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German Pages 262 Year 2014
Sibylle Peters (Hg.) Das Forschen aller
Sibylle Peters (Hg.)
Das Forschen aller Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft
Drucklegung mit freundlicher Unterstützung des PROFUND Kindertheater e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © FUNDUS THEATER, 2012 Lektorat & Satz: Elise von Bernstorff Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2172-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Sibylle Peters | 7
FORSCHUNG ZWISCHEN KUNST UND W ISSENSCHAFT – ANNÄHERUNGEN UND DIALOGE In-definitions. Forschung in den performativen Künsten
Victoria Pérez Royo, José A. Sánchez, Cristina Blanco | 23 Wer erforscht wen? Kulturwissenschaften im Dialog mit Kunst
Gesa Ziemer und Inga Reimers | 47 »On research«. Forschung in Kunst und Wissenschaft – Herausforderungen an Diskurse und Systeme des Wissens
Gabriele Brandstetter | 63
DAS FORSCHEN ALLER – PROJEKTE UND ANALYSEN Let’s make money! Kollektive Geldforschung mit der Kinderbank Hamburg
Sibylle Peters / FUNDUS THEATER | 73 Das Undisziplinierte im Transdisziplinären. Das pädagogische Verhältnis in der künstlerischen Forschung mit Kindern
Elise v. Bernstorff | 95
Jenseits des Musters. Forschung in der Materials Library
Zoe Laughlin | 121 Das Ende der Autonomie. LIGNA 1995-2002
Ole Frahm | 141 THE ART OF BEING MANY. Zur Entwicklung einer Kunst der Versammlung im Theater der Gegenwart
Sibylle Peters | 155 Die Kunst des Nicht-da-Seins.
Daniel Ladnar und Esther Pilkington (random people) | 173
KRITIK DER KÜNSTLERISCHEN F ORSCHUNG Künstlerisch-wissenschaftliche Forschung in den Ruinen der Universität? Performance als wissenschaftliche Veröffentlichungsform
Heike Roms | 205 Unmittelbare Produktivkraft? Künstlerisches Wissen unter Bedingungen der Wissensökonomie
Tom Holert | 225 Occupy Wissen. Institutionalisierungsfragen zur »Forschung aller«
Ulrike Bergermann | 239 Autorinnen und Autoren | 257
Das Forschen aller – ein Vorwort
D EFINITIONEN
VON KÜNSTLERISCHER
F ORSCHUNG
Zu Beginn eines Bandes, der den Begriff »artistic research« im Titel trägt, wird eine Definition dessen erwartet, was im Anschluss als »künstlerische Forschung« bezeichnet und verhandelt wird. Ein Blick in die Geschichte des Wissens und der Wissenschaften verrät allerdings, dass in den Entstehungsszenarien wissenschaftlicher Disziplinen und epistemischer Diskurse Definitionen keineswegs jene wichtige Rolle spielen, die sie schon per Gestus für sich in Anspruch nehmen. Bedeutsam sind sie vor allem im Sinne eines kollektiven Sprachspiels, das einen Rahmen für die Entstehung eines gemeinsamen Diskurses bilden kann. Statt also eine eigene Definition von »artistic research« vorzulegen, sei der kollektive Versuch einer solchen Definition an den Anfang dieses Bandes gestellt: Im Mai 2012 fand am Haus der Kulturen der Welt eine Tagung mit dem Titel Forschung zwischen Kunst und Wissenschaft. Herausforderungen an Diskurse und Systeme des Wissens statt.1 Im Rahmen dieser Tagung entstand unter meiner Mitwirkung ein Thesenpapier, das als Grundlage zur weiteren Entwicklung von Förderstrukturen für künstlerische Forschung in Deutschland dienen soll. Es enthält folgende Bestimmungen zum Begriff der künstlerischen Forschung: Künstlerische Forschung hat eine lange Tradition und eine differenzierte gegenwärtige Praxis. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich eine Vielzahl neuer Formen der künstlerischen Arbeit entwickelt – kollaborative Formate, lebendige Archive, doku-
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Konzipiert und veranstaltet von Gabriele Brandstetter, Sigrid Gareis, Catherina Mertens und Bernd Scherer.
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mentarische Performances und viele andere Strategien der Wissensgenerierung. Zahlreiche künstlerische Institutionen begreifen sich auch als Forschungsinstitutionen, zahlreiche Künstler_innen als Forschende. Künstlerische Forschung nutzt ein weites Spektrum von Forschungsweisen: Recherche, Experiment, Exploration, Intervention, Analyse, kritische Reflexion, Feldforschung, Action Research, die Arbeit mit (Alltags-)Experten, etc. Künstlerische Forschung hat damit einerseits Bezüge zur systematischen Forschung der Wissenschaft, andererseits aber auch zu außerwissenschaftlichen, gesellschaftlichen und alltäglichen Praktiken des Forschens im weiten Sinne. Künstlerische Forschung hält die Frage ›Was ist Forschung?‹ gesellschaftlich verhandelbar, macht die Poiesis, die Bewegungsfiguren von Forschungsprozessen sichtbar, hinterfragt etablierte Forschungsverfahren und bringt neue Forschungsweisen hervor. Künstlerische Forschung reflektiert die eigene Praxis, ist in ihrem Themenkreis aber nicht auf künstlerische Praktiken begrenzt. Künstlerische Forschung stellt Bezüge und Interaktionen zwischen unterschiedlichen Wissensweisen, Forschungsfeldern und Akteur_innen von Forschung her, die im System der Wissenschaften bzw. im Verhältnis von Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft bisher kaum Verbindung zueinander haben. Künstlerische Forschung ist oft transdisziplinär und immer im Austausch mit unterschiedlichen Öffentlichkeiten. Sie praktiziert neue Formen des Kollaborativen. Künstlerische Forschung operiert durch Gestaltungsprozesse. Die Präsentation (Erfahrbarmachen, Aktualisieren, Aufführen, Ausstellen, Öffentlichwerden, etc.) von Wissen wird als wesentlicher Teil des Forschungsprozesses begriffen. Künstlerische Forschung problematisiert die Differenz zwischen Entstehung und Präsentation von Erkenntnis. Sie versteht sich daher als prozessual, revidiert, aktualisiert und erweitert gegebene Wissensstände. Ein wichtiger methodischer Schwerpunkt künstlerischer Forschung besteht in der Einbindung und Erkundung der Körperlichkeit, der Materialität, der Situiertheit und der Performativität von Wissen. Künstlerische Forschung generiert und untersucht Erkenntnisräume. Vor diesem Hintergrund ist künstlerische Forschung zum einen in der Lage, unterschiedlichste Formen von Wissen (auch embodied/tacit knowledge, minoritäres Wissen, Erfahrungswissen) in Forschungsprozessen und ihren Resultaten produktiv zu machen. Zum anderen kann sie die Medialität der Wissenschaften selbst zeigen und hinterfragen. Künstlerische Forschung kann flexibel auf gesellschaftliche Problemstellungen reagieren. Sie produziert Versuchsanordnungen und Experimentierräume für aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen, eröffnet alternative/utopische Perspektiven,
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konstelliert kulturelle und historische Kontexte, ermöglicht Teilhabe auch für Akteur_innen, deren Stimmen andernfalls zu wenig Gehör finden würden. Künstlerische Forschung ist praxisbezogene Grundlagenforschung.2
K RISEN
DER KÜNSTLERISCHEN
F ORSCHUNG
Der Impuls, den vorliegenden Band herauszugeben, entstand 2011 auf einer Tagung zu Tanz und Theorie in den Berliner Uferstudios.3 Gemeinsam mit Kerstin Evert moderierte ich auf dieser Tagung ein Panel mit dem Titel Artistic Research. Die Erwartungen der Veranstalterinnen waren hoch: Eine Orientierung sollte hier gegeben, ein Meilenstein in Richtung auf die öffentliche Anerkennung von künstlerischer Forschung auch in Deutschland sollte gesetzt werden. Internationale Expert_innen waren zu diesem Panel eingeladen, Kolleg_innen, die von dem fortgeschrittenen Diskurs um künstlerische Forschung in anderen europäischen Ländern würden berichten können.4 Kerstin Evert und ich planten insbesondere, das Verhältnis von Produkt und Prozess in der künstlerischen Forschung zu diskutieren, in der Hoffnung, gemeinsam Wege aus einem strukturellen Problem aufzeigen zu können. Dem lag folgende Analyse zugrunde: Künstlerische Arbeit als Forschung zu bezeichnen, geht häufig mit einer kritischen Haltung gegenüber Kunstmarkt und Produktionszwang einher. Künstlerische Forschungsprojekte neigen deshalb dazu, den Prozess gegenüber dem Produkt höher zu bewerten, ja, das Verhältnis zwischen beiden umzukehren. Der Prozess wird nicht mehr als Produktionsprozess verstanden, stattdessen wird das Produkt zur Präsentation des Prozesses. Sich solchermaßen von dominanten Protokollen künstlerischer Produktion zu distanzieren, ist ein entscheidender Schritt und eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung künstlerischer Forschung. Dennoch bringt diese Umkehrung von Produkt und Prozess auch ein methodisches Problem mit sich, das ich an anderer Stelle als Research/Presentation-Divide bezeichnet habe 2
http://www.hkw.de/media/de/texte/pdf/2012_1/programm_5/thesenpapier_ kuenstlerische_forschung.pdf vom 29.11.2012.
3
Veranstaltet vom Zentrum für Bewegungsforschung, Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein und dokumentiert in Dance [and] Theory (dies. 2012).
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Bojana Cvejic, Jan Ritsema, Marijke Hoogenboom und Victoria Pérez Royo.
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(Peters 2011, 183): Durch die Inversion von Produkt und Prozess geraten Forschung und Präsentation im Kontext künstlerischer Forschung in eine Spannung, wenn nicht gar in einen Gegensatz. Damit reproduziert sich im Feld der künstlerischen Forschung die diskursive Ordnung der Wissenschaften. In der wissenschaftlichen Praxis werden Forschung und Präsentation in der Tat als zwei voneinander unterschiedene Register betrachtet; die Präsentation von Forschungsergebnissen gilt üblicher Weise nicht als Teil des Forschungsprozesses. Statt diese Trennung von Präsentation und Forschung zu wiederholen, könnte und sollte sich künstlerische Forschung davon abheben, denn dass die Präsentation, etwa die Präsentation auf der Bühne, oft experimentellen Charakter hat und damit ein zentraler Bestandteil künstlerischer Forschung ist, liegt auf der Hand. Gerade in der Fähigkeit, Präsentation als Forschung zu begreifen, liegt ein großes Potential künstlerischer Forschung. Diskutiert werden sollten im Rahmen des besagten Panels deshalb verschiedene Ansätze, Präsentation und Forschungsprozess aufeinander zu beziehen. Doch die Mitglieder des Panels sprachen weit kritischer über die Entwicklung der künstlerischen Forschung als von der Diskussionsvorlage angeregt. Dabei hatten sie weniger konkrete methodische Schwierigkeiten als vielmehr übergreifende diskursive und ökonomische Entwicklungen vor Augen; beispielsweise die sogenannte Bologna-Reform der Hochschulen, im Zuge derer die Kunsthochschulen großenteils in Universitäten umgewandelt worden sind. In diesem Kontext spielt künstlerische Forschung eine kritikwürdige Rolle, insofern sie dem Vorhaben dient, die künstlerische Ausbildung wissenschaftlichen Standards anzupassen oder gar – so ein gängiger Vorwurf – zu unterwerfen.5 Vor diesem Hintergrund hat sich die Theorie künstlerischer Forschung gerade im Umfeld der bildenden Kunst in den letzten Jahren intensiv damit beschäftigt, Unterschiede zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Forschung herauszuarbeiten.6 Diskutiert wird in diesem Kontext die besondere Rolle von Subjektivität in der künst 5
Steyerl, Hito (2010): Ästhetik des Widerstands? Künstlerische Forschung als Disziplin und Konflikt, http://www.eipcp.net/transversal/0311/steyerl/de vom 29.11.2012.
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So wurde eine Tagung zum Thema der künstlerischen Forschung kürzlich unter dem Titel anders wissen abgehalten, veranstaltet im Oktober 2012 von Kathrin Busch an der Merz Akademie Stuttgart.
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lerischen Forschung und die mit ihr einhergehende Infragestellung wissenschaftlicher Prinzipien von Wiederholbarkeit, Übertragbarkeit, Abstraktion. Im vorliegenden Band findet sich dies ausführlich in dem Beitrag von Victoria Pérez Royo, Jose Sánchez und Cristina Blanco reflektiert. Anhand von Erfahrungen mit dem Programm MPECV zeigen sie die Herausforderungen auf, denen künstlerische Forschung sich stellen muss. Der Beitrag eröffnet den Band, weil er den Stand und auch die Art der Diskussion, die gegenwärtig europaweit geführt wird, exemplarisch vor Augen führt. Was die Diskussion des anfangs erwähnten Panels schließlich sprengte, war jedoch folgender Vorwurf: Der Versuch der künstlerischen Forschung, sich Freiräume gegenüber dem Druck künstlerischer Produktion zu erstreiten, sei gescheitert. Denn am Ende erweise sich dieser Entzug als eine Art Absage an die Öffentlichkeit und damit an gesellschaftliche Relevanz. Künstlerische Forschung – insbesondere solche, die mit künstlerischen Mitteln künstlerische Gegenstände erforsche und damit stark selbstbezüglich sei – habe sich zu einer Kunst ohne Publikum entwickelt. Sie werde von Spezialist_innen für Spezialist_innen unternommen und diene vor allem als Legitimationsstrategie für künstlerische Praxen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit operieren. Diese Analyse mag hinsichtlich einzelner Phänomene treffend sein. Sie geht dennoch am eigentlichen Potential künstlerischer Forschung völlig vorbei. Der Impuls, den vorliegenden Band Das Forschen aller herauszugeben, lag darin, den Gegenbeweis anzutreten und diesem verheerenden Eindruck mit konkreten Gegenbeispielen zu begegnen.
V ON ZUR
DER W ELT DER W ISSENSCHAFT W ELT DER F ORSCHUNG
Der Call zum vorliegenden Buch fragte nach künstlerischen Forschungsprojekten, die es vielen Menschen, insbesondere auch Nicht-Künstler_innen und Nicht-Wissenschaftler_innen, ermöglichen, sich an Forschungsprozessen zu beteiligen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass künstlerische Forschung eine Rolle in jener Entwicklung spielen kann und sollte, die Bruno Latour in seinem programmatischen Text From the World of Science to the World of Research beschrieben hat (Latour 1998): In dem Maße, in dem der Glaube an eine Wissenschaft schwindet, die gerade mittels ihrer
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Distanz zur gesellschaftlichen Praxis funktioniert und mittels Abstraktion übergeordnete Lösungsansätze für unterschiedlichste Probleme erarbeiten kann, wird die Expertise jedes einzelnen Mitglieds der Gesellschaft potentiell immer wichtiger. Dabei zeigt sich die kategoriale und institutionelle Trennung zwischen Forschung einerseits und Anwendung andererseits immer mehr als ein Hindernis, das die Forschung in ganz unterschiedlichen Bereichen wie beispielsweise der Medizin oder der Stadtplanung unverhältnismäßig erschwert. Doch wie lässt sich ein neues, demokratischeres Verständnis von Forschung erarbeiten? Wie können wir Forschungsprozesse initiieren, an denen potentiell – je nach Forschungsfrage, Feld der Untersuchung und Art des Problems – alle Mitglieder der Gesellschaft beteiligt sind? Forschung nicht mehr exklusiv als Privileg der Wissenschaften, sondern als kollektive Aufgabe aller Mitglieder der Gesellschaft zu begreifen, macht diejenigen, die bislang für Forschung zuständig waren, keineswegs arbeitslos. Im Gegenteil: Es stellt alle, die über Forschungserfahrung verfügen, vor große Herausforderungen, denn das Forschen aller will ermöglicht, organisiert, ausgewertet und ins Licht gesetzt werden. Derzeit tun die Wissenschaften und ihre Förderorgane – geblendet von Exzellenz-Programmen und kurzfristigen Renommeesteigerungen – noch zu wenig dafür, diesen Herausforderungen und Aufgaben zu begegnen. Doch es gibt Ausnahmen. So ist sich beispielsweise die ethnographische oder volkskundliche Forschung seit langem darüber im Klaren, dass die Akteur_innen in den von ihr untersuchten Feldern keineswegs nur Gegenstand der Forschung, sondern gleichermaßen Mitforschende sind. Im vorliegenden Band greift der Beitrag von Gesa Ziemer und Inga Reimers diese Debatte auf und weist im Dialog zwischen ethnographischer und künstlerischer Forschung nach, dass es keineswegs hinderlich ist, die Interessen und Perspektiven dieser Mitforscher_innen – gerade auch in der Differenz zum eigenen Interesse – in Rechnung zu stellen. Im Gegenteil: Die Integration heterogener Perspektiven und Interessen in einen Forschungsprozess erfordert eine ständige Übertragungsleistung, die ihrerseits als transdisziplinäres Forschungsverfahren beschrieben werden kann. Eine ebenso wichtige Ausnahme stellt der Diskurs darum dar, was die Praxis der Forschung, die ›Kunst‹ der Wissenschaft ausmacht. In ihrem kurzen Beitrag zu diesem Band zeichnet Gabriele Brandstetter diesen Diskurs nach und zeigt, wie Erkenntnisse der Wissenschaftstheorie von
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Gaston Bachelard bis Hans-Jörg Rheinberger und Ergebnisse der künstlerischen Forschung von Xavier Le Roy bis Carsten Höller ineinander greifen. Forschung, so die These, produziert prinzipiell einen Überschuss, der sich disziplinär nicht voll erfassen lässt und der so immer auch transdisziplinäre Effekte zeitigt. Deutlich wird dabei, dass Vertreter_innen der künstlerischen Forschung gerade hinsichtlich ihrer Kritik an vermeintlich geschlossenen Konzepten wissenschaftlicher Forschung ihre wichtigsten Bündnispartner in den Wissenschaften selbst finden können.7
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ALLER
– P ROJEKTE
UND
ANALYSEN
Der institutionelle Hintergrund, aus dem der vorliegende Band entstanden ist, ist das Forschungstheaterprogramm des Hamburger FUNDUS THEATERs.8 Seit zehn Jahren bringt das Forschungstheaterprogramm Wissenschaftler_innen, Künstler_innen und Kinder in gemeinsamen Forschungsvorhaben zusammen. Dass künstlerische Praktiken eine entscheidende Rolle spielen können, wenn es darum geht, Forschung so zu gestalten, dass potentiell alle Mitglieder der Gesellschaft beteiligt sein können, ist uns also zuerst aus der eigenen Praxis vertraut. Um heterogene Partner mit unterschiedlichen Interessen und Agenden in einem gemeinsamen Forschungsprozess zusammenzubringen, ist ein Wissen um Partizipation, ihre unterschiedlichen Formen und ihre ganz eigene Problematik unabdingbar. Gerade die performativen Künste haben sich dieses Wissen in den vergangenen Jahren erarbeitet und begreifen ihr Publikum als Mitwirkende. Anders als die Wissenschaften sind die performativen Künste außerdem darin geübt, Forschungsverfahren und Ausdrucksformen zu variieren und flexibel zu kombinieren. In meinem Beitrag 7
Dem Beitrag von Gabriele Brandstetter liegt ihr einführender Vortrag zur Tagung Forschung in Kunst und Wissenschaft. Herausforderungen an Diskurse und Systeme des Wissens zugrunde.
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Der Druck wurde teilweise aus Mitteln des Fördervereins PROFUND Kindertheater e.V. finanziert. Besonderer Dank gilt den Spender_innen Dorothee Bittscheidt und Helge Peters! Weitere Informationen zur Arbeit des Forschungstheaterprogramms im FUNDUS THEATER finden sich hier: http://www.fun dus-theater.de/forschungstheater/ vom 29.11.2012.
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»Let’s make Money! Kollektive Geldforschung mit der Kinderbank Hamburg« wird dies anhand eines Projektes des Forschungstheaterprogramms beschrieben. Dabei zeigt sich, welche Bedeutung das Forschen aller auch vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen haben kann, lassen sich doch die aktuellen Finanzkrisen auch als Krisen einer bestimmten Verteilung von Expertise lesen: Expert_innen für das Finanzsystem als solches können offenbar kaum noch Wissen zur Verfügung stellen, um Geld als Steuerungsmedium des öffentlichen Gemeinwesens in Funktion zu halten. Neue Forschungsverfahren sind gefragt, die die gesellschaftliche Performance des Geldes und die Kunst des Geldmachens als eine res publica fokussieren, statt Finanzsysteme und Gesellschaften weiter gegeneinander in Stellung zu bringen. Die anhand der »kollektiven Geldforschung« geschilderten Forschungsverfahren lassen sich als eine Weiterentwicklung dessen begreifen, was Wolfgang Krohn kürzlich als Rolle der Kunst im Kontext transdisziplinärer Forschungsprojekte skizziert hat (Krohn 2012). Als transdisziplinäre Forschungsprojekte sind hier Vorhaben definiert, »an deren Ausgangspunkt die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Problemlage steht und deren Zielsetzung ein strategischer Beitrag der Wissenschaft zur Entwicklung und Umsetzung einer Problemlösung ist.« (Ebd., 1) Krohn fügt treffend hinzu: »Obwohl diese Funktion von Forschung beinahe selbstverständlich erscheint, sind die Abweichungen gegenüber der akademischen wie der institutionellen Forschung erheblich.« Transdisziplinäre Forschungsprojekte in diesem Sinne sind demnach wesentlich davon geprägt, dass sie Expert_innen, Betroffene und sogenannte Stakeholder aus dem jeweiligen Problemfeld in den Forschungsprozess einbeziehen. Dies ist nicht nur entscheidend für den Erfolg der Forschung, sondern zugleich eine ethische und soziale Notwendigkeit. Es geht um Akzeptanz, denn, so Krohn: Wenn und soweit transdisziplinäre Projekte im offenen Innovations- und Reformraum der Gesellschaft stattfinden, bricht eine klassische Bedingung der Forschungslegitimation ein. Freiheit der Forschung im Sinne eines uneinschränkbaren Verfassungsrechts wird gewährt, weil nach allgemein anerkannter Lesart wissenschaftliche Erkenntnis als solche nicht schaden kann. […] Diese kategoriale Trennung von Wissenschaft und Anwendung hat historisch viel zur Dynamisierung von Forschung beigetragen, auch wenn sie kontrafaktische Züge trägt. […] Bei transdisziplinären Innovationsprojekten wird allerdings nun öffentlich anerkannt und bekannt, das feh-
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lendes Wissen teilweise erst im Verlauf des Innovationsprozesses beschafft werden kann. (Ebd., 4)
Dass auch künstlerische Praktiken in diesen Prozessen Einsatz finden können, erscheint in diesem Zusammenhang als vergleichsweise neue Entwicklung. Ihre wesentliche Funktion besteht dabei für Krohn in der Beschäftigung mit den Gestaltungsaufgaben, die Forschungsprozesse als Innovationsprozesse mit sich bringen. Dies meint nicht zuletzt die Gestaltung des komplexen Forschungsprozesses selbst, in dem heterogene Akteur_innen zusammenwirken sollen. Künstler_innen sind nach Krohn aufgefordert, sich in diesen Prozess als Expert_innen für Medialität, Subjektivität und Irritation einzubringen. Tatsächlich können künstlerische Praktiken in diesem Zusammenhang jedoch eine sehr viel grundlegendere Rolle spielen, nämlich folgende: Krohn benennt ein zentrales Problem im Übergang von einer Welt der Wissenschaft zu einer Welt der Forschung, wenn er darauf hinweist, dass die Freiheit der Forschung traditionell auf der Unterscheidung zwischen Forschung und Anwendung aufruht, also auf dem Freiraum, der durch die Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft entsteht. Wie also lässt sich die Freiheit der Forschung bewahren, wenn sie nunmehr zwischen Wissenschaft und Gesellschaft angesiedelt wird? Genau hier eröffnen sich in der Kooperation mit den Künsten neue Möglichkeiten: Aufgrund der umfassenden Entgrenzung der Künste, die die Entwicklungen neuer künstlerischer Praktiken seit den Avantgarden des frühen 20. Jahrhundert gesteuert hat, sind die Künste darin geschult, ihre Freiheit, die Freiheit der Kunst, im Grenzgang zwischen künstlerischem Freiraum und gesellschaftlicher Anwendung zu behaupten. Die performativen Künste tun dies, indem sie ständig neue Formen des Probehandelns entwerfen, die zugleich in reale gesellschaftliche Strukturen hineinreichen. Gerade dies kann man als eine wichtige Expertise künstlerischer Forschung beschreiben und beanspruchen: Künstlerische Forschung entwirft Rahmungen, Szenarien und performative Setups, in denen gesellschaftliche Innovationsprozesse erprobt werden können, bevor sie in Strukturen überführt werden.
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B ILDUNG UND AKTIVISMUS DER F ORSCHUNG
ALS
F ELDER
Die gesellschaftliche Bedeutung künstlerischer Forschung erschließt sich nicht, solange sie es darauf anlegt, das Privileg der Forschung für gegebene künstlerische Praktiken in Anspruch zu nehmen, während Angehörige anderer Öffentlichkeiten weiterhin lediglich als Adressat_innen der erzielten Ergebnisse angesprochen werden. Deshalb will der vorliegende Band dazu beitragen, ein integratives Bild künstlerischer Forschung im Kontext anderer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Systeme zu entwerfen. Zum Entwurf eines integrativen Konzepts von Forschung zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft gehören insbesondere auch die Diskurse der kulturellen sowie der naturkundlichen Bildung. Als bereits existierende Grenzbereiche zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft sind sie gegenwärtig entscheidende Orte der Transformation: Allmählich wird hier von einseitigen Verfahren des Wissenstransfers aus Kunst und Wissenschaft in die Gesellschaft auf Verfahren des kollektiven Forschens umgestellt, an denen Künstler_innen, Wissenschaftler_innen und Angehörige anderer gesellschaftlicher Systeme gleichberechtigt mitwirken. Im vorliegenden Band diskutieren zwei Beiträge die ganz unterschiedlichen Herausforderungen, vor denen Projekte der kulturellen und der naturkundlichen Bildung in diesem Transformationsprozess stehen: Der Beitrag von Elise von Bernstorff analysiert Probleme und Paradoxien, die sich bei der Einführung eines solchen Forschungskonzepts in pädagogisch geprägte Systeme ergeben, und zwar anhand eines Projekts im Kontext des Programms Jump & Run – Schule als System, das sich zum Ziel gesetzt hat, mit performativen Mitteln das System Schule aus der Sicht von Schüler_innen zu untersuchen.9 Jacques Rancière und Walter Benjamin werden dabei zu Gewährsleuten für die theoretische Grundlegung eines solchen Unterfangens. Der Beitrag »Jenseits des Musters« von Zoe Laughlin zeigt im Anschluss, dass auch an der Schnittstelle von Naturwissenschaft, Kunst und 9
Vgl. Kinder testen Schule, http://www.profund-kindertheater.de/pp_kitest.htm vom 29.11.2012.
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Gesellschaft ein radikales Umdenken in Richtung auf neue Forschungskonzepte möglich ist. Geschildert wird das theoretische Programm und die Praxis der Materials Library, einer einzigartigen Forschungseinrichtung, in der wissenschaftliche, künstlerische und alltägliche Formen des Erforschens von Materialien ineinander greifen. Ein weiterer Bereich, der im Konzept von Forschung zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft nicht fehlen darf, ist der des Aktivismus. Im politischen Aktivismus der Gegenwart treffen ständig gesellschaftliche Analysen, politische Praktiken und künstlerische Strategien aufeinander und beeinflussen sich wechselseitig. Entwickeln sich dabei langfristige Arbeits- und Diskussionszusammenhänge, lässt sich dieser Prozess des Abgleichens und des Übertragens zwischen gesellschaftlichen Analysen, künstlerischen Strategien und politischen Praktiken als Forschungsprozess beschreiben. Dies zeigt im vorliegenden Band der Beitrag von Ole Frahm anhand der Entwicklung des Performance- und Radiokollektivs LIGNA. Exemplarisch wird dabei deutlich, dass sich der Forschungscharakter von künstlerischem Aktivismus häufig an der Schnittstelle zwischen Universität und Gesellschaft entwickelt, wobei eine – innerhalb der Universitäten vermisste – Forschungsagenda auf gesellschaftliche Kontexte, etwa auf die Praxis des freien Radios, übertragen wird. Über Jahre untersuchte LIGNA im Kontext des Freien Sender Kombinats Hamburg, wie bestimmte Figurationen von (Gegen-)Öffentlichkeit mit medialen Setups korrespondieren und wie Veränderungen im Mediengebrauch veränderte Figurationen von Öffentlichkeit hervorbringen können. Aus dieser Versuchsanordnung entwickelte LIGNA schließlich eine einzigartige Praxis radiogestützter partizipatorischer Choreographien. Sie beruhen auf dem Konzept der Versammlung als Zerstreuung und beziehen zugleich medienwissenschaftlich, politisch und künstlerisch Position.
G RADUIERTENKOLLEG V ERSAMMLUNG UND T EILHABE . U RBANE Ö FFENTLICHKEITEN UND PERFORMATIVE K ÜNSTE Nicht nur das Performance- und Radiokollektiv LIGNA entwirft neue Arten von Öffentlichkeiten und erprobt neue Formen von Versammlungen. Zeitgenössische Performances sind häufig als Versuchsanordnungen zu
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verstehen, in denen getestet wird, ob und wie eine spezifische Form der öffentlichen Versammlung zustande kommt. Lange Zeit galt die öffentliche Versammlung – definiert als Kopräsenz von einander zumindest teilweise fremden Menschen – als Grundbedingung von Performances und Aufführungen im weitesten Sinne. Seit dem Aufkommen der ortsspezifischen, der partizipatorischen und der transmedialen Performance werden die Formen und Arten dieser Versammlung jedoch mehr und mehr in Frage gestellt. Sie stehen zur Verhandlung und wandeln sich von einer Voraussetzung zu einem experimentellen Setup: Welche Rollen prägen die Versammlung und wie werden die Beteiligten adressiert? Welche Zeiten, Orte und Medien nutzt die Versammlung und welche Beziehungen werden dadurch hergestellt? Innerhalb der performativen Künste stellen sich Fragen, die auch in wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskursen zum Thema demokratischer Teilhabe derzeit diskutiert werden. Im Hinblick auf das Wie von Partizipation und die Zukunft öffentlicher Versammlungen verlaufen gesellschaftspolitische, wissenschaftliche und künstlerische Entwicklungen in vieler Hinsicht parallel. Kerstin Evert, Gesa Ziemer, Regula Burri und ich haben dies zum Anlass genommen, das Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste zu gründen, das von zwei künstlerischen und einer wissenschaftlichen Institution, dem FUNDUS THEATER, dem K3-Zentrum für Choreographie und der Hafencity Universität, gleichberechtigt getragen wird.10 Parallel zum vorliegenden Band ist damit ein institutioneller Rahmen für Forschungsprojekte entstanden, die sich zum Ziel setzen, Akteur_innen aus Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft am Forschungsprozess zu beteiligen und dabei künstlerische, wissenschaftliche und andere Verfahren des Forschens zu kombinieren. Vor diesem Hintergrund dient der vorliegende Band auch dazu, Erkenntnisse und Diskussionen abzubilden, die in die programmatische Ausrichtung des Graduiertenkollegs eingegangen sind. Ergänzt wird dies durch den Versuch, die Erkenntnisse, die die performativen Künste in den vergangenen Jahren zu Fragen von Versammlung und Teilhabe experimentell gewonnen haben, im Sinne eines Forschungsstands zusammenzutragen und zu systematisieren. Dies unternehme ich in meinem Beitrag 10 Weitere Informationen zur Arbeit des Kollegs unter: http://www.versammlungund-teilhabe.de vom 29.11.2012.
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»THE ART OF BEING MANY. Zur Entwicklung einer Kunst der Versammlung im Theater der Gegenwart«. Hier schließen die Forschungen von Daniel Ladnar und Esther Pilkington (random people) an. Ihr Beitrag ist zugleich eine historische Analyse und ein Bericht über eigene Experimente zum Verhältnis von Performance und Dokumentation und zwar im Hinblick darauf, wie dabei verschiedene Öffentlichkeiten adressiert und generiert werden.
K RITIK
DER KÜNSTLERISCHEN
F ORSCHUNG
Unter dem Stichwort des »Forschens aller« versammelt der vorliegende Band zwangsläufig Studien zu Projekten, deren Erkenntnisinteressen vergleichsweise weit auseinander liegen, so weit wie die Theorie alternativer Währungen, die chemikalischen Grundlagen des Geschmacks oder die Erscheinungsformen der Fluxusbewegung in Wales. Auch dies ist derzeit kennzeichnend für das Feld der künstlerischen Forschung insgesamt, das durch gemeinsame Verfahren, Probleme und Chancen, nicht jedoch durch einen einheitlichen Gegenstandsbereich definierbar ist. Nichtsdestoweniger entwickeln sich im Zuge des Diskurses um künstlerische Forschung allmählich eine Reihe gemeinsamer Forschungsfragen heraus, die sich in vielen Beiträgen des vorliegenden Bandes diskutiert und jeweils anders pointiert finden: das Verhältnis von Prozess und Produkt, die Medialität und die Generation von Öffentlichkeiten, sowie die Nähe bestimmter Konzepte der Teilhabe zu neoliberalen Formen der Prosumption und der Gouvernementalität. Um alle drei dieser Fragen geht es in Heike Roms’ Text zur Situation der künstlerischen Forschung im Kontext der britischen Universitätsreformen. Roms schildert darin eine paradoxe Entwicklung: Während die britischen humanities gegenwärtig von der allgemeinen staatlichen Förderung abgeschnitten und zu ihrer Finanzierung allein auf Studiengebühren und auf Anteile an der zentral gesteuerten Forschungsförderung verwiesen sind, scheint die Position der künstlerischen Forschung in dieser Entwicklung zugleich gestärkt zu werden. Dies hängt Heike Roms zufolge nicht zuletzt mit den Parametern zusammen, die die Vergabe von Forschungsgeldern steuern. Denn hier wird der sogenannte »public impact« von Forschung gegenüber der innerwissenschaftlichen Verbreitung (Zitierindex) neuerdings deutlich höher bewertet. Kritiker_innen sprechen diesbezüglich be-
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reits von einem »Phantom der Öffentlichkeit« (vgl. S. 233). Roms macht nun deutlich, dass gerade künstlerische Forschung dazu prädestiniert ist, ein solches Phantom der Öffentlichkeit zu beschwören, da sie sich grundsätzlich in anderer Weise an Öffentlichkeiten adressiert als die wissenschaftliche Forschung selbst. Der Beitrag zeigt, wie wichtig es gerade in Zeiten beginnender Institutionalisierung ist, genau hinzuschauen und beispielsweise zwischen öffentlicher Wirkung (»public impact«) und öffentlicher Teilhabe zu differenzieren. Zugleich gilt es wahrzunehmen, wie sich Programme künstlerischen Forschens in die Entwicklung postfordistischer Ökonomien im Übergang zum kognitiven Kapitalismus einfügen. Dies gelingt mit der Lektüre des Beitrags von Tom Holert, der in kritischer Absicht die Konjunktur und die gesellschaftspolitischen Kontexte des Begriffs der Wissensproduktion analysiert, der – nicht zuletzt im Titel dieses Bandes – in den vergangenen fünfzehn Jahren immer geläufiger mit Kunst in Verbindung gebracht wird. Ulrike Bergermann geht in ihrem Beitrag noch einen Schritt weiter und verweist darauf, dass das Forschen aller im Kontext postfordistischer Ökonomien nicht mehr in einen programmatischen Gegensatz zum Forschen der Eliten gebracht werden könne. Der Abbau staatlicher Stellvertretungsstrukturen zugunsten partizipatorischer, zugleich aber auch prekärer/unbezahlter Beziehungen sei auch im Falle der Forschung in einem neoliberalen Kontext zu sehen und verlagere zugleich Disziplinierungen potentiell in das teilhabende, forschende Subjekt. Die Beiträge von Heike Roms, Tom Holert und Ulrike Bergermann zeigen in ihrer jeweiligen Kritik allerdings zugleich, dass die Fragen, die sich in der Debatte um künstlerische Forschung derzeit stellen, nämlich wer wie Wissen produziert, wer zur Forschung autorisiert wird und welchen Anteil verschiedene Öffentlichkeiten daran nehmen können, keineswegs marginal sind. Statt allein die experimentellen Segmente einzelner Kunstgattungen zu betreffen, stehen sie im Fokus der Entwicklung einer Wissensgesellschaft, deren demokratischer Charakter mit der gesellschaftlichen Teilhabe an Prozessen der Wissensproduktion steht und fällt.
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L ITERATUR Brandstetter, Gabriele/Klein, Gabriele (Hgg.) (2012): Dance [and] Theory. Bielefeld. Latour, Bruno (1998): »From the World of Science to the World of Research?«, in: Science. Vol. 280 no. 5361,S. 208–209. Krohn, Wolfgang (2012): »Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten«, in: Tröndle, Martin/Warmers, Julia (Hgg.): Kunstforschung als ästhetische Wissenschaft. Beiträge zur transdisziplinären Hybridisierung von Wissenschaft und Kunst. Bielefeld. Peters, Sibylle (2011): Der Vortrag als Performance. Bielefeld.
In-definitions Forschung in den performativen Künsten V ICTORIA P ÉREZ R OYO , J OSÉ A. S ÁNCHEZ , C RISTINA B LANCO
Dieser Text ist aus Gesprächen entstanden, die im November 2011 in Madrid stattfanden.11 In der Ausarbeitung haben wir entschieden, alle drei Stimmen zu einer zu verschmelzen, um den Fluss kollektiven Denkens zu berücksichtigen; dabei erlauben wir unserer Argumentation, an manchen Stellen widersprüchlich zu sein. Unser Ziel war es, eine Reflexion über künstlerische Forschung zu präsentieren, die auf unseren eigenen Erfahrungen im Feld der künstlerischen Praxis, Kritik und Lehre basiert. Wir schöpfen auch aus Erfahrungen, die wir an einem gemeinsamen Ort für Lehre und Forschung, dem Programm MEPCV, gesammelt haben.12 1
Übersetzung von Elise v. Bernstorff und Sibylle Peters.
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MPECV ist ein Projekt, das im Oktober 2009 von der ARTEA Forschungsgruppe initiiert wurde und von mehreren Universitäten und institutionellen sowie unabhängigen Kunstzentren unterstützt wird. Eine Gruppe von 24 Student_innen aus zehn verschiedenen Ländern nimmt zurzeit Teil an Seminaren und Workshops, die von Künstler_innen und Akademiker_innen verschiedener Wissenszweige koordiniert werden. Die Student_innen entwickeln Projekte der künstlerischen Forschung [Anm. d. Übers.: Im Original »research-creation projects«. Dies wurde durchgehend mit »künstlerischer Forschung« übersetzt, da wortgetreuere Übersetzungen von »creation« irreführende Konnotationen haben], die sie einzeln oder kollektiv realisieren. MPECV ist in Madrid situiert, ausgerichtet von der Alcala Universität und in Kollaboration mit Museo Reina Sofia, Matadero-
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E INFÜHRUNG Was ist künstlerische Forschung? Im akademischen Feld wird Forschung als ein Prozess wahrgenommen, der zum Erwerb von neuem Wissen führt, welches dann wiederum der kritischen Überprüfung einer Gemeinschaft − der wissenschaftlichen Gemeinschaft − ausgesetzt ist. Dadurch soll gesichert werden, dass die korrekte Methode verfolgt und verifizierbare Ergebnisse gewonnen werden. Derzeit ist künstlerische Forschung meist Forschung über Kunst. Wenn wir von Forschung über Kunst zu Forschung in der Kunst gelangen wollen, verlangt dies, eine neue Community und einen neuen Diskurs zu entwickeln, die nicht mit der Community und dem Diskurs der Künste und Kunstwissenschaften insgesamt identisch sind. Ich sehe das Problem, dass nicht nur zwei Diskurse existieren – Kunst und künstlerische Forschung – sondern tatsächlich drei, da wir auch den ökonomischen Diskurs mitbedenken müssen; dabei ist nicht klar, wie die Beziehung zwischen diesen verschiedenen Zusammenhängen funktioniert. Auf der einen Seite sehen Künstler_innen sich selbst als eine Gemeinschaft Gleichgestellter, die aus anderen Künstler_innen, Autor_innen, Freund_innen und so weiter besteht. In dieser Community werden künstlerische Produktion, Ausdruck und Kunstpädagogik kultiviert. Mit ihr verwoben sind jedoch immer auch die Netzwerke des Geldes. Manchmal halten Kritiker_innen oder Akademiker_innen den Schlüssel in der Hand, der Künstler_innen Zugang zu diesen Netzwerken verschafft. Die Anerkennung durch Kritiker_innen oder durch akademische Kontexte kann ökonomische Konsequenzen haben. Dennoch vermute ich, dass man sich weiter vom Kunstmarkt entfernt, je näher man der akademischen Welt, der Forschung kommt. Dabei geht es vor allem um Selbstlegitimation. Wenn Künstler_innen produzieren, forschen sie auch. Was der Künstlerin oder dem Künstler fehlt, sind die Legitimationsstrategien, über die die Wissenschaften verfügen. Sie können Schutz gegen den Kunstmarkt bieten. Künstler_innen und Forscher_innen haben eine engere Beziehung zueinander als zu den Mitgliedern des mone Madrid und La Casa Encendida: http://www.arte-a.org/en/node/139 vom 30.07.2012.
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tären Netzwerks. Ich beziehe mich hier nicht auf die Vermittler_innen (Galeriebesitzer_innen, Veranstalter_innen oder Kritiker_innen), sondern auf diejenigen, die in Besitz von Geld oder Macht sind. Ihr Interesse ist ein anderes als unseres. Eine Forscherin oder ein experimenteller Wissenschaftler könnten sagen: »Ich entwickle keine Produkte, ich forsche; ich werde Dir die Forschung zeigen, aber ich werde sie nicht verkaufen.« Künstlerische Praxis als Forschung unterscheidet sich also darin von künstlerischer Produktion, dass sie auf den Prozess konzentriert ist. Künstlerische Forschung übernimmt gesellschaftlich Verantwortung dafür, den Prozess des Forschens sichtbar, kommunizierbar und übertragbar zu machen. Dies impliziert Arbeit, die nicht im Interesse eines Großteils der Künstler_innen liegt. Die Offenlegung der Prozesse enthüllt kein »Mysterium der Schöpfung«, sondern schafft gemeinsame Grundlagen, um Probleme, Alternativen und vorläufige Feststellungen zu verhandeln. Es geht eher darum, Neugierde zu wecken und Arbeitsweisen zu reflektieren als Formeln oder Rezepte zu erfinden. Geht das Offenlegen des Prozesses mit dem Risiko einher, den professionellen Wert der Arbeit zu schmälern? Nicht unbedingt; manchmal kann das Teilen eines Prozesses, zum Beispiel mithilfe eines Blogs oder einer Serie von Workshops, das Interesse an der Präsentation steigern. Auch wenn es wahr ist, dass die Offenlegung des Prozesses die Präsentation der Arbeit beeinflusst, denn sie verunmöglicht es, sie als ein abgeschlossenes und eindeutiges Produkt zu sehen. Eine andere Möglichkeit ist es, die Offenlegung des Prozesses als eine Art Open Source Code für das Werk zu begreifen. Das würde eine gründlichere Untersuchung des Feldes der performativen Künste und des politischökonomischen Systems, das dieses stützt, mit sich bringen. Es ist allerdings schwierig, sich einen wirklich funktionalen Open Source Code vorzustellen, denn die in den Prozess der Entscheidungsfindung involvierten Mechanismen sind nicht übertragbar, da sie auf der Singularität der einzelnen beteiligten Künstler_innen beruhen. Unsere Sensibilität und unsere Art und Weise, die Welt zu sehen, ist nicht übertragbar. Verfahren hingegen sind übertragbar. Verfahren entstehen aus der jeweiligen Herangehensweise an ein Problem, und auch wenn sich Probleme in der künstlerischen Praxis immer wieder neu stellen, können Verfahren als Werkzeuge benutzt werden.
