zusammenhang ihres Handelns akzentuiert. In 1776, on the Fourth day of July, the representatives of the several States in Congress assembled, declaring our independence, asserted that a decent respect for the opinion of mankind required that they should declare the reasons for their action. In this new crisis, we have a like duty. In 1776 we waged war in behalf of the great principle that government should derive its just powers from the consent of the governed. In other words, representation chosen in free election. In the century and a half that followed, this cause of human freedom swept across the world. But now, in our generation in the past few years a new resistance, in the form of several new practices of tyranny, has been making such headway that the fundamentals of 1776 are being struck down abroad and definitely, they are threatened here.25

In einem ähnlichen rhetorischen Gestus wie ein bundesdeutscher Politiker, der die Freiheit Deutschlands am Hindukusch verteidigen wollte, stellt 23  Zitiert nach http: /  / www.time.com / time / magazine / article / 0,9171,854840,00. html; Zugang 06.11.2012. 24  Gary North, »What Ever Happened to July 4th Orations?«, www.lewrockwell. com / north / north183.html; Zugang 06.11.2012. 25  http: /  / gurukul.american.edu / heintze / Roosevelt1.htm; Zugang 09.11.2012.



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auch Roosevelt einen funktionalen Zusammenhang her zwischen dem 4. Juli 1776 und dem 4. Juli 1941, zwischen »here« und »there«. Das im engeren Sinne panegyrische Element auch im weiteren Verlauf dieser Rede besteht im Selbstlob der U.S.A. als weltweitem Hort demokratischer Freiheiten. Roosevelt wie viele amerikanische Präsidenten nach ihm sehen ihr Land in der Rolle des Katechonten, als letzte Instanz, die die Welt vor dem Abgleiten in die Apokalypse totalitärer Herrschaft noch zurückzuhalten vermag. Ähnliches Gedankengut, wenn auch in einer veränderten globalen Berufung auf das moralische Erbe der U.S.A. findet sich bis in die Gegenwart. So waren apokalyptische Elemente auch ein fester Bestandteil der politischmoralischen Grundüberzeugungen von George W. Bush. In seiner Rede zum 4. Juli 2008 folgte Bush einem inzwischen etablierten rhetorischen Schema, indem die ungebrochene Traditionslinie von den Founding Fathers bis in seine Gegenwart beschwor: Thank you, and happy Fourth of July. I am thrilled to be here at Monticello. I’ve never been here before. To my fellow citizens to be, we believe in free speech in the United States of America. And this is a fitting place to celebrate our nation’s independence. Thomas Jefferson once said he’d rather celebrate the Fourth of July than his own birthday. For me, it’s pretty simple – the Fourth of July weekend is my birthday weekend. For some of you, today will be your first Fourth of July as American citizens. A few moments, you will take part in the 46th annual Monticello Independence Day Celebration and Naturalization Ceremony. When you raise your hands and take the oath, you will complete an incredible journey. That journey has taken you from many different countries; it’s now made you one people. From this day forward, the history of the United States will be part of your heritage. The Fourth of July will be part of your Independence Day. And I will be honored to call you a fellow American.26

Ein Text wie dieser stellt konventionelle rhetorische Analytik vor gewisse Herausforderungen, gibt sie sich doch gewissermaßen anti-rhetorisch. Auffällig sind die kurzen Sätze, die weitgehende Vermeidung von Hypotaxis oder auch »heavy words«.27 Präsidentiale Autorität wird hier nicht mehr durch die wohlgestaltete Formulierung ewiger Wahrheiten etabliert; hier geht es um eine fast kumpelhaft (»avarage joe«) zu nennende Begegnung 26  http: /  / gurukul.american.edu / heintze / Bush20080001.pdf;

Zugang 09.11.2012. (zumeist polemische) Material zur Rhetorik des früheren Präsidenten ist unübersichtlich und endlos. Vgl. etwa Wayne Clark Roof, »American Presidential Rhetoric from Ronald Reagan to George W. Bush: The Return of Civil Religion: Another Look at Civil Religion«, social compass 56,2 (2009), 286–301; Craig Smith, »The Not So Great Communicator: An Analysis of the Public Speaking of President Bush«, http: /  / www.csulb.edu / ~crsmith / bush.html; Zugang 06.11.2012. 27  Das

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von Regierenden und Regierten, in diesem Falle naturalisierten Amerikanerinnen und Amerikanern. Daher auch die vielen direkten Ansprachen an das you der freilich handverlesenen Zuhörerschaft. Andererseits gehört hier der Ort mit zur Inszenierung. Monticello war der Landsitz Thomas Jeffersons, der als Hauptautor der Declaration of Independence einer der bedeutendsten Founding Fathers war. Diesem Ort, in der Nähe Washingtons, kommt hier selbst eine panegyrische Funktion zu, ist er doch die archetektonische Manifestation jenes aufgeklärten Republikanismus, der gerade in der Person Jeffersons (trotz dessen ambivalenten Verhältnisses zur Sklaverei) bis heute seine vorbildhafte Verkörperung gefunden hat. Abseits parteipolitischer oder gegen die Person Bush selbst gerichteter Polemik (»cowboy speech«) ist festzustellen, dass hier eine Art Generationentransfer stattfindet. Die spezifisch amerikanische Sicht auf die Welt (»heritage«) soll nicht nur auf die neuen Bürger übergehen, sie selbst sollen deren Träger werden. Worin dieses Erbe genau besteht, sagt Bush nicht; der Fourth of July dient hierfür als synekdoche-ischer Platzhalter. VI. Abschließend möchte ich skizzenhaft einige Gedanken dazu entwickeln, welchen Beitrag die Rhetorik des 4.  Juli zu einer zeitlich und methodisch aktuellen Diskussion über »Formen und Funktionen panegyrischer Texte« leisten könnte. Bei der Fourth of July Oratory handelt es sich durchgängig nicht um einzelne panegyrische Diskurse, sondern um eine Diskursforma­ tion, eine ritualisierte, jährlich wiederkehrende, serielle kommunikative Praxis. Dabei geht es um nichts weniger als um sich entwickelnde Beziehungen zwischen Bürgern eines Gemeinwesens, um den Ort und die Zeit eines Satzes, des berühmten Proömiums der Unabhängigkeitserklärung: »we the people«. Was in meinem Beitrag nicht im einzelnen gezeigt werden konnte – was aber die ausgezeichnete Studie von Goetsch und Hurm genauer belegen könnte – ist, dass diese serielle Praxis über die Jahre eine Repräsentationspraxis nach sich zog, einen Zitatenschatz schuf, der den öffentlichen Diskurs lange Zeit nachhaltig prägte. Darüber hinaus markiert diese Rhetorik den Übergang von einer feudal-aristokratischen Diskurstradition zu einer republikanischen und sehr bald auch demokratischen Kommunika­ tionsform, die in den Worten Reinhart Herzogs28 »thesaurieren[d]« wirkt, das Gedächtnis der Vergangenheit kollektiv neu erzeugt. Und schließlich haben wir es hier zu tun mit dem Übergang von einer (Einzel-)personen­ 28  Reinhart Herzog, »Zur Genealogie der Memoria«, Memoria: Vergessen und Erinnern, hg. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, unter Mitwirkung von Reinhart Herzog, München 1993, 1–8; hier 5.



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bezogenen Kommunikationspraxis zu einer, die auf eine Gemeinschaft als ganze zielt und ihr Bedürfnis wie auch ihre Notwendigkeit, das Wort »wir« immer erneut zu buchstabieren. Wegen der Angewiesenheit demokratischer Gesellschaften auf derartige selbstvergewissernder kommunikative Praktiken verstehe ich Reden zum amerikanischen Unabhängigkeitstag als sozialfunktionale Diskurspraxis, die unter den spezifischen Bedingungen der jungen Republik für eine kurze Zeit eine besondere gemeinschaftstiftende Bedeutung erlangen konnte. Der bereits erwähnte Tocqueville hatte im Hinblick auf eben diese Republik die Sorge artikuliert, dass, »amongst democratic nations each generation is a new people«29 und der Zusammenhalt des Gemeinwesens von daher unsicher sei. Vor diesem Hintergrund ist die Panegyrik der Fourth of July-Reden mehr als bloßes Selbstlob, aber auch weniger symbolische Repräsentanz gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Vielmehr bildet sie sondern ein Forum für eine sich herausbildende demokratischer Öffentlichkeit. Was Tocqueville als Problem erkannt hatte, war, dass eine demokratische Gesellschaft, noch dazu eine so junge, sich nicht ein für allemal über sich selbst verständigen konnte, sondern diese Selbstverständigung immer wieder wiederholt werden musste. Auf diese Situation boten die Ansprachen zum 4. Juli eine Antwort, nicht für alle Zeiten, aber für einen gewissen Zeitraum. Sie stifteten für die junge Republik eine jährlich wiederholte »Einrichtun[g] ungezwungener Wechselseitigkeit«.30 Freilich sollte der demokratische Aspekt dieser Einrichtung auch nicht überschätzt werden. Indem sie dem religiösen Vorbild des political sermon, ja der Jeremiade folgten, war ihnen eine monologische Struktur eingeschrieben, welche die »kommunikativ aufeinander bezogenen« Bürger auf die passive Rolle bloßer Zuhörer beschränkte. Umso wichtiger war daher ein anderer dieser kommunikativen Praxis innewohnender, rhetorischer Aspekt: die Wiederholung. Ich schlage daher vor, die Reden als »democratic iterations« zu lesen. Der Begriff stammt von der Philosophin Seyla Benhabib, die ihn im Kontext moderner polyethnischer Gesellschaften entwickelt hat. »Democratic iterations« in ihrem Verständnis sind »processes of public argument, deliberation and exchange«, die in ihrem Wesen öffentlich sind und im öffent­ lichen Raum ablaufen. In dieser kommunikativen Praxis vollzieht sich die »self-constitution of ‚we, the people‘«, nicht immer, aber immer öfter.31 Wie Tocqueville, Democracy in America, II, 61–62. Honneth, Das Recht der Freiheit: Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin, 2011, 471; das foigende Zitat dort 483. 31  Seyla Benhabib, The Rights of Others: Aliens, Residents, and Citizens, Cambridge 2004, 179, 175; das folgende Zitat aus Seyla Benhabib, Another Cosmopolitanism, Oxford 2006, 48. 29  de

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der Begriff der iteration nahelegt, sind Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in solchen Gesellschaften nie völlig abgeschlossen, was »democratic iterations« zu immer erneuter Wiederholung – einer Wieder-Holung im Wortsinn verdammt. Eben dies aber macht sie auch empfindlich gegenüber dem Ermüden und dem Vergessen. Gary Norths Klage über die »steady erosion of emotional commitment to anything civic«, die ich oben erwähnte, erinnert daran, dass demokratische Iterationen als zwangfreie Form öffent­ licher Selbstverständigung eine kommunikative Praxis darstellen, die sich selbst zu untergraben droht, »reappropriation[s] of the origin, […] at the same time its dissolution through continuous deployment«, wie Benhabib feststellt. Insofern mündet die Diskussion der Rhetorik des 4.  Juli als einer frühen Form medialer Inszenierung von demokratischer Öffentlichkeit in die grundsätzlichere Frage, wie die Wirklichkeit des »we, the people« in demokratischen Gesellschaften erhalten und stabilisiert werden kann. Doch das wäre ein anderer Beitrag.

Rhetorisches Herrscherlob und russische Avantgarde: Über die Unterwerfung des Dichters im Leninkult1 Von Christoph Garstka Die folgende Pesnja o Staline (Lied über Stalin) stammt aus dem Jahr 1937, dem Jahr des »Großen Terrors« in der Sowjetunion, und aus der Hochzeit des Personenkultes um den sowjetischen Staatsführer Stalin: Много песен поет наш советский народ Над полями, лесами густыми. В каждой песне звучит, в каждой песне живет Всенародное Сталина имя. Refrain: Это имя мы носим повсюду с собой, С ним открыты все шири, все дали. Мы на подвиг любой все пойдем за тобой, Наше знамя победы, наш Сталин! Мы раздвинем леса, покорим небеса. Недоступных не знаем барьеров. Окрыляет нас вождь на дела-чудеса, Вдохновляет великим примером. Refrain Мы, отвагой горя, проплываем моря, – Нас враги побелить не сумеют. Над Советской землей свет не сменится мглой, Солнце-Сталин блистает над нею. Refrain Сталин – это народ, что к победам идет По вершинам подоблачных склонов. Сталин – наши дела, Сталин – крылья орла, Сталин – воля и ум миллионов.2 1  Erkenntnisse aus der Monographie des Verfassers, Das Herrscherlob in Russland. Katharina II., Lenin und Stalin im russischen Gedicht. Ein Beitrag zur Ästhetik und Rhetorik politischer Lyrik (Heidelberg 2005), sind, zum Teil in überarbeiteter Form, in diesen Aufsatz eingeflossen.

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Als ästhetisches Objekt ist dieser Text nur banal zu nennen. Die politische Aussage stellt vor dem Hintergrund unseres heutigen historischen Wissens ein empörendes Ärgernis dar. Und doch ist es ein typisches Produkt der Kultur des Stalinismus, das in vergleichbarer Form massenhaft verbreitet wurde. Ende 1936 erschien in der sowjetischen Zeitung Izvestija ein ähnlicher Text, dessen Kernthese zur Parole der gesamten Literatur der Stalinzeit werden sollte: »Pesnja vmeste s vlastju« (›Ein Lied gemeinsam mit der Macht‹) – das Gedicht folgt der Macht. In der für die 30er Jahre charakteristischen Atmosphäre von Terror und Vergünstigung wird der Schriftsteller unausweichlich zu einem Komplizen der Macht, wenn er, in einem ganz wörtlichen Sinne, mit der Ausübung seiner Kunst sein Überleben sichern wollte. Als Osip Mandel’štam bei einem Spaziergang mit seinem Dichterfreund Boris Pasternak diesem sein Epigramm gegen Stalin zuflüsterte, zeigte sich Pasternak entsetzt und erkannte darin »einen Akt des Selbstmordes«.3 In einer solchen Situation, in der das dichterische Wort Konsequenzen hat, die zum physischen Tod des Autors führen können, ist das Herrscherlob nicht allein als obligate Huldigung des Arbeitund Geldgebers von einem verstaatlichten Literaturproduzenten zu sehen, sondern eine existentielle Notwendigkeit. Das Lob des Führers wird somit zur wichtigsten Textsorte des ›Sozialistischen Realismus‹. Es beschränkt sich nicht auf eine anlassbezogene und abgegrenzte Herstellung von Gebrauchslyrik, sondern durchdringt alle Textsorten, ist allgegenwärtig und total. 2

2  In deutscher Übersetzung: »Viele Lieder singt unser sowjetisches Volk / Über die Felder hinweg, durch die dichten Wälder. / In jedem Lied erklingt, in jedem Liede lebt / Der allvölkische Name Stalins.  /  /  Refrain: Diesen Namen tragen wir überall hin mit uns, / Mit ihm eröffnen sich alle Weiten und Fernen. / Zu jeder beliebigen Heldentat folgen wir alle dir nach, / Unser Banner des Sieges, unser Stalin!  /  /  Wir durchdringen die Wälder, bezwingen den Himmel. / Wir kennen keine unüberwindbaren Barrieren. / Der Führer beflügelt uns zu Wunderdingen, / Er begeistert durch sein großes Vorbild.  /  /  Refrain  /  /  Wir durchpflügen mit kühnem Stolz die Meere, / Kein Feind lässt uns erbleichen. / Im Sowjetland folgt kein Dunkel auf das Licht, / Denn die Stalin-Sonne erstrahlt über ihm.  /  /  Refrain  /  /  Stalin – das ist das Volk, das zu Siegen / Auf über den Wolken stehende Höhen geführt wird. / Stalin – das ist unsere Sache / Stalin – die Flügel des Adlers, / Stalin – der Wille und Verstand von Millionen [Übers. C. G.]. 3  In dem Anfang der 30er Jahre entstanden Gedicht heißt es u. a.: »Und wir leben, doch die Füße, sie spüren keinen Grund / Auf zehn Schritt nicht mehr hörbar, was er spricht unser Mund  /  /  Doch wenn’s reicht für ein Wörtchen, ein kleines – / Jenen Bergmenschen im Kreml, ihn meint es. / Nur zu hören vom Bergmenschen im Kreml, dem Knechter, / Vom Verderber der Seelen und Bauernabschlächter.« [Übers. Ralph Dutli] Die Wiedergabe des Gesprächs zwischen Mandel’štam und Pasternak findet sich bei Christopher Barnes, Boris Pasternak. A Literary Biography. Bd. 2: 1928–1960, Cambridge 1998, 83.



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Die stalinistische Rhetorik des Herrscherlobs ist – das kann man bisher festhalten – gänzlich in den Dienst des politischen Souveräns gestellt. Die vollständige Unterwerfung des Dichters unter die Macht des Führers ist aber nur zu einem – sicherlich nicht unbedeutenden – Teil in der massiven Repression begründet, die die Eventualität der physischen Vernichtung einschließt. Die literarischen Werke der 30er und 40er Jahre in der Sowjetunion sind nicht als ein obskures, traditions- und zusammenhangloses Phänomen zu sehen, das gleichsam wie ein Spuk in die Gesellschaft eindrang und nach dem 5. März 1953, dem Tod Stalins, wiederum spurlos verschwand. Sicherlich kann man den Stalinismus besonders als Gewaltgeschichte ­deuten4 und vor allem in Bezug auf die großen Dichter jener Epoche – Mandel’štam, Achmatova, Pasternak und Zabolockij etwa – von einem ›erpressten Lob‹ sprechen. Genauso jedoch sollte bedacht werden, dass das stalinistische Führerlob bei aller zugestandenen Singularität gleichwohl auf einer jahrhundertealten gesellschaftlichen, auch literarästhetischen und rhetorischen Tradition aufbaute. Diese kann im Folgenden jedoch nur skizzenhaft umrissen werden. Es soll hier vielmehr ein Phänomen in den Fokus gerückt werden, das man als ›freiwillige Unterwerfung‹ des Dichters unter den politischen Führer bezeichnen könnte; ›freiwillig‹, weil es in einer historischen Phase der Sowjetunion geschah, in der die Repressionen gegen Andersdenkende noch nicht existentiell bedrohlich waren. Hierbei handelt es sich vor allem um Textproduktionen im Rahmen des Leninkultes in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die als Vorläufer des Stalinkultes zu lesen sind. Dabei sollen zwei Texte bekannter sowjetischer Autoren, Vladimir Majakovskij und Sergej Esenin, ins Zentrum der Analyse gerückt werden, weil sie, als ›Prototypen‹ bewertet und in Schulbüchern verbreitet, bis in die 80er Jahre hinein einen außerordentlich hohen Bekanntheitsgrad innerhalb der sowjetischen Gesellschaft genossen. Blicken wir noch einmal auf den eingangs zitierten Text. Die mitgeteilten stupiden Banalitäten, Tautologien (›Wir singen, dass wir singen!‹) und infantilen Metaphern erscheinen umso grotesker, wenn man bedenkt, dass der Gedichtautor im Laufe der Jahre scheinbar einer geistigen Regression anheim gefallen ist. Denn Sergej Jakovlevič Alymov mag heutzutage vielleicht völlig vergessen sein. In einem Punkt seiner Biographie weist er jedoch eine Gemeinsamkeit mit den weiter unten diskutierten Autoren auf, die für so manchen Dichter des sozialistischen Herrscherlobs charakteristisch ist und die man bei der hier anzutreffenden sprachlichen und gedanklichen Armseligkeit nicht vermuten sollte: es handelt sich um eine ›avantgardistische Vergangenheit‹. Alymov gehörte in den 20er Jahren im fernen Osten 4  So wie es jetzt in frappierender Anschaulichkeit Jörg Baberowski vorgeführt hat: ders., Verbrannte Erde: Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.

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des Riesenreichs einer futuristischen Künstlergruppe an und hat im Stile des ›Ego-futuristischen‹ Dichters Igor’ Severjanin eigene Werke publiziert. Die ganze Originalität, reiche Formenvielfalt und überbordende Spielsucht der russischen Avantgarde der 20er Jahre scheint plötzlich ausgelöscht und durch das Führerlob als einzig gültiger Gattung abgelöst. Vielleicht aber, und ich beziehe mich hier auf eine kontrovers diskutierte These von Boris Groys, sind die famosen Utopien der Avantgarde von einer vollständigen Durchdringung des Lebens durch die Kunst, von einem totalen Aufgehen des Lebens in der Kunst und der Kunst im Leben, gar nicht brutal zerstört worden, sondern haben im Gesamtkunstwerk Stalin eine pervers anmutende Realisierung erlebt?5 So gesehen wäre der totale Personenkult die letzte, aber doch zwingende Konsequenz der Absolutheitsansprüche einer spätmodernen Kunstepoche. Groys will der Avantgarde ihre Unschuld rauben, nach der sie ja ›nur habe spielen wollen‹. Auch wenn die zum Teil sehr umstrittene These des Kulturphilosophen durch die Arbeit des (Literatur- und Kunst-) Historikers in manchen Punkten modifiziert werden müsste,6 darf man doch an dieser Stelle an sie erinnern, denn es soll gezeigt werden, wie zwei herausragende Dichter der russischen Avantgarde in ihren Lobgedichten auf einen politischen Führer der 20er Jahre die totale Unterwerfung der Kunst unter das Primat des Politischen in den 30er Jahren vorwegnahmen. I. Das Herrscherlob bei Großfürsten und Zaren Zunächst sei ein kurzer kursorischer Überblick über die Entwicklung der panegyrischen Gattung des Herrscherlobs in Russland vorangestellt. Obgleich sich erst mit dem Zaren Ivan IV. im 16. Jahrhundert das russische autokratische Zarentum voll ausgebildet hat, kennen wir Lobpreisungen des politischen Führers und Fürsten schon seit dem Beginn der Überlieferungsgeschichte der altrussischen Literatur, so etwa in Des Metropoliten Ilarion Lobrede auf Vladimir den Heiligen, entstanden zwischen 1037 und 1050 als Teil seiner Predigt über das Gesetz und die Gnade (russ.: Slovo o zakone i blagodati). Auffallend ist die im Vergleich zu Westeuropa hohe Zahl an später heiliggesprochenen russischen (Teil-) Fürsten, so dass die traditionellen Herrschertugenden in den russischen Lobreden mit einer hagiographischen Verklärung verschmolzen. In den Chroniken war die Erwähnung des Todes eines Fürsten zumeist mit einem Lobpreis verbunden, in dem, auch aufgrund des geistlichen Standes der Verfasser, die religiösen Qualitäten des 5  So der Titel einer Studie von Boris Groys, in der er diese These ausbreitet (Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur der Sowjetunion, München 1988). 6  Vgl. z. B. die Kritik von Hans Günther, »Sündenbock Avantgarde?«, Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 44 (1990), Heft 5, 414–418.



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Verstorbenen hervorgehoben wurden unter Betonung seiner mönchischen und Gott wohlgefälligen Lebensweise. Nach der abgeschlossenen ›Sammlung der russischen Erde‹ entsteht dann im 15. und 16. Jahrhundert jenes autokratische Herrschaftssystem, das Sir Walter Raleigh in seinem Traktat Maxims of state als »Prototyp einer Tyrannis« erkennen sollte. Im 17. Jahrhundert werden durch die polnisch-jesuitische Vermittlung erste westliche Einflüsse des rhetorisierten Herrscherlobs, etwa bei Simeon Polockij, im engsten Umfeld des Zaren ersichtlich. Das spezifische ›Urbild-Abbild-Verhältnis‹ der orthodoxen Kirchentradition erschwerte jedoch eine unbefangene Gleichsetzung des Herrschers mit historischen oder mythischen Figuren zumal aus einer heidnischen Antike. Erst mit den Reformen Peters I. zu Beginn des 18. Jahrhunderts findet Russland langsam Anschluss an die literarischen Entwicklungen Westeuropas. Zu seinem »Chefpropagandisten« (Renate Lachmann) in zahlreichen Lobreden, Predigten und Schriften wurde der Nowgoroder Erzbischof Feofan Prokopovič, der mit seiner Lobtopik entscheidenden Einfluss auf die nachfolgenden Schriftsteller ausübte. Wichtig ist, dass fortan das dichterische Herrscherlob eingebunden ist in eine absolutistische höfische Feierkultur, zu der Feuerwerke, Illuminationen, Triumphmärsche und Musikdarbietungen gehörten, in denen immer der Herrscher im Zentrum stand. Dabei wird ausgerechnet die sogenannte ›feierliche Ode‹ (toržestvennaja oda) nach dem Vorbild Nicolas Boileaus, JeanBaptiste Rousseaus und Johann Christian Günthers zum Spielfeld der Erprobung einer eigenständigen neurussischen Literatursprache und der Ausbildung eines dem Russischen angemessenen metrischen Systems für die Dichtung. Die Ode als zentrale Gattung der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts ist zwar zunächst als Herrscherlob zu sehen – so etwa bei Trediakovskij, Lomonosov und Sumarokov –, als anlassbezogene Gelegenheitsdichtung zu Ehren der vorwiegend weiblichen Zaren, aber sie stellt eben auch den bedeutendsten innovatorischen Schritt zur Ausbildung und evolutionären Entwicklung der russischen Literatur dar, die sich aus den Bindungen der altrussischen, vorwiegend klerikal bestimmten Vorgaben emanzipiert und so den Weg bereitet für das ›goldene‹ 19. Jahrhundert. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts schließlich kristallisieren sich dann auch in den Herrschergedichten zwei literarische Strömungen heraus, die für den weiteren Fortgang der russischen Literatur bestimmend werden sollten: In Gavriil Deržavins Oden auf die Zarin Katharina offenbart sich ein intimerer Ton, bei dem das Politische ausgeblendet wird. Aleksandr Radiščev schließlich begründet mit seinem berühmten Schmähgedicht, der Ode Freiheit (Vol’nost’), die er in seinen Roman Reise von Petersburg nach Moskau (1790) einfügt, eine sozialevolutionäre, strikt antizarische Tendenz der russischen Literatur, die über die Dekabristen und die Schriftsteller der ›Natürlichen Schule‹ bis zu Gor’kij reichen sollte. Spätestens seit der PuškinPlejade in der russischen Romantik ist dann das dichterische Herrscherlob

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endgültig ›verdächtig‹ und anrüchig geworden. Als ernstzunehmende innovatorische Gattung ist es aus dem Kanon der russischen Literatur ausgeschieden. Im jungen bolschewistischen Staat nach 1917 ist zunächst nicht abzusehen, dass sich entgegen den marxistisch-ideologischen Vorgaben innerhalb kürzester Zeit ein ausufernder Personenkult um die Figur des Genossen Generalsekretär entwickeln sollte. Benno Enker hat detailliert nachgezeichnet, wie die Anfänge des Leninkultes noch zu Lebzeiten des sowjetischen Staatsgründers im engsten bolschewistischen Machtzirkel begründet sind.7 Es sei ein Personenkult entstanden, so Enker, der zunächst noch mit dem Begriff des charismatischen revolutionären Führers im Sinne Max Webers charakterisiert werden müsse. Erst nach dem Tode Lenins im Januar 1924 setze dann eine gesamtgesellschaftlich ausgerichtete Verehrung ein, die bis zum Ende der Sowjetunion anhalten sollte und, so Enker, nun eher in den Kategorien des Heiligen und der Mystifizierung im Sinne Mircea Eliades gefasst werden müsse. Und genau unter jenen Oberbegriff der Sakralisierung möchte ich die nun folgende Analyse des ersten dichterischen Herrscherlobs stellen, dass der futuristische Schriftsteller Vladimir Majakovskij zu Ehren des wenige Monate zuvor verstorbenen sowjetischen Staatsgründers verfasst hat. II. Majakovskijs Lenin Majakovskijs Poem Vladimir Il’ič Lenin entstand im Todesjahr des sowjetischen Staatsgründers und ist der bedeutendste und einflussreichste Text der sogenannten ›Leniniana‹.8 In der Sowjetunion sind Parolen und Losungen aus dem Poem bis zum Exzess zitiert worden, sie waren als Bannersprüche ein fester Bestandteil des öffentlichen Lebens, alle Schüler mussten zumindest Teile auswendig lernen und für die kommunistischen Literaturwissenschaftler wurde es zu einer der heiligen Basisschriften des sozialistischen Realismus. Demgegenüber stieß das Poem bei westlichen Forschern auf eine breite Front der Ablehnung, denn schon sein Titel suggerierte, dass hier die anachronistische Huldigung an einen politischen Gegner vollzogen 7  Vgl. Benno Enker, Die Anfänge des Leninkultes in der Sowjetunion, Köln u. a. 1997. 8  Zitate unten nach der Ausgabe Vladimir Majakovskij, Polnoe sobranie sočinenij v trinadcati tomach, Band 6, Moskva 1957, 231–309. Zur Wiedergabe der in ›Treppenstruktur‹ unterteilten Verse werden die Zeilenwechsel innerhalb eines Verses durch einfachen, die Verswechsel durch zweifachen, die Strophenwechsel durch dreifachen Schrägstrich gekennzeichnet. Die deutsche Übersetzung basiert in leichter Modifizierung auf der Ausgabe Wladimir Majakowski, Werke in zehn Bänden, hg. Leonhard Kossuth, übers. Hugo Huppert, Frankfurt / M. 1980.