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Was also gewinnen Künstler_innen durch die Offenlegung ihrer Prozesse? Sie gewinnen Zugang zu Orten, an denen sie teilen und experimentieren können. Die Möglichkeit zu forschen hat weniger mit der Gestaltung eines spezifischen Objektes zu tun, sondern mehr mit Motivationen; diese Motivationen können divers und vage sein, auf einem Affekt oder einer Anziehung basieren. Es gilt, geeignete Konditionen für das Experimentieren, Kommunizieren und den Austausch zu schaffen. Denn ohne Kommunikation gibt es keine Forschung. Wir sollten dabei weniger auf die Zusammenführung antagonistischer Diskurse, als auf die Schaffung operativer Orte abzielen, an denen Kunst, Wissenschaft und die ökonomischen Netzwerke einen common ground finden. Das ist jedoch mit politischen und ideologischen Problemen verbunden. Öffentliche Universitäten und Künstler_innen sind Marktgesetzen ausgesetzt, die den Universitäten keine Autonomie lassen und der Kunst die Legitimation entziehen. Um eine Reglementierung durch ökonomische Diskurse zu verhindern, muss der künstlerische Diskurs revolutioniert werden. Das Reina Sofia Museum, in dem das MPECV stattfindet, könnte ein Beispiel dafür sein. Wenn die Programme für Kunst und Forschung darauf abzielen, neue Legitimationsstrategien für Kunst zur Verfügung zu stellen, dann dadurch, dass die Kunst an den Ort zurückkehrt, von dem sie verstoßen wurde, als die moderne Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Kunst sich etablierte. Kant beschrieb diese Unterscheidung mithilfe der Figur des Seiltänzers: Er praktiziere eine Kunst, sei aber unfähig zu erklären, wie er seine Balance hält. Dieses Bild, das Kant vorschlägt, ist interessant, da es sich direkt auf Körperwissen bezieht, ein Begriff, der für unsere Diskussion hilfreich sein kann (vgl. De Certeau, 1980, 114). Julio Cortázar erörtert dieselbe Frage auf literarische Weise in seiner Erzählung »Der Verfolger« (»El perseguidor«) in Die geheimen Waffen (Las armas secretas, 1959). Hier steht die Figur des Künstlers Johnny − ein hochgradig versierter Saxophonspieler, der jedoch unfähig ist, über seine eigene Praxis zu sprechen − im Kontrast zu der Figur des Kritikers Bruno, der ein großer Experte darin ist, Johnnys Beitrag zum zeitgenössischen Jazz darzulegen. Brunos Buch ist das klassische Beispiel einer wissenschaftlichen Arbeit über Kunst. Sie dient zum Teil dazu, den Künstler oder den Musikstil, den dieser repräsentiert, zu fördern oder zu legitimieren. Doch in
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einem tieferen Sinn versteht Bruno Johnny nicht, da der Musiker in seiner Suche sein Leben riskiert, während der Kritiker in seiner Recherche nur sein soziales Leben aufs Spiel setzt. Anders als Johnnys Suche bietet Brunos Forschung spezifische und quantifizierbare Ergebnisse. Was interessant an »Der Verfolger« ist, ist jedoch die Präsenz einer dritten Figur, der Figur Cortázars selbst. Anders als Johnny ist Cortázar nicht ›stumm‹, zugleich ist seine Art und Weise, über Johnnys Kunst zu schreiben, sehr verschieden von der seiner Figur Bruno. Cortázar versucht nicht, Johnnys Musik zu erklären, stattdessen versetzt er sich in die Situation von Johnny, indem er mit dem Timing, dem Rhythmus, den Stimmen und Texturen der Sprache spielt. Dies ist ein geeignetes Beispiel für Forschung in statt über Kunst. In gewisser Weise realisiert Cortázar damit eine Idee John Cages, der schrieb: »[…] before, the best critique of a poem was a poem, now the best critique of a happening could be a musical piece […]«. Cage geht noch weiter wenn er formuliert, dass es auch ein »[…] scientific experiment, or a trip to Japan, or even a trip to the local supermarket […]« sein könnte (Cage 1973, 56).
ABLEHNUNG DES O BJEKTIVEN – G RENZEN VON W ISSEN UND K RITIK DER S UCHE NACH DEM N EUEN Johnnys Wissen ist nicht kommunizierbar. Cortázars Wissen ist, wie Johnnys Wissen, nicht vom Text zu trennen. Vielleicht lautet die Frage, die wir uns stellen müssen, ob künstlerische Forschung wirklich auf Wissensproduktion hinausläuft oder vielleicht auf etwas ganz anderes. Ich glaube, dass Kunst Wissen produziert, jedoch eine spezielle Art, die sich kaum an das Verständnis von Wissen als Entnahme abstrakter Information annähern lässt und die inkompatibel ist mit der Teleologie und Instrumentalität, mit der wir Wissen an der Universität definieren. Künstlerisches Wissen ist näher an den Prozessen und Funktionsweisen, die Lévi-Strauss »das wilde Denken« (»the savage mind«) genannt hat. Dieses ist »neither the mind of savages nor that of primitive or archaic humanity, but rather mind in its untamed state as distinct from mind cultivated or domesticated for the purpose of yielding a return« (Lévi-Strauss 2009, 317). Beide Denkweisen, das künstlerische und das wilde Denken, ordnen den Gegenstand der Untersuchung nicht eigennützig seiner wissenschaftlichen Brauchbarkeit unter,
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sondern sind eine Folge der mit ihnen verbundenen Affekte. Künstlerische oder forschende Praktiken sind in dieser »Wissenschaft des Konkreten«, wie Lévi-Strauss sie auch bezeichnet, untrennbar mit dem Gegenstand der Forschung verbunden. Wenn wir diesen Gegenstand von seinen spezifischen Eigenschaften ablösen, von den spezifischen Nuancen und den Emotionen, die er im Forscher weckt, verliert er seinen Sinn. Die Idee von der Produktion neuen Wissens hängt mit einer Vorstellung von Kultur als fortschreitendem Prozess zusammen, eine Sichtweise, die im Kontrast zu aktuellen diskursiven Entwicklungen in den humanities steht. Sie folgen nämlich gerade keiner Fortschrittslinie, sondern verhandeln dieselben Themen im Laufe der Zeit mit einem jeweils veränderten Fokus immer wieder. Es geht nicht so sehr darum, neue Aussagen zu artikulieren als vielmehr darum, Probleme neu zu formulieren (vgl. Latour 2004, 20ff). Wenn es also schon in den humanities als unangebracht erscheint, von neuem Wissen im Sinne einer Akkumulation zu sprechen, so gilt dies umso mehr in den Künsten. Daher scheint mir der beste Ansatz darin zu bestehen, ein Problem zu formulieren, dieses Problem zu reflektieren und dann einen neuen Fokus für dieses Problem zu erarbeiten. Diese Tätigkeit ist nicht unbedingt durch die Aneignung von Wissen oder neuem Wissen motiviert, sondern von Wissbegier13 und dem Begehren, etwas in Bezug auf das Material oder Feld, das untersucht wird, zu erfahren. Wir denken nicht an Wissen als verifizierbare Information über Dinge, sondern eher als ein ständiges Hinterfragen unserer Gewissheiten. In der experimentellen Wissenschaft spricht man über neues Wissen, wenn eine Kohärenz zwischen empirischen und theoretischen Daten gegeben ist, die die zuvor beobachteten Widersprüche auflöst. In diesem Sinne ist ein Problem gelöst, wenn seine Lösung die praktische Anwendung einer Theorie ermöglicht. Man könnte behaupten, Kunst arbeite genau entgegengesetzt, indem sie nicht nach Lösungen, sondern nach Problemen sucht. Es handelt sich hier nicht um etwas, das funktioniert, sondern um etwas, das nicht funktioniert. Basierend auf dieser Dysfunktion wird innerhalb der künstlerischen Mechanismen selbst eine Arbeitsweise entwickelt. Anders als Wissenschaft versucht Kunst nicht, eine Beziehung mit der Wahrheit einzugehen; sie akzeptiert nicht einmal die Idee von Wahrheit als einem verbin 3
Im Original »Curiosidad«, ein Begriff, der im Spanischen nichts mit der Suche nach etwas Neuem zu tun hat.
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denden, konsistenten Faktor. Tatsächlich fühlt sich Kunst heimischer im »keine Wahrheit«. Paul Valéry formuliert dies auf einfache und provokative Weise, wenn er sagt: »La vérité est un moyen. Il n’est pas le seul.«14 (Valéry 1937, 380). Ich glaube, unsere beste Chance ist es, der Tradition der Poet_innen zu folgen und nach einer Bedeutung von Wissen zu suchen, wie sie in Kunst und Poesie präsent ist, für die sich Intuition, Lüge und Fiktion eventuell als brauchbarer erweisen als akzeptierte Verfahren, verifizierbares Wissen zu produzieren. Elke van Campenhout spricht mit ähnlichen Begriffen von künstlerischer Forschung in einem Text, in dem sie als Alternative zu der Produktion von neuem Wissen vorschlägt, existierendes Wissen durchzuarbeiten, zu verrücken und zu missdeuten.15 Hier geht es sicher nicht darum, eine zynische Haltung einzunehmen, sondern darum, den Wert anzuerkennen, den eine transformierte und andersartige, sogar deformierte Perspektive auf bereits bestehendes Wissen haben kann. Dies erinnert an einen Gedanken, den der Anthropologe Manuel Delgado formuliert und auf seine eigene Disziplin angewandt hat: In seinem Aufsatz »Bewegliche Gesellschaften« (»Sociedades Movedizas«) beschreibt er den literarischen Naturalismus als bevorzugte Methode anthropologischer Forschung und erkennt damit an, dass eine besondere Art von Wissen in der Kunst existiert. Er befürwortet einen »poetischen Positivismus«, eine Forschungspraxis, die als »science of the prediscursive, a non-scientificist science« (Delgado 2007, 122) die angemessenste Weise darstellt, dem Realen gerecht zu werden.
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»Die Wahrheit ist ein Mittel. Es ist nicht das einzige.« [eig. Übers.]
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»In that sense we might argue that art (and artistic research) does not in the first instance produce knowledge, but that the arts keep on opening up the cracks in our systems of understanding: mislaying the knowledge that in the gridlocked pre-defined contexts that define our society can only be understood according to the conventions of the discourses (be they political, aesthetic, psychological,…) the knowledge ›belongs‹ to.« Van Campenhout, Elke: »a.pass TOOLS«, in: http://www.in-presentableblog.com/content/a-pass-tools.html vom 18.12.2012.
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D IE U NBESTIMMBARKEIT
DES
F ELDES
Wie aber können wir künstlerische Forschung verstehen, wenn nicht als Produktion neuen Wissens, das von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft verifiziert werden kann? Vielleicht ist es nicht notwendig, »künstlerische Forschung« zu definieren. Tatsächlich sind Definitionen allgemein weit entfernt von künstlerischer Praxis. Wenn Künstler_innen Definitionen gesucht haben (in Manifesten oder Pamphleten), haben sie das häufig in provokativer Absicht getan. Daher ist es eventuell nützlicher, künstlerische Forschung als ein Feld zu beschreiben, das von bestimmten Schlüsselbegriffen charakterisiert ist, nämlich: ›Problem‹, ›Subjektivität‹ und ›Imagination‹. Probleme statt Lösungen zu suchen und entsprechende Fragen zu formulieren ist eine Alternative zu einem teleologischen Verständnis von Forschung. Das würde auch der epistemologischen Perspektive folgen, die Gayatri Chakravorty Spivak vorschlägt, wenn sie darlegt, dass Fragen Forschungsfelder eröffnen und nicht umgekehrt, und dass Theorie eine andere Form der Praxis ist (Spivak 1988, 56). Subjektivität ist im Feld der künstlerischen Forschung nicht nur ein Element unter anderen, sondern eine durchgängige Gegebenheit. Während Paul Feyerabend im Hinblick auf die Persona des Naturwissenschaftlers behauptet, »A love for Mozart or for Hair will not, and must not, make his physics more melodious, or give it a better rhythm. Nor will an affair make his chemistry more colourful.« (Feyerabend 1980, 22), passiert genau dies im Feld der künstlerischen Forschung ständig: Die Künstlerin oder der Künstler gesteht sich ihre oder seine Subjektivität ein und arbeitet mit ihr. In einigen Fällen ist Subjektivität sogar die Hauptmotivation hinter der künstlerischen Forschung. Das Eingeständnis von Subjektivität und der Effekte, die sie auf die Forschung ausübt, ist zugleich genau das, was Georges Devereux empfiehlt, um »vollständige Objektivität« (»thorough objectivity«) in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften zu erreichen. In diesem Kontext befindet Devereux, der einzige Weg mit den Ängsten und der Unordnung umzugehen, die das Feld der Forschung für die Forscher_innen mit sich bringen, sei diese zu akzeptieren und anzugehen:
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Man kann keine gute Wissenschaft betreiben, wenn man die grundlegendsten Fakten und Charakteristiken übersieht, welche, ganz konkret, die eigenen Schwierigkeiten von Wissenschaft sind. Der Verhaltenswissenschaftler kann nicht die reziproke Wirkung zwischen Subjekt und Objekt ignorieren in der Hoffnung, dass sie am Ende verschwindet, wenn er eine Weile so tut als existiere sie nicht. (Devereux 2008, 21 [eig. Übers.])
Doch es geht hier nicht darum, ein neues Verständnis von Objektivität zu erarbeiten, sondern um die Relevanz von Subjektivität in der künstlerischen Forschung. Hier ist das Subjekt ein Medium; es erkundet ein Gebiet und untersucht gleichzeitig die Veränderungen und Modifizierungen, denen es ausgesetzt ist. Insofern ist es in bestimmten künstlerischen Forschungsprojekten irreführend, eine klare Unterscheidung zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Untersuchung zu treffen. Hier verbindet sich Subjektivität mit dem dritten Begriff, der unser Feld definiert: mit der Imagination. Zwei Arten von Imagination sind hier denkbar: Wir können, auf der einen Seite, an eine assoziative oder dissoziative Imagination denken, die mit (emotionalen, mentalen oder abstrakten) Bildern arbeitet und unwahrscheinliche Verbindungen im Alltag und in der Geschichte des Individuums stiftet. Dies lässt sich auch als Prozess der Dekonstruktion verstehen: Imagination zerlegt reale Verbindungen und setzt die Dinge neu zusammen. Die zweite Art von Imagination, die hier ins Spiel kommt, ist projektiv: Sie ermöglicht uns, eine alternative Realität im Sinne einer Perspektive zu imaginieren, die unsere Aktion lenkt. Diese Imagination ist keine exklusive Domäne von Künstler_innen; sie macht persönliche (Appadurai 2001) und gesellschaftliche Veränderungen (Negri 2000) erst möglich. Diese Art von Imagination produziert Wissen durch den Versuch, Wirklichkeit zu transformieren. In Bezug auf Künstler_innen ist es vielleicht treffender, dabei von Erfahrungen statt von Wissen zu sprechen. In der Tat ist künstlerische Praxis angetrieben von einem ständigen Konflikt mit der Wirklichkeit, die – aus jeweils subjektiver Perspektive – befragt und von der Imagination erfasst wird. John Dewey hat festgestellt, dass künstlerische Praxis einen intensiven Raum schaffen kann, in dem Erfahrungen jenseits von Ablenkung und Zerstreuung möglich werden (Dewey 1934, 41). Die Frage ist allerdings, ob Erfahrungen zuvor, danach oder währenddessen gemacht werden. Für eini-
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ge Künstler_innen ist Kunst eine Aktivität, in der bereits gemachte Erfahrungen verarbeitet werden können oder der Moment, in dem etwas erfahren werden kann, das wahrzunehmen das alltägliche Leben nicht zuließ. Für andere erlaubt künstlerische Praxis eine bestimmte artifizielle Erfahrung, die man im normalen Leben nicht machen kann. Letzteres trifft bei verschiedenen Formen von Body-Art zu oder bei Projekten, in denen der Künstler oder die Künstlerin das Subjekt einer tiefgreifenden Transformation wird, wie zum Beispiel in der One year performance von Tehching Hsieh16. Können wir hier Muster erkennen, die eine Form der Generalisierung ermöglichen, die zwar nicht zu einer Theorie führt, aber eingebettet werden könnte in akademische artistic-research-Programme?
M EISTERSCHAFT 17 VERSUS E RFAHRUNG Wenn man sich für ein Programm wie MPECV anmeldet, erwartet man nicht in erster Linie, Wissen zu akquirieren; stattdessen geht es darum, Erfahrungen zu machen. Welche Erfahrungen werden vom MA angeboten? »Erfahrung« hat hier zwei Bedeutungen: 1) als professionelle Erfahrung oder Know-how (curricular), und 2) Erfahrung als Intensität (biographisch). Es gibt einen Konflikt, oder zumindest eine Disparität, zwischen diesen beiden Bedeutungen von Erfahrung, ähnlich der Disparität zwischen sozialer Realität und individuellem Leben. Kreative Imagination oszilliert zwischen beiden. Und so sammeln Künstler_innen im Laufe der Zeit Erfahrungen damit, Fragen so zu formulieren, dass sie Erfahrungen ermöglichen und Probleme lösen, die dem Austausch von Erfahrungen entgegenstehen. In diesem Sinne kann man von Erfahrungen der ersten Sorte in Bezug auf Erfahrungen der zweiten Sorte sprechen – von einer Meisterschaft (einem master) in der Kreation von Erfahrung, der es gelingt, den Dreiklang von »Problem – Imagination – Subjektivität« zu managen. Das MA-Programm ist ein Raum für Reflexion, in dem die Student_innen ein Bewusstsein für ihre eigene Praxis erlangen. Ich beziehe mich hier nicht auf rein selbstreferentielle Praktiken, sondern darauf, sich 6
http://www.one-year-performance.com vom 23.01.2013.
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Im Original »mastership«. Die Verbindung zum Master im Sinne des Magisters geht in der Übersetzung verloren. [Anm.d.Ü.]
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der eigenen Fähigkeiten bewusst zu werden, auf sie zu vertrauen und sie weiter zu entwickeln. Auf die Frage, warum sich die Student_innen für den MA einschreiben, antworten diese häufig, dass sie ihre Praxis bereits über mehrere Jahre entwickelt haben und nun interessiert daran sind, diese Praxis zu reflektieren. Ihr Ziel ist nicht so sehr zu produzieren, als vielmehr ein Bewusstsein für die Grenzen ihrer Praxis und einen tieferen Einblick in das Potential ihrer Entwicklung zu gewinnen. Das ist verbunden mit der Einbindung in eine künstlerisch-wissenschaftliche Gemeinschaft, in Arbeitsweisen, die auf Dialog, Kollaboration und Austausch basieren. Wenn wir uns noch einmal auf Cortázars Der Verfolger beziehen, können uns also vorstellen, dass der MA ein Instrument sein könnte, Johnny auf Augenhöhe mit Bruno zu bringen und so gewissermaßen in Julio Cortázar zu verwandeln. In Cortázars Geschichte weiß Johnny, wie man Saxophon spielt und er weiß, dass sein Spiel Emotionen, Erfahrungen und Intensität hervorruft, aber er weiß nicht warum, und er sucht nach mehr. Bruno, der Kritiker, versucht zu erklären was Johnny tut, doch erklärt am Ende nicht das, was daran eigentlich wichtig ist. Cortázar reflektiert seine eigene Praxis in der Beziehung beider Figuren und produziert damit einen Text, der selbstreflexiv ist, ohne selbstreferentiell zu sein. Dabei ist der Text durchaus zirkulär, als könnte er die Spannung, die zwischen Johnny, Bruno und Julio besteht, nicht auflösen, ihr nicht entfliehen. Dieses Hin und Her, das nicht notwendigerweise zu einem spezifischen Ergebnis gelangt, betrachten wir als einen inhärenten Teil von Forschung; es geht nicht darum, ein spezifisches Wissen zu gewinnen, sondern darum, verschiedene Perspektiven in Bezug auf ein Problem einzunehmen, sich ihm mit einer neuen Haltung zu nähern und dann wiederum mit einer neuen. Wie in der Bewegung von einer Figur zu einer anderen, vom völligen Eintauchen in blinde Intuition zur Aneignung einer distanzierteren Vision und so fort. Dies würde jedoch nicht dem Muster einer dialektischen Bewegung folgen, sondern eher einem Nomadismus gleichen, der sich im Rahmen des MAs größtenteils durch Treffen und Kollaborationen mit anderen ereignet. Dieses Nomadentum kann auch für Studierende lohnend sein, die eher einen theoretischen Hintergrund, keine vorherige künstlerische Praxis haben, so dass sie nun mit dem Gebrauch von Werkzeugen wie Intuition, Fiktion oder Lügen in Kontakt kommen. So sollten Reflexionen nicht allein auf Praxis verweisen, sondern selbst zum Ausgangspunkt einer Verschie-
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bung in Richtung auf eine umfassendere Beziehung zwischen künstlerischen Mitteln, Sprache und Realität werden. In diesem Zusammenhang ist es interessant an einen Maler zu denken, der in Benjamins Reflexionen über Geschichte vorkommt: Paul Klee (Benjamin 2010). Als Klee dem Bauhaus beitrat, teilte er das von Gropius formulierte Ziel, die Errungenschaften der bildenden Kunst anderen Künsten wie Design, Architektur etc. zugänglich zu machen; nicht jedoch, um Resultate zu präsentieren, sondern um den Prozess zu analysieren. Die Arbeit Klees für das Bauhaus kann, wie jene von Schlemmer und anderen Malern, als eine Übung in re-search gelten, eine Rückkehr zur eigenen Suche. Der rationalistische Glaube von Bauhaus hat einen universalisierenden Anspruch, den man kritisieren kann, aber im Fall der Forschung Klees ist interessant, dass er – wie in seinen Bildern sichtbar wird – die Bedeutung der Subjektivität anerkennt. Die Subjektivität verhindert, dass re-search die Suche löscht. Klee forscht, indem er über Malerei und bildende Kunst reflektiert, aber er forscht nicht selbstreflexiv über seine eigene Praxis als Maler. Die Frage der Reflexion steht in Beziehung zu den Möglichkeiten die sich eröffnen, wenn man ein Meister (master) wird, unter ihnen das Bewusstsein für die eigenen Fähigkeiten. Sie weist aber auch auf etwas Wichtigeres hin: auf die Möglichkeit sich auszutauschen, gegenseitig zu bereichern, Methoden und Arbeitsweisen aus Bereichen außerhalb des eigenen zu übernehmen. In diesem Sinne ist die Idee einer »Demokratisierung der Erfahrungen« relevant, wie sie von Hannula, Suoranta und Vadén formuliert wird (Hannula et al. 2005, 30-33). Sie bildet die epistemologische Basis, die es einer Forschung im Sinne Klees ermöglicht, sich zu ereignen. Eine »Demokratie der Erfahrungen« bedeutet, anstelle einer Hierarchie eine Situation zu entwickeln, in der verschiedene Arten des Sehens, Verstehens und Sich-auf-die-Welt-Beziehens gleichberechtigt sind, so dass alle Erfahrungsbereiche im Kontext einer multi-disziplinären Forschungsgemeinschaft für alle anderen zugänglich sind, so dass ernsthafte Gespräche und gegenseitige Bereicherung verschiedener Erfahrungsbereiche möglich werden – zwischen der Kritik Brunos und der Praxis Johnnys, zwischen Malerei und Architektur oder zwischen Biologie und Tanz. Hier verschließt sich Referentialität nicht in sich selbst, sondern fördert dadurch spezifische Forschung, dass man anderen Bereichen ausgesetzt ist.
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D IE S CHWIERIGKEIT
DER
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M ETHODE
Ein kreativer Forschungsraum kann also kein spezifisches Wissen, keine geschlossenen Methoden oder feste und quantifizierbare Evaluationssysteme anbieten. Dennoch wollen wir in einem definierten Feld arbeiten, um Probleme zu formulieren, Subjektivität zu aktivieren, Imagination zu stimulieren und Erfahrungen zu teilen. Was sind die Hindernisse? Was hemmt uns, Fragen zu formulieren? Was unterdrückt die Vorstellungskraft? Was deaktiviert Subjektivität, blockiert Kollaboration und Austausch? Eines der Hindernisse ist der Druck, ein Endprodukt des Forschungsprozesses zu präsentieren. Das Problem liegt nicht so sehr in der öffentlichen Präsentation, denn Forschung wird immer im Dialog und Kontakt mit anderen entwickelt. Es liegt eher in unhinterfragten Vorstellungen davon, was das Produkt einer Forschung ausmacht, während andere hybride, weniger definierte Formen wie zum Beispiel eine Performance nicht als zulässig empfunden werden. Es gibt immer eine Spannung vor dem Moment der Präsentation, die nicht notwendigerweise negativ sein muss. Die Präsentation hat Vor- und Nachteile: Der Druck etwas zu präsentieren ist sehr nützlich, da er die Künstler_innen einem dringlichen Prozess aussetzt, der ihre volle Beteiligung erfordert und ihren Enthusiasmus und ihre Emotionen ins Spiel bringt. Zugleich kann er ein Hindernis darstellen für freies Experimentieren und das Spiel mit der Vorstellungskraft, da die Präsentation notwendigerweise einen gewissen Grad an Darstellung und Offenlegung erfordert. Es geht um eine Öffnung des Prozesses und eine Ausstellung der Arbeit auf eine Weise, die den Prozess und das Produkt nicht als von einander unterschiedene qualitative Momente sieht, sondern als eine Fortführung von Tätigkeiten, in denen es schwierig ist zwischen dem Öffentlichen und Privaten zu differenzieren, in denen das Experimentieren sowohl zum Moment der Ausstellung als auch zu dem der Entwicklung gehört. Tatsächlich gab es bereits viele Forschungsinitiativen, die in diesem Sinne organisiert wurden. Ich denke daher, es geht nicht um ein unlösbares Problem, sondern darum, sich der Fragilität des Prozesses der Imagination bewusst zu sein und andere Arbeitsweisen in Betracht zu ziehen, anstatt sich nur auf das Produkt zu fokussieren. Ein weiteres Hindernis auf das wir treffen, ist der Exzess von Information. Information, so wie auch Kritik, kann ein Hindernis darstellen, besonders im Anfangsstadium der Forschung, wenn beispielsweise ein bestimm-
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ter Pfad intuitiv verfolgt wurde und die Forscherin nach der Präsentation des Prozesses darüber informiert wird, das ihr Ansatz in der Arbeit eines bestimmten Künstlers oder einer spezifischen Tradition bereits existiert. In diesem Moment, in dem die Künstlerin noch versucht zu etablieren, wie sie das Material oder die Verfahren mit denen sie arbeitet legitimiert, kann eine externe Referenz das Problem verstellen, indem sie die Forschung in Frage stellt, anstatt ihre Entwicklung zu unterstützen. Dies führt uns zu der Frage nach der Rolle von Kurator_innen, Coaches oder Mentor_innen, die in den Prozess der Künstler_innen involviert sind. In Bezug auf Künstler_innen, die bereits einen gewissen Grad an Erfahrung haben, kann die Unterstützung durch andere Expert_innen in der Entwicklung einer Arbeit interessant sein. Bei Künstler_innen, die ihr erstes eigenes Projekt in Angriff nehmen, kann es jedoch besser sein, nicht zu intervenieren, sondern lediglich zu beobachten, welche Strategien Anwendung finden und wie mit dem Unwissen in diesem Feld umgegangen wird. Die Aufgabe bestünde dann eher darin, den Arbeitsprozess zu gewährleisten, zu beobachten, aber nicht zu intervenieren und zum Beispiel in Entscheidungsprozessen zu helfen. Bojana Mladenovic hat die Rolle der Mentor_innen/Tutor_innen in kreativen Prozessen in einer Reihe von Konferenzen, die in La Porta (Barcelona) stattfanden, ähnlich gefasst, als sie sagte, gute Tutor_innen seien eventuell jene, die, nachdem sie mit den Student_innen zehn Minuten gesprochen haben, ihnen sagen, dass sie keine Tutor_innen bräuchten. Tutorien im Studienkontext bestehen nicht in einem Eingriff in die Arbeit der Student_innen, sondern darin, die Ängste abzubauen, die mit Forschung verbunden sind, den Wert der Forschung zu relativieren etc. Es geht nicht darum, eine Lösung zu finden, sondern darum, die Student_innen zu befreien von bestimmten Fragen, die sie mit der Arbeit assoziieren und die verhindern, dass sie sich auf die Freude am Experimentieren und Lernen konzentrieren. Doch jeder Fall muss einzeln betrachtet werden und kann nicht generalisiert werden, es gibt keine Lösungen, die in jeder Situation funktionieren, insbesondere, wenn es um Probleme, Subjektivität und Imagination geht. Ein Exzess von Informationen kann ein Hemmnis darstellen, doch auch ein Mangel an Informationen über die Performancekunst oder Kunst im Allgemeinen kann ein großes Hindernis für die Praxis sein. Hilfreich ist es hier, Wissen im Sinne einer Praxis zu verstehen. Im MPECV basiert die
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Arbeit der Fächer, die einen Bezug zur Geschichte der Kunst haben, auf der unabhängigen Praxis der Student_innen. Die Lehrer_innen stellen einen Kontext bereit, eine Art und Weise zu arbeiten und ein Forschungsfeld, aber die Studierenden organisieren es gemäß ihrer eigenen Interessen und Belange; sie übersetzen Wissen in eine Praxis. Information, die das Handeln nicht überschreibt, sondern fördert, trägt zur Entwicklung der Forschung bei. Welche Informationen sind interessant? In welcher Quantität sollten sie angeboten werden? Und zu welchem Zeitpunkt? Hinderlich können Informationen sein, die auf eine Weise übermittelt werden, die Modellen, Beispielen und Kategorien den Vorrang gibt, anstatt den Künstler_innen zu helfen, sich ihren selbstgestellten Fragen zu nähern. Die historischen Referenzen der Disziplin selbst sind dann unter Umständen weniger relevant als andere Referenzen, die von ganz verschiedenen Informationsquellen kommen können. Jeder Künstler/jede Künstlerin bildet Schritt für Schritt seine/ihre eigene Bezugswelt. Nicht für jede oder jeden ist Quantenmechanik interessant, das Leben einer obskuren Person in einem bestimmen historischen Zeitraum oder die Bienenzucht. Dennoch können solche Referenzen im Einzelfall produktiver sein als umfassende Informationen über die Geschichte der Disziplin oder über die Kritik, die mit ihr assoziiert ist. Diese Öffnung für andere Informationen kann dem Risiko einer kontrollierenden und paralysierenden Selbstreflexion entgegenwirken. Denn eine der negativen Konsequenzen der Verbreitung von künstlerischer Forschung ist, dass sie eine Abnahme von künstlerischer Produktion verursacht. Wir haben zuvor von dem Risiko gesprochen, das mit der Fixierung auf das Produkt zusammenhängt, aber es gibt umgekehrt auch die Gefahr, dass steigende Reflexion künstlerischer Praxis der Produktion schadet. Auf der einen Seite gibt es hohe Ansprüche in Bezug auf die Reflexion der eigenen Arbeit, auf der anderen Seite ist eine selbstbezügliche Arbeit oft gesellschaftlich weniger relevant. Die künstlerische Arbeit in Richtung auf andere Disziplinen und vor allem andere Realitäten zu öffnen, kann vor diesem Hintergrund produktive Imaginationen aktivieren. Eine interessante Vorgehensweise in MA-Programmen wie Das Arts in Amsterdam besteht darin, den Student_innen die Möglichkeit zu geben, in Kollaboration mit dem Leitungsteam des Programms Coaches zu wählen, die das Projekt betreuen; wenn das Projekt es benötigt, können sie zum Beispiel eine Anthropologin wählen anstelle eines Performancekunstexperten.
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Ein weiteres Hindernis ist die Methodenobsession, die von interessanteren Nachforschungen ablenken kann. Hier gilt es, eher von Verfahren als von Methoden sprechen und, anstatt die Methode zu diskutieren, einen Katalog von Verfahren zu erarbeiten. Künstlerische Verfahren können nicht systematisiert werden, da Systematisierung gegen die Operativität der Verfahren wirkt. Was Feyerabend gegen den Dogmatismus von Wissenschaft und über den Gebrauch von »Methode« als Machtinstrument geschrieben hat, könnte nun noch mal geschrieben werden als Protest gegen neue Dogmatismen, die im Feld der Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und auch in den Künsten sichtbar werden. Nachdem Feyerabend auf die Kunst und speziell auf den Dadaismus zurückgriff, um die Anti-Systematik von wissenschaftlichen Methoden aufzuzeigen, wäre es paradox nun in einer Systematik, die bereits so nachhaltig in Frage gestellt wurde, nach einem Modell für unsere Praxis zu suchen (vgl. Feyerabend 1978, 114). Was aus einer methodischen Reflexion folgen würde, wäre nicht eine Theorie, sondern ein Katalog, ein praxisnahes Handbuch, das aufbauend auf vorherigen Erfahrungen Forschung ermöglicht. Dies würde, angewandt auf künstlerische Praxis, zur Erschaffung einer zuvor nicht existenten Geschichte von Verfahren führen, anstatt zu einer Methode. Ist dies nicht, was wir mit unserem Projekt Artistic migrations zu tun versuchten?18 Wir luden Künstler_innen ein, nicht über ihre Arbeiten zu sprechen, sondern über ihre Prozesse. Der Fokus lag auf den Details, dem unbearbeiteten Material, dem Entscheiden und sogar auf privaten Aspekten. Darauf, wie sie mit all dem umgehen, was für Spiele sie mit sich selbst spielen, welche Wege sie weiterführen und wie sie verloren gehen. Das zwang die Künstler_innen, die Verfahren, die sie intuitiv nutzen, zu reflektieren, zu systematisieren und darüber nachzudenken, auf welche Weise sie ihren Prozess mit anderen teilen. Es ist kein technisches Training, es geht nicht darum, eine spezifische Methode zu lehren, es steht im Mittelpunkt zu 8
Artistic migrations war ein Forschungsprojekt, das von ARTEA zwischen 2009 und 2011 ausgerichtet wurde (http://www.arte-a.org/en/node/166 vom 29.07. 2012). Wir luden Künstler_innen und Akademiker_innen ein, in Gesprächen oder Seminaren und experimentellen Laboratorien zusammenzuarbeiten. Weitere
Informationen:
vom 29.07.2012.
http://artesescenicas.uclm.es/index.php?sec=conte&id=91
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»lernen, affiziert zu sein« (»learning to be affected«, Latour 2004, 206), das tägliche Leben auf eine Weise zu erfahren, die die Aufmerksamkeit intensiviert, die Routine problematisiert und Fragen aufscheinen lässt. Sich auf Verfahren zu beziehen ist nützlicher als auf Methoden zu verweisen, da letztere eher mit Verbindlichkeit assoziiert sind, mit einer rigiden Praxis, die in unserem Forschungskontext kaum Wirksamkeit entfalten. Wenn wir von Wissen als Praxis sprechen, korrespondiert ein Katalog der Verfahren aber auch nicht vollkommen mit unserem Verständnis von Forschung; stattdessen könnten wir von Tools sprechen. Ein Katalog von Verfahren, aus dem die Künstlerin oder der Künstler eines auswählen kann, spiegelt nicht die Wirklichkeit des Künstlers oder der Künstlerin, der oder die sich auf der Suche nach Lösungen in ein problematisches Terrain versenkt. Diese Lösungen sind nicht in Form eines Katalogs von Möglichkeiten präsent, sondern als Aufhänger19, die in einem spezifischen Augenblick greifbar werden. Die Produktion von Tools ist für künstlerische Forschung von Interesse, da sie direkten Zugang zur Arbeitsweise anderer Künstler_innen ermöglicht. Mit einem Tool strebt man keine Diskussion über Praxis an, noch eine Erklärung, die den Nutzen, Zweck oder die Arbeitsweise der Tools genau beschreibt. Das Tool abstrahiert nicht die Verfahren der Künstler_innen, sondern es stellt ausreichend Distanz her, um Systematisierung, d.h. eine Übersetzung für andere zu ermöglichen. Es tritt als Anleitung für einen einfachen Gebrauch auf, der eine gemeinsame Erfahrung provoziert. Diese Form ermöglicht es, Subjektivitäten zu teilen, sich in die Künstler_innen hineinzuversetzen und eine Sensibilität nicht für das Endprodukt, sondern für die Entwicklungsphase aufzubauen. Ein gutes Beispiel im gegenwärtigen Feld der Performancekunst wäre das Workshop-Kit von Everybody’s toolbox: Es besteht aus einem Katalog von Praktiken, die von verschiedenen Künstler_innen im Verlauf ihrer jeweiligen Forschungsprojekte geschaffen wurden. Das Workshop-Kit wird anderen Künstler_innen, Workshop-Leiter_innen, Gruppen von Leuten, die miteinander arbeiten und Einzelpersonen zur Verfügung gestellt, die es in eigenen Prozessen, Seminaren und Arbeitstreffen anwenden können.20 9
Im Original »Hooks«. [Anm. d. Übers.]
10 www.everybodystoolbox.net vom 29.07.2012.
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Interessant an Tools ist das mobilisierende Potential, das ihnen innewohnt. Und zwar nicht so sehr im Sinne von Verfahren die zu einem bestimmten Erfolg führen, einem vorhersehbaren Ergebnis, das auf den bekannten Prämissen der Arbeit basiert, sondern im Sinne eines funktionsunfähigen Werkzeugs, eines problematischen Instruments. Die Funktionsunfähigkeit entsteht aus der notwendigen Differenz zwischen dem Kontext des Forschungsprozesses, in dem eine spezifische Arbeitsprozedur entwickelt wird, und der neuen Umgebung, in der man dieses Verfahren in die Praxis umsetzt. Die unmessbare Eigenheit jedes Forschungsprojektes bringt mit sich, dass die erfolgreiche Anwendung eines Arbeitsverfahrens, die Übertragbarkeit eines Tools nicht garantiert werden kann. Das ist kein Nachteil, sondern bildet die ideale Voraussetzung, Formeln zu vermeiden (Formeln widersprechen einer Forschung, die als Bestimmung von Problemen verstanden wird) und Reibung zu schaffen, die sogar ein stagnierendes Forschungsprojekt wiederbeleben kann. Mich interessiert der Begriff ›Tool‹ als ein dem Verfahren oder der Methode entgegengesetzter; er wird unmittelbar verstanden und kann leicht mit alltäglichen Kontexten assoziiert werden. Ein Forschungstool kann gleich einem Schraubenzieher genau so angewendet werden, wie die Anleitung es vorgibt, aber es kann auch für vollkommen andere Zwecke genutzt werden. Hierin liegt ein grundlegender Unterschied zur Methode. Wir haben keine Angst, ein Werkzeug falsch zu gebrauchen oder es für andere Zwecke zu verwenden, denn diese Möglichkeit ist tatsächlich Bestandteil seines Wesens: Ein Tool hat jeden Nutzen, den Du ihm geben willst, ob sein anfängliches Design dazu gedacht war oder nicht.
E INE B EGEGNUNGSSTÄTTE Wir sprachen von den Hindernissen, die die Entwicklung einer künstlerischen Forschungspraxis hemmen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch zu überlegen, was für Räume das Zusammentreffen von Forscher_innen und Künstler_innen fördern. Was könnte Forschung für Künstler_innen attraktiv machen und was Kunst für Forscher_innen? Kann dies auf eine rein interdisziplinäre Begegnung reduziert werden? Oder sollte dieser Raum auch von ethischen und sozialen Überlegungen definiert werden?
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Hier erreichen wir einen wichtigen Punkt, denn hier verknüpfen sich die Fragen des Marktes, von denen wir anfangs sprachen, mit politischen Fragen. Wenn wir an historische Referenzen wie Bauhaus in Deutschland oder die Residencia de Estudiantes21 in Spanien denken, steht immer ein politischer Ansatz hinter ihnen. Dieser politische Ansatz brachte jeweils ein anderes Modell künstlerischer Praxis hervor. Im Bauhaus sollten die Verfahren übertragbar werden, um es der Gesellschaft (Leuten, die in den Feldern Design, Architektur usw. arbeiteten) zu ermöglichen, von den Erfahrungen der Künstler_innen zu profitieren. Bauhaus war ein politisches Projekt, das darauf abzielte, künstlerische Praxis zu demokratisieren. Betrachtet man die Residencia de Estudiantes, erscheint sie ebenfalls als ein pädagogisch-demokratisches Projekt, das beeinflusst war von der Institución Libre de Enseñanza und darauf abzielte, einen Kontext zu schaffen, der das intellektuelle Wachstum von Künstler_innen und Autor_innen durch einen interdisziplinären und intergenerationalen Austausch fördern sollte. Buñuel, García Lorca und Dalí profitierten unter anderen von diesem Kontext; die Beteiligung an Forschung und das Teilen von Erfahrungen waren entscheidende Voraussetzungen für ihre Karrieren. Die Residencia verwirklichte viele der Ideen, von denen in diesem Text die Rede ist. Zunächst war sie ein Ort für junge Forscher_innen und Künstler_innen aus allen Bereichen am Beginn ihrer Karrieren. Das Ziel war es, einen interdisziplinären Raum für Kommunikation zu schaffen. Es gab eine geeignete Infrastruktur für Forschung (Laboratorien, Bibliotheken, Studios), aber keine Lehrer_innen. Stattdessen gab es Tutor_innen, die die Arbeit der Resident_innen anleiteten, gemeinsam mit bekannten Gästen aus verschiedenen Bereichen. Forschung wurde außerdem nicht im Widerspruch zum Leben gedacht, sondern eher als eine Intensivierung, die kompatibel mit Sport, Entertainment und anderen Freizeitaktivitäten ist, welche direkt auf die Prozesse selbst einwirkten. Offenbar ist so ein Ort nur zu denken und zu rechtfertigen, wenn er auf einem starken politischen Standpunkt gründet. Auch wenn man die in diesen Projekten erhaltenen Hierarchien in Frage stellen kann, die mit der »Demokratie der Erfahrungen«, von der wir zuvor sprachen, nicht vereinbar sind, gibt es keinen Zweifel an der Wirksamkeit dieser Art von Projekten zu ihrer Zeit. Nun geht es darum, darüber nachzudenken, wie wir sie – wieder auf einer politischen Basis – aktualisieren können. 11 www.residencia.csic.es vom 27.07.2012.
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Der Reiz, an einem Projekt künstlerischer Forschung teilzuhaben, liegt in der Transformation. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen wir gemeinsam sein können, Orte, an denen man eingeladen ist, seine Zeit, Vorstellungskraft und Intelligenz beizusteuern, um Forschungsprozesse mit anderen zu teilen. Künstlerische Forschung hat sich in den letzten Jahren zu einem Bereich entwickelt, der vom Druck akademischer Prozesse gesteuert wird; sie wurde nicht ausreichend aus der Perspektive der Beteiligten und ihrer tatsächlichen Bedürfnisse gestaltet. Ohnehin wäre es ein Fehler, ein paralleles Kunst-Forschungs-Netzwerk zu erschaffen, durch das die Forschungsergebnisse der entsprechenden Programme (Performance-Veranstaltungen, Bücher von Künstler_innen, Online-Arbeiten, geteilte Prozesse etc.) verbreitet werden. Diese »Produkte« wären günstiger als die professioneller künstlerischer Netzwerke, da sie nicht als Produkte entworfen wurden, am Ende aber als solche zirkulieren, nur zu niedrigeren Preisen. Wichtig ist vielmehr, dass die Ergebnisse künstlerischer Forschung von Leuten aus anderen Feldern und Disziplinen erfasst und kommuniziert werden, so dass die Erfahrungen von einem Ort zum anderen zirkulieren können. Auf diese Weise kann eine Philosophin in einem Theater erscheinen und ein Choreograph in einer akademischen Institution, um Belange zu diskutieren, die nicht notwendigerweise ihrer Praxis zugeordnet sind. Das reicht über die Gestaltung eines Ausbildungsortes hinaus; es beinhaltet Produktion. Um dies zu erreichen, müssen Orte künstlerischer Forschung Menschen mit verschiedenen Profilen anziehen. Dies setzt die Unterstützung von Institutionen und Leuten voraus, die eine entsprechende Zirkulation in Gang setzen, so dass Kollaborationen mit kulturellen und sozialen Räumen unterschiedlicher Art entstehen und Arbeitsräume an ganz verschiedenen Orten eröffnet werden könnten. Wir sollten uns vielleicht an eine Praxis erinnern, die jüngeren Datums ist als die Residencia de Estudiantes. Ich beziehe mich auf Arteleku, ein baskisches kreatives Zentrum. Ursprünglich als ein Workshop für bildende Künstler_innen erdacht, wurde es mit der Zeit zu einem ständigen Arbeitsraum für Praxis, Ausstellungen, Forschung und Kritik, wo neben der bildenden Kunst alle Arten kultureller Produktion willkommen waren, auch Performancekunst. Dies ist der einzigartige Fall eines Forschungs- und Ausbildungsortes, der institutionelle Unterstützung bekam, aber dennoch unabhängig arbeitete. Arteleku hat ein Projekt namens Mugatxoan beherbergt, das Workshops, Forschungslaboratorien, Künstlerresidenzen und
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Ausstellungen von Prozessen und Arbeiten umfasste. Wie die historischen Beispiele, die wir diskutiert haben, war auch Arteleku das Resultat einer Kulturpolitik, die vor Ort die Entwicklung eines politischen Diskurses ermöglichte. Santi Eraso, bis 2006 der Leiter von Arteleku, bemerkte, dass jedes kulturelle Projekt definiert ist […] von den Menschen, die dahinter stehen, nicht nur in Bezug auf die Kunst selbst, sondern auch in Bezug auf die grundlegende Verantwortung, eine demokratische Kultur zu kreieren. […] In einer Welt, in der der Zugang zu kultureller Diversität mehr und mehr von großen globalen Unternehmen kontrolliert wird, ist die Frage nach der institutioneller Macht und nach einer Wahlfreiheit wichtiger denn je. […] Es ist wichtig, plurale Formen von sozialem und politischem Engagement zu entwickeln, die den Erhalt und die Förderung einer reichen kulturellen Vielfalt ermöglichen und kulturell inspirierende Orte unterstützen […] (Eraso 2003, 141 [eig. Übers.]).
Es ist also notwendig, Infrastrukturen zu entwickeln, die Räume und Ressourcen bieten. Ausgedehnte Zeiträume für Experimente und Forschungen sind nötig, damit die Teilnehmer_innen sich wohlfühlen und eine Gemeinschaft entwickeln, mit der sie sich über ihre Arbeit austauschen können. Nur unter diesen Umständen wird man die Zeit aufwenden um miteinander zu sprechen; ein Austausch, der dann zum Bedürfnis wird. Es geht um eine spezifische Weise des (Mit-)Teilens, die persönliche Involviertheit impliziert und in die sich Affekt und Intuition einschalten. Die Art Raum, nach der wir suchen, ist nicht so sehr angewiesen auf technische Mittel, sondern hängt von menschlichen Beziehungen ab. Es tut mir leid, dies abzukürzen, denn nun wird es interessant, aber wir müssen zum Schluss kommen. Wie beschließen wir? Ich denke, wir können mit dem Affekt und dem Miteinander schließen. Ich würde eine politischere Schlussfolgerung ziehen. Ich denke es ist unlogisch, zum Schluss zu kommen.
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Spivak, Gayatri Chakravorty (2009): ¿Pueden hablar los subalternos? (Can The Subaltern Speak?). Barcelona. Valéry, Paul (1957): »Instants«, in: ders.: Œuvres, vol. I. Paris.
Wer erforscht wen? Kulturwissenschaften im Dialog mit Kunst G ESA Z IEMER UND I NGA R EIMERS IM G ESPRÄCH
Gesa Ziemer: In dieser Publikation wird künstlerische Forschung vor allem in der Triage zwischen Wissenschaft, Kunst und Alltagsexpertise zur Diskussion gestellt. Die Beobachtung ist, dass vor allem die Schnittstelle zu den Expert_innen des Alltags im Diskurs über künstlerische Forschung zu wenig bedacht wird. Es ist schon anspruchsvoll, Kunst mit (Kultur- oder Geistes-)Wissenschaft auf Augenhöhe zu bringen und gewinnbringend in Forschungsprojekten zu verknüpfen. Noch anspruchsvoller wird es, wenn dieses auch noch mit Nicht-Künstler_innen und Nicht-Wissenschaftler_innen geschehen soll, denn das wären ja Alltagsexpert_innen, die eben über ganz spezifisches Wissen, das oft eher eine Praxis ist, verfügen. Hier stellen sich viele Fragen, von denen ich zwei für eine Diskussion vorschlage. Erstens: Lässt sich annähernd ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen den drei Bereichen in einem Forschungssetting herstellen? Falls ja, wie? Zweitens: Was ist »anders« an dem Wissen, das generiert wird, und wozu brauchen wir dieses Wissen eigentlich? Abstrakte Fragen, also beginnen wir konkret. Wir beide haben solche Projekte durchgeführt: Du als Kulturanthropologin mit deiner Arbeit zu (Selbst-)Inszenierungen und künstlerischen Praktiken im »hybrid Gesamt-
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kunstwerk ubermorgen.com«1, indem du dich kulturwissenschaftlich einem künstlerischen Phänomen genähert hast, ich unter anderem im Forschungsprojekt Verletzbare Orte (Ziemer 2008), in dem ich mit Vertreter_innen aus Kulturwissenschaft, Kunst (Film und Performance) und Menschen mit Körperbehinderungen zusammengearbeitet habe. In deinem Fach, der Volkskunde/Kulturanthropologie, wird seit langer Zeit mit Alltagsexpertisen gearbeitet, sie sind programmatischer Teil eurer Forschungen. Klingt der Wunsch nach Einbezug von Alltagsexpertise in künstlerische Forschung für dich nach altem Wein in neuen Schläuchen? Inga Reimers: Der Alltagsbegriff ist für die Kulturanthropologie (und die verwandten Fächer wie Volkskunde oder Europäische Ethnologie) von zentraler Bedeutung. Er wird hier weniger im Sinne von wiederkehrenden Routinen sondern in seiner lebensweltlichen Definition verwandt.2 Bei der Untersuchung von Alltagsphänomenen arbeitet die Kulturanthropologie vor allem mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung. Erkenntnis wird hier durch die Partizipation der Forschenden am Feld gewonnen. Das Nachempfinden der Situationen und der Dialog mit den Akteur_innen sind grundlegende Instrumente, um das für die eigene Fragestellung relevante Wissen zu generieren. Wobei ich finde, dass in diesem Zusammenhang die Verwendung des Alltagsbegriffs schnell eine Dichotomie zwischen Wissenschaft und »dem Anderen« herstellt, weshalb ich eher von Expert_innen oder Akteur_innen sprechen würde. Natürlich wurde und wird auch in der Kulturanthropologie die schwierige Situation zwischen Nähe und Distanz sowie die Rolle der Forschenden und der Beforschten diskutiert. Die Exotisierung des Feldes und seiner Akteur_innen ist ein Stichwort dieser Problematisierung. Mit der dialogischen Anthropologie wurde ein Versuch unternommen, den Forschungssubjekten eine Stimme zu geben und sie in die Produktion wissenschaftlichen Arbeitens mit einzubeziehen (vgl. Schmidt-Lauber 2007, 239f). Das passierte unter anderem im Zuge der Öffnung der Forschungsmethoden in der Kulturanthropologie zum Beispiel hin zu visuellen Verfahren. 1
Die Magisterarbeit ist auf der Homepage des Duos ubermorgen.com zugänglich: http://www.ubermorgen.com/2010/pdfs/Selbstinszenierung-Praxis-Kunst_I.Rei mers.pdf vom 11.08.2011.
2
Zum Alltagsbegriff in der Volkskunde: Lipp 1993.
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Inwiefern bezieht sich das Konzept »Alltagsexpert_innen« im Bereich der künstlerischen Forschung deiner Meinung nach auf volkskundliche/kulturanthropologische Ansätze beziehungsweise versucht diese anzuwenden und weiterzuentwickeln? Wie ist es mit dem Nähe/Distanz-Problem? GZ: Ich halte den Methodenschatz der Volkskunde/Kulturanthropologie auch für die künstlerische Forschung für absolut zentral, sowohl bezüglich der Transparenz des Vorgehens als auch im Hinblick auf zum Beispiel visuelle oder tonale Verfahren, die ja in deinem Fach auch praktiziert werden. Dennoch gibt es Unterschiede im Hinblick auf unsere Fragestellung: In der künstlerischen Forschung, die ich hier betone und die vor allem an der Schnittstelle zu den performing arts geschieht, produzieren Vertreter_innen aus Kunst, Alltag und Wissenschaft häufig etwas gemeinsam. Sie zeigen eine Performance, agieren im Stadtraum, erstellen Bilder, veranstalten ein performatives Theorieformat etc. Ich gehe nicht ins Feld und spreche mit den Akteur_innen, um mein empirisches Material zu gewinnen, sondern produziere mit den Expert_innen ein Forschungsformat, was nicht primär ein akademischer Text ist. Diese Formatfrage scheint mir heute ganz zentral. Es wird noch stärker als in der Kulturanthropologie mit gestalterischen Mitteln experimentiert, die jedoch nicht nur der Darstellung von Resultaten dienen, sondern als Bestandteil der Forschung verstanden werden. Das heißt nicht, dass diese Aktionen aus einem gleichberechtigten Verhältnis entstehen. Im Gegenteil: Gerade Künstler_innen, die mit Alltagsexpert_innen arbeiten, haben oft das Problem, dass sie dem Projekt ihre unverkennbare Handschrift auferlegen möchten, was dem Prinzip gleichberechtigter Teilnahme aller widersprechen kann. Die Resultate der Kulturanthropologie sind oft leise, zurückhaltend und eher fragend oder beschreibend, die der künstlerischen Forschung etwas lauter und thesenartiger, oft auch provokativer. In der künstlerischen Forschung arbeiten wir oft mit »lebenden Quellen«, die auch am Akt der Darstellung beteiligt sind und sich deshalb auch an den Forscher_innen rächen können. Meine These lautet, dass gelungene »Forschung aller« – wie der Titel dieser Publikation lautet – dann entsteht, wenn die ehemals Beforschten die Forschenden beforschen und somit alle zu Forschenden werden. Wenn die Titelfrage: Wer erforscht wen? also damit beantwortet wird, dass die Forschenden radikal rückbeforscht werden. Dann wird es interessant, und man wird sehr schnell auf all seine Vorurteile, sprachlichen Unzulänglichkeiten, unzureichenden Methoden, langweiligen Fragestellungen, sozialen Inkompetenzen etc. zu-
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rückgeworfen. Die Distanz, welche Professionalität, Unsicherheit, aber auch Arroganz der Forschenden sein kann, wird in Frage gestellt, und das empfinde ich als einen wichtigen Initialmoment von Forschung mit Alltagsexpert_innen.3 Solche Umkehrung geschieht aus meiner Sicht besonders stark, wenn man gemeinsam in Aktion tritt und alle die Möglichkeit haben, auch öffentlich Fragen zu stellen. IR: Diese wechselseitige Beforschung kenne ich gut. Sie findet natürlich während der Feldforschungssituation auch statt, allerdings gibt es immer den Punkt, an dem die Forscher_innen ihr Feld wieder verlassen und danach vorwiegend allein Erkenntnisse konstruieren. In meinem Magisterprojekt handelte es sich um eine Ethnographie, in deren Mittelpunkt das Künstlerduo ubermorgen.com mit seinen künstlerischen Strategien stand.4 Inwiefern die Bezeichnung Alltagsexperte/Alltagsexpertin auf die Künstlerin/den Künstler innerhalb des Projekts passt, würde ich in diesem Zusammenhang zur Disposition stellen. Ich hatte es viel mehr mit Forschungsprofis zu tun, die mich und meine Forschung wieder in ihre eigene Arbeit aufgenommen haben, weshalb du hier vielleicht auch eher von Komplizenschaft sprechen würdest.5 Die wissenschaftliche oder auch journalistische Bearbeitung und Interpretation ihres Schaffens war und ist ganz klar Teil der Praxis von ubermorgen.com. Ich war froh mit der volkskundlich-ethnographischen Herangehensweise einen sehr reflexiven Ansatz gewählt zu haben, da mich die Konfrontation mit einem so affirmativen, übergreifenden Konzept, das keine privaten Details ausspart, einige Male ins Wanken gebracht hat. Rückblickend hatte in dieser Zusammenarbeit jede Seite eine erkennbare Motivation und »Verwendung« für die Forschung – ich meine Magisterarbeit und ubermorgen.com die Weiterentwicklung ihres Gesamtkunstwerk-Mythos. Das ist sicherlich auch eine Frage, die man deiner Arbeit Verletzbare Orte stellen könnte: Welches sind die 3
Vgl. den Beitrag von Elise v. Bernstorff.
4
Das Duo ubermorgen.com arbeitet in einem breiten Feld zwischen Kunst, Marketing, Kommunikationsguerilla und net.art. Es besteht aus Hans Bernhard und lizvlx, die auch privat mit ihren zwei Kindern zusammenleben und diese Privatheit stets in ihre Arbeit integrieren. Der Künstlername stellt gleichzeitig die Adresse des Webauftritts dar: http://www.ubermorgen.com/ vom 11.08.2012.
5
Vgl. Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität (erscheint 2013 bei transcript).
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Motivationen von Körperbehinderten (oder auch genereller von Alltagsexpert_innen), sich an Forschungen zu beteiligen und welche Motivationen hattest du mit (und nicht über, vgl. Borgdorf 2009, 28ff) diesen Personen zu forschen? GZ: Im Fall dieses Projektes wollte ich die Relevanz der Verletzbarkeit des Körpers ins Zentrum rücken. Verletzbarkeit als eine ästhetische und auch ethische Kategorie, die nicht eliminiert werden muss, sondern auch als wertvoll, weil grundlegend für unser Leben, taxiert werden könnte – möglichst ohne Romantisierung. Menschen mit einer Körperbehinderung zeigen die Verletzbarkeit des Körpers sehr offensichtlich, und es war klar, dass ich nicht über sie, sondern mit ihnen forschen musste. Das ging bei dem Thema gar nicht anders, da meine Partner_innen über ein spezifisches Alltagswissen verfügten, das ich mir nicht durch Lektüre aneignen konnte. Projektpartner war unter anderem das Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Zürich, Kulturwissenschaftler_innen, eine Filmemacherin und einige Performance-Künstler_innen mit und ohne Körperbehinderung – also alle drei Parteien, von denen hier die Rede ist. Im Laufe der zweijährigen Arbeitszeit hat so eine Umkehr stattgefunden, die ich vor allem Rika Esser, Peter Wehrli, Ju Gosling und Raimund Hoghe zu verdanken hatte. Sie haben mich zum Beispiel ständig auf meine sprachlichen Unzulänglichkeiten (du schreibst zum Beispiel »Körperbehinderte«, es wird eher von Menschen mit einer Körperbehinderung gesprochen) hingewiesen. Ein anderes Beispiel vergegenwärtigt die Umkehr aber noch deutlicher: Rika Esser erreicht als erwachsene Frau eine Größe von knapp unter einem Meter, ich bin 1.82 m. An unserer ersten gemeinsamen Podiumsdiskussion wusste ich nicht, wie ich fast einen Meter Größendifferenz einigermaßen elegant und bühnentauglich für eine gleichberechtigte Gesprächssituation überwinden sollte. Rika und das Publikum haben ganz genau beobachtet, ob ich sie auf den für sie viel zu hohen Sessel hebe, der für die Gesprächssituation bereitgestellt wurde, ob oder wie ich sie vorher frage und auf welche Art ich sie hochheben würde. Oder ob ich vielleicht vorschlage, mich gemeinsam mit ihr auf den Boden zu setzen, damit wir uns auf Augenhöhe begegnen können. Das sind die entscheidenden feinstofflichen Momente, in denen sich eine ›Forschung aller‹ annähernd als solche zeigt oder nicht. Das Beispiel verdeutlicht, was ich mit den gemeinsamen Aktionen meine, die Teil der Forschung sind. Ich wurde vor Ort im Moment des Geschehens vor Publikum zum Forschungsobjekt, und ich konnte mir plötzlich sehr gut vergegenwär-
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tigen wie es ist, öffentlich beforscht zu werden, was Menschen mit Behinderungen durch unsere Blicke übrigens ständig werden. Es gibt für Menschen mit einer sichtbaren Körperbehinderung kaum eine Alltagssituation, in der sie nicht durch (meistens erstaunte, exotisierende oder heroisierende) Blicke beforscht werden. Sie bräuchten eigentlich dringend Forschungspausen. Für mich war das relativ brutal, aber es hat etwas bewirkt. Ich möchte diese Haltung, »Forschungssubjekten eine Stimme zu geben«, wie du schreibst, deshalb auch in Frage stellen. Die Formulierung klingt verdächtig, denn diese Stimmen werden meist durch die Prinzipien der Forschungstraditionen (Habitus, akademische Schreibweise, Methoden) zugunsten universitärer Gepflogenheiten zurechtgestutzt. Der heterogene Alltag wird bei der Verwandlung in die akademische Sprache homogenisiert. Das war in meinem Projekt auch nicht anders, allerdings hatten die performativen und oft ungeplanten Momente es in sich, weshalb ich sie als wichtigsten Teil der ganzen Forschung verstehen würde. Ich begann übrigens auch nicht mit der Idee, dass ich Benachteiligte stärken wollte (Stichwort: Empowerment). Es macht viel mehr Sinn, mit einer neugierigen Forschungshaltung ins Feld zu gehen und erstmal Potentiale zu suchen. D AS P ERFORMATIVE DER F ORSCHUNG IR: Hier sehe ich auch einen grundlegenden Unterschied zwischen der volkskundlichen Forschung und der künstlerischen Forschung. Du schreibst, dass hier »lebende Quellen« am Akt der Darstellung beteiligt sind. Die künstlerische Forschung ist hier scheinbar weniger ergebnisorientiert als zum Beispiel volkskundlich-kulturanthropologische Forschungen. Zusätzlich dazu verschwimmen die Grenzen zwischen Wissensgenerierung und Darstellung, wenn sie nicht sogar zeitlich zusammenfallen. Der Forschungsprozess an sich wird dabei sichtbarer und auch, zumindest in Teilen, transparenter. Zudem bringt allein die kollektive Arbeit an einem Thema eine stärkere Multiperspektivität hervor. Dabei könnte ich mir aber zukünftig durchaus Projekte vorstellen, in denen stärker mit und weniger über Alltagsexpert_innen geforscht wird. Es fehlen vor allem Formate und Räume dafür. Die künstlerische Forschung hat es da zurzeit sicher etwas einfacher, da sie Disziplinengrenzen grundlegend infrage stellt.
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Bei der Konzeption der Ausstellung Gegenwart und Zukunft der Kommunikation im Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie in Hamburg6 haben wir versucht den partizipativen Aspekt von Beginn an mitzudenken. Es sollte also nicht nur Kommunikation ausgestellt, sondern auch innerhalb der Ausstellung praktiziert werden. Die Besucher_innen begegneten als Expert_innen ihrer eigenen von Kommunikationstechnik geprägten Lebenswelt dem von uns geschaffenen Setting und bilden somit einen festen Bestandteil der Ausstellung. Obwohl wir natürlich die Ausstellung weitestgehend im universitären Kontext erarbeitet haben, fand das Produkt selbst nur durch die Aktionen der Besucher_innen statt. Der zusätzliche Einbezug von künstlerischen Praxen in den Forschungsprozess bringt dann die Idee des Experiments ins Spiel. Experimente oder auch Labore werden ja gemeinhin mit naturwissenschaftlichen Verfahren des Messens und Überprüfens verbunden. Gepaart mit ergebnisoffenen, kulturwissenschaftlichen Fragestellungen finde ich diese Konzepte ziemlich spannend. Für mich geht es in partizipationsorientierten, transdisziplinären Forschungsprozessen also vor allem um das Schaffen von Settings für die beteiligten Akteur_innen. GZ: Ich möchte nochmals den performativen Aspekt betonen, denn darin sehe ich eine große Stärke der künstlerischen Forschung. Auch Forschung vollzieht sich, sie manifestiert sich nicht nur im Produkt, das Resultate vereint. Meistens rezipieren wir Forschung als Produkt (Buch, Bericht, wissenschaftliche Bilder, Statistiken etc.). Die Art und Weise ihrer Entstehung ist aber für Forschung wegweisend und wird meistens nicht dargestellt. Sie wird deshalb nicht dargestellt, weil sie die Illusion von gesichertem Wissen infrage stellen könnte. In naturwissenschaftlichen Publikationen zum Beispiel sehen wir praktisch immer Bilder von klinisch weißen Laboren. In Wirklichkeit ergeben sich diese Erkenntnisse allerdings oft nicht aus solchen sterilen Situationen, sondern aus improvisierten temporä 6
Die Ausstellung ist das Ergebnis eines Seminars zu der Frage, wie sich Gegenwart und Zukunft von Kommunikation ausstellen lassen. Sie wurde beim Wissenschaftssommer im Jahr 2007 in Essen und im Museum für Kommunikation Hamburg im Jahr 2008 präsentiert. Weitere Informationen und die Ausstellungsbroschüre sind auf der Seite des Forschungskollegs Kulturwissenschaftliche Technikforschung verfügbar: http://www.kultur.uni-hamburg.de/technik forschung/praesentationen/kommunikation/index.html vom 11.08.2012.
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ren Laboren, die vor Ort aufgebaut werden. Würden wir so etwas in relevanten Publikationen sehen, würde es den Eindruck von ungesichertem Wissen hinterlassen. Indem künstlerische Forschung solche Situationen zeigt, setzt sie genau dort an und thematisiert, wie Wissen produziert wird, so wie ihr auch gezeigt habt, wie Kommunikation heute funktioniert. Dadurch werden Rituale und Traditionen der Wissensproduktion instabilisiert. Performatives Forschen ist darstellerisches Forschen. Es untersucht verschiedene Darstellungen und forscht dabei selber darstellerisch, indem es die eigenen Forschungsprozesse in verschiedenen Formaten und Medien selber transparent macht. Der Anspruch einer Forschung aller zeigt sich aus meiner Sicht auch am stärksten in diesem Vollzug, denn die Szene mit Rika Esser sagt viel über gelebte Gleichberechtigung aus. Das Schaffen von Settings sollte vor allem auch dazu dienen, dass die Forschungsprodukte in der Rezeption ein Eigenleben zu führen beginnen oder dass die Aktionen autonom fortgesetzt werden können. Bei uns gab es beispielsweise – neben einigen Aktionen – einen Film, eine Konferenz mit Bericht und ein Buch. Alle drei Parteien sollten solche Produkte auch völlig unabhängig voneinander eigenständig zeigen oder nutzen können. Das Problem ist aber oft, dass diese in der Rezeption zwischen Stuhl und Bank fallen, weil sie nicht eindeutig verortet werden können. Ein konkretes Beispiel war unser Film: Für die Wissenschaft war er zu wenig streng wissenschaftlich, da er zum Beispiel nicht klar einem Genre wie der visuellen Anthropologie oder dem Dokumentarfilm zugeordnet werden konnte.7 Für die Kunst war er zu theoretisch, so dass dieser im Fernsehen und an Dokumentarfilmfestivals immer kontextualisiert mit einem Gespräch oder innerhalb eines Themenschwerpunktes gezeigt werden musste, wofür es nicht viele Formate gibt. Und für die Alltagsexpert_innen war dieser zu wenig eindeutig, also zu reflexiv, weshalb er für ihre politischen Anliegen wiederum nicht so schlagkräftig einsetzbar war. Somit erfand ich für dieses neue Genre den Namen Begriffsfilm. Man muss also aushalten, dass von jeder Seite Kritik kommt oder, dass solche Projekte nur in kleinen hochspezialisierten Szenen rezipiert werden. Dazu kommt die Unkontrollierbarkeit der Rezeption. Ich habe den Film zum Beispiel auf einem großen Ärztekongress gezeigt, was die beste Rezeptionserfahrung für mich war. Mit Hausärzt_innen über Fragen von 7
Gesa Ziemer (mit Gitta Gsell): AugenblickeN, 50 Minuten.
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Wahrnehmungen und Blickkonditionierungen zu sprechen, war für mich neu, weil diese das Thema auf den Empfang von Patient_innen beim Arztbesuch, Therapiesituationen oder Diagnosestellungen übertragen haben – eine völlig neue Perspektive für mich wie für sie. So etwas finde ich extrem produktiv, weil andere Alltagsexpert_innen darauf direkt reagieren.
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IR: Du sprichst vom Eigenleben und von der Autonomie der Forschungsprodukte in künstlerisch-wissenschaftlichen Projekten. Obwohl auch volkskundlich-kulturanthropologische Forschung meist als Prozess begriffen und thematisiert wird, braucht es hier irgendwann ein Produkt, das das Forschungsergebnis festhält. Diese Unsicherheit, den Gegenstand und das Wissen nicht festhalten zu können und damit nicht eindeutig werden zu lassen, finde ich interessant. Hier gilt es eine Balance zu finden zwischen einem wissenschaftlichen Anspruch auf Ergebnissicherung, die es sicher auch für politische Zwecke braucht, und dem Freiraum, den künstlerische Forschung benötigt. Da stellt sich dann auch die Frage nach der Zielgruppe dieser Wissensproduktion. Das geht auch in die Richtung deiner eingangs gestellten zweiten Frage nach der »Andersartigkeit« des produzierten Wissens. Als Notiz zu dieser Frage vielleicht der Hinweis darauf, dass es auch in der Volkskunde/Kulturanthropologie Projekte gibt, die sich mit der Produktion von wissenschaftlichem wie auch populärem Wissen beschäftigt haben.8 In den hier besprochenen Projekten gibt es eine Vermischung ästhetischer und epistemischer Praxis, die zu einer transdisziplinären Wissensproduktion führt. Das heißt, dass die Wissensproduktionen weniger in einzelnen Disziplinen, sondern vielmehr in Projektkontexten verortet wird (vgl. Busch 2009). Spätestens Fragen zur Förderung und Finanzierung machen jedoch häufig wieder Zuordnungen zu künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereichen notwendig. Die Bedingungen für Finanzierungen dürfen nicht be 8
Das aktuellste und größte Projekt zur volkskundlichen Wissensproduktion ist der DFG-geförderte Forschungsverbund zum Thema Volkskundliches Wissen und gesellschaftlicher Wissenstransfer: zur Produktion kultureller Wissensformate im 20. Jahrhundert. http://www.volkskundliches-wissen.de vom 12.08. 2012.
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deuten, dass künstlerisches, implizites Wissen in wissenschaftliche Standards überführt und dabei verengt wird. Zur (künstlerischen) Forschung gehören zudem nach Henk Borgdorff auch die Feststellung der Relevanz des zu Erforschenden und die Veröffentlichung der Ergebnisse sowie gemeinhin auch das Interesse anderer an der eigenen Forschung (vgl. Borgdorff 2009). Wie du beschreibst, müssen wir uns unsere Rezipient_innen zunehmend selber suchen, insbesondere außerhalb unserer Ursprungsdisziplinen. Das geschieht bei gemeinsamen Forschungen mit Nicht-Wissenschaftler_innen natürlich noch einmal in einer besonderen Art und Weise. Dann stellt sich beispielsweise in feldforschungsorientierten Projekten im Übergang von der Erhebungs- zur Dokumentationsphase die Frage nach der angemessenen Darstellung und Übersetzung des Erlebten. Hier stoßen textorientierte Darstellungen häufig an ihre Grenzen. Ganz ohne den Text kommen die meisten – vor allem wissenschaftliche – Publikationen, auch wegen institutioneller Vorgaben, nicht aus. Doch auch über die Wissenschaften hinaus bedeutet die Verwendung visueller oder performativer Darstellungsformen des generierten Wissens auch eine Einschränkung der Les- und Verstehbarkeit. Welche anderen Darstellungsformate ergeben sich hier aus der Produktion anderen Wissens? Und welcher Anspruch besteht hier auf der Seite der Rezipient_innen? GZ: Also zur zweiten Frage: Anders ist auf jeden Fall, dass die Resultate oft Ambivalenz anstatt Eindeutigkeit erzeugen. Du schreibst von der Vermischung ästhetischer und epistemischer Vorgehensweisen. Genauso könnte man sagen, dass ästhetische Theorie historisch epistemologische Ziele hat. Alexander Baumgarten, der als einer der Begründer der Ästhetik gilt, hat 1758 von der »untersten Erkenntnislehre« (vgl. Baumgarten 1988) gesprochen. Damit hat er gemeint, dass wir sinnliche Erkenntnisse produzieren, die im Rahmen von Erkenntnistheorie grundlegend sind, die aber in der klassischen, rational orientierten Philosophie oft außer Acht gelassen werden. Diese Position ist bis heute gerade in unserer ästhetisierten Alltagswelt sehr aktuell. Ich teile nicht die weitverbreitete Auffassung, dass künstlerische Forschung nicht resultatorientiert sei. Ich würde eher fragen, was ein Resultat ist. Ein Resultat kann auch sein, selbstbewusst zu zeigen, dass unser vermeintlich sicheres Wissen fragil ist. Das scheint mir viel interessanter als eine unterkomplexe Darstellung eines winzigen Teilresultates, das wir oft
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als große Forschungsleistung bunt bebildert präsentiert bekommen. Somit dient künstlerische Forschung eher zur Sensibilisierung eines Problemfeldes, es zeigt die Konstruktion von Wissen, stimuliert damit mein Erstaunen und meine Neugierde und fordert auf zum Weiterforschen. Dieser Effekt ist ein gänzlich anderer, als wenn Wissenschaft einem großen Publikum meist vereinfachte Ergebnisse präsentiert, um für sich Werbung zu machen und die Studierendenzahlen und Forschungsgelder für den eigenen Bereich zu sichern. So ein Forschungsverständnis hat natürlich weitreichende Konsequenzen für unser Wissenschaftsverständnis und deshalb wird künstlerische Forschung von mächtigen Fördergremien bislang eher verhindert als gefördert. An vorderster Front kämpfen die Methodenwächter_innen, die Angst um den Verlust ihrer Kriterien haben. Du sprichst zu diesem Thema die Grenzen textorientierter Darstellungen an. Ich bin für Methodenvielfalt vor allem in Richtung plurimedialer Analyseverfahren (Bild, Ton, Performance); die Nachvollziehbarkeit des Vorgehens muss natürlich erhalten bleiben, sonst ist es Kunst. Ein Beispiel: Wenn wir mit Expert_innen des Alltags arbeiten, können wir nicht stehen bleiben bei den klassischen Methoden des Interviews (zum Beispiel standardisiert, halbstandardisiert etc.). In den Interviews, die ich mit den Performer_innen mit Behinderung geführt habe, wurden mir unvorstellbare Übergriffe aus dem Alltag geschildert, die in keine von mir vorbereitete methodisch korrekte Interviewform hineingepasst hätten. Zu ihrer Realität wären mir im Vorfeld gar keine Fragen eingefallen, weil die Übergriffe meine Phantasie überschritten. Ich habe mir also ihre Erzählungen gut angehört und diese zu Antworten gemacht, zu denen ich erst im Nachhinein die Frage formulieren konnte. Das FrageAntwort-Spiel, Grundlage des klassischen Interviews, habe ich also umgedreht und daraus vielmehr ein Antwort-Frage-Spiel gemacht. Daraus ergäbe sich doch eine interessante Methodendiskussion, die im Rahmen von künstlerischer Forschung geführt werden könnte. Es geht doch viel eher um das Schaffen einer vertrauensvollen und anregenden Redeatmosphäre, also auch um ästhetische Fragen, die grundlegend sind, als um die richtige Fragereihenfolge und Vergleichbarkeit. So ein Verfahren produziert natürlich andere Texte, und es hat in meinem Fall auch gefordert, Bilder darüber zu zeigen. Deine anfängliche Definition von Alltag als »Lebenswelt« ließ sich in diesem Fall durch Bilder wesentlich aufschlussreicher analysieren als durch Begriffe. Von der Philosophie her kommend könnte man auch von
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Erfahrungswissen sprechen, das sich in nicht textlichen Medien sehr gut analysieren lässt, weil diese die sinnliche Ebene ansprechen, die bei den alltäglichen Übergriffen auf Menschen mit Behinderung eben eine sehr große Rolle spielten. Rika Essers Größe animiert vor allem auf sinnlicher Ebene dazu, sie im Kleinkindschema wahrzunehmen und deshalb übergriffig zu werden. Das ist ein Beispiel für Baumgartens »untere Erkenntnislehre«.
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IR: Insbesondere die Diskussion um die Methoden in der künstlerischen Forschung sowie in Forschungen mit Alltagsexpert_innen interessiert mich sehr. Die Auswahl der Methoden erfolgt häufig weniger aufgrund der Angemessenheit für das jeweilige Forschungsvorhaben, sondern ist vielmehr von institutionellen Vorgaben, eigenen Erfahrungen beziehungsweise der eigenen Versiertheit mit einzelnen Methoden bestimmt. Zumal sich die Angemessenheit von Methoden im Forschungsverlauf ja durchaus ändern kann. Du beschreibst, dass du in deiner Forschung durch die Spezifika der Akteur_innen an die Grenzen von Methoden gestoßen bist. Diese Momente sollten, meiner Meinung nach, noch viel mehr betont werden, da hier bestehende gesellschaftliche Konflikte und Unzulänglichkeiten erst deutlich werden. In vielen Forschungen werden diese Situationen und Grenzen eher mit dem eigenen Scheitern in Verbindung gebracht und deshalb gar nicht öffentlich gemacht. Zudem fungieren die Mitforschenden in diesen Situationen auch als Vertreter_innen ihrer eigenen Thematik, die gleichzeitig auch Thema der Forschung ist. In dieser Subjektivierung und Vertreterschaft könnte eine Form des Umgangs mit dem Ambivalenten, dem NichtWissen, vielleicht auch dem Zufälligen liegen. Eine andere Möglichkeit wäre tatsächlich, wie du auch schon schreibst, dass die Ziele von Forschungen hinterfragt werden und dann beispielsweise nicht mehr anwendbare Thesen und Empfehlungen, sondern die Schärfung des Bewusstseins für eine Thematik im Mittelpunkt steht. Ich würde da auch noch einen Schritt weitergehen und fordern, dass es nicht darum gehen darf, diese unbequemen, un(be)greifbaren Dinge durch Erklärungen und Verstehen weichzuspülen, sondern sie auszuhalten. Die Kulturanthropologie will hier, wie die meisten anderen Geistes- und Kulturwissenschaften, beschreiben, verstehen und dieses Verständnis ver-
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mitteln. Bei künstlerischer Bearbeitung geht es weniger um das Verstehen sondern vielmehr um das Eröffnen von Möglichkeitsräumen (vgl. Binder 2008). Hier gilt es, das Dazwischen zu stärken. Ich würde dafür plädieren, auch gerade in der Arbeit mit Alltagsexpert_innen nicht das unbedingte gegenseitige Verstehen in den Mittelpunkt zu stellen. Das bedeutet im zweiten Schritt, dass Deutungsmacht einerseits von der Wissenschaft auf diejenigen übertragen wird, mit denen sie forschen. Andererseits wird Forschung dadurch prozessualer und bezieht die Rezipient_innen dieser Art von Forschung stärker mit ein. Eine offene Frage wäre nun, inwiefern diese Ideen zur Forschung auch bereits angewendet und erprobt wurden und werden. Lässt sich hierfür bereits eine Art Handwerkszeug beschreiben, und wäre das überhaupt sinnvoll? GZ: Das Übertragen der Deutungsmacht scheint mir ein ganz wichtiger Aspekt. Es handelt sich nicht nur um eine andere Wissensgenese durch andere Medien, sondern auch um einen anderen Gebrauch des Wissens, wenn dieses sich als Film, Bild oder ähnliches artikuliert. Die Alltagsexpert_innen haben ganz andere Möglichkeiten, mit solchen Medien weiterzuarbeiten, und es setzt eine Demokratisierung ein, zu der die hermetische akademische Fremdsprache nicht gerade einlädt. Wenn ich so etwas wie Best Practice für die Forschung aller bestimmen sollte, dann vielleicht anhand der drei folgenden Aspekte: Erstens sollte sich ein Zustand wechselseitiger Beforschung einstellen, zweitens plädiere ich für ein performatives Forschen, in dem die Akte der Darstellung nicht aus-, sondern eingeschlossen würden. Drittens hielte ich eine Methodenerweiterung, wie ich sie am Beispiel anderer Interviewführung gezeigt habe, für richtig, darin eingeschlossen ist natürlich die Erweiterung in andere Medien, nicht nur als Darstellungsform, sondern als eigenständiges Forschungsverfahren. Was noch fehlt, ist die Beantwortung der Frage, wozu wir den Einbezug der Alltagsexpert_innen heute brauchen. IR: Der Einbezug von Alltagsexpert_innen führt erstens zu anderen Forschungsmodi und einem anderen wortwörtlichen Selbst-Verständnis von Forscher_innen, welches weniger von Hierarchien und mehr von einem offenen Interesse geprägt ist. So können, wie wir festgestellt haben, bestehende Methodensets neu kombiniert und weiterentwickelt werden. Ich würde mir wünschen, dass dies auch außerhalb der Disziplinen, die hier angesprochen wurden, als gewinnbringend angesehen wird. Zweitens, und dies ist kein Plädoyer für unbedingte Anwendbarkeit, können Forschungen
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mit Alltagsexpert_innen viel eher bislang verborgene Themen und Probleme verhandeln. In vielen gängigen Forschungen sind diejenigen, die forschen nicht die, um deren Problematik es geht. Durch die Zusammenarbeit im gesamten Forschungsprozess können die Expert_innen nun jedoch permanent einhaken. Aus volkskundlich-kulturanthropologischer Sicht entsteht hier eine interessante Situation bewziehungsweise Kombination von Nähe und Distanz. Abgesehen davon, dass es auch für den Forschungsprozess hilfreich ist, mit den jeweiligen Expert_innen zu arbeiten, sehe ich auch einen Vorteil für die Darstellung, die Verbreitung und durchaus auch die Anwendung von Forschungsergebnissen. In jedem Fall dreht sich Wissenschaft mit Alltagsexperten viel mehr um gesellschaftlich gegebene Themen und Situationen und weniger um sich selbst. GZ: Auch ich würde mir wünschen, dass sich unser Forschungsverständnis öffnet und wir Forschung nicht nur den Spezialist_innen aus der Wissenschaft überlassen. Damit meine ich nicht nur, Menschen aus dem Alltag stärker zu befragen, sondern sie aktiv zu Mitforschenden zu machen. Ich gehe davon aus, dass wir aufgrund einer zunehmend diversifizierten Gesellschaft unbedingt so ein Forschungsverständnis brauchen, denn es gibt nur noch sehr wenig kanonisches Wissen. Mich interessieren deshalb Settings – egal, ob sie aus der Kunst oder Wissenschaft heraus konzipiert werden – in denen Alltagsexpert_innen genauso zu Forscher_innen werden.9 Die Frage der Formate, in denen so etwas geschehen kann, ist ganz zentral und eine große Herausforderung heute. Die Wissenschaften können von den Performance Studies diesbezüglich viel lernen. Wir sollten an Universitäten ein Format für Formatentwicklung erfinden, damit viel mehr dynamische Forschungsprozesse angestoßen werden.
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Das Theater-Kollektiv Rimini Protokoll hat aus der Kunst heraus viele solche Settings entworfen. Siehe Malzacher/Dreysse 2009).
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L ITERATUR Baumgarten, Alexander Gottlieb (1988): Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der ›Aesthetica‹ (1750/58). Hg. von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg. Binder, Beate (2008): »Arbeiten (an) der Imagination. Einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Ethnographie«, in: Binder, Beate (Hg.): Kunst und Ethnographie. Zum Verhältnis von visueller Kultur und ethnographischem Arbeiten. Münster/Hamburg/Berlin/London, S. 10-18. Borgdorff, Henk (2009): »Die Debatte über Forschung in der Kunst«, in: Rey, Anton/Schöbi, Stefan (Hgg.): Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven. 1. Aufl. Zürich, S. 23-49. Busch, Kathrin (2009): »Wissenskünste. Künstlerische Forschung und ästhetisches Denken«, in: Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. 1. Aufl. Zürich, S. 141-158. Lipp, Carola (1993): »Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte. Aufstieg und Niedergang eines interdisziplinären Forschungskonzepts«, in: Zeitschrift für Volkskunde. Jg. 89. Hjb. 1. Malzacher, Florian/Dreysse, Miriam (2009): Rimini Protokoll: Experten des Alltags. Berlin. Schmidt Lauber, Brigitta (2007): »Feldforschung, Kulturanalyse durch teilnehmende Beobachtung«, in: Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hgg.): Methoden der Volkskunde; Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin. Ziemer, Gesa (2008): Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik. Berlin. Ziemer, Gesa (im Druck): Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität. Bielefeld.
»On research« Forschung in Kunst und Wissenschaft – Herausforderungen an Diskurse und Systeme des Wissens G ABRIELE B RANDSTETTER
Das Stichwort »artistic research« ist in mittlerweile breit und kontrovers geführten Debatten immer noch ein Reizbegriff.1 Neben den inhaltlichen Fragen – »was ist künstlerische Forschung« – stehen dabei auch grundsätzliche Aspekte von Forschung auf dem Prüfstand:2 Konzepte und historische Traditionen von Forschung und die damit verbundene wissenschaftliche, künstlerische und gesellschaftspolitische Bedeutung von Wissensgewin 1
Der hier publizierte Text ist die Einleitung zu einer Tagung, die im Haus der Kulturen der Welt in Berlin am 04. und 05.05.2012, unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), stattfand. Ziel dieser Tagung war es, aktuelle Fragen zu Pro und Contra von Forschung in Kunst und Wissenschaft zu diskutieren und damit insbesondere konkrete Folgerungen für Forschung und Forschungsförderung zu ermöglichen. Wissenschaftler_innen und Künstler_innen, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, waren eingeladen mit dem Ziel, ein Konzept und Thesen für zukünftige Schritte zu erarbeiten. Dieses Thesenpapier ist veröffentlicht unter: http://www.hkw.de/media/texte/pdf/2012 _1/programm_5/thesenpapier_kuenstlerische_forschung.pdf vom 05.08.2012. Vgl. das Vorwort des vorliegenden Bandes S. 8f.
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Vgl. den Überblick über die aktuelle Diskussion in: Texte zur Kunst 2011.
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nung werden damit verhandelt. Dabei geht es vor allem auch darum, Kriterien und Bewertungsverfahren in Kunst und Wissenschaft zu reflektieren und damit die Voraussetzungen zu klären, dass und in welcher Weise künstlerische Forschung als Grundlagenforschung gelten kann. Eine umfassende und systematische Erörterung von artistic research ist für die deutsche Wissenschaftslandschaft (und insbesondere für die Förderpolitik) immer noch ein Desiderat. In einer Phase des Umschlags und einer Kategorienkrise in der Wissenschafts- und Bildungspolitik – zwischen Exzellenzwettbewerb, BA/MA-Reformen und PISA – gilt es, die Herausforderungen von künstlerischer Forschung für die Modelle und institutionellen Profile von Wissenschaft und Kunst zu bedenken.3 Die jüngere Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass die wissenschaftliche Forschungspraxis Gemeinsamkeiten mit künstlerischem Experimentieren aufweist. Bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse wären ohne einen performativen Überschuss der experimentellen Praxis nicht zustande gekommen, dies haben wissenschaftshistorische und theoretische Untersuchungen, etwa von Gaston Bachelard (Bachelard 1984 und 1978), Isabelle Stengers (Stengers 1998) und Hans-Jörg Rheinberger (Rheinberger 2007 und 2005) deutlich gemacht. Damit zeigt sich das Verständnis von Forschung und Wissen im Aufbruch: in Bewegung! Forschung ist konfrontiert mit unterschiedlichen Modi des Performativen, die selbst zur Forschung gehören. »ProzessEpistemologie« hat Hans-Jörg Rheinberger – im Rückgriff auch Bachelard – dies genannt: jenes Wissen, das sich im Prozess, in den Verfahren, Wiederholungen und Verwerfungen von Forschung erst herstellt (Rheinberger 2005, 112). Solchen »Prozessen«, Transformationen – auch von Diskursen und Systemen des Wissens – in der Forschung gilt deshalb verstärkte Aufmerksamkeit. Wie lassen sich die aktuellen Debatten zu Forschung in Kunst und Wissenschaft, die im Moment in Bewegung sind, in die Institutionen der Forschungsförderung weitertragen? Wie viel Flexibilisierung ist nötig und sinnvoll? Wie könnte das Potential eines anderen, offeneren Forschungsbegriffs produktiv werden? Welche Fragen und Probleme der Legitimation werden dabei aufgeworfen – welche Vorschläge zur Lösung können wir finden? Und wie lässt sich dieser Aushandlungsprozess im Sagen und Zei 3
Zur Rolle von artistic research im Kontext von Bildungsprogrammen der Hochschulen und Künstler_innen-Ausbildung siehe: Hoogenboom 2010.
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gen, in den Debatten und in den Performances so gestalten, dass die Herausforderungen sichtbar werden, die sich daraus für Wissenschaft, Kunst und Forschungsförderung – speziell in Deutschland – ergeben? In europäischen Nachbarländern gibt es bereits mehr Erfahrung mit diesen Fragen, zum Beispiel für den Umgang mit dem Paradox: wie lassen sich – trotz und mit der notwendigen Debatte über Kriterien, über Bewertungsverfahren/Evaluationen etc. – dennoch die notwendigen Freiräume des Forschens schaffen und erhalten? Dabei geht es nicht nur darum, einmal mehr das gesellschaftliche und wissenstheoretische Potential von Forschung in Kunst und Wissenschaft – insbesondere als transdisziplinärer Prozess – zu betonen. Es geht vor allem auch um zukunftweisende Visionen: Denn wissenspolitische/wissenschaftspolitische Entscheidungen betreffen den Status und die Möglichkeiten kreativer Forschung. Wie also kann die Debatte zu Forschung, »artistic reseach«, »practice based research« hier neue Akzente für ein Forschungsverständnis setzen, das den Status quo überschreitet? Denn es geht hier nicht mehr darum, der Kunst eine Grenzüberschreitung in Richtung Wissenschaft zu ermöglichen, um am realen oder imaginierten Status der Wissenschaften und ihrem Einfluss auf die gesellschaftliche Realität teilzuhaben. Vielmehr begreift sich die Kunst – in den unterschiedlichen Ausprägungen ihrer »Arbeit« – als gleichberechtigte aber differente und nach eigenen Kriterien produzierende Domaine der Wissenserzeugung (vgl. Bippus 2009, Knowles/Cole 2008, Mersch/Ott 2007). Dabei kann und soll es nicht darum gehen, Forschung in der Kunst zu akademisieren, oder an die Standards von Wissenschafts-Evaluation anzupassen. Im Gegenteil: Forschung kann, als künstlerische, dazu beitragen, verfestigte Konventionen und Hierarchien in den unterschiedlichen wissenschaftlichen (beziehungsweise Wissens-)Systemen, in denen Forschung angesiedelt ist, zu befragen, aufzubrechen, zu transformieren. Vielleicht ist das (noch) eine Utopie! Für ein Nachdenken »on research« – als ein on-going-process of rethinking – möchte ich einige Aspekte aus dem weiten Feld der Fragen herausgreifen: jene, die im Licht der artistic research-Debatte Veränderungen erfahren.
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W ISSEN Von welchem Wissen sprechen wir, wenn wir Forschung in »Kunst und Wissenschaft« betrachten? Worin besteht das Wissen der Kunst, und eigentlich müsste man hier im Plural denken: die Weisen/Potentiale des Wissens in den Künsten? Kann man artistic research als ein neues, als ein alternatives Modell in Wissenschaft und Bildung verstehen? So wird es oft diskutiert. Oder geht es darum gerade nicht? Sondern eher darum, die jeweilige Singularität und Prozessualität eines Wissens, das im Forschungsprozess generiert wird, als Treibsatz von kreativer Forschung zu betrachten. Wissenschaftshistoriographische Untersuchungen, die anhand detaillierter Recherchen die Praxis von wissenschaftlicher Wissensgewinnung überprüft haben (vgl. Kuhn 1976 sowie Stengers 1998, insbesondere 16–40), gaben den Anstoß zu einem veränderten Verständnis von Wissen im 21. Jahrhundert. Mehr und mehr ist die Bedeutung kultureller Techniken für die Wissensgewinnung erkannt worden; Wissensgewinnung als ein Prozess, in dem Ressourcen, Verfahren und Ergebnisse auf komplexe Weise vernetzt sind. Dieser Wandel im Verständnis von Wissen und seiner historischen und sozialen Bedeutung bildet den Kontext für eine aktuelle Neubestimmung des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft. Erst vor diesem Hintergrund war und ist es möglich, artistic research, Forschung in Kunst und Wissenschaft als eine erprobende, ergebnisoffene Grundlagenwissenschaft herauszubilden. Mischformen des Wissens: In welcher Weise sind Übergänge, Kombinationen von unterschiedlichen Formen der Wissensproduktion ein Faktor von Forschung – und wie zeigen sich Überschneidungsfelder, aber auch Differenzen in Kunst und Forschung? In welcher Weise hat beispielsweise eine Arbeit wie Carsten Höllers Soma (2010/11 im Hamburger Bahnhof) in der Kombinatorik von unterschiedlichen Wissenskulturen und Rechercheprozessen einen Verweis auf alternative Möglichkeiten des Forschens geöffnet: Laboruntersuchungen, mythische Narration und ein praktisches Wissen, das schamanistisch-rituelle und medizinische Aspekte enthält – ein Hybrid diverser Wissensformen. In welcher Weise also gilt es, eine Vielfalt von Kulturen und Systemen des Wissens präsent zu halten, ihre Migrationen und Verschiebungen, Dominanz und Marginalisierung – um den Fragen von Wissensmacht und Machtwissen zu begegnen?