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wurde. Majakovskijs riesenhaftes Poem ist ein Heldenlied in zwei Teilen mit einem Abgesang. Doch deutet die Zeichnung des Protagonisten im ­Poem auf eine tiefergehende Stilisierung, die sich nicht allein auf die Gleichung ›Lenin als moderner bogatyr’‹ (= Held) einer sowjetischen Byline zurückführen lässt. Schon zu Beginn, in einem klassischen Exordium, führt der Dichter eine für sein Poem grundlegende Unterscheidung an: Die Zeit sei gekommen, von Lenin zu singen, nicht weil die Trauer beendet, sondern weil sie bewusster geworden sei. Es wird damit klargestellt, dass der Schmerz über den Verlust des ›Genossen Il’ič‹ zwar anhalte, dieser jedoch durch die Freude, dass Lenin ›jetzt lebendiger als alle Lebenden‹ sei, gemildert werde. Majakovskij trennt den Geist Lenins und die Idee des Leninismus also von der historisch greifbaren Person des Vladimir Il’ič Ul’janov. Im ersten Teil behandelt er dementsprechend die Vorgeschichte der Revolution, in der in der bürgerlich-kapitalistischen Hochzeit sich im Proletariat die Sehnsucht nach dem Erscheinen des Erlösers herausbildet, der mit der Bezeichnung ›Lenin‹ versehen wird. Den zweiten Teil bildet die Lebensgeschichte des Vladimir Ul’janov, der sich Lenin nannte und in Russland eine Revolution machte. In dieser Erlösergestalt ist der Geist in einem menschlichen Wesen auf der Erde verkörpert und wirkt durch ihn in der Zeitlichkeit. Der dritte Teil schließlich schildert nach der Darstellung der übermäßigen Trauer beim Tode des nun familiär aber respektvoll einfach »Il’ič« genannten Lenins den Übergang des leninschen Geistes auf die Partei und den daraus resultierenden verstärkten Aufbau- und Missionswillen. 1. Der biblische Subtext Es ist wohl auch in diesem kurzen Resümee deutlich geworden, dass Majakovskij in seinem Poem mit anderer Gewichtung die Struktur der Bibel und damit des göttlichen Erlösungsplans nachahmt, wobei er jedoch die irdische Immanenz betont, um in der Konfrontation zum heiligen Buch eine nicht auf Wunder, sondern allein auf irdische Tatsachen beruhende Erlösungsgeschichte zu erzählen, die durch eine weltbewegende Persönlichkeit verursacht wurde. Lenin ist der ›menschlichste Menschensohn‹ ohne göttlichen Vater, den die Sehnsucht der Arbeiterklasse gebar: »i ne bog / emu / velel – / izbrannik bud’!  /  /  Šagom čelovečeskim, / rabočimi rukami,  /  /  sobstvennoju golovoj / prošel on / ėtot put’« (und nicht Gott hieß ihm – Sei ein Auserwählter! Mit menschlichem Schritt, Arbeiterhänden und eigenständigem Kopf ging er diesen Weg). Eine solche Übertragung eines heilsgeschichtlichen Modells in zeitgenössischer Interpretation für das eigene Schaffen ist in Majakovskijs Gesamtwerk nichts Ungewöhnliches. In seinem 1916 / 17 entstandenen Poem Čelovek (Ein Mensch) war es jedoch der Dichter Majakovskij selbst, dem in den Stationen Geburt, Leben, Passion, Him-

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melfahrt, Himmel, Wiederkehr eine christusgleiche Vita zuerkannt wurde. Der futuristische »Hyper- und Superindividualismus« (Etkind) ist 1924 erledigt, die Position des sich halb ironisch, halb aufrichtig ins absolute Zentrum setzenden Ichs ist in völliger Ernsthaftigkeit dem politischen Führer zugewiesen worden. Die alttestamentarische Leidenszeit des auserwählten Volkes – das russische Proletariat –, das ›Höhnen und Prassen der babylonischen Potentaten‹, Zaren, Grundherren und Fabrikbesitzer, das alles kann das Proletariat nur ertragen, weil es aufgrund einer prophetischen Vision auf die baldige Ankunft eines Messias‘ hoffen darf, der der Schlange den Kopf zertreten wird: »Prichodi, / zastupnik / i rasplatčik!« (Komm, Beschützer und Vergelter!) Die im ersten Teil eingestreuten Verkündigungen könnten in Gestus und Sprachstil von den altisraelitischen Propheten stammen: »On rasplatitsja, / pridet on / i ob’javit  /  /  vam / i vašinskoj vojne / vojnu! –« (Er wird abrechnen, wenn er kommt, und euch und eurem Krieg den Krieg erklären), oder »vyplyvi, / zastupnik solncelicyj« (erscheine, sonnengesichtiger Beschützer), und auch »My rodim, / pošlem, / pridet kogda-nibud’  /  /  čelovek, borec, / karatel’ / mstitel’!« (Wir werden geboren, darben, es kommt einmal der Mensch, der Streiter, der Strafende, der Rächer!) Der zweite und längste Teil schließlich ist mit den Evangelientexten des Neuen Testaments vergleichbar. Nur wird hier nicht das Leben von Jesus Christus aus Nazareth beschrieben, sondern das von Vladimir Il’ič Ul’janov, genannt Lenin, aus Simbirsk. Wie in den Evangelien gibt es über die Kindheitsgeschichte des Messias nur wenige Auskünfte. Jesus offenbart als Zwölfjähriger seine göttliche Abkunft im Tempel von Jerusalem, Lenin wird mit siebzehn durch die Hinrichtung seines Bruders zu jenem Hannibalschwur gedrängt, mit dem er sein Leben in den Dienst für die Sache der Arbeiterschaft stellt. Ausführlich geschildert wird erst die Zeit der Erfüllung des Auftrags, die Zeit des unmittelbaren Wirkens unter den Menschen. Lenin hatte indes bei der Wahl seiner Jünger mehr Erfolg als Jesus, denn es heißt: »Včera – četyre, / segodnja – četyresta  /  /  […]  /  /  i ėti četyresta / v tysjači vyrastut.« (Gestern – Vier, heute – Vierhundert, und diese Vierhundert werden wachsen zu Tausenden.) Doch sind genau wie beim biblischen Vorbild die Jünger (učeniki) entscheidend für die Verbreitung der Lehre: »Leninizm idet / vse dalee / i bolee / všir’ / učenikami / Il’ičevoj vyverki.« (Der Leninismus verbreitet sich immer weiter und tiefer durch die Jünger, die in Il’ičs Sinne handeln.) 2. Der Geist des Leninismus Nachdem Il’ič-Lenin seinen Auftrag beendet hat – Sammlung der Getreuen, Verkündigung der Botschaft, Revolution, Bürgerkrieg und Konsolidierung –, ist der Körper durch die enorme Willensanstrengung nicht mehr le-



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bensfähig und muss sterben. Der Märtyrerstand und die Passionsgeschichte werden zwar nur angedeutet, doch ist aus den zuvor geschilderten übermenschlichen Tatbeweisen ersichtlich, dass sich Il’ič für die Sache der Armen restlos aufgeopfert hat. Die Situation im Moskauer Kolonnensaal bei der Verkündigung der Todesnachricht durch Kalinin erinnert an die Bestürzung und Trauer der Jünger nach Karfreitag. Es herrscht völlige Ratlosigkeit und Verwirrung sowie Angst vor der Zukunft. Majakovskij versucht im dritten Teil ein Pfingstgeschehen nachzubilden. Nicht der Heilige Geist, sondern die Gabe des Leninismus möge tief in die versammelten Kommunisten einfahren und sie mit neuen Kräften ausrüsten. So wie die Kirche die Botschaft Christi auf der Erde verbreitet und sich als einzigen rechtmäßigen irdischen Sachwalter des Gottessohnes sieht, ist die Partei die einzig legitime Organisation, die die Mission Lenins verwaltet. Weil es in Glaubensangelegenheiten nun einmal unabänderlich ist, muss auch Majakovskij in seinem Poem mit mehreren Paradoxien kämpfen. Der futuristische Dichter behauptet nicht allein (wie jeder Panegyriker), dass der Gegenstand seines Lobes etwas Einzigartiges ist, der lyrische Sprecher selbst stilisiert sich paradoxerweise in seinem Preisgedicht zu einem Menschen, der lieber Bomben wirft, als in eine Hymne einzustimmen (»ja brosal by / v nebo / bogochul’stva,  /  /  po Kremlju by / bombami / metal: / doloj!« – ich schmisse eine Gotteslästerung in den Himmel, in den Kreml’ würfe ich Bomben: Hinweg!). Majakovskij bekennt, keine herkömmlich überragende Persönlichkeit zu loben, die sich gottgleich wähnte, sondern einen normalen Menschen, den ›irdischsten von allen Irdischen‹: »My / choronim / samogo zemnogo / izo vsech / prošedšich / po zemle ljudej.« (Wir begraben den irdischsten aller je auf der Erde wandelnden Menschen.) Warum aber, so fragt sich das lyrische Ich, muss man so einen Menschen loben? Die Antwort soll das Poem liefern, das also einen Menschen preisen möchte, indem dargestellt wird, warum dieser Mensch kein herkömmliches, traditionelles Lob verdient. 3. Die Paradoxien des Leninismus Diese paradoxe Aufgabe kann Majakovskij nicht befriedigend lösen: Lenin soll ein Mensch wie jeder andere sein, bescheiden und gesellig, trotzdem behauptet der Autor, keine angemessenen Worte finden zu können und greift damit auf den konventionellen Unsagbarkeitstopos zurück: »Slovo za slovom / iz pamjati taskaja,  /  /  ne skažu / ni odnomu – / na mesto sjad’.  /  /  Kak bedna / u mira / slova masterskaja!« (Obwohl ich Wort für Wort aus dem Gedächtnis ziehe, sage ich keinem einzigen, setze dich auf deinen Platz. Wie arm ist auf dieser Welt die Werkstatt der Worte.) Schließlich erklärt er sogar, dass für Lenin noch kein Maß gefunden wurde: »Kak že / Lenina / takim aršinom merit’!« (Wie kann man denn Lenin mit diesem Maß messen?).

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Damit stellt er eine Verbindung zu Fёdor Tjutčevs berühmtem Gedicht Umom Rossiju ne ponjat’, … (Mit dem Verstand ist Russland nicht zu begreifen, 1866) her. Dort heißt es im zweiten Vers: »Aršinom obščim ne izmerit’« (mit einem einheitlichen Maß ist es nicht auszumessen), und die Folgerung daraus wird im vierten Vers mitgeteilt: »V Rossiju možno tol’ko verit’.« (An Russland kann man nur glauben). Die Absicht Lenin zu preisen, zwingt Majakovskij zu weiteren Paradoxien, die schon ans Groteske heranreichen. Eine ganz besondere dialektische Verbiegung ist notwendig, um die dargestellte überragende Rolle der Persönlichkeit mit der marxistischen Ideologie zu vereinbaren. Deshalb übernimmt Majakovskij Lenins eigenwillige Interpretation des Marxismus. Die Arbeiterklasse muss demnach durch eine avantgardistische Kaderpartei zu ihrem Glück erst gezwungen werden. Ihr muss das Bewusstsein ihres auserwählten Status erst noch durch einen genialen Interpreten und Tatmenschen vermittelt werden. Lenin ist die Person, die weiß, wie die unterdrückten Menschen glücklich leben können und zur Verwirklichung seiner Erkenntnis eine ›menschliche Diktatur‹ errichtet hat (»stanovil / rabočej – čeloveč’ej diktaturoj«, erschuf er eine proletarische, menschliche Diktatur). Darin drückt sich eine völlige Unterwerfung des Einzelnen aus, der sich nicht nur in eine politische Gemeinschaft einordnet, sondern ihrem Führer die totale Kontrolle des eigenen Willens überlässt. Vor dem Hintergrund einer solchen Einstellung wird auch die paradoxeste aller Formulierungen in Majakovskijs Poem in ein bezeichnendes Licht gestellt: Bei der Todesnachricht wünscht sich der lyrische Sprecher das Wunder herbei, dass alle Menschen sterben und der Führer wieder erwacht: »Sejčas / prozvučali b / slova čudotvorca,  /  /  čtob nam umeret’ / i ego razbudjat, –  /  /  plotina ulic / vraspašku rastvorit’sja,  /  /  i s pesnej / na smert’ / rinutsja ljudi.« (Jetzt möge das Wort eines Wundertäters erklingen, dass wir sterben und er erwache, – die Straßendämme würden aufbrechen und umgepflügt und mit einem Lied stürzten die Menschen sich in den Tod.) In der monströsen Vorstellung des lebenden Diktators über ein totes Volk ist vielleicht tatsächlich die zwingende, aber perverse Konsequenz eines ungehemmten totalitären Machtanspruchs zu sehen. Es mag vielleicht überraschend klingen, aber man könnte behaupten, dass am Anfang des kommunistischen Personenkults ein Text steht, der mit den gleichen Strukturen arbeitet wie das Slovo, die Lobrede des Metropoliten Ilarion aus dem 11. Jahrhundert, ein Text, der überhaupt am Anfang der russischen, literarischen Herrscherverehrung steht. Die Gesetzeszeit ist für den gläubigen Bolschewisten die Zeit des Klassenkampfes, deren Gesetze Marx entdeckt hat. (»Marks / raskryl / istorii zakony,  /  /  proletariat / postavil u rulja.« Marx offenbarte die Gesetze der Geschichte, er setzte das Proletariat ans Steuerrad.) Mit Lenin ist jedoch eine Erlöserkraft offenbar geworden, die die Zeit der Gnade, d. h. die Entwick-



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lung hin zur kommunistischen Gesellschaftsform realisiert hat. Die Teilhabe am Heilsgeschehen ist für das Kiever Reich durch den Großfürst Vladimir, für das sowjetische Volk, zumindest für die Arbeiter und Bauern, durch Lenin möglich geworden. Lenins Leben ist insofern nicht nur als imitatio Christi, sondern auch als imitatio der Taufe der Rus’ durch Vladimir zu sehen. Der bekennende Bolschewist Majakovskij hat bei der Umdeutung der christlichen Zeichen ganze Arbeit geleistet. III. Esenins Lenin Hatte sich Majakovskij noch ganz bewusst mit seiner Kunst in den Dienst des neuen Staates stellen wollen, so ist Sergej Esenin höchstens als poputčik, als Mitläufer, zu bezeichnen. In seinem Lobgedicht auf Lenin mit dem Titel Kapitan zemli (Kapitän des Erdkreises), das zum ersten Jahrestag des Todes des Revolutionsführers verfasst wurde (1925), thematisiert er ganz subtil bei aller vordergründiger Lobtopik die Aufgabe der Rolle des souveränen Dichtertums, die doch erst in der Puškin-Ära etwa 100 Jahre zuvor in Russland so mühsam erkämpft worden ist. Dabei wurde Esenin sogar aufgrund seines Lebenswandels, seines Hooliganismus, das Recht abgesprochen, den großen Führer überhaupt zu besingen. Der letzte Dichter des ›hölzernen Russlands‹, wie er sich selbst nannte, erahnte, dass mit dem neuen Regime der Untergang seines geliebten, dörflich und vormodern geprägten Russland einsetzen werde. Majakovskij spricht vom ›Wir‹, wenn er sich auf die Bolschewisten bezieht, Esenin redet die roten Revolutionäre mit ›Ihr‹ an. Deshalb ist sein Lenin-Lob vor allem als tragischer und aussichtsloser Kampf zur Behauptung seiner (dichterischen) Individualität und Persönlichkeit zu sehen: Esenin preist etwas, worin er – eher unbewusst als bewusst – seinen eigenen Untergang als Dichter erkennt. 1. Lenins Qualitäten als Kapitän Die Opposition Dichter-Ich und politischer Führer ist grundlegend für Esenins Gedicht Kapitan zemli.9 Der Dichter thematisiert hier seine Kapitulation vor den politischen Gegebenheiten, indem er sein eigenes Verstummen veranschaulicht: die abschließende Strophe wird als wörtliches Zitat Lenins gekennzeichnet. Obwohl dieses Gedicht zum Gedenken an den Todestag des Parteivorsitzenden verfasst wurde, finden sich in ihm keinerlei Verweise auf sein Ableben, keine Trauerbekundung und kein üblicher 9  Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Sergej Esenin, Sobranie sočinenij v dvuch tomach, Bd. 2, Moskva 1992, 129–131. Das Gedicht wurde erst im Februar 1926, nach Esenins Selbstmord, erstmals veröffentlicht.

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Schmerzensschrei mit der gleichzeitigen Versicherung, in Lenins Sinne weiterzukämpfen. Hier wird eher der Dichter als der Parteiführer zu Grabe getragen, denn der Sieg der Kommunisten ist als unausweichliche Notwendigkeit dargestellt. Esenin beginnt sein ungewöhnliches Herrscherlob zunächst mit einer Eigencharakterisierung. Die ersten zwei der insgesamt zehn Strophen konfrontieren unmittelbar das Dichter-Ich und das Er des Politführers ohne Konkretisierung durch Namensnennung. Esenin arbeitet mit der für die darstellende Kunst zur Lenincharakterisierung bedeutenden Technik der Ausarbeitung einer einzelnen prägenden Geste, in der sich die Gesamtidee materialisieren soll. Hier ist es die viele Lenin-Bilder konstituierende Geste der ausgestreckten, richtungsweisenden Hand: »S rukoj svoej vozdetoj« (Mit seiner emporgereckten Hand). Die Opposition Dichter – Herrscher wird durch die Tätigkeitszuschreibungen (»upravljat’ planetoj – pet’ pesn’«, den Planeten regieren – ein Lied singen) aufgebaut. Sie endet mit einer Unterwerfung des Dichters: »Ja sčastliv tem, /  Čto sumračnoj poroju / Odnimi čuvstvami / Ja s nim dyšal / I žil.« (Ich bin glücklich darüber, dass ich mit ihm in trüben Zeiten mit gleichen Gefühlen atmete und lebte.) Die dritte Strophe drückt das maßlose Erstaunen des Dichters vor dem von Lenin angeführten revolutionären Geschehen aus. Er kann die Tatsache, dass der bescheidene, unscheinbare Mann aus Simbirsk die gesamte Welt erschüttert hat, nur als unerklärliches Mysterium sehen. Erst jetzt entwickelt er das im Titel angedeutete Bild, mit dem er das Wunder in Worte fassen möchte. Er sieht Lenin als Kapitän und Steuermann eines Schiffes, das im engeren Sinne für die ausgebeuteten Klassen Russlands, in einem weiteren Sinne auch für die der gesamten Erde steht. Dieses Schiff lenkt der Kapitän Lenin auf dem Meer der Geschichte zu einem neuen Land, zum Kommunismus. Der dynamische Aspekt der Schiffsreise auf einem unruhigen Meer deutet im Gegensatz zur statischen Metapher z. B. des Staatsgebäudes auf eine Gefährdung von außen hin, der sich das Kollektiv auf dem Schiff ausgesetzt sieht.10 Die wichtige Position des Schiffsführers wird deshalb nur umso stärker betont. Lenin erscheint als Kapitän und Steuermann, also als jemand, der das Ziel und den Kurs der Reise festgelegt hat und während der Fahrt auch für die Einhaltung der Richtung sorgt. Demnach ist Lenin Visionär und Praktiker.11 Das lyrische Ich verbindet die Beschreibung dessen, was es bei der Reise beobachtet, immer wieder mit dem Geständnis, dass die Ereignisse sich eigentlich einer herkömmlichen Präsentation im dichterischen Wort entziehen. Für Esenin verkörpern die Kommunisten die 10  Vgl. zur Tradition der Schiffsmetapher und ihrer Symbolik Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt / M. 1997. 11  Im stalinistischen Personenkult wird der zweite Aspekt dann auf Stalin übertragen, Lenin bleibt, z. B. bezogen auf den Bürgerkrieg, nur die Rolle des Planers, Ausführender soll Stalin gewesen sein.



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Zukunft, den Gipfel menschlicher Leistungsfähigkeit auf sozialem Gebiet. Zusätzlich verbindet der Dichter mit den Bolschewisten den notwendigen, nützlichen und unausweichlichen Umbau Russlands zu einem technologisierten und industrialisierten Land der Zukunft. Und er zwingt sich selbst dazu, auch wenn er das alte ›hölzerne Russland‹ so liebt, den Umbau gutzuheißen, auch weil dieser sowieso, in unerbittlicher Konsequenz wie einem historischen Gesetz folgend, kommen werde. Mit dieser Einsicht gefährdet Esenin allerdings die Qualität seines Lobs. Denn wenn die Entwicklung wirklich unaufhaltsam gewesen wäre, dann wäre ein richtungweisender Führer unnötig. Diesen Widerspruch löst der Dichter nicht. Er deutet ihn nur an, wenn er in der sechsten Strophe vermerkt, der Steuermann habe das Ruder nur leicht berühren müssen, um die Wellen abzuwehren und dem Schiff freie Fahrt zu geben. Ihm ist allein die Tatsache, dass ein einfacher Mensch die Kraft fand, das führerlose Schiff auf Kurs zu bringen, Wunder genug. Der Dichter bleibt im Bild, wenn er die übrigen Bolschewisten als Matrosen bezeichnet, die nicht nur das Schiff auf Kurs halten, sondern auch an den ›neuen Ufern‹ Weglichter aufsetzen, die das Ziel bestimmen. Er entspricht damit der leninschen Auffassung einer Kaderpartei, die als Avantgarde die Umformung der Gesellschaft vorantreibt (»On [= Lenin] mnogo myslil / Po-marksistski, / Sovsem po-leninski / Tvoril«. Er dachte viel im Sinne von Marx, er handelte vollkommen nach leninscher Devise). Doch wiederum schließt sich Esenin aus dieser Gruppe der Matrosen, der aktiv Handelnden, aus. Er selbst, so heißt es, sei nur fähig, seinen ängstlichen Mitpassagieren beruhigende Worte zuzurufen und auf die Verlässlichkeit der Mannschaft zu verweisen. Und hier muss man kurz einhalten: In seinem kurz vor dem Leninlob verfassten Gedicht Pis’mo k ženščine (Ein Brief an die Ehefrau), das unbedingt als Folie vor sein Lobgedicht gestellt werden muss, hatte er das Bild von der Erde als Schiff bereits aufgegriffen und Lenin, ohne ihn direkt zu benennen, als Steuermann dargestellt: »Zemlja – korabl’! / No kto-to vdrug / Za novoj žizn’ju, novoj slavoj / V prjamuju gušču bur’ i v’jug / Ee napravil veličavo.« (Die Erde – ein Schiff! Aber plötzlich leitete es jemand erhaben zu einem neuen Leben, zu neuem Ruhm auf gerader Linie durch die Wirren von Sturm und Wetter.) An dieser Stelle seines Briefs bekennt das lyrische Ich jedoch, dass es selbst seekrank geworden sei, wie fast alle anderen auf dem Deck. Es habe sich von dem Erbrochenen abgewendet und im Schiffsinneren versteckt. Dort habe es dann eine russische Kneipe gefunden, in der es sich ohne weiteres Aufheben habe betrinken können: »Togda i ja / […] / Spustilsja v korabel’nyj trjum, / Čtob ne smotret’ ljudskuju rvotu / Tot trjum byl – / Russkim kabakom. / I ja sklonilsja nad stakanom / Čtob, ne stradaja ni o kom, / Sebja sgubit’ / V ugare p’janom.« (Dann stieg auch ich ins Schiffsinnere hinab, um nicht das Erbrochene der Leute

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sehen zu müssen. Das Schiffsinnere war – eine russische Kneipe. Und ich beugte mich über das Glas, mich um nichts sorgend, um mich im Rausch des Betrunkenen ins Verderben zu stürzen.) Es ist die Angst um die Zukunft, die sich in seinen Exzessen ausdrückt: »S togo i mučajus’, / Čto ne pojmu, / Kuda neset nas rok sobytij …« (Darum leide ich, weil ich nicht verstehe, wohin uns das Schicksal der Ereignisse trägt …) Esenin zeigt hier nicht nur wenig Vertrauen in die Lotseneigenschaft des Kapitäns, er fühlt auch, dass für ihn in dem neuen Land kein Platz mehr sein wird, wenn das Schiff wirklich ankommen sollte. 2. Die Rolle des Sängers Eine solche Einstellung prädestiniert den Dichter nicht dazu, auch in der dann neu entstehenden kommunistischen Gesellschaft seine Rolle als Sänger wahrnehmen zu können. Er kapituliert und überträgt seinen Part dem Parteiführer. Die neunte Strophe in Kapitan zemli ist sicherlich die berührendste und durch die prophetische Aussagekraft unheimlichste des gesamten Gedichts: »Togda poėt / Drugoj sud’by. / I už ne ja, / A on mež vami / Spoet vam pesnju / V čest’ bor’by / Drugimi, / Novymi slovami.« (Dann wird dem Dichter ein anderes Los zuteil. Und nicht mehr ich, sondern er wird unter euch ein Lied singen zu Ehren des Kampfes mit anderen, neuen Worten.) Nicht allein, dass der Dichter gesteht, nicht mehr über das Wort zu verfügen – das Einzige, was ihn definiert –, er überträgt zudem die Fähigkeit der poetischen Wortarbeit dem politischen Machthaber. Dieser verkündigt das Erscheinen einer neuen Generation von Kämpfern, die für sich beanspruchen, als einzige zu wissen, welchen Weg die gesellschaftliche Entwicklung einzuschlagen hat. Insofern ist dieses Gedicht paradigmatisch für den Zustand der russischen Literatur nach Lenins Tod. Es setzt jener Prozess ein, bei dem die Dichter erkennen, dass ihnen das Monopol über ihr ureigenstes Material entrissen wird durch die politische Macht. In Zukunft liegt die Interpretation sämtlicher, auch der politikfernsten Elemente des Lebens nicht mehr in der Hand der Dichter, sondern in der des Diktators. IV. Das Ende Majakovskij und Esenin begingen Selbstmord, noch bevor sich der Stalinkult in seiner grotesken Totalität entfaltete. Esenin gebührt dabei das traurige Verdienst, zuvor in seinem Herrscherlob die bittere Konsequenz der Aufgabe des Dichters an die Macht vor Augen geführt zu haben: es beinhaltet sein Verstummen und seine Auslöschung. Vielleicht verweist dieses »I už ne ja« (und dann schon nicht mehr ich) wirklich auf die völlige



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Selbstaufgabe, der die eigene physische Vernichtung in fataler Konsequenz folgen muss: der ›Dichter-Tod als Opferhabitus‹, wie ihn Rainer Grübel dargestellt hat.12 Der mit Lenins Tod einsetzende Unsterblichkeitskult steht jedenfalls in eklatanter Opposition zu der gleichzeitig einsetzenden verstärkten Todessehnsucht Esenins und Majakovskijs, die auch in ihren Gedichten immer spürbarer wird.

12  Rainer Grübel, »Gabe, Aufgabe, Selbstaufgabe: Dichter-Tod als Opferhabitus. Zur Genese des sowjetischen Personenkultes aus Dichtertod, Lenin- und Puškingedenken«, Welt hinter dem Spiegel. Zum Status des Autors in der russischen Literatur der 1920er bis 1950er Jahre, hg. Klaus Städtke, Berlin 1998, 139–204.

Stalinpanegyrik und sowjetische Folklore. Der Fall Džambul Džabaev Von Riccardo Nicolosi I. In den Memoiren von Dmitrij Šostakovič, die Solomon Volkov 1979 unter dem Titel Testimony herausgab,1 findet sich die »ungewöhnliche« Geschichte des kasachischen Volkssängers (akyn) Džambul Džabaev, die »[…] der Feder eines Gogol oder E.T.A. Hoffmann würdig«2 sei. Džambul, der in der Stalinzeit enorme Popularität erlangte und dessen panegyrische Gedichte große Verbreitung in allen Massenmedien fanden, sei nichts anderes gewesen als »ein großer Bluff«: Dshambul Dshabajew hat als Person zwar existiert, russische Übersetzungen seiner Gedichte gab es auch, nur – es gab keine Originale. […] Denn die sogenannten Übersetzungen seiner nicht existierenden Gedichte hatten russische Poeten verfasst. […] [D]iese »Übersetzer aus dem Kasachischen« kannten nicht ein kasachisches Wort. Und Dshambul verstand kein Wort Russisch. […] Gebraucht wurden prächtige Oden auf Stalin. Verherrlichungen in orientalischer Manier. Und das zu jeder beliebigen Gelegenheit. […] Für Panegyriken gab es Dutzende von Anlässen, die der alte Mann gar nicht kennen konnte. […] Darum arbeitete eine ganze Brigade russischer Lyriker für ihn.3

Für die Stalinzeit »typisch und lehrreich« sei die »Entstehungsgeschichte« der Figur Džambul, die Šostakovič / Volkov4 mit dem Sujet der Erzählung Podporučik Kiže (Sekondeleutnant Saber, 1928) von Jurij Tynjanov vergleichen, in der »ein nicht existierender Mensch zu einem existierenden wird«:5 Ein russischer Lyriker und Journalist, der in den dreißiger Jahren an der kasachischen Parteizeitung (sie erschien in russischer Sprache) arbeitete, brachte ein paar 1  New York 1979. Dt.: Zeugenaussage. Die Memoiren des Dmitrij Schostakowitsch. Aufgezeichnet und herausgegeben von Solomon Volkow, Hamburg 1979. 2  Zeugenaussage, 227. 3  Ebd., 228 f. 4  Über die unsichere Autorschaft der Memoiren vgl. Allan B. Ho / Dmitry Feofanov (Hg.), Shostakovich reconsidered, London 1998. 5  Zeugenaussage, 230.

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Gedichte in die Redaktion. Er sagte, er habe sie nach dem mündlichen Vortrag eines kasachischen Volkssängers notiert und ins Russische übersetzt. Die Gedichte gefielen. Sie wurden gedruckt. Alle waren zufrieden. Wenig später wurde ein großes Festival vorbereitet: Eine Leistungsschau der kasachischen Kunst in Moskau. Der kasachische Parteivorsitzende hatte die Gedichte des »unbekannten Poeten« in der Zeitung gelesen, gab den Befehl: »Aufspüren! Soll unverzüglich das Lied der Lieder auf Stalin schreiben!« Man rannte zu dem Journalisten: Wo ist dein Dichter? Er druckste herum. Alle sehen, der Bengel hat gelogen. Irgendwie muß aber ein Ausweg gefunden werden, Stalin braucht das Jubellied. Irgendeiner erinnert sich, einmal einen malerischen Greis gesehen zu haben, der die Dombra6 spielte und dazu sang. […] So also wurde Dshambul entdeckt. Eilig wurde unter seinem Namen eine Hymne auf Stalin fabriziert und nach Moskau geschickt. Stalin gefiel die Hymne. Das war schließlich das wichtigste. Nun begann das neue und unerhörte Leben des Dshambul Dshabajew.7

Die Geschichte des Džambul Džabaev verkörpert für Šostakovič / Volkov den Geist der Stalinzeit, in der das Absurde zur Wirklichkeit wurde und »[d]ie Fiktion triumphiert[e]«: Da der Mensch »in einem totalitären Staat keinerlei Bedeutung hat«, konnte die Figur Džambul einfach erfunden werden, ohne jegliche Verwunderung hervorzurufen8 [Abbildung 1]. Das Versprechen der Entblößung einer stalinistischen Fiktion, das die von Šostakovič / Volkov erzählte Geschichte suggeriert, ist allerdings trügerisch. Denn zum einen ist diese Geschichte selbst unübersehbar fiktional: Šostakovič / Volkov reduzieren die komplexe Figur Džambul auf eine skurrile literarische Anekdote, die als solche keine ›Wahrheit‹ darstellt, sondern lediglich auf Verblüffung abzielt.9 Zum anderen verbirgt sich hinter der – zweifelsohne mystifizierten – Figur des kasachischen akyn Džambul, der in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zu einem der Protagonisten der sowjetischen Literatur avancierte, viel mehr als bloße Absurdität und Willkür. Die Mystifikation Džambul Džabaev kann – wie jede andere Mystifikation – nicht einfach enthüllt werden, denn ihr Simulakrum-Charakter situiert sie jenseits der Dichotomien Original / Kopie, Trug / Wahrheit.10 Wer Džambul Džabaev in Wirklichkeit war und was er tatsächlich gedichtet hat, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren. Rekonstruieren und deuten lässt sich aber das Geflecht an literaturpolitischen Strategien und 6  Die Dombra ist ein in Zentralasien weitverbreitetes Musikinstrument mit zwei Saiten. 7  Zeugenaussage, 229 f. 8  Zeugenaussage, 230. 9  Vgl. Evgenij Dobrenko, »Džambul. Ideologičeskie arabeski«, Džambul Džabaev: Priključenija kazachskogo akyna v sovetskoj strane, hg. Konstantin Bogdanov und Riccardo Nicolosi, Moskau 2013, 24–70. 10  Vgl. Susi Frank u. a. (Hg.), Mystifikation – Autorschaft – Original, Tübingen 2001, 10.



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Abb. 1: A. A. Rittich, Džambyl sredi naroda (Džambul unter dem Volk, 1944)

medialen Inszenierungen, das zur Entstehung des ›Simulakrums‹ Džambul beigetragen hat. Denn dieses Simulakrum ist keineswegs alogisch, sondern entspricht den Gesetzen des literarischen und kulturellen Systems der Stalinzeit. Auf der Suche nach einer kulturhistorischen Logik für die ›Erfindung‹ des Stalinpanegyrikers Džambul soll im Folgenden zunächst der literaturhistorische Kontext, insbesondere die sozialistisch-realistische Konzeptualisierung der sowjetischen Folklore, beleuchtet werden. Dabei soll gezeigt werden, dass Džambuls literarisches Werk und die Inszenierung seiner Person paradigmatisch für eine in der Stalinzeit typische Legierung von Panegyrik und Folklore stehen. In einem zweiten Schritt soll dann gezeigt werden, dass Džambuls pseudofolkloristische Dichtung wichtiger Bestandteil eines transmedialen Kommunikationsgefüges war, in dem die Ideologeme der Stalinzeit modelliert wurden. Das soll am Beispiel der Koexistenz der Lenin- und Stalindarstellungen in der Dichtung Džambuls und insgesamt in der panegyrischen Ikonographie der Stalinzeit gezeigt werden. Diese Koexistenz soll mithilfe der politisch-theologischen Theorie der »zwei Körper des Königs« von Ernst Kantorowicz interpretiert wer-

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den.11 In diesem Kontext stellt die pseudofolkloristische Dichtung Džambuls einen Teil der multimedialen Inszenierung des Stalinkultes dar, in der vor allem visuelle Medien wie Malerei, Plakat- und Filmkunst eine zentrale Rolle spielten. Dem Kommunizieren der Dichtung Džambuls mit anderen Medien bei der Schaffung einer facettenreichen politischen Theologie der Stalinzeit wird deshalb im Beitrag besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Zugleich soll auch gezeigt werden, dass das hinter der mystifizierten Figur »Džambul« stehende Autorenkollektiv das Stalinlob nicht so sehr nach den Modellen der kasachischen Volksdichtung, sondern vielmehr nach den Kriterien der klassischen Panegyrik schuf.12 II. Wenn im vorliegenden Beitrag von einer Verflechtung von Panegyrik und Folklore in der Stalinzeit die Rede ist, ist damit selbstverständlich kein programmatisches Postulat des sozialistischen Realismus gemeint, im Gegenteil: Im sozialistischen Realismus sind Panegyrik und Folklore geradezu oxymorale Begriffe. Während die Panegyrik als Relikt feudaler Herrschaftsordnung verstanden und als Produkt serviler Rhetorik stigmatisiert wurde, wurde die Folklore – verstanden als unmittelbarer, rhetorisch unverfälschter Ausdruck der Wahrheit des Volkes – zum Inbegriff sozialistisch-realistischer Literatur schlechthin. Da aber das sowjetische Volk in seiner ›Spontaneität‹ vor allem zur Lobpreisung der sozialistischen Wirklichkeit und deren erster Ursache, Stalin, tendierte, mutierte die sowjetische Folklore häufig zur Stalinpanegyrik.13 Ein Beispiel für diese Legierung sind die Anfangszeilen des Gedichtes Moj Stalin, tebe ėtu pesnju poju (Mein Stalin, dir singe ich mein Lied, 1938) von Džambul Džabaev: 11  Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. 12  Der vorliegende Aufsatz basiert auf folgenden Publikationen des Verfassers: Riccardo Nicolosi, »Die Überwindung des Sekundären in der medialen Repräsentation Stalins. Versuch über die politische Theologie der Stalinzeit«, Originalkopie. Praktiken des Sekundären, hg. Gisela Fehrmann u. a., Köln 2004, 122–138; Riccardo Nicolosi, »Džambul i Kantorovič. Političeskaja teologija stalinskoj ėpochi i ee intermedial’naja reprezentacija«, Džambul Džabaev, hg. Bogdanov / Nicolosi, 220– 242. 13  Vgl. Christoph Garstka, Das Herrscherlob in Russland. Ein Beitrag zur Ästhetik und Rhetorik politischer Lyrik, Heidelberg 2005, 420–429. Vgl. die unzähligen Folkloresammlungen aus der Stalinzeit, die bereits im Titel diese panegyrische Dimension aufweisen, u. a.: Samoe dorogoe. Stalin v narodnom ėpose, Moskau 1939; Lenin i Stalin v poėzii narodov SSSR, Moskau 1938; Pesni o Staline, Moskau 1950.