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F ORSCHUNG Hier sind auch die offenen Probleme im Fragefeld zu Forschung in den Künsten und in den Wissenschaften angesiedelt. Gerade im Blick auf die Debatten zu artistic research zeigen sich vielfältige Ansatzpunkte: welche Forschung, welche Praxis und welche Technologien? Welche Differenzierungen zwischen »research«, »exploration«, »Recherche«, »Experiment« etc. wären sinnvoll? Schließlich stellen sich immer wieder neue Fragen der Relevanz, und damit verbunden Fragen nach der Legitimation und der Funktion von Expert_innen. Was hat sich verändert in den letzten Jahren? Welche Rolle spielt das Internet (wie es beispielsweise Xavier Le Roy für seine Butoh-Recherche in Product of Other Circumstances (2010) in der Performance einsetzt)? Oder: Welche Formen und Bedeutungen erhalten Expertisen, eine Frage, die zum Beispiel von der Gruppe Rimini Protokoll durch ihre Arbeit mit Experten des Alltags in ihren Performances aufgeworfen wird. Es ist ein Thema, das künstlerisch, wissens- und medientheoretisch und politisch gleichermaßen brisant ist. In solchen Laborsituationen, die im künstlerischen wie im wissenschaftlichen Forschungsprozess eine wesentliche Rolle spielen (vgl. Brandstetter/Bormann 1999), steht die Frage nach der Herstellung der »wissenschaftlichen Wirklichkeit«, die nicht unmittelbar gegeben, sondern erst durch die Wahl des Experimentalsystems produziert wird, im Vordergrund. Somit bilden in einem solchermaßen konstituierten Forschungsszenario der Prozess, die Verfahren und Abhängigkeiten zwischen Beobachtungsformen und der Konstitution der Gegenstände einen maßgeblichen Faktor der Produktion des Wissens: die »experimentelle Anordnung ist das Kernstück wissenschaftlicher Aktivität.« (Rheinberger 2005, 55) Dabei kommt es nicht so sehr auf die Reproduktion, die exakte Wiederholung eines Experimentalprogramms an. Vielmehr entstehen gerade in unvorhergesehenen Varianten, innerhalb eines Spiels von Differenzen die Möglichkeiten einer Wissensgeneration: ein Mögliches, »das sich letztlich der Kontrolle entzieht.« (Ebd., 59) So gesehen ist Forschung ein produktives Setting, nicht (nur) weil sie Antworten auf die gestellten Fragen gibt, sondern vielmehr weil sie – nachträglich – Antworten auf noch unbekannte Fragen hervorzubringen vermag. Erst die zeitlich verzögerte Interpretation wird Evidenz schaffen für das, was das Forschungsexperiment zutage gebracht hat: »Für
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den Künstler ebenso wie für den Wissenschaftler, insofern er ›im Tun‹ ist, gilt daher, dass er nicht wissen kann, was er tut.« (Ebd., 26)
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Was verändert Forschung in Kunst und Wissenschaft, wenn es dabei auch um ein anderes Verhältnis von Theorie und Praxis geht, an den Konventionen und Präsentationen von science? Welche Freiräume sind denkbar? Hans-Jörg Rheinberger hat in seinen wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen gezeigt, in welcher Weise Experimentalsysteme eine spezifische Produktivität entfalten: Forschung hängt von der Wahl jeweiliger Experimentalsysteme, von ihren Regeln, Strukturen, Verfahren ab: eine »Pragmatogonie des Wissens« (so der Begriff, den Rheinberger im Rekurs auf Michel Serres einführt: vgl. Rheinberger 2005, 64 und 18). Jedoch Neues, ein Erkenntnisgewinn stellt sich – so zeigen Rheinbergers Beispiele – da ein, wo explizites Wissen und jenes »stumme Wissen« (tacit knowledge, mit Michael Polanyi, vgl. Polanyi 1967), das unter oder neben den Rändern der Aufmerksamkeit im Prozess mitspielt, zusammenwirken. In diesem Prozess ist nicht nur Erfahrung wichtig, sondern »Erfahrenheit«: Diese ist im Forschen/im Forscher/in der Forscherin als Habitus verkörpert und gehört zu dessen/deren »gestischem Repertoire«.4 In solchen Versuchsanordnungen zeigt sich, nach Gaston Bachelard, gerade in der Verknüpfung von Wissenschaft und Technik (die in einer Ko-Evolution stehen) eine »Phänomenotechnik« (vgl. Bachelard 1972, 2–3), die ein dynamisches Verhältnis von Forscher_in und Experimentalsystem impliziert. Dieses Verhältnis ist ein bewegliches, das in einer riskanten, einer offenen und plastischen Epistemologie sich niederschlägt. So gesehen hat Forschung als Wissensgenerator eine poetische Seite. Bachelard schreibt hiermit der Wissenschaft eine Dimension zu, die schon Novalis in seinen Wissenschaftsreflexionen formuliert: »Die vollendete Form der Wissenschaft muss poëtisch seyn.« (Novalis 1965, 527) 4
»In jedem Fall aber gehört der unscharfe Rand subsidiärer Aufmerksamkeit zur Grundausstattung des gestischen Repertoires des Forschers und stellt gleichzeitig die Bedingung für fokale Objekte dar.« (Rheinberger 2005, 63)
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Wenn es dabei um je eine spezifische Poiesis und Kreativität des Forschens geht, die nicht systematisierbar oder durch Vor-Schriften herzustellen ist: welche Rolle spielen Faktoren, die in Debatten um harte Kriterien, Methoden eher marginalisiert sind? Worin etwa besteht die Bedeutung von Improvisation? Oder von Intuition5 im Szenario der Un-/Vorhersehbarkeit von Ergebnissen? Und die Rolle des Prozesses der Forschung?
Z UKUNFT Eine Debatte um artistic research rollt nicht nur Fragen nach dem gesellschaftlichen und wissenstheoretischen Potential von Kunst auf. Es geht vielmehr um neue und zukunftsweisende Visionen für das Verständnis von Wissen, Wissenschaft und Forschung. Verhandelt wird dabei nicht zuletzt der Status kreativer Prozesse in der Forschung und damit ein Verständnis dessen, was Forschung an Alternativen zum Status quo in unterschiedlichen Bereichen des Wissens beizutragen hat. Dazu gehört etwa die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Diskursen und Paradigmen, mit Institutionen und politischen Steuerungen. Wie kann Forschung in Kunst und Wissenschaft so unterstützt werden, dass jene überlegte und präzise Widerständigkeit gegen herrschende Konventionen, die innovative Forschung auszeichnet, gewahrt bleibt; so dass artistic research – als eine »institution equipped with the faculty of self-criticism that, in acts of methodological self-transcendence, can respond to the hegemonic economies and politics of knowledge within and outside the academy« (Holert 2011, 58)? Es scheint, dass wir uns – auch global gesehen – in einer kritischen, ja in einer Krisen-Situation befinden: im Blick auf Wissenschaft, Forschung und ihre Bedeutung: in einer Kategorienkrise, die Fragen der politischen, der ökonomischen und der disziplinären Verortung von Forschung aufwirft, – im Zeichen von Exzellenz-Initiativen und zugleich von Sparzwängen und einer (neuen) Marktorientierung von Forschung. Umso mehr gilt es, hier Fragen und Debatten anzuzetteln, bei denen es um Forschung in und zwischen Kunst und Wissenschaft als Grundlagen 5
Intuition hier im Sinne einer »erworbenen« Erfahrenheit (Rheinberger 2005, 62); vgl. auch Gaston Bachelard, der den Begriff der »gesteuerten Intuition« einführt (Bachelard 1978, 29f).
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forschung geht: jenseits von Sachzwängen, von Fixierungen auf relevante Anwendung, und jenseits von externen Zielvorgaben: Ein Verständnis von Forschung, in dem Unsicherheit und ein fortdauernder Prozess der Befragung von Ergebnissen ebenso ein Bestandteil des Prozesses wäre wie die Reflexion ihrer ästhetischen, wissenschaftlichen und sozialen Positionen.
L ITERATUR Bachelard, Gaston (1972): Le Problème philosophique des méthodes scientifiques. Paris, S. 2–3. (Erstausgabe: 1949, Paris). Bachelard, Gaston (1978): Die Philosophie des Nein. Versuch einer Philosophie des neuen wissenschaftlichen Geistes (La Philosophie du non: Essai d’une philosophie du nouvel esprit scientifique. Paris. 1940). Wiesbaden. Bachelard, Gaston (1984): Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. (La Formation de l’esprit scientifique Contribution à une psychanalyse de la connaissance objective. Paris 1938). Frankfurt/Main. Bippus, Elke (Hg.) (2009): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich. Brandstetter, Gabriele/Bormann, Hans-Friedrich (1999): »An der Schwelle. Performance als Forschungslabor«, in: Seitz, Hanne (Hg.): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Wissenschaft und Bildung. Essen, S. 45–55. Holert, Tom (2011): »Artistic research: Anatomy of an Ascent«, in: Texte zur Kunst: Artistic research. 20. Jg/H. 82, S. 38–63. Hoogenboom, Marijke (2010): »If artistic research is the answer, what is the question?«, in: Pérez Royo, Victoria/Sánchez, José Antonio (Hgg.): Cairon 13. Revista de estudios de danza. Práctica e investigación. Barcelona, S. 115–125. Knowles, J. G./Cole, A. L. (Hgg.) (2008): Handbook of the arts in qualitative research. Thousand Oaks. Kuhn, Thomas (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/Main. Mersch, Dieter/Ott, Michaela (Hgg.) (2007): Kunst und Wissenschaft. München.
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Novalis (1965): »Logologische Fragmente I«, in: Schriften. Band II: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mühl und Gerhard Schulz. Darmstadt. Polanyi, Michael (1967): The Tacit Dimension. New York. Rheinberger, Hans-Jörg (2005): Iterationen. Berlin. Rheinberger, Hans-Jörg (2007): Historische Epistemologie. Zur Einführung. Hamburg. Stengers, Isabelle (1998): Wem dient die Wissenschaft? (Science et pouvoirs. Brüssel 1997). München. Texte zur Kunst (2011): Artistic Research. 20. Jg/H. 82.
Let’s make money! Kollektive Geldforschung mit der Kinderbank Hamburg S IBYLLE P ETERS / FUNDUS THEATER Die Politiker streiten sich ja über den Euro. Wenn sie vielleicht mal vom Abenteuergeld erfahren würden, vielleicht finden sie dann eine Lösung. JOEY (9 JAHRE)
AUSGANGSPUNKT Als zu Beginn des neuen Jahrtausends die Internetblase platzte, entwickelte das Performancekollektiv geheimagentur die interaktive Lecture-Performance Asche zu Asche, eine »Show zu Theorie und Praxis des Geldverbrennens«. Untersucht wurde das Verhältnis zwischen Geldzerstörung in der Kunst und Kapitalvernichtung an der Börse. Die geheimagentur argumentierte, es sei aussichtsreicher, die Privilegien des Finanzsystems auch für alle anderen in Anspruch zu nehmen, als Banker auf Sparsamkeit und Umsicht verpflichten zu wollen: Wovor man sich hüten muss, sagte uns neulich ein Freund, ist die Vorstellung von einem normalen Kapitalismus, der sich für alle irgendwie rechnet. Die Krise ist nicht die Ausnahme, die Krise ist die Regel. Aber wenn man an den ›normalen Kapitalismus‹ glaubt, fragt man sich, wer an der Krise Schuld ist, und da beginnt dann die Hetze. Die Verschwendung wird dafür verantwortlich gemacht, dass der Kapitalismus nicht richtig funktioniert. Wo ist der Fluchtweg? Er beginnt, wenn wir erken-
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nen, dass es ein unteilbares Recht auf Verschwendung gibt. Verschwendung für alle: Money to burn!
Zu Beginn der Performance teilte die geheimagentur Zehn-Euro-Scheine gestempelt mit dem Wort ASCHE an alle Zuschauer_innen aus und lud sie ein, die Vernichtung von Geld gleich mal selbst auszuprobieren. Während bei der Investmentkrise von 2002 die Zerstörung von Kapital im Vordergrund stand, hat die jüngste Finanzkrise auf ein anderes Privileg des Bankwesens aufmerksam gemacht, das ebenfalls umverteilt werden könnte: Im Finanzsystem wird nicht nur Geld verbrannt, sondern vor allem auch Geld erfunden. So zeigten Stephan und Ralph Heidenreich mit ihrem Buch Mehr Geld (Heidenreich/Heidenreich 2009), dass und wie der größte Teil unseres Geldes heute nicht mehr von demokratisch legitimierten Instanzen, sondern – per Kredit – von kommerziellen Banken erschaffen wird. Der Handel mit Derivaten macht deutlich: Geld ist in hohem Maße veränderlich, es wird gestaltet und zwar mit massiven gesellschaftlichen Folgen. Aus dem Kampf um die Kontrolle der Produktionsmittel ist ein Kampf um die Produktionsmittel des Geldes geworden – Monetarismus und Marxismus waren einander noch nie so nah. Das Scheitern der Staaten, diesen Prozess zu regulieren, stellt Geld als neutrales Medium in Frage: Können nur die Akteur_innen das Geld gestalten, die bereits über große Mengen davon verfügen? Kann man im System des Geldes intervenieren, auch dann, wenn man keines hat?
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Das Forschungstheater und seine Klientel sind ideale Akteur_innen und Versuchspersonen, um diese Frage zu erörtern, denn Geld haben wir keines. Als Teil des Hamburger FUNDUS THEATER führt das Forschungstheater (vielfach unter Beteiligung der geheimagentur) performative Forschungsprojekte zwischen Kindheit, Kunst und Wissenschaft durch.1 Zu Fragen wie: Können wir Astronautinnen werden, ohne die Erde zu verlassen? Was haben die Piraten von heute mit denen aus den Geschichten zu tun? oder: Gibt es an ganz normalen Schulen eigentlich Geister? verwickelt 1
Vgl. http://www.forschungstheater.de vom 15.09.2012.
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das Forschungstheater Künstler_innen, Kinder und Wissenschaftler_innen in einen gemeinsamen Forschungsprozess. Inspiration dafür findet das Forschungstheaterteam in kulturwissenschaftlicher Theorie und gesellschaftspolitischem Engagement: Wie lassen sich kulturwissenschaftliche Analysen in die Tat umsetzen und auf ihre gesellschaftliche Wirksamkeit hin testen? So ist die Frage nach dem Astronautwerden beispielsweise mit Buckminster Fuller und der Hoffnung auf die Entwicklung einer planetarischen Perspektive im Unterschied zu einer globalen verbunden (vgl. Otto/Schabacher/Bergermann 2010). Oder die Suche nach Geistern – sie ist motiviert durch neuere medienwissenschaftliche Theorien zur emanzipatorischen Funktion historischer Geistererscheinungen (vgl. Braude 1989, Sconce 2000). An den aus solchen Ansätzen entstehenden Forschungsprozessen sind dann viele sehr unterschiedliche Akteur_innen mit eigenen Zugängen beteiligt – Schulkinder, Universitätsangehörige, Nachbarn, Technikerinnen, Performer etc. Um all diese unterschiedlichen Akteure miteinander zu verbinden, ist die Formulierung eines gemeinsamen Vorhabens entscheidend, denn auf diese Weise lässt sich die Forschung immer auch als Geschichte des Gelingens oder Scheiterns erzählen, genauer gesagt als eine Menge solcher Geschichten, die von den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten zeugen. Das Theater spielt in diesem performativen Forschungsprozess in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle. Zum einen bietet es den institutionellen Hintergrund, der unseren Vorhaben Rahmen und Infrastruktur gibt: Das Theater kann der Club der autonomen Astronautinnen oder der Sitz der Spukversicherung, Wunderannahmestelle und Bankfiliale sein. Angelehnt an szenische Verfahren können wir im Zuge des Forschungsprozesses neue Rollen ausprobieren und das Gelingen oder Scheitern des Vorhabens so auch am eigenen Leib erfahren: Gemeinsam mit einem Dutzend Schulklassen werden wir zu Erdastronauten oder ein wissenschaftliches Kolloquium verwandelt sich in die Beiratssitzung der Spukversicherung. Aus dieser Perspektive haben unsere Forschungsvorhaben häufig den Charakter einer anderen Realität auf Probe. Der Forschungsprozess stellt sich als Versuch dar, dieser Realität auf Probe möglichst viel Leben zu geben, ihre Möglichkeiten auszutesten und herauszufinden, wo sich diese temporäre Wirklichkeit an gegebenen Wirklichkeiten reibt. Szenische und performative Mittel werden eingesetzt, die uns helfen, in die neuen Rollen
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zu schlüpfen: Welche Ausstattung brauchen Erdastronautinnen oder Geistersucher? Wie adressieren sie einander? Welche Aktionsformen machen sie sich zu eigen? Welches Design verbindet sich mit der jeweils gegründeten Forschungsinstitution? Etc. Auch die Bühne selbst spielt dabei eine Rolle, denn sie ist das Forum, in dem die unterschiedlichen Akteur_innen ihre neuen Rollen gemeinsam erproben, einander begegnen und sich wechselseitig von ihren Erlebnissen und Erkenntnissen aus dem Forschungsprozess berichten können. Die Artikulation des jeweiligen Vorhabens – konzeptionell, aber auch auf der Ebene der Adressierung, der Vernetzung, der Aktionsform, des Designs, der Planung von Zeiten und Räumen – ist ein entscheidender erster Schritt aller unserer Forschungsprojekte. Hier gilt es Balance zu halten: Das Vorhaben sollte unwahrscheinlich, wünschenswert und zumindest potentiell machbar sein. Auf der Suche nach Fragestellungen, die uns diese schwierige Balance ermöglichen, fragen wir Schulkinder seit zehn Jahren in immer neuen Konstellationen nach ihren Wünschen. Man könnte vielleicht sagen, dass all unsere Forschungsprojekte immer auch Wunschproduktionen sind, so dass das nächste Projekt jeweils aus der Wunschproduktion des vorangegangenen hervorgehen kann: Welche Nachricht möchtest Du in die Zukunft schicken? Welches Wunder würdest Du gern einmal erleben? Was für einen Planeten möchtest Du entdecken? Wir suchen nach Wünschen, die das Theater – vielleicht überraschender Weise – erfüllen könnte, denn kein Forschungsvorhaben gelingt ohne die Wunschenergie der beteiligten Kinder. Dennoch sind die einzelnen Vorhaben niemals einfach Wunscherfüllungen. Dies liegt schon in der Logik des Wunsches selbst begründet, die das Begehrte immer weiter entzieht und das Wunschobjekt x verschiebt, bevor es erreicht werden kann. Auch aus dieser intrinsischen Differenz zwischen Wunsch und konkretem Vorhaben kann das Forschungspotential eines Vorhabens entstehen. Kinder wünschen sich vieles, doch unter tausenden von Wünschen gibt es einen, der alle anderen hinter sich lässt: Sie wünschen sich reich zu werden. Viele Jahre erschien uns dies als Ärgernis. Denn während uns szenische und performative Mittel durchaus zu erstaunlichen Dingen befähigen, zum Beispiel dazu, im Liegen zu fliegen oder Geister an der Stadtteilschule Hamburg Horn zu finden, schien uns der Wunsch nach Reichtum hoff-
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nungslos, ein dead end der Forschung. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass dieser Wunsch mit den Armutserfahrungen der Kinder korrelierte: Forschungstheaterteam: Was heißt das denn für Dich, reich zu sein? Kind: Dass wir immer die Stromrechnung bezahlen können.
Dennoch fühlte sich das Team des Forschungstheaters lange Zeit nicht zuständig. Wenn es ums Reichwerden geht, so schien es, ist man im freien Theater an der falschen Adresse. Das änderte sich mit der jüngsten Finanzkrise. Sie hatte für das Forschungstheaterteam bemerkenswerte Konsequenzen, denn sie machte der Werbeindustrie das Überleben schwer. Damit konnten die Photographen, die zuvor gleich nebenan Räume ebenso groß wie die des FUNDUS THEATERs als ihre Ateliers genutzt hatten, die Miete nicht mehr zahlen. Mithilfe öffentlicher Gelder gelang es dem Forschungstheater die Räume zu übernehmen – als ersten Laborraum, der ganz der Forschung zwischen Kindheit, Kunst und Wissenschaft dient. Und dort gründeten wir im Januar 2012 die Kinderbank Hamburg.2
K OLLEKTIVE G ELDFORSCHUNG Unter den Themen des Forschungstheaters nimmt Geld eine besondere Stellung ein, denn mit der jüngsten Finanzkrise stellt sich auch die Frage danach, was wer über Geld weiß, in neuer Weise. Banker und Finanzexpertinnen aller Art reagierten auf öffentliche Nachfragen stereotyp mit dem Hinweis auf die enorme Komplexität der Sachverhalte und erschwerten damit Bürger_innen, Medien, Parlamenten und Regierungen den Versuch, sich in das Geschehen einzuschalten.3 Das Wissen der Geldmacher_innen trat als eine Art Geheimwissen in Erscheinung, und dies ist offensichtlich 2
Das Forschungstheaterteam der Kinderbank Hamburg besteht aus Hannah Kowalski, Sibylle Peters und Hanno Krieg. Weitere Kooperationspartner und Förderer unter http://www.kinderbank-hamburg.de vom 15.09.2012.
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Vgl. dazu die Interviews und Analysen des oscarprämierten Dokumentarfilms Inside Job von Charles H. Ferguson 2010.
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Teil des Problems: Finanzexpert_innen akkumulieren Wissen über ein System, das immer weniger mit den anderen gesellschaftlichen Bereichen zu tun hat, in denen Geld als soziales Medium Verwendung findet. Anders formuliert: Gerade weil sie Expert_innen sind, scheinen sie über das Wissen, das sie bräuchten, um als Expert_innen für die Gesellschaft von Nutzen zu sein, nicht mehr zu verfügen. Die Finanzkrise zeigt eines ganz deutlich: Das Wissen der Finanzexpert_innen ermöglicht es ihnen nicht, vielleicht nicht mehr, stellvertretend für weniger wissende Teile des monetären Systems Entscheidungen zu treffen. Damit ist auch ein bestimmtes Konzept des Wissens und seiner gesellschaftlichen Verteilung und Funktion in der Krise. In einem kollektiven Forschungsprozess wie der Kinderbank Hamburg mit heterogenen Akteur_innen aus Kunst, Wissenschaft und (vor allem) Gesellschaft über Geld zu forschen, mag ein sehr kleines Unterfangen sein, gemessen an der Größe der Fragen, um die es hier geht. Dennoch ist es der Versuch, der Krise des Geldes mit einer neuen Form der Wissensproduktion in Sachen Geld zu begegnen, konkreter: den Geldnutzer_innen das Wissen der Geldmacher_innen aufzuschließen und beide Perspektiven in alltäglichen Szenarien zu verbinden. Neben dem oben erwähnten Buch der Heidenreichs war dafür die Forschung David Boyles ausschlaggebend: David Boyle, Autor des Buches Money Matters und Mitglied des britischen Thinktanks The New Economics Foundation analysiert die weltweit stattfindenden Versuche mit alternativen, lokalen und sozialen Währungen und ermutigt Bürger_innen dazu, sich auf eigene Faust in den Kampf zwischen Staat und Finanzwelt um die Produktionsmittel des Geldes einzuschalten (Boyle 2010). Er kann auf eine Vielzahl von Do-it-yourself-Währungen verweisen, auf Time-Banks, also Netzwerke, deren Mitglieder aus Arbeitszeit unmittelbar ihr eigenes Geld schöpfen, auf LETS- und Bartersysteme, also lokale Tauschsysteme mit eigenen Währungen. Alle zeigen: Geld ist machbar, die Frage ist nur, von wem.4 Zum Beispiel von den Kindern der Grundschule Richardstraße in Hamburg Eilbek. Sie waren von der Idee, Banker_innen zu werden und ihr eigenes Geld zu erfinden, sofort begeistert. Und so wurde ihnen die Gestaltung und Betitelung der neuen Währung übertragen. Sie nannten sie »Aben 4
Vgl. dazu auch den Dokumentarfilm Der Schein trügt von Claus Strigel, http://derscheintruegt.com/ vom 15.09.2012.
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teuergeld« und bestimmten, dass der kleinste (und einzige) Schein den Aufdruck »100 Abenteuer« tragen sollte. Jedes der beteiligten Kinder machte einen eigenen Geldentwurf, in dem sie ihre Vorstellung von Geld und Reichtum zum Ausdruck brachten. Alle Entwürfe sind heute auf Scheinen der Kinderbank Hamburg zu sehen. Zu gleicher Zeit traf das Team des Forschungstheaters die Heidenreichs und David Boyle bei einem Workshop im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, um mit ihrer Hilfe das Forschungsprogramm der Kinderbank zu schärfen: Was heißt es, im System des Geldes zu intervenieren, auch dann, wenn man keines hat? Welche konkreten künstlerischen und wissenschaftlichen Forschungsfragen lassen sich in diesem Zusammenhang bearbeiten? Schnell war klar: Eine alternative Bank aufzubauen, hat mit sozialer und kultureller Arbeit viel gemeinsam; es gilt Netzwerke von Einzelhändler_innen aufzubauen, die die neue Währung in Zahlung nehmen, Versammlungen einzuberufen, zu motivieren und zu präsentieren. Banker_in zu werden ist also gar nicht so schwer. Entscheidend ist daher die Frage: Wie wird man ein guter oder eine gute? Was können Kunst, Kindheit und Kulturwissenschaft an eigener Expertise ins Bankgeschäft einbringen? Wie stellt sich Geld aus künstlerischer, kulturwissenschaftlicher und kindlicher Perspektive dar, wenn man es als etwas betrachtet, das man machen kann? Forschungsfrage 1: Welche Funktion soll (unser) Geld erfüllen? Die Erstellung des Business Plans für die kulturwissenschaftlich informierte Bank beginnt mit dem Gang ins Archiv. Wer neues Geld erfinden will, tut gut daran zu recherchieren, wie Geld ursprünglich entstanden ist. Dazu findet sich mehr als eine Geschichte, doch am prominentesten firmiert die Tauschfabel, die auf Adam Smith zurückgeht (Smith 1776): Ihr zufolge haben Händler das Geld erfunden, um den Austausch von Gütern zu vereinfachen und komplexen Handel zu ermöglichen. Die Tauschfabel findet sich in Kinder- und Lehrbüchern überall auf der Welt, aber es gibt kaum archäologische Evidenz dafür. Dagegen findet David Graeber in seinem aktuellen Buch Debt – The First 5000 Years Belege dafür, dass es erst die Schulden gab und dann das Geld (Graeber 2011). Parallel dazu weiß der Soziologie Aldo Haesler in seinem Buch Das letzte Tabu von einem weiteren, durch jüngste archäologische Funde bestätigten Szenario zu berichten, in dem das
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Geld nicht von Händlern, sondern von Priestern erfunden wurde, nämlich im Zuge der Opfersubstitution! Statt den Göttern die Ochsen zu opfern, die zu diesem Zweck im Tempel abzugeben waren, prägten die Priester Münzen mit dem Bild der Ochsen und warfen sie ins Feuer (Haesler 2011). Alsbald begannen sie, sie für Güter und Dienstleistungen auszugeben: Wer Wein an den Tempel lieferte, bekam eine Münze, konnte seine Schuld bei den Göttern damit begleichen und seine Ochsen behalten. Von pecus (Ochse) zu pecunia – ein Vorläufer des Geldes war erfunden. Ganz im Gegensatz zur Tauschfabel zeigt dieses Szenario, wie nah Geldzerstörung und Geldschöpfung beieinander liegen. Asche zu Asche: Schon im Ursprung des Geldes findet sich die Spur der Gabe, des Kredits, der Flamme und des Opfers. Dies verweist auf eine deutlich andere Grundfunktion des Geldes, als die Tauschfabel, also die Händlerstory, sie nahelegt. Statt lediglich den Tausch zu vereinfachen, wurde Geld im Szenario der Priester erfunden, um die Logik der Verausgabung und des Geschenks mit der Logik von Tausch und Haushaltsführung, oikos, zu verbinden. Welche Rolle kann diese kulturwissenschaftliche Erkenntnis nun bei der Gründung einer alternativen Bank spielen? Auffällig viele alternative Banken scheinen sich an der Tauschfabel zu orientieren. Häufig handelt es sich um Tauschringe, die eine Währung nur einführen wollen, um Tauschvorgänge zu vereinfachen. Darin scheinen entschiedene Geldgegner_innen einerseits und waschechte Monetarist_innen andererseits sich zu treffen: Beide sehen das Geld als ein reines Medium, das lediglich die Komplexität von Tauschbeziehungen erhöht und immer besser funktioniert, je ›reiner‹, also schneller, tauschbarer, kompatibler, es wird. Ist dies möglicherweise eine Sollbruchstelle gängiger Geldkonzepte, dass sie die symbolischen und kulturellen Funktionen des Geldes, das materielle Wesen seiner Netzwerke und vor allem auch seine Bindung an eine Logik der Gabe und der Verausgabung unterbewerten, um dann von dieser Seite pekuniärer Dynamik überrascht zu werden? Was hieße es, sich im Unterschied dazu an der Geschichte vom Ochsen zu orientieren? Wie wären die Logiken von Verausgabung/Geschenk und Tausch in der Produktion einer neuen Währung in ein Verhältnis zu bringen? Für eine Kinderbank ist diese Frage von ganz konkretem Interesse, denn eine auf Kinder als Nutzer_innen ausgerichtete Währung ist mit einem System der Arbeit bzw. der wechselseitigen Leistung nicht kompatibel. Währungsmodelle wie die der Time Banks oder der berühmten Ithaca
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Hours kommen daher für eine Kinderbank nicht in Frage. Vielleicht ist dies ein produktiver Faktor, den die Perspektive der Kindheit in die Geldforschung einbringt: Kinder stehen der Gabe rein rechtlich näher als dem Tausch. Während wir zu Beginn des Projekts davon ausgegangen waren, dass die Anbieter_innen von Waren und Dienstleistungen für das in Zahlung genommene Geld der Kinderbank in Euros entschädigt werden müssten, legte die kulturhistorische Recherche nahe, Geld und Geschenk nicht von vornherein als entgegengesetzt zu denken und stattdessen genau darin, die Funktion unseres neuen Geldes zu sehen – den Zusammenhang zwischen Geld und Geschenk in neuer Weise deutlich zu machen. Statt uns mit der Kinderbank an die Euro-Ökonomie anzuschließen, musste es unser Ziel sein, mit der Kinderbank eine Art Geschenkwirtschaft zu initiieren. Mit diesem Ziel vor Augen wurde das konkrete Konzept der Kinderbank Hamburg im Rahmen eines Projektseminars gemeinsam mit Studierenden der HafenCity Universität Hamburg erarbeitet: Konzept der Kinderbank 1) Valuta und Ausgabe Die Kinder entwickeln Namen und Gestaltung des Geldes. Das Geld darf ausschließlich von Kindern (bis 14 Jahre) ausgegeben werden. Auf dem Geld ist eine Internet-Adresse vermerkt, auf der weitere Informationen gegeben werden. Das Geld ist zugleich Eintrittskarte in die Versammlungen der Kinderbank, die regelmäßig im Forschungstheater abgehalten werden. Alle beteiligten Kinder erhalten bei den Versammlungen jeweils die gleiche begrenzte Menge an Kindergeld, über die kollektiv entschieden wird. Grundsätzlich hat das Geld dabei den Charakter einer Ausschüttung an die kindlichen Anteilseigner_innen der Bank, deren Engagement für die Bank damit gewürdigt wird. Weiteres Geld wird zwischen den Versammlungen entsprechend 1. für das Verfassen von Erfahrungsberichten (schriftlich oder in anderer Form) 2. für die Anwerbung weiterer Anbieter_innen ausgegeben.
2) Anbieter_innen Die Kinderbank soll in einem ersten Schritt die Kinder der Grundschule Richardstraße und den Einzelhandel im Stadtteil Eilbek verbinden. Durch das Kindergeld und die Exkursionen der Kinder durch den Stadtteil entsteht ein neuer Zusammenhang und gegebenenfalls auch Zusammenhalt im Stadtteil. Dies hilft möglicherweise dem
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Einzelhandel in Eilbek, der insbesondere durch die Konkurrenz der Shoppingmall »Hamburger Meile« unter Druck steht. Das Kinderbank-Netzwerk kann ein neues Attraktivitätsmerkmal für die kleinteilige Einzelhandelsstruktur und damit für den Stadtteil Eilbek als Lebenswelt sein. Die Anbieter_innen (Händler_innen, Dienstleister_innen) werden zur Bankversammlung eingeladen und erhalten ein von den Kindern entwickeltes Logo, mit dem sie sichtbar machen können, dass sie Abenteuergeld in Zahlung nehmen. Das Netzwerk der Kinderbank wird durch ein Faltblatt bekannt gemacht. 3) Güter und Dienstleistungen Die Kinderbank setzt auf Überkapazitäten: Die Anbieter_innen bieten kleine Teile ihres Sortiments oder auch Dienstleistungen für Abenteuergeld an, auch solche, die üblicherweise nicht als geldwerte Leistungen betrachtet werden (Blick in die Backstube, im Schaufenster sitzen oder ähnliches). Preise werden nach eigenem Gutdünken festgesetzt. Das eingenommene Kindergeld kann anschließend an andere Kinder weitergegeben werden oder zu den Versammlungen der Kinderbank mitgebracht werden, um erneut in Umlauf zu kommen. 4) Versammlung und Vorstand der Kinderbank Die Hauptversammlung ist das wichtigste Gremium der Kinderbank, hier werden Erfahrungen ausgetauscht, Änderungen des Vorgehens beschlossen, neue Mitglieder begrüßt, Expert_innen eingeladen und befragt sowie das Abenteuergeld ausgegeben. Die Versammlung wählt einen Bankvorstand. Zu den Aufgaben des Bankvorstands gehört die weitere Ausgabe von Abenteuergeld, die Planung der Versammlungen, die Pflege des Netzwerks und der Website.
Das Abenteuergeld sollte primär der Logik des Geschenks folgen, den Schenkenden, also zunächst einmal den Eilbeker Einzelhändler_innen, aber auch etwas zurückgeben, und zwar etwas, dass die Kinder beim Benutzen des Abenteuergeldes ganz von selbst herstellen konnten: einen stärkeren Zusammenhalt im Stadtteil, eine neue Form lokaler Öffentlichkeit und damit beispielsweise auch die Bindung der Eltern an die beteiligten Läden. Da der Eilbeker Einzelhandel ständig Kund_innen an die umliegenden Malls verliert, war diese Wirkung des Abenteuergeldes von Interesse. So funktionierte das Abenteuergeld für die Beteiligten als Medium für community
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building:5 Die lokale Zeitung berichtete laufend über das Projekt, der lokale Einzelhändlerverband sagte die geplante Werbekampagne »Ein Herz für Eilbek« ab und trat stattdessen der Kinderbank bei, das Netzwerk der Anbieter_innen verdoppelte sich im Laufe dreier Monate. Auf den Versammlungen der Kinderbank kamen Obstverkäuferinnen, Cafebesitzer, Armutsexperten, Künstlerinnen und Kinder zusammen. Letztere berichteten von ihren Einkaufserfahrungen und von ihrem neuen Selbstbewusstsein als zahlungskräftige Bewohner_innen des Stadtteils: Peer (10 Jahre): Durch das Abenteuergeld habe ich den Stadtteil Eilbek besser kennen gelernt, das Land, in dem das Abenteuergeld gilt. Da ist unsere Schule, und da ist das Theater, und zwischen beiden gibt es mittlerweile eine Menge Läden, in denen man mit Abenteuergeld bezahlen kann. Besonders gut fand ich den Elektroladen, weil ich und Benedict da Star Wars geguckt haben. Es war schon ein komisches Gefühl, nicht mit dem Euro zu bezahlen. Chiara (9 Jahre): Ich dachte nicht, dass man Geld so einfach erfinden kann. Aber schön, ich kann jetzt in Geschäfte gehen und mir Sachen kaufen. Kim Linh (9 Jahre): Früher hatte ich Angst, allein in einen Laden zu gehen, aber jetzt trau ich mich allein. Ich finde das Kindergeld ein volles Glück. Julia (10 Jahre): Beim Einkaufen habe ich ein anderes Gefühl kennengelernt. Ich kann das Gefühl nicht richtig beschreiben, aber es fühlt sich ungefähr so an: Ein kleines bisschen Glück, ein bisschen Aufgeregtheit und das vermischt. Azra (10 Jahre): Ich finde das Abenteuergeld besser als die Euros. Die Bezahlung ist einfach. Ich darf jetzt manchmal alleine einkaufen.
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Mit einigen Ausnahmen: Eine kleine Minderheit unter den beteiligten Einzelhändler_innen zog sich nach der Probephase aus dem Projekt zurück.
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Alina (9 Jahre): Ich habe erlebt, dass manche Kinder ihre Eltern einladen, sie kaufen zum Beispiel in der Alsterbäckerei Brötchen für die ganze Familie.
Mit der Entwicklung und dem erfolgreichen Test des Konzepts einer Kinderbank basierend auf Geschenkwirtschaft und community building schien ein erstes wichtiges Forschungsziel im Sinne des anfänglich formulierten gemeinsamen Vorhabens erreicht. Es wurde jedoch auch Kritik formuliert: Valentin (9 Jahre): Ich finde das Abenteuergeld doof. Es hat meine Freundschaft zu Lucille verdorben, weil Lucille sich für Abenteuergeld als Diener an Hanna verkauft hat, und dann immer mit Hanna spielen musste. Es gab viel mehr Leid als Spaß.
Im Falle von Valentin und Lucille hatte das Abenteuergeld eine monetäre Beziehung an die Stelle einer Freundschaft treten lassen. Offenbar hatte das Abenteuergeld hier gerade nicht community-bildend gewirkt. Dies veranlasste uns dazu, noch einmal genauer hinzuschauen und das wissenschaftliche Forschungsergebnis des Kinderbank-Projekts im Folgenden noch einmal genauer zu formulieren. Forschungsfrage 2: Wie verhält sich Geld zu Gemeinschaft? Zurück zur Tauschfabel, also der Story von den Händler_innen, die eines Tages das Geld erfanden, um den Ringtausch zu vereinfachen. Neben der intrinsischen Beziehung zwischen Geld und Verausgabung lässt sie noch einen anderen, kulturellen Aspekt des Geldes außer Acht. Fraglich bleibt nämlich, was einer Händlerin eigentlich garantiert, dass das Geld, dass sie von einem zweiten erhält, von einer dritten auch akzeptiert wird. Eine solche Garantie kann nur mithilfe der Formel des »im Namen von« gegeben werden.6 »Im Namen der Priester des Bullenkults, die für die Götter sprechen« lautet eine dieser Formeln, »im Namen der Nationalstaaten der EU« eine andere. Beide haben neben der symbolischen eine ganz praktische Di 6
Pierre Legende hat die Figuration des »im Namen von« als Prinzip abendländischer Institutionen ausführlich analysiert. Vgl. einführend Pornschlegel 2000.
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mension, denn, wenn auch sonst niemand die Münzen akzeptieren sollte, so kann man damit doch immer noch seine Schuld bei den Autoritäten abtragen, seien dies nun Priester, Götter oder Staaten. In all unseren Handlungen rund ums Geld machen wir von der Formel »im Namen von« Gebrauch. Sie lässt die Interaktion wirksam werden und macht jene Dimension des Geldes aus, die John Austin »performativ« genannt hätte, die Dimension, in der symbolisches Handeln Wirklichkeit erst konstituiert. Die Formel des »im Namen von« wird nicht ein für allemal gesetzt, sondern in allen erfolgreichen monetären Transaktionen bestätigt und gestärkt. Wir mögen uns dessen nicht immer bewusst sein, dennoch ›performen‹ wir unser Vertrauen in diese Formel mit jedem Kaufakt. Mit dem Euro zu bezahlen, meint in diesem Sinne, Vertrauen in das europäische Gemeinwesen zu setzen. Im Gegenzug garantiert das Gemeinwesen den Kontext, den wir brauchen, um überhaupt Handel treiben zu können. Will man die Europäische Union als Gemeinschaft betrachten, ist auch der Euro community-bildend. Beim Bezahlen mit dem Abenteuergeld gilt dasselbe: Jede erfolgreiche Transaktion mit Abenteuergeld stärkt das Vertrauen in die Kinderbank Hamburg beziehungsweise in das mit diesem Titel bezeichnete offene Netzwerk. Sind also Euro und Abenteuergeld in gleicher Weise community-bildend, nur dass es sich dabei jeweils um andere Communitys handelt? Indem ich jemandem für etwas Geld gebe – etwa ein Dutzend Mal am Tag – bezahle ich mithilfe der Formel des »im Namen von« auf der Stelle eine Schuld. Gibt mir jemand etwas, ohne dass ich dafür bezahle, entsteht eine Verbindung zwischen uns. Ich nehme die Schuld mit: Das nächste Mal, wenn mein Gegenüber etwas braucht, werde ich mich verpflichtet fühlen, es ihm oder ihr zu schenken. Damit sind wir einander als Mitglieder einer traditionellen Geschenkökonomie verbunden, wie sie in Gesellschaften vor Einführung des Geldes verbreitet war. Diese Verbindung wird durch Geld unterbrochen. Bernard Lietaer, ein prominenter Fürsprecher der sogenannten community currencies, baut auf dieser Beobachtung sein Programm für eine andere Zukunft des Geldes auf (Lietaer 2002). Er verweist auf ethnologische Untersuchungen, die zeigen, welch verheerende Wirkungen die Einführung von Geld auf Gemeinschaften hat, die zuvor auf Geschenkökonomie basierten. Wo immer eine solche Gemeinschaft sich dem Geld geöffnet hat, sind ihre tragenden sozialen Strukturen in Rekordfrist
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erodiert. Was Valentin im Kinderbank-Projekt widerfahren ist, ist also durchaus repräsentativ. Geld – so könnte man vorläufig zusammenfassen – wirkt einerseits im Sinne der Formel des »im Namen von« gemeinschaftsstiftend, andererseits löst es unmittelbare persönliche Verbindungen innerhalb einer Gemeinschaft aber auch potentiell auf. Denn im Medium des Geldes delegieren wir die persönliche Beziehung zwischen Gebenden und Nehmenden an ein öffentliches Gemeinwesen. So stehen die gemeinschaftsbildende und die gemeinschaftszerstörende Wirkung des Geldes in einer Wechselwirkung, die sich mit der Formel des »im Namen von« verbindet. Diese Erkenntnis ermöglicht zunächst eine andere Sicht auf die jüngste Finanzkrise: Angesichts der Reden über Vertrauensverlust erscheint die Finanzkrise in der Tat als eine epochale Krise des »im Namen von«. Im Falle des Euros verweist die Formel des »im Namen von« auf das demokratisch legitimierte Gemeinwesen der europäischen Nationalstaaten. Doch genau dieser Verweis gerät im Zuge der Finanzkrise ins Wanken. Unklar ist, in wessen Namen unser Geld heute etwas wert ist, wer es eigentlich autorisiert: etwa Standard & Poor’s? Man hätte dieses Problem vorhersagen können, denn die Formel »im Namen von« funktionierte, so lange alle Beteiligten grundsätzlich in der Schuld der Autoritäten standen, auf die die Formel verweist. Doch in den vergangenen Jahrzehnten haben sich die westlichen Nationalstaaten beeilt, die global agierenden Bankentrusts möglichst weitgehend von dieser Schuld zu befreien. Damit hat die alte Formel ihre magische Wirkung für sie verloren. Offensichtlich ist das pekuniäre Vertrauen in Europas Nationalstaaten gebrochen. Nur auf den ersten Blick hat das mit Schuldenbergen zu tun. Wenn unser Geld nicht mehr von der EU, sondern von kommerziellen Banken und deren Ratingagenturen autorisiert wird, dann ist das Geld am Ende nur noch im Namen seiner selbst gültig. In der Krise des »im Namen von« gerät das Verhältnis aus gemeinschaftsfördernder und gemeinschaftszerstörender Wirkung aus der Balance: Wenn monetäre Transaktionen in ihrer performativen Dimension nicht mehr auf demokratisch legitimierte Kräfte verweisen, sondern lediglich die Macht des kommerziellen Finanzsystems stärken, bleibt auf der Community-Seite nicht mehr viel übrig. Wenn die Nationalstaaten für das System des Geldes nicht mehr verantwortlich zu machen sind, gehört auch ihr formales
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Monopol auf die Geldschöpfung auf den Prüfstand. Machen wir in Zukunft ›unser‹ Geld also tatsächlich lieber selbst? Die entscheidende Frage ist: Wer ist »wir«? In wessen Namen wäre dieses alternative Geld gültig? Die Fürsprecher der community currencies sagen »im Namen der Gemeinschaft«. Die communitas ist jedoch schon etymologisch zunächst einmal die Gemeinschaft derer, die sich etwas schenken.7 Dabei macht sich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Akt des Schenkens und dem des Zahlens bemerkbar: Etwas zu schenken und etwas zu tauschen sind Handlungen zwischen mindestens zwei Partnern. Im Unterschied dazu impliziert Geldverkehr notwendigerweise die Figur des Dritten. Der Dritte ist zum einen die Größe, in deren Namen das Geld gültig ist, und zum anderen der Fremde, der das Geld in Zukunft akzeptieren wird. Ohne diesen abwesenden, fremden Dritten macht Geld schlicht keinen Sinn. Im Unterschied zur Gabe und auch zum Tausch ermöglicht Geld eine Interaktion zwischen Fremden und produziert damit etwas, das sich unter Umständen von einer Gemeinschaft unterscheidet, nämlich eine Öffentlichkeit. Im Unterschied zu einer Gemeinschaft ist eine Öffentlichkeit ein Kollektiv aus Bekannten und Fremden. In einem solchen Kollektiv zirkuliert das Imaginäre und bringt immer neue Bestimmungen dessen hervor, was diese Öffentlichkeit ist oder sein könnte. Ergo: Geld ist schlecht für Gemeinschaften, und das ist, mit Georg Simmels »Philosophie des Geldes« gesprochen, gut so (Simmel 92011). Denn Geld verwandelt Gemeinschaften in Öffentlichkeiten, indem es das Fremde als konstitutives Element in die soziale Praxis einführt. Und sei es, indem es Freunde in Fremde verwandelt – die einstmals befreiende Objektivität des Zahlungsmittels erlaubt moderne Individualität.8 Das Versprechen der Gemeinschaftswährungen, die gemeinschaftszerstörende Kraft des Geldes zu zähmen, ist demnach in mehrfacher Hinsicht trügerisch: Es ist nicht machbar und nicht wünschenswert. Denn entsprechende Konzepte lassen ihrerseits wichtige kulturelle Aspekte des Geldes außer Acht: Geld ist Öffentlichkeit, und Öffentlichkeit impliziert das Fremde, das Imaginäre, das Unkontrollierbare. Wird diese Beziehung zwischen Geld und Öffentlichkeit nicht bedacht, gehen Gemeinschaftswährungen in 7
Von cum munus: munus – Gabe, Bürde.
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Für diese Formulierung und weiteren inhaltlichen Rat danke ich Claus Leggewie.
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die alte monetaristische Falle. Ihre Fürsprecher beginnen zu glauben, dass ihr Geld ein Instrument sei, dessen Effekte sich voraussagen und kontrollieren ließen, um damit ganz bestimmte Bedürfnisse einer gegebenen Gemeinschaft zu erfüllen. Angeregt durch die Weigerung Valentins, in das allgemeine Loblied des Abenteuergeldes einzustimmen, lässt sich also ein Beitrag der Kinderbank zur wissenschaftlichen Debatte bestimmen: ein neuer Blick auf die Finanzkrise auf der einen und eine kulturwissenschaftlichen Kritik geläufiger community currency Konzepte auf der anderen Seite. Währenddessen ging der Forschungsprozess der beteiligten Kinder jedoch einen anderen Weg, den der Wunschlogik. Forschungsfrage 3: Sind wir jetzt reich? Vincent (10 Jahre) : Ich habe erkannt, dass Geld Armut schafft, weil der Euro zusammenbricht. Aber unser Abenteuergeld ist anders, weil es nicht vom Euro abhängig ist und nur Kinder damit bezahlen können. Lucille (9 Jahre): Vorher dachte ich, das ist doof, das manche zu wenig haben, manche auch gar nichts, aber seit dem Kindergeld hat sich meine Meinung geändert, weil es jetzt mehr Geld für alle gibt.
Trotz des positiven Tenors dieser beiden Aussagen hatte der Versuch, mit der Produktion eigenen Geldes den Wunsch nach Reichtum zu erfüllen, erwartungsgemäß ein ambivalentes Ergebnis. Es liegt auf der Hand, dass das Abenteuergeld an wesentlichen Faktoren von Kinderarmut nichts ändern kann (Meyer-Timpe 2008). Doch auch darüber hinaus war allen beteiligten Kindern schnell klar, dass die Menge des ausgegebenen Abenteuergeldes nicht in ihr Belieben gestellt, sondern an bestimmte Faktoren gebunden war – insbesondere an die Anzahl der am Netzwerk beteiligten Anbieter_innen und deren Bereitschaft, Abenteuergeld für Waren und Dienstleistungen in Zahlung zu nehmen. Unbegrenzt Abenteuergeld zu drucken und auszugeben, würde, wie Lucille formulierte, »die Läden arm machen«. Auf der dritten Hauptversammlung der Kinderbank wurde dieses Forschungsergebnis folgendermaßen zusammengefasst.
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Obwohl wir es selber drucken können, haben wir unser Geld nicht in der Hand, es hat auch immer uns in der Hand. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das Geld erst zu Geld wird, wenn viele dabei mitmachen. Vorher dachten wir, Reichtum sei, dass man irgendwann so viel Geld hat, dass man selbst über das Geld bestimmt und nicht umgekehrt. Aber diese Vorstellung ist falsch. Denn das Geld verbindet uns miteinander. Egal wie viel oder wie wenig wir davon haben. Als Geldmacher sind wir also immer genau so reich, wie das Netzwerk, in dem das Geld funktioniert.
Die Überschaubarkeit eines Geldsystems wie dem der Kinderbank Hamburg/Eilbek machte monetäre Zusammenhänge für alle Beteiligten sofort begreifbar. Der Idee vom individuellen Reichtum stand der Reichtum des Netzwerks insgesamt gegenüber, der durch individuelle Bereicherung ab einem bestimmten Punkt gefährdet sein würde – sicherlich keine neue Erkenntnis, wohl aber ein wichtiger Schritt für die Beteiligten, aus dem sich weitere Forschungsergebnisse ableiteten: Nachdem erfahrbar war, dass die Menge der verfügbaren Abenteuergeldscheine begrenzt sein und sich das Versprechen auf Reichtum damit nicht unmittelbar einlösen würde, kam es vereinzelt zu Diebstählen unter den beteiligten Kindern. Interessant war dabei, dass die Kinder, die mehr Abenteuergeldscheine an sich gebracht hatten, als ihnen zustanden, anschließend Scheine an andere Kinder verschenkten. Auch anderen Kindern war es wichtig, Geld zu verschenken: Fereshteh (11 Jahre): Ich war in einem Asia-Laden und da hab ich JumJum gekauft. Der Verkäufer war nett zu mir. Auf dem Weg nach Haus habe ich einen Jungen getroffen und der war traurig. Darum habe ich ihm 100 Abenteuergeld gegeben. Der Junge war dann glücklich und das fand ich gut.
Diese Erfahrungen brachten uns im Zuge der dritten Hauptversammlung zu einer neuen Definition von Reichtum: »Reich ist man dann, wenn man Geld verschenken kann, ohne hinterher weniger zu haben.« In dieser neuen Definition zeigte sich auch ein konzeptioneller Mangel der Kinderbank: In ihrem bisherigen Aufbau erlebten sich die Kinder, trotz des von ihnen produzierten Zusammenhalts im Stadtteil, eher als Nehmende denn als Gebende. Reichtum erscheint dagegen dann gegeben, wenn man sich als jemanden erlebt, der geben kann. Reich im Sinne desjenigen, der Geld vergeben
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kann, ohne hinterher weniger zu haben, sind zunächst Figuren wie Robin Hood oder auch die Brüder Sass, Bankräuber, mit deren Geschichte wir uns im Rahmen des Kinderbankprojekts beschäftigten und die das von ihnen geraubte Geld unter den Bewohner_innen ihres Stadtteils verteilten. Bertolt Brechts berühmter Satz »Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« (Brecht 1997, 267) spielt ursprünglich eher darauf an, dass Banker_innen eine bessere Chance haben, sich an anderen zu bereichern, als Bankräuber. Doch auch für die umgekehrte Perspektive des Schenkens funktioniert das Diktum. Denn tatsächlich ermöglichte uns die Gründung der Kinderbank ebenfalls, Geld zu verteilen, ohne dadurch selbst weniger Geld zu haben: Sahand (11 Jahre): Vielleicht sollte man die Kinderbank nicht nur in Eilbek machen, sondern auch in anderen Teilen von Hamburg. Vielleicht wäre das da auch schön für die Kinder. Nur müssten sie natürlich erstmal von der Kinderbank erfahren, bevor sie selbst eine gründen können. Wir haben deshalb beschlossen, einen Brief an die Kinder vom Verein Mittagskinder auf der Veddel zu schreiben. Kinderbankvorstand: Wir können einfach ein bisschen mehr Geld drucken, und es den Mittagskindern schicken, damit sie die Kinderbank mal ausprobieren können. Deshalb haben wir selbst nicht weniger oder nehmen irgendwem etwas weg. Wir müssen nur mehr Läden finden, die das Geld auch annehmen.
Die Kinderbank erfüllte nicht, oder doch nur vereinzelt den Wunsch nach individuellem Reichtum. Stattdessen zeigte sie uns mögliche Übergänge vom Konzept individuellen Reichtums zum Konzept kollektiven Reichtums. Dabei lernten wir auch etwas über Geschenkökonomie, nämlich dass in einer Geschenkökonomie alle Mitglieder eines Netzwerks in der Lage sein sollten, Geschenke zu machen. An dieser Stelle ist auf eine der anfangs gestellten Forschungsfragen zurückzukommen: Was macht also einen guten Banker, eine gute Bankerin in einer Geschenkökonomie aus? Eine Währung, die eine Geschenkökonomie in Gang bringt, ist ein Ausdruck dessen, was potentiell Beteiligte einander geben können und wollen. In einem solchen Kontext ist eine gute Bankerin jemand, die herausfindet, was die Beteiligten einander geben können und wollen, und die dann
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Wege findet, es ihnen zu ermöglichen. Gelingt den Banker_innen das nicht, steigen die Leute aus der entsprechenden Währung wieder aus. Viele der erwachsenen Beteiligten, Ladenbesitzer, Lokalreporterinnen oder Bezirkspolitiker sahen die Kinderbank als ein Bildungsprojekt, in dem Kinder im Rahmen eines Planspiels lernen, mit Geld umzugehen. Dem scheint die Vorstellung zugrunde zu liegen, das Geld gleich Geld ist, so dass man die Natur des Geldes eben auch im begrenzten Gehege der Kinderbank erleben kann. Im Unterschied dazu stand für die beteiligten Kinder und auch für das Forschungstheaterteam die Differenzerfahrung des anderen Geldes im Vordergrund: »Unser Geld ist anders, weil es nicht von den Politikern kommt« (Kevin, 9 Jahre). Dies galt auch und gerade im vorliegenden Fall. Denn sobald im Kontext des Kinderbank Projekts deutlich wurde, dass sich Erfolg und Scheitern einer (Kinder-)Bankerin oder eines (Kinder-)Banker daran bemessen lässt, ob die Beteiligten aus der gemeinsamen Währung wieder aussteigen oder nicht, ist dies beim Euro ja offenbar nicht der Fall. Das parallel zum Kinderbank Projekt sich zuspitzende Geschehen in Griechenland machte diesen Kontrast um so deutlicher. Im Hinblick auf den Euro ist es eben kaum möglich zu sagen: »Diese Währung funktioniert für mich nicht mehr, ich steige aus.« Dafür fehlt es an Alternativen. Die vierte Hauptversammlung der Kinderbank stellte diesen Zusammenhang zur Diskussion: Geht es uns lediglich darum, mit der Kinderbank spielerisch Erfahrungen mit Geld zu sammeln? Oder ist ›unser Geld‹ nicht nur anders, sondern womöglich auch besser als der Euro, wünschen wir uns also eine Reform des Geldes insgesamt, oder, wie Sahand formulierte, dass »man eines Tages mit Abenteuergeld in allen Ländern der Welt alles kaufen kann«? Oder geht es hier vielmehr um Vielfalt, also um das, was David Boyle als »Multi-Currency-Future« bezeichnet? Der Vorstand der Kinderbank formulierte dies als Frage an die Hauptversammlung: Wieso nur eine Sorte Geld pro Land, pro Stadt, pro Leben? Wenn es überall mehrere gäbe, nicht nur zwei, sondern drei oder vier unterschiedliche Arten von Geld, dann könnte es sein, dass man in der einen Sorte arm ist und in der anderen reich. Dann könnte man Entscheidungen treffen wie: Ich nehme jetzt in nächster Zeit mal diese Geldsorte wichtiger als jene, denn sie gefällt mir besser. Wie wäre das? Könnt Ihr Euch das vorstellen?
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Geld, diese Erfahrung machten alle an der Kinderbank Beteiligten, ist nicht gleich Geld. Es gibt eine Menge Räder, an denen man als alternativer Banker oder alternative Bankerin drehen kann, um das Geld und das, was mit ihm in Gang kommt, zu verändern und zu beeinflussen. Gerade weil sie in überschaubaren Kontexten operieren, zeigen alternative Währungen wie das Abenteuergeld, die Ithaca Hours, die Oberhausener Kohle oder der Palmeiro aus Brasilien, was unter Bedingungen digitaler Kompatibilität auf dem internationalen Finanzmarkt nur noch selten deutlich wird, dass nämlich jede Währung eine andere Form von Öffentlichkeit, ein anderes Netzwerk, eine andere Vorstellung von Reichtum und von Gemeinwesen, von Gabe und Tausch transportiert, entwickelt und stützt. In der Definition von Geld als »universellem Äquivalent« hat der Universalismus seine letzte und vielleicht seine wirkungsmächtige Bastion. Alternativwährungen wie das Abenteuergeld stellen dies in Frage. Forschungsfrage 4: Welche Expertise kann Kunst ins Bankgeschäft einbringen? Zahlreiche kulturwissenschaftliche Publikationen untersuchen die Beziehung, die Affinität, die Verwandtschaft von Geld und Kunst (zum Beispiel Hörisch 1996). Doch wenn Kulturschaffende sich in die Gründung und Betreibung alternativer Banken und Währungen einschalten, sind die Zeiten, in denen Geld und Kunst einander lediglich in metaphorischer Dimension spiegelten, vorbei. Man stelle sich also vor, ›to make money‹ würde nicht mehr in erster Linie heißen, gute Profite zu machen, sondern auf die kulturelle Aktivität des Geldmachens im Sinne einer kollektiven, performativen Kunst verweisen. Wo diese Kunstform heute praktiziert wird, gibt es noch viele offene Fragen. Zum Beispiel: In wessen Namen sind alternative Währungen gültig? Im Namen der Kinderbank Hamburg? Was ist das? Die Kinderbank ist das, was vielleicht aus ihr werden könnte. Anders formuliert: Die Öffentlichkeit, in deren Namen eine Währung gültig ist, entsteht erst im Zuge ihres Gebrauchs. Jede neue Währung ist damit ein einziger großer Kredit auf die Zukunft des Netzwerks, das sie in Verwendung nimmt. Und doch wäre zu fragen: Haben Kinderbank und Citybank nicht genau gemeinsam, dass sie nichts sind als das, was sie möglicherweise sein werden?
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Häufig hört man die Klage, Banker_innen gingen mit ›unserem‹ Geld um, als ob es Spielgeld sei. Doch auch in diesem Punkt wäre gleiches Recht für alle zu fordern: Vielleicht ist es Zeit, ein paar neue Spiele mit Geld zu spielen – Spielgeld für alle! So betrachtet hätten die Fürsprecher_innen von Gemeinschaftswährungen zumindest in diesem Punkt recht: Alternativgeld kann einen ökonomischen Zusammenhang einer Geschenkökonomie wieder annähern, so lange das dabei eingesetzte Geld nur hinreichend unwahrscheinlich ist. Akzeptiert jemand eine neue, gerade erfundene Währung für eine Ware, kommt das einem Geschenk schon ziemlich nahe. Und doch gilt: Sobald andere, Freund_innen und Fremde, dasselbe tun, können sich alle als Teil einer neuen Art von Öffentlichkeit wieder finden, in der das neue Geld sich als gültig und wertvoll erweist. Wer sich angesichts der aktuellen Krise für Alternativwährungen engagiert, sollte anerkennen, dass sich die Formel des »im Namen von« nicht einfach reparieren lässt. Das zeigen auch die politischen Bewegungen, die auf die Finanzkrise reagieren – sei es in Madrid, Athen oder New York. Sie weigern sich, die zerbrochene Formel einfach durch eine neue zu ersetzen. Und auch die Kinderbank Hamburg erliegt nicht der Versuchung, das entstandene Vakuum mit Kunst zu füllen. Stattdessen können Kulturschaffende helfen, den Wert neuer Währungen als eine Wette auf eine zukünftige Version öffentlichen Lebens zu entwerfen, die ebenso wünschenswert wie unwahrscheinlich ist und gerade deshalb wahr werden könnte. Und noch etwas können Künstler_innen ins Bankgeschäft einbringen: Die Banker_innen von morgen haben andere Aufgaben als die Banker von gestern. Sie müssen den gesellschaftlichen Geldgebrauch mit der Vermehrung von Wissen über Geld verbinden, sie müssen es Geldnutzer_innen ermöglichen, sich als Geldmacher_innen auszuprobieren. Denn das gesellschaftlich nötige Wissen über Geld wird von einem immer weiter privatisierten Bildungssystem, in dem teure business schools die online-trader von morgen konditionieren, nicht mehr produziert geschweige denn öffentlich zur Verfügung gestellt. Wie wir mit Geld in Zukunft unser Gemeinwesen steuern können, müssen wir daher nolens volens alle gemeinsam herausfinden. Und so wird auch hier deutlich, dass die Forschung aller keineswegs eine Form kultureller Bildung im üblichen Sinne ist; sie ist vielmehr genau das, was geschehen muss, um langfristig die Krise des Geldes zu meistern.
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L ITERATUR Boyle, David (2010): Money Matters. putting the eco back into economics – global crisis and local solutions. Bristol. Braude, Ann (1989): Radical Spirits. Spiritualism and Women’s Rights in Nineteenth Century America. Bloomington/Indianapolis. Brecht, Bertolt (1997): »Die Dreigroschenoper«, in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Erster Band: Stücke 1. Frankfurt/Main. Graeber, David (2011): Debt. The First 5000 Years. New York. Haesler, Aldo (2011): Das letzte Tabu. Ruchlose Gedanken aus der Intimsphäre des Geldes. Zürich. Heidenreich, Ralph und Stefan (2009): Mehr Geld. Berlin. Hörisch, Jochen (1996): Kopf oder Zahl – Die Poesie des Geldes. Frankfurt/Main. Lietaer, Bernard (2002): Das Geld der Zukunft: Über die zerstörerische Wirkung unseres Geldsystems und Alternativen hierzu (The Future of Money: Creating New Wealth, Work and a Wiser World. London 2001). München. Meyer-Timpe, Ulrike (2008): Unsere armen Kinder. Wie Deutschland seine Zukunft verspielt. München. Otto, Isabell/Schabacher, Gabriele/Bergermann, Ulrike (Hgg.) (2010): Das Planetarische. Kultur – Technik – Medien im postglobalen Zeitalter. München. Pornschlegel, Clemens (2000): »Das Theater des Textes. Zum Konzept des Theatralischen bei Pierre Legendre«, in: Neumann, Gerhard/Pross, Caroline/Wildgruber, Gerald: Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft. Freiburg i.B., S. 365–387. Sconce, Jeffrey (2000): Haunted Media: Electronic Presence from Telegraphy to Television. Durham/London. Simmel, Georg (92011): Philosophie des Geldes. Frisby, David/Köhnke, Klaus (Hgg). Frankfurt/Main. Smith, Adam (1776): An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Harvard University.
Das Undisziplinierte im Transdisziplinären Das pädagogische Verhältnis in der künstlerischen Forschung mit Kindern E LISE V. B ERNSTORFF
Die Anmut der Kinder besteht und sie besteht vor allem als ein Korrektiv der Gesellschaft; sie ist eine der Anweisungen, die uns auf das ›nicht disziplinierte Glück‹ gegeben sind. BENJAMIN (1978), 854.
In diesem Text untersuche ich das Verhältnis von Pädagogik und Forschung in der künstlerischen Arbeit mit Kindern am Beispiel eines Theaterprojektes, an dem ich als Dramaturgin beteiligt war. In den letzten Jahren gab es auf Bühnen im deutschsprachigen Raum und auf internationalen Festivals viele Performances, Tanz- und Theaterstücke zu sehen, an denen Kinder beteiligt waren. Dabei lässt sich unterscheiden (auch wenn es fließende Übergänge gibt und viele Arbeiten mehrere der folgenden Aspekte einschließen) zwischen Performances mit Kindern als Darstellern (zum Beispiel Tim Etchells, Gob Squad), Performances für Kinder als Zuschauer (zum Beispiel Showcase Beat Le Mot) und Performances, die partizipativ mit Kindern entwickelt wurden (zum Beispiel Eva
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Meyer-Keller, Forschungstheater).1 Dass Kindertheater auch als Ort der Forschung zu denken ist, möchte ich zunächst anhand von Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« (Benjamin 1999a) herausarbeiten und die Spannung zwischen Pädagogik und Forschung darin aufzeigen. Dabei setze ich voraus, dass jeder Form von Kindertheater ein pädagogisches Verhältnis zu eigen und dass jede Pädagogik politisch ist. Diesen politischen Aspekt, der entweder eine Macht erhaltende, stabilisierende oder eine emanzipatorische, verändernde Funktion hat, werde ich zunächst mit Walter Benjamins Text umreißen. Anhand eines Beispiels für transdisziplinäres und szenisches Forschen mit Kindern und Lehrer_innen möchte ich die Beziehung zwischen Forschung und Pädagogik weiter auffächern und zeigen, welche Rolle die Forschung im pädagogischen Verhältnis spielen kann.2 Mit der Lektüre von Jacques Rancières Der unwissende Lehrmeister (Rancière 20092) schließlich werde ich die Frage nach einer emanzipatorischen Konzeption des pädagogischen Verhältnisses in der transdisziplinären Forschung mit Kindern vertiefen und politisch konkretisieren.
1
Etchells, Tim & Victoria: That Night Follows Day. Premiere: Kunstenfestivaldesarts 07, Brüssel, Mai 2007. Gob Squad: Before Your Very Eyes. Premiere: HAU, Berlin, April 2011. Showcase Beat Le Mot: Räuber Hotzenplotz. Premiere: Theater an der Parkaue, Berlin, Februar 2007. Meyer-Keller, Eva/Müller, Sybille: Bauen nach Katastrophen. Premiere: Internationales Sommerfestival, Kampnagel, Hamburg, August 2009. Forschungstheater im FUNDUS Theater/geheimagentur: unter anderem Echte und andere Piraten, Premiere: Forschungstheater, Hamburg, September 2011, Anleitung zur Wundersuche, Premiere: Forschungstheater, Hamburg, November 2009.
2
Als transdisziplinär bezeichne ich diese konkrete Forschungssituation, da in ihr künstlerische und wissenschaftliche Erkenntnis- und Darstellungsweisen verbunden sowie praktisches Wissen und lebensweltliche Expertise integriert wurden.
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REVOLUTIONÄRE P ÄDAGOGIK DES PROLETARISCHEN K INDERTHEATERS In seinem »Programm eines proletarischen Kindertheaters« von 1928 konzipiert Walter Benjamin das Kindertheater als Zäsur im Erziehungswerk; entgegen seiner Instrumentalisierung als pädagogisches Werkzeug entwirft er es gerade als Unterbrechung jeglicher Erziehung. Der Einsatz meines Textes ist die These, dass Benjamin an diese Unterbrechung auch einen Forschungscharakter des Kindertheaters bindet. Die Art dieser Unterbrechung und den Aspekt der Forschung des proletarischen Kindertheaters möchte ich im Folgenden genauer bestimmen. Das theoretische Programm Benjamins geht zurück auf seine Auseinandersetzung mit der Theaterarbeit von Asja LƗcis, einer lettischen Schauspielerin, Regisseurin und Theaterleiterin, die nach der Oktoberrevolution in Orel ein Kindertheater gründete, das einen Modellversuch umfassender ästhetischer Erziehung darstellte. In der proletarischen Erziehung, deren Programmatik Benjamin in seinem Text entwickelt, soll nicht zu einer Idee erzogen werden; anstatt einer Erziehung zu, die die Kinder Gehorsam lehrt, entwickelt er die Idee einer Erziehung in, die den Kindern die Erfahrung ihrer Kindheit garantiert. Das in, in dem Erziehung stattfindet, soll das Kindertheater sein, denn hier wird das Leben gerahmt und erscheint »als Gebiet« auf dem Theater (Benjamin 1999a, 764). So kann die Erziehung das ganze Leben des Kindes ergreifen, dabei aber gleichzeitig auf ein begrenztes Gebiet beschränkt bleiben (ebd.). Wichtig ist, dass der Theaterleiter in keiner Weise unmittelbar auf die Kinder einwirkt: nur mittelbarer Einwirkung über Stoffe, Aufgaben und Veranstaltungen soll das Kind ausgesetzt sein. Anstelle von Intentionalität und Instrumentalität auf Seiten der Erzieher ist die Theaterarbeit von Geschehenlassen und Nichts-Tun geprägt. Benjamins Text ist überraschend aktuell, es finden sich zahlreiche Parallelen zu einer zeitgenössischen Konzeption von künstlerischer Forschung mit Kindern. So soll Theater hier nicht auf Profit oder Sensation ausgerichtet sein (ebd., 765), die Kinder sollen keine Kunstleistung erbringen (ebd., 767); vielmehr stehen die Improvisation und der ephemere Moment im Zentrum der Arbeit, die sich wesentlich vorläufig, spielerisch und kollektiv ereignet. Es sind auch Benjamins Äußerungen zur kindlichen Geste zu nennen (in dieser Programmschrift widmet sich Benjamin interessanterweise erstmalig der Geste), die die Rolle des handelnden Körpers und seiner Ma-
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terialität für die Theaterarbeit mit Kindern betonen. Hier nimmt Benjamin bereits die spätere Bedeutung des Körpers für neue Formen theatraler Darstellung vorweg (unter anderem in der Performance, in der die unmittelbare körperliche Handlung und Präsenz zum Mittelpunkt der Darstellung wird).3 Er spannt die Geste im Kindertheater auf zwischen Konzepten von Körperwissen, beobachtender Forschung, Mimesis und künstlerischer Schöpfung wenn er schreibt, »daß der Maler […] ein Mann [ist], der mit der Hand da näher zusieht, wo das Auge erlahmt, der die aufnehmende Innervation der Sehmuskeln in die schöpferische Innervation der Hand überführt.« (ebd., 766) und »Schöpferische Innervation in exaktem Zusammenhang mit der rezeptiven ist jede kindliche Geste« (ebd.). Die Geste wird von Benjamin als vorbewusst verstanden, jedoch nicht im Sinne eines psychologischen oder der Gesellschaft entzogenen Unbewussten,4 sondern als eine Schwelle, auf der die unreflektierte, intentionslose Reaktion auf Welt in den äußeren und kollektiven Bereich der Dinge und Körper übergeht. Darin beruht die Gegenwärtigkeit der kindlichen Geste, die Benjamin beschreibt (ebd., 766). Wenn man sein »Programm eines proletarischen Kindertheaters« ernst nimmt, dann entwickelt Benjamin keinesfalls eine Theaterpraxis, in der dem Kind ein gewisser Grad an Teilhabe als wohlmeinendes Zugeständnis eingeräumt wird. Stattdessen wird das Kind als ein anarchisches und Ordnungen aufbrechendes Moment gedacht, das seine kollektive Kraft im Spiel radikal entbindet. Der Spielleiter beobachtet und wird selbst auf die kindliche Erfahrung verpflichtet, denn aus dem Kind spricht ein revolutionäres Potential. Der Gedanke an eine umwälzende Kraft des Kindes kommt dem Leser oder der Leserin des Programms nicht erst, wenn Benjamin am Ende des Textes in der kindlichen Geste das revolutionär wirksame, geheime Signal des Kommenden liest (ebd., 769). Denn Benjamin vergleicht das Kollektivum Kind mit jenen der Volksversammlung, des Heeres, der Fabrik und schreibt ihm eine gewaltige und aktuelle Wirkmacht zu. 3
In Bezug auf die Rolle der Geste vgl. auch Benjamins Texte zum epischen Theater, unter anderem »Über das mimetische Vermögen« (Benjamin 1991a).
4
Vgl. hierzu Äußerungen von Benjamin, dass »das Kind kein Robinson« sei und »Kinder keine abgesonderte Gemeinschaft«, sondern »ein Teil des Volkes und der Klasse, aus der sie kommen« (Benjamin 1991b, 117).
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Das proletarische Kindertheater als »reines Mittel« Mit Blick auf Benjamins Konzept einer Politik reiner Mittelbarkeit, das er in »Zur Kritik der Gewalt« (Benjamin 1999b) entwickelt, wird die Radikalität und Gewaltigkeit dieser Kraft, vor der sich die Bourgeoisie, wie Benjamin im Kindertheaterprogramm schreibt, nicht umsonst fürchtet, deutlich. Hier untersucht Benjamin die Rechtsordnung auf die ihr inhärente Gewalt, die gründende Ursprungsgewalt des Rechts, und entwirft ein anarchisches (anarchisch im Sinne von an-arché, ursprungslos) Programm, in dem die Gewalt als Mittel einer Rechtsordnung potentiell von einer anderen Gewalt überwunden werden kann, von einer Gewalt, die sich manifestiert, ohne zu gründen, die jenseits von Autoritäts- oder Souveränitätsbeziehung steht. Diese Gewalt entsetzt bestehende Ordnungen. Benjamin beschreibt sie anhand des proletarischen Generalstreiks. Der Inhalt oder Gegenstand dieser Entsetzung lässt sich nicht positiv bestimmen; sie wendet sich vielmehr gegen die Setzung, die Instituierung, das Programm selbst. Sie richtet sich auf nichts Bestimmtes, richtet sich also nicht (vgl. Hamacher 1994, 346). Laut Benjamin ist der proletarische Generalstreik ein »politisches Ereignis, aber eines, das alle kanonischen Bestimmungen des Politischen – und des Ereignisses – zerbricht.« (Benjamin 1999b, 193) Die Unterscheidung zwischen politischem und proletarischem Generalstreik verdeutlicht das Wesen des letzteren.5 Während der politische Generalstreik sich auf einen Wechsel der Herrschaftsverhältnisse richtet, dabei aber das Prinzip der Staatsgewalt erhält, zerschlägt der proletarische Generalstreik jede Staatsgewalt. Er verursacht keine Modifikation der Verhältnisse, sondern die Revolution, den Umsturz, um eine nach grundsätzlich anderen Regeln funktionierende, von Autorität wie Recht befreite Ordnung entstehen zu lassen. Das Proletariat ist für Benjamin die einzige politische Kraft und der proletarische Generalstreik das genuine Medium der Politik, die einzige Politik, die nicht instrumentell als Mittel zu Zwecken dient, sondern als Mittel ohne Zweck wirkt. Wenn man diese Logik der entsetzenden Gewalt auf das Kindertheater überträgt, so müsste das pädagogische Verhältnis gänzlich ausgesetzt werden; die Erwachsenen dürften sich der Kinder nicht als Mittel zu einem 5
Benjamin bezieht sich auf die Unterscheidung von politischem und proletarischen Generalstreik, die George Sorel in Réflexions sur la violence entwickelt (Sorel 1969).
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Zweck bedienen; auch nicht als Mittel für eine spezifische gesellschaftsverändernde Politik, Entwicklung der Produktivkräfte und ähnliches. Vielmehr müsste es den Charakter »reiner Mittel« haben, also nicht autoritär, nicht einer Intention unterworfen sein und keinen spezifischen Willen durchsetzen wollen, um so (neue, noch unbekannte, kommende) Ordnungsverhältnisse zu begründen. Über die reinen Mittel schreibt Benjamin, dass sie rein sind, solange sich in ihnen nur sie selbst, ihre eigene Mittelbarkeit, mitteilt (vgl. Benjamin 1999b, 347). Den rechtmäßigen und rechtswidrigen Mitteln aller Art, die doch samt und sonders Gewalt sind, dürfen nämlich als reine Mittel die gewaltlosen gegenübergestellt werden. Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen und was sich sonst hier noch nennen ließe, sind deren subjektive Voraussetzung. Ihre objektive Erscheinung aber bestimmt das Gesetz (dessen gewaltige Tragweite hier nicht zu erörtern ist), daß reine Mittel niemals solche unmittelbarer, sondern stets mittelbarer Lösungen sind. (Benjamin 1999b, 191.)
In Übereinstimmung mit der hier entworfenen »Politik reiner Mittelbarkeit« wirkt der Leiter im proletarischen Kindertheater nicht unmittelbar auf das Kind ein, sondern lediglich mittelbar durch Stoffe, Aufgaben oder in dem er Anlässe schafft. Zu diesen Mitteln setzt sich das Kind selbstbestimmt in Beziehung. Die Erziehung vollzieht sich daher nicht von Mensch zu Mensch, von Lehrer_in zu Schüler_in, sondern nur auf dem (Um-)Weg über die Sachen. Die Potenz der reinen Mittel liegt darin, die geschichtliche Zirkelfigur von Privilegierung und Unterdrückung zu durchbrechen. Parallel dazu müsste das Kindertheater den unendlichen Kreislauf von Unterweisung und Emanzipation (oder genauer, wie wir später mit Rancière sehen werden, den Kreislauf von Unterweisung und gradueller Emanzipation) durchqueren. Sein Gesetz wäre nicht die Wiederholung, Produktion oder Repräsentation, nicht die verstetigende Performanz, sondern eine radikal andere Ordnung, eine anarchische, kindliche (Un-)Ordnung, die man als eine Ordnung des »unverfassten«6, nicht disziplinierten Lebens bezeichnen könnte. Das proletarische Kindertheater würde nichts darstellen oder herstellen, es wäre weder konstativ noch thetisch sondern setzungslos, denn 6
Benjamin benutzt diesen Begriff in »Zur Kritik der Gewalt« (Benjamin 1999b, 130).
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die Setzung selbst ist bereits der Rücksicht auf das Bestehende untergeordnet und macht jede Handlung zum Mittel seiner Erhaltung. Wie diese Elemente mit einer künstlerischen Forschung zusammenzudenken sind, werde ich anhand des praktischen Beispiels aufzeigen. Doch zuvor muss erwähnt werden, dass sich Benjamins Konzeption des Proletariats auch hinzuziehen lässt, um seine latente romantische Idealisierung des Kindes als das anarchische, wilde und befreite Dasein zu vermeiden. In seinen frühen Texten erscheint das Proletariat als die Klasse, die sich im und durch den Generalstreik konstituiert. Da sich reine revolutionäre Gewalt nicht eindeutig bestimmen lässt, ist es nicht möglich zu definieren, wer zum Proletariat gehört und wer nicht – jede Identifizierung wäre bereits Teil eines (ideologischen) Programms (vgl. Hamacher 1994, Fußnote 9, 366). Jeder proletarische Generalstreik befindet sich auf einer Grenze zwischen politischem und anarchistischem Streik und entzieht sich dem eindeutigen Erkennen. Dementsprechend müsste man auch das proletarische Kindertheater als eines beschreiben, das nie ganz verwirklicht oder eindeutig erkannt werden kann. Es bringt das im Spiel befreite Kind erst im Vollzug selbst hervor. Es konstituiert sich retroaktiv, erst in der Rückschau wird es sichtbar: Es wird ein proletarisches Kindertheater gewesen sein. Der Verweis auf den proletarischen Generalstreik macht deutlich, welche Tragweite die benjaminsche Politik der reinen Mittel hat, zu denen das proletarische Kindertheater zu zählen ist.7 Die Analogie von Generalstreik und Kindertheater in Benjamins Denken drängt sich auf, allerdings hat der Vergleich auch seine Grenzen: So findet das proletarische Kindertheater anders als der proletarische Generalstreik nur in einem begrenzten und der gesellschaftlichen Wirklichkeit entrückten Rahmen statt. Benjamin vergleicht es mit dem Karneval, in dem temporär die bestehenden Verhältnisse 7
Um aufzuzeigen, wie der Begriff der reinen Gewalt jenseits des spezifischen, eventuell utopischen Beispiels des proletarischen Generalstreiks zu denken ist und sich auf das proletarische Kindertheater beziehen lässt, ist neben dem proletarischen Generalstreik noch eine andere Konzeption Benjamins aufzusuchen: die Kategorie des Ausdruckslosen in seinem Text Goethes Wahlverwandtschaften. Hier zeigt sich, dass es die »reine Gewalt«, die »reinen Mittel« auch im Ästhetischen gibt: Das Ausdruckslose ist wie der Streik (und wie das proletarische Kindertheater) eine Unterbrechung, die eine (ästhetische) Totalität aufsperrt, die nicht setzt, nicht gestaltet oder umgestaltet (vgl. Hamacher 1994).
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umgekehrt sind und die Kinder von der Bühne herab die Erzieher_innen belehren. Dem Karneval ist eine fundamentale Dialektik eigen: Subversiv und anti-hierarchisch kehrt er die bestehende Ordnung um, aber als geduldeter Teil dieser Ordnung, zeitlich begrenzt und mit der Funktion eines Ventils für gesellschaftliche Spannungen ist er zugleich machterhaltend. Die benjaminsche Konzeption des Kindertheaters verbleibt also in einer dialektischen Spannung zwischen Lehre und Belehrtem oder Belehrter, sie verbleibt in einem pädagogischen Verhältnis. Das Kindertheater wendet die Hierarchie momentan um, entsetzt sie aber nicht im Sinne einer vollständigen Zerschlagung der Machtverhältnisse, wie es die reine Gewalt des proletarischen Generalstreiks Benjamin zufolge vermag. Das pädagogische Verhältnis zwischen Lehrer_in und Belehrtem, Belehrter wird im Spiel zwar nur umgekehrt, wobei die Logik des Machtgefälles intakt bleibt, doch scheint, wie ich ausgeführt habe, im proletarischen Kindertheater der Gedanke einer – immer im Rahmen des Spiels, der Bühne verbleibenden – revolutionären Entsetzung des pädagogischen Verhältnisses auf, auch wenn Benjamin hier nur in Andeutungen verbleibt. Der Aspekt der Forschung im proletarischen Kindertheater Wenn man den Text als Poetik eines künstlerischen Forschens mit Kindern liest, zeichnet sich diese Arbeit durch Beobachtung, Ergebnisoffenheit, Improvisation, Involviertheit des Körpers und Prozessorientierung aus. Forschung findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt: Die Kinder forschen an den Stoffen, die die Theaterleiterin oder der Theaterleiter ihnen zur Verfügung stellt, und die Erwachsenen forschen an den Kindern, indem sie sie beobachten, ohne auf eine Erkenntnis über oder Einflussnahme auf die Kinder abzuzielen. Das konventionelle Autoritätsverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern wird dabei umgekehrt: Während die Kinder sich vom Erzieher befreien und ihr Verhalten im Kollektiv selbst korrigieren, werden die Erwachsenen durch die Kinder moralisch erzogen (Benjamin 1999a, 767). Der Leiter/die Leiterin beobachtet das Kind, er/sie liest die Befehle und Signale, die aus der Welt des Kindes kommen. Das forschende Kindertheater darf demnach nicht auf ein Produkt orientiert sein, denn der Prozess der Erkundung durch die Kinder steht im Mittelpunkt der Arbeit. Dieser wird nicht dem Zweck einer Festsetzung der Kunstleistung der Kinder im Werk untergeordnet. Die Kinder arbeiten im
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Kollektiv. Jede Einflussnahme des Spielleiters/der Spielleiterin auf die Kinder geschieht nur vermittelt über Gegenstände, Inhalte oder Aufträge. Damit geht die Unterlassung jedweder Erziehungspraktik – ob einfühlend, autoritär oder auf ›innere Selbstführung‹ abzielend – einher, die alles Wissen suspendiert und Raum für Ungeahntes, Unerschlossenes und Unformiertes schafft. Der Erzieher/Die Erzieherin nimmt die Position eines Beobachters/einer Beobachterin ein, der/die von der Welt der Kinder lernt, Augenzeug_in der Kraft des kindlichen Kollektivs wird. Darin kann er/sie einen Vorschein auf den befreiten Menschen wahrnehmen, denn die Gesten der Kinder evozieren eine Gegenwelt zur zweckrational organisierten Gesellschaft. Die Erzieherin/der Erzieher hat die Möglichkeit, sich durch die aufmerksame Beobachtung das vergessene Glücksversprechen zu vergegenwärtigen, das die Erfahrung der Kindheit ist.8 Im Sinne des benjaminschen Messianismus wird hier etwas Zu-kommendes, Zu-künftiges erkennbar, das die radikale Entbindung jeglicher Lehrer-Schüler-Hierarchie verheißt. Das Glücksversprechen, das laut Benjamin im Rahmen des Kindertheaters für die Erwachsenen und die Kinder erfahrbar wird, ruft ins Bewusstsein, dass Fortschrittsrationalität, Disziplin und Produktivkraftentwicklung nicht mit Emanzipation zu verwechseln sind (diesen kritischen Begriff von Emanzipation teilt Jacques Rancière mit Benjamin, wie wir später noch sehen werden). Nachdem ich beschrieben habe, was das proletarische Kindertheater bei Benjamin ausmacht und inwiefern es sich als ein forschendes lesen lässt, möchte ich im Folgenden die Gedanken Benjamins anhand eines Beispiels aus der Praxis künstlerischen und transdisziplinären Forschens mit Kindern diskutieren und aufzeigen, wie sich durch den Aspekt der Forschung das klassische pädagogische Verhältnis verändert. 8
Benjamin fordert jedoch, dass diese Vergegenwärtigung eine »unsentimentale Aktivität« (Benjamin 1999a, 768) sei, welche zu einem kritischen Moment der historischen Erfahrung und Erkenntnis wird. Das Glücksversprechen der Kindheit ist nicht mit »larmoyanten Kindheitserinnerungen« zu verwechseln (ebd.), sondern dient der Klärung und Enthüllung der eigenen Kindheit, in dem es die Züge des Kommenden wiedererkennt, die Gewissheit vermittelt, die Kindheit erfahren zu haben, und eine Dringlichkeit hervorruft, »sein Schicksal dem entfremdeten Gesellschaftszustand zu entreißen, der ihn von seinem ersten Glück entfernt hat.« (Yun 2000, 62).
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D IE AUSWEITUNG
DER
K UNSTZONE
Im Rahmen von Jump & Run – Schule als System, einem Projekt initiiert von Junges DT, Hebbel am Ufer (HAU) und Theater an der Parkaue, habe ich als Dramaturgin an dem Projekt ABC für Aussteiger (im Folgenden auch kurz ABC) mitgearbeitet.9 Die künstlerische Leitung10 von Jump & Run entwickelte ein Konzept, das als gemeinsamen Gegenstand aller Projekte die Untersuchung von Strategien des Lernens und der Anpassung, des Zusammenlebens, des Vorankommens und des Scheiterns im System Schule vorsah. Hier wurde ein explizit forschendes Interesse formuliert, welches ein Forschungssetting konstituierte, dass sowohl den Blick von außen (Künstler_innen und Dramaturg_innen), als auch Perspektiven von Betroffenen aus dem Inneren des Untersuchungsgegenstandes (Lehrer_innen und Schüler_innen) vorsah. Die Forschung war angelegt als ein Teil der Vorbereitung und Erarbeitung der Projekte, die am Ende als gemeinsam erarbeitete Inszenierungen auf dem Abschlussfestival präsentiert wurden. Bei den ersten Treffen mit der Klasse kristallisierte sich heraus, dass die Schüler_innen sehr mit Techniken des Aussteigens aus dem Unterricht beschäftigt waren. Eine Materialsammlung zu dem Thema führte zu einer aktiven Beteiligung der Schüler_innen: Sie genossen ganz offensichtlich ihren Expertenstatus und weihten uns ein in die Tricks und Kniffe, mit deren Hilfe man sich im Unterricht ablenkt, die Zeit vertreibt oder aus dem Klassenzimmer kommt. Wir waren erstaunt über die Virtuosität und Raffinesse, mit der die Manöver entwickelt und umgesetzt wurden. Als wir anfingen szenisch mit dem Material zu arbeiten, begannen die Grenzen zwischen Schulalltag und Theaterpraxis schnell zu verwischen. Arbeitet die Schülerin, die während der Szene die ganze Zeit mit ihrer Nachbarin tuschelt, nun besonders gut mit oder boykottiert sie das Projekt? Wie reagieren die Erwachsenen, wenn sich ein Schüler mit Bauchschmerzen meldet, nachdem wir gerade 10 Minuten lang Ausreden gesammelt haben, mit deren Hilfe man ins 9
Das Projekt ist 2011/2012 in Zusammenarbeit zwischen dem portugiesischen Künstler Márcio Carvalho und der Klasse 7.2 der Lina-Morgenstern-Schule, dem Lehrer Udo Kesy und der Lehrerin Antje Siehler entstanden. Die Aufführung fand am 11.05.2012 im HAU Berlin statt.
10 Die künstlerische Leitung bestand aus Mijke Harmsen, Camilla Schlie und Kristina Stang.
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Krankenzimmer geschickt wird? Auch für die Schüler_innen wurde es schwierig, zwischen Theater und Schule zu unterscheiden: Spielen sie Aussteigen oder steigen sie aus dem Spiel aus? Was macht die Schülerin, wenn sie in der Szene eine erfolgreiche Ausrede erfunden hat und die Lehrerin sie rausschickt – bleibt sie draußen, nutzt sie die Chance, auf den Schulhof zu gehen, kommt sie zurück? Plötzlich wurde das Theaterspiel zur perfekten Ausrede für das Aussteigen: Man hat ja nur kurz nicht mitbekommen, dass die Szene zu Ende ist; man hat ja lediglich besonders erfindungsreich improvisiert; man wollte ja bloß eine Ausstiegstechnik vormachen; man dachte, die Lehrerin hätte einen wirklich nach draußen geschickt; man hat ja nur getan, was von einem verlangt wurde. In der Spielsituation scheint alles möglich, was sonst in der Schule sanktioniert wird: Schimpfwörter sagen, schreien, streiten, aus dem Fenster schauen. Es lässt sich auch kaum bestimmen, ob der Lehrer gerade Lehrer spielt oder Lehrer ist: Schimpft er so laut, weil er wirklich böse ist oder spielt er den wütenden Lehrer? Auch lässt sich Anfang und Ende des Spiels nicht mehr eindeutig festlegen: War die Klingel, die zur Ruhe aufruft, Teil der Inszenierung oder sollte sie deren Ende anzeigen? In dieser Situation nun wandten die Schüler_innen das Verhältnis zwischen Forschern und Beforschten aktiv um. Während zuvor wir – die Erwachsenen – ein Setting bereiteten, in dem wir Praktiken der Schüler_innen, aus dem Unterricht auszusteigen, untersuchen wollten, testeten nun die Schüler_innen an uns diese Praktiken und machten dadurch uns zum Gegenstand der Untersuchung. Die Kraft, die laut Benjamin das Kind als Kollektivum ausstrahlt, war für uns Erwachsene teilweise auch beunruhigend; wir hatten als Antwort lediglich die Wahl, das Spiel zu beenden und die Kinder zu disziplinieren, oder eine distanzierte Beobachterposition einzunehmen (vgl. Benjamin 1999a, 766). Die Versuchsanordnung wurde zu einem dialogischen und responsiven Geschehen, in der der Forschungsaspekt von den Kindern als Tool genutzt wurde, um eine Störung und Unterbrechung der traditionellen Machtverteilung herbei zu führen. Einen Moment lang waren nun Erwachsene und Kinder gleichgestellt: Die Kinder hatten sich das Forschungssetting angeeignet noch bevor feststand, was gelehrt und was gelernt werden sollte, da die Perspektive der Schüler_innen selbst auf die Schule der Gegenstand der Untersuchung war. Schließlich lehrten die Lehrenden/Erwachsenen nicht nur, was sie nicht wussten, sondern wurden auch selber zu Lernenden.