Stalinpanegyrik und sowjetische Folklore

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Отец мой любимый, учитель родной, Встречая восход над Советской страной, Тебе, счастьеносец, домброю звенит Столетного сердца горячий родник. С тобою зарницу я в небе встречаю, С тбою сижу я за чашкою чая, С тобою я домбру поднимаю свою, С тобою я любимые песни пою, С тобою свое сердце в полет я пускаю, С тобою счастливых внучат я ласкаю, Отец мой любимый, учитель родной. Ты – сердце, ты – голос поэмы степной, Ты – радость народа, ты – жизни заря, Ты – сила и слава и песня моя! […]14

Diese eigentümliche Mischung aus naiver, fast kindlicher Wirklichkeitsauffassung, einfachem sprachlichem Ausdruck und panegyrischer Darstellung der Omnipräsenz Stalins stellte in den Augen der sowjetischen Literaturproduzenten der 1930er Jahre die optimale Realisierung des Postulats der narodnost’ (Volkstümlichkeit) dar, das nach 1936 die partijnost’ (Parteilichkeit) als programmatische Basiskategorie des sozialistischen Realismus ablöste.15 Die Orientierung zur Volkstümlichkeit war das Ergebnis der ideologischen Verschiebung vom proletarischen Klassenbewusstsein zum klassenlosen Sozialismus in einem Land, die die sowjetische Kultur der 1930er Jahre insgesamt charakterisierte und die zur Aufwertung des National-Ethnischen führte. In ästhetischen Kategorien bedeutete Volkstümlichkeit die Forderung nach Einfachheit und Klarheit des sprachlichen Ausdrucks und nach einem ›klassischen‹ und ›harmonischen‹ Stil sowie die radikale Ablehnung jeder Art von Formalismus, d. h. jeglicher ›unnatürlichen‹ Deformierung der Sprache und Verdunkelung des Sinnes.16 14  Džambul Džabaev, »Moj Stalin, tebe ėtu pesnju poju«, ders., Izbrannoe, Moskau 1949, 7. »Mein Vater und Lehrer, du teurer, geliebter, / ich grüße den Morgen über dem Land, / dich, Führer der Völker, begrüß ich im Liede / und nehme die klingende Domra zur Hand. / Mit dir besteig’ ich die Gipfel der Berge, / begrüße das Leuchten über dem Schnee, / mit dir erwecke die Domra ich wieder, / mit dir sitz’ ich abends beim Tee. / Mit dir will mein Herz sich zum Fluge erheben, / mit dir liebkosen der Enkel Gesicht, / mein Vater und Lehrer, du teurer, geliebter, / du Herzschlag, du Stimme im Steppengedicht, / du Freude des Volkes, du Morgen des Lebens, / du bist die Kraft und der Ruhm, bist mein Lied.« Dschambul, »Mein Stalin, dir singe ich mein Lied« (Übersetzung von Bernhard Seeger), Und danken wird Ihnen das lichte Jahrtausend. W. I. Lenin und J. W. Stalin im Werk sowjetischer Schriftsteller, Berlin 1955, 325. 15  Vgl. Hans-Jürgen Lehnert, »Die Rückkehr zur Folklore in der sowjetischen Literaturwissenschaft nach 1936 – Utopie im neuen Gewand?«, Znakolog 4 (1992), 227–252, hier 234. 16  Vgl. Hans Günther, Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funk­ tionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart 1984, 47–54.

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Dieses Ideal semiotischer Eindeutigkeit, bei der die Sprache als unsichtbares Medium des (ideologisch korrekten) Inhaltes fungieren sollte, fand man vor allem in der Folklore.17 Maxim Gor’kijs Reden auf dem 1. Kongress der Sowjetschriftsteller 1934 können als performativer Gründungsakt der sowjetischen Folklore und Folkloristik angesehen werden.18 In der Folklore liegt für Gor’kij »der Ursprung der Wortkunst«:19 Sie sei das Produkt einer idealen, protokommunistischen Urgesellschaft, in der keine Trennung zwischen der arbeitenden Bevölkerung und der herrschenden Klasse vorhanden war, und könne deshalb die außerliterarische Wirklichkeit korrekt widerspiegeln. Als unmittelbarer, »optimistischer« Ausdruck des Volkes sei die Folklore das archetypische Ideal für die sowjetische Literatur, deren Rückkehr zum Ursprung der Kunst die endgültige Überwindung der kapitalistischen, »pessimistischen« und individualistischen Kunst und somit den Endpunkt der literarischen Entwicklung markieren sollte.20 Gor’kijs Kon­ struktion einer idealen Ursprungskunst, die durch ihren antimodernistischen Charakter den Postulaten des sozialistischen Realismus von Anfang an ›entsprach‹, sollte die neue literarische Doktrin als immanente Form der Kunst legitimieren.21 Von Anbeginn wies die sowjetische Folklore eine starke Orientierung zur Volksdichtung der kaukasischen und zentralasiatischen Republiken auf.22 In seiner Abschlussrede auf dem 1. Kongress der Sowjetschriftsteller stilisierte Maxim Gor’kij den dagestanischen Volkssänger (ašug) Sulejman Stal’skij zum »Homer des XX. Jahrhunderts«: Einen erschütternden Eindruck hat auf mich und – ich weiß – nicht nur auf mich, Ašug Sulejman Stal’skij gemacht. Ich habe gesehen, wie dieser Greis, ungebildet aber weise, während er im Präsidium saß, flüsternd seine Gedichte schuf, um sie dann, ein Homer des XX. Jahrhunderts, in staunenerregender Weise vorzutragen.23

Die Orientalisierung der sowjetischen Folklore hatte zum einen die Funktion, die sozialistisch-realistische Literatur als multinational, d. h. als Ausdruck des gesamten sowjetischen (und nicht nur des russischen) Volkes zu 17  Vgl. Frank J. Miller, Folklore for Stalin. Russian Folklore and Pseudofolklore of the Stalin Era, Armonk / London 1990. 18  Vgl. Ursula Justus, »Vozvraščenie v raj: sozrealizm i fol’klor«, Socrealističeskij kanon, hg. Hans Günther / Evgenij Dobrenko, Sankt Petersburg 2000, 70–86, hier 70. 19  Hans-Jürgen Schmitt / Godehard Schramm (Hg.), Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, Frankfurt / M. 1974, 376. 20  Ebd., 58 ff. 21  Vgl. Justus, »Vozvraščenie v raj«, 72. 22  Vgl. Konstantin A. Bogdanov, Vox populi. Fol’klornye žanry sovetskoj kul’tury, Moskau 2009, 111–126. 23  Schmitt / Schramm (Hg.), Sozialistische Realismuskonzeptionen, 376.



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profilieren. Zum anderen verkörperten die Volkssänger aus dem sowjetischen Orient eine von jeglicher Zivilisation unberührte Ursprünglichkeit, zu der die Folklore der Stalinzeit tendierte, um die Sowjetunion als eine Art antimodernistische, bukolische Arkadia zu modellieren.24 Schließlich stellten die (in der Regel) des Russischen nicht mächtigen akyny und ašugi leicht manipulierbare Figuren dar, deren mündliche Dichtung man durch ideologisch korrekte ›Übersetzungen‹ leicht verändern konnte. Denn in der Stalinzeit bestand die Hauptaufgabe der Folkloristik nicht mehr in der Erforschung der tradierten Folklore, sondern in der Konstruktion bzw. Erfindung einer ›sowjetischen‹ Folklore, die den normativen Prinzipien des Sozialistischen Realismus entsprechen sollte. Bei diesem ›Schöpfungsprozess‹, in dem die Folklore zur »Fakelore« wurde,25 spielte die Figur Džambul eine zentrale Rolle. Sein Aufstieg begann erst, als Sulejman Stal’skij 1937 plötzlich starb und somit die Rolle des »Homers des XX. Jahrhunderts«, die ihm Gor’kij zugeschrieben hatte, unerwartet frei wurde. Dabei war Džambul – wie die neueste Forschung gezeigt hat26 – zunächst nur einer der vielen Volksdichter, die nach 1934 in Zentralasien entdeckt wurden. Besonders aktiv bei dieser Suche war Pavel Kuznecov, russischer Schriftsteller und Journalist, der in den 1930er Jahren Redakteur der Kasachischen Pravda in Alma-Ata war.27 Zu seinen ersten ›Entdeckungen‹ zählte der akyn Maimbet, dessen Werke in der Übersetzung von Kuznecov die kasachische Pravda einige Jahre zierten. 1938 jedoch verschwanden Maimbets Gedichte mir nichts, dir nichts aus der Öffentlichkeit, vermutlich weil er niemals existiert hatte: Unter seinem Namen – so A.L. Žovtis28 – schrieb Kuznecov selbst, der aber, als das Interesse an der Person Maimbet und nicht nur an seinen Versen größer wurde, ihn einfach durch Džambul Džabaev ersetzte, einen im damaligen Kasachstan bekannten Improvisator, der zum sowjetischen Volkssänger schlechthin wurde. Für Džambul erfand man eine tadellose sowjetische Biographie, die alle Anforderungen an einen ›positiven Helden‹ erfüllte: 1846 geboren und 24  Vgl.

Justus, »Vozvraščenie v raj«, 78. klassischen Unterscheidung zwischen Folklore und Fakelore vgl. Richard M. Dorson, Folklore and Fakelore. Essays toward a Discipline of Folk Studies, Cambridge, MA 1976. 26  Vgl. Bogdanov, Vox populi, 115 f. 27  Auf Kuznecov spielen Šostakovič / Volkov in der oben zitierten Anekdote an, wenn sie von einem »russischen Lyriker und Journalist, der in den dreißiger Jahren an der kasachischen Parteizeitung arbeitete«, sprechen. Vgl. auch die Kriegsreportagen von Pavel Kuznecov, Ot Alma-Ata do Berlina, Alma-Ata 1945, die mit einer ›bewegenden‹ Abschiedsszene zwischen Džambul und Kuznecov beginnen. 28  Zit. nach Bogdanov, Vox populi, 116. 25  Zur

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Schüler des legendären Sjujumbaj, wirkte Džambul bereits im zaristischen Kasachstan als umherziehender Sänger und stand von Anfang an auf der Seite des Volkes, indem er in den Wetterstreiten (ajtys) gegen die ›panegyrischen‹ Schmeichler der Grundbesitzer sang. Eine regelrechte Verjüngung erlebte der siebzigjährige Džambul nach der Oktoberrevolution, als er erneut dichterisch aktiv wurde und das Werk der Bolschewiken besang.29 Dass kein einziges seiner Gedichte vor 1936 gedruckt worden war, erklärte man damit, dass die vorrevolutionäre Folkloristik Džambuls Werk aus ideologischen Gründen totgeschwiegen hatte.30 Dass Džambuls Verse, die ab 1938 die russischen Medien überfluteten, mit seinen mündlichen Improvisationen überhaupt etwas zu tun haben, ist fraglich. Halldór Laxness, der Džambul 1938 in Tiflis kennenlernte, beschreibt dessen poetischen Schöpfungsprozess folgendermaßen: Wenn [Džambul] […] zu dichten anfing, wobei er gleichzeitig seine Dombra schlug, die mit zwei Saiten bespannte Laute aus der Salzsteppe, warf er sich einen prachtvollen violetten Seidenkaftan über. Er hatte eine Gruppe unbedeutender Dichter aus seiner Heimat um sich geschart, die ihn verehrten, ihm aber auch als Dolmetscher dienten, denn er war des Russischen nicht mächtig. Am liebsten dichtete er spontan vor großen Menschenmengen, wobei seine Jünger mitschreiben mußten, damit die Gedichte für alle Ewigkeit festgehalten würden. […] Dshambul war wie viele einfache Menschen: Man brauchte nur auf einen Knopf zu drücken, dann kamen Gedichte. Wenn man ihm den Seidenkaftan überstülpte, ihm die Dombra in die Hände legte und irgend etwas sagte, was ihn in gute Laune versetzte, so entschlüpfte ihm ein Gedicht, erst zögernd und unzusammenhängend, aber ehe man sich’s versah, war er in Schwung geraten und fuhr solange fort, bis ihm nichts mehr einfiel. Dann schloß er alles mit Lobgesang und Gebet für Stalin ab.31

Es ist offensichtlich, dass diese dichterische Praxis anfällig für Manipulationen war. Nur durch eine permanente ideologische Adjustierung lässt sich erklären, warum Džambuls ›Improvisationen‹ dem politischen Diskurs der Zeit auf ideale Weise entsprachen. Wie wir sehen werden (s. u. V.), ­änderten sich sogar manche Gedichte von Werkausgabe zu Werkausgabe, indem sie den veränderten ideologischen Vorgaben angepasst wurden. Am Beispiel eines zentralen Ideologems der Stalinzeit, der Koexistenz von Lenin und Stalin in der panegyrischen Ikonographie, soll im Folgenden gezeigt 29  Vgl. u. a. K. Altajskij, »Akyn Džambul«, Literaturnyj kritik 1936, 12, 207–225; Džambul, Žizn’ akyna, Moskau 1938; A. Vladin, »Džambul i ego poėzija«, Novyj mir 1938, 5, 243–251; K. Zelinskij, Džambul, Moskau 1946. Vgl. auch das Drehbuch zum Film Džambul von 1952, der die Biographie des kasachischen akyns endgültig kanonisierte. N. Pogodin, A. Tažibaev, Džambul. Kinoscenarij, Moskau 1952. 30  Vgl. Garstka, Das Herrscherlob, 424. 31  Halldór Laxness, Zeit zu schreiben. Biographische Aufzeichnungen, München 1976, 254–256.



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werden, wie Džambuls Dichtung bei weitem kein Kuriosum eines absurden Zeitalters, sondern vielmehr wichtiger Bestandteil einer komplexen, transmedialen politischen Theologie der Stalinzeit war. III. Die Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der Stalinkult in einem symbiotischen Verhältnis zum Leninkult entstand und sich entwickelte.32 Ein Aspekt dieser Interdependenz beider Kulte ist die Tatsache, dass die Legitimität der Macht Stalins sich gewissermaßen auf der Basis der einbalsamierten Leiche Lenins und ihrer symbolischen Dimension konstituierte. Lenin kam dabei der oxymoronhafte Status eines »lebendigen Toten« zu. Die Einbalsamierung der Leiche Lenins und ihre Ausstellung im Mausoleum sollten die Überwindung der Vergänglichkeit des Todes symbolisieren, die paradoxe Transformation der Trauer in eine unendliche Feier der Lebendigkeit Lenins.33 Nach Majakovskijs bekanntem Aphorismus wurde Lenin nach seinem Tod zum »lebendigsten aller Lebenden« (живее всех живых),34 auf den sogar Anschläge bzw. ›Mordversuche‹ verübt wurden35 und auf dessen Gesundheit Stalin 1936 anstoßen ließ.36 Die Dichtung Džambuls liefert zahlreiche Belege für diese Form der Darstellung Lenins und ihre Funktionalisierung für den Stalinkult. Im Gedicht Im Leninmausoleum (V mavzolee Lenina), das die Werkauswahl aus dem Jahr 1938 eröffnet, erfolgt die Legitimierung Stalins als Nachfolger Lenins durch das Weiterleben Lenins nach dem Tod und seine Verkörperung in Stalin. Fiktiver Adressat des Gedichtes ist Lenin, dessen nicht metaphorisch gemeinte Lebendigkeit mehrmals hervorgehoben wird: 32  Vgl. u. a. Robert C. Tucker, »The Rise of Stalin’s Personality Cult«, The American Historical Review, 84 (1979), 347–366; Evgenij Dobrenko, Metafora vlasti. Literatura stalinskoj ėpochi v istoričeskom osveščenii, München 1993, 74–137. 33  Nina Tumarkin, Lenin Lives! The Lenin Cult in Soviet Russia, Cambridge / London 1983; Olga Velikanova, Making of an Idol: on Uses of Lenin, Göttingen / Zürich 1996. 34  Vladimir V. Majakovskij, »Vladimir Il’ič Lenin«, ders., Sočinenija v trech ­tomach, Bd. 3, Moskau 1978, 186. 35  Den ersten Versuch unternahm 1934 ein Kolchosbauer, der die Leiche Lenins mit einem Revolver ›erschießen‹ wollte. Weitere Attentate (mit Hammer, Bombe, Molotowcocktail usw.) folgten in den Jahren 1959, 1960, 1973, 1987, 1990 und 1995. Vgl. Ilya Zbarski, Lenin und andere Leichen. Mein Leben im Schatten des Mausoleums, München 2000, 100; 219 f. 36  Vgl. Oksana Bulgakowa, »Der Mann mit der Pfeife oder Das Leben ist ein Traum. Studien zum Stalinbild im Film«, Führerbilder. Hitler, Mussolini, Roosevelt, Stalin in Fotografie und Film, hg. Martin Loiperdinger u. a., München / Zürich 1995, 210–231, hier 215.

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Бессмертный, родной, любимый, Не умер ты! Не лежишь в гробу. С живым с тобой говорит Джамбул И в сердце несет твое имя! […] Не умер ты! Не в гробу лежишь. Ты каждый день живешь, говоришь     С родным своим народом!37

Der für Džambul sowie für die pseudofolkloristische Dichtung der Zeit typische innertextuelle Übergang vom Lenin- zum Stalinlob38 geschieht hier durch die Übertragung der Lebendigkeit Lenins, die durch sein schlagendes Herz dargestellt wird, auf Stalin, der mittels dieses Inkarnationsprozesses als legitimer Nachfolger erscheint: Когда я смотрел на звезды Кремля, Я видел – в них блещет жизнь твоя И твой завет последний. Я слышу – в Кремле твое сердце бьет, Там твой любимый орел живет – Великий твой наследник.39

Die kanonische Formel »Stalin ist der Lenin von heute« (Сталин – это Ленин сегодня) wird hier gerade nicht als rhetorische Figur (Eponomasie), sondern in ihrem buchstäblichen, ›magischen‹ Sinne verwendet. Die vollkommene Identifikation Stalins mit Lenin negiert den Tod und affirmiert das Leben. Wie Michail Jampol’skij überzeugend dargelegt hat,40 bedeutete die verlebendigende Erhaltung des toten Körpers Lenins eine Abkehr von den traditionellen königlichen Begräbnisritualen, in denen gerade das Verschwinden der Leiche des Monarchen die Bedingung für den Übergang ins Symbolische darstellte.41 Die Symbolisierung der Herrschaft bedeutete 37  Džambul, Pesni i poėmy, Moskau 1938, 17. »Unsterblich, teuer, lieb, / Du bist nicht gestorben! Du liegst nicht im Grab. / Mit einem Lebenden spricht Džambul mit dir / Und in seinem Herzen trägt er deinen Namen! (…) / Du bist nicht gestorben! Im Grab liegst du nicht. / Jeden Tag lebst du und sprichst / Mit deinem teuren Volk!« 38  Vgl. Ursula Justus, »Vtoraja smert’ Lenina: Funkcii plača v period perechoda ot kul’ta Lenina k kul’tu Stalina«, Socrealističeskij kanon, hg. Günther / Dobrenko, 926–952. 39  Džambul, Pesni, 17 f. »Als ich auf die Kremlsterne schaute, / Sah ich, dass dein Leben / Und dein letztes Vermächtnis in ihnen strahlen. / Ich höre: Im Kreml schlägt dein Herz, / Dort lebt dein Lieblingsadler / Dein großer Nachfolger.« 40  Michail Jampol’skij, »Der feuerfeste Körper. Skizze einer politischen Theologie«, Die Musen der Macht. Medien in der sowjetischen Kultur der 20er und 30er Jahre, hg. Jurij Murašov / Georg Witte, München 2003, 285–308, hier 292–295. 41  Wenn das Einbalsamieren der Leiche des verstobenen Herrschers in der europäi­ schen Kultur keine Seltenheit war – das Begräbnisritual der russischen Zaren im 19. Jahrhundert sah zum Beispiel ein vorübergehendes Einbalsamieren des Leichnams



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traditionell die Trennung des ›politischen‹ vom ›natürlichen‹ Körper des Königs und sicherte die Kontinuität der Macht. Nach der bekannten These von Ernst Kantorowicz besaß der mittelalterliche und frühneuzeitliche König z­wei Körper, die eine »unteilbare Einheit« bildeten: einen »natür­ lichen«, der wie bei jedem anderen Menschen sterblich war, und einen »politischen«, korporativen bzw. kollektiven, von dem der König den Kopf und die Untertanen die Glieder darstellten, der in seiner Unsterblichkeit dem natürlichen Körper überlegen war. Das Sterben eines Königs bedeutete die Trennung der beiden Körper und die Übertragung des politischen Körpers auf einen anderen natürlichen Körper. Der Ruf »Der König ist tot – es lebe der König«, der beim Begräbnis der französischen Könige zu hören war, deutete auf die Unsterblichkeit der Königswürde hin, die von der Sterblichkeit der aufeinanderfolgenden, natürlichen königlichen Körper nicht tangiert wurde.42 Auf der Folie dieser Konzeption, die ihre Gültigkeit jenseits des Mittelalters und der Frühen Neuzeit auch für das 20. Jahrhundert beansprucht,43 zeigt sich, dass im Falle von Lenin eine Trennung zwischen dem natürlichen und dem politischen Körper nicht stattfand: Gerade die einbalsamierte Leiche Lenins garantierte gewissermaßen die Unsterblichkeit seines politischen Körpers und damit das Fortleben des Leninismus und der Sowjetunion. Bezeichnend ist dabei die Tatsache, dass der Versuch einer Trennung des politischen Körpers vom Leib Lenins zunächst durchaus unternommen worden war. Lenins Beerdigung am 27. Januar 1924 verlief nach einem der westlichen Tradition ähnlichen Ritual: Nachdem der Sarg mit den Überresten Lenins in die Gruft gebracht wurde, sendeten alle Radio- und Telegraphenstationen im ganzen Land gleichzeitig folgende Mitteilung: »Lenin ist tot, aber der Leninismus lebt«. Am selben Tag veröffentlichte die Pravda einen Artikel, in dem die Rede von den »zwei Personen« Lenins war, dem sterblichen Ilič und dem unsterblichen Lenin.44 Der Versuch, sich ein Weivor (vgl. Alexander Pantschenko, »Unverweste Reliquien und nackte Gebeine. Der Tod in der russischen Kultur«, Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, hg. Constantin von Barloewen, München 1996, 331–343, hier: 336, – stellt die permanente Ausstellung des königlichen Leichnams ein Novum in der Geschichte dar, welchem später andere sozialistische Länder folgten. Zur Praxis und kulturellen Semantik der Einbalsamierung und Ausstellung von Leichen in der russischen Kultur des 19. Jahrhunderts vgl. Konstantin Bogdanov, Vrači, pacienty, čitateli: Patografičeskie teksty russkoj kul’tury XVIII–XIX vekov, Moskau 2005, 305–342. 42  Vgl. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. 43  Kantorowicz definiert sein Buch als »einen Versuch, zu begreifen und nach Möglichkeit zu demonstrieren, mit welchen Mitteln und Methoden sich im späteren Mittelalter gewisse Axiome einer politischen Theologie zu entwickeln begannen, die mutatis mutandis bis zum 20. Jahrhundert gültig bleiben sollten«. Ebd., 22. 44  Vgl. Tumarkin, Lenin Lives!, 160–169.

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terleben der Sowjetunion ohne den natürlichen Körper des Führers vorzustellen, schlug aber fehl: Wenige Tage nach der Beerdigung wurde die Entscheidung getroffen, die Leiche Lenins zunächst für vierzig Tage zu konservieren und aufzubahren,45 danach dauerhaft einzubalsamieren und ein Mausoleum zu bauen, das als Pilgerstätte das symbolische Zentrum der Sowjetunion konstituieren sollte.46 Die ›Auslöschung‹ des Körpers des Königs fand nicht mehr statt. Wenn man aber die Geschichte der Leiche Lenins in die synchrone Perspektive der totalitären Regimes im 20. Jahrhundert stellt, ergeben sich daraus interessante Parallelen. In den totalitären Systemen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich eine grundlegende Wende in der Auffassung von Herrschaft, insbesondere in ihrer körperlichen Dimension. Bei den im Sinne Max Webers »charismatischen«47 Herrscherfiguren Lenin, Hitler und Mussolini ist die politische Dimension der Macht an den natürlichen Körper des Herrschers so rückgebunden, dass eine Trennung des natürlichen vom symbolischen Körper nicht mehr möglich ist. Wie Cornelia Klinger in Anlehnung an Claude Lefort48 behauptet, enthält der Begriff des Körpers in totalitären Systemen »eine Äquivokation, durch welche eine entscheidende Differenz zwischen dem Leib des geistlichen oder weltlichen Herrn und dem Körper des Führers verdeckt wird. Während der König nach Kantorowicz zwei Körper haben sollte, nämlich einen sakralen, metaphysischen, also ewigen und einen natürlichen, also sterblichen Körper, fehlt beim totalitären Körper die metaphysische Dimension, die Verankerung in einer religiösen Glaubensüberzeugung.«49 Die Körperlichkeit des Herrschers konstituiert nun die Essenz seiner Macht.50 45  Offensichtlich ist hier die (beabsichtigte oder nicht beabsichtigte) Analogie zur sogenannten mytarstva, d. h. dem Schwebezustand der Seele zwischen Himmel und Erde nach dem Tod, der nach der russisch-orthodoxen Tradition 40 Tage andauert. 46  Zum Lenin-Mausoleum vgl. auch Boris Groys, »Lenin und Lincoln: Zwei Gestalten des modernen Todes«, ders., Die Erfindung Russlands, München / Wien 1995, 180–186. 47  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1990, 140–142. 48  Claude Lefort, »The Image of the Body and Totalitarianism«, ders, The Political Forms of Modern Society, Cambridge 1986, 292–306. 49  Cornelia Klinger, »Corpus Christi, Lenins Leiche und der Geist des Novalis, oder: die Sichtbarkeit des Staates. Über ästhetische Repräsentationsprobleme demokratischer Gesellschaften«, Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, hg. Hans Belting u. a., München 2002, 217–232, hier: 228. In diesem Zusammenhang macht Klinger auf einen entscheidenden Unterschied zwischen demokratischen und totalitären Systemen aufmerksam: »Die wichtigste Differenz zwischen nicht-totalitären Formen moderner Repräsentation und ihrer totalitären Verfehlung liegt darin, dass das moderne Gemeinwesen seine Einheit nicht anschaulich machen kann und daher in seinen Symbolen und Ritualen nur auf einen leeren Ort verweisen kann, während



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IV. Die Omnipräsenz Lenins in der Ikonographie des Stalinkults, die die Legitimität Stalins als Führer der Sowjetunion garantierte, ist also auf die oben dargelegte Entwicklung der politischen Theologie der sowjetischen Kultur zurückzuführen. Vor allem in seiner Funktion als einziger treuer Schüler Lenins war Stalin in der Lage – so die propagandistische Botschaft in Literatur, Film und bildender Kunst –, die Revolution zu vollenden, den Sozialismus aufzubauen und den Weg zum Kommunismus zu ebnen. Wie bereits erwähnt, wurde diese Botschaft synthetisiert durch die Formel »Сталин – это Ленин сегодня« (Stalin ist der Lenin von heute), die im Stalinkult omnipräsent war.51 Die panegyrische Dichtung Džambuls, in der kaum ein Text auf die gleichzeitige Repräsentation von Lenin und Stalin verzichtet, variiert diese Formel beispielsweise durch folgende Paraphrasen: »В Сталине Ленин бессмертный живет« (In Stalin lebt der unsterbliche Lenin)52; »В Сталине ленинский гений горит« (In Stalin strahlt das Genie Lenins)53; »Сталин  / … /  сердце мудрого Ленина бьется в тебе«54 (Stalin, in dir schlägt das Herz des weisen Lenin) usw.55 50

Diese Koexistenz der beiden revolutionären Führer in den medialen Repräsentationen hatte aber auch zur Folge, dass dem Stalinbild ein unabdingbarer Status des Sekundären anhaftete, den es zu überwinden galt. In den Lenin-Stalin-Repräsentationen lassen sich deshalb bestimmte Strategien zur Überwindung des hierarchischen Verhältnisses zwischen einem primären Lenin und einem sekundären Stalin beobachten. Dabei spielen Verfahren wie Überbietung und Usurpation eine zentrale Rolle, deren Verflechtung ein Plakat aus dem Jahr 1951 illustriert [Abbildung 2]. »Im Namen des Kommunismus« – so die Überschrift – handeln Lenin und Stalin in den beiden symmetrisch aufgebauten Teilen des Bildes. Stalin als Nachfolger Lenins wiederholt dessen Geste bei der Planung der Elektrifiziein totalitären Systemen auf der Körperlichkeit, der physischen Präsenz der Machthaber insistiert wird, obwohl die metaphysische Basis dafür unwiederbringlich verloren ist«. Ebd., 228–229. 50  Vgl. auch Sergio Luzzatto, Il corpo del duce. Un cadavere tra immaginazione, storia e memoria, Torino 1998, 16 f. 51  Dobrenko, Metafora vlasti, 89. 52  Džambul, »Pesnja o vypolnennoj kljatve«, Ders., Izbrannoe, Moskau 1949, 20. 53  Džambul, »Lenin i Stalin«, Ders., Izbrannoe, 14. 54  Džambul, »Pesnja o Moskve«, Ders., Pesni i poėmy, 45. 55  Vgl. auch den Eintrag über Džambul in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie von 1953, in dem vermerkt wird, dass die Idee, dass »Stalin der Lenin von heute ist«, den roten Faden im Werk Džambuls darstellt. Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, Moskau 1952, 207.

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Abb. 2: V. Gorovorkov, Vo imja kommunizma (Im Namen des Kommunismus, 1951)

rung des Landes: In der gleichen Körperhaltung und mit einem ähnlichen roten Stift zeichnen die beiden sowjetischen Führer Orte auf der Landkarte. Aber diese auf der Bildoberfläche offensichtliche, plakative Betonung des Ähnlichen (fast Identischen) wird durch eine ganze Reihe von Details unterminiert: Der Epigone Stalin entpuppt sich als ein usurpierender Doppelgänger, der seine Sekundarität gegenüber dem Original Lenin zu tilgen versucht. Zeichnet Lenin auf der Landkarte den Ort eines zukünftigen Wasserkraftwerks, das noch in Planung ist (worauf das Projekt des Wasserkraftwerks, das an der Wand hinter Lenin hängt, hinweist), und hält er selber den Plan für die Elektrifizierung des Landes aus dem Jahr 1920 in der Hand, so überbietet Stalin diese Ausgangssituation auf verschiedenen Ebenen. Er ist umgeben von Landkarten, die Hintergrund und Vordergrund der ganzen rechten Bildhälfte darstellen: Sie stellen eine bereits realisierte, flächendeckende Elektrifizierung des Landes dar, die im roten, auf dem Tisch liegenden Buch dokumentiert ist. Stalin zeichnet kein Wasserkraftwerk wie Lenin, sondern er streicht mit dem Stift eine breite Fläche im mittleren Asien, die Wüste in Turkmenistan, durch: Damit wird auf eine nächste Phase des Aufbaus des Sozialismus hingewiesen, die der Bewässerung von Wüstengebieten. Hält Lenin den Plan für die Elektrifizierung Russlands in der Hand, so hält Stalin unter dem Arm eine Zeitung, deren Überschrift auf den sozialistischen Frieden nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg hinweist.



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Abb. 3: V. Gorovorkov, Vo imja kommunizma (Im Namen des Kommunismus, 1951), Detail

Damit aber nicht genug: Durch die Realisierung des Projekts und durch andere Errungenschaften seiner Amtszeit überbietet der Vollender des Leninistischen Plans nicht nur seinen Lehrer; er usurpiert sogar die Urheberschaft des ganzen Planes. Denn auf der Landkarte neben der Hand Lenins liegt ein Brief, der die Unterschrift Stalins trägt [Abbildung 3]. Damit wird suggeriert, dass Stalin an der Konzeption des Elektrifizierungsplans aktiv teilgenommen habe, vielleicht sogar, dass die ursprüngliche Idee dazu von ihm stammte. Nicht von ungefähr steht der Brief Stalins am linken Bildrand: Seine Position stellt die chronologische Anordnung der Bildteile auf den Kopf. Der chronologisch sekundäre Stalin steht plötzlich am Anfang der hier erzählten Geschichte der Elektrifizierung der Sowjetunion und raubt Lenin seine Rolle als arché. In bester literarischer Tradition, so könnte man es auch formulieren, usurpiert der Doppelgänger die Identität des Originals: Der wahre Lenin – so die implizite Botschaft des Bildes – ist eigentlich Stalin. In der Inszenierung seiner historischen Rolle schwankt Stalin zwischen einem Status der Epigonalität und dem Primat des Neuen. Seine Sekundarität besteht unter anderem darin, dass er am Ende der kommunistischen emblematischen Reihe steht, die mit Marx und Engels ansetzt und in Lenin ihren revolutionären Wendepunkt findet. Andererseits ist er aber der Vollender der Revolution, derjenige, der als erster den Sozialismus aufbaut und die Sowjetunion in den Kommunismus führt. In diesem Zusammenhang

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Abb. 4: M. Nesterova, Stalinskaja konstitucija (Die Stalinsche Verfassung, 1939)

kommt der Schrift, genauer der Opposition zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort, eine zentrale Rolle zu. Als Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion wurde in der Stalinzeit die Verfassung von 1936 deklariert. Diese Verfassung, die Stalin wie ein neuer Moses dem Volk schenkt, sollte den Aufbau des Sozialismus konsolidieren und vollenden. Die Inszenierung dieses Ereignisses beinhaltet insofern ein Moment der Überbietung, als die Einführung der stalinistischen Verfassung die mit Lenins Namen verbundene revolutionäre Phase in der Geschichte der Sowjetunion abschließt und zugleich überwindet. Ein Plakat zur Verfassung [Abbildung 4] zeigt das Profil Stalins nicht wie üblich in partieller Überlappung mit dem Profil Lenins, sondern allein auf dem Gesetzbuch, das vom Volk auf Händen getragen wird, während Lenin im Hintergrund kaum noch sichtbar ist. Er schwebt nun in unerreichbarer Höhe in Form einer monströsen Statue auf dem Palast der Sowjets, die, wäre das Gebäude wirklich gebaut worden, bei schlechtem Wetter in den



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Wolken verschwunden wäre.56 Die Überbietung besteht hier aber mehr noch darin, dass Stalin zum Mann der Schrift stilisiert wird, der den Tribun Lenin als Mann des gesprochenen Wortes ablöst.57 Stalin der Denker führt die Sowjetunion in eine Epoche, die durch die Verfassung als schriftfundiert und stabil dargestellt wird und die die ›chaotische‹, mündliche Revolutionskultur Lenins definitiv überwindet. In seinem Gedicht »Великий сталинский закон« (Das große Stalinsche Gesetz, 1936) überbietet Džambul sogar diese Darstellung, indem er die Stalinsche Verfassung den vorsowjetischen, sowohl religiösen als auch politischen Gesetzgebungen gegenüberstellt und seinen Text auf der Basis der binären Opposition ›früher‹ vs. ›jetzt‹ konstruiert: Много законов я в жизни знал, От этих законов согнулась спина, От этих законов слезы текли, Глубокие складки на лбу залегли. Законы Аллаха, законы Аблая, Законы кровавого Николая. По этим законам детей отбирали, По этим законам людей убивали, Девушек наших, как скот, продавали. […] Звени же, домбра, по колхозным аулам, Слушайте песни акына Джамбула! Слушай, Катек, Каскелен, Каракон, – Я славлю Великий Советский Закон. Закон, по которому радость приходит Закон, по которому степь плодородит, Закон, по которому серце поет, Закон, по которому юность цветет […] Заботой согрел миллионы сердец Сталин – мудрейший, любимый отец!58 56  Zum Palast der Sowjets vgl. Peter Noever (Hg.), Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, München / New York 1994, 51–54; 151–164. 57  Zu Stalin als »Herrn der Schrift« vgl. Jurij Murašov, »Fatale Dokumente. Totalitarismus und Schrift bei Solženicyn, Kiš und Sorokin«, Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 46 (1995), 84–91, hier 86 f. 58  Džambul, »Velikij Stalinskij Zakon«, ders., Izbrannoe, 21–23. »In meinem Leben habe ich viele Gesetze gekannt, / Sie haben meinen Rücken gekrümmt, / Tränen fließen lassen, / und tiefe Falten in die Stirn gegraben. / Die Gesetze Allahs, die Gesetze des Ablai Khan, / die Gesetze des blutigen Nikolaus. / Nach diesen Gesetzen wurden Kinder entführt, / Nach diesen Gesetzen wurden Menschen getötet, / und unsere Mädchen wie Vieh verkauft. […] Erklinge, oh Domra, in den Kolchosen, / Höret die Lieder des Akyns Džambul! / Höret Katek, Kaskelen, Karagon: / Ich preise das Große Sowjetische Gesetz. / Das Gesetz, das die Freude aufkommen lässt, / Das Gesetz, das die Steppe fruchtbar macht, / Das Gesetz, das das Herz sin-

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Džambul lässt die Verfassung von 1936 nicht aus dem Leninschen Geist der Revolution entspringen, sondern inszeniert sie als plötzlicher Wechsel vom Negativen der Vergangenheit ins Positive der Gegenwart. Dies entspricht den rhetorischen Gattungsgesetzen des genus demonstrativum, in dem ein einhelliges, allgemein öffentliches Urteil über die behandelte res nach den grundsätzlich binären Möglichkeiten der Affirmation und Negation bestätigt wird: Die Panegyrik affirmiert und sanktioniert eine bestimmte Herrschaftsordnung und den damit verbundenen Wertekanon durch Lob und durch Tadel der Gegenposition. Die Affirmation eines lobenswerten ›Jetzt‹ korrespondiert in der Regel mit der Negation eines tadelnswerten ›Früher‹. Dadurch kennt die Panegyrik keine Prozessualität in der Darstellung historischer Ereignisse: Der Wechsel von der Finsternis zum Licht, vom Chaos zum Kosmos der politischen und kulturellen Jetztzeit ist momentan und wird bereits als vollbracht dargestellt.59 Das ist nur eines der zahlreichen Beispiele dafür, dass Džambuls Dichtung in erster Linie klassische Panegyrik darstellt, die lediglich eine oberflächliche orientalische Färbung erhalten hat. Bezeichnend ist jedoch die Tatsache, dass die sowjetische Kritik der Zeit die Dichtung Džambuls gerade als Gegen-Panegyrik dargestellt hat. In dem Artikel Džambul i ego poėzija stellt beispielsweise A. Vladin die Lieder Džambuls den Oden des akyns Kulmagambet gegenüber und lässt den dichterischen Wettbewerb der beiden Volkssänger, der zum festen Bestandteil der mystifizierten Biographie Džambuls gehört, als Zusammenstoß zwischen einer formalistischen, falschen Huldigungsrhetorik und einer inspirierten, volksnahen und deshalb wahren Dichtung erscheinen.60 V. Diachronisch gesehen lässt sich feststellen, dass die permanente Konfrontation mit dem Leninbild im Stalinkult nach dem Zweiten Weltkrieg etwas nachlässt.61 Der Sieg über Nazideutschland und die Durchsetzung des So­ zialismus in Osteuropa verleihen dem Stalinbild eine gewisse Autonomie. Dass aber die Notwendigkeit einer (rituellen) Legitimierung der Macht Stalins durch den Verweis auf die Nachfolgerschaft Lenins auch nach dem gen lässt, / Das Gesetz, das die Jugend blühen lässt […] Mit deiner Fürsorge hast du Millionen von Herzen erwärmt / Stalin – weisester, geliebter Vater!« 59  Vgl. Riccardo Nicolosi, Die Petersburg-Panegyrik. Russische Stadtliteratur im 18. Jahrhundert, Frankfurt / M. 2002, 24. 60  Vgl. Vladin, »Džambul i ego poėzija«, 247. 61  Vgl. dazu für das Medium der Fotografie: Rosalinde Sartorti, »Großer Führer, Lehrer, Freund und Vater. Stalin in der Fotografie«, Führerbilder, hg. Loiperdinger u. a., 189–209, hier: 197.



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Abb. 5: Filmstill aus Kljatva (Der Schwur), Regie: Michail Čiaureli (1946)

Krieg aktuell bleibt, zeigt der Film Der Schwur von Michail Čiaureli (1946), in dem Stalin als ›Reinkarnation‹ Lenins repräsentiert wird. In den Anfangsszenen des Films empfängt Stalin allein die Leninsche Pfingstbotschaft nach dem Tod des Führers und wird anschließend vom Volk als Lenin erkannt bzw. ›gekrönt‹. Die Erscheinung des Geistes Lenins und die Übergabe des an Lenin gerichteten Briefes an Stalin sprechen für eine Strategie der Machtübergabe durch Reinkarnation. Doch eine solche Strategie war im Grunde genommen inkompatibel mit dem Weiterleben Lenins nicht nur als Geist in Stalin, sondern auch als lebendiger Leichnam. Deshalb wird in der Lenin-Stalin-Repräsentation konsequent mit der Opposition Le­ ninstatue oder Leninbild vs. lebendiger Stalin operiert. In den Anfangsszenen von Der Schwur erscheint Lenin zunächst in einer dokumentarischen Aufnahme [Abbildung 5], die in ihrer photographischen Natur einem Urbild, einer nicht von Menschenhand geschaffenen Ikone, nahe kommt, während Stalin von seinem Doppelgänger, dem georgischen Schauspieler Gelovani, dargestellt wird. Die Authentizität, die die dokumentarische Aufnahme für sich beansprucht, überträgt sich in der Szene des kollektiven Schwurs auf dem Roten Platz auf die filmische Fiktion, die zur wahrheitsgetreuen geschichtlichen Darstellung wird. Hier wird nun der lebendige Stalin mit einem Porträt Lenins in Verbindung gebracht [Abbildung  6]: die Opposition statische Ab-

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Abb. 6: Filmstill aus Kljatva (Der Schwur), Regie: Michail Čiaureli (1946)

bildung vs. dynamische Darstellung Stalins unterstreicht die stattgefundene Übergabe der Macht nach dem Schwur. Die progressive Versteinerung Lenins in der Herrscherrepräsentation der Stalinzeit kommt einem erneuten Sterben gleich: Nicht zufällig beginnt die Darstellung der historischen Ereignisse in dem Film Der Schwur mit dem Tod Lenins. Auch die Lenindarstellung in der Dichtung Džambuls ändert sich nach dem Krieg, obwohl der kasachische akyn 1945 angeblich im biblischen Alter von 99 Jahren gestorben war. Die neuen Varianten von alten Texten, die als ›bessere‹ Übersetzungen deklariert werden, folgen nun der ideologischen Vorgabe eines endgültigen Sterbens Lenins. Signifikante Veränderungen im Vergleich zu der 1938 publizierten Version weist das bereits zitierte Gedicht »Im Leninmausoleum« (В мавзолее Ленина) in der Gedichtsammlung von 1949 auf. Obwohl das Gedicht in beiden Versionen das Datum 1936 trägt, haben wir es mit zwei Texten unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung zu tun: Von der emphatischen Betonung der Unsterblichkeit Lenins, die die Version von 1938 charakterisiert, ist in der Variante von 1949 nichts mehr übrig. Dies wird bereits am Anfang des Gedichtes deutlich: От гор бирюзовых, от желтых степей Пришел я, как странник, к тебе в мавзолей. Знамена склонились, скорбя, над тобой, Но ты, наш любимый, лежишь как живой. С тобою Джамбул как отцом говорит,     И старая кровь, молодея, горит.62



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Die Sprache wird in dieser Variante metaphorischer, verliert die Direktheit, die die Beschwörung der Lebendigkeit Lenins in der ersten Variante hatte (s. o. III.). Lenin liegt nun im Mausoleum »wie lebendig« (как живой), Džambul redet mit ihm nicht mehr wie mit einem lebendigen Menschen, sondern wie mit einem Vater, was – aufgrund des hohen Alters Džambuls – den Tod Lenins in eine weit zurückliegende Vergangenheit rückt. In der Version von 1949 wird die Figur Lenin durch vollkommene Passivität charakterisiert: Er ist nicht mehr das Subjekt von aktiver Handlung, sondern lediglich das Objekt von Huldigung: 62

Стоит мавзолей посредине земли, – Народы, как реки, к тебе потекли. Идут и туркмен, и узбек, и казах, Чтоб лик твой увидеть, бессмертный в веках, Чтоб слово сыновное тихо сказать, Чтоб крепкую клятву тебе прошептать.63

Das Strömen der Völker zum Leninmausoleum wird in der zweiten Variante eindeutig zu einer Art Pilgerfahrt zu heiligen Reliquien. Und auch der Übergang zum Stalinlob geschieht in der Version von 1949 durch eine stärkere Absetzung von Lenin, dessen Tod direkt erwähnt wird: Ты умер – и осиретела земля … Но вспыхнули звезды на башнях Кремля. На радость народам, На счастье земле Живет твой наследник в московском Кремле.64

Während es in der ersten Version um eine Kontinuität, um das Weiterleben Lenins in Stalin geht, modelliert die antithetische Struktur »Bist gestorben …, aber« (Ты умер …, но) in der zweiten Version eine Diskontinuität, den deutlichen Übergang von Lenin zu Stalin. 62  Džambul, »V mavzolee Lenina«, ders., Izbrannoe, 16. »Über türkisblaue Berge, durch der Steppen gelben Brand / Fand mein Schritt ins Mausoleum, ruhte, als ich vor dir stand. / Und es neigen sich die Banner, ewig trauernd, über dir. / Doch, als ruhest du ein wenig, liegst du wie lebendig hier. / Wie der Sohn mit seinem Vater, spricht Džambul mit dir, / und das alte Blut wird jünger, glüht wie Wein in mir.« Und danken wird Ihnen das lichte Jahrtausend, 217. Deutsch von Bernhard Seeger. 63  Ebd. »In der Mitte unsrer Erde ist dein Denkmal aufgestellt, / und zu dir ins Mausoleum wogt der Völkerstrom der Welt. / Zu dir ziehen die Turkmenen, der Usbeke kommt von weit, / der Kasache sieht dein Antlitz leuchten in Unsterblichkeit. / Um das leise Wort des Sohnes auszusprechen, sind wir hier, / Um den festen Schwur zu flüstern, kommen wir zu dir.« Ebd. 64  Ebd., 17. »Bist gestorben – und die Erde ist wie ein verwaistes Kind … / Aber seht, wie rot die Sterne auf den Kremltürmen sind. / Denn zur Freude aller Völker und zum Glück der ganzen Welt / Wohnt im Kreml heut dein Bruder, der für dich die Wache hält«. Ebd., 218.

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Abb. 7: G. M. Šegel‘, Vožd’, učitel’ i drug (Führer, Lehrer und Freund, 1938)

Die Malerei der Stalinzeit repräsentiert dieses endgültige Sterben Lenins als Versteinerung. In vielen Gemälden findet sich dieses Verfahren der gleichzeitigen Präsenz einer Leninstatue oder eines Leninporträts und einer Darstellung Stalins als lebendiger Mensch. [Abbildung 7] Wie beispielsweise im Gemälde von G. M. Schegel Führer, Lehrer und Freund steht häufig eine überdimensionierte Statue Lenins im Hintergrund, während auf den lebendigen Stalin im Vordergrund die Blicke aller Anwesenden gerichtet sind. Lenin, »der lebendigste aller Menschen«, ist erstarrt und entrückt in eine andere Dimension, weit weg von der menschlichen, die von Stalin allein dominiert wird.65 Das Bild von A. M. Gerassimow Hymne auf den Oktober (1942) [Abbildung 8] enthält eine interessante Variation des gleichen Motivs: im fiktiven Raum eines Prunksaals befinden sich nicht nur der lebendige Stalin und die überdimensionale Statue Lenins, sondern auch eine Abbildung Stalins selbst. Bezeichnend ist hier neben der hierarchischen Anordnung der drei Elemen65  Über die raumsemiotische Dimension in den Stalinrepräsentationen vgl. Jan Plamper, »The Spacial Poetics of the Personality Cult. Circles Around Stalin«, The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, hg. Evgenij Dobrenko / Erik Naiman, Seattle / London 2003, 19–50.



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Abb. 8: A. M. Gerassimov, Gimn oktjabrju (Hymne auf den Oktober, 1942)

te (Stalin ist nicht mehr nur unter, sondern auch über Lenin) insbesondere die Verdoppelung Stalins in einem fiktiven Raum als Abbildung eines Bildes. Dies ist ein Verfahren, das vor allem für die späteren Stalinfilme typisch ist. Ein Beispiel dafür liefern die Anfangsszene des Films Der Fall von Berlin von Michail Čiaureli (1948–50), der die Geschichte des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive eines Paares aus dem Volk, einem Metallarbeiter und einer Lehrerin, deren Liebe von Stalin regelrecht gestiftet wird, erzählt. Der ständige sowohl bildliche als auch verbale Verweis auf Stalin am Anfang des Filmes – in fast jedem Raum hängt ein Stalinporträt – evoziert die Existenz eines Originals jenseits der Kopien, das aber unerreichbar bleibt: In ihrer Laudatio auf den Metallarbeiter, die gleichzeitig eine Lobrede auf Stalin ist [Abbildung 9], äußert die Lehrerin den »unmöglichen« Wunsch dem Führer persönlich die kollektive Dankbarkeit zu übermitteln. Das für die fiktiven Figuren überraschende Erscheinen des lebendigen Stalins vermittelt wiederum den Eindruck der unmittelbaren Präsenz dieses Originals. Durch die Verdoppelung der Kopien Stalins – mit den Porträts einerseits und dem doppelgängerischen Filmdarsteller andererseits – wird auf ein Original jenseits der Filmfiktion verwiesen, auf einen Stalin, der jenseits der filmischen Abbilder existiert, genauso wie der ›lebendige‹ Stalin im Film jenseits der Porträts existiert. Dieses Original war aber zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr sichtbar, da Stalin fast nur noch in seiner medialen Repräsentation existierte: dokumentarische Filmaufnahmen wurden ab Ende

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Abb. 9: Filmstill aus Padenie Berlina (Der Fall von Berlin), Regie: Michail Čiaureli (1948–50)

der 30er Jahre sehr selten, genauso wie seine öffentlichen Auftritte.66 Das Urbild Stalins geht in den vermehrten Abbildern fast vollständig auf.67 Die verdoppelten Stalinbilder verweisen also nicht so sehr auf ein existierendes Original, sondern vielmehr auf eine Leerstelle. Diese abwesende Referenz jenseits der Zeichenflut besitzt die Aura eines Über-Originals, eines nicht mehr sichtbaren Urbildes. Hier zeigt sich eine letzte, paradoxale Strategie der Überwindung des Sekundären im Stalinbild, bei der nun ohne den Bezug auf Lenin ausschließlich mit den Stalinbildern selbst operiert wird: Was von Stalin übrig bleibt, ist seine mediale Repräsentation, also das Sekundäre von sich selbst. Die Vermehrung und Vervielfältigung des Sekundären konstruiert die Aura des abwesenden Originals, die mit der Aura des primären Lenin, der für alle sichtbar im Mausoleum liegt, in Konkurrenz tritt.

66  Vgl. Oksana Bulgakowa, »Ton und Bild. Das Kino als Synkretismus-Utopie«, Die Musen der Macht, hg. Murašov / Witte, 173–186, hier: 174. 67  Nikolas Hülbüsch, »Džugašvili der Zweite. Das Stalin-Bild im sowjetischen Spielfilm (1934–1953)«, Personality Cults in Stalinism – Personenkulte im Stalinismus, hg. Klaus Heller / Jan Plamper, Göttingen 2004, 206–238, hier: 207.

Panegyrik zwischen Tradition und Faschismus. Hans Heinrich Ehrler als Staatsdichter 1912–1951 Von Stefan Keppler-Tasaki »Ich habe ja die freundliche Zuneigung durch Jahrzehnte erfahren dürfen – das ist das Persönliche. Aber ich weiss auch sachlich, dass in manchem der Werke des Entschlafenen die Unrast der Zeit überdauernde Werte gefasst sind.«1 – »Ich habe das gesucht, was mir echt und volkhaft zu sein scheint, das in seiner Art Bleibende: Gestalt gewordenes Gedächtnis und Gewissen unseres Volkes in dieser Zeit […].«2

Die erste Äußerung stammt von Bundespräsident Theodor Heuss, die zweite von NS-Literaturorganisator Will Vesper. Beide betreffen den reli­ giösen Dichter und politischen Schriftsteller Hans Heinrich Ehrler (1872– 1951), Autor von 32 Büchern sowie ungezählten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, die aus demselben Grund in Vergessenheit geraten sind, aus dem sie zu ihrer Zeit höchst nachgefragt waren: Sie beschworen über fünf Jahrzehnte und vier politische Systeme hinweg die ›ewigen Werte‹, zeigen sich aber sozial-funktionell aufs engste an Jahr und Tag, an Situation und Auftrag gebunden, insbesondere als panegyrische Dichtungen in gebundener wie ungebundener Form, als Loblieder und Lobreden. Heuss schrieb (1951) der Witwe seines jahrzehntelangen Duzfreundes Ehrler, Vesper benachwortete (1940) seine Anthologie Deutsche Lyrik von heute, die unter anderem vier naturmagische Ehrler-Gedichte umfasst (Der Erde, Ich pflanzte mir nach einem Traum, Die Zelle des Denkers und Juli). Nachdem in Vespers führender NS-Zeitschrift Die neue Literatur Ehrlers Panegyrikus auf Adolf Hitler, Die Stimme, erschienen war, erhielt der Autor seit 1938 einen staatlichen Ehrensold in Höhe von monatlich 165 Reichsmark. Heuss, in seiner Funktion als Kultusminister von Württemberg-Baden, hat diese öffentliche Besoldung 1946 weiterverwilligt und sich in Ehrlers Entnazifizierungsverfahren für den Freund, der 1939 in die NSDAP eingetreten war, eingesetzt; Ehrler wurde vollständig entlastet.3 In den Folgejahren bedachte der Mäzen 1  Theodor Heuss an Melanie Ehrler, 18.6.1951, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 127 (= Bundesarchiv Koblenz). 2  Will Vesper, »Nachwort«, Die Ernte der Gegenwart. Deutsche Lyrik von heute, hg. v. dems., 4. Aufl. München 1943 (zuerst 1940), 386. 3  Vgl. die Verfahrensakte im Staatsarchiv Ludwigsburg, Ministerium für politische Befreiung, Spruchkammer 6 – Böblingen, Sign. EL 902 / 4 Bü 2719, ferner

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Heuss den Dichter mehrfach mit kleineren Unterstützungsbeträgen aus amtlicher,4 aber auch aus privater Kasse.5 1950 schließlich verfasste Ehrler auf das neu gewählte Staatsoberhaupt das achtstrophige Preisgedicht Theodor! mit den charakteristischen, auf Flucht und Vertreibung abhebenden Anfangszeilen: »Du bist ein Mensch, der Menschen ordnen soll  /  Auf einem Erdfleck voll und übervoll.«6 Heuss, der Uneitle und Langmütige, antwortete darauf mit einem verständnisvollen Dankesbrief (»für die Verse, die Du mir gesandt hast und das treue Gedenken, was aus ihnen spricht, darf ich Dir herzlich danken«7), während er ein gleichgeartetes Glückwunschgedicht von Agnes Miegel, die ebenfalls schon Heuss’ »Sozusagen-Vorgänger«8 Hitler besungen hatte, degoutiert zurückwies.9 Allein mit den Kontinuitäten zwischen ›Drittem Reich‹ und Bundesrepublik – Will Vesper arbeitete nach dem Krieg bekanntlich für den Bertelsmann-Verlag weiter –, lässt sich die vielseitige, amtlich-politische Wertschätzung Ehrlers, die bis in das Kaiserreich zurückreicht, kaum erklären. Gewiss hat es der Minister und Bundespräsident Heuss der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nicht allzu schwer gemacht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Persönlich aber setzte er sich nur für Zeitgenossen ein, die ihm bereits vor dem Nationalsozialismus und durch die Diktatur hindurch verbunden waren. »[I]ch werde schon sehen, dass ich mir selber treu bleibe, d. h. so viel, wie auch den Freunden treu sein«, versicherte Heuss seinem württembergischen Landsmann nach der Präsidentenwahl im September 1949 und bezeichnete damit auch sein Verhalten unmittelbar nach 1945.10 Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, überarb. Ausgabe, Frankfurt / M. 2009, 116. 4  Vgl. Hans Bott (Persönlicher Referent des Bundespräsidenten) an Hans Heinrich Ehrler, 12.12.1950, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Bundespräsidialamt, Amtszeit Heuss, B 122, 335 (= Bundesarchiv Koblenz). 5  Vgl. Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, undat. (ca. März 1949), Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 76 (= Bundesarchiv Koblenz). 6  Hans Heinrich Ehrler, Theodor! (dat. 31.1.1950), Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 127 (= Bundesarchiv Koblenz), Bl. 1. 7  Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 6.2.1950, Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 127 (= Bundesarchiv Koblenz). 8  Theodor Heuss, »Zur Kunst dieser Gegenwart«, ders., Zur Kunst dieser Gegenwart, Tübingen 1956, 13–81, hier 14. 9  Vgl. Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie, Stuttgart 2012, 565. 10  Theodor Heuss an Hans Heinrich Ehrler, 26.9.1949, Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 127 (= Bundesarchiv Kob-



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Ehrler hatte eine lange Geschichte des linksliberalen Engagements in einer südwestdeutschen 48er-Tradition, wie sie Heuss maßgeblich und am ausführlichsten in seinem Buch 1848. Werk und Erbe (1948) vertrat.11 Trotz »Prunk und Preis«, so Ehrler in der Hymne Theodor!, nämlich trotz der politischen Karriere vor allem seit dem ersten Reichstagsmandat 1924, hat Heuss seinen bei Stuttgart wohnenden Freund zumindest bis 1947 wiederholt besucht.12 Bei einem Gegenbesuch Ehrlers in der Reichshauptstadt entstand die Artikelserie Reise nach Berlin, die von Juni bis September 1928 sowohl in der Berliner Vossischen Zeitung als auch in der Stuttgarter Süddeutschen Zeitung erschienen ist. In diesen Reisefeuilletons, deren Buchausgabe Ehrler »Meinen Freunden« widmete, spielt Heuss ohne Namensnennung, aber als Figur des bodenständigen Schwaben und weltaufgeschlossenen Liberalenpolitikers unverkennbar eine Hauptrolle: als treusorgender Familienvater, als Mann der Gesellschaft und unkomplizierter Mäzen, schließlich als Staatsmann, der den Besucher mit Politikern verschiedener Richtungen zusammenbringt. In der Weinstube von Lutter & Wegner kneipt man als Postfiguration von E.T.A. Hoffmann und Ludwig Devrient, spricht über die Bürden der Politik und die Hoffnungen der Literatur.13 Heuss hatte zu dieser Zeit wiederholt Schwierigkeiten mit seinem Landesverband und verpasste bei den Wahlen vom Mai 1928 den Wiedereinzug in den Reichstag, weil er keinen ausreichend hohen Listenplatz erhielt und die bürgerlichen Parteien starke Verluste erlitten. Vor diesem Hintergrund leistete Ehrler mit seinen populären Feuilletons und deren schmeichelhaft gemeinten Heuss-Darstellung eine Art Imagekampagne. Diese Interpretation liegt auch deshalb nahe, weil Ehrler seit Anfang des Jahrhunderts schon mehrfach den Wahlkampf der Linksliberalen, erst der Fortschrittlichen Volkspartei, dann der Deutschen Demokratischen Partei, unterstützt hatte: in seiner frühen Karriere unter anderem als Chefredakteur (von 1904 bis 1907) der Konstanzer Abendzeitung, dem (so der politisch bekennende Untertitel) Volksparteilichen Organ für die Seegegend und den lenz). Zu Heuss’ differenzierten Interventionen bei den Spruchkammerverfahren vgl. Ernst Wolfgang Becker, »Einführung: Theodor Heuss als Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949«, Theodor Heuss, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. v. Ernst Wolfgang Becker, Berlin u. a. 2007, 15–58, hier 45 f. 11  Theodor Heuss, 1848. Werk und Erbe, Stuttgart 1948. 12  Ehrler, Theodor!, Bl. 1. Vgl. zuletzt Ehrler an Heuss, 27.1.1947, ebd. N 1221, 76. In späteren Briefen hält Heuss den Besuch in der Schwebe (»dass ich auch wieder einmal nach Dir sehen kann, vermag ich heute noch nicht zu übersehen«, 13.2.1949, ebd.) oder er entschuldigt sich, für neuerliche Besuche keine Zeit zu haben (»Die Freiheit der lockeren Entschließungen und Entscheidungen ist dahin«, 2.5.1950, ebd. N 1221, 127). 13  Hans Heinrich Ehrler, Meine Fahrt nach Berlin. Erlebnisse eines Provinzmanns, Stuttgart 1929.

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Schwarzwald, bei den Regierungsumbildungen vom November 1918 und den Wahlgängen vom Januar 1919 als öffentlicher Redner. Auch mit zahlreichen Beiträgen zur Münchner, seit 1913 von Heuss geleiteten Revue März und 1920 als Gründungsmitglied der Stuttgarter Ludwig-Uhland-Gesellschaft neben den führenden Liberalenpolitikern Conrad Haußmann und Fritz Elsas hat sich der Autor – so zeigen die Erinnerungen von Elsas14 – engagiert in die Bresche geworfen. Zu den wichtigsten Lobpreisungen des jungen Ehrler gehört das achtstrophige Gedicht mit dem schlichten, die Personenverehrung exponierenden Titel Uhland, das als einer von vielen frühen Ehrler-Texten im Simplicissimus erschienen ist. Nun unterhält die panegyrische Redekunst enge Beziehungen zur Politischen Theologie, steht hingegen in Spannung zu liberal-demokratischen Politikkonzepten, wie sie das Münchner Wochenmagazin für Politik und Satire vertrat. Panegyrik ist ihrer geschichtlichen Verbreitung und ihren regelhaften Erfordernissen nach jedenfalls alles andere als eine republikanische Redeform, so dass Lobgedichte wie auf Uhland oder auch auf Heuss per se eine Herausforderung an das rhetorische aptum stellen. Was den Uhland-Panegyrikus vorderhand ermöglicht, ist die dem Liberalismus eigene Wertschätzung des Individuums, die Einschaltung postromantisch-ironischer Elemente, z. B. bei Wortwahl und Reimbildung, sowie die Wahl des Gegenstands als einer verstorbenen Person, für die ohnehin das traditionelle De mortuis nihil nise bene gilt. Im November 1912 war der 50. Todestag des Tübinger Spätromantikers und Paulskirchenpolitikers Ludwig Uhland zu begehen. Die regierungs- und reichskritische Simplicissimus-Redaktion räumte dafür eine ganze Seite ein, auf der Ehrlers zweispaltig gedruckter Text von einer aufwendigen Illustration des Hausgraphikers Wilhelm Schulz eingefasst wird. Dort steht die Figur des grauhaarigen Uhland in schwarzem Rock vor dem Schloss Hohentübingen; zwei Trikoloren im Schwarz-Rot-Gold der Demokratiebewegung flankieren sie. Für die Panegyrik, das bestätigt dieser paramediale Rahmen, sind Performanzaspekte der gelungenen, feierlich inszenierten Darbietung von wesentlicher Bedeutung.15 Bei späteren Lobreden Ehrlers wird diese Funktion durch die Übertragung im Rundfunk oder durch die Position als Leitartikel erfüllt (s. u.). 14  Fritz Elsas, Auf dem Stuttgarter Rathaus 1915–1922. Erinnerungen, hg. v. Manfred Schmid, Stuttgart 1990, 121. 15  Vgl. den Ansatz der verdienstvollen Arbeit von Stefanie Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof, Tübingen 2002, 9 f., sowie weiterführend Jan Andres, »Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet«. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert, Frankfurt / M. u. a. 2005, bes. 101–123 (»Theatralität und cultural performance«).



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Das Gedicht beginnt mit Versen, deren Aussage insbesondere auf Uhlands 1809 geschriebenen, 1825 vertonten Nationalschlager Ich hatt einen Kameraden zielt: Von deiner Stimme tönet alles Land, Und wo ein Deutscher singt, da dankt er dir, Auch wenn er lang vergessen, wer das Band Der schlichten Reime knüpfte zu des Liedes Zier.

Der Schlussvers, in dem Uhland selbst als »du guter Kamerad!« angesprochen wird, schließt den Kreis der Anspielung, indem er die Schlusszeile des Prätexts aufnimmt: »Mein guter Kamerad!«16 Ehrlers an die Formen des Volks- und des Kirchenlieds anschließenden Strophen – sechs Strophen zu vier kreuzgereimten Fünfhebern und zwei Strophen zu acht Vierhebern – erfüllen alle Kriterien der panegyrischen Rede: Die kasualpoetische Bindung an einen besonderen Anlass oder casus (hier den Todestag), die persönliche Adressierung (hier wiederholt mit dem vertraulichen Du), die Ausbeutung der rhetorischen Mittel von Rühmung (»du stiller Held«) und Hyperbolik (»tönet alles Land«).17 Das preisende Genus konnte von seinen antiken Anfängen und systematischen Optionen her immer auch schon Kritik entfalten, am Gepriesenen oder an der Gegenwelt des Gepriesenen.18 Diese Möglichkeit lässt sich auch Ehrler nicht entgehen, indem er den Topos der Göttervisitation aufruft: Wenn heut dein Geist herunterstiege, Du Sänger und du stiller Held, Und sähe diese Frucht der Siege. Nicht wie er’s suchte, fände er’s bestellt.