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Ausgehend von Benjamins Text über das Kindertheater möchte ich im Folgenden untersuchen, was genau in der Arbeit von ABC die gemeinsame Forschung, das gegenseitige Beforschen in Bezug auf das pädagogische Verhältnis produzierte. In Benjamins Worten wurde der Forschungsgegenstand Schule gerahmt und erschien als »Gebiet« (Benjamin 1999a, 764). In dem Moment, in dem Spiel und Realität sich im Klassenraum überlagern, verdoppelt sich der Forschungsgegenstand Schule, er wird zu einer mise en abyme; so kann er zugleich direkt erlebt werden und als Abbild seiner selbst erscheinen. Die Verdopplung macht es möglich, dass alle Beteiligten sich gleichermaßen unmittelbar auf ihn als ein – mit Benjamin gesprochen – reines Mittel beziehen. Sie verringert so die wissenshierarchische Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen und erzeugt eine Unterbrechung der systematischen erzieherischen Arbeit, die die Schule wie auch die Theaterarbeit mit Kindern durchzieht. Und sie ermöglicht eine ästhetische Erfahrung dieses Zusammenhangs, der nun nicht mehr ausschließlich begrifflich zugänglich ist. In ABC werden auch die Beobachter_innen (der Künstler, die Dramaturgin), denen ursprünglich der Blick von außen auf das System Schule zugedacht war, zu Beteiligten der Situation und sind nicht länger die Autor_innen des Geschehens. Zugleich werden die Schüler_innen, die sich eigentlich nicht anders verhalten als im Alltag, zu Beobachter_innen des Systems, in dem sie sich sonst unbewusst bewegen: Alle Beteiligten oszillieren zwischen analytischer Distanz dem Geschehen gegenüber und Involviertheit. So werden Einsichten möglich und doch kommt das Forschungsgeschehen nicht zu einem Abschluss, es behält Anteile, die für Erkenntnis und Erfahrung unverfügbar bleiben und sich einer Instrumentalisierung entziehen. Das Beispiel lässt sich mit Jörg Hubers Erörterung der künstlerischen Forschung beschreiben: In der Forschung ist es nicht so, dass ein anfängliches oder vorgängiges sinnliches, affektives Ereignen und ›Material‹ rational und analytisch be-griffen und geklärt und damit ›erledigt‹ wird; das Forschungsgeschehen ist vielmehr ein gegenseitiges sich Durchdringen, das eine Wechselseitigkeit praktiziert, die chiastisch strukturiert ist. Sie sind gegenseitig nicht einholbar und generieren ein je für die andere Seite Unverfügbares. (Huber 2009, 208)
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In der Arbeit an ABC bringen die Beteiligten ihre eigene Position (als Lehrerin, als Künstler, als Spielleiterin, als Schüler) ins Spiel und riskieren diese zugleich. Erfahrungen von Er- und Entmächtigung, Autorisation, Enteignung und Widerstreit werden hervorgerufen, die desgleichen Erfahrungen von Kraftfeldern sind, die das System Schule durchziehen. Auf diese Weise wird ein implizites, unausgesprochenes (manchmal unaussprechliches) Wissen11 sichtbar, das auch wenn es begrifflich nicht fassbar ist, den Blick auf den Forschungsgegenstand – das Verhältnis zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen, das durch die Institution organisiert wird – bereichert. Die Kunst eröffnet also einen Raum (wir arbeiteten im Klassenzimmer, was dazu führte, dass dieser nun zwischen Bühnen- und Klassenraum oszillierte), der die alltägliche Situation »Schule« intensiviert und rahmt und den sich die Projektbeteiligten auf unterschiedliche Weise aktiv aneignen können. Die Gestaltung des pädagogischen Verhältnisses in der transdisziplinären Forschung Ausgehend von Benjamins Kindertheaterprogramm lassen sich sieben Aspekte identifizieren, die während der Arbeit an ABC wichtig für das pädagogische Verhältnis wurden. In der Programmschrift Walter Benjamins sind Kinder Spezialisten für eine spezifische Erfahrung, einen kindlichen Zugriff auf Welt. Hier kommt die Frage der Adressierung ins Spiel: In welcher Funktion werden die Beteiligten angesprochen? Während im Theater mit Kindern als Darsteller_innen und für Kinder als Publikum die Kinder eine klar definierte Rolle (Darsteller_in/Zuschauer_in) einnehmen, die der der Entscheidungsträgerin, also des Künstlers, der Spielleiterin oder des Lehrers, gegenübergestellt ist, changiert ihre Rolle in der Situation des szenischen Forschens. Forschung impliziert, dass der Gegenstand nicht immer bekannt ist; nicht das Objekt ist maßgeblich für das Experimentieren, sondern das Experimentalsystem, also der Rahmen. Eine Adressierung zu finden, die die Kinder als Expert_innen (im Beispiel von ABC als Expert_innen für das System Schule) oder als Forscher_innen anspricht, eröffnet die Möglichkeit, dass sich die erwachsenen Beteiligten strukturell in 11 Den Begriff des impliziten Wissens übernehme ich von Michael Polanyi (Polanyi 1985). Vgl. den Beitrag von Gabriele Brandstetter S. 72.
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der gleichen Position im Experimentalsystem wie die Kinder wiederfinden, und somit von den Kindern lernen können.12 Dies führt zu der Bedeutung von Nichtwissen. Nichtwissen ist der Antrieb jeder Forschung. Während es im traditionellen pädagogischen Verhältnis (und hier beziehe ich Kindertheater zunächst prinzipiell ein) stets den Wissenden/die Wissende gibt (zumindest tendenziell), können in einer Forschungssituation alle Beteiligten unwissend sein. Auch eine Adressierung als dezidiert Unwissender/Unwissende kann eine Forscherposition ermöglichen, die sich der/die Forschende aneignen kann. Hier nimmt das Kind oder der Erwachsene eine Haltung ein, die Künstler_innen häufig in der transdisziplinären Forschung innehaben und die in dieser Situation auch die Position des Künstlers/der Dramaturgin waren: die der unwissenden, nicht eingeweihten Fragenden, die ein bestimmtes Feld von außen betreten und beobachten. Auch wenn zu einer künstlerischen Praxis immer auch Wissen gehört, lässt sich das Nichtwissen von Kindern wie Künstler_innen strategisch einsetzen, indem es zum einen den Forschungsprozess über die Disziplinen hinaus öffnet, zum anderen aber auch eine Einladung an alle Beteiligten sein kann, sich selbst zum Material in Bezug zu setzen. Hier wird im nächsten Abschnitt eine Lektüre von Der unwissende Lehrmeister von Rancière anschließen (Rancière 20092). Ein weiterer Aspekt der transdisziplinären Forschung mit Kindern, der sich aus der Programmschrift Benjamins und der konkreten Forschungssituation ableiten lässt, beruht in der Befähigung der Teilnehmer_innen, mit unterschiedlichen Interessen am Forschungsprozess teilzunehmen. Laut Benjamin liegt das Interesse des Kindes am proletarischen Kindertheaters in einer radikalen Entbindung des Spiels, darin, Schabernack zu treiben und Spannungen zu lösen. Das Interesse des Spielleiters dagegen ist es, zu beobachten, die Gesten und Signale der Kinder wahrzunehmen und sie zur »Exekutive an den Stoffen zu bringen« (Benjamin 1999a, 766). Im Beispiel ABC war das Interesse der Schüler_innen der Ausstieg aus dem Unterricht. Die Schüler_innen hatten ein subjektives Interesse daran, sich über ExitStrategien auszutauschen, neue Kniffe zu entwickeln damit die Zeit im Unterricht schneller vergeht und so weiter; dieses Interesse brachte eine 12 Die Kinder als Expert_innen anzusprechen und ernst zu nehmen ist seit seiner Entstehung Praxis des Forschungstheaters. http://www.fundus-theater.de/for schungstheater/ vom 15.09.2012.
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gewisse Dringlichkeit, einen Bedarf auf Seiten der Kinder hervor. Die beteiligten Erwachsenen hatten davon zum Teil unterschiedene Interessen, etwa die Reflexion der sozialen Beziehungen zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen, die Produktion eines künstlerischen Werks und andere. Der gemeinsame Forschungsgegenstand war zwischen die Interessen der Schüler_innen und die Interessen des Lehrers und der Lehrerin, der Dramaturgin, des Künstlers geschaltet. Es trennte die Beteiligten voneinander und war doch das Mittel, das alle Beteiligten ihren Bedürfnissen entsprechend nutzen konnten und das so den Ausgangspunkt und Motor eines Prozesses von mehreren wechselseitigen Übersetzungen bildete. Die Forschung befähigt die Kinder dazu, einen eigenen Zugang zum Projekt zu finden, der ein spezifisches Anliegen oder Interesse auslösen oder aufgreifen kann. Dies verhindert, dass das Verhältnis des Künstlers/der Erzieherin/des Spielleiters zum Kind in dem intentionalen und instrumentellen Verhältnis aufgeht, das Benjamin kritisiert. Dies bringt das Motiv der Übersetzung mit sich: Entsprechend der unterschiedlichen Interessen, die für die transdisziplinäre Forschung leitend sein können, wurden in ABC Forschungsgegenstand und Forschungsergebnisse von den Beteiligten ständig übersetzt und rückübersetzt, in dem sie in der eigenen Sprache ausgedrückt und auf das eigene Handeln übertragen wurden. So wurde kein vereinheitlichtes Wissen geschaffen, über das Einzelne verfügten, sondern unterschiedliche Lesarten wurden nebeneinander gestellt und ließen sich von den Beteiligten aneignen. Auch zeigt sich in der Arbeit an ABC, dass das transdisziplinäre und szenische Forschen verschiedene Arten der Wissensgenerierung ermöglicht. Über die kognitive und empirische Ergründung hinaus werden sinnliche Erkenntnis, ästhetische Erfahrung, Subjektivität, körperliche Involviertheit, responsives Geschehen zu Erzeugern spezifischer Wissensformen. Benjamin betont in seinem Programm die Bedeutung der Geste für die kindliche Weltaneignung. An der Geste lässt sich die Rolle der Leiblichkeit im Kindertheater festmachen: Das Be-greifen vollzieht sich hier (auch) über den Körper (vgl. Burk 2009, 187), es handelt sich um ein im Handeln erworbenes Wissen (ebd., 189). So steht das Einüben von Handlungen im Vordergrund, Lernen vollzieht sich nicht maßgeblich über rationale Einsicht oder mechanische Nachahmung. Im Forschungssetting von ABC kommen unterschiedliche nichtsprachliche Wissensformen zum Ausdruck, die gänzlich verschiedene Logiken aufrufen (von den Kniffen der Kinder, die How-to-
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Wissen sind und als Tool dazu dienen, eine Situation, die sie explizit nicht beherrschen, beherrschbar zu machen und also Teil der instrumentellen Vernunft sind, bis hin zu einem Wissen über Autoritäts- oder Souveränitätsbeziehungen, über Regeln und Freiheiten im System Schule, über Sozialität, das sich zum Beispiel in Bildsystemen, Habitus oder Verhalten und auch in einem Körperwissen zeigt13). Das ästhetische Geschehen produziert ein Wissen, »das oft sprachlos, implizit, vorprädikativ und vorläufig ist und das auf andere Ordnungen des Rationalen, eine andere Logik oder auf etwas anderes als Logik verweist« (Huber 2009, 210). So wird Raum für die Bedeutung der von der instrumentellen Vernunft vernachlässigten Bereiche anderen Wissens geschaffen, die zeigen, dass das Geschehen nicht restlos rational beherrschbar ist. In der Forschung scheinen Aspekte auf, die über das Symbolische, Begriffliche, Methodische oder Zeichenhafte hinaus andere Formen des Wissens einbeziehen. Dies ermöglicht den Kindern andere Formen von Teilhabe am Forschungsprozess als jene, die über das Eingewiesen-Werden, Erklärt-Bekommen initiiert werden. Indem das szenische Forschen sichtbar macht, wie Wissen überhaupt generiert wird, eröffnen sich den Kindern Möglichkeiten zur Teilhabe. Denn das Forschungssetting selbst ist nun Teil der Verhandlung, die Erfindung der Frage und der Perspektive stehen im Mittelpunkt der Arbeit, und so können die Kinder temporär aus dem Machtfeld von Autorisation und Wissenshierarchie treten. Ein weiterer Punkt, der sich in diesem Forschungssetting wie auch bei Benjamin findet, ist die Bedeutung eines Dritten, das zwischen den Beteiligten des Forschungsgeschehens steht. In ABC war dies die Fragestellung oder Aufgabe, auf die alle Beteiligten orientiert waren. Sie generierte das Material, auf das sich alle Beteiligten rückbezogen und dass es den Lehrenden erlaubte, zu verifizieren was der Schüler/die Schülerin beobachtete, erzählte und darüber dachte (bei Benjamin ist es analog dazu der Gegenstand oder Inhalt, den der Spielleiter den Kindern zur Verfügung stellt.) In der Arbeit an ABC wurde das Undisziplinierte, die Unordnung wichtig. Benjamin sieht das Kindertheater als Möglichkeit, eine Offenheit, einen Bruch in die Erziehung einzulassen; die Zurückhaltung des Erziehers öffnet die Aufnahmebereitschaft für Unerwartetes, Nicht-Verfügbares und Störungen. In dem die Kinder sich undiszipliniert verhalten, brechen sie das be 13
So schreibt Gabriele Klein: »Der Körper spricht nicht, sondern er zeigt« (Klein 2007, 32).
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stehende System von Ordnung und Hierarchie auf und können dieses unter Umständen sichtbar machen oder aber Erkenntnisse ermöglichen, die innerhalb des Systems nicht sichtbar werden können. Doch der Begriff des Undisziplinierten geht über diesen eingeschränkten Bereich hinaus, er hat eine doppelte Bedeutung: Er lässt sich auch auf die Disziplin als eine Einzelwissenschaft anwenden, auf die Einteilung von Wissen in verschiedene Teilbereiche: Die mit dieser Einteilung verbundenen Positionen und Einschränkungen können Kinder in der Forschung leichter überschreiten als einem bestimmten Diskurs verbundene Spezialist_innen, da den Kindern die Grenzen der Disziplinen noch nicht so vertraut sind. So haben sie die Möglichkeit, Elemente der Diskurse zu assoziieren und dissoziieren und ihre Betrachtung gegen die bestehenden Narrationen zu setzen. Wie das Forschungssetting von ABC zeigt, kann das undisziplinierte Verhalten der Kinder die zugeschriebenen Positionen der Beteiligten durchaus produktiv beunruhigen oder verschieben. Auch die Disziplinen zu überschreiten bedeutet, die Aufteilung des Sinnlichen im Sinne Rancières zu verschieben.14
D IE EMANZIPATIVE P ÄDAGOGIK L EHRMEISTERS
DES UNWISSENDEN
Der französische Gelehrte Jean Joseph Jacotot nahm 1818 eine Stelle für französische Literatur an der Universität im niederländischen Löwen an und lehrte dort Französisch, ohne selbst Niederländisch zu sprechen. Hierfür unterrichtete er nicht unmittelbar die unbekannte Sprache (es gab ja keine gemeinsame Sprache, in der er sie schrittweise hätte erklären können), sondern mithilfe einer mittelbaren Einwirkung, wie sie Walter Benjamin im proletarischen Kindertheater empfiehlt: Er gab den Student_innen eine zweisprachige Ausgabe des Telemachs, mit deren Hilfe sie sich Französisch selbst beibrachten. Die Student_innen mussten im Sprachvergleich 14 Mit der Aufteilung des Sinnlichen beschreibt Rancière die Verteilung des Sichtund Hörbaren im sozialen Raum. Sie zu überschreiten bedeutet, dass ein Teil ohne Anteil an der Aufteilung des Sinnlichen seine Stimme einfordert und somit die bestehende Ordnung untergräbt, im Gegensatz zu einer Verschiebung oder Umverteilung, in der das Entscheidende bereits festgelegt ist, nämlich wer zur Aussage berechtigt ist (Rancière 2006).
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das Buch lesen, es immer wieder wiederholen und schließlich auf Französisch schreiben, was sie über das dachten, was sie gelesen hatten. Die einzige Regel war, dass die Student_innen in der Lage sein mussten, alles was sie sagten an die Materialität des Buches zurückzubeziehen, stets im Buch zu zeigen, worüber sie sprachen. Der Erfolg überraschte Jacotot selbst. In seinem Buch Der unwissende Lehrmeister, das interessanterweise den selbstreferentiellen Untertitel »Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation« trägt, beschreibt Jacques Rancière die einflussreiche und viel diskutierte pädagogische Methode von Jacotot; sie wird zu einer Art Urszene, aus der heraus Rancière eine Pädagogik entwickelt. Mit Jacques Rancière lässt sich konkreter als mit Benjamins Aufsatz aufzeigen, was das Problematische an einem traditionellen pädagogischen Verhältnis ist. Während bei Benjamin die Perspektive auf eine emanzipatorische Veränderung dieses Verhältnisses sehr utopisch bleibt, einem messianischen Moment gleichkommt, finden sich bei Rancière ganz konkrete Handlungsmöglichkeiten. Auch wenn Rancière sich in dem Text, den ich im Folgenden behandle, auf das Verhältnis zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen bezieht, lässt er sich auf die Situation eines Kindertheaters als Ort der Forschung übersetzen. Rancière nimmt die Erfahrung Jacotots als Ausgangspunkt, um die Gleichheit aller Intelligenzen zu postulieren. Das traditionelle Unterrichtssystem, das institutionell zwischen koordinierendem Lehrer und subordiniertem Schüler unterscheidet, führt seiner Meinung nach zu einer Verdummung des Schülers, da die Kluft zwischen Wissenden und Unwissenden nie geschlossen werden kann. Der Lehrende entscheidet, was der Schüler bereits weiß, was er verstanden hat und was noch zu lernen ist und hält dadurch die Distanz zu ihm stets aufrecht (Rancière 20092, 15). In seiner Wiederentdeckung der Methode Jacotots, die dieser vor dem Hintergrund der Französischen Revolution entwickelte, stellt Rancière das Erklären an sich in Frage und untersucht, auf welchen Implikationen jene Methode beruht. Das Erklären produziert eine unauflösbare Wissenshierarchie, in der der Schüler schrittweise angewiesen wird und in kleinen Abschnitten vom Kleinen zum Größeren, vom Einfachen zum Komplexen fortschreitet. Der Lehrer suggeriert, dass seine Erklärungen leichter zu verstehen seien als das Buch, das er erklärt. Er legt nahe, dass seine Worte mehr sind als Worte, dass sie gleichsam Passworte sind, die in der Lage sind, ein Wissen aufzuschließen, auf das der Schüler ohne sie nicht zugrei-
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fen kann. Doch nicht nur die erklärende, auch die auf Sokrates zurückgehende mäeautische Methode, nach der der Lehrer dem Schüler zu einer Erkenntnis verhilft, indem er ihn durch geeignete Fragen dazu veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden, stellt Rancière als verdummende Methode heraus. Hier wird lediglich die Lernprozedur verändert, nicht die Prinzipien, auf denen sie basiert. Denn auch der mäeautischen Methode liegt die Vorannahme zugrunde, es gäbe zwei Arten der Intelligenz, eine unter- und eine überlegene; die des Kindes und des gemeinen Mannes, die Wahrnehmungen zufällig aufliest, bewahrt und interpretiert und die des Lehrers oder Gebildeten, die methodisch vorgeht. Laut Rancière geht es nicht darum zu beweisen, dass alle Intelligenzen gleich sind, sondern zu erkennen, was sich unter der Annahme, alle Intelligenzen wären gleich, ereignen kann. Für diese Annahme genügt es, dass das Gegenteil nicht bewiesen ist (Rancière 20092, 56). Die Methode der Selbstaneignung von Wissen, die Rancière entfaltet, geht davon aus, dass ›Alles in allem‹ ist: Alles ist im Buch, nichts ist dahinter versteckt; alles ist offenbar. Man kann an jedem beliebigen Punkt anfangen, sich Wirklichkeit zu erschließen. Der Schüler entscheidet selbst, wie und wann er welches Wissen daraus schöpft. Daraus folgt, dass der Lehrer auch unterrichten kann, was er selbst nicht weiß. Intelligenz existiert, wenn jeder Einzelne in seinen eigenen Worten erzählt und die Mittel bereitstellt, zu verifizieren, dass etwas geleistet wurde. Das Dritte, das zwischen die Erwachsenen und die Kinder geschaltet ist, und das bei Benjamin und in der Analyse von ABC relevant war, findet sich bei Rancière wieder. Die Mittel, die zwischen den beiden gleichberechtigten Instanzen stehen, zwischen Lehrer und Schüler (wie zum Beispiel die zweisprachige Ausgabe des Telemachs) sind zum einen eine Brücke, ein Übergang, auf dem die Intelligenzen sich treffen können, sie wahren aber auch Distanz (Rancière 20092, 45). Sie sind inter-essant – das verbindende Element, auf das sich alle Beteiligten im Forschungsgeschehen beziehen. Die Beziehung, die zwischen dem Aufmerksamen und dem Dritten besteht, auf das er seine Aufmerksamkeit richtet (und die auch zwischen dem Lehrer und dem Dritten besteht), enteignet den Lehrer, der nun nicht mehr den alleinigen Zugang zu ihm besitzt. Das Dritte erlaubt es dem Lehrer und dem Schüler, als gleichberechtigt zu erscheinen. Es ist der egalitäre Link zwischen ihnen, sie sind beide in ihrer Beziehung zu ihm austauschbar, aus ihrer konventionellen, hierarchisch definierten Position gerückt.
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Was die Intelligenzen unterscheidet ist die Aufmerksamkeit, mit der sie sich dem Mittel zuwenden. Was ein erfolgreiches Lernen ausmacht, ist die Dringlichkeit, die der Lernende empfindet (zum Beispiel Kleinkinder treten nach Rancière der Welt, die sie entdecken, mit dieser Dringlichkeit entgegen, vgl. Rancière 20092, 65). Des Weiteren ist die Wiederholung von Bedeutung: Für Rancière besteht Lernen aus einer Bewegung der ständigen Repetition, des Schreibens und Wiederschreibens, der Übersetzung und Gegenübersetzung. Obwohl es sich hierbei also um Praktiken der Wiederholung handelt, so sind sie dennoch verändernd, denn das gemeinsame Dritte, auf das Lehrer und Schüler sich beziehen, ist kein Objekt des Wissens, kein Lernelement, dass sich auf die soziale Ordnung bezieht und dort einrichtet. Vielmehr ist das Lernen das Verfahren, dass die Dinge oder Objekte aus ihrer geläufigen Verwendung in der sozialen Ordnung herauslöst. Insofern stellt sich dieses Lernen als Forschen dar, da es auf neue Erkenntnisse, neue Verknüpfungen und Perspektiven abzielt. Im Beispiel ABC wurde dementsprechend der Schulalltag wiederholt, zugleich aber (durch die Dopplung, die Rahmung als Theater) aus seiner Struktur und Hierarchie gewunden – die Forschenden haben ihn für sich übersetzt, mitgeteilt und (zumindest temporär) verändert. Des Weiteren entfaltet Rancière ein ästhetisches Paradigma von Lehre: Lernen als poetisches Verfahren. Hier lässt sich eine weitere Verbindung zu Walter Benjamin finden, denn für den Typus von Pädagogik, den beide jeweils entwickeln, steht die Kunst Modell. Bei Walter Benjamin ist es das Kindertheater als Rahmen, in dem die Erziehung stattfindet; Rancière sieht die übersetzende, wiederschreibende Tätigkeit, die seine Pädagogik grundiert, auch bei Künstlern, bei Poeten zum Beispiel. Der Poet befindet sich in einer aufmerksamen Grundhaltung für sein Sprechen, er analysiert, übersetzt und seziert Ausdrücke anderer, er produziert eine Spannung, die nicht in der Übermittlung von Wissen besteht. Sein Sprechen ist eine Einladung an Andere hinzuhören, ihre Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, die Worte wieder zu übersetzen und darüber zu sprechen, nachzudenken. Seine Worte sind keine Passwörter, sondern nur Wörter: »Der Künstler braucht die Gleichheit, wie der Erklärende die Ungleichheit braucht« (Rancière 20092, 81). Weiter sind bei Rancière wie bei Benjamin diese Lernpraktiken nicht nur Praktiken des Geistes, sondern auch des Körpers (Rancière 20092, 69 f, 71). Wo bei Benjamin im Kindertheater die Bedeutung der Geste und des
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körperlichen Begreifens unterstrichen wird, betont Rancière, dass der Körper involviert ist, wenn ein Text oder anderes Material be-griffen wird. Der emanzipierende Generalstreik Entgegen der traditionellen emanzipatorischen Politik geht es Rancière nicht darum, die Ungleichheit zwischen dem wissenden Lehrer und dem unwissenden Schüler zunächst zu erkennen, um sie dann aufzuheben; vielmehr möchte Rancière die Verbindung zwischen Emanzipation und Wissen selbst und die implizite Grenze, die diese setzt, aufheben oder verschieben. Denn jede Feststellung von Ungleichheit produziert einen Abstand: den Abstand zwischen aktueller Ungleichheit und zukünftiger Gleichheit, der ständig aktiviert und bestätigt wird. Ungleichheit kann und soll nicht graduell aufgehoben werden. Grundsätzlicher verweigert Rancière, einer Person einen bestimmten Platz in der sozialen Ordnung zuzuschreiben. Diese Unterscheidung zwischen dem emanzipativen Akt, der in der Entscheidung besteht, von der Prämisse der Gleichheit aller Intelligenzen auszugehen, und einer Emanzipation, die bemüht ist, graduell die Ungleichheit aufzuheben, gleicht jener Differenzierung, die Benjamin zwischen dem politischen Streik und dem Generalstreik macht. Was bei Benjamin die messianische Qualität eines zu-kommenden Ereignisses einnimmt, das nicht zu bestimmen und nicht intentional herbeizurufen ist, wird bei Rancière konkret: Gleichheit ist der Punkt, von dem aus er beginnt zu denken. Sie ist eine Praxis, kein Ziel in ferner Zukunft. Gleichheit ist eine Forderung und eine Behauptung; dabei unterschlägt Rancière aber nicht bestehende Unterschiede, sondern vollzieht immer wieder die Probe, Ungleichartiges als äquivalent zu behaupten. Anhand der Punkte der Adressierung, des Nichtwissens, der Integration unterschiedlicher Interessen, der Übersetzung, der verschiedenen Arten der Wissensgenerierung, der Rolle eines Dritten und der Auswirkung von Undiszipliniertheit habe ich beschrieben, wo sich eine solche Gleichheitsbehauptung in einer transdisziplinären Forschung mit Kindern finden lässt. Emanzipation bedeutet bei Rancière, dass man sich Handlungsweisen, Arten des Denkens und Sprechens aneignet, die einem nicht von Geburt, Gesellschaft oder Politik zugeeignet waren. Der Akt der Emanzipation unterbricht die Übereinstimmung in Bezug auf die Gegebenheiten, die die aktuelle Situation präfigurieren.
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Wie in der proletarischen Pädagogik Walter Benjamins soll die emanzipatorische Pädagogik bei Rancière die Form einer ›leeren Lehre‹ annehmen, einer Erziehung, die nicht zu etwas erzieht; es zählt nicht, was gelernt wird, nur dass gelernt wird. Das lässt sich auch auf die Forschung beziehen, die durch den Rahmen definiert wird, nicht durch den Gegenstand (den sie per definitionem nicht kennen kann). Wichtige Elemente der Lehre Benjamins und Rancières sind die Sachen, die »reinen Mittel« auf die sich Lehrer und Schüler beziehen, die mittelbar zwischen beide geschaltet werden und deren Materialität eine eigenständige Funktion in der Pädagogik einnimmt. Wie bei Benjamin der Spielleiter, ist der Lehrer bei Rancière weiterhin notwendig. Auch wenn er nicht erklärt, so lehrt er dennoch (Rancière 20092, 20). Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist unentbehrlich, unter der Bedingung aber, dass der Lehrer lediglich mit seinem Willen auf den Willen des Schülers Einfluss nimmt, Motivation zum Lernen hervorruft und nicht mit seiner Intelligenz auf die Intelligenz des Schülers wirkt. Seine Aufgabe ist es, etwas zur Aufmerksamkeit des Schülers zu bringen und damit auch seine eigene Aufmerksamkeit auf dieses Etwas zu richten. Zudem begeben sich Lehrer und Schüler in einen Prozess der beständigen Verifikation, der darin besteht, die Aufmerksamkeit zu prüfen und das Gesagte stets im Material zu bestätigen. Diese Aspekte – die Aufmerksamkeit, die Beziehung zum Material und die Verifikation – bestehen aus Akten der Übersetzung und Gegenübersetzung. Sicherlich ist in Frage zu stellen, inwieweit sich im Forschungssetting von ABC wirklich eine emanzipative Pädagogik ereignete. Denn während einerseits die hegemonialen Strukturen undiszipliniert auf den Kopf gestellt wurden, sind andererseits die politischen Verhältnisse zwischen Lehrenden und Lernenden vollkommen unangetastet geblieben. Und auch die emanzipatorische Pädagogik Rancières soll nicht in die gesellschaftliche und staatliche Organisation eingreifen (Rancière 2002, 46), sondern Selbstzweck bleiben. Damit ist sie dem Feld der Politik insofern entzogen, als der Rahmen, in dem sie stattfindet, bereits feststeht;15 die Gleichheit der menschli 15 Rancière definiert Politik als den Moment, in dem die Aufteilung des Sinnlichen zur Disposition steht, der Rahmen selbst ausgehandelt wird: »Die Politik existiert, wenn die natürliche Ordnung der Herrschaft unterbrochen ist, durch die Einrichtung eines Anteils der Anteilslosen« (Rancière 2002, 24). Er stellt der Politik die Polizei gegenüber, deren Funktion es ist, die Ungleichheit in der Ver-
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chen ›Natur‹ wird von den gesellschaftlichen Verhältnissen entkoppelt. Auch bei Walter Benjamin bleibt die proletarische Pädagogik der Politik entzogen. Sie ist eine Pause im Alltag oder im System, sie wird ganz dem begrenzten Bereich des Theaters zugedacht. In beiden Ansätzen wird die Pädagogik in die Konzeption eines Raumes versetzt, der von den bestehenden Machtverhältnissen befreit, als ein Außen zu den hegemonialen Unterdrückungsverhältnissen gedacht wird. Eine Enteignung der Künstlerin, des Lehrers, der Forscherin sowie der Schülerin ist immer Teil des Forschungsprozesses in der hier untersuchten Arbeitsweise – in manchen Momenten, wie in der zuvor beschriebenen Situation, kann er ereignishaft aufscheinen und die aktuelle Situation wirklich neu ordnen. Diese Kippsituationen können aber nie vollständig verwirklicht werden, sie müssen in Form einer Verheißung, einer Potentialität die unendliche und unmögliche Aufgabe der Pädagogik, des Kindertheaters und der transdisziplinären Forschung bleiben. Mittel und Vermittlung Die Konzeptionen von Mittel und Mittelbarkeit bei Benjamin und Rancière lassen sich aus Perspektive des praktischen Beispiels als Kritik am Konzept der Vermittlung lesen. Denn während »Vermittlung das vorauszusetzen scheint, was es zu vermitteln gilt« (Peters 2011, 13), steht in der transdisziplinären Forschung das Ergebnis der Arbeit noch nicht fest. Auf den Forschungsgegenstand beziehen sich die Beteiligten gleichermaßen und unvermittelt; die Forschungsergebnisse lassen verschiedene Arten von Wissen und verschiedene Zugänge zu. Rancière beschreibt die Notwendigkeit einer Veränderung des pädagogischen Verhältnisses, in der die Logik der Unterweisung unterlaufen wird; auch bei Benjamin findet sich der Entwurf einer pädagogischen Praxis, die das Kind emanzipiert. In dem Beispiel der Arbeit an ABC habe ich einige Momente aufgesucht, in denen mit Blick auf die Schüler_innen das pädagogische Verhältnis durch die forschende Praxis verändert wurde. Teil eines pädagogischen Verhältnisses sind aber notwendigerweise auch die Erwachsenen (in Bezug auf den Forschungsgegenstand Schule vor allem die Leh teilung der gesellschaftlichen Anteile festzuschreiben, die Existenz der Anteillosen zu verschleiern.
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rer_innen, in Bezug auf die Theaterarbeit aber natürlich auch Künstler/Dramaturgin). Kann das Beispiel ABC die theoretischen Konzeptionen mit Blick auf die Lehrenden/Spielleiter_innen/Erwachsenen erweitern? In der beschriebenen Situation sind die Lehrer_innen selbst Teil der Versuchsanordnung. Wie die Schüler_innen spielen sie sich selbst. Die Rahmung der alltäglichen Situation im Klassenraum aber eröffnet eine Distanz zur gewohnten Konstellation; im Spiel wird diese sogar noch überspitzt. So wird auch für die Lehrenden erfahrbar, dass Raum und Zeit für die Erwachsenen im System Schule ebenso diszipliniert und reguliert sind wie für die Schüler – dass auch ihnen der Klassenraum, die Schulglocke gilt: Dementsprechend schloss die Arbeit für ABC auch mit einem Monolog, in dem der Lehrer von seinen eigenen Erfahrungen mit der Schule berichtete, von Freud und Leid, Unterweisung und Unterworfenheit, Einschluss und Ausstieg. Eine weitere Verschiebung besteht darin, dass die Spielleiter (Künstler/Dramaturgin) zu der Schüler-Lehrer-Konstellation hinzutreten. Ihnen gegenüber sind Schüler_in und Lehrer_in in derselben Situation eines Forschersubjekt/-objekts. Auch für die Spielleiter_innen wurde die eigene Position im System Kunst auf der Grenze zwischen disziplinierendem Eingreifen, beobachtendem Geschehenlassen, zwischen Wahl und Entwicklung eines Experimentalsystem, Kunstvermittlung, szenischer Forschung und künstlerischer Setzung sichtbar und manchmal prekär. Wann greift man ein und wer ist man, wenn man eingreift? Was geschieht (mit einem), wenn man einen Theaterrahmen herstellt, indem man eine Schulglocke läutet? Nimmt man die Rolle der Lehrerin ein, wenn der Lehrer Lehrer spielt? Kann man sich dem Disziplinieren entziehen? Ist man Teil des Experimentalsystems, Teil des Untersuchungsgegenstandes »Schule als System«, Beobachterin oder teilhabender Beobachter? Gehört das Theaterprojekt zum System Schule oder bleibt es diesem äußerlich? Ihren Höhepunkt hatte diese Verunsicherung für mich in einem Moment in der Pause, in dem die Kinder wild umherliefen, Türen schmissen, Dinge zerrissen, riefen und weinten … und ein Schüler durch den Klassenraum rannte, einen Stuhl drohend über den Kopf schwenkend, und schrie: »Das ist doch alles nur Theater! Alles nur Theater!«. Eine Aussage, die ohne Zweifel die Situation treffend beschrieb und zugleich – in Anbetracht der tatsächlichen Bedrohung – darstellte, dass im Spiel auch einiges auf dem Spiel steht; das in einem begrenzten Gebiet das ganze Leben ergriffen sein kann.
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L ITERATUR Benjamin, Walter (1978): Briefe. Bd. II. Hg. von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt/Main. Benjamin, Walter (1991a): »Über das mimetische Vermögen«, in: ders.: Gesammelte Schriften. II/1. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main, S. 210–213. Benjamin, Walter (1991b): Gesammelte Schriften. III. Hg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt/Main. Benjamin, Walter (1999a): »Programm eines proletarischen Kindertheaters«, in: Gesammelte Schriften. Band II.2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/Main, S. 763–769. Benjamin, Walter (1999b): »Zur Kritik der Gewalt«, in: Gesammelte Schriften. Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hgg.): Gesammelte Schriften. II, 1. Frankfurt/Main, S. 179–204. Burk, Karin (2009): »Aspekte der Geste im Kindertheatermodell Walter Benjamins.«, in: Westphal, Kristin/Liebert, Wolf-Andreas (Hgg.): Gegenwärtigkeit und Fremdheit. Wissenschaft und Künste im Dialog über Bildung. München/Weinheim, S. 185–192. Hamacher, Werner (1994): »Afformativ. Streik«, in: Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Was heißt darstellen?. Frankfurt/Main, S. 340–371. Huber, Jörg (2009): »Inszenierungen und Verrückungen. Zu Verfahrensfragen einer Forschung des Ästhetischen«, in: Bippus, Elke (Hg.): Kunst des Forschens. Praxis eines ästhetischen Denkens. Zürich, Berlin, S. 207–216. Klein, Gabriele (2007): »Tanz in der Wissensgesellschaft«, in Gehm, Sabine/Husemann, Pirkko/von Wilcke, Katharina (Hgg.): Wissen in Bewegung. Perspektiven der künstlerischen und wissenschaftlichen Forschung im Tanz. Bielefeld, S. 25–36. Peters, Sibylle (2011): Der Vortrag als Performance. Bielefeld. Polanyi, Michael (1985): Implizites Wissen (The Tacit Dimension. New York 1967). Frankfurt/Main. Rancière, Jacques (2002): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie (La Mésentente. Paris 1995). Frankfurt/Main. Rancière, Jacques (2006): Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien Le Partage du sensible. Paris 2000). Hg. von Maria Muhle. Berlin.
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Jenseits des Musters Forschung in der Materials Library Z OE L AUGHLIN
ANNÄHERUNG
AN
O BJEKTE
In Das Kapital (1867) analysiert Marx die Wirkung der kapitalistischen Ökonomie auf die Dinge: Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding (MEW 1956ff Bd. 23, 85)
Marx argumentiert weiter, dass Dinge als Waren den Status eines Fetischs erhalten, der sich aus dem Geldwert ergibt, für den sie stehen, und nicht aus ihrer Sinnlichkeit oder Nützlichkeit als Dinge. Mit der Unterscheidung zwischen dem Tauschwert und dem Gebrauchswert postuliert Marx einen Gegensatz zwischen der Schaffung eines Objekts im Sinne der Bearbeitung von Materialien im Hinblick auf Funktion und Gebrauch einerseits und dem Status eines Objekts als handelbare Ware mit einem abstrahierten und fetischisierten Wert andererseits. Der Wert der fetischisierten Ware steht Marx zufolge nicht mehr in Relation zu den Prozessen von Arbeit und Produktion. Demnach trennt das kapitalistische System der mechanisierten und industrialisierten Produktion die Produzent_innen von den Benutzer_innen
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und beide von den Hersteller_innen eines Objekts. So wird die Soziabilität von Objekten verändert; die materiellen Beziehungen zwischen den Menschen und die sozialen Beziehungen zwischen den Dingen werden verschleiert. Im Ergebnis erscheinen die Dinge den Konsument_innen als ›ready-made‹, auf wundersame Weise komplett, in Regalen angeordnet und mit einem Tauschwert versehen, nicht jedoch als etwas, das aus einem konkreten System der Arbeit hervorgeht und das im Zuge der Verhandlungen zwischen Macher_innen und Benutzer_innen mit einem dynamischen Gebrauchswert versehen ist. Um die Beziehungen von Materialien, Objekten, Macher_innen und Benutzer_innen jenseits dieser Problematik der Warenförmigkeit zu untersuchen, wurde 2005 die Materials Library, die Bibliothek der Materialien, gegründet. Aus ihr ging 2011 das Institute of Making hervor, das gegenwärtig am University College London angesiedelt ist.1 Das Institute of Making beziehungsweise die Bibliothek der Materialien, die auch weiterhin das Herzstück des Instituts bildet, soll es Macher_innen und Nutzer_innen aus wissenschaftlichen, künstlerischen und anderen gesellschaftlichen Kontexten ermöglichen, Materialien und Objekten mit einer neuen Offenheit zu begegnen und gewissermaßen gemeinsam mit ihnen zu forschen. Der vorliegende Text führt in das einer solchen Bibliothek der Materialien zugrunde liegende Forschungsprogramm ein.2 Dazu wird zunächst das Konzept des Material-Objekt-Kontinuums erläutert. Es folgt eine Analyse beziehungsweise eine Kritik der Trope des Musters, die bisher die Präsentation von Materialien bestimmt hat, mit dem Ziel, Potentiale der Materialpräsentation jenseits des klassischen Musters auszuloten. Dabei spielt das Konzept des ›encounters‹, der Begegnung mit Materialien, eine entscheidende Rolle, im Kontext einer Ästhetik des Relationalen erläutert wird. Schließlich wird das Prinzip der Materialforschung qua Begegnung am Beispiel einer einzelnen Untersuchung, nämlich des Löffelprojekts, veranschaulicht.
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http://www.instituteofmaking.org.uk vom 20.11.2012. Dieser Text ist eine Übersetzung verschiedener Teile der bisher nicht publizierten Dissertationsschrift von Zoe Laughlin mit dem gleichnamigen Titel Beyond the Swatch. Übersetzt und zusammengestellt haben: Elise v. Bernstorff, Daniel Ladnar, Sibylle Peters und Esther Pilkington.
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D AS M ATERIAL -O BJEKT -K ONTINUUM Materialbibliotheken basieren weniger auf einer eindeutigen Definition von Materialien als auf der Ausstellung von Materialien, die sich durch eine besondere Beziehung zu Objekten auszeichnen, die Materialität von Objekten aufzeigen und schätzen. Sei es nun im Rahmen einer Mustersammlung von industriellen Baumaterialien oder in einer Sammlung von Einwegbechern, alle Ausstellungstücke einer Materialbibliothek treten als Objekte in Erscheinung. Das Oxford English Dictionary definiert ein Objekt folgendermaßen: object • n. 1 a material thing that can be seen and touched. > Philosophy; a thing external to the thinking mind or subject. – ORIGIN ME: from med. L. objectum »thing presented to the mind«. (Fowler/Fowler/Pearsall [OED] 1999)
Materialien werden demgegenüber vor allem durch konzeptionelle Modelle der Naturwissenschaft definiert, mit deren Hilfe ihre Verhaltensweisen und Eigenschaften vorhergesagt werden können. Das Periodensystem der Elemente ist ein solches konzeptionelles Modell, eine Karte der Materialien. Nehmen wir Kupfer als Beispiel: Man kann das Element im Periodensystem lokalisieren und daraus die Konfiguration von Protonen, Neutronen und Elektronen eines Kupferatoms ableiten. Mittels dieser Konfiguration lassen sich bestimmte Eigenschaften von Kupfer vorhersagen. Die hohe elektrische Leitfähigkeit von Kupfer beispielsweise ist ein direktes Resultat der Anzahl freier Elektronen im Leitungsband eines Gitters von Kupferatomen. Die Fähigkeit von Kupfer, als elektrischer Leiter zu fungieren, resultiert aus den Eigenschaften seiner Atome. Man könnte auch sagen: die Performativität des Kupfers findet Ausdruck in seiner Eigenschaft, der Leitfähigkeit. Dieses naturwissenschaftliche Modell von Kupfer ermöglicht die Klassifikation, sowohl von Dingen als Kupfer als auch von anderen Dingen als ähnlich zu Kupfer (andere Metalle). Das Konzept des Materials entspricht damit einem Idealtypus, der sowohl konkrete als auch theoretische Daten beinhaltet und so als ein Mittel zur Kommunikation von Materialeigenschaften dient (siehe Star/Griesemer 1989, 410). Objekte sind immer auch Materialien und umgekehrt. Dennoch gibt es einen gewichtigen Unterschied in der Bestimmung von Objekten und Mate-
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rialien. Wie lässt sich dieser Unterschied beschreiben und konzeptualisieren? Sobald etwas gegenständlich existiert, scheint es sich vom Konzept des Materials zu entfernen und hin zum Konzept des Objekts zu bewegen und umgekehrt. Dennoch ist es niemals nur Objekt oder nur Material. Objekt und Material sind einander nicht entgegengesetzt, vielmehr scheint es zwischen ihnen ein Kontinuum zu geben. In der Materials Library sprechen wir daher von Material-Objekten, die in einem Material-Objekt-Kontinuum existieren, um so die Vorstellungen von Formen und Funktionen immer schon ins Verhältnis zur eingelagerten Materialität zu setzen. »Material« und »Objekt« sind hier bewusst durch einen Bindestrich verbunden, um der Einschätzung Ausdruck zu verleihen, dass beide in ihrem Status fortwährend mit dem anderen verknüpft sind. Der Bindestrich schlägt auch graphisch ein Kontinuum vor: Eine Linie wird zwischen den beiden Wörtern gezogen; sie sind jeweils am Ende der Bindung platziert und stellen damit zugleich die zwei Säulen dar, auf denen die Theorie einer Bibliothek der Materialien ruht. Das Konzept des Kontinuums ermöglicht es, Materialien als theoretische Werkzeuge und als konzeptionelle Modelle zu verstehen, während Objekte Formen und Funktionen darstellen können. So gesehen existieren alle Dinge, existiert alles Zeug, entlang eines Material-Objekt-Kontinuums – mehr oder weniger Objekt, mehr oder weniger Material, niemals aber einfach Material oder einfach Objekt, niemals nur eine der beiden gängigen Abstraktionsformen der Dinge.