Mit Referenz auf Uhlands Parlamentsmandate, seinen Tod 1862 und die Reichsgründung 1871 zeigt sich Ehrler, bei grundlegend anti-borussischer Stoßrichtung, unzufrieden, dass die deutsche Einheit in Form eines Reichs statt einer Republik kam: Auch riefest du nach einem deutschen Vaterland Nach einem freien, ganzen, recht und gleich. Man sargte deine Sehnsucht ein mit starker Hand Und gab uns dann dafür ein deutsches Reich.19 16  Ludwig Uhland, »Der gute Kamerad«, ders., Werke, hg. v. Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler, Bd. 1: Sämtliche Gedichte, München 1980, 148 f., hier 149. 17  Zu diesen Grundelementen vgl. Rudolf Drux, »Panegyrikus«, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, hg. v. Harald Fricke, Berlin u. a. 2000, 5–8, sowie Michael Mause, »Panegyrik«, Historische Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 6, Berlin u. a. 2003, 495–502, aber auch Wulf Segebrecht, Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977, bes. 113 ff. 18  Vgl. Drux, »Panegyrikus«, 5. 19  Hans Heinrich Ehrler, »Uhland«, Simplicissimus 17 (1912), 560.

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Ehrler beklagt den »grobe[n] Eifer«, der »bei uns waltet«, die »kalte[n] Werke und Geschäfte« des öffentlichen Lebens. Dagegen lebe »in den Stuben« und in des »Volkes Herz« das bessere Deutschland, identisch mit der Gemeinde Uhlands. So dient dieses panegyrische Gelegenheitsgedicht der kulturellen Gedächtnisbildung des bedrängten (südwest-)deutschen Liberalismus und der Stabilisierung eines politischen Gründungs- und Kontinuitätsmythos von den (wie Heuss sagt) »Männer[n], die uns vorangingen«.20 Die »Casualdeixis«21 ist dabei nur gering ausgeprägt: Der Text selbst gibt kaum einen Hinweis auf die spezifische Veranlassung durch den Todestag, versucht vielmehr, eine zeitlich übergreifende Bedeutsamkeit zu generieren – und dies auch für die Poetologie der Panegyrik. Jeder Panegyriker demonstriert, dass er Größe erkennt, wenn er sie sieht, dass er dem Gepriesenen moralisch verwandt ist. ›Mein guter Kamerad!‹ sagt Ehrler in diesem Sinn über Uhland als des Kronzeugen eines politisch aktiven Literatentums und des meinungsbildenden Gebrauchswerts von Literatur. Uhland erscheint damit nicht nur als Verkörperung des politischen Programms, sondern zugleich als Modell einer gesellschaftlich verpflichteten Literatur, die in Ich hatt einen Kameraden bis heute (bei den Trauerfeiern der Bundeswehr für die Afghanistan-Gefallenen) propagandistische Effizienz mit suggestiven ästhetischen Qualitäten verbindet,22 mit anderen Worten die »Kunstwerk /  Machwerk-Dichotomie«23 unterläuft. Vor dem politischen Hintergrund des schwäbischen Spätromantikers versteht sich auch die Uhland-Verehrung von Heuss, der z. B. in seiner literaturkritischen Essaysammlung Vor der Bücherwand (1961) über den Dichter schreibt: »Das bekennende Eingreifen in die heimischen Verfassungskämpfe machte ihn auch als Menschen sichtbar, und nicht bloß seinen Landsleuten«. Der Genialität ermangelnd, habe er so doch »ein Stück Volksbesitz« werden können.24 ›Allgemeinwohlorientierte Popularität ohne subjektivistische Genialität‹ lautet letztlich die uneingeschränkt positiv gemeinte Formel, mit der Heuss seinen Landsmann und Parteifreund Uhland ehrt. Es ist derselbe Nenner, auf den er Ehrler bringt, unter anderem in den beiden wohlwollenden Rezensionen, die er 1913 und 1914 zu Ehrlers beiden ersten, im Simp20  Theodor Heuss, Aufzeichnungen 1945–1947, hg. v. Eberhard Pikart, Tübingen 1966, 162. Zur gedächtniskulturellen Funktion von Panegyrik vgl. Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm, 9 u. ö. 21  Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm, 7 u. ö. 22  Zur politisch-literarischen Uhland-Rezeption zwischen Popularität und Kanonizität vgl. Ilonka Zimmer, Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / M. u. a. 2009, bes. 57–75. 23  Stockhorst, Fürstenpreis und Kunstprogramm, 11 u. ö. 24  Theodor Heuss, Vor der Bücherwand. Skizzen zu Dichtern und Dichtung, Tübingen 1961, 121 u. 123.



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licissimus-Verlag Albert Langens erschienenen Romanen (Die Reise ins Pfarrhaus und Briefe vom Land) veröffentlichte.25 Schon vor und noch nach seinen Beiträgen zum satirischen Simplicissimus (1908 bis 1916) arbeitete Ehrler regelmäßig für die Frankfurter Zeitung, der Hochburg des seriösen Journalismus im liberalen Geist der Paulskirchenstadt. Seit 1906 wurde Ehrler offiziell unter den »jüngeren Mitschreitern des Feuilletons« geführt.26 Das Feuilleton der Frankfurter Zeitung stand im unteren Viertel der ersten Seite, direkt unter den politischen Hauptnachrichten. Dies ermöglichte einen engen zeithistorischen Bezug der Kulturbeiträge, den gerade Ehrler vielfach suchte. Mit seinem ehrenden Nachruf auf Wilhelm Raabe im November 1910 bewies er aber zunächst, dass seine literarischen Götter nicht nur im Süddeutschen und der Romanik zu finden sind. An Ehrlers Raabe-Verehrung knüpft sich eine klare politische Position gegen Deutschland als Machtstaat und dessen Einigung im Zeichen Bismarcks. Raabes Patriotismus, so Ehrler, meine »die Liebe zum deutschen Geist, so wie man ihn herkömmlich als dem Land der Träumer eigentümlich pries, nicht die Liebe zur demonstrativen Macht«.27 Insoweit Ehrler anhand von Uhland und Raabe aus der Opposition gegen den kaiserzeitlichen Staat heraus schrieb, kann er noch nicht als Staatsdichter bezeichnet werden. Dies ändert sich aber gründlich mit Kriegsbeginn, als der herzschwache Landsturmmann zum Propagandaeinsatz abgestellt wurde. 1915 publizierte Ehrler in der Frankfurter Zeitung jeden Monat mehrere Feuilletons, teils Schmähreden gegen vermeintliche Feinde und Verräter (An Flämisch-Belgien,28 An die deutschen Professoren der deutschen Sprache in England,29 An Spitteler,30 das Gedicht Italien direkt unter dem politischen Leitartikel Italiens Eintritt in den Krieg), teils Lobreden wie auf den Idylliker Christian Wagner als »Verbliebenem eines Paradies, Hüter und Priester eines Asyls, aus dem uns böse Trompeten riefen« (Einem alten Dichter31) und auf die Gruppe der Deutschamerikaner, »[w]illkommenste Bundesge25  Vgl. Theodor Heuss, [Rez.] »Briefe vom Lande«, Neckar-Zeitung, 13.11.1911, sowie ders., [Rez.] »Die Reise ins Pfarrhaus«, März. Eine Wochenschrift 8 (1919), 178 f. Dazu Reiner Burger, Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte, Münster 1999, 158. 26  Frankfurter Zeitung (Hg.), Geschichte der Frankfurter Zeitung, Frankfurt / M. 1906, 932. 27  Hans Heinrich Ehrler, »Wilhelm Raabe«, Frankfurter Zeitung, 20.11.1910. 28  Frankfurter Zeitung, 1.1.1915. 29  Frankfurter Zeitung, 6.6.1915. 30  Frankfurter Zeitung, 2.1.1915. Dem geht ein Briefwechsel mit Wagner voraus, vgl. Hans Heinrich Ehrler an Christian Wagner, 1909, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Wagner. 31  Frankfurter Zeitung, 4.8.1915.

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nossen«, die ›die alte Heimat‹ doch so sehr liebten und unterstützten (An die Deutschen in den Vereinigten Staaten32). Die meisten dieser Texte sind Beispiele schärfster Propaganda, die die literarischen Mittel bedingungslos in den politischen Dienst stellt, mit der Panegyrik patriotische Vorbilder aufrichtet, mit Diatriben als gewissermaßen umgekehrter Panegyrik ›undeutsches Verhalten‹ geißelt. Der Gattungsbegriff Panegyrik wird üblicherweise als Lob eines »Gegenstandes«33 definiert, so dass darunter auch Ereignisse und Personengruppen fallen können. Im engsten Bereich der panegyrischen und anti-panegyrischen Tradition seit dem römischen Kaiserreich stehen aber hoheitliche Einzelpersonen. Daran angelehnt, behandelt Ehrler die zu ihrer Zeit sehr bekannten Schriftsteller wie Christian Wagner und den Schweizer Pazifisten Carl Spitteler als gute und schlechte Geistesfürsten. Vollends uneigentlich und in der Nachfolge der alteuropäischen Hofberedsamkeit34 geradezu neoabsolutistisch verfährt Ehrler in seiner Hindenburg / Ludendorff-Epideixis An die deutschen Feldherren vom 27. August 1915. Hier lässt der Redner keinen panegyrischen Topos aus: Die Generäle seien in den »heiligen Fieber[n] des Kampfes […] von der geheimnisvollen Unfehlbarkeit umgürtet«, von »Erleuchtungen« erfüllt, vom »Wissen um eine Sendung« begleitet, gehörten zu den »Erwählten«, die das Schicksal sendet, die »der Welt den Segen« bringen. Aus einem Verständnis von nationaler Solidarität heraus und in der Annahme, der Krieg werde ein moralisch und staatsorganisatorisch besseres, ein brüderliches statt paternalistisches Reich heraufführen, stellte Ehrler seine Vorbehalte gegenüber der preußisch-deutschen Gesellschaft und Verfassung zunächst zurück. Als im November 1918 die Niederlage zu quittieren war und die Liberalen in die württembergische Landesregierung einrückten, engagierte sich Ehrler sogleich und in Übereinstimmung mit seinen ältesten Überzeugungen für die Republik, wobei er nicht daran sparte, den verlorenen Krieg der wilhelminischen Reichsgründung (dem »konservative[n] Staatsbegriff, verkörpert in Preußen«35) und einer vom Mammon besessenen Gesellschaft (auf dem »ungeheueren Weg zur Macht«36) anzulasten. Die maßgeblichen Liberalenpolitiker und Mitbegründer der Deutschen Demo32  Frankfurter

Zeitung, 7.2.1915. »Panegyrikus«, 5. 34  Zu deren Verfahren vgl. Mary Whitby, »Introduction«, The Propaganda of Power. The Role of Panegyric in Late Antiquity, hg. v. Mary Whitby, Leiden 1998, 1–16, sowie Georg Braungart, Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus, Tübingen 1988, hier bes. 29–32 u. 80–85. 35  Hans Heinrich Ehrler, [o. T.], Anna Schieber u. Hans Heinrich Ehrler, Unser Bekenntnis zur neuen Zeit, Stuttgart 1919, 16–21, hier 16. 36  Ehrler, [o. T.], 17. 33  Drux,



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kratischen Partei, Heuss, Haußmann und Elsas, zogen Ehrler tief in die Politik des demokratischen Neuaufbaus. Im Auftrag eines sozialdemokratischen Arbeitsministers, Hugo Lindemann, verfasste der Dichter noch im November die Flugschrift Den Heimkehrenden Schwaben, in der er – in dieser Reihenfolge – das Lob der württembergischen Kriegstaten, des alten schwäbischen Fleißes und der neuen Republik singt. Dazwischen finden sich auch räsonierende Passagen, aber die panegyrischen Lichter werden reichlich und systematisch dort aufgesteckt, wo die Vernunftgründe sichtlich nicht hinreichen oder ihrer Wirkung nicht vertraut wird. So zu Eingang bei der – unter den gegebenen Umständen mühsam herbeiformulierten – ›Siegerehrung‹, die freilich von den griechischen Anfängen der Panegyrik bei Pindar ein wichtiges Gattungselement darstellt.37 Ehrler erklärt hier mit Bezug auf einen Krieg, den Deutschland allein gegen die Welt gefochten habe: Und die Württemberger standen immer inmitte. Keine Truppe wurde so oft und so rühmlich im Tagesbericht genannt, auf keine vertrauten die Heerführer so sicher in brennender Stunde. Kundige schätzen, keine zähle weniger Gefangene, keine mehr Tote. Ja kommt, wir dürfen Euch das Eichlaub auf den Helm stecken; und nicht klanglos soll in die Truhe gelegt werden, was Ihr getan, getragen habt.38

Der Lobredner vollzieht in actu, was er im Aussageinhalt verspricht: dass die Taten weder ungerühmt bleiben noch in Vergessenheit geraten. Vom Mythos des alemannischen Tatenruhms kommt er mühelos zum Geist des ›Schaffens‹ und ›Häusle-Bauens‹, den er zugleich als Staatsmetaphorik verwendet: »Ihr kommt als Bürger […]. Wände sind zwischen uns eingestoßen, und Krusten um uns gesprungen, leichteren Atems wollen wir einander näherrücken …«, nicht jedoch in Arbeiter- und Soldatenräten, sondern zum gesellschaftlichen Neuaufbau: »Weg mit der Waffe, her mit der Kelle«, lautet der Schlussappell,39 an dem sich die anti-kommunistische Absicht offenbart. Ehrler praktiziert hier eine Beschönigung von Niederlagen und Konflikten, unternimmt eine Disziplinierung und Befriedung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der panegyrischen Tradition (bei Isokrates im Verhältnis zwischen Athen und Sparta, während des höfischen Absolutismus im Verhältnis zwischen Fürsten und Ständen) inhärent ist.40 Das Lob der republikanischen Freiheit vertieft Ehrler in den beiden Reden an das schwäbische Volk, die am 27. November und 1. Dezember im 37  Vgl.

Mause, »Panegyrik«, 498. Heinrich Ehrler, Den heimkehrenden Schwaben, Stuttgart 1918, 1. 39  Ehrler, Den heimkehrenden Schwaben, 3. 40  Vgl. Whitby, »Introduction«, sowie Braungart, Hofberedsamkeit, bes. 96 f. u. 100–111. 38  Hans

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Stuttgarter Neuen Tagblatt, dem von Robert Bosch unterstützten Sprachrohr der DDP, erschienen. Diese Texte beginnen ausdrücklich als »Klagelieder« nach dem Muster der alttestamentlichen Jeremiaden (»Denn das ist das erste: den Jammer sehen. Wissen, das Reich liegt elend geschlagen«), um dann in dem Modus der Verteidigungsrede mit panegyrischen Anteilen überzugehen. Darin heißt es zum Vorteil der Staatsumbildung unter anderem: Das Ereignis wird Revolution genannt, aber es war mehr. Was da kam, war schon geworden und hervorgewachsen. […] Darum, weil die Natur wirkte, wird an dem Geschehenen auch nichts mehr zu ändern sein. Wer Augen hat zu sehen, erkenne das Schwergewicht der Idee.

Ehrler setzte die rhetorische Technik, den gesellschaftlichen Umbruch als natürlichen Vorgang zu metaphorisieren, in einer Reihe von Wahlkampfaufritten vom Januar 1919 fort. Vor den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar, zu denen Haußmann aufgestellt war, sprach Ehrler am 5., 9. und 15. Januar auf Kundgebungen der DDP.41 Die erste Rede wurde unter dem Titel Unser Bekenntnis zur neuen Zeit auch als Flugblatt verbreitet. ›Bekenntnis‹ ist weniger als Panegyrik, mehr Anerkennung einer Wahrheit als Euphorie über Glanz und Größe. Die Demokratie, heißt es hier wiederum naturalisierend, sei »die Luft […], in der wir leben und … genesen müssen.«42 Die Formulierung vom ›Müssen‹ kehrt noch mehrfach wieder, zusammen mit der Erinnerung an die 48er-Bewegung und mit dem Wunsch nach demokratisch gesalbten Führerfiguren: Wir müssen den neuen Weg gehen, und er knüpft an an jene Zeit, da Uhland in der Paulskirche zu Frankfurt sprach und da er ein einiges, alle Stämme umfassendes Vaterland forderte, ohne Vormacht, mit dem vollen Tropfen des demokratischen Öles auf dem Haupt seiner Lenker.43

Die Notwendigkeit von Panegyrik – dies könnte man bereits aus dem Panegyrikos (380 v. Chr.) des Isokrates, der auf die außenpolitische Bedrohung und innenpolitische Zersplitterung bezogen war, ebenso aus der spät­ antiken Sammlung der Panegyrici Latini folgern – deutet weniger auf die allgemeine Unangefochtenheit des Gepriesenen, sondern auf eine besondere Krisensituation, in der Vorbilder zur Orientierung aufgerichtet werden oder Umstrittenes verteidigt wird. Dasjenige, das Huldigung erfordert, ist das, dessen absolute Werthaftigkeit sich nicht mehr oder noch nicht von selbst versteht. In diesem Sinne fungierte der Staatsdichter Ehrler als ein Krisendichter, dessen Dienstleistungen zu bestimmten prekären Zeitpunkten – wie dem ersten Kriegsjahr, dem revolutionären Umbruch und dann auch zum 41  Vgl. N. N., »Wirkungsvolle Kundgebungen der D.d.P.«, Stuttgarter Neues Tagblatt, 7.1.1919; N. N., [o. T.], Stuttgarter Neues Tagblatt, 17.1.1919; Elsas, Erinnerungen, 96. 42  Ehrler, [o. T.], 16. 43  Ehrler, [o. T.], 16–20.



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Ende der Weimarer Republik – besonders nachgefragt wurden. Bei allen diesen politischen Einsätzen kam es darauf an, dass Ehrler primär als gemütvoller Lyriker und Romanautor, namentlich als Dichter der harmonia mundi populäre Anerkennung besaß und daraus seine Autorität und Effektivität bezog. Nachdem sich Ehrler in den literarischen Unterhaltungsblättern wie dem Literarischen Echo44 und Velhagen & Klasings Monatsheften45 bereits um 1919 einiger Beliebtheit erfreute, für sein Frühwerk vereinzelt auch bei der Frankfurter Zeitung46 und der Neuen Rundschau47 Rückhalt fand, kam er 1928 mit Rezensionen von Oskar Loerke im Berliner BörsenCourier48 und von Franz Blei in der Literarischen Welt49 dem Establishment nahe. 1930 nahm ihn der nach S. Fischer größte deutsche Literaturverlag, Langen-Müller in München, mit dem melodramatischen Sterberoman Die Frist auf. Es war dieses professionelle Gewicht, mit dem Ehrler 1932 nochmals für die Republik in den Ring stieg. Der 11. August bildete den Verfassungstag der Weimarer Republik, den die Reichsregierung in Berlin und die Staatsregierungen in den Ländern mit eigenen Feiern begingen. In Stuttgart lud die Staatsregierung von NS-Gegner Eugen Bolz (Zentrum) mit dem zuständigen, französischstämmigen Kultusminister Wilhelm Bazille (Deutschnationale Volkspartei) Ehrler als Festredner ein. Dieser führt sich in der Exposition seiner vom Süddeutschen Rundfunk übertragenen Rede zunächst als Hüter der deutschen Sprache und des literarischen Erbes ein. Ein solcher Anspruch mochte das Privileg eines entschiedenen Epigonen der Goethezeit und des 19. Jahrhunderts sein. Dazu huldigt er »unserer lieben Frau Muttersprache«, wie sie Schopenhauer genannt hat, mit Silben und Worten dieser unserer Herzenssprache, wie sie in den Gezeiten aus dem Gemeinsamen der deutschen Stämme gewachsen ist, wie unsere Dichter und Denker sie gebildet und geformt haben. [… ] Diese Sprache ist der wundersame, magische, geistige Körper unserer nicht durch Grenzen zu zerstückelnden Nation.50 44  Vgl. Rudolf Krauß, »Hans Heinrich Ehrler«, Das literarische Echo 21 (1919), H. 12, 705–710. 45  Vgl. Karl Strecker, [Rez.] »Der Hof des Patrizierhauses, Die Reise ins Pfarrhaus«, Velhagen & Klasings Monatshefte 33 / 2 (1919), 549–551. 46  Vgl. H. M., [Rez.] »Die Reise ins Pfarrhaus«, Frankfurter Zeitung, 10.8.1917. 47  Vgl. Norbert Jacques, [Rez.] »Briefe vom Land«, Neue Rundschau 23 (1912), 1034 f. 48  Vgl. Oskar Loerke, [Rez.] »Gesicht und Antlitz«, ders., Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner Börsen-Courier 1920–1928, hg. v. Hermann Kasack, Heidelberg 1965, 406. 49  Vgl. Franz Blei, [Rez.] »Gesicht und Antlitz«, Die literarische Welt 4 (1928), H. 30, 5. 50  Hans Heinrich Ehrler, Rede bei der Verfassungsfeier der Württ. Staatsregierung, der Reichsbehörden und der Stadtverwaltung Stuttgart (Rundfunktyposkript), Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Ehrler, Bl. 1.

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Soweit positioniert sich der Redner in einem nationalen, aus der späten Kaiserzeit stammenden Kulturkonzept, das die Legitimität und die Einheit des Reichs in einem ›Inneren Reich‹ begründet sieht: einer literarisch-philosophisch-musischen ›Seele‹ des Nationalstaats, ohne die dieser tönern, ja monströs sei, die ihrerseits nach der staatlichen Einheit rufe, aber auch ohne sie existiere.51 Der mit dieser Position verbundene Kulturkonservatismus schließt ebensowenig wie bei Heuss und anderen Liberalen aus, dass sich Ehrler zur Moderne der Weimarer Verfassung bekennt: Auf diesen Höhepunkt läuft seine Rede zu. Davor rechnet der Redner noch halb – aber auch nur halb – mit sich selbst und einigen seiner früheren Propagandatexte ab: Da war das Reich mächtig und stark und galt als das unüberwindliche. Wir selber empfanden und priesen es am meisten als solches. Aber ich und wohl noch manche wussten und spürten etwas in der Luft, man wurde es nicht los, es war wie ein giftiges Gas, das roch ich sogar bei einer Kaiserparade, und ich sah an unserem so rasch in der Welt emporkommenden Volk eine Krankheit: die Krankheit der materialistischen Grossmannssucht!52

In dieser Anamnese legt sich Ehrler ein Sehertum bei, das charakteristisch für sein priesterliches Autorschaftskonzept ist. Er ergänzt es um ein religiö­ ses Mahnertum, wenn er sich folgendermaßen und in aller Schärfe gegen den Nationalsozialismus ausspricht, der bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 »die bürgerlichen Parteien der Mitte bis zur Rechten hin […] bis auf Reste zerrieben« habe: Im alten Griechenland würde vielleicht ein ernster Mann, einer der Geronten, einer der geehrten Alten, die Ergreifer der Macht mit einem sakrosankten Wort warnend begrüsst haben: Hütet Euch vor der Hybris, vor der Ueberhebung, denn sie ist die fatalste, von den Göttern mit dem tragischen Sturz bewegte Sünde! Die ganze hellenische Tragödie ist ihre Tragödie, die Tragödie der Ueberhebung.53

Wo sich der Lyriker und Romanautor Ehrler oft zu seinem Nachteil auf dem hohen Kothurn des genus grande bewegt, wird der Festredner Ehrler damit seiner rhetorischen Aufgabe gerecht: Weitausholende historische Vergleiche, Hypothesen, angemessenes Pathos, intensivierende Wiederholungen (die ›Tragödie, die Tragödie der Ueberhebung‹) und vieles mehr gehören 51  Vgl. Justus H.  Ulbricht, » ›Wo liegt Weimar?‹. Nationalistische Entwürfe kultureller Identität«, »Hier, hier ist Deutschland…«. Von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik, hg. v. Ursula Härtl, Burkhard Stenzel u. Justus H.  Ulbricht, Göttingen 1997, 11–44, bes. 21 ff. Einige der frühesten Anknüpfungen Ehlers an die Idee des ›Inneren Reichs‹ finden sich in seinen Artikeln An die Deutschen in den Vereinigten Staaten (Frankfurter Zeitung, 7.2.1915) sowie Die ungetreuen Haushalter. An die deutschen Professoren der deutschen Sprache in England (Frankfurter Zeitung, 6.6.1915). 52  Ehrler, Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 2. 53  Ehrler, Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 4.



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zur »extensive[n] Verwendung der elokutionellen Mittel«54, die der Überschwang des epideiktischen Registers erfordert. Die Laudatio zum eigent­ lichen Redeanlass, der Weimarer Verfassung, die nicht zuletzt von Ehrlers früherem, bereits 1922 verstorbenen Weggefährten Haußmann als Vizepräsidenten der Nationalversammlung mitgetragen wurde, kommt mit effektbewusster Verzögerung, fällt in der rhetorischen Ausschmückung aber etwas bescheidener aus. Zuerst notiert Ehrler, wieder im Modus der Klagerede, die chronische Unfeierlichkeit der Weimarer Verfassungsfeiern seit 1919, das Problem von, wie es anderweitig genannt wurde, »Verfassungsfeien in verfassungsfeindlicher Zeit«:55 Ich habe noch nicht von der Verfassung geredet, die wir zu feiern gekommen sein sollen. Ich frage mich heute, wie hätte zwischen jener grausamen innergeschichtlichen Umwandlung, in die unsere Augen eben durch meinen Rückblick hineingesehen haben, ein Fundament bleibender Zustände geregelt werden können? Es ist und gibt leider keine deutsche Demokratie, d. h. kein nationales, einiges deutsches Staatsbürgertum, das sich darauf hätte einrichten können. Die zu den Feiern pflichtmässig gehen mussten, die sassen verschämt auf ihren Stühlen.56

Wie vielfach auch Heuss bedauert Ehrler den Mangel einer demokratischen Tradition und Kultur in Deutschland, der durch die Ansätze in der 48er-Bewegung nicht behoben war. Er berührt den kritischen Punkt, den es in der klassischen Laudationstechnik zu überspielen galt: dass die panégyris, die ›festliche Volksversammlung‹,57 unter Umständen gegen ihre innere Gestimmtheit zum äußeren Zweck zusammenkommt. Es ist das Kainsmal der Laudatio und ihres von der Antike an nicht zweifelsfreien Rufs,58 dass man gewöhnlich an ihre rituelle Form, aber nicht gleichermaßen an ihren Inhalt glaubt, dass sie mithin das Festlich-Außeralltägliche dem RhetorischRoutinierten (und möglicherweise gut Bezahlten) anvertraut. Ehrler gesteht die protokollarische Pflichtmäßigkeit der Huldigung ein, um sie mit einer Ehrlichkeitsgeste beiseite zu räumen und freien Raum für einen laudatorischen Neuansatz zu gewinnen: Aber in dieser Zeit heute, wo bösartig und leichtfertig alles, was seit 1918 getan und geschaffen wurde, geschmäht wird, da ist doch von ehrlichem Munde zu sagen: Diese Verfassung hat ganz gewiss verhindert, dass das Reich nach dem Zusammenbruch auseinandergefallen ist; sie hat die Notfunktion auf sich genom54  Drux, »Panegyrikus«, 5. Zu den Mitteln im Einzelnen vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 3. Aufl., Stuttgart 1990, §§ 239–254. 55  Dazu Ralf Poscher, »Verfassungsfeiern in verfassungsfeindlicher Zeit«, Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, hg. v. dems., Baden-Baden 1999, bes. 11–46. 56  Ehrler, Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 5. 57  Vgl. Mause, »Panegyrik«, 495. 58  Vgl. Mause, »Panegyrik«, 500; für die Neuzeit Segebrecht, Gelegenheitsgedicht, 225 ff.

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men, unsere Einheit den zerstückelungslustigen Feinden gegenüber zu wahren. Man denke, was unter ihrem Schutz die Rheinländer für diese Einheit getragen haben! Sie half mit, dass unser ganzes Volk durch diese schicksalhafte Notzeit hindurchkriechen konnte und trotzdem bis heute noch in keine Krisen der Selbstzerstörung verfallen ist, wie sie jetzt drohen. Sie hat unvermerkt bis weit in die linken Schichten hinein den Humus, das Erdreich des deutschen Staatsbewusstseins zum Ansatz gebracht und hat langsam den Druck des Tributzwangs sprengen helfen.59

›Retter in der Not‹ und ›Verhinderer der Katastrophe‹ – dies sind die Ehrennamen, die Ehrler der Verfassung gibt und die bei einem theologisch so beschlagenen Autor eine ganz bestimmte Gedankenfigur aufruft: Die des Katechon, des Aufhalters des Antichristen (2 Thess 2,6 f.). Diese nur hemmende, niemals siegende Macht, die in der Politischen Theologie der 1930er Jahre, z. B. beim Ehrler nahestehenden Kulturtheoretiker Wilhelm Stapel, eine zweifelhafte Rolle spielte, fügt sich in eine christliche, anti-utopische Geschichtsauffassung, in der das Gute unter weltlichen Bedingungen nie erreicht, nur das Schlimmere verhindert werden kann.60 Die Panegyrik kann das Katechon daher nur als zwiespältigen Gegenstand aufgreifen. Sein Platz kann zu verschiedenen Zeiten verschieden besetzt werden. Die Weimarer Verfassung als Katechon herauszustellen, schreibt ihr einen bedeutenden Wert zu, garantiert aber nicht, dass sie nicht abgelöst werden könnte und müsste, etwa durch Hitler und den Nationalsozialismus. An dieser entscheidenden Stelle seiner Festrede baut Ehrler noch einen kurzen rhetorischen Trommelwirbel ein: »an diesem Punkt – man höre mich an –, drängt es mich, zu bekennen«, um dann »Hitler und seine Millionen« bzw. seine Version des ›Dritten Reichs‹ für die Aufgabe des Katechon zu verwerfen: Man sagt, wenn die Nationalsozialisten die Gewalt hätten, würde die Stunde des internationalen Sozialismus bei uns geschlagen haben; er würde zerrieben werden, wie auch die Reste der bürgerlichen Parteien – das Zentrum inbegriffen – zur Aufzehrung vorgemerkt sind. Das sind sehr gerade, durch ihre kühne Vereinfachung verblüffende Grundsätze. Aber die Wirklichkeit wird, wenn darnach verfahren werden sollte, ein anderes Gesicht zeigen. Man mag im Besitz der Staatswaffen jede von links her drohende Gegenbewegung niederhalten oder niederschlagen und an der Decke einer harten Kruste die Ruhe herstellen, was aber darunter wächst, wird schaurig und arg sein.61 Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 5 f. Katechon bei Wilhelm Stapel vgl. Günter Meuter, Der Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalischer Kritik der Zeit, Berlin 1994, 163 u. ö. Zur auf das Jahr 1930 zurückgehenden Verbindung zwischen Stapel und Ehrler vgl. Andreas Meyer, »Die Verlagsfusion Langen-Müller. Zur Buchmarkt- und Kulturpolitik des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes (DHV) in der Endphase der Weimarer Republik«, Archiv für Geschichte des Buchwesens 32 (1989), 1–271, hier 46, 82 u. 124. 61  Ehrler, Rede bei der Verfassungsfeier, Bl. 3. 59  Ehrler, 60  Zum



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Diejenigen, die diesen entfesselten Festredner engagiert hatten, zeugten mit ihrem Leben für die Richtigkeit seiner Befürchtungen: Bazille beging im Februar 1934 Selbstmord, Bolz wurde im Januar 1945 in Plötzensee erhängt. Ehrler selbst bewegte sich mit seinem literarischen Hauptwerk in einem ästhetischen, christlich-nationalen Konservatismus, der ihm die Existenz im Nationalsozialismus vorderhand nicht verschloss. Seine einschlägige Biographie als politischer Redner brachte ihn andererseits in eine akute Gefahr, deren Bewusstsein er deutlich artikulierte, als er seinem erzwungenen Beitrittsgesuch zur Reichsschrifttumskammer die Bemerkung für den Kammerpräsidenten und genuinen NS-Autor Hans Friedrich Blunck anheftete: »Ich warte inständig[.] Unterwegs mit schweren Gedanken[.]«62 Bei einer viel späteren Gelegenheit, seinem Beitrag zur Anthologie Dem Führer, die 100 lyrische Produkte zu Hitlers 50. Geburtstag versammelt, korrigierte sich Ehrler und akzeptierte Hitler als personifiziertes Katechon, wenn die Schlussverse seines Gedichts Zum 20. April 1939 lauten: Stille Worte nennt man Segen, sollen ihm aufs Haupt sich legen, wenn sich Abgrunds Geister regen.63

Ehrlers Freundeskreis der 1930er und 40er Jahre war eng gezogen: »Symposion bei mir«64 ist eine Aufforderung, die regelmäßig an die Tübinger Ordinarien Paul Kluckhohn (Deutsche Philologie) und Otto Weinreich (Klassische Philologie), den Stuttgarter Ordinarius Hermann Pongs (Deutsche Philologie), den Chefredakteur des Stuttgarter Neuen Tagblatts Wilhelm Günzler und den Sekretär des Marbacher Schiller-Museums Helmut Paulus erging. Eine intensive Fernbeziehung führte Ehrler mit dem Romanisten Herman Hefele, der seit 1928 an der Theologischen Hochschule Braunsberg in Ostpreußen lehrte. Der Briefwechsel mit Heuss, zuerst für 1913 greifbar,65 zeigt sich in den erschlossenen Nachlässen erst wieder seit 1942 stabil: Die Anrede »Lieber alter Freund« und der Dank für einen ungenannten Gefallen im Brief vom August 1942 deutet auf 62  Hans Heinrich Ehrler an Hans Friedrich Blunck (Präsident der Reichsschrifttumskammer), 14.6.1934, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel, Nachlass Hans Friedrich Blunck / Reichsschrifttumskammer. 63  Hans Heinrich Ehrler, »Zum 20. April 1939«, Dem Führer. Gedichte für Adolf Hitler, hg. v. Karl Hans Bühner, Stuttgart 1939, 52. Zu dieser Anthologie vgl. Bernhard Zeller (Hg.), Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945, Marbach / N. 1983, Bd. 1, 133–138, zu Ehrlers Beitrag hier (als »auf harmlose Gebiete« ausweichend) 136. Vgl. unter Bezug auf Ehrlers Schlusszeile auch Hans Prescher, »Peinliche Poesie. Hymnen auf Adolf Hitler«, Spiegel-Online, 3.3.2009. 64  Hans Heinrich Ehrler an Helmut Paulus, 30.6.1941, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Helmut Paulus. 65  Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, 6.7.1913, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Nachlass Theodor Heuss.

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Kontinuitäten.66 Ausgesprochen nationalsozialistisch engagiert war in diesem Kreis vor allem Pongs, der dezidiert völkische Standpunkte vertrat und sich mit seinem Eintritt in die NSDAP sowie mit einigen Propagandatexten tief in die Diktatur verstrickte.67 Zu ihm unterhielt Ehrler nach Hefeles frühem Tod 1936 und über Pongs’ Berufung nach Göttingen 1942 hinaus den engsten Kontakt, der auch den 1945 gefallenen Sohn Peter Pongs umfasste68 und bis über das Jahr 1950 hinaus reicht, in dem Ehrler dem Duzfreund zur (nur scheinbar) nahegerückten Rückkehr an die Universität Göttingen nach ergangenem Berufsverbot gratulierte.69 Es ist allerdings vielmehr und ausgerechnet die ältere, 1920 beginnende Beziehung zum jungkatholischen Vordenker Hefele, die Ehrler letztlich zu Panegyriken auf das ›Dritte Reich‹ führt. Hefele, dessen umfangreiches, hauptsächlich poetologisches Werk in jüngster Zeit wiederentdeckt wurde,70 glaubte die Demokratie vom Liberalismus ablösen und mit dem katholischen Traditionsbewusstsein aussöhnen zu können. Die Weimarer Verfassung erkannte er nur bedingt und als Übergangslösung an.71 Unter dem Einfluss Hefeles und des von ihm vertretenen Renouveau catholique konvertierte Ehrler 1931 von einer allgemeinen, tendenziell kirchenkritischen Gefühlsreligiosität zum konfessionellen Katholizismus.72 Hefele ist auch das Bin66  Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, 11.8.1942, Stiftung BundespräsidentTheodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 76 (= Bundesarchiv Koblenz). 67  Vgl. Hartmut Ferenschild, »Hermann Pongs«, Internationales Germanisten­ lexikon 1800–1950, hg. v. Christoph König, Bd. 2, Berlin u. a. 2003, 1421–1422. Pongs ist vielfach für Ehrler eingetreten, vgl. z. B. Hermann Pongs, Krieg als Volksschicksal im deutschen Schrifttum. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Gegenwart, Stuttgart 1934, 56–65, ders., »Hans Heinrich Ehrler zum 65.  Geburtstag«, Dichtung und Volkstum. Neue Folge des Euphorion 38 (1937), 194–198, sowie ders., »Der Geburtstag des Dichters«, Klassiker in finsteren Zeiten 1933–1945, hg. v. Bernhard Zeller, Marbach / N. 1983, Bd. 2, 186–189. 68  Vgl. die Widmungsexemplare von Der Vierröhrenbrunnen und Neuer Cherubinischer Wandersmann (letzteres zum einem persönlichen Besuch von Peter im April 1943), Deutsches Literaturarchiv Marbach, Peter Pongs-Stiftung. 69  Hans Heinrich Ehrler an Hermann Pongs, 21.6.1950, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Pongs. 70  Durch Friedrich Vollhardt, »Hochland-Konstellationen. Programme, Konturen und Aporien des Kulturkatholizismus am Beginn des 20. Jahrhunderts«, Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur, hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter, Freiburg / Br. 2008, 67–100, hier 87 f. u. ö., sowie Sandra Richter, A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context 1770–1960, Berlin u. a. 2010, 201–204. 71  Vgl. Herman Hefele, »Demokratie und Liberalismus«, Hochland 22 (1924 / 25), 34–43; dazu Vollhardt, »Hochland-Konstellationen«, 88. 72  Vgl. Ehrlers unbetitelten Beitrag zu Harald Braun (Hg.), Dichterglaube. Stimmen religiösen Erlebens, Berlin 1931, 75–78.



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deglied zwischen Ehrler und dem Werl-Soester-Kreis,73 einer Gruppierung der Liturgischen Bewegung, die zum Juli 1933 bei starker Nachfrage aus dem verunsicherten katholischen Publikum Das Wort in der Zeit mit dem programmatischen Untertitel Zeitschrift für Gestaltung des Lebens aus christlicher Idee gründete. Die Organisatoren – in erster Linie Theodor Abele, Adalbert Graf von Neipperg (Abt des Benediktinerklosters Neuburg), Joseph Aussem, August Heinrich Berning und Hans Georg von Mallinckrodt – hielten im Sinne der Liturgischen Bewegung daran fest, die Alltagswelt des 20. Jahrhunderts aus der Erfahrung der Liturgie heraus durchdringen zu wollen. Der vorsichtige Versuch, dafür auch Brücken zum Nationalsozialismus zu bauen, gehörte von Anfang an dazu. Zwar erklärte man sich »von einseitigen parteilichen und fraktionellen Einstellungen gänzlich frei«, wollte aber, NS-Vokabular aufgreifend, »im Sinne eines […] zeitnahen Katholizismus und Christentums an der Gestaltung des deutschen und abendländischen Volksraums mitwirken«.74 Ehrler gehörte seit dem ersten Jahrgang (mit dort allein fünf Texten) zu einem der aktivsten Beiträger dieses modern aufgemachten, mit neusachlichem Titelbild ausgestatteten und in Antiqua (statt Fraktur) gesetzten Monatsmagazins, das vor allem von Abele gelenkt wurde.75 Kurz vor dem drohenden Verbot versuchte man 1938 das Unternehmen zu retten, indem Ehrler für die A ­ pril-Ausgabe, harmloseren Beiträgen von Hans Egon Holthusen und Josef Nadler vorausgehend, eine groß angelegte, in der Redaktion offenbar kontrovers diskutierte76 Lobrede auf Hitler und das ›Dritte Reich‹ verfasste. Die Herrschaft des Faschismus in Verbindung mit dem Leninismus und Stalinismus brachte, über die historisch intermittierenden Einzelphänomene 73  Vgl. Herman Hefele an Hans Heinrich Ehrler, 19.3.1927, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Ehrler. 74  Theodor Abele u. Adalbert von Neipperg, »Zur Einführung«, Das Wort in der Zeit 1 (1933 / 34), 1–3. 75  Zu Abele vgl. Thomas Pittrof, »Hermann Platz als Vermittler des französischen Renouveau catholique«, Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur, hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Roman Luckscheiter, Freiburg / Br. 2008, 101–130, hier 108–111 u. 128 f. 76  Der Philosophiehistoriker Vincent Berning hält jedenfalls fest, dass sein Vater August Heinrich Berning von der Veröffentlichung überrascht worden sei und eine angekündigte Fortsetzung verhindert habe. Vgl. Vincent Berning, »Geistig-kulturelle Neubesinnung im deutschen Katholizismus vor und nach dem Ersten Weltkrieg«, Religiös-kulturelle Bewegungen im deutschen Katholizismus seit 1800, hg. v. Anton Rauscher, Paderborn u. a. 1986, 47–98, hier 63 f. Für den Lyriker Ehrler ist Berning durchaus eingetreten: vgl. August Heinrich Berning, »Lyrik als Barometer der Zeit«, Das Wort in der Zeit 1 (1933 / 34), H. 2, 27–33, hier 33: »Außerordentlich wichtig und die Zukunftsentwicklung charakterisierend scheint mir die Herausstellung von Hans Heinrich Ehrler, dem größten ideenhaften katholischen Lyriker der Gegenwart.«

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der literarischen Fridericus Rex- und Napoleon-Verehrung hinaus, die dritte Blütezeit der Panegyrik nach der römischen Spätantike und der Frühen Neuzeit hervor.77 Rudolf Alexander Schröder in seinem 1937 vor Buchhändlern gehaltenen Vortrag Dichter und Volk hat diese Tatsache umschrieben, wenn er die alteuropäische Dichtung als »öffentliche Angelegenheit«, als »staatliches«, ja »politisches Amt«, als »Festdichtung, Gelegenheitsdichtung, Tendenzdichtung« auswies und die nationalsozialistische Inanspruchnahme der Literatur euphemistisch für »ein Zurückgehen auf den alten Stand der Dichtung« erklärte.78 Indem Schröder auf die »Pfründen und Ehrensolde, die mit der Dedikation eines bedeutenden Gedichtes an mächtige Personen verknüpft zu sein pflegten«,79 wie beiläufig eingeht, markiert er auch die Anfälligkeit dieser Staatsdichtung für unlautere Motive. Ehrler beteiligte sich an der neuen Panegyrik wiederholt in exponierter Weise, angefangen im April 1938 mit zwei komplementär entworfenen und lancierten Prosatexten: Das einige Reich der Deutschen im katholischen Wort in der Zeit und Die Stimme in der nationalsozialistischen Neuen Literatur. Dabei bedeutete der siebenseitige Leitartikel im Auftrag Abeles den Dammbruch für Ehrlers NS-Engagement. Dieser Anfang wurde dem Dichter dadurch erleichtert, dass die Adulation hier noch an die Zwecke der alteuropäischen Panegyrik gebunden ist: Die Lobrede enthält zugleich eine Art Fürstenspiegel, d. h. sie versucht dem Herrscher mit einem idealen Bild zu schmeicheln, das die von der lobenden Partei gewünschten Züge enthält.80 Wie unter traditionellen Voraussetzungen rechnet sie mit einer mutua obligatio,81 einem Wechselgeschäft von Tributleistung und Privilegierung, hier zunächst dem Handlungsspielraum für den Werl-Soester Kreis. Dieses 77  Vgl. Hans Jörg Schmidt, »Herrscherkult und Politische Religion als Erklärungsmodell gelegenheitslyrischen ›Schaffens‹ / ›Schrifttums‹ im Rahmen der ›sozialistischen deutschen Nationalliteratur‹ und der ›nationalsozialistischen deutschen Literatur‹ «, Totalitarismus und Literatur. Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert – literarische Öffentlichkeit im Spannungsfeld totalitärer Meinungsbildung, hg. v. dems. u. Petra Tallafuss, Göttingen 2007, 91–117. Zum Hintergrund des Personenkults systemvergleichend Richard Overy, The Dictators. Hitler’s Germany and Stalin’s Russia, New York u. a. 2004, 98–131. 78  Rudolf Alexander Schröder, »Dichter und Volk. Vor jungen Buchhändlern 1937«, ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3 / 2: Die Aufsätze und Reden II, Frankfurt / M. 1952, 139–162, hier 144. 79  Schröder, »Dichter und Volk«, 145. 80  Hierzu für die Antike Mause, »Panegyrik«, 497, für das 17. Jahrhundert Theodor Verweyen, »Barockes Herrscherlob«, Der Deutschunterricht 28 (1976), H. 2, 25–45, bes. 36 f., für das 18. Jahrhundert Peter Pütz, »Aufklärung«, Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, hg. v. Walter Hinderer, Würzburg 2007, 123–150, bes. 129–133 (»Lobgedichte«). 81  Für das 17. Jahrhundert Braungart, Hofberedsamkeit, bes. 272–282; für die Gattung Segebrecht, Gelegenheitsgedicht, 180.



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konservative Kalkül ging unter den kompromisslosen Bedingungen des totalitären Machtstaates allerdings weder in der Stringenz der argumentatio noch bei den tatsächlichen Folgen des Reichsaufsatzes auf. Am Beginn steht, in hymnisch-versartiger Absetzung der Einzelaussagen, die unbedingte, idolatrische Verehrung des ›einen Mannes‹: Es gibt Augenblicke, da atmet die Zeit und wir hören ihren Puls gehen.     Das einige Reich der Deutschen ist geschaffen. Von einem Mann, welcher sichtbar durch die Vorsehung den Auftrag hat, die große Wiederherstellung vor der Welt zu vollbringen.     Vor drei Jahren holte er das Saarland zurück und jetzt nimmt er sein Stammland aus dem Jahrhunderte währenden Zustand der Entzweiung heim.     Die Sprache vermag in solcher Stunde kein anderes Bild zu finden, als daß hier ein Traum erfüllt und ein Wunder geschehen sei.82

Wie von alters her wird dem Gehuldigten eine »herausragende Stellung im Gefüge der göttlichen Ordnung«83 zugesprochen. In weitere hochgreifende Verehrungsadressen schiebt Ehrler dann das waghalsige, nicht von ihm allein vertretene Argument ein: Der »Führer der Bewegung« sei ein katholischer Apostel, ›Bruder Hitler‹ im Geiste Christi und Verbündeter des Mannes auf dem Petrusstuhl. Habe er doch immer wieder »von Oben Gnade angerufen und sein Tun der Gnade von Oben unterstellt«.84 Seine Expansionspolitik im Ruhrgebiet, im Saarland und in Österreich verstehe sich als ein Einsatz für katholische Gebiete, der ein besseres, sprich katholischeres Deutschland heraufführe. In Anspielung auf Pius’ XI. Enzyklika Mit brennender Sorge, die im März 1937 erging, erklärt Ehrler, die Äußerungen des Papstes seien »Mahnrufe der christlichen Liebesordnung, des Gesetzes der Liebe«, die ganz im Sinne Hitlers lägen.85 Der »Führer Deutschlands« rufe »zu den selben Zielen auf, die civilitas humana zu begründen«, wie der »geistliche Hirte in Rom«. Rein technisch steht der ehrende Vergleich des Gepriesenen mit einer herausragenden historischen, seltener kontemporären Figur in der bewährten panegyrischen Tradition der exempla virtutis.86 Nur erzeugt hier die inhaltliche Besetzung der Vergleichsglieder eine denkwürdige Katachrese. Der paränetische Überredungsversuch nimmt Züge einer verzweifelten Selbstüberredung an und war ebenso kompromittierend wie 82  Hans Heinrich Ehrler, »Das einige Reich der Deutschen«, Das Wort in der Zeit 5 (1938), 377–383, hier 377. 83  Drux, »Panegyrikus«, 6. 84  Ehrler, »Das einige Reich der Deutschen«, 381. Zur Vorstellung, Hitler sei ein Politiker, der »sein katholisches Christentum ernst nimmt«, vgl. maßgeblich Wilhelm Stapel, Sechs Kapitel über Christentum und Nationalsozialismus, Hamburg 1931, 10 u. ö. 85  Ehrler, »Das einige Reich der Deutschen«, 382. 86  Vgl. Mause, »Panegyrik«, 497.

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kontraproduktiv: Der Werl-Soester Kreis verlor fast umgehend sein publizistisches Organ. Dass Ehrler noch im selben Jahr erheblichen persönlichen Nutzen aus seiner Arbeit als öffentlicher Lobdichter zog, lag sicherlich weniger am Auftritt im Wort in der Zeit und mehr an der Verbindung zu Will Vespers Neuer Literatur. Als Langen-Müller-Autor war er in diesem für die NSLiteraturkritik entscheidenden Organ schon lange gut angeschrieben.87 Das April-Heft von 1938 brachte den zweiteiligen Hitler-Text Die Stimme,88 der im Unterschied zu Das einige Reich der Deutschen kein Räsonnement vorträgt, sondern äußere Gelegenheiten zu inneren Erlebnissen stilisiert. In beiden Teilen geht es um die bestürzende, literarisch vielfach notierte Wirkung von Hitlers Stimme,89 im ersten Teil bei einem zeittypischen Rundfunk-Gemeinschaftsempfang auf dem Stuttgarter Marktplatz, im zweiten bei einer Offenbarung in einsamer Kammer. Es gehört zu den Grundelementen der panegyrischen Tradition, Sachfragen zugunsten des feierlichen Aktes zu suspendieren, den Herrscher mit dem Allwissenden, Allsehenden und Omnipräsenten in Verbindung zu bringen und ihm als einheitsstiftenden Symbol der Nation zu huldigen.90 Ehrler knüpft an all dies an und modernisiert seinen Ansatz diesmal doch soweit in faschistischer Hinsicht, dass das Ästhetische zum eigentlichen politischen Inhalt wird, das theokratische Ritual den Glauben nicht nur transportiert, sondern allererst produziert: Ganz Deutschland wird der Raum der Stimme, und eine Nation horcht. Derjenige, der spricht, könnte vielleicht auch oben über dem Reich, im Zenit unter den Sternen stehen. So ist er in dieser Stunde die Mitte der Nation. […] Spricht die Stimme? Nein, sie bricht durch den Stein der Mauer heraus, sie stürzt herab. Man sieht es beinah, die Brocken, das Geröll, die Strudel. Aus Berggrüften, aus berstenden Erdbebenkammern. Es gibt keinen Ausweg widerstrebender, bedenkender, zager, von einzelnen Wortgeschossen verletzter Verstandesregungen mehr, es kommt herab und ergreift Besitz. Man sucht Vergleiche. In der Geschichte der Völker, in den antiken Chroniken, unter den Namen derer, die man die großen Redner heißt. 87  Vgl. z. B. Hans Franke-Heibronn, [Rez.] »Die drei Begegnungen des Baumeisters Wilhelm«, Die Neue Literatur 35 (1934), 633 f. 88  Hans Heinrich Ehrler, »Die Stimme«, Die Neue Literatur 39 (1938), 218–220. 89  Zum lebhaften Diskurs um Hitlers Stimme vgl. Günter Scholdt, Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom »Führer«, Bonn 1993, bes. 209–212; zu Hitlers johanneischer Selbststilisierung seiner Stimme Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München 1993, bes. 142–144, sowie Werner Telesko, Erlösermythen in Kunst und Politik. Zwischen christlicher Tradition und Moderne, Wien u. a. 2004, 97–146, hier bes. 109 f. 90  Vgl. für die Antike Mause, »Panegyrik«, 496, für die Frühe Neuzeit Braungart, Hofberedsamkeit, 122 u. 147.



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Aber hier ist etwas anderes, kein Redner, sondern eine tönend gewordene Naturerscheinung. Man soll sakrale Gleichnisse nicht anrühren, aber irgendwie geht Wirkung aus, wie von einem brennenden Dornbusch.91

Hitlers Stimme, dank medialer Aufbereitung ›larger than life‹ und (wie sonst sein ikonisches Flugzeug) aus dem Himmel kommend, ist nicht Informationsträger, sondern ästhetisches Ereignis, das individuelles Räsonnement ausschaltet und nationale Gemeinschaft als Einheit eines genießenden Auditoriums herstellt. Der Dornbusch brennt, wie die Fackeln und Feuer bei der nationalsozialistischen Feiergestaltung,92 aber er spricht nicht, sondern ›tönt‹. Das Wort ist folgerichtig nicht Fleisch, sondern Geschoss geworden: Ausdrücklich verletzen diese ›Wortgeschosse‹ den Verstand, der überwältigt und in Besitz genommen wird – genommen werden will. Der eingeräumte Zwang, der den Menschen »neue Augen einsetzt«93 und ihren Herzschlag kontrolliert, verbreitet Lust. Aus der Absicht, den Zuhörern den Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu nehmen, hat Hitler selbst keinen Hehl gemacht,94 und Ehrler scheut sich, von seiner aus dem 19. Jahrhundert ererbten Erlebnisästhetik herkommend, nicht davor zurück, das Vorrationale und Unfreiwillige eines Ereignisses zu betonen, das den Menschen unmittelbar betreffe und dem er nur durch Fühlen und Glauben gerecht werden könne.95 In der Folge erscheint Hitler nicht nur mehr – wie in der älteren Panegyrik der Kaiser oder regierende Fürst – als das Zeichen, sondern als die eucharistische Realpräsenz der Na­ tion, die nicht regiert werde, sondern sich plebiszitär selbst regiere: Es [das Vaterland] ist auf einmal in einer nie empfundenen Gegenwart vor uns da, da wir hell erschrecken; gleich zusammengeronnenem Glanz ist es da. Wir spüren seine Strahlung. Glück rührt uns an. Wir erfahren tief hinein, wie wir zu ihm gehören, wie es zu uns gehört, Magnet zu Magnet, Substanz zu Substanz, Gedanke in Gedanke, Gefühl in Gefühl, Pulsschlag in Pulsschlag, Blutgang in Blutgang. Unmöglich, etwas zu beschreiben von dem Wunder dieser Verkörperung, in welcher das Vaterland zu dem Einsamen in seine Stube trat.96 91  Ehrler,

»Die Stimme«, 218 f. Frederic Spotts, Hitler and the Power of Aesthetics, 2. Aufl., New York 2009, 58 f. u. 66. 93  Ehrler, »Die Stimme«, 219. 94  Vgl. Max Domarus, »Zur Einführung«, ders., Reden und Proklamationen. 1932–1945, Bd. 1 / 1, München 1965, 4–56, hier 48 f., sowie ausführlich zuletzt Spotts, Hitler and the Power of Aesthetics, 44–72. 95  Zum Erlebnis als literarischem Prinzip der faschistischen Ästhetik vgl. jetzt Ine van Linthout, Das Buch in der nationalsozialistischen Propagandapolitik, Berlin u. a. 2012, bes. 110 f. 96  Ehrler, »Die Stimme«, 220. Zur neuartigen konzeptionellen Einheit von »Volk und Führer« in der NS-Ideologie mit Hitler als dem »Brennpunkt« einer »Kollektivpsyche« vgl. Overy, The Dictators, 114 f., u. Telesko, Erlösermythen in Kunst und Politik, 97–146, Zitat 100 f. 92  Vgl.

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So viel Führer-Verehrung brachte dem Preisenden selbst großes Lob ein, vor allem für sein Buch Mit dem Herzen gedacht, in dem das Bekenntnis zu Hitler gleichzeitig erschienen ist und das in der Neuen Literatur, aber auch in der Frankfurter Zeitung euphorisch besprochen wurde.97 Im Oktober 1938 gehörte Ehrler zum handverlesenen Teilnehmerkreis des ersten, vom Propagandaministerium seitdem jährlich organisierten Weimarer Dichtertreffens. Am 10. November erhielt er den württembergischen SchillerPreis in Höhe von 3.000 Reichsmark, womit Ministerpräsident und Kultusminister Christian Mergenthaler erklärtermaßen den Panegyriker Ehrler auszeichnete: den »Dichter deutscher Innerlichkeit, der in einer Sprache von starker Bildkraft, den letzten Urgründen nachspürend, die Heimat preist als das Sichtbare im Ewigen, als heilige Verpflichtung zum Reich [etc.].«98 Hinzu kamen der staatliche Ehrensold ihn Höhe von jährlich 2.000 Reichsmark und später, am 6.  März 1941, ein ebenfalls lebenslanger, 1946 bestätigter Ehrensold der Stadt Stuttgart,99 zu welchem Anlass Ehrler eine Paraphrase und Ergänzung des notorischen Textes unter dem Titel Des Führers Stimme im Stuttgarter NS-Kurier platzierte. Der soweit noch musterhaft funktionierende panegyrische Tauschhandel zwischen symbolischen und materiellen Gütern begann auszulaufen, als sich Ehrler und das Regime wechselseitig, vor allem angesichts des Krieges, entfremdeten. Bereits auf dem ersten Weimarer Dichtertreffen nach Kriegsbeginn, das unter dem unverhohlenen Titel Die Dichtung im Kampf des Reiches stattfand, wurde Ehrler in der Rede von Kurt Hesse (Der Beitrag des deutschen Schrifttums zur soldatisch-kämpferischen Leistung unserer Zeit) als Vertreter des »christlich-katholische[n] Standpunkt[es]« – »auf der einen Seite« – dem »germanisch-deutsche[n] Volks- und Stammesgefühl« von Friedrich Wilhelm Blunck und Hanns Grimm – »auf der anderen Seite« – ab- und ausgrenzend gegenübergestellt.100 In einem Artikel Von mir 97  Karl A. Kutzbach, [Rez.] »Mit dem Herzen gedacht«, Die Neue Literatur 39 (1938), 347 f.; Hanns Martin Elster, [Rez.] »Mit dem Herzen gedacht«, Frankfurter Zeitung, 5.6.1938. 98  Zit. n. Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 105 (1938), 901 u. 910 [Hervorhebung von mir – SKT]. Vgl. auch die Meldung in Die Neue Literatur 39 (1938), 662. Zu diesem Literaturpreis als genuin nationalsozialistischer, 1935 ins Leben gerufener Auslobung Eva Dambacher, Literatur- und Kulturpreise 1859–1949. Eine Dokumentation, Marbach / N. 1996, 222. 99  Vgl. zur Erstbewilligung Kurt Leipner (Hg.), Chronik der Stadt Stuttgart 1933–1945, Stuttgart 1982, 737, und zur Bestätigung die Akte Hans Heinrich Ehrler im Staatsarchiv Ludwigsburg, Ministerium für politische Befreiung, Spruchkammer  6 – Böblingen, Sign. EL 902 / 4 Bü 2719. 100  Kurt Hesse, »Der Beitrag des deutschen Schrifttums zur soldatisch-kämpferischen Leistung unserer Zeit«, Die Dichtung im Kampf des Reiches. Weimarer Reden 1940, Hamburg 1941, 15–34, hier 29. Zum hier vollzogenen Kriegseintritt der Lite-



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und meinen Ahnen, dessen Thema Vesper vorformuliert hatte, zeigt sich Ehrler auf der Titelseite der Neuen Literatur vom Oktober 1941 melancholisch und lebensmüde (nur »leihweise noch einmal von dem Drüben in das Herüben zurückgestellt«101). Er attestiert sich selbst, ein Mann der tiefsten Vergangenheit zu sein, und schließt den Beitrag mit dem Bild seines Todes.102 Mit diesem Text schrieb Ehrler – zehn Jahre zu früh – seinen eigenen und höchst öffentlichen Nachruf. Damit katapultierte er sich, wohl kaum versehentlich, ins literarische Abseits und erklärte sich gegenüber dem geschäftigen nationalsozialistischen Literaturbetrieb für dienstuntauglich. Konsequenterweise begann er sich um seine Nachwirkung zu sorgen und beauftragte Helmut Paulus vom Schiller-Museum mit der Sammlung »meine[r] größeren und kleineren Lebensäußerungen politisch-vaterländischer Art in deutschen Zeitungen«, wobei er sich als Mahner versteht, der die laufende Fehlentwicklung prophezeit habe: »Der Gedanke macht mir seit langem zu schaffen. Denn meine Stimme war wohl eine Vox, eine einsame. Ich kann es nicht mehr machen.«103 Langen-Müller ging auf Distanz zu Ehrler, der mit seinen nächsten Büchern in den Verlag des mit der katholischen Diaspora-Arbeit betrauten Bonifacius-Vereins auswich, zuerst 1941 mit einer Sammlung von Epigrammen unter dem betont christlich-traditionalistischen Titel Neuer cherubinischer Wandersmann. Mit dem Rückzug aus dem na­ tionalen Publikum ins katholische Milieu erlaubte sich Ehrler niedrig verschlüsselte Kundgebungen politischer Dissidenz wie in den Versen, die an die Paränesen der Verfassungsfeierrede von 1932 anschließen: Wann wird das blutige Morgenrot Mit seinen Flammen um euch kommen? Auch Ikaros stürzte vom Sonnenpfeil. Da unten betet ein Mensch um euer und Deutschlands Heil.104 ratur zuletzt Jay W. Baird, Hitler’s War Poets. Literature and Politics in the Third Reich, Cambridge 2007, bes. 1–31. 101  Hans Heinrich Ehrler, »Von mir und meinen Ahnen«, Die Neue Literatur 42 (1941), 239 f., Zitat 239. 102  Ehrler, »Von mir und meinen Ahnen«, 240. 103  Hans Heinrich Ehrler an Helmut Paulus, 14.10.1943, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Paulus. Die umfangreiche Marbacher Mediendokumentation zu Ehrler dürfte denn auch wesentlich auf Paulus zurückgehen. 104  Hans Heinrich Ehrler, Neuer cherubinischer Wandersmann, Paderborn 1941, 48. Ehrler dementiert den offensichtlichen Bezug nur formal, in dem er die kritischsten Gedichte mit paratextuell nachgestellten, weder politik- noch entstehungsgeschichtlich triftigen Rückdatierungen auf die 1920er Jahre versieht. Zu derartigen Formen und Graden von Dissidenz vgl. Tea-Wha Chu, Nationalsozialismus und Verantwortung der christlichen Literatur. Zur Poetologie des Zwischen-den-ZeilenSchreibens der christlichen Dichter in der Inneren Emigration 1933–1945, Frankfurt / M. u. a. 1994, bes. 28–39 u. 220 ff.

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Auch über die Verantwortung der Literatur steht hier ein Epigramm, das sich in eine Segens- und eine Fluchformel teilt und Ehrlers eigenste Problematik als okkasioneller Auftragsdichter und Lobredner betrifft: Rein bleib das Wort Aus reinen Herzens Ort! Faulen sollen die Zungen, Die der Trug gedungen!105

Eine Ergänzung zu den katholischen Anknüpfungen, die nach dem Krieg durchaus in Regionen wie Alfred Döblins Kulturzeitschrift Das Goldene Tor führen konnten,106 bot dem Dichter das erneuerte Verhältnis zu Heuss, der 1943 vorläufig ins Württembergische zurückkehrte. Ehrlers letzte größere Werke erschienen im Tübinger Wunderlich-Verlag, dem Hausverlag des FDP-Gründers. Als Kultusminister von Württemberg-Baden, als Bundespräsident und Altbundespräsident trat Heuss, der »Nothelfer«107, noch mehrfach für den »Senior des schwäbischen Schrifttums«108 ein, so als Ehrenvorsitzender der 1951 gegründeten Gesellschaft der Freunde von Hans Heinrich Ehrler109 und anlässlich einer Stuttgarter Gedächtnisfeier mit dem seither oft zitierten Wort, Ehrler sei »der Statthalter Mörikes auf Erden« gewesen.110 Für das sensible Projekt einer neuen Nationalhymne verließ sich Heuss freilich auf den politisch unbelasteten und literarisch konsensfähigeren Rudolf Alexander Schröder,111 was Ehrler, etwas gekränkt, zu einer allerletzten panegyrischen Dichtung herausforderte. Zum Komponisten von Schröders Neuer cherubinischer Wandersmann, 17. Joseph Baur, [Rez.] »Charlotte«, Das Goldene Tor 3 (1948), 615 f. 107  Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, undat. (März 1949), Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 76 (= Bundesarchiv Koblenz). 108  Theodor Heuss an Hermann Missenharter, 26.6.1947, Theodor Heuss, Erzieher zur Demokratie. Briefe 1945–1949, hg. v. Ernst Wolfgang Becker, Berlin u. a. 2007, 294. 109  Vgl. das Mitgliederverzeichnis in Hans Heinrich Ehrler, Gedichte, hg. v. Milli Stotz, Tübingen 1951, 45 f. Vorsitzender war der Herausgeber des Schwäbischen Tagblatts Ernst Müller. 110  Überliefert aus der der Gedenkveranstaltung der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft zum zehnten Todestag Ehrlers, vgl. K.R., »In memoriam Hans Heinrich Ehrler«, Stuttgarter Zeitung, 23.2.1961. 111  Zu diesem Vorgang Klaus Goebel, » ›Neugierig, was ich zum Schluß gedichtet haben werde‹. Der Gedankenaustausch von Theodor Heuss mit Rudolf Alexander Schröder und der Streit um die deutsche Nationalhymne 1950–1952«, Zum Ideologieproblem in der Geschichte, hg. v. Erik Gieseking, Irene Gückel, Hermann-Josef Scheidgen u. a. Lauf / Pegn. 2006, 119–137, sowie Merseburger, Theodor Heuss, 507 ff. Vgl. den Briefwechsel zwischen Heuss, Schröder und Reutter, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Sign. A:Schröder / Nationalhymne. 105  Ehrler, 106  Vgl.