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Das Konzept des Musters ist vielen, die mit der Generierung, Beschaffung und Verwendung von Materialien zu tun haben, bekannt – sei es nun aus der Perspektive der Industrien und Manufakturen, der Designer_innen und Hersteller_innen, oder derjenigen, die für das Kuratieren in einer Materialbibliothek verantwortlich sind. swatch • n. 1 a piece of fabric used as a sample. > a number of these bound together. 2 a patch or area. – ORIGIN C16: orig. Scots and north England, of unknown origin. (Fowler/Fowler/Pearsall [OED] 1999)
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Traditionellerweise beschreibt der englische Begriff swatch Stoffstücke von gleicher Größe, die gebunden ein Musterbuch ergeben (ebd.). Solche Muster sind auch heute noch alltäglich in Kurzwarengeschäften, Teppichmärkten und Schneidereien zu finden. Im Laufe einer Weiterentwicklung seines Gebrauchs bezeichnet der Begriff heute darüber hinaus jegliche in Form von Bögen gleicher Größe präsentierten Materialien, die mit einer Kette, einem Ring, einer Schnur oder auf andere Weise zusammengebunden sind. Für Anbieter sowie Verbraucher von Materialien stellen Muster nützliche und effiziente Referenzobjekte dar, eine Möglichkeit, die vorhandene Auswahl von Materialien zu entdecken und zu vermitteln. In diesem Sinne sind Muster als eine Form von »boundary objects« zu sehen, die sich zwischen verschiedensten Gemeinschaften bewegen, »inhabiting several different social worlds and satisfying the informational requirements of each« (Star/ Griesemer 1989, 408 und 393). Während also die Rolle von Mustern als Werkzeugen der Vermittlung und Spezifikation von Materialien anerkannt werden muss, ist es wichtig, auch ihre Grenzen zu verstehen – insbesondere in Bezug auf ihre Beziehung zu Objekten und deren Benutzer_innen. Das Muster ist gewissermaßen die ultimative Ware für Materialieneinkäufer_innen; ein Produkt in sich selbst, das den Auswahlprozess von Materialien unterstützt. Es sagt jedoch nichts über die Beziehung eines Materials zur Funktionalität aus, also über die Rolle, die ein Material in der operativen Funktion eines Objektes spielen kann. Im Spektrum materieller Möglichkeiten und Kombinationen ermöglicht das Muster eine klare Einschätzung materieller Unterschiedlichkeit in Hinsicht auf Eigenschaften wie Erscheinungsbild, Ausführung und Beschaffenheit. Wie tiefgehend das Verständnis ist, das durch das Muster erreicht werden kann, ist fragwürdig, dennoch dominiert das Muster die konkrete Untersuchung von Material so nachhaltig, dass es als Trope der Materialuntersuchung nicht ignoriert werden kann. Können also andere Arten von Mustern entwickelt werden, die die strukturellen Phänomene im Material-Objekt-Kontinuum stärker in den Blick rücken? Standardmuster sind prinzipiell isometrisch im Unterschied zu isomorph: isometric • adj. 1 of or having equal dimensions 2 Mathematics (of a transformation) without change of shape or size. – ORIGIN C19: from Gk isometria ›equality of measure‹ (from isos ›equal‹ + -metria ›measuring‹).
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isomorphic • adj. 1 corresponding or similar in form or relations. (Fowler/ Fowler/Pearsall [OED] 1999)
Die isometrische Beschaffenheit von Standardmustern ermöglicht es, die Form der Materialbeispiele effektiv zu ignorieren, da der Fokus der Aufmerksamkeit auf den verwendeten Materialen liegt und nicht auf der Form, in denen diese gestaltet sind. Die Wirkung, die die Form eines Objektes auf Wahrnehmung und Verständnis eines Materials hat, ist jedoch zentral für das Erkennen des Material-Objekt-Kontinuums und damit auch ein zentraler Gesichtspunkt für die Einrichtung der Materials Library. Eine Möglichkeit, der Form und ihrer Beziehung zu Funktion und Materialität mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, besteht darin, eindeutigere Objekte als Formen zu verwenden und diese wie Muster zu behandeln – vervielfältigt in einer Vielzahl von Materialien. Es wird entsprechend ein Set von Gegenständen angelegt, die aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Dimensionen miteinander verbunden sind – isomorph statt isometrisch. Denkt man beispielsweise an einen Stuhl, so wird seine Form beibehalten, aber in einer Vielzahl von Materialien reproduziert. Damit wird hervorgehoben, dass die Performance des Stuhles untrennbar mit dem Material, aus dem der Stuhl gemacht ist, verbunden ist. Während die erkennbare Form eines Stuhles beibehalten wird, würde ein aus einem Schaum niedriger Dichte gefertigter Stuhl aufhören, als Stuhl zu funktionieren – als ein direktes Resultat seiner materiellen Eigenschaften. set • n. 1 a group or collection of things belonging or used together or resembling one another. > Mathematics & Logic a collection of distinct entities regarded as a unit, being either individually specified or (more usually) satisfying specific conditions. adj. 1 fixed or arranged in advance. – ORIGIN ME: orig. partly from OFr. sette, from L. secta ›sect‹, partly from OE settan. (Fowler/Fowler/Pearsall [OED] 1999)
Ist dies eine Möglichkeit, um im Zuge der Einrichtung einer Bibliothek der Materialien die Trope des Musters zu erforschen, zu erweitern und womöglich explodieren zu lassen? Lassen sich Sets von Material-Objekten generieren und zusammenstellen, die sowohl Beziehungen zwischen den Materialien innerhalb des Sets als auch Beziehungen zu anderen MaterialObjekten außerhalb des Sets aufzeigen?
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I N R ICHTUNG B EGEGNUNG Ein Hauptaspekt vieler Materialsammlungen ist die Ermöglichung von Berührung. Anders als im Museum ist es den Besucherinnen oder Benutzern nicht nur erlaubt, sie sind sogar dazu angehalten, die bereitgestellten Materialien zu berühren und physisch zu erfahren. Ein solches »Zusammenkommen« von Person und Material liegt auch der Vorstellung eines material encounters, einer Material-Begegnung zugrunde. Die MaterialBegegnung ist eine direkte physische Erfahrung, die die Prozesse der Untersuchung, der Beurteilung und des Gebrauchs von Materialien steuert: Ein Stück Kuchen aufzuheben und zu essen, ist in diesem Sinne eine Material-Begegnung; eine Begegnung, die durch das Hinzufügen einer Gabel verändert werden kann, aber noch immer als Begegnung zu klassifizieren ist, dieses Mal zwischen dem Kuchen, der Gabel und dem oder der Essenden. encounter • v. unexpectedly meet or be faced with. 1 an unexpected or casual meeting. 2 a confrontation or unpleasant struggle. – ORIGIN ME: from OFr. encountrer (v.), encontre (n.), based on L. in – ›in‹ + contra ›against‹. (Fowler/Fowler/Pearsall [OED] 1999)
Den Begriff encounter/Begegnung zu verwenden, um das Zusammenkommen von Materialien und Menschen zu rahmen und zu beschreiben, zielt darauf ab, die Rolle des Unerwarteten in einem solchen Treffen und die Möglichkeit einer konfrontativen Erfahrung zu unterstreichen. Konfrontation sollte hier verstanden werden als ein Verhaftet-Sein oder Verweilen der Sinne, als ein Moment, in dem wir etwas anderes als das Gewohnte bemerken, erkennen und betrachten können, ein Szenario, in dem ein unerwartetes Ereignis, eine unerwartete Entdeckung oder Erfahrung unsere Existenz unterbricht und zu einem bewussten Wahrnehmen von Materie führt. Jeder, der Materialien begegnet, wird dies auf eine eigene Art tun, die den persönlichen Wünschen, Hemmungen, der Wissensbasis, den Empfindungen und Vorstellungen entspricht. Doch obwohl all dies offensichtlich beeinflusst, wie man Materialien begegnet, sollte man doch auch die Rolle des Material-Objekts in dieser Begegnung nicht vernachlässigen. Das Material-Objekt selbst kann sich als Folge seiner Größe, seiner Form, seiner
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Eigenschaften und Verhaltensweisen für bestimmte Modi der Untersuchung anbieten, die wiederum bestimmte Arten der Begegnung ermöglichen. Um das Beispiel des Kuchens wieder aufzunehmen: Hier ist es wahrscheinlich, dass in einer Begegnung mit Kuchen dieser auch gegessen oder zumindest gekostet wird. Dadurch wird der Kuchen mit dem Mund auf eine Art und Weise in Kontakt gebracht, in der nicht-essbare Materialien das eher nicht werden. Als Material und als Objekt wird Kuchen als essbar und deshalb als angemessen für orale Untersuchung erkannt und verstanden. Andere Material-Objekte, wie zum Beispiel Verpackungschips aus Maisstärke, können ebenso gefahrlos verzehrt werden, dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Leute sie essen. Die Form und der Kontext, in der das jeweilige Material-Objekt im Allgemeinen vorgefunden wird, suggerieren, dass das Material ungeeignet für eine orale Untersuchung sei. Bedeckt man jedoch etwas sehr Ähnliches mit orangenem Käsearomastoff, erhält man die beliebten Cheesy-Puff-Snacks. In seinem Buch Relational Aesthetics verwendet Nicolas Bourriaud den Begriff relational art um eine Kunst zu beschreiben, die die größeren Zusammenhänge zwischen Menschen und Dingen, die den Kontext für die Kunsterfahrung bieten, versteht, untersucht und anerkennt. Für Bourriaud ist eine relationale Ästhetik eine, in der der Kontext zum Material wird; eine Ästhetik, die »meetings, encounters, events, various types of collaboration between people, games, festivals, and places of conviviality, in a word, all manner of encounter and relational invention« als ästhetisches Objekt einbezieht, mit der Wahrscheinlichkeit, dass sie als solches betrachtet werden, »with pictures and sculptures regarded here merely as specific cases of a production of forms with something other than a simple aesthetic consumption in mind« (Bourriaud 2002, 28–29). Das Konzept der Begegnung ist zentral für eine relationale Ästhetik; Begegnungen zwischen Objekten und Objekten, zwischen Menschen und Objekten, und zwischen Menschen und Menschen. Für Bourriaud kann die Begegnung die Form einer physischen Erfahrung, einer Unterhaltung oder einer Situation haben, vor allem aber beinhaltet sie die Konstruktion von Beziehungen zwischen allen gegenwärtigen Aspekten, seien es Objekte oder Menschen (Bourriaud 2002, 47). Wenn das Kunstwerk sich der Definition entzieht – »is it a sculpture? an installation? a performance? an example of social activism?« (Bourriaud 2002, 25), ist es wahrscheinlich, dass es relational ist und die Begegnung als ein Produkt der Arbeit umfasst.
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Das Relationale ermöglicht eine Soziabilität von Objekten und Materialien und umfasst Beziehungen »between individuals and groups, between the artist and the world, and, by way of transitivity, between the beholder and the world« (Bourriaud 2002, 26). In theatre and cinema there is no live comment made about what is seen (the discussion time is put off until after the show). At an exhibition, on the other hand, even when inert forms are involved, there is the possibility of an immediate discussion, in both senses of the term. I see and perceive, I comment, and I evolve in a unique space and time. Art is the place that produces a specific sociability. (Bourriaud, 2002, 16)
Auch eine Bibliothek der Materialien kann eine spezifische Soziabilität produzieren, indem sie die Ausstellung von und die Begegnung mit Material-Objekten ermöglicht. Das Konzept der Begegnung ist entscheidend für die relationalen Vorgänge in einer solchen Bibliothek, da die Begegnung als relationaler Akt Soziabilität zwischen den Betrachter_innen und Interaktivität zwischen Betrachter_innen und Material-Objekten erzeugen muss. Bourriaud sieht das, was Künstler_innen herstellen, entweder als »a) moments of sociability« oder »b) objects producing sociability« (Bourriaud 2002, 33) und genauso kann das beschrieben werden, was in der Bibliothek der Materialien geschieht: Die Begegnung mit Materialien kann ein solcher Moment sein und die Material-Objekte selbst können Soziabilität zwischen Mensch, Material, Form, Objekt und Funktion produzieren. Der Entwurf einer Theorie der Material-Objekte, die Idee eines Material-Objekt-Kontinuums und die Vorstellung eines Nexus möglicher Material-Objekte konstituieren die Bibliothek der Materialien. Die Auseinandersetzung mit der Trope des Musters hat zudem ergeben, dass das Muster zwar die Auswahl von Materialien unterstützt, aber wenig tut, um andere Aspekte von Materialien herauszustellen. Sets von Material-Objekten herzustellen, die an die Methodologie des Musters anschließen, jedoch gleichzeitig die Beziehung von Material, Form und Funktion erkunden, ermöglicht die Erforschung des Material-Objekt-Kontinuums im Kontext einer Materialbibliothek. Im Zusammenhang mit dem Konzept der Material-Begegnung stellt sich nun die Frage: Wenn Objekte immer auch als eine Art der Zensur an ihrem Material verstanden werden können, ist es dann umgekehrt möglich,
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Formen zu finden, die dem Material Handlungsfähigkeit wiedergeben, ihm eine Stimme geben und Mittel, um seine Eigenschaften und Verhaltensweisen selbst darzustellen? Eine wesentliche Zielsetzung der Bibliothek der Materialien besteht demnach darin, Begegnungen mit spezifischen Material-Objekten zu entwerfen und zu inszenieren. Dabei wird untersucht, ob eine erweiterte Methodologie des Musters Parameter für Begegnungen bereitstellen kann, welche die Erforschung und Entdeckung der Materialien in den Vordergrund stellen. Mit anderen Worten: Kann die Bühne der Begegnung ein Ort sein, an dem der Gebrauchswert eines Material-Objektes erforscht werden kann als etwas, das sowohl funktional als auch imaginativ, sowohl kulturell als auch wissenschaftlich, sowohl theoretisch als auch real ist; ein Ort, an dem Material nicht als ein Produkt zum Kauf, sondern als Agent seiner eigenen Konzeptualisierung gewürdigt und erfahren werden kann?
Z UM B EISPIEL : L ÖFFEL Das folgende Projekt konzentriert sich auf die Form des Löffels und wendet die isomorphische Methode in der Material-Objekt-Herstellung auf die Produktion eines Sets von Löffeln an, die in der Größe identisch, aber unterschiedlich im Material sind. Dieses Set von Löffeln wird dann verwendet, um den Geschmack nicht-essbarer Materialien in formalen Tests zu untersuchen. Dabei wird das Elektrodenpotential der Materialien mit den durchschnittlichen subjektiven Geschmacksbewertungen der teilnehmenden Menschen verglichen; psycho-physikalische Messtechniken werden angewandt, um die Senso-Ästhetik von Geschmack zu erforschen. 1946 postulierte der italienische Architekt Ernesto Nathan Rogers (1909–1969) in einem Leitartikel der Architekturzeitschrift Domus, man könne durch die sorgfältige Untersuchung eines Löffels genug von der Gesellschaft begreifen, die diesen hergestellt hat, um zu verstehen, wie diese Gesellschaft eine Stadt entwerfen würde (Rogers 1946). Diese These stellt den bescheidenen Löffel ins Zentrum der von Menschen gestalteten Welt, sie erinnert uns, dass eine Untersuchung der Materialien und Prozesse, die in der Herstellung eines Löffels eine Rolle spielen, zugleich etwas über die ökonomischen, technologischen und ethischen Systeme der Gesellschaft offenbart, die diesen produziert hat. Was, zum Beispiel, sind die ökonomi-
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schen Strukturen, technischen Fähigkeiten und sozialen Sitten einer Gesellschaft, die in Massenproduktion Einweglöffel aus Polystyren herstellt? Für Deyan Sudjic, den Direktor des Londoner Design Museums, zeigt Rogers’ Aussage, dass »the spoon could be understood as a fragment of genetic code – a code that can grow into any kind of man-made artefact« (Sudjic 2008, 36). Als Objekt ist der Löffel im Zentrum des Lebens; füttert uns vom Säuglingsalter an, begleitet uns in der Vorbereitung, im Teilen und im Essen von Nahrung auf der ganzen Welt und ist damit ein kulturell signifikantes Artefakt, welches von einer wirklich großen Anzahl von Leuten erfahren wird (Petroski 1992). Obwohl er in vielen verschiedenen Formen, Größen und Materialien vorkommt, bleibt der Löffel auf Anhieb erkennbar und kontinuierlich nutzbar. Gewöhnlich aus Metall, Holz oder Plastik hergestellt, kann die Form gepresst, gegossen oder maschinell bearbeitet sein (Himsworth 1953). Für viele ist die Erfahrung von Geschmack verbunden mit Nahrung als Material, das in den Mund geführt wird, um verzehrt zu werden. Geschmacksrichtungen werden durch unsere Geschmacksknospen wahrgenommen, die sich auf der oberen Seite der Zunge befinden. Es gibt fünf wesentliche Geschmacksrichtungen: bitter, salzig, sauer, süß und umami (Ikeda 2002). Diese formalen Geschmacksrichtungen sind jedoch nicht die einzigen Komponenten von Sinneseindrücken, die mit dem Mund und der allgemeinen Erfahrung des Schmeckens assoziiert sind. Andere wichtige Faktoren sind Geruch, erfasst durch das Geruchssystem, Konsistenz, erfasst von Mechanorezeptoren, und Temperatur, erfasst von Thermorezeptoren (Lindemann 2001). Die Erfahrung von Geschmack in Bezug auf nicht-essbare Materialien ist bislang wenig untersucht worden. Die chemischen Aspekte des Geschmacks von nicht-essbaren Materialien werden jedoch meist im Hinblick auf ihr Redoxpotential diskutiert, in anderen Worten bezüglich der Anfälligkeit eines bestimmtes Material dafür, im Mund oxidiert zu werden (Bartoshuk 1978). Diese Potentiale sind für die meisten Metalle gemessen worden; und es wird angenommen, dass sie allgemeinen Tendenzen im Geschmack entsprechen: Metalle, die besonders anfällig für Oxidation sind, wie Kupfer und Aluminium, hätten demnach einen bemerkbar metallenen Geschmack, während Gold und Silber fast geschmackslos wären (Lawless et al. 2005). Dennoch gibt es bislang keine systematische Untersuchung der
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Beziehung zwischen empfundenem Geschmack und den physischen oder chemischen Eigenschaften von Materialien in fester Form. Mit anderen Worten: Man weiß wenig darüber, wie die Schmackhaftigkeit eines Löffels die Nahrung, die davon gegessen wird, beeinflusst oder wie der Geschmack von nicht-essbaren Materialen im allgemeinen beeinflusst, wie diese erfahren und wahrgenommen werden. Um hier zu neuen Erkenntnissen zu kommen, wurde der Löffel aufgrund seines eindeutigen Objektstatus als isomorphische Form gewählt. Im höchsten Maße erkennbar und direkt assoziiert mit Essen und Schmecken, bietet der Löffel eine materielle Form, die in den Mund zu nehmen den Forschungsteilnehmer_innen konzeptionell und physisch behagt. Die Löffel wurden aus folgenden Materialien gefertigt: Zink: Zink kommt in vielen Arten von Nahrung von Natur aus vor, die wichtigsten davon sind rotes Fleisch, Schalentiere, Getreideprodukte (wie zum Beispiel Brot und Weizenkeime) und Milchprodukte (wie zum Beispiel Milch und Käse). Kupfer: Elementares Kupfer ist in vielen Nahrungsmitteln zu finden, vor allem in Nüssen und Schalentieren, und wurde traditionell in Kochgeräten und Pfannen verwendet. Gold: Obwohl nicht von Natur aus in Nahrungsmitteln zu finden, kann Gold Nahrung beigefügt werden, ohne schädliche Wirkungen auf die Konsument_innen zu haben. Wenn es hinzugefügt wird, hat es die E-Nummer 175. Silber: Dieses Material wird seit Jahrhunderten aus kulturellen und ästhetischen Gründen für Besteck verwendet (Himsworth 1953). Wenn dieses Material gekostet wird, stellt es keinerlei Risiko für die Gesundheit dar. Es wird als ein Zusatzstoff gesehen, wenn es in Nahrung vorkommt, und wird auf Zutatenlisten mit der Nummer E174 gekennzeichnet. Zinn: Obwohl es nicht als notwendig für eine gesunde Funktionstüchtigkeit des Körpers angesehen wird, ist Zinn in vielen Nahrungsmitteln infolge ihrer Lagerung in Dosen zu finden.
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Edelstahl: Edelstahl ist das am häufigsten verwendete Material in der Herstellung von modernem Besteck (Himsworth 1953). Es kommt routinemäßig in Kontakt mit dem Mund beim Essen einer Vielzahl von Nahrungsmitteln. Es ist keine Studie bekannt, die von schädlichen Wirkungen von Edelstahlbesteck auf die Gesundheit berichtet. Chrom: Wird gewöhnlich in vielen Nahrungsmitteln und Multivitaminzusatzstoffen in Form von Chrom (III) vorgefunden und wird als essentiell für die normale Aktivität von Insulin angesehen. Die Begegnung mit den Löffeln wurde als eine formale wissenschaftliche Studie über die psycho-physischen Eigenschaften von Materialien inszeniert und veranstaltet. Die Löffel, als isomorphisches Set von MaterialObjekten, wurden für eine Begegnung präsentiert, um Messwerte über die menschliche Erfahrung des Geschmacks von Materialen zu sammeln, die dann dem Redoxpotential derselben Materialen gegenübergestellt werden konnten. 32 Teilnehmende verschiedenen Alters und Geschlechts wurden über die Mailingliste der Materials Library für die Studie angeworben. Acht Teelöffel (2 x Edelstahl, 1 x Zink, 1 x Kupfer, 1 x Gold, 1 x Silber, 1 x Zinn, 1 x Chrom) wurden zwischen zwei sauberen weißen Küchentüchern ausgelegt. Die Temperatur jedes Löffels wurde gemessen, ebenso die Raumtemperatur. Die Teilnehmer_innen saßen vor den noch zugedeckten Löffeln, um den Ablauf des Experiments zu besprechen. Sobald alle bereit waren anzufangen, wurde die Videodokumentation gestartet, und die Teilnehmer_innen verbanden sich selbst die Augen, um sicher zu gehen, dass das unterschiedliche Aussehen der Löffel nicht ihre Antworten beeinflussen würde. Dann wurden die Löffel enthüllt und der Stiel des ersten Löffels der Teilnehmerin in die Hand gedrückt, die dann die Laffe in den Mund nahm. Nachdem der Löffel sich drei Sekunden lang im Mund der Teilnehmerin befand, nannte die Leiterin des Experiments (die Autorin) der Teilnehmerin ein Adjektiv und bat diese, die Löffel auf einer Skala von 1 bis 7 zu bewerten (ein auf der Likert-Skala basiertes System). Folgende Adjektive wurden genannt: kühl, hart, salzig, bitter, metallisch, kräftig, süß und unangenehm. Wurde der Teilnehmer zum Beispiel gefragt, ob der Geschmack des Löffels süß sei, wurde er gebeten, einen Wert von 1 bis 7 anzugeben, wobei 1 »überhaupt nicht süß« und 7 »sehr süß« bezeichnete. Die Teilnehmer_innen waren außerdem aufgefordert, die Löffel vor dem Hintergrund ihrer Vor-
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erfahrungen mit Löffeln zu bewerten – erfragt wurde ihr Eindruck im Hinblick auf die Löffelartigkeit der Löffel zwischen Erwartung und konkreter Erfahrung. Im Laufe der Begegnung konnten die Teilnehmer_innen die Löffel nach Belieben aus und in den Mund nehmen, während sie über die Adjektive nachdachten und diese bewerteten. Ein Glas Mineralwasser in Zimmertemperatur und ein Auffangbehältnis für die Entledigung von Flüssigkeit standen allen Teilnehmer_innen zur Verfügung, so dass diese nach dem Schmecken der einzelnen Löffel trinken (und, wenn gewünscht, ausspucken) konnten, um ihre Gaumen zu reinigen und zu neutralisieren. Die Teilnehmer_innen waren instruiert, sicherzustellen, dass ihr Mund sich so neutral wie möglich anfühlte, bevor sie signalisierten, dass sie bereit seien, den nächsten Löffel entgegenzunehmen. Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin probierte die Löffel in unterschiedlicher, wahllos erstellter Reihenfolge – mit Ausnahme des ersten Löffels, der immer einer der zwei Edelstahllöffel war. Die zufällige Anordnung der Reihenfolge der zu kostenden Löffel stellte sicher, dass die Ergebnisse jegliche akkumulierende Wirkung eines solchen Kostens berücksichtigen würden. Die Edelstahllöffel waren in zweifacher Ausfertigung eingebunden, um die Wiederholbarkeit und Beständigkeit der blinden subjektiven Berichte der Teilnehmer_innen zu testen. Einen Löffel zweimal in derselben Testserie zu testen ermöglichte eine Kreuzkorrelation der Ergebnisse, um festzustellen, ob der Teilnehmer oder die Teilnehmerin beide Male auf die gleiche Art und Weise auf das Material reagierte. Die Reihenfolge der Adjektive, gemäß derer die Teilnehmer_innen die Löffel bewerten sollten, blieb während der gesamten Studie gleich. Durch die Aufzeichnung der durchschnittlichen Reaktion auf die Löffel und eine statistische Analyse der Ergebnisse konnten die folgenden Schlussfolgerungen gezogen werden: •
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Trotz der großen Unterschiede in ihren Elektrodenpotentialen wurden Gold und Chrom als die am wenigsten metallisch, am wenigsten bitter und am wenigsten kräftig schmeckenden Löffel angesehen. Zink und Kupfer waren die am unangenehmsten, kräftigsten, metallischsten, bittersten und am wenigsten süß schmeckenden Löffel. Bei den folgenden subjektiven Evaluationen konnte eine Abhängigkeit von der Reihenfolge festgestellt werden: kalt, süß und salzig. Dahinge-
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gen waren die folgenden subjektiven Evaluation mit großer Sicherheit nicht von der Reihenfolge beeinflusst: hart, bitter und metallisch. Das Adjektiv ›metallisch‹ korrelierte immer deutlich mit ›kräftig‹ und ›unangenehm‹, und in allen bis auf einen Fall mit ›bitter‹. Im Gegensatz zu den Erwartungen stellte sich heraus, dass ›süß‹ niemals mit ›bitter‹, ›unangenehm‹ oder ›kräftig‹ umgekehrt korrelierte. Eine Überraschung war auch, dass die Bewertung von Härte ausnahmslos mit Kühle zusammenfiel, obwohl es in zwei Fällen (bei Edelstahl und Zink) auch deutlich mit ›metallisch‹ korrelierte. ›Salzig‹ korrelierte auch stets mit kräftigen und gelegentlich mit bitteren oder metallischen Geschmacksrichtungen. Die Ergebnisse der Elektrodenpotentiale korrelieren offenbar nicht mit den subjektiven Bewertungen der Löffel, wobei eine Verwendung von Elekrodenpotentialwerten, die den Oxiden der jeweiligen Elemente entsprechen, stärkere Korrelationen liefern könnte.
Geschmack ist ein komplexes Phänomen, das physische sowie psychologische Mechanismen umfasst, die schwierig zu messen und noch nicht vollkommen verstanden worden sind. Dennoch konnten eine Anzahl von Schlussfolgerungen mit deutlichen Tendenzen bezüglich des Geschmacks von Materialien gezogen werden – Kupfer- und Zinklöffel treten dabei als am kräftigsten und unangenehmsten schmeckend hervor, Gold als am wohlschmeckendsten. Doch was lässt sich aus dieser spezifischen Verwendung der isomorphischen Methode über verschiedene Aspekte der Materialforschung selbst aussagen? Material-Objekte wie das Löffelset zum Apparat einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen, macht deutlich, dass diese MaterialObjekte nicht nur Gegenstand der Materialwissenschaft sind, sondern ihrerseits an der Hervorbringung wissenschaftlicher Erkenntnis mitwirken, indem sie dazu beitragen, Wahrnehmung und Erfahrung zu gestalten. Zudem verbindet sich in der Forschung mit Material-Objekten die wissenschaftliche Praxis mit einer eher auf den Gebrauchswert orientierten Form der Forschung. So könnte das Löffelexperiment in der seriellen Herstellung eines Sets von Material-Objekten münden, die erfahrbare Muster von Geschmacksrichtungen allgemein zur Verfügung stellt. Denn die Form der Löffel ermöglicht eine Verwendung der Muster in der Praxis, etwa indem ein Löffel als »bester Löffel« bestimmt wird, um zum Beispiel ein gekoch-
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tes Ei damit zu essen, einer, um Tee umzurühren, ein anderer für Kaffee und noch ein anderer zum Joghurtessen. So hat die Löffelforschung bereits die Aufmerksamkeit der Koch- und Designcommunitys auf sich gezogen, beispielsweise mit einem Artikel in Chris Lefteris jährlicher Publikation über Material und Design, Ingredients, der ausführt: »if you stop and think about it, taste really does play an important role in many products…. milk tastes different coming from a plastic bottle, carton or glass bottle« (Liden 2009, 22).
R EFLEXIONEN Im Jahr 1922 beschäftigte sich der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty mit der Wahrnehmung von Objekten und stellte fest, dass »the real issue for a genetic phenomenology is how a particular size or shape takes precedence over all other apparent sizes and shapes as the size and shape of the object« (Bannan 1967, 103). In einer Bibliothek der Materialien spielt diese Frage der genetischen Phänomenologie eine Rolle, wenn es darum geht, welche Form für die Produktion von Sets von Material-Objekten gewählt werden soll. Die isomorphe Beschaffenheit der Material-Objekte verlangt, dass eine bestimmte Größe und Form typologischen Vorrang erhält und damit zum Vehikel der Präsentation von Material und der anschließenden Wahrnehmung wird. Wie jedes Material-Objekt war der Löffel nicht nur der Träger von kulturellen Bedeutungen, Konnotationen und Assoziationen, sondern auch ein Mittel, durch welches wissenschaftliche Aspekte seines Materials sich zeigen konnten. Merleau-Ponty stellt fest: »we must remember that the object is objected experiences, given to the subject not as a block but as a perspectival – ›porous‹ – reality that takes shape from the world as it is experienced« (Bannan 1967, 107). Auf ähnliche Art und Weise ermöglichen Begegnungen mit spezifischen Materialien und spezifischen Objekten, dass die Realität des Wechselspiels von Form, Funktion und Materialität hervortritt. Beim Schmecken der Löffel hatten alle Teilnehmer_innen ihre Augen verbunden, aber alle waren in der Lage, die Form als die eines Löffels wahrzunehmen. Die Form und die angewandte Funktion der Form bestätigten in Kombination durch die Aktivität des Schmeckens den Objektstatus des Löffels (den Eindruck des »tool-being« des Löffels (vgl. Harman 2002,
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293), während die materielle Beschaffenheit eines jeden Löffels die typische Wahrnehmung des Objektes in »the world as it is experienced« (Bannan 1967, 107) in Frage stellte. Die isomorphen Löffel wurden als LöffelObjekte angenommen, aber stellten gleichzeitig durch die wechselnden Materialitäten und die daraus resultierenden Wirkungen diesen Status in Frage. Während jeder Löffel eine adäquate Funktionalität für die physische Beförderung von Nahrung in den Mund bieten könnte, versagen einige in ihrer Funktion aufgrund ihres starken Geschmacks im Mund. Aristoteles fragte: »is the nature of a thing its matter or its form?« (Aristoteles 1996, 34). Im Kontext der in dem vorliegenden Beitrag geführten Diskussion kann eine solche Frage wie folgt abgewandelt werden: Ist die Natur des Löffels definiert durch seine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Material oder einer bestimmten Form? Und innerhalb des Paradigmas des Material-Objekt-Kontinuums würde die Antwort auf Aristoteles folgendermaßen lauten: Die Natur eines Dinges ist zugleich sein Material [matter] und seine Form, da beide untrennbar miteinander verbunden die funktionalen Beziehungen des Dinges produzieren, wie es in der Welt ausgeführt und gegenwärtig ist. Die Rolle des Kontinuums besteht darin, ein konzeptionelles Bezugssystem bereitzustellen, das die Wahrnehmung dieser Beziehung zwischen Materialien und Objekten ermöglicht. Die Funktion in der vieldimensionalen Verknüpfung von Material-Objekten zu berücksichtigen, heißt zugleich, die Performativität von Material-Objekten anzuerkennen. Denn ungeachtet der Frage, ob sich diese Performativität jeweils aus immanenten Eigenschaften oder hergestellten Attributen begründet, ist die Funktionalität des Material-Objektes offenkundig eine Form der »agency« (Knappett/Malafouris 2008), eine Antwort auf die Frage: Was tut dieses Material-Objekt beziehungsweise was kann es tun? Das Material-Objekt wird zu einem Schauplatz von Aktionen, die die performative Funktionalität sowohl des Materials als auch die performativen Möglichkeiten seiner Form umfassen. Im Zentrum einer solchen Aktivität steht die Verschmelzung menschlicher und nicht-menschlicher Elemente, bei der die agency aller Beteiligten im Moment der Begegnung anerkannt wird (Latour 1999, 180–183). Und auch wissenschaftliche Erkenntnisse über Eigenschaften von Materialien in Bezug auf verschiedene Geschmacksrichtungen sind ohne eine solche Begegnung und die darin wirksame performative Dynamik des Material-Objekts nicht möglich.
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In seinem Text We Have Never Been Modern von 1991 stellt der Soziologe und Philosoph Bruno Latour die These auf, ein Problem der heutigen Gesellschaft bestehe darin, dass »objects count for nothing« und »are just there to be used as the white screen on to which society projects its cinema« (Latour 1993, 53). In solch einer Landschaft von Objekten wird das Konsumieren des Produktes von den Modalitäten der Herstellung ebenso abgetrennt wie von einer Würdigung des Materials. Latours »White Screen«-Effekt lässt den Konsumenten auf der Oberfläche von Objekten spielen, mit ihnen als »Zeichen« umgehen (Baudrillard 2005) oder als Einheiten eines »Tauschwertes« (MEW 1956ff, Bd. 23), außerstande, sich eingehend mit dem Objekt zu beschäftigen und ein tiefergehendes Verständnis von Materialien und ihren Eigenschaften zu entwickeln (Ward 2008).3 Um der »White Screen«Wahrnehmung von Objekten entgegenzuwirken, erklärt Latour, dass »objects are not the shapeless receptacles of social categories«, sondern dass sie über eine eigene »agency« verfügen, die im Handeln miteinander und in der gegenseitigen Einwirkung eine ineinandergreifende Objekt-Welt erzeugt. Wie Harman wiederholt: »the world is a duel of tightly interlaced objects« und »behind every apparently simple object is an infinite legion of further objects« (Harman 2002, 296). Latour lädt uns ein »to rethink anew the role of objects in the construction of collectives« (Latour 1993, 55). Er verlangt nach einem »Parliament of Things« in dem »[object] natures are present, but with their representatives, scientists who speak in their name«, »societies are present, but with the objects that have been serving as their ballast for time immemorial« und alle Repräsentant_innen sprechen von dem, was sie kollektiv geschaffen haben, »the object-discourse-naturesociety« (Latour 1993, 144). Das Material-Objekt-Kontinuum und der daraus folgende Nexus von Material-Objekten ist eine Art, diese Dimension zum Ausdruck zu bringen. In einem Latour’schen Sinne könnte die Materials Library auch als ein »Parliament of Things« betrachtet werden. Der Nexus von MaterialObjekten, der die Sammlung einer solchen Bibliothek konstituiert, ermöglicht einer Demokratie der Objekte ihre materiellen Charakteristika auszustellen. 3
Ward, Jonathan (2008): »Materials in Art and Design Education«, in: www.iom3.org/fileproxy/37527 vom 21.11.2012.
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Hier verbinden Material-Objekte Menschen und Objekte aufs Neue in einer Begegnung, die den materiellen Formen Sensibilität und Soziabilität zurückgibt, und so genau das herstellt, was Marx als verloren bezeichnet hat: die materiellen Beziehungen zwischen Personen und die sozialen Beziehungen zwischen Dingen.
L ITERATUR Aristoteles (1996): Physics. Oxford. Bannan, John F. (1967): The Philosophy of Merleau-Ponty. New York. Bartoshuk, L.M. (1978): »History of Taste Research«, in: Carterette, E.C./Friedman, M.P. (Hgg.): Handbook of Perception. New York, S. 3– 18. Baudrillard, Jean (2005): The System of Objects (Le Système des objets. Paris 1968). London/New York. Bourriaud, Nicolas (2002): Relational Aesthetics. Dijon. Harman, Graham (1999): Objects-Oriented Philosophy. The Status of the Object in Social Science. Conference paper, Brunel University, UK. 11. September, 7 Seiten. Himsworth, Joseph Beeston (1953): The Story of Cutlery: from Flint to Stainless Steel. London. Ikeda, Kikunae (2002): »New Seasonings«, in: Chemical Senses. Vol. 27, 9. November, S. 847–849. Knappett, Carl/Malafouris, Lambros (2008): Material Agency. Towards a Non-Anthropocentric Approach. New York. Latour, Bruno (1999): Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies. Cambridge, MA. Latour, Bruno (1999): We Have Never Been Modern( Nous n’avons jamais été modernes. Essai d’anthropologie symétrique. Paris 1991). Cambridge, MA. Lawless, H. T./Stevens, D. A./Chapman, K. W./Kurtz, A. (2005): »Metallic Taste from Electrical and Chemical Stimulation«, in: Chemical Senses. Vol. 30, 3. März, S. 1–10. Liden, Daniel (2009): »The Mouth as an Investigative Tool: A new projects at King’s College London explores the role of taste in design«, in: Ingredients. Vol. 4, S. 20–23.
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Lindemann, Bernd (2001): »Receptors and Transduction in Taste«, in: Nature. Vol. 413, S. 219–225 (13.09.2001). MEW (Marx-Engels-Werkausgabe) (1956ff): Bd. 23. Berlin. Fowler, H.W./Fowler, F.G./Pearsall, Judy (Hgg.) (1999): The Concise Oxford Dictionary. Oxford. Petroski, Henry (1992): The Evolution of Useful Things. New York. Rogers, Ernesto Nathan (1946): »Editorial«, in: Domus. Vol. 215, November. Star, Susan Leigh/Griesemer James R. (1989): »Institutional Ecology, ›Translation‹ and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley’s Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39«, in: Social Studies of Science. Vol. 19, Nr. 3, S. 387–420. Sudjic, Deyan (2008): The Language of Things. London et al.
Das Ende der Autonomie. LIGNA 1995-2002 O LE F RAHM Der folgende Beitrag ist der Versuch, die Entstehung der Arbeit der Performance-, Kunst- und Radiogruppe LIGNA zu beschreiben, die den Teilnehmenden so selbstverständlich erschien, dass ihre nachträgliche Systematisierung leicht zur Geschichtsklitterung gerät. Eine solche Mythisierung kann große Freude bereiten, doch darf nicht vergessen werden, dass die Begehren, die zu etwas geführt haben könnten, was sich künstlerische Forschung nennen ließe, durchaus keine Kategorisierung, geschweige denn eine Institutionalisierung im Sinn hatten. Und so beliebt die Narrative des Gelingens auch sein mögen, die Liste der verlorenen Kämpfe in den letzten fünfundzwanzig Jahren – die Spanne, die im Folgenden überblickt wird – wäre zu lang, um sie auf den kommenden Seiten anzufertigen. ANEIGNUNG DER F ORSCHUNG – OHNE L EGITIMATION : V ORBOTEN POSTFORDISTISCHER Ö KONOMIE Wer in den späten 1980er, frühen 1990er Jahren in Hamburg Germanistik studiert hat, wurde mit vielen Zweifeln am Fach konfrontiert. Die Legitimation durch die Lehrerausbildung war perdu und die Philologisierung, die Rückbesinnung auf das nationale Erbe und die Kulturalisierung des Faches, diese Auswege mit viel weniger Lehrpersonal und mehr Elitismus, lagen noch in der Zukunft. Vor allem war die Frage unumgehbar, wodurch sich das wissenschaftliche Arbeiten auszeichnete. Überfüllte Seminare zu besuchen, Bücher zu lesen, die Forschungsliteratur zu sichten, Artikel zu
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schreiben – sind dies forschende Praktiken? Wie ließe sich mit ihnen in gesellschaftliche Prozesse eingreifen? Solchen Fragen legten es nahe, das Studium um eine politische Arbeit zu ergänzen, die nicht fachfremd war und versprach, die theoretisch diskutierten Topoi praktisch zu testen. Die Medientheorien von Walter Benjamin, Bertolt Brecht und der Frankfurter Schule dominierten die Auseinandersetzungen, hier und da schon ergänzt um Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Judith Butler. Was ist die Spezifität des jeweiligen Mediums? Wie lassen sich die Medien aneignen? Welche politischen Situationen könnten wir mit ihnen produzieren? Eine Antwort auf die Legitimationskrise der Germanistik war die Selbstorganisation der Studierenden in »Autonomen Seminaren«. Statt 40 bis 120 Teilnehmer_innen wie in den üblichen Kursen, die jede Diskussion verunmöglichten, trafen sich dort bis zu 25, die sich ihren Gegenstand selbst wählten: Comics, Ästhetik, Einstürzende Neubauten. Hier ging es darum, nicht nur den Gegenstandsbereich des Faches zu erweitern oder seine Konstitutionsbedingungen zu hinterfragen, sondern auch darum, schon als Studierender zu forschen. Denn bis heute ist dies deutlich getrennt. Die hauptamtlich lehrenden Professor_innen forschen, neuerdings gerne auch ohne jede Lehrverpflichtung, eine besonders zynische Auslegung der Freiheit von Lehre und Forschung, und die Studierenden hören und lernen, um nach ihrem Abschluss, nach ihrer Dissertation, nach ihrer Habilitation selbst hauptamtlich Professor_innen zu werden und damit Mitglieder der Forschungsgemeinde. Diese Theologie schien in einer Zeit an ein Ende zu kommen, in der nicht nur Häuser besetzt wurden, sondern die Autonomie als erstrebenswerte Gegengesellschaft eine gängige Perspektive politisch engagierter Studierender war. Nur gelegentlich ahnend, wie sehr diese Formen der Selbstorganisation ganz der zum Postfordismus sich wandelnden Ökonomie entsprachen, wurde darauf gesetzt, praktisch schon eine gewisse Gegenmacht, und sei es nur in der Aneignung von Wissen, zu etablieren, gewisse Schranken schon einmal ad acta zu legen und hier und jetzt mit der besseren Gesellschaft zu beginnen, im Sinne von Freiräumen, von denen aus im rechten Moment die revolutionäre Aneignung des Alltagslebens fortgesetzt werden könnte. Der Übergang von universitären Gruppen zu autonomen, der Übergang vom Campus zur Hamburger Hafenstraße und später zur Roten Flora, war Ende der 1980er Jahre fließend. Viele Studierende hatten keine Karriere im Sinn, sondern die Aneignung von nützli-
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chem Wissen, die Lust, Zeit in intellektuell anregendem Kontext zu verbringen, oder sie hatten nichts Besseres zu tun. F REIES R ADIO : DIE UNABHÄNGIGE U NIVERSITÄT MEDIALER P RAXIS Das Freie Sender Kombinat war Anfang der 1990er Jahre ein Zusammenschluss verschiedener Gruppen zum Zwecke der Eroberung einer lokalen Sendefrequenz. Nachdem in den späten 1980er Jahren das Projekt Radio St. Pauli unter anderem daran gescheitert war, dass es sich nicht bereit zeigte, einen im Sinne des Presserechts verantwortliche Person zu nennen, gebar sich das FSK von Anfang an zahmer, auch wenn es sich zum Teil aus denselben Leuten zusammensetzte, die sich zwar nach dem ersten Scheitern gespalten hatten, aber sich wenige Jahre später wieder zusammenfanden, um in getrennten Gruppen gemeinsam einen erneuten Versuch zu unternehmen. Dieser war erfolgversprechender, weil sich das FSK um Initiativen ergänzte, die gesellschaftskonformer erscheinen konnten, wie das Anfangs in Teilen ausbildungsorientiertere Uni-Radio, das sich nach dem mehrwöchigen Streik an den Universitäten 1988/89 gebildet hatte. Ein im übrigen erinnernswerter Streik, weil er als ein frühes Zeichen des Widerstands gegen den Umbau der Hochschulen gelesen werden kann, der sich unter dem Namen ›Bologna‹ dann zehn Jahre später Bahn brach. Das Ringen um eine lokale und nichtkommerzielle Frequenz in Hamburg lässt sich kaum als Kampf beschreiben, auch wenn in der linken Rhetorik eine solche Aufbauschung gerne gepflegt wird. Immerhin konnten die Aktivist_innen auf Radio Hafenstraße verweisen, ein Piratenradio, das 1987 mehrere Tage die neuesten Nachrichten über die drohende Räumung der Häuser sendete. Diese wenigen Tage wilden Sendens zu verstetigen dauerte dann sechs Jahre und brauchte eine entsprechende Insistenz, also die Leidenschaft und Intensität vieler, sehr verschiedener Menschen, die gleichwohl ohne das martialische antiimperialistische Gebaren inklusive »Boykottiert Israel. Strände, Waren, Kibbuzim« auskamen. Doch getragen war es von der kollektiven Überzeugung, dass es nach 1989 und dem Ende des real-existierenden Sozialismus um eine »transversale Wiederzusammensetzung des Bewegungssubjekts« gehen müsste, was vor allem die Auseinandersetzung mit der Niederlage in den Klassenkämpfen des 19. und
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20. Jahrhunderts meinte und eine Kritik auch an linken Herrschaftsformen mit ihrem Rassismus, Sexismus und Antisemitismus einschloss.1 Die Heterogenität des Senders wurde als Chance begriffen, sich über bestimmte, nicht nur für eine gewisse Szene relevante Fragen zu verständigen. Voneinander lernen, klüger werden durch gegenseitige Kritik jenseits des Parteisozialismus mit seinem repressiven Schema von Kritik und Selbstkritik, also eine undogmatische Debatte, die an den jeweiligen politischen Fragen orientiert ist, das zeichnete im Selbstverständnis vieler der Sendenden die Politik des Freien Sender Kombinats aus. Angesichts der Mühen, die Autonomie des Programms und des Senders zu erlangen, musste es schon überraschen, dass nach der Genehmigung einer Sechs-Tage-Frequenz 1998 und dann der Sieben-Tage-Frequenz 2002 die Formate, mit denen Radio gemacht wurde, keineswegs der Aufbruchsstimmung eigenen, stadtweiten Sendens entsprachen. Das meiste klang – von vielen Inhalten abgesehen – wie eine schlechtgemachte Version des öffentlich-rechtlichen Radios vielleicht der 1970er Jahre, ganz so als wären die Produzent_innen von einer Art Melancholie befallen und wollten das Radio ihrer Kindheit restituieren. Es gab Momente, die anders waren – die Live-Berichterstattung während eines Nazi-Aufmarsches gegen die Wehrmachtsausstellung 1999 beispielsweise, die immerhin ermöglichte, dass sich eine Gegendemonstration mit 2000 Menschen auf dem Campus der Universität Hamburg sammelte und so überhaupt durchgesetzt werden konnte – aber solche Momente waren eher rar (vgl. LIGNA 2011, 39f).