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Text ersah Heuss auf Empfehlung von Carl Orff den Direktor der Stuttgarter Musikhochschule Herrmann Reutter. Dieser aber hatte bereits 1948 zwei Zyklen mit Ehrler-Liedern vertont, darunter (im Ehrler-Zyklus I) die Elo­ gien Petrarka, Platon, Michelangelo, Johann Kepler: Harmonia mundi und Franziskus.112 Der Komponist weihte Ehrler in den Plan für die Nationalhymne ein, worauf eine dreistrophige Hymne entstand, die der Dichter am 2.  Januar 1951 (Schröders Text war im April 1950 entstanden) an Reutter zur Beachtung schickte. Der Titel lautet Gesang des Deutschen und zitiert somit Hölderlins gleichnamige patriotische Ode (»O heilig Herz der Völker«) von 1799.113 Die erste Strophe besingt Ludwig Uhland, der zuerst die Farben »Schwarz-Rot-Gold« gehisst und »[d]er Freiheit Luft« gefordert habe, in der die »Enkel« jetzt atmeten. Die zweite Strophe beschreibt rühmend das Goethe- und Schiller-Denkmal in Weimar, die dritte Strophe steckt die deutsche Geographie nach West und Ost durch Marbach (Schiller) und Königsberg (Kant) ab. Den Schluss bildet eine religiöse Formel, die die fromme Gesamtanlage von Schröders idyllisch gedämpfter Hymne Land des Glaubens, deutsches Land114 zugleich aufnimmt und reduziert: »Doch sagt: Soll nicht dem höchsten Herrn der Welten  /  Auch dieser Hochgesang des Deutschen gelten?«115 Ehrler selbst nennt seinen Text im Begleitbrief an Reutter »einen straffer, höher greifenden Gesang des Deutschen« und ausdrücklich einen »Lobpreis«.116 Damit berührt er den Punkt jener modesten Behaglichkeit, die auch Gottfried Benn an Schröders Version moniert hat, ohne dabei die machtstaatlichen Implikationen der Reichsideologie ganz hinter sich gelassen zu haben: Und nun die neue Nationalhymne! Der Text ganz ansprechend, vielleicht etwas marklos, der nächste Schritt wäre dann ein Kaninchenfell als Reichsflagge.117 112  Hermann Reutter, Sieben Gesänge für tiefe Männerstimme und Klavier. Op. 64. Ehrler-Zyklus I, Mainz 1948 u. ö., ders., Zwölf Lieder nach Gedichten von Hans Heinrich Ehrler. Für hohe Stimme und Klavier. Op. 65. Ehrler-Zyklus II, Mainz 1948 u. ö. 113  Friedrich Hölderlin, »Gesang des Deutschen«, ders., Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, hg. v. D. E. Sattler, Darmstadt 2004, Bd. 8, 82–84. 114  Unter dem neutralisierten Titel »Hymne« in Rudolf Alexander Schröder, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Berlin u. a. 1952, Bd. 1, 501. 115  Hans Heinrich Ehrler, Gesang des Deutschen, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Pongs. 116  Hans Heinrich Ehrler an Hermann Reutter, 2.1.1951, Deutsches Literatur­ archiv Marbach, Nachlass Ehrler. 117  Gottfried Benn, »Kleiner Kulturspiegel«, ders., Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, 14. Aufl., Frankfurt / M. 2001, 391 f., hier 391.

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Ein nationaler ›Lobpreis‹ aber, ›straff‹ und im genus grande, wie Ehrler ihn glaubte fordern und anbieten zu dürfen, konnte für den politischen Verantwortungsträger Heuss unter den deutschen Nachkriegsbedingungen nicht auf der Tagesordnung stehen. Ein »Pathos der Nüchternheit«118 forderte er in derselben Angelegenheit von Konrad Adenauer. Ehlers Hymne zelebriert in einer Tradition, die aus dem späten Kaiserreich stammt und vom Autor durch das ›Dritte Reich‹ hindurch intensiv gepflegt wurde, das ›Innere Reich‹ des deutschen Geistes.119 Sie beruht auf einem Personenkult – den »hohen Vorbildern unseres erhabenen deutschen Schriftgutes«120, mit Uhland, Goethe, Schiller und Kant in zu Gott aufsteigender Linie –, der sich für eine Ära nach dem von Heuss so genannten »Heroenkitsch der Hitlerei«121 verbat. Ehrlers Interventionsversuch fügt der unglücklich verlaufenen Affäre um die westdeutsche Nationalhymne eine bezeichnende Episode hinzu. Der knapp 80jährige Ehrler starb nur wenige Monate später, im Juni 1951, als unzeitgemäß gewordener Veteran eines halben Jahrhunderts panegyrischer Staatsdichtung.

118  Theodor Heuss an Konrad Adenauer, 19.6.1951, ders., Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hg. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin u. a. 2012, 246. 119  Vgl. z. B. Hans Heinrich Ehrler, Unter dem Abendstern, München 1937, 57, 62 u. ö.; dazu das überaus freundliche Echo in den führenden NS-Organen: Karl A. Kutzbach, [Rez.] »Unter dem Abendstern«, Die Neue Literatur 38 (1937), 463 f., hier 463, sowie N. N.: [Rez.] »Unter dem Abendstern«, Bücherkunde. Organ des Amtes Schrifttumspflege 4 (1937), H. 12, 725. 120  Hans Heinrich Ehrler an Theodor Heuss, 28.4.1950, Bl. 2, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Nachlass Theodor Heuss, N 1221, 127 (= Bundes­ archiv Koblenz). 121  Theodor Heuss an Max Roser, 2.3.1950, ders., Der Bundespräsident. Briefe 1949–1954, hg. v. Ernst Wolfgang Becker, Martin Vogt u. Wolfram Werner, Berlin u. a. 2012, 136.

Modellierte Opfer- und Erlöserfiguren. Zu W. G. Sebalds Huldigungen von Ernst Herbeck und Robert Walser Von Mario Gotterbarm1 Der Germanist und Literaturkritiker2 W. G. Sebald versteht Literatur als Ausdruck des Lebens, und er verurteilt vor allem dann harsch, wenn er zu erkennen meint, ein Autor habe seinen Lebenslauf schreibend – so seine Formulierung gegen Alfred Andersch – »begradigt«.3 Sebalds Andersch-Kritik wurde weithin bekannt und breit rezipiert, weil er als Autor der mehrheitlich euphorisch aufgenommenen Ausgewanderten4 seinerzeit bereits eine bedeutende Stimme geworden war, deren Wort zwangsläufig auf Resonanz stoßen musste. Überblickt man Sebalds germanistische Arbeiten von der Magisterarbeit an bis zu den 1997 in Zürich gehaltenen Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur, so kann man freilich erkennen, dass er zeitlebens ein beinharter Moralist war, der rigorose Vorstellungen zu einer ethisch angemessenen Ästhetik des Schreibens wie auch zu einem moralisch gebotenen Leben vertrat – und dadurch zu überzogenen, auch unfairen Negativbefunden gelangte.5 Die1  Für Kritik und Anregungen danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Jahrestagung 2012 der Görres-Gesellschaft in Münster, Sektion Neuphilologie. 2  Wenn Sebald literarische Texte interpretiert, dann wertet er immer – ethisch und ästhetisch; germanistische Arbeiten sind bei ihm literaturkritische. Daher verwende ich die Begriffe ›germanistisch‹ und ›literaturkritisch‹ als Synoyme. 3  Vgl. W. G. Sebald, »Between the devil and the deep blue sea. Alfred Andersch. Das Verschwinden in der Vorsehung«, Lettre International 20 (1993), 80–84; mit leichten Veränderungen wieder abgedruckt in W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a. M. 2001. Für eine in polemisierendem Ton gehaltene, sachlich aber berechtigte Einwände formulierende Entgegnung vgl. Lothar Baier, »Literaturpfaffen. Tote Dichter vor dem moralischen Exekutionskommando«, Freibeuter 57 (1993), 42–70. Einen Überblick bietet der Band Alfred Andersch ›revisited‹. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte, hg. Jörg Döring / Markus Joch, Berlin u. Boston 2011. 4  Sein Buch Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, das seinen kometenhaften Aufstieg zu einem international bekannten Schriftsteller begründete, erschien 1992 als 93. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen »Anderen Bibliothek« bei Eichborn. 5  Angegriffen werden von ihm neben Andersch Autoren wie Carl Sternheim, Alfred Döblin, Hermann Kasack, Günter Grass, Gerhard Roth, Jurek Becker, Peter de

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se Negativbefunde bilden nachfolgend jedoch nur die implizit mitzudenkende Hintergrundfolie, insofern es um jene Autoren gehen soll, die nicht im Lager der ›Feinde‹, sondern der von ihm verehrten ›Freunde‹ und Vorbilder zu finden sind. Weil Sebald von einer ganz bestimmten Vorstellung von einem vorbildlichen ›unschuldigen‹ Lebenslauf angeleitet ist, erscheinen diejenigen, denen er huldigt, als bescheidene, melancholische Außenseiter, am Rande der Gesellschaft sowie am Rande – oder bereits über die Grenze – zum Wahnsinn, leidend an ihrem Schicksal, der Gesellschaft und Menschheit im Allgemeinen; sie sind bei ihm, im weitesten Sinne verstanden, Opfer. Der Beitrag zielt nun auf die These, dass gerade auch Sebalds Huldigungen eine problematische Gewalt ausüben, die den Gehuldigten in einem vereinfachenden, seine spezifische Individualität, d. h. Biographie und Literatur, nicht angemessenen Licht präsentieren. Den Hauptteil wird die Analyse seines Aufsatzes über den schizophrenen Dichter Ernst Herbeck alias Alexander einnehmen. Hinzuziehen werde ich Passagen aus seinem Essay über Robert Walser. Herbeck und Walser gehören zu den Poeten, denen sich Sebald wohl am meisten verbunden fühlte.6 Den Abschluss bildet eine Interpretation eines Abschnitts aus Schwindel. Gefühle., die den integrativen Zusammenhang von Sebalds wissenschaftlichen Schriften und seinem schriftstellerischen Werk erhellen möchte: Herbeck und Walser sind Bestandteil seiner semi- und gleichzeitig autofiktionalen Welt – und dienen ihm maßgeblich zu einem selbstinszenatorischen Zweck. I. Sebalds Herbeck7 Sebald eröffnet seinen Aufsatz an Hand seines ceterum censeo, einer Verurteilung der philologischen Wissenschaft. »Aus Respekt vor der eigeMendelssohn und Charles Sealsfield. Bringt man diese Angriffe in eine chronologische Ordnung, kann die These, dass es zu diesen ›Ausfällen‹ nur zu Beginn und dann zum Ende seines Lebens gekommen ist (weil ihm der literarische Ruhm angeblich zu Kopfe gestiegen ist, er sich von vereinnahmenden Freunden ›befreien‹ wollte), nicht überzeugen. Vgl. für letztere Uwe Schütte, »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Anmerkungen zu W. G. Sebalds Essay über Jurek Beckers Romane«, Sinn und Form 62 (2010), 235–242, hier 240. 6  Neben den beiden Genannten gehören insbesondere Franz Kafka, Joseph Roth und Jean Améry dazu. Herbeck scheint mir innerhalb dieser imaginierten Gemeinschaft aber nochmals eine besondere Bedeutung zu haben. 7  Vertrauen wir seinem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Essay, so hat die Lyrik Ernst Herbecks Sebald schon seit 1966, als Leo Navratil diese umfangreich publizierte, fasziniert: »Ich entsinne mich, wie ich in der Ryland’s Library in Manchester, wo ich an einer Arbeit über den unseligen Carl Sternheim saß, zwischenhinein, zur Erholung des Kopfes sozusagen, immer wieder das dtv-Bänd-



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nen Logik unterschlägt die wissenschaftliche Explikation gern das, was ihr Konzept stört, eine Tendenz, der im Fall Alexanders umso leichter nachgegeben wird, als weder er noch seine Arbeit der schriftstellerischen Norm entspricht [sic].«8 Diese Kritik hat eine dezidiert moralistische Pointe: Im chen Schizophrenie und Sprache zur Hand nahm und staunte über den Glanz, der ausging von den offenbar aufs Geratewohl zusammengefügten Wort- und Rätselbildern dieses ärmsten Poeten.« W. G. Sebald, »Des Häschens Kind, der kleine Has. Über das Totemtier des Lyrikers Ernst Herbeck«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.12.1992. Wieder abgedruckt in und hier zitiert nach: W. G. Sebald, Campo Santo, hg. Sven Meyer, Frankfurt a. M. 2006, 171–178, hier 171. – Diese frühe Gegenüberstellung von Herbeck und Sternheim darf man jedoch bezweifeln, insofern seine Kritik an Sternheim auch auf der unbegründeten Annahme beruhte, schizophrene Künstler schrieben einen formalistischen Stil, der ästhetisch mangelhaft sei. Nur zu gerne überlasse sich der schizoide Geist den Mechanismen der Sprache, formuliert Sebald sein Ressentiment, um dabei Navratils Bestimmungen dieses Stils zu zitieren (vgl. W. G. Sebald, Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära, Stuttgart 1969, 94–97). Der Psychiater hatte die Texte seiner Patienten jedoch gerade umgekehrt in Kontinuität und Verwandtschaft zur etablierten Literatur verortet: »Formalismus, Deformation und Symbolismus sind die Hauptmerkmale schizophrenen Gestaltens. Sie sind aber auch Wesensmerkmale der Kunst. Diese Merkmale treten dort, wo die Kunst unruhiger, unfertiger, problematischer ist, stärker hervor – man kann dann von antinaturalistischen oder mit Ernst Robert Curtius, Gustav René Hocke u. a. von manieristischen Epochen sprechen.« Leo Navratil, Schizophrenie und Sprache. Zur Psychologie der Dichtung, München 1966, 161 f.  – Mir scheint, Sebald hat 1992 in der FAZ seiner Neigung zu einer autobiographischen Inszenierung nachgegeben, deren Ziel es unter anderem ist, die eigene Person in eine lebenslange Verwandtschaft zu bestimmten Autoren zu bringen. Dafür hätte er rückwirkend einen Zeitraum von etwa fünfzehn Jahren umdeuten müssen. Seitdem er nämlich Herbeck im Oktober 1980 in Leo Navratils Zentrum für Kunst und Psychotherapie kennen gelernt hatte, ist die Sympathie offenkundig. Vgl. für den biographischen Hintergrund Richard Sheppard, »W. G. Sebald. A Chronology«, Saturn’s Moons. W. G. Sebald – A Handbook, hg. Jo Catling / Richard Hibbitt, London 2011, 619–658, hier 629. Sebald war, aus wissenschaftlichem Interesse, vom 23.  bis 28. Oktober 1980 in der Niederösterreichischen Landesanstalt für Psychiatrie und Neurologie und partizipierte an einer schweizerischen Fernsehsendung über die Kunst der Patienten. Laut Sheppards Rekonstruktion kam er am 20. Oktober in Wien an und reiste am 29. Oktober nach Venedig weiter. Vgl. zusätzlich das Gespräch mit Andreas Isenschmid aus dem Jahre 1990: »Ich war gerade im … nach einem ziemlich üblen Sommer, den ich in England, wie die meiste Zeit, in England verbracht habe, in Wien gewesen und hatte dort vier Wochen, glaube ich, verbracht, also teils arbeitend in einer psychiatrischen Klinik, und das war meinem allgemeinen Befinden nicht … nicht unbedingt besonders zuträglich. Man sieht ja also Dinge, von denen man sich normalerweise nichts träumen läßt.« W. G. Sebald, »Die Natur des Zufalls«, W. G. Sebald, Auf ungeheuer dünnem Eis. Gespräche 1971 bis 2001, hg. Torsten Hoffmann, Frankfurt a. M. 2011, 50–70, hier 53. 8  W. G. Sebald, »Eine kleine Traverse. Das poetische Werk Ernst Herbecks«, ders., Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Frankfurt a. M. 1994 [erstmals Salzburg und Wien 1986], 131–148, hier 131. Fortan unter der Sigle BU zitiert.

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fortwirkenden Mangel an Verständnis des »psychologischen oder interpretatorischen Systems« habe »die Krankheit des Autors eine ihrer Ursachen«9. Der harte Vorwurf lautet demnach: Die Germanistik trage eine Mitschuld an Herbecks schizophrener Psychose.10 Es soll darum hier versucht werden, die Texte Alexanders auch in ihrer Un­ gereimtheit als die Äußerungen eines eigentlich normalen Menschen zu verstehen, was einen bewußten Abstand impliziert zu der immer noch vorherrschenden Haltung, die am Exzentrischen sich ergötzt auf Kosten dessen, der daran leidet.11

Der Vorwurf, sich am Leid Herbecks zu ergötzen, richtet sich konkret gegen Heinar Kipphardt, der insbesondere für seinen Film aus dem Jahre 1976, Leben des schizophrenen Dichters Alexander M., dessen Leben appropriiert habe, um es »in eine mit christologischen Ornamenten versehene billige Heroisierung der Geisteskrankheit«12 umzugestalten. Gestehen wir Sebald einmal zu, dass Herbeck in der Vergangenheit demnach durch Kunst und Wissenschaft Unrecht getan worden ist, sodann dieses Unrecht nun durch ihn nachträglich aufgehoben werden soll13 – wie geschieht dies? Ist Sebald seinerseits gegen ein dialektisches Umschlagen seiner ›guten‹ Intention gefeit?

9  BU,

131. Herbeck zeit seines Lebens keinen Anteil genommen hat an allem, was wir als »literarischen Betrieb« bezeichnen können, ist dieser Vorwurf in dieser Form haltlos. 11  BU, 132. 12  BU, 195 (Hervorh. nachtr.). Die Fußnote zu Kipphardt ist gleichzeitig Teil seiner Interpretation von Peter Handkes Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (vgl. BU, 115–130). Dort wird Kipphardt als schlechtes Beispiel vorgeführt, um Handke profilieren zu können. 13  Womöglich liegt in dieser Nachträglichkeit, mit der Sebald sich dem Autor Herbeck zuwendet, ein Grund für diese anmaßende Haltung. 1977, als Leo Navratil das gesamte Werk von Herbeck in einem Band herausgibt (Ernst Herbeck, Alexanders poetische Texte, hg. Leo Navratil, München 1977), ist Herbeck nämlich längst ein bekannter und anerkannter Schriftsteller. Etablierte österreichische Autoren wie Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und Gerhard Roth äußern in demselben Band ihre Achtung vor der Kunst Herbecks. Vgl. den anlässlich dieses Buches verfassten Artikel von Fritz Rumler, »Ich kann mich nicht einordnen«, Der Spiegel 49 / 1977, 236 ff. Aufschlussreich ist Rumlers Text zudem, weil sich darin bereits Leo Navratil kritisch zu Kipphardt äußert (ebd., 238): »In seinem Roman ›März‹ und in dem TV-Film ›Leben des schizophrenen Dichters Alexander M.‹ hatte Kipphardt eine große Zahl von Herbeck-Texten, teils pur, teils gemodelt, einmontiert: ›Eindeutig Plagiat‹, sagt Navratil.« 10  Da



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1. Bescheidenheit Sebald will in Herbeck einen bescheidenen Autor erkennen, der das ­Schreiben zum Überleben benötige: Je mehr ein Autor auf das Schreiben angewiesen ist, desto weniger interessiert er sich für sein Werk. Herbeck, der, wie Leo Navratil mitteilt, seine Schriften nicht selber aufbewahrt, nicht korrigiert und bewertet, ist auf das Schreiben in weit höherem Maße angewiesen als andere Autoren, auch wenn er dazu immer erst veranlaßt werden muß.14

Die Tugend der Bescheidenheit, kombiniert mit der Vorstellung, ein Autor habe sich auch in seinem literarischen Schreiben bescheiden zu verhalten, setzt der Moralist Sebald immer wieder voraus, auszeichnend oder verurteilend. In seiner Dissertation über Alfred Döblin bemerkt er: Was einen an Döblins Haltung als Schriftsteller jedoch betrifft, das ist die enorme Energie, mit der dieser kleine, kurzsichtige Mann, dessen Tage eigentlich von seiner Arztpraxis und seiner Familie mehr als ausgefüllt waren, in den ihm verbleibenden Stunden seinem literarischen Beruf oblag. Die schiere Quantität seiner Romane und Schriften zwingt zu dem Schluß, daß er jeden sich bietenden Augenblick an das Wachstum seines Werks gewandt haben muß.15

Auch Alfred Andersch porträtiert Sebald als einen vom Ehrgeiz Getriebenen, und Herbeck ist sozusagen die idealtypische Verkörperung der modestas. Doch wenn Herbeck an seinen Werken kein Interesse hat, dann ist dies weniger eine Tugend, denn eine traurige Wahrheit, insofern Herbecks Krankheit dieses Verhalten bedingt.16 Für Herbeck das Schreiben als Überlebensstrategie, ja Bedingung des Überlebens zu postulieren, blendet zudem die Tatsache aus, dass seine Gedichte fast durchweg auf Befehl bzw. ›befehlsautomatisch‹ entstanden sind. »Wenn man ihn aufforderte, zu zeichnen oder ein Gedicht zu schreiben, gehorchte er ohne Widerspruch. […] Ohne diesen äußeren Anstoß hätte der Kranke aber kaum jemals Verse oder Zeichnungen geschaffen.«17 Sebald nimmt dies zwar wahr, kümmert sich aber nicht darum, insofern er, so scheint mir, die therapeutische oder auch heilende Kraft literarischen Schreibens überbetonen möchte. 14  BU,

134. G. Sebald, Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, Stuttgart 1980, 72. 16  »Alexanders Mangel an Initiative ist durch seine Krankheit bedingt, die Methode des Schreibens ergab sich aus dem Verhältnis zwischen Arzt und Patienten. […] Als ich Alexander zum Schreiben veranlaßte, war es zunächst nicht meine Absicht, ihn zu literarischer Produktion anzuregen; es war vielmehr mein Wunsch, einen Kontakt mit ihm herzustellen, und sein Schreiben hat bis heute den Charakter eines Gesprächs zwischen uns beibehalten.« Leo Navratil, »Vorwort«, Herbeck, ­Alexanders poetische Texte, 7–10, hier 7 f. 17  Navratil, Schizophrenie und Sprache, 98. 15  W.

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2. Kreativer Prozess, Fulguration Die logischen Prädikate, die zur Beschreibung von Herbecks Lyrik dienen, sind: Mangel an Diskursivität, Desintegriertheit, sprachliche Unordnung, Dissoziation und Dissoziierung, Offenheit, akzidentelle Interferenzen im Schriftbild, diskordant, Sinndiskrepanz (vgl. BU, 133 ff.). Sie lassen sich eigentlich leicht auf einen Nenner bringen, weil Sebald sämtliche Begriffe vermengt: Er betont stets das Unsystematische an Herbecks Sprache. Dies funktionalisiert Sebald für eine Reihe von Thesen, deren erste lautet, dass Herbecks Texte qua Unsystematizität den kreativen Prozess abbildeten: Lorenz beschreibt den Prozeß, in dem zwei voneinander unabhängige Systeme in einer Art von Kurzschluß unversehens zu einer neuen Verbindung zusammentreten, mit dem Ausdruck Fulguration. Eben dieser für jede Genese charakteristische Vorgang, dessen Beförderung bis zu einem gewissen Grad von der frei-schwebenden Verfügbarkeit der potentiellen Komponenten abhängt und der deshalb an der geordneten Literatur nur selten ablesbar ist, bestimmt im Erscheinungsbild der Texte Herbecks auch noch den Vordergrund der Aussage. (BU, 135)18

Konrad Lorenz’ Begriff der Fulguration erfasse den kreativen Prozess, und Herbecks Texte eröffneten Einblick in diesen Prozess. Sebald bewegt sich hiermit jedoch auf einer derart abstrakten Ebene, dass er die Eigenheiten der Texte Herbecks nicht erfassen kann – er muss seine Behauptungen kryptisch belegen, und also schließt an obiges Zitat an: »Sätze wie ›Es geht bergup in jenes Tal‹ oder ›Von hier in die Waldheimat Peter Roseggers in den Weltkrieg‹ zeigen an, wie man auf falschen Wegen in die Nähe richtiger Einsicht gelangt.«19 Die Einbindung bestimmter, semantisch schwer zu fassender Verse in den Gang der Argumentation verleitet ihn zu Überinterpretationen.20

18  Vgl. Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels – Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, München 1973, 47 f. Das zweite Kapitel des Buchs – »Die Entstehung neuer Systemeigenschaften«, ebd., 47–55 – erklärt systemtheoretisch, wie wir uns den ›Fortschritt im organischen Werden‹ vorzustellen haben, nämlich als Prozess der Integration von Untersystemen in ein immer höher, auf immer höheren Integrationsebenen organisiertes Systemganzes. (Sebald bezieht sich auf eine Ausgabe von 1977.). 19  BU, 135. Die enthaltenen Zitate aus Herbeck, Alexanders poetische Texte, 84 und 156. 20  Darauf hat bereits Gerhard Melzer aufmerksam gemacht, vgl. ders., »Österreichische Literatur in Einzelansichten. W. G. Sebalds Essaysammlung Die Beschreibung des Unglücks«, W. G. Sebald, hg. Franz Loquai, Eggingen 1997, 55 ff., hier 57: »Im Detail neigt Sebald immer wieder zu Überinterpretationen, zu einer gelegentlich geradezu parodistisch anmutenden Überbewertung von Textsignalen, die dementsprechend krampfhaft in den Gang der Argumentation eingebaut werden.«



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3. Ehrlichkeit Die Opposition ›systematisch‹ versus ›unsystematisch‹ dient Sebald in der Folge zur Auszeichnung Herbecks als ehrlichen Künstler – unterschieden von den systematisch Arbeitenden, die ›Hochstapler‹ seien: Der dem Kunstwerk eigene Schein zweckfreier Schönheit ergibt sich paradoxerweise gerade aus dem zweckmäßigen Verhältnis, in welchem die Bestandteile einander zugeordnet sind. Wenn Herbeck zu dieser Manipulation nur bedingt imstand ist, so hat er dafür eine größere Ahnung von der darin zum Ausdruck kommenden prinzipiellen Aporie der Kunst, deren Mythologeme – entwicklungsgeschichtlich gesehen – gerade in ihrer präsumtiven Sinnhaftigkeit als eine Art Hochstapelei erscheinen. In seinen aufschlußreichen anthropologischen Studien über den Ursprung der ältesten Mythologeme spricht Rudolf Bilz von den subjektdienlichen, korrektiven Interpretationen, die es uns erlauben, die Sinndiskrepanz zwischen unserem Selbstverständnis und der Umwelt auszutarieren, was in einer Krisensituation zwar zu einer die Überlebensaussichten erhöhenden Stabilisierung führen kann, aber auch bedeutet, daß wir »verglichen mit Tieren, die ihrem Repertoire naiv ausgeliefert sind, als Falschspieler« dastehen. (BU, 135 f., Hervorh. nachtr.)21

Diese Kategorie des Aporetischen, genauer: eines ethisch-ästhetischen Dilemmas, ist so weit, dass freilich jede Kunst, die einen bestimmten Sinn vermittelt, in den Verdacht einer fragwürdigen Hochstapelei gerät, die uns vorgaukeln will, was eigentlich nicht der Fall ist. Schauen wir daher zunächst auf Rudolf Bilz. Er sieht in den Mythologemen, die unser psychophysisches Äquilibrium erhalten, die Sonderstellung des Menschen begründet: Erst als auf diesem Planeten Lebewesen, und zwar gesellig lebende Wesen, mit einem pathologisch anmutenden Seelen-Binnenleben in die Erscheinung traten, d. h. mit einem defizitären, des Wahns bedürftigen inneren Haushalts, wurden diese Einbildungs-Phänomene erforderlich. Da wir im Menschen ein EvolutionsWesen sehen, muß man annehmen, daß seine Vorfahren ihre ursprünglich-prästabilisierte Harmonie verloren, was man als eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes ansehen muß. Die Erdichtung der Mythologeme hat vermutlich den Sinn, neue, in sich harmonisierende Zustände zu begründen, da es kein Zurück gibt.22

Bilz spricht von ›Erdichtungen‹, doch in seiner Theorie sind diese ›Erdichtungen‹ oder ›Fiktionen‹ die differentia specifica des, mit Ernst Cassirer gesprochen, animal symbolicum, des sich seine Welt symbolisch formenden Menschen – und zwar erfindet der Mensch, um zu überleben. Eigentlich böte sich eine Lektüre Herbecks, der seiner vorigen These nach schreibe, um zu überleben, in Analogie zu dieser entwicklungsgeschichtlich frühen Form des Dichtens an, zumal auch Bilz die Mythologeme mit 21  Zitat

aus Rudolf Bilz, Studien über Angst und Schmerz, Frankfurt a. M. 1974,

22  Ebd.,

277 f.

292.

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den Wahnvorstellungen von Geisteskranken vergleicht.23 Sebald jedoch macht nun erstens keinen Unterschied zwischen diesen paläoanthropologisch erläuterten Mythologemen und den intentionalen Sinnstiftungen, die uns ein Künstler heute vermittelt; zweitens versieht er die Sinnstiftungen der Kunst mit dem Etikett des Fragwürdigen, eben der Hochstapelei, und verwandelt damit einen anthropologisch-existentiellen Selbstbetrug, der für Bilz nur aus dem hypothetischen Gegensatz zu Tieren besteht, in eine Frage der Tugend des einzelnen Künstlers, der ausgerechnet Herbeck in besonderem Maße gerecht werde. Daher habe er nicht nur »eine größere Ahnung« (BU, 136) von dieser ethisch-ästhetischen Aporie, sondern, so lesen wir in der Folge, ein »Mißtrauen gegen den Kunstschwindel« (BU, 136), gegen »die trügerische Tendenz der Kunst« (BU, 136). 4. Bricoleur Ein »entscheidende[r] Punkt« der »spezifische[n] Qualität der poetischen Produktion Herbecks« (BU, 137) sei seine Basteltechnik: Es darf nicht vergessen werden, daß er sich meist recht genau an das vorgesetzte Thema hält und daß er das heterogene Material, das ihm jeweils beifällt, dem Thema entsprechend auch organisiert. Das kombinatorische Modell, dessen er sich dabei bedient, läßt sich vielleicht am besten beschreiben mit dem Begriff der bricolage, den Lévi-Strauss für seine Analyse des mythischen Denkens heranzieht. Lévi-Strauss definiert den Bastler als einen Menschen, der »mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich mit denen des Fachmanns abwegig sind.« Dieses Verfahrensmuster, das auf sehr vielfältige, aber zugleich oft unzweckmäßige Mittel zurückgreift, zeigt sich auch in den Wortverbindungen Herbecks, deren einzelne Teile oft eher manuell als logisch miteinander verknüpft scheinen. (BU, 137 f.)24

Sebald zitiert noch weitere Aussagen aus dem ersten Kapitel von LéviStrauss, um Herbeck zu einem exemplarischen Bastler zu stilisieren, der qua Basteln ein mythisches, magisches oder wildes Denken praktiziere. Doch während er eingangs behauptet, er wolle Herbeck als »eigentlich normalen Menschen« (BU, 132) behandeln, wird spätestens hier deutlich, dass er einer Verklärung der Schizophrenie anheim fällt, insofern er sie nun eben ganz generell umwertet zu einer »menschheitsgeschichtlich ältere[n] Form der Äußerung« (BU, 138), ohne eine Zeile von Herbeck zu interpretieren. 23  Vgl. ebd., 278: »Der Mensch wurde zum Dichter, oder genauer gesagt, zum Erdichter von subjektzentristischen phantastischen Zuordnungen. Es handelt sich um Glaubens-Phänomene, denn ›er glaubte, was ihm einfiel‹. Diesen Mangel an Kritikfähigkeit treffen wir auch in den Wahn-Erdichtungen unserer Geisteskranken an.« 24  Das enthaltene Zitat aus Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1973, 29.



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Die Ausführungen sind so allgemein, dass er sie auf jede ›zustandsgebundene‹ Schreibweise anwenden könnte, und jeder schizophrene Künstler nun, weil er keine ›systematische‹ oder ›diskursive‹ Sprache schreibt, als ein Kritiker der Aufklärung und der Gewalt der Vernunft erscheint. Sebald verknüpft die Bricolage übrigens auch mit seinem Ressentiment gegenüber der Hochkultur und jenen Schriftstellern, die angeblich von Ehrgeiz getrieben an einem ›großen‹ Werk arbeiteten.25 Die einen würden sich verewigen wollen und verwendeten daher dauerhafte und imposante Stoffe, die Bastler hingegen hantierten mit (vergänglichen) Abfällen und Bruchstücken und hätten konsequenterweise kein Interesse am Fortbestand (und Erfolg) ihres Werks. Lesen wir hingegen bei Lévi-Strauss nach, inwiefern er die Kunst in seine Ausführungen einholt,26 werden wir gewahr, dass es eine normative Unterscheidung dieser Art bei ihm nicht gibt. Lévi-Strauss verortet die Kunst insgesamt in der Mitte zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken. Sein Grundgedanke lautet: Sämtliches Denken kann als Beziehung von Struktur und Ereignis (Notwendigkeit und Zufälligkeit) aufgefasst werden; bei der Wissenschaft habe die Struktur Priorität, im mythischen Denken und der Bricolage das Ereignis. Zumindest abstrakt und idealerweise ist bei ihm die Kunst jener Fall, in welchem die Beziehung von Struktur und Ereignis harmonisch ist. Lévi-Strauss orientiert sich bei seinen Erläuterungen an der Malerei: Das »Genie des Malers« stehe »immer auf halbem Wege zwischen Schema und Anekdote«27. Er ist weit davon entfernt, eine vereinfachende normative Position zu propagieren, die bestimmte Künste gegen andere ausspielt, und selbst wenn er den Dialog mit den Materialien genauer expliziert und eine allzu akademische von einer naiven Kunst unterscheidet, bleibt er differenzierend.28 5. Kleine Literatur Fließend sind ebenfalls die Grenzen zwischen Bricolage und dem, was Sebald unter so genannter kleiner Literatur versteht. Die »Texte Herbecks [erfüllten] beispielhaft die Voraussetzungen einer ›kleinen Literatur‹, wie sie 25  Vgl.

BU, 138 f. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 36–48. 27  Ebd., 39. 28  »Für die Kunstphilosophie ist das wesentliche Problem die Frage, ob der Künstler ihnen den Rang des Gesprächspartners zuerkennt oder nicht. Zweifellos erkennt man ihnen diesen Rang immer zu, aber in der allzu akademischen Kunst wird er auf ein Minimum beschränkt, in der rohen oder naiven Kunst, die an Bastelei grenzt, auf ein Maximum ausgedehnt, in beiden Fällen zum Nachteil der Struktur.« Ebd., 44. 26  Vgl.

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von Deleuze und Guattari aufgrund ihrer Analyse des Kafkaschen Werks postuliert wurde«29. Der Terminus der kleinen Literatur wird ohne Explikation eingeführt, um bei Herbeck abermals einen kulturkritischen Impetus zu behaupten und ihn in die Nähe von Kafka rücken zu können. Die Huldigung Herbecks erreicht ihren Höhepunkt dort, wo er als Retter oder Erlöser unserer ›verwalteten‹ Kultur erscheint: Was wir an den Randphänomenen unserer Kultur zu halten geneigt sind, wäre damit von zentraler Bedeutung, zumal angesichts der stets zunehmenden Digitalisierung unseres Artikulationsbedürfnisses. Subjektzentrische, phantastische Zuordnungen und Wahnvorstellungen dienten, wie Rudolf Bilz erläutert, in einer frühen Phase der Menschheitsgeschichte, in der die Spezies aufgrund eines evolutionären Sprungs in die Gefahrenzone geraten war, als Instrumente des Überlebens. Auf die gegenwärtige Situation übertragen, in der die technische Progression sich bereits teleologisch an der Katastrophe orientiert, bedeutet das, daß die der verwalteten Sprache diametral entgegengesetzte kreative Tendenz zur Symbolisierung und Physiognomisierung, von der die Sprache geprägt ist, den Ort unserer Hoffnung genauer bestimmt als der geordnete Diskurs. Etwas von dieser Hoffnung ist natürlich auch in der etablierten Kultur am Werk. In dem Maße jedoch, in dem die Kultur, wie die Wissenschaft vor ihr, selbst in den Bann der Verwaltung gerät, wächst die potentielle Bedeutung der kleinen Literatur, als deren Botschafter man Herbeck verstehen sollte.30

Der Verweis auf Bilz ist insofern interessant, als nun die Mythologeme plötzlich in ihrer positiven Funktion für das Überleben des Menschen eingeholt werden, während vorher Herbeck noch für seine Ehrlichkeit ausgezeichnet worden ist, sich solcher ›Hochstapeleien‹, die nur den Blick auf die existentiell trostlose Realität verstellen würden, bewusst enthalten zu haben. 6. ›Kleines‹ Opfer und tiefes Leid Herbeck, der 1920 geboren wurde, litt seit seinem 20. Lebensjahr an einer schizophrenen Psychose. Navratil berichtet von kürzeren Aufenthalten im psychiatrischen Krankenhaus in den Jahren 1940, 1942 und 1945. Er arbeitete während des Krieges eine gewisse Zeit in einer Munitionsfabrik und leistete einen sechsmonatigen Militärdienst, aus dem er wegen Untauglichkeit entlassen wurde. Im Juni 1946 erfolgte die Einweisung, die zur Dauerhospitalisierung führte.31 Sebald nutzt die zeitliche Überschneidung 29  Vgl. Gilles Deleuze / Félix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M. 1976, insb. Kap. III, 24–40, hier 27: »Das also sind die drei charakteristischen Merkmale einer kleinen Literatur: Deterritorialisierung der Sprache, Koppelung des Individuellen ans unmittelbar Politische, kollektive Aussagenverknüpfung.« 30  BU, 140, Hervorh. nachtr.; Sebald verweist auf Bilz, Studien über Angst und Schmerz, 276 sowie, ohne Seitenangabe, auf Herbert Read, Icon and Idea, London 1955.



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der Erkrankung und des Zweiten Weltkrieges für zwei Suggestionen: Erstens sei Herbeck ein Opfer der planlos und katastrophal verlaufenden Geschichte und eines Faschismus, der in den Familien seinen Ursprung habe;32 zweitens habe er just dadurch seine persönliche Integrität bewahrt, dass es ihm nicht länger gelungen sei, »weiter auf dem Laster der Geschichte mitzufahren und die fortwährend notwendigen Konzessionen zu machen«: »Der Ausbruch der Krankheit, der immer auch einen Ausbruch aus der Geschichte darstellt, ist das Gegenteil der von der Gesellschaft geforderten Akkomo­ dierung«33. Der Eindruck, Herbecks Krankheit sei eine besonders integre Form der inneren Emigration, wird verstärkt, indem Sebald vor diesen Ausführungen ein längeres Gedicht zitiert, in welchem Herbeck den Anschluss Österreichs und den Einmarsch Hitlers thematisiert. Dies ist nicht nur eine Verklärung der Geisteskrankheit, sondern zudem eine eigenartige Vereinfachung der individuellen Krankheitsgeschichte Herbecks.34 31

Ein Opfer zu sein bedeutet bei Sebald stets, tief zu leiden – womöglich auch an einer unglücklichen Liebe. Er vernimmt in Herbecks Gedichten, wiederum hochspekulativ, ein »nicht zu verwindende[s] Leiden an der ersten Liebe«35 und zitiert das Gedicht Die Dame.: Die Dame ißt nicht. Und deshalb geht sie spazieren. Eine Dame macht harte Späße. Eine Dame sieht wie ein Marienkäfer aus. Eine Dame huscht wie ein Fasan. Eine Dame geht allein herum. Eine Dame spricht viel.36 31  Vgl. Navratil, Schizophrenie und Sprache, 88–91. Vgl. zusätzlich ders., »Nachwort«, Ernst Herbeck, Alexander. Ausgewählte Texte 1961–1981, Salzburg und Wien 1982, 114–119, hier 116. 32  Vgl. BU, 142. 33  BU, 143. 34  Man kann feststellen, dass Sebald in den relevanten Passagen seine Lektüren der Texte von Alexander Kluge und Franz Kafka auf die Lyrik Herbecks projiziert. Vgl. BU, 142: »Die Verstrickung des einzelnen in den planlosen Ablauf der Geschichte […] wird dabei in einem ganz ähnlichen Sinn faßbar wie in Alexander Kluges dokumentarischer Beschreibung der Schlacht um Stalingrad, in der die Komplexität des organisatorischen Aufbaus eines historischen Unglücks als der Grund der scheinbaren Irra­tionalität unseres persönlichen und kollektiven Schicksals identifiziert wird.« Für Kafka vgl. BU, 144: »Das damit umrissene symbiotische Verhältnis von Macht und Ohnmacht, das auch von Kafka immer wieder dargestellt wurde, zeigt an, daß Ernst Herbeck einen durchaus kritischen Begriff hat von der Rolle, die seiner Geschichte innerhalb der Geschichte zukommt.« (Hervorh. i. Orig.) Zur Krankheitsgeschichte von Herbeck vgl. nochmals Navratil, Schizophrenie und Sprache, 88–101. 35  BU, 146. 36  Herbeck, Alexanders poetische Texte, 70.

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Allerdings bleibt uns Sebald auch hier eine Interpretation dieser Verse schuldig; er schwenkt sofort auf eine andere, verwandte These ein, und dafür zitiert er wiederum ein anderes Gedicht, dessen Verse nur Sprungbrett sind für einen Exkurs über den Begriff des Junggesellen von Deleuze und Guattari: Eine im wörtlichen Sinne unfaßbare Kälte und Härte werden mit der Gestalt der Dame assoziiert, die, wie ein anderes Gedicht Herbecks ausführt, identisch ist mit dem Mond, der »die Sirene im Walde einst war« und jetzt als »der Mund einer Dame am Himmel steht.« Das Bild der Dame ist wie jenes der Venus im Pelz in Gregor Samsas Zimmer das von der Schwester, die die erotische Sehnsucht provoziert und zugleich illegitim macht. Gegenüber der trostlosen Tatsache, daß darum die Dame »ein schöner Mond und nichts im Knie der Dame war«, bleibt dem vom Unglück unerfüllter Liebe betroffenen Subjekt nur der Rückzug in die zölibatäre Existenz. Deleuze und Guattari haben in dem, was Kafka über das Junggesellentum schrieb, den Ausdruck eines Verlangens erkannt, das die inzestuöse Sehnsucht an Weite und Intensität noch übertrifft. Der Junggeselle »ist der Deterritorialisierte schlechthin, derjenige, der weder einen ›Mittelpunkt‹ noch ›einen großen Komplex an Besitztümern‹ hat […].« »Das höchste Verlangen«, wie es in der prekären Existenz des Junggesellen zum Ausdruck kommt, »verlangt zugleich nach Einsamkeit und nach Verbindung mit sämtlichen Wunschmaschinen.« Da ein solch paradoxes Leben im Grunde unmöglich ist, muß der Junggeselle sich in sukzessiven Metamorphosen immer weiter verringern. Darum findet sich unter Herbecks Maximen und Reflexionen auch der Satz »Je größer das Leid / desto kleiner der Dichter«.37

Insofern Sebalds Herbeck an unerfüllter Liebe leidet, kann er sich nur in die zölibatäre Existenz zurückziehen. Den Konnex Junggesellentum-größtes Leid erweitert Sebald um ein Glied, indem er behauptet, größtes Leid gehe Hand in Hand mit dem Wunsch, kleiner zu werden. Der folgende Absatz, der den Schluss seiner Huldigung bildet, räumt letzte Zweifel aus: Geht man davon aus, daß die Schmerzempfindlichkeit in dem Maß abnimmt, in dem die Aggression sich steigert, dann wäre die Resigniertheit, in welcher Herbeck seit langen Jahren verharrt, das äußere Anzeichen seiner extremen Sensibilität und er selbst ein fortwährend unter diffuser Schmerzwirkung stehender Dichter von sehr diminutiver Gestalt. Die Mythologie der Märchen kennt viele Beispiele für die Korrespondenz zwischen der Erfahrung des Leids und den Traum vom Kleinerwerden. So nimmt es wenig wunder, daß Herbeck in der Figur des Zwergs, die in seinen Gedichten mehrmals […] auftaucht, sein geheimes Selbstbildnis entworfen hat: »Wer der Sonne sich gelüstet – / steiget auf den Berg. / Und atmet streng allein / die Luft ein wie ein Zwerg.«38 37  BU, 146 f., Hervorh. nachtr. Die ersten Verse von Herbeck sind dem Gedicht »Ein schöner Mond« (Herbeck, Alexanders poetische Texte, 40) entnommen, die am Ende zitierte ›Maxime‹ aus »Patient und Dichter« (ebd., 79); die Worte zum Junggesellen aus Deleuze / Guattari, Kafka, 98 und 99. 38  BU, 147 f., Hervorh. nachtr. Die Verse aus dem Gedicht »Die Sonne.« (Herbeck, Alexanders poetische Texte, 77).



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In Herbecks Texten taucht die Figur des Zwergs auf; die Figur des Zwergs ist Herbecks Selbstbildnis; also leidet Herbeck fortwährend unter der Erfahrung diffuser Schmerzen. Wir erkennen an solchen Mustern der Argumentation, dass sowohl der Junggeselle als auch das Zwerg-Motiv von Sebald primär dazu instrumentalisiert worden sind, Ernst Herbeck als exemplarisch Leidenden darzustellen. Dass diese Gedankenführungen nicht irgendwo, sondern an der herausgehobenen Position am Ende stehen, indiziert die Relevanz, die Sebald ihnen zumaß. Sodann wird ersichtlich, dass Sebald die körperliche Physiognomie gerne einbezieht in seine Betrachtungen: die diminutive Gestalt korrespondiert der inneren Verfassung und Haltung. Zudem können nun wichtige Sebaldsche Ideen in eine assoziative Ordnung gebracht werden, die sich um die Vorstellung des ›Kleinen‹ herum organisiert: klein als Ausweis authentischen Leidens und als Gegensatz zur ›Macht‹, zur ›Verwaltung‹ oder zum ›System‹, damit aber als bestimmende Eigenschaft eines Dichters die Wurzel, aus der ein ästhetisch gelungenes und nur insofern ›großes‹ Werk wachsen wird. »Je größer das Leid / desto größer der Dichter / Umso härter die Arbeit / Umso tiefer der Sinn«39, lauten Verse von Herbeck, die Sebald zwar (noch)40 nicht zitiert, die aber gleichwohl präsent sind. Die Problematizität seines interpretatorischen Verfahrens besteht hier maßgeblich darin, so können wir als Zwischenfazit festhalten, dass Sebald Herbeck als Platzhalter benützt, d. h. mit verschiedenen, stets normativ verwendeten Begriffen aus Philosophie, Anthropologie und Kulturwissenschaften überfrachtet, so dass jener lediglich als abstrakte und austauschbare Figur bestimmter normativer Vorstellungen existiert, tatsächlich sogar zu einem Erlöser wird, der die letzte Hoffnung unser Endzeit verkörpert; der gehuldigte Andere wird in ein Schema gepresst, das sämtliche oder annähernd sämtliche positiven Kategorien umfasst, die der Germanist Sebald zu dieser Zeit in seinem Repertoire hatte. Schauen wir nun kurz auf Sebalds Walser-Essay. II. Sebalds Robert Walser Die Huldigung Robert Walsers geschieht subtiler. Für jene, denen Sebald nicht vertraut ist, wird sie am leichtesten an superlativischen Wendungen erkennbar: »Das Hochemotionale an dieser Passage [habe] in der gesamten deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, auch bei Kafka nicht, ihres­ gleichen«41, lautet sein Urteil über das Prosastück Asche, Nadel, Bleistift 39  So

das Gedicht »Dichter« (ebd., 79). in der FAZ wird Sebald die Verse zitieren, vgl. seinen Essay in Sebald, Campo Santo, 178. 41  W. G. Sebald, »Le promeneur solitaire. Zur Erinnerung an Robert Walser«, ders., Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert 40  1992

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und Zündhölzchen42. Sodann nutzt Sebald wiederum die zeitliche Parallelität zwischen dem Ausbruch der Geisteskrankheit 1929 und dem aufkommenden Nationalsozialismus, um – den Erzähler des Räuberromans und den Autor offensichtlich unhinterfragt in eins setzend – zu behaupten: »Der Räuber, von seiner ganzen Disposition her ein Libertiner und Republikaner, wurde seelenkrank auch aufgrund der zunehmenden Verfinsterung des politischen Horizonts. Was für eine Krankheit das in einem diagnostisch genauen Sinn war, tut wenig zur Sache.«43 Gerne zitiert er affirmativ eine Aussage Walsers aus dem Jahre 1944, seine Welt sei von den Nazis zertrümmert worden, da sie ihm die Möglichkeiten zur Publikation seiner Texte genommen hätten. Walsers Biograph Robert Mächler, an dessen Text sich Sebald maßgeblich orientiert, korrigierte diese Aussage behutsam: »Freilich hätte er in den Hitlerjahren noch mancherlei Möglichkeit gehabt, in der Schweiz zu publizieren.«44 Walsers Verstummen versteht Sebald wiederum als besonders integre Form der inneren Emigration. Die mit bloßem Auge nicht entzifferbare Miniaturschrift, derer sich Walser während seiner Berner Zeit bis zum Ende seines schriftstellerischen Schaffens 1933 bedient, bezeichnet er als »ingeniöse Form fortgesetzten Schreibens, Kassiber eines in die Illegalität Abgedrängten und Dokumente einer wahren inneren Emigration«45. Die erwähnten Verse Herbecks – je größer das Leid, desto (ästhetisch) größer der Dichter – werden ab Anfang der 1980er Jahre neben dem Anspruch, ein Literat müsse Gesellschaftskritik leisten, zum zweiten zentralen normativen Fundament der Ästhetik W. G. Sebalds: Wenn ein Schriftsteller im Leben von existentiellem Unglück getroffen leidet, dann folgt in der Regel bei ihm daraus, dass seinem Schreiben ein ästhetisch hoher Wert eignet. Die Konsequenz dieser ästhetischen Norm ist dann jedoch, dass er Biographien – ich übernehme sein Vokabular – gerne insgesamt ›verschattet‹ und Texte der Autoren als Ausdruck dieser Verschattung rezipiert. Wem er huldigen möchte, der wird sozusagen qua Huldigung zu einem zeit seines Lebens zustandsgebundenen Dichter geformt, dessen Dichtung – so die Zirkularität – die Zustandsgebundenheit dokumentieren. Im ersten Drittel seines Porträts Robert Walsers zeigt er dem Leser Fotografien verschiedener Lebensstationen, wobei er sie derart anordnet – man achte auf Walser und andere, Frankfurt a. M. 2000 [erstmals München und Wien 1998], 127–168, hier 150. 42  Vgl. Robert Walser, Das Gesamtwerk, Bd. VI. Phantasieren. Prosa aus der Berliner und Bieler Zeit, hg. Jochen Greven, Genf und Hamburg 1966, 321 ff. 43  Sebald, »Le promeneur solitaire  …«, 160, Hervorh. i. Orig. 44  Robert Mächler, Das Leben Robert Walsers. Eine dokumentarische Biographie, Frankfurt a. M. 2003, 228. 45  Sebald, »Le promeneur solitaire …«, 153.



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Abb. 1: W. G. Sebald. Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, München und Wien 1998, 134 f.

das zentral gesetzte letzte Bild –, dass der Leser dazu eingeladen wird, ein von Beginn an negativ determiniertes Schicksal wahrzunehmen; und er formuliert unterstützend: »oft schaue ich mir auch die Porträtfotografien an, die es von ihm gibt, sieben sehr verschiedene physiognomische Sta­ tionen, die die lautlose Katastrophe erahnen lassen, die zwischen ihnen sich abgespielt hat«46. III. Eintritt in die Prosa mit neuem Kopf Der Erzähler besucht in All’estero, dem ersten großen autofiktionalen Part in Schwindel. Gefühle., Ernst Herbeck, der mit seinem vollen Eigennamen genannt wird. Sebald greift für seine kursorische Beschreibung der Krankheitsgeschichte Herbecks auf Navratils Ausführungen in Schizophrenie und Sprache zurück, so dass wir hier einen kurzen Abgleich vornehmen: 46  Sebald,

»Le promeneur solitaire …«, 134.

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Ernst Herbeck leidet seit seinem zwanzigsten Lebensjahr an seelischen Störungen. 1940 wurde er erstmals in eine Klinik eingeliefert. Er war bis zu diesem Zeitpunkt als Hilfsarbeiter in einem Rüstungswerk beschäftigt gewesen. Auf einmal hatte er kaum mehr etwas essen und kaum mehr schlafen können. Nachts war er wach gelegen und hatte vor sich hin gezählt. Es zog ihm den Leib zusammen. Das Familienleben, besonders das scharfe Denken des Vaters, zersetze ihm, wie er sich ausdrückte, die Nerven. Dadurch verlor er die Herrschaft über sich, haute beim Essen den Teller weg oder schüttete die Suppe unter das Bett. Manchmal besserten sich seine Zustände auf einige Zeit. Im Oktober 1944 wurde er sogar zum Militär eingezogen, im März 1945 allerdings wieder entlassen. Ein Jahr nach Kriegsende kam es zu seiner vierten und endgültigen Einweisung. Er hatte sich in den Straßen von Wien herumgetrieben, durch sein Gehaben Aufsehen erregt und auf dem Polizeiposten verdrehte Auskünfte gegeben.47

Weil Sebald ein für seine Achtundsechziger-Generation typisches Problem mit seinem Vater hat, bietet uns der zuverlässige Erzähler eine bestimmte ätiologische Deutung an: Herbeck habe bei der ersten Einlieferung, d. h. beim Ausbruch seiner Krankheit, die eigene Familie und vor allem den Vater als Ursache benannt. Der folgende Satz – im Indikativ – gehört dem Erzähler, der bestätigt: Dadurch verlor er die Herrschaft über sich. Leo Navratil schrieb über den ersten Krankheitsschub: Während des Krieges wurde Alexander in einer Munitionsfabrik als Hilfsarbeiter beschäftigt. Als er in seinem zwanzigsten Lebensjahr psychisch erkrankte, hatte er erst einige Monate lang dort gearbeitet. Er soll wenig gegessen und geschlafen haben, in der Nacht wach gelegen sein und leise vor sich hin gezählt haben. Dann seien Lach- und Weinkrämpfe aufgetreten. Dann habe er den Verdacht geäußert, daß er von einem Mädchen hypnotisiert werde. Deshalb brachten ihn seine Eltern zum Arzt. […] Er gab über sein bisheriges Leben Auskunft. […] Seit kurzem stehe er mit einem Mädchen durch Morsezeichen in Verbindung. Durch Schluckauf bringe er die Signale hervor. Er höre auch die Stimme dieses Mädchens über jede Entfernung hinweg und fühle sich dadurch beeinflusst. Während der Exploration schien er manchmal zu halluzinieren.48

Sebald übernimmt die ersten Sätze, die die äußeren Symptome beschreiben – siehe die Kursivierung –, sogar in der vorgegebenen Reihenfolge, verändert jedoch eigenmächtig die ersten von Navratil protokollierten Worte Herbecks. Noch bei der zweiten Einweisung gab Herbeck vor, unter dem Zwang der Stimme eines Mädchens zu stehen: »Alles müsse von jenem Mädchen ausgehen, er finde keine andere Erklärung dafür. Die Beeinflussung setze wohl manchmal aus, beginne aber immer wieder von neuem.«49 Erst bei der dritten 47  W. G. Sebald, Schwindel. Gefühle, Frankfurt a. M. 1990, 47, Hervorh. nachtr. Ich zitiere hier nach der ersten Eichborn-Ausgabe – mit guten Gründen, wie ich weiter unten darlege. 48  Navratil, Schizophrenie und Sprache, 88 f., Hervorh. nachtr. 49  Ebd., 90.



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Einweisung, die im September 1945 erfolgte,50 äußerte sich Herbeck, wie von Sebald zitiert, über seinen Vater – und immer noch im Zusammenhang anderer Halluzinationen: »Wie werden Sie belästigt?« »In der Nacht lassen sie mich nicht schlafen, drücken mich immer auf den Kopf … das ist wie Hypnose. Wenn die Hypnose einsetzt, höre ich Stimmen. Dann muß ich tun, was die Stimmen sagen. […] Beim Essen muß ich unanständig sein, entweder mit den Händen essen oder auf einmal sehr viel in den Mund stecken oder den Teller weghauen.« »Warum sind Sie gegen den Vater tätlich vorgegangen?« »Der Vater geht gegen mich auch tätlich vor. Er zersetzt mir die Nerven, er drückt mich auf den Kopf, er hypnotisiert mich auch. Er denkt so scharf, und davon bekomme ich Kopfweh … Die sehen alles. Sie sagen mir, daß sie mich sehen … durch Hypnose …«.51

Die Sebaldsche Literatur ist die Fortsetzung seiner Literaturkritik, insofern er schon in seinem Herbeck-Aufsatz die Person als Folie zur Projektion eigener Vorstellungen benutzt hat. Eine nochmalige Steigerung stellt der Essay des Jahres 1992 aus der Frankfurter Allgemeinen dar, in welchem Sebald einen Vers Herbecks an den nächsten reiht, nur um diese nach seinem eigenen Gutdünken zu deuten. Die bizarre Klimax bildet darin eine Leseempfehlung an die deutschen Bürger: Herbeck wird als Sprachrohr benutzt, um die deutsche Wiedervereinigung zu kritisieren.52 »Geradezu ungeheuer dünkt es mich, daß Herbeck im historischen Jahr 1989 das nachstehende Gedicht aufgeschrieben hat, das ich allen meinen Landsleuten ans Herz legen möchte«53. Herbeck dichtete darin: »Das Schwert ist eine seriöse deutsche / Waffe«, die »bis auf den / heutigen Tag«54 verwendet werde. Der Erzählerbericht in All’estero geht auch auf die Kleidung Herbecks ein: »Er trug einen Glencheckanzug mit einem Wanderabzeichen am Revers. Auf dem Kopf hatte er einen kleinen Hut, eine Art Trilby, den er später, als es ihm zu warm wurde, abnahm und neben sich hertrug, genauso wie mein Großvater das beim sommerlichen Spazierengehen oft getan 50  Vgl. zum präzisen Zeitpunkt Leo Navratil, »Alexanders seelische Krankheit und die Entstehung seines literarischen Werkes«, Ernst Herbeck, Alexanders poetische Texte, 11–30, hier 12. 51  Navratil, Schizophrenie und Sprache, 90. 52  Thomas Medicus wies darauf bereits in seinem durchweg kritischen und lesenswerten Essay hin, vgl. ders., »Katastrophensammeln auf der Geisterinsel. Hat der Schriftsteller W. G. Sebald ›Holocaust-Literatur‹ geschrieben? Anmerkungen zu einem Missverständnis«, Mittelweg 36, 5 / 2008, 63–74. 53  Sebald, Campo Santo, 173. 54  Herbeck zit. nach ebd., 173.

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Abb. 2: W. G. Sebald, Schwindel. Gefühle. Frankfurt a. M. 1990, 48 (Ausschnitt).

hatte.«55 Das Foto, das Sebald einfügt, schneidet den Kopf ab, d. h. es reduziert Herbeck zunächst auf den eingekleideten Oberkörper. Gegenüber Herbeck ist dies moralisch fragwürdig, weil dieser zeitlebens unter einem gespaltenen Gaumen litt, einer Hasenscharte56 – d. h. der Autor die unberechtigte Wahrnehmung des Anderen als eines Stigmatisierten und daher auszugrenzenden performativ bestätigt. Wollte er Herbeck als ›normalen‹ Menschen wahrnehmen, wie in seinem Aufsatz aus der Beschreibung des Unglücks behauptet, und ihn als solchen seiner Leserschaft vorstellen, dann wäre dieser Logik gemäß diese ›Maskierung‹ gerade fehl am Platz. Mir scheint, diese Problematik hat Sebald überhaupt nicht registriert, da er ein anderes Anliegen verfolgte: Zunächst den Einbezug eines weiteren von ihm verehrten ›armen‹ Poeten. Der Leser hat, was er sich ohne profundes, aus dem Text nicht zu gewinnendes literaturgeschichtliches Wissen nicht erschließen kann, den kopflosen Körper Robert Walsers aus dem Jahre 1949 vor sich. Folgern wir konsequent: Ernst Herbeck und Robert Walser fehlt in All’estero also der eigene Kopf. Dafür gleicht sich der Erzähler, der den NaSchwindel. Gefühle., 48. zu seinem Leiden am gespaltenen Gaumen das Gedicht »Die Maske« (Herbeck, Alexanders poetische Texte, 48) sowie das von Leo Navratil aufgezeichnete Gespräch vom 11. Mai 1977, ders., Gespräche mit Schizophrenen, München 1978, 80–83, hier 82. 55  Sebald, 56  Vgl.



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Abb. 3: Elio Fröhlich / Peter Hamm (Hrsg.), Robert Walser. Leben und Werk in Daten und Bildern. Frankfurt a. M. 1980, 301 (komplette Seite).

men Sebald trägt, mimetisch einem Schizophrenen an: Bevor er Herbeck trifft, irrt er etwa halluzinierend durch Wien57 – auch Herbeck hatte sich vor seiner endgültigen Hospitalisierung »in den Straßen von Wien herum­ getrieben«58. Sein Sprachstil imitiert später einstweilen sogar die Schizo57  Vgl.

58  Ebd.,

Sebald, Schwindel. Gefühle., 41–46. 47.

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Abb. 4: W. G. Sebald, Schwindel. Gefühle., Frankfurt a. M. 1990, 135 (komplette Seite).

Sprache: »Das seltsame Wort Urlaub fiel mir ein. Urlaubstag, Urlaubswetter. In den Urlaub fahren. Im Urlaub sein. Urlaub. Ein Leben lang.«59 Der Autor Sebald möchte schließlich selbst – wie später in den Ausgewanderten ein Exilierter – nun ein kranker, zustandsgebundener Poet sein. Vollzogen ist die ›Operation neuer Kopf‹ innerhalb der autofiktionalen Erzählung dort, wo wir den neuen Pass des Erzählers zu sehen bekommen.60 Die vertikale Durchstreichung bewirkt, weil sie nicht die Augen verdeckt, keine Anonymisierung. Sebald erschafft sich so ein gespaltenes Gesicht – und wird auch fotografisch zu einem Wunsch-Herbeck, der einen gespaltenen Gaumen hatte. Der neue Pass, in welchem, was die Materialien im Marbacher Nachlass bezeugen, tatsächlich er die vertikale Linie im Foto veranlasst hat, ist der Ausweis seiner neuen Identität. Diese Logik der bildlichen Insze59  Ebd., 60  Vgl.

49. ebd., 135.



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nierung wird noch deutlicher, wenn man das Layout der ursprünglichen Ausgabe in Enzensbergers Die Andere Bibliothek berücksichtigt. Erstens ist darin das Bild der kopflosen Herbeck und Walser sehr viel kleiner als in der späteren Fischer Taschenbuchausgabe, d. h. gerade so groß wie ein Passbild; zweitens ist die Abbildung des neuen Erzähler-Passes viel größer – wohl fast im Verhältnis eins-zu-eins abgedruckt –, so dass das an ihn geheftete ›gespaltene‹ Passbild dieselbe Größe wie das unserer Geköpften erhält. Der Autor Sebald hat sich damit einen neuen Kopf geschaffen, der umgekehrt passgenau für das Bild unserer Geköpften ist. Auch Ernst Herbeck und Robert Walser haben also – bildlich – einen neuen Kopf transplantiert bekommen.61 IV. Schlussbetrachtung Sebald hat immer wieder davon gesprochen, den Leser verunsichern zu wollen – und es gibt zahlreiche Fotografien in seinem Werk, die so eingebunden sind, dass das punctum (Roland Barthes) suspendiert ist. Doch das wäre freilich immer noch keine hinreichende Begründung, weshalb in unserem Beispiel gerade der kopflose Körper Walsers aus dem Jahre 1949, und nicht irgendein anderer, abgebildet ist. Walser kann Herbeck substituieren, oder besser: der Autor kann ihre Identitäten zusammenfassen, da diejenigen, die er huldigend formt und denen er in dieser Form ›Eintritt‹ gewährt in seine fiktionale Welt, fungibel geworden sind. Er kann sie hin und her schieben und dirigieren wie Marionetten. Robert Walser hat, darauf habe ich an anderer Stelle hingewiesen, einen zweifelhaften Auftritt zu Beginn der ersten Züricher Vorlesung – als habe er, was nicht belegt werden kann, an einem ganz bestimmten Tag während einer Wanderung mit Carl Seelig das Grauen des Luftkriegs ›gespürt‹.62 In seiner identifikatorischen Nähe zu 61  Später wird Sebald Gisela Steinlechners Interpretation, die Hasenscharte sei das von Herbeck selber entdeckte Emblem seiner Spaltung, explizit übernehmen und vom Hasen als seinem Wappentier sprechen (vgl. Sebald, Campo Santo, 176 f.). Daraus erklärt sich auch, warum die Begegnung des Erzählers mit einem Hasen, von der wir in den Ringen des Saturn lesen, so emphatisch-vereinnahmend geschildert wird, obwohl es sich nur um einen »kaum den Bruchteil einer Sekunde ausmachenden Schreckensmoment« (W. G. Sebald, Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt a. M. 2007 [erstmals 1995], 280) handelte: Der Erzähler erblickt auf der Landzunge von Orfordness weniger einen Hasen, denn Ernst Herbeck als tierische Reinkarnation: »Ich sehe den Rand des grauen Asphalts, jeden einzelnen Grashalm, sehe den Hasen, wie er hervorspringt aus seinem Versteck, mit zurückgelegten Ohren und einem vor Entsetzen starren, irgendwie gespaltenen, seltsam menschlichen Gesicht, und ich sehe, in seinem im Fliehen rückwärtsgewandten, vor Furcht fast aus dem Kopf sich herausdrehenden Auge, mich selber, eins geworden mit ihm.« (Ebd., 280, Hervorh. nachtr.). 62  Vgl. Mario Gotterbarm, »Ich und der Luftkrieg. Sebalds erste Züricher Vorlesung als Autofiktion«, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 55 (2011), 324– 346.

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›Opfern‹ und seiner moralisierenden Verklärung psychisch Kranker wie auch anderer gesellschaftlichen Außenseiter beweist Sebald, der 1944 geboren ist, einmal mehr seine Zugehörigkeit zur Generation der Achtundsechziger. Um dem Schuldzusammenhang des Nationalsozialismus zu entgehen, bedienten diese sich auch der so genannten Randgruppenstrategie: »Als Verbündete boten sich, so [Herbert] Marcuse 1967, statt der einheimischen, in parfümierter Bewusstlosigkeit gehaltenen Arbeiter geächtete Randgruppen an und die Unterdrückten in der Dritten Welt.«63 Sebald war nicht politisch-aktiv an den Studentenunruhen beteiligt, doch die Ideen und Wertvorstellungen, an denen er sich bis ans Ende seiner Karriere akademisch wie schriftstellerisch orientierte, sind aus dieser Zeit heraus zu erklären.

63  Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a. M. 2008, 43 f.