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Die erste Frage, die die Mitglieder der Gruppe umtrieb, die später unter dem Namen LIGNA auch über Hamburgs Grenzen hinaus beachtet wurde, war, wie sich die Hörer_innen in Sendende verwandeln ließen und zwar nicht nur wie es im Anspruch eines freien Radios eingeschrieben war, indem sie selbst Teil des Kollektivs der Sendenden würden, sondern auch in der jeweiligen Sendung. Die erste Lektüre der Radiotheorie Brechts und 1
Vgl. die Broschüre Form, Struktur Konzept. des FSK (1994), in der aber vor allem die Heterogenität des Senders sichtbar wird. Es ist bezeichnend, dass seitdem keine Selbstdarstellung des FSK publiziert wurde.
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ihrer zentralen Sätze – »Der Rundfunk [hat] eine Seite, wo er zwei haben müßte. Er ist ein reiner Distributionsapparat, er teilt lediglich zu. Und um nun positiv zu werden, das heißt, um das Positive am Rundfunk aufzustöbern, ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln« (Brecht 1993, 553) – verstand diese und insbesondere das Wort »Kommunikation« ganz im Sinne der linken Tradition, die meinte, wer miteinander spricht, würde schon kommunizieren. Entsprechend wurde zuerst unter dem Namen LIGNAS LOVE LINE, dann unter dem etwas weniger eingängigen Namen Mnomosonor Kroppot Radiot und schließlich als LIGNAs Music Box eine Sendung getestet, in der die Hörer_innen aufgefordert wurden, sich durch einen Telefonanruf im Studio die Wünsche nach der im Radio gespielten Musik selbst zu erfüllen, indem sie diese eigenhändig zuhause oder von wo immer sie gerade anriefen abspielten und den Telefonhörer an den Lautsprecher hielten (vgl. LIGNA 2011, 17f). LIGNA gab so für die Dauer des Telefonanrufs die Sendehoheit an eine Hörerin oder einen Hörer ab, die oder der das Programm nun bestimmen konnte. Der Verlauf der Sendungen war unkontrollierbar, auch wenn oft genug Freund_innen und Bekannte vorher aufgefordert wurden anzurufen. Doch fast nie gingen die Anrufe vom Studio aus und mit der Zeit gab es eine größere Gruppe persönlich unbekannter Hörer_innen, die regelmäßig Musik und Geschichten beitrug. Es hatte sich eine neue Praxis etabliert, mit dem Telefon umzugehen, es wurde zum Mikrophon einer Übertragung an alle, die das Radio eingeschaltet hatten. Was die Mitglieder von LIGNA am meisten faszinierte und was durch ihre gelegentliche Einrichtung temporärer Sendestudios auf Flohmärkten und Schiffen, in der Sauna und der Kunsthalle unterstrichen wurde, war die im Verlauf der Sendung hörbare Verteilung der Hörer_innen über den Stadtraum, die anders als bei den Talksendungen anderer Sender deshalb auch akustisch relevant war, weil während der Beiträge auch der Raum der Hörer_innen zur Geltung kam, wenn sie vom Gespräch überwechselten zu ihrem Tonträger, diesen dabei beschrieben, weil sie seit langem überhaupt ihren Kassettenrecorder wieder benutzten und er nicht gleich funktionierte, oder mit der Plattennadel nicht gleich die richtige Rille trafen, oder weil im Hintergrund WG-Mitglieder plauderten, Kinder schrien oder Nachbarn sich über die laute Musik beschwerten. Radio war die sich daraus ergebende, eigentlich selbstverständliche Feststellung, interveniert in den Alltag und vermischt sich dort mit
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vielen anderen Geräuschen, es ist – wie Radio Alice schon feststellte – prinzipiell schmutzig. Deshalb kann es den Alltag der Hörenden zumindest für einen Moment verändern; ihre Stimmen, ihre Erfahrungen verteilen sich von einem Wohnzimmer in alle Wohnzimmer, ein anderes Gespräch wird möglich, in dem nicht auf die Uhr geschaut werden muss und etwas Ungehörtes wird hörbar.
N EUE F RAGEN Tatsächlich schien also die Frage, wie Hörende zu Sendenden werden könnten, mit dem 1997 begonnenen zweiwöchentlichen Senden eines inversen Wunschkonzertes beantwortet. Doch in der Praxis der Sendung tauchten neue Fragen auf. War es nicht ein Problem, dass immer nur eine Person zur Zeit anrufen konnte? Bevorzugte der Fokus der Sendung – Musik – nicht eine bestimmte Hörergruppe, nämlich weiße Männer um die dreißig mit Plattensammlung, und setzte damit ein bestimmtes Repräsentationsregime fort? Wurde die Hierarchie des nodalen Sendens nicht belassen oder sogar bestätigt? War die Restriktion des antwortlosen Distributionsapparats nicht nur gemildert? Und bot das in der Zeit sich verbreitende Internet nicht eine viel adäquatere Möglichkeit der Kommunikation, wie sie sich später in Tauschbörsen in gewisser Weise, allerdings eher aus praktischen Gründen realisierte? Warum gab es immer wieder Hörer_innen, die von sich sagten, sie würden die Sendung sehr regelmäßig hören, aber könnten niemals anrufen? Und wie ließ sich die alltägliche, unsichtbare Konstellation der über den Stadtraum verteilten Hörer_innen in eine politische Assoziation verwandeln? Diese Fragen stellten sich verschärft im Kontext der Sechs-Tage-Frequenz. Wie erwähnt blieb im FSK eine weitergehende Aneignung möglicher Radioformate aus. Wir fragten uns, woran das liegen könnte. Was machte es so wahrscheinlich, in bekannten Formaten zu senden? Warum legten so viele darauf wert, Radio zum Zuhören zu machen und nicht für den Alltag? Wir meinten eine gewisse Angst wahrnehmen zu können vor der Unkontrollierbarkeit des Radios, dem Verlust der Kontrolle über die eigene Stimme bei der Verteilung über die Radiogeräte, über das, was mit der Stimme während der Ausstrahlung geschieht. Es etablierte sich eine Vorstellung intensiven Zuhörens, die viele im FSK mit vielen anderen in ande-
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ren freien Radios teilten. Radio nicht als Dudelfunk, sondern als direkte Verbindung zum Hörer oder zur Hörerin, der oder die, vorbereitet durch die Programmzeitung, sich ganz dem gesendeten Programm widmet. In dieser Auffassung setzte sich – unbewusst – die Ideologie der Schwingung vom Inneren der Sprechenden zum Inneren der Hörenden fort, wie sie der Nationalsozialist Richard Kolb 1932 formulierte und wie sie seitdem von vielen anderen Autor_innen immer wieder aufgenommen worden war. Die Funktion dieser Theorie des Hörens, so zumindest schien es uns, bestand darin, das Unheimliche des Radios, die Verräumlichung der Stimme zu bannen. Dies beschreibt schon das Ergebnis einer Analyse, die wir erstmals im Sommersemester 1999 auf Einladung von Andreas Stuhlmann in einem Vortrag mit dem Titel Auf der Jagd nach den Frequenzgespenstern. Zur Verräumlichung der Stimme im Radio formuliert haben, der 2001 als Hört die anderen Wellen! veröffentlicht wurde (Frahm/Michaelsen 2001, 39-61. Vgl. LIGNA 2011, 19-41). In ihm versuchten wir eine grundlegende Kritik an einer Radioproduktion, in der die Verräumlichung der Stimme nicht als politisierendes Mittel in Betracht gezogen wird, sondern im Gegenteil durch Behauptung oder Versuch der Erzeugung einer möglichst großen Präsenz der Stimme im Radio herzustellen, um die Effekte ihrer Verräumlichung zu verdrängen. Der Vortrag versuchte seine These performativ zu beweisen, indem er live im Radio auf der Frequenz des FSK gehalten wurde. Die Übertragungstechnik erzeugte nämlich eine Verzögerung, so dass die im Vortragssaal verteilten Radiogeräte unsere Stimmen nicht lippensynchron ausstrahlten und die Verräumlichung der Stimme sichtbar wurde. Es schien uns bei dieser Rückkehr vom Radio in die Universität notwendig, das universitäre Sprechen ebenso auszustrahlen, wie das Radio auch materiell in den Hörsaal zu bringen – und zwar in einer Weise, die sich hörbar von der Tendenz absetzte, radiojournalistische Standardformate als einzige Möglichkeit der medialen Produktion zu lernen.
D IE R ADIO -S HOW
ALS
T HEORIE -P RAXIS -L ABOR
Zwischen 1999 und 2001 führte LIGNA eine Serie von Experimenten im Show-Format durch, mit denen wir nicht nur in die Diskussion über freies Radio im FSK intervenieren wollten. Wir waren zu der Überzeugung ge-
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langt, dass die Abwertung des Distributionsapparats Radio in die Irre führt, weil sie eine Sendepraxis zementiert, die auf die Bewahrung der Präsenz der Stimme aus ist, in der sich nicht zuletzt die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse ausdrücken. Wer Brecht genau las, konnte feststellen, das es in seiner Radiotheorie nicht um (wertfreie) Kommunikation oder um die Kommunikation als Wert an sich ging, sondern um die kommunistische Organisierung der Hörenden. Wie ließe sich also die Distribution der Stimme in ihrer Unheimlichkeit genießen und darüber hinaus politisch wirksam machen? Warum wir diese Frage nicht direkt beantworten konnten, lässt sich nicht rekonstruieren. Es fehlte sicherlich an Erfahrung mit den Wirkungen der verräumlichten Stimme jenseits ihrer Verdrängung. Ihren Bann zu brechen war offenbar nicht ohne weiteres möglich. Die durchgeführten Versuchsanordnungen lassen sich dementsprechend als unterschiedliche Tests lesen, die Möglichkeiten des Radios als Distributionsapparat auszuloten. Vielen im FSK war diese Praxis nicht einsichtig, sie erschien nicht als Umweg, sondern als Abweg, wenn nicht als schlechter Scherz. Denn schon in der ersten Live-Radio-Show Hört die anderen Wellen! im Hamburger Projektraum Puzzelink_Evidenz im August 1999 ging es darum, sogenannte Tonbandstimmen einzuspielen, also ursprungslose, angeblich paranormale Stimmen, die durch Aufzeichnung von Radiorauschen und dem erneuten Abspielen des Tonbands hörbar gemacht wurden. Interessant erschien uns diese Praxis von Tonbandstimmenforscher_innen wie Friedrich Jürgenson, Konstantin Raudive oder Raymond Cass zum einen aufgrund ihrer beanspruchten Wissenschaftlichkeit. Sie versuchten allen Ernstes ihre Forschungsergebnisse, also die von ihnen eingespielten Stimmen, wissenschaftlich zu rationalisieren und bildeten damit nicht nur ein spätes Echo des nahtlosen Übergangs zwischen Psychologie, Philosophie und Physik, die sich erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts so aufgespaltet hatten, dass nun aus wissenschaftlicher Perspektive der metaphysisch-parapsychologische Ansatz der Tonbandstimmenforschung problemlos ausgeschlossen werden konnte, obwohl er noch fünfzig Jahre vorher im universitären Kontinuum möglich gewesen wäre. Zum anderen faszinierte uns aber die Praxis der Tonbandstimmenforschung und die Materialität ihrer Ergebnisse. Deren Wahrheit lag nicht in der behaupteten Aussagekraft über das Leben nach dem Tod, sondern im Herauspräparieren der Ursprungslosigkeit der Stimme selbst, wie sie durch das Radio produziert
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wurde. Die Verdrängung der Gespenstigkeit der Radiostimme wiederholte sich in der Denunziation der Tonbandstimmenforschung, weshalb LIGNA in einem parodistischen Verfahren diese so ernst nahm, dass sie das Publikum in der Show einlud, selbst paranormale Stimmen im Galerieraum einzuspielen. Dazu wurden Einheiten mit Radios und Aufnahmegeräten – u. a. einer Version des von Franz Seidl entwickelten Psychophons – zur Verfügung gestellt. Die anwesenden Hörer_innen gestalteten in dieser Tätigkeit, in ihren Wortbeiträgen und Diskussionen den Verlauf der Sendung. Eine im Sendestudio, vom Geschehen vor Ort getrennte, also unsichtbare Jury, die nur über Radios zu empfangen war, beurteilte die eingespielten Stimmen. So entstand in der Sendung ein Spiel der Stimmen, denn die Radios vor Ort strahlten selbstverständlich auch das in der Galerie Gesprochene aus, erzeugten aber aufgrund der schon erwähnten Übertragungstechnik eine Verzögerung, so dass die verzögerte Live-Stimme aus der Galerie mit der Echtzeitstimme aus dem Sendestudio kommunizierte. Der Genuss bei der Produktion von Stimmen unbekannter Herkunft war in Hört die anderen Wellen! als Zitat des für die freie Radiobewegung einschlägigen Buches von Claude Collin mit dem gleichlautenden Titel verbunden und zugleich als parodistische Aneignung gekennzeichnet, die selbst als Effekt der verräumlichten Radiostimme erscheinen konnte (Collin 1980). Ein Jahr später wurde in derselben Galerie Der große Preis von Monte Karo durchgeführt, eine von acht Endausscheidungen der internationalen Slot-car-League für das große Sandbahnrennen in Kairo. Die Carrera-Bahn der Universal Liga war mit ihrer Sprungschanze, ihrem berühmten Karo und der Celan-Engführung im Schaufenster auf Augenhöhe gut zu beobachten, das Radio übertrug die Geräusche und Kommentare aus der Galerie auf die Straße, auf der auch ein Wettbüro eröffnet hatte. Aufgrund der Eröffnung des Rennens durch den Vorsitzenden der amerikanischen Slot-carLeague, Richard Conolly, der vielen Interviews mit den Fahrerteams, schließlich einer Live-Schaltung nach Phnom-Penh, wo Friedrich Tietjen zeitgleich die Endausscheidung der Niendo Liga verfolgte, konnten manche Hörer_innen, aber selbst Anwesende nicht mehr unterscheiden, was hier wirklich stattfand. Der Ernst parodistischen Sprechens erwies sich als ausgezeichnetes Mittel zur Konstruktion einer medialen Situation, die allen vertraut und doch von Zeit zu Zeit mit einer gewissen Unheimlichkeit besetzt ist, ob das, was stattfindet, wirklich sein kann – eine kleine Reminiszenz an den Mythos von War of the World. Dennoch erwies sich das Mittel
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einer Überaffirmation gängiger Rundfunkformate, so unterhaltsam sie in der Umsetzung waren, etwas stumpf in der Kritik vorherrschender Sendepraxis im freien Radio. Radioglasz. Telepathie durch Radiowellen. Eine Revue vergessener Kommunikationsmittel begab sich in die Geschichte der drahtlosen Kommunikation und nahm eine Sendeform auf, die James Dunninger in den 1920er Jahren populär gemacht hatte. Er hatte auf NBC live längere Zeit geschwiegen und sich intensiv auf drei Gedankeninhalte konzentriert: eine Zahl, ein Name und ein Bild. Über die Hälfte der von den Hörerinnen eingesendeten Empfangsprotokolle enthielten richtige Elemente. Die Unsichtbarkeit der Radioübertragung wurde im Schweigen verdoppelt. Die Vorstellung der Gedankenübertragung war in der damaligen Zeit ausgesprochen populär, der berühmte amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair beispielsweise veröffentlichte einen Bericht über die telepathischen Fähigkeiten seiner Frau unter dem Titel Mental Radio. Unser Versuchsaufbau war vergleichsweise einfach: das Schaufenster der M6 funktionierte wie ein Fernseher, in dem die Revue stattfand. Auf dem Bürgersteig und der Straße versammelte sich das Publikum, wenn es denn nicht vor dem Radio saß, und hörte mit Radios die wiederum nicht lippensynchrone Übertragung der Gespräche, die zur Vorbereitung der Gedankenübertragung geführt wurden – unter anderem mit dem Konstrukteur des Telectrodyn Interferenz, einem Radiogerät zur direkteren Gedankenübertragung. Dann setzte sich der Telepath Christian Hein aus Köln in das Schaufenster und konzentrierte sich eine Stunde lang auf drei Gedankeninhalte. Einer der produktiven Momente dieser Show war die Organisation des Zuhörens. Als die Gedankenübertragung begann und wir als Moderatoren die Galerie verließen, trafen wir auf eine Menge schweigender, in die Stille der Radioübertragung lauschender Menschen. Die Stille der Gedankensendung wurde öffentlich von so vielen Menschen wiederholt, dass die Marktstraße für Autos de facto blockiert war. Dies war zweifellos keine politische Intervention, aber bahnte den Weg, um darüber nachzudenken, wie schon das Radiohören selbst als Handlung den Raum verändern kann. Im übrigen konnte die Jury bei der großen Mehrheit der Eingaben richtige Elemente der gesendeten Gedanken feststellen.
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I NTERVENIERENDE Z ERSTREUUNG Als wir von der Hamburger Kunsthalle eingeladen wurden, im Rahmen eines Wochenendes im Mai 2002 mit der Gruppe Hybrid Video Tracks eine Arbeit oder einen Beitrag zu gestalten, sahen wir darin eine günstige Gelegenheit, unsere bisherige Kritik an der Praxis des freien Radios zu präzisieren. Während die Berliner Gruppe die formierte Öffentlichkeit unserer Gesellschaft kritisierte, entwarfen wir das Bild einer zerstreuten Öffentlichkeit, die durch deren Medien hergestellt wird, aber gleichzeitig andere Handlungsmöglichkeiten freisetzt, sofern diese Zerstreuung nicht als Mangel begriffen wird, sondern als ein stets produzierter Überschuss, der sich in der Situation des Hörens selbst materialisiert. Dieser Überschuss ist prinzipiell unkontrollierbar. Noch in der Situation von Radioglasz, wo die Menschen vor der Galerie standen, entzog sich die Aktivität der Hörer_innen den Produzenten der Sendung – die schon erwähnte Stille hielt nicht allzu lange an und wich einer im Verlauf der Gedankenübertragung anschwellenden Geräuschkulisse angeregter Gespräche. Auch das Versperren der Straße war nicht vorgesehen. Diese strukturelle Unkontrollierbarkeit der Zerstreuung, die von der Unheimlichkeit der vervielfältigten Stimme kaum trennbar ist, wollten wir für eine politische Intervention in einen Ort nutzen, an dem traditionelle Formen politischer Artikulation nicht mehr möglich waren, weil bestimmte Kämpfe um diesen Ort schon verloren gegangen waren: dem Hamburger Hauptbahnhof, der direkt gegenüber der Hamburger Kunsthalle liegt. Beides sind aus sehr unterschiedlichen Gründen mit Videokameras und Wachleuten kontrollierte Orte, aber gerade der Hauptbahnhof, wie viele Bahnhöfe in den 1990er Jahren, wurde zu einem Laboratorium der Überwachung. Die Bundesrepublik Deutschland konnte mit den Agent_innen der teilprivatisierten Subunternehmen der Bahn testen, wie die Bevölkerung auf lückenlose Überwachung im öffentlichen Raum reagieren würde. Dies erschien um so nötiger, da die Bahnhöfe in Shopping-Malls mit Gleisanschluss umgebaut wurden. In Hamburg hatte es einigen erfolglosen Widerstand gegen den Eingriff in die Wandelhalle gegeben – und nach dem Umbau verschiedene Aktionen, die oftmals mit dem Mittel der Überaffirmation das moralische Bewusstsein der aufgeklärten Bürger_innen adressierten. Sei es, dass Obdachlose zur Provokation anboten, die Einkäufe zur S-Bahn zu tragen, sei es, dass die Urbane Panik, eine Gruppe aus Künstler_innen, Soziolog_innen und Aktivist_innen, ein Si-
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cherheitsunternehmen mimten und den Wachdienst der Wandelhalle zu überzeugen vermochten, dass sie sich für einen Tag die Aufgaben teilten. Nun konnten die selbst ernannten Wachleute Menschen zu ihrer Sicherheit in den Blumenladen führen, sie willkürlich aufhalten und so weiter, in der Hoffnung auf deren Empörung über die überzogenen Maßnahmen, die dann zur Kritik des Bestehenden sich wandeln könnte. Diese Kritik stellte sich nicht ein. Der großartige Coup erzeugte nicht die gewünschte Wirkung. Es war auch nach der Auswertung der Urbanen Panik, die den Hamburger Bahnhof exzellent hinsichtlich seiner Machtbeziehungen analysiert hatte und uns an dieser Analyse teilhaben ließ, etwas anderes nötig. Wir entwickelten daraufhin die Vorstellung, dass wir dazu einladen könnten, verteilt am Bahnhof Radio zu hören. Die Sendung bestand aus einer Choreographie am Bahnhof erlaubter und verbotener Gesten, wie das Einander-die-Hände-geben und das Aufhalten der Hand, um etwas Geld zu erbetteln. Nur eine 90°-Drehung der Hand verwandelte etwas, das ständig stattfand, zu etwas, das seit längerem von den Wachleuten massiv aus dem Bahnhof ausgeschlossen wurde – sogar »unnötiger Aufenthalt« zählte dazu und was wäre das Hören einer Radiosendung anderes?2 Die Vervielfältigung dieser Geste parodierte das Regime der Überwachung. Überall, wo eine Videokamera danach suchte, dass etwas Unerlaubtes passiert, geschah die Überschreitung – die Paranoia erwies sich als berechtigt und lächerlich zugleich. Die Materialisierung der Radiostimme in den Körpern der Hörer_innen, die jeweils die vorgeschlagene Geste ausführten, machte ihre Unheimlichkeit sichtbar, nicht mehr nur als mediales Moment, sondern als Veränderung des Raums. Das Radioballett (die Bezeichnung hat sich als Begriff für dieses Sendeformat etabliert) blieb dem Geschehen im Bahnhof fremd, so fremd wie eine Tonbandstimme, auch wenn es in vielen Gesten nur das wiederholte, was dort schon stattfand. Aber die Synchronisierung der Geste parodierte die scheinbar aus eigenem Willen ausgeführten Gesten. Damit wendete sich unsere Radiosendung nicht an das Bewusstsein der vielleicht dreihundert Hörer_innen, die aufgrund eines gewissen Einverständnisses mit unserem Aufruf am Bahnhof zur angezeigten Stunde erschienen waren, 2
Die Hausordnung ist im übrigen längst geändert worden und der unnötige Aufenthalt wurde als Verbot fallen gelassen, was wenig Auswirkungen auf die Praxis der Wachleute haben dürfte.
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sondern an ihr körperliches Verhältnis zum Raum, den sie für die Dauer der Performance sichtbar veränderten. Viele nahmen diese Intervention als Empowerment wahr, denn es ließen sich nun Handlungen durchführen, die zuvor nicht mehr möglich erschienen. Doch solche Wahrnehmungen haben weder wir noch die Sendung präfiguriert. Sicherlich kann es so wirken, als wollten wir die Gesten der Hörer_innen kontrollieren und als überböten wir daher die traditionellen Phantasmen der Beeinflussung der Hörenden noch, doch es gab keine Instanz, mit der wir diese Kontrolle hätten ausüben können. Es gab in der repetitiven Choreographie regelmäßig wiederkehrende Momente, in denen vorgeschlagen wurde, umherzugehen, wodurch die Hörer_innen als Teilnehmende der Performance unsichtbar wurden und selbst überlegen konnten, ob sie diese fortsetzen wollten. Ihrer Position in der Konstellation mit den anderen Hörer_innen eignete eine Singularität, die durch nichts ersetzt oder totalisiert werden konnte. Ihre Situation changierte zwischen einem Spiel mit dem Apparat, einem gewissen »stichwortgenuß« – »eine bestimmte freude am mechanischen, am rechtzeitigen einsatz, am teilnehmen an einer mathematischen übung« (Brecht 1976, 62), wie Brecht sie schon für das Lehrstück wahrnimmt, und dem Genuss der – scheinbaren – Unabhängigkeit vom Apparat, wie sie Theodor W. Adorno hinsichtlich der Geste des erbosten Abschaltens des Radios denunzierte (Adorno 2001, 111); einer Unabhängigkeit, in der allerdings das Apparative der eigenen Subjektivität aufscheinen konnte. Die Aktivierung der Hörenden war in diesem Sinne keine postfordistische Mobilisierung (die heute verbreitete Aktivierung von Menschen zur Herstellung von user generated content kann als Rekuperation begriffen werden),3 sondern die Politisierung der immer schon vorhandenen Konstellation der Hörer_innen in ihrer Organisierung als – wirksame, lose – Assoziation. In gewisser Weise ließe sich sagen, dass das Radio so einen Rahmen herstellte, in dem die Teilnehmenden den halb privatisierten Raum, sein Regime und dessen Auswirkungen auf den eigenen Körper untersuchen konnten, um ihm eine neue Erfahrungsqualität abzugewinnen. Dieser Rahmen spricht nicht allein die individuelle, sondern vor allem die kollektive Erfahrung an. Es geht auch darum, welche Handlungsräume in einer Gesellschaft existieren, die ihre Viertel zunehmend durch vielfältige Maßnahmen homogenisiert und damit auch kontrolliert. In dieser Perspektive stellt sich die Frage nach den Konstitu 3
Vgl. dazu den Beitrag von Ulrike Bergermann, vor allem S. 272ff.
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tionsbedingungen des Raums, der Geste und der Subjektivität. Welche Institutionen und Apparate produzieren und reproduzieren sie? Welche Herrschaftsbeziehungen regulieren ihre Verhältnisse bewusst und unbewusst? Könnte das Radio nicht einen Apparat zur Verfügung stellen, mit dem sich ein anderer Raum, eine andere Subjektivität produzieren ließe – oder zumindest in der Parodie der herrschenden Apparate und Institutionen diese sich untersuchen ließe? Gerade in der Eigensinnigkeit der Form, in der Konstellation individueller Hörwahrnehmung und kollektiver Handlung eröffnete das Radioballett ein Forschungsfeld, das in den urbanen Räumen unserer Tage die Frage nach dem Subjekt und seinen Produktionsbedingungen stellt.4
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (2001): »Musik im Rundfunk. 2. Fragen und Thesen.«, in: Frankfurter Adorno Blätter. Nr. VII, S. 97-113. Brecht, Bertolt (1976), in: Steinweg, Reiner: Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt/Main. Brecht, Bertolt (1993), in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 21. Hg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/Main. Collin, Claude (1980): Hört die anderen Wellen. Berlin. Frahm, Ole/Michaelsen, Torsten (2001): »Hört die anderen Wellen!«, in: Stuhlmann, Andreas (Hg.): Radio-Kultur und Hörkunst. Zwischen Avantgarde und Popularkultur 1923-2001. Würzburg, S. 39-61. FSK (Hg.) (1994): Form, Struktur Konzept. Hamburg. (Broschüre) LIGNA (2011): AN ALLE! Radio. Theater. Stadt. Leipzig.
4
Zur weiteren Arbeit der Gruppe LIGNA vgl. auch den Beitrag von Sibylle Peters THE ART OF BEING MANY S. 182f.
THE ART OF BEING MANY Zur Entwicklung einer Kunst der Versammlung im Theater der Gegenwart S IBYLLE P ETERS
D ER K ONGRESS Human microphone, liquid democracy, Blockadezeltlager auf öffentlichen Plätzen – rund um die Welt werden neue Formen und Techniken des Versammelns erprobt, die hergebrachte Strukturen politischer Repräsentation hinterfragen. »Real Democracy« – was auch immer das meint, es verbindet sich in jedem Fall mit Praktiken des Versammelns, die ihre performativen Protokolle und ihre medialen Strategien reflektieren und verändern. Unter dem Titel THE ART OF BEING MANY wird daher 2014 auf Kampnagel in Hamburg ein transnationaler Kongress stattfinden, der dem Austausch von Taktiken und Theorien, Techniken und Ästhetiken des (sich) Versammelns dient – eine Versammlung von Versammlungen. Die Zusammenkunft wird vom künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe, der geheimagentur, dem Forschungsprojekt European Cities and Crises und Real-Democracy-Aktivist_innen aus Athen, Hamburg und Kairo vorbereitet. Dabei sollen prominente Beispiele neuer politischer Versammlungskultur mit anderen, alltäglicheren oder auch skurrileren Praxen des Versammelns konfrontiert werden. Eingeladen sind 49 Delegierte aus Versammlungen unterschiedlichster Art: Aus verschiedenen Perspektiven soll von der Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen berichtet werden; der
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Schülerinnenrat des Europa-Gymnasiums Hamburg Hamm wird die Delegierten in verteilten Rollen eines seiner Protokolle verlesen lassen, und vielleicht demonstrieren die Mitglieder des Re-enactmentclubs Historische Mongolei aus Köln die Vorbereitungen für ihre jährliche Hauptversammlung, bevor dann mithilfe rollender Bürostühle das Prinzip der critical mass veranschaulicht wird. Die Versammlung wird in Bewegung kommen, streiten, essen, streamen, Atemübungen machen, geheime Abstimmungen durchführen, sich neu verteilen, sich blockieren und befragen: Was verbindet so unterschiedliche Versammlungen miteinander? Haben ihre Sternstunden und ihre dead ends etwas gemeinsam und ergibt sich daraus ein Eindruck aktueller Versammlungskultur? Welche Rolle können die szenischen Künste dabei spielen? Was ist »the art of being many«? Der geplante Kongress will Künstlerinnen und Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und Bürger in einen kollektiven Prozess der Wissensproduktion verstricken und soll dafür ein Setting schaffen, in dem Tools und Theorien, Experimente, Erfahrungen und Konzepte gleichberechtigt nebeneinander stehen beziehungsweise ineinander übergehen. Begegnen und befruchten sollen sich dabei einerseits Erfahrungen aus aktivistischen Zusammenhängen der Real-Democracy-Bewegung und andererseits Forschungsprozesse zu Fragen des Versammelns, die seit Beginn des neuen Jahrhunderts in den performativen Künsten stattfinden. Im Folgenden möchte ich die bisherigen Ergebnisse dieser performativen Forschung im Sinne eines transdisziplinären Forschungsstand zur Kunst der Versammlung darstellen und versuchsweise systematisieren.
R EPRÄSENTATIVE
UND OPERATIVE
DER THEATRALEN
V ERSAMMLUNG
D IMENSION
Seit den 1920er Jahren wird die Versammlung in vielen maßgeblichen Theorien als sine qua non des Theaters betrachtet, als eine Ausgangsbedingung, die das Theater im Sinn einer eigenen, von der Dramatik unterschiedenen Kunstform allererst konstituiert. Mit Bezug auf die aus dieser Zeit datierende Theatertheorie Max Hermanns definiert Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen von 2004:
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Damit eine Aufführung stattfinden kann, müssen sich Akteure und Zuschauer für eine bestimmte Zeitspanne an einem bestimmten Ort versammeln. (Fischer-Lichte 2004, 58)
Insbesondere das in dieser Definition enthaltene Prinzip von Kopräsenz und liveness ist in den letzten Jahren zugleich kritisch hinterfragt worden, beispielsweise von Philip Auslander und Hans-Friedrich Bormann (Auslander 1999, Bormann 2001). Insgesamt verweilen theaterwissenschaftliche Analysen jedoch vergleichsweise selten bei der Versammlung als »medialer Bedingung« von Theater, sondern untersuchen immer schon, wie die szenischen Künste von ihrem Medium Gebrauch machen – zum Beispiel im Sinne des inszenatorisch geplanten und doch immer wieder unvorhersagbaren Zusammenspiels von Akteur_innen und Zuschauer_innen. Von großer Bedeutung war dabei immer wieder die Frage, inwiefern aus der Ansammlung und Konfrontation von Akteur_innen und Zuschauer_innen eine Gemeinschaft entsteht, so beispielsweise in Jens Roselts Phänomenologie des Theaters (Roselt 2008). Forschungen zum Publikum, wie etwa die einflussreiche Studie von Herbert Blau, fokussieren entsprechend auf das Verhältnis von Aktion und Passion, Individuum und Gemeinschaft, subjektivem Bewusstsein und kollektivem Körper (Blau 1990). Kurzum: Theatermacher und Theaterwissenschaftlerinnen der letzten einhundert Jahre haben in der Frage der Gemeinschaft und den mit ihr verbundenen Konflikten und Paradoxien, in der (Un-)Darstellbarkeit und (Un-)Verfügbarkeit von Gemeinschaft ein zentrales Thema gesehen, in dem sich die ästhetische und die politische Dimension des Theaters überlagern. Auch ein Vorhaben wie der Kongress THE ART OF BEING MANY steht zugleich in dieser szenischen und theaterwissenschaftlichen Forschungstradition. Dennoch ist das Theater hier eher als ein operativer Rahmen gefragt, der es Delegierten aus unterschiedlichsten anderen Versammlungen erlauben soll, performative Protokolle, Techniken und Strategien des Versammelns zu teilen und zu erproben. Dadurch verschiebt sich der Fokus, und wie in jeder Fokusverschiebung hat man es dabei zunächst mit Phänomenen der Unschärfe zu tun: Die ungeheuer verfeinerten und diffizilen theoretischen Differenzierungen des Gemeinschaftstopos in seinem kritischen Verhältnis zur theatralen Versammlung werden seltsam unscharf. So verlagert sich der Blick von der repräsentativen auf die operative Ebene,
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auf die mediale Bedingung, die als unterschieden von ihrem jahrzehntelangen Thema neu in den Blick kommt:
W AS
IST EINE
V ERSAMMLUNG ?
Wikipedia, hier bewusst herangezogen als Träger eines aktuellen ›Common Sense‹, definiert den Begriff der Versammlung zunächst ganz einfach als Ansammlung von Menschen »(meist zu einem gemeinsamen Zweck)«. In der zur Definition gehörenden Liste exemplarischer Unterbegriffe finden sich unter anderem folgende Einträge Elternversammlung, Gemeindeversammlung, Generalversammlung, Gewerkschaftsversammlung, Hauptversammlung, Mieterversammlung, Mitarbeiterversammlung, Nationalversammlung, Schülerversammlung, Volksversammlung.1
Passt die Versammlung im Theater – zum Beispiel die, die sich allabendlich im Stadttheater vollzieht – nun so umstandslos in diese Reihe? Aufgezählt sind hier Versammlungen aus den Bereichen der Politik, aber auch des familiären Lebens, der Wirtschaft, der Arbeit, der Bildung. In allen Fällen handelt es sich um Ansammlungen von Personen, die im Rahmen ihrer Zusammenkunft bestimmte Interessen vertreten und Orientierung für zukünftiges Handeln suchen. Die Menschen versammeln sich dabei jeweils ›als jemand‹ – als Elternteil, als Mitglied einer Gemeinde, als Mieter, als Mitarbeiterin. Sie teilen gesellschaftliche Rollen, Handlungskontexte und/oder Interessen. Sie treffen sich öffentlich, aber zugleich als eine spezifische, nicht allgemeine Öffentlichkeit. All dies gilt für die allabendliche Versammlung im Stadttheater nun dezidiert nicht; im Gegenteil: Die auf Kant und Schiller verweisende Tradition bürgerlicher Ästhetik fasst die Versammlung im Zeichen der Kunst im Unterschied zu den hier genannten anderen Versammlungsformen entschieden als interesselose Versammlung, als ein Kollektiv, das gerade nicht einem bestimmten Zweck untersteht, das gerade nicht durch spezifische gemeinsame Handlungskontexte außerhalb des Kunstkontexts geeint ist 1
Wikipedia-Wörterbuch Wiktionary: http://de.wiktionary.org/wiki/Versammlung vom 23.12.2012.
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(vgl. Felten 2004). Aus der Perspektive idealistischer Ästhetik verleiht genau dies der theatralen Versammlung einen Modellcharakter im Hinblick auf die bürgerliche Gesellschaft insgesamt. Denn das Theaterpublikum ist eine Versammlung und zwar jeden Abend wieder eine ganz konkrete, und doch gerade keine bestimmte. Dieser Widerstreit prädestiniert die theatrale Versammlung dazu, pars pro toto für ›die Gesellschaft‹ einzustehen und in einer spezifischen Überlagerung von ästhetischer und politischer Dimension Fragen der Gemeinschaftsbildung – und damit auch der Verteilung von Agency und Macht – körperlich und doch abstrakt, experimentell und doch repräsentativ, zu verhandeln. Vor diesem Hintergrund hat der zweifelhafte Kampfbegriff vom ›Repräsentationstheater‹ eine gewisse Aussagekraft: Grundsätzlich repräsentativ ist an dieser Tradition der szenischen Künste weniger das, was auf der Bühne geschieht, als das Verhältnis zwischen der theatralen Versammlung und der sie umgebenden Gesellschaft, die im Zuge dieser Repräsentation als Ganzheit vorstellbar und konkret erfahrbar wird. In Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Habermas zusammenfassend dargestellt, inwiefern dieser Repräsentationscharakter der theatralen Versammlung, zumal in Form des Stadt- oder Nationaltheaters, zugleich eine soziale Funktion hat, inwiefern also dem repräsentativen Moment der theatralen Versammlung ein operatives Moment folgt oder untersteht (Habermas 1965): Da die theatrale Versammlung nicht durch ein bestimmtes Interesse, einen bestimmten Zweck determiniert ist, eignet sie sich nicht nur repräsentativ als Modell einer Gesellschaft, die sich versuchsweise als Gemeinschaft erfahren will, sondern auch operativ als ein experimentelles Setting zur Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die dabei allerdings im Singular verbleibt – eine theoretische Weichenstellung, die von neueren sozialwissenschaftlichen Studien, etwa von Nancy Fraser, kritisch in Frage gestellt wurde (Fraser 1992). In historischen Studien ist diese operative Funktion der theatralen Versammlung vielfach anhand von Theaterskandalen herausgearbeitet worden (vgl. Schoenmakers 2009). Im Oktober 2008 ereignet sich im Hamburger Schauspielhaus ein solcher Theaterskandal, der als ein Kurzschluss im Repräsentationscharakter der theatralen Versammlung charakterisiert werden kann, und daher geeignet ist, den skizzierten Zusammenhang zu illustrieren: In der Premiere von Volker Löschs Inszenierung von Marat/Sade stehen Hartz4-Empfänger_innen als Darsteller_innen auf der Bühne. Im Pub-
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likum versammeln sich dagegen, wie zu jeder Premiere im Deutschen Schauspielhaus, gut betuchte Bürgerinnen und Bürger der Hansestadt. Im Laufe der Aufführung tritt die dramatische Vorlage Marat/Sade immer mehr in den Hintergrund; die Grundzüge der theatralen Versammlung, in der die Performer_innen auf der Bühne die Figuren der dramatischen Vorlage verkörpern und das Premierenpublikum ganz allgemein sein Bürgertum performt, werden durchlässig für die konkrete Situation im Theater: Die Performer_innen adressieren das Premierenpublikum unerwartet direkt als eine ganz spezifische, gerade nicht allgemeine Versammlung. Immer wieder benennen sie, die Hartz4-Empfänger_innen, die reale Einkommensdifferenz, die die theatrale Versammlung in zwei Teile teilt. Schließlich werden die Namen und die genauen Einkünfte der reichsten 20 Hamburgerinnen und Hamburger verlesen. Einige von ihnen sind unter den Anwesenden, andere sind durch Bekannte und Freund_innen vertreten. Viele verlassen protestierend den Saal. Sie sehen in der indiskreten Adressierung und Kennzeichnung als »Ihr, die Reichen« die Grundregeln ästhetischer Kommunikation verletzt. Einige drohen damit, sich als Förderer von Kunst und Kultur zurückzuziehen. Die Kultursenatorin Karin von Welck, bekannt durch den Versuch, die Hamburger Kulturförderung in Zeiten knapper öffentlicher Mittel auf das Prinzip des Mäzenatentums zurückzuführen, sieht sich zum Eingreifen veranlasst: Sie bezieht öffentlich Stellung; die reichen Zuschauer seien »Wohltäter« und hätten derlei nicht verdient. Die repräsentative Ordnung der theatralen Versammlung wird kurzgeschlossen. In der Tat steht die Versammlung, die sich zur Premiere von Marat/Sade zusammengefunden hat, pars pro toto für einen Aspekt der Gesellschaft, zumal derjenigen Hamburgs, die sich im Vergleich europäischer Metropolen durch eine besonders weite Schere von Arm und Reich auszeichnet. Und doch bietet der repräsentative Charakter der theatralen Versammlung an dieser Stelle keinerlei schützende Distanz mehr. Anstelle der allgemeinen Problematisierung gesellschaftlicher Verhältnisse wird hier die gegebene Situation des Abends namentlich und zahlenmäßig kenntlich – die repräsentative Dimension bricht zusammen und lässt, durchaus zynisch, die operative Dimension in einer gewissen Nacktheit erscheinen: Die einen spenden und gewähren damit den anderen die Chance, sie, die Spender_innen, öffentlich als ihr Problem zu benennen. Angehörige des wohlhabenden kunstfördernden Bürgertums einerseits und in Armut lebende Menschen
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andererseits finden sich auf zwei Seiten einer Rampe wieder, an der sich im wesentlichen Bitterkeit ansammelt. Jenseits solcher Zusammenbrüche theatraler Repräsentation hat sich im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts aber auch eine szenische Kunst entwickelt, die die Möglichkeiten theatraler Versammlungen von vornherein eher in einer operativen Dimension untersucht. Anhand von vier Charakteristika und entsprechenden Beispielen möchte ich diese neue szenische Kunst der Versammlung im Folgenden beschreiben und dabei umreißen, welches Forschungsprogramm eine angewandte Theaterwissenschaft mit ihr verbinden kann. Dabei möchte ich unterstreichen, dass es sich nicht um die unparteiischen Beschreibungen einer Außenstehenden handelt. Meine eigene Forschungspraxis war in den vergangenen Jahren immer wieder eng mit der Entwicklung dieser szenischen Kunst der Versammlung verknüpft. Viele der genannten Beispiele sind aus der Perspektive einer Akteurin erlebt und dargestellt, die in den entsprechenden Kontexten bestimmte Rollen übernommen hat – keineswegs immer auf der Bühne. Es handelt sich also nur in wenigen Fällen um die Erfahrungen der interesselosen Zuschauerin. In diesem Sinne empfehle ich, die beschriebenen »Charakteristika« auch als »Positionen« zu verstehen. Das macht die darin beschriebenen Konstellationen möglicherweise deutlicher, zuweilen einseitiger. Zugleich markiert es sie aber auch als veränderlich, denn das Feld ist in Bewegung.
D IE ADRESSIERUNG DER V ERSAMMLUNG Im Unterschied zu Loeschs Inszenierung steht die Frage »als was« sich die Zuschauer_innen im Theater versammeln, im Kontext der szenischen Kunst der Versammlung, um die es mir im Folgenden geht, häufig am Anfang, nicht am Ende des künstlerischen Prozesses. Ein erstes Beispiel: Im Frühjahr 2000 veranstalteten Stefan Kaegie und Bernd Ernst unter dem Label Hygiene Heute auf Kampnagel den Kongress der Schwarzfahrer. Wer dies für den Titel einer Bühnenperformance hielt, wurde schon beim Eintritt damit überrascht, als Kongressteilnehmer_in adressiert zu werden. Alle Zuschauer_innen erhielten eine Kongressmappe und fanden sich alsbald in einem durchaus realen Tagungsgeschehen wieder: Expert_innen in Sachen Schwarzfahren, Schnorren oder Glücksspiel gaben Auskunft über ihre Kunst, Mikrobiologen berichteten von bakteriellen Stra-
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tegien des Trittbrettfahrens. Andere Referent_innen schienen das Prinzip des Schwarzfahrens eher zu demonstrieren als zu reflektieren und nutzten den Kongress parasitär für eine Lebensbeichte oder gar für die Inszenierung einer Oper. Auch die Zuschauer_innen hatten eine doppelte Option: Sie konnten sich als Teilnehmer_in und damit als Schwarzfahrer_in angesprochen fühlen oder aber, und zur gleichen Zeit, alles ganz auf der Ebene szenischen Geschehens wahrnehmen. Unentschieden blieb, was sich parasitär wozu verhielt, der Kongress zum Theater, das Theater zum Kongress? Waren die Zuschauer_innen im Frühjahr 2000 noch überrascht, sich als Teilnehmer_innen einer realen Versammlung angesprochen zu sehen, hat sich dieses Prinzip zehn Jahre später weit verbreitet. Beim Berliner NoBudget-Nachwuchs-Festival 100° im Frühjahr 2010 waren Aufführungen in der Minderzahl, die das Publikum nicht im- oder explizit in einer bestimmten Rolle adressierten: Im 30-Minuten-Takt verwandelten sich die vormaligen Zuschauerinnen in Agenten, die Anweisungen über Kopfhörer erhalten, in Besucherinnen einer Wahlkampfveranstaltung oder in Teilnehmer eines Katastrophentrainings. Für die szenische Kunst der Versammlung ist – so das erste Charakteristikum, das ich vorschlagen möchte – die Frage der Adressierung, also die Frage, als was sich das Publikum eigentlich versammelt, zu einer entscheidenden konzeptionellen Dimension geworden, in der Setzungen gemacht und Entscheidungen getroffen werden können und müssen. Die enorme Verbreitung dieses Prinzips gerade bei Nachwuchsarbeiten weist allerdings auch darauf hin, dass weitere Differenzierungen hier notwendig sind: Kann es in der Dimension der Adressierung darum gehen, die Frage des »als was« in einem letztlich fiktiven, nunmehr auch das Publikum umfassenden »als ob« stillzustellen, das den Zuschauer_innen eine bestimmte Rolle einfach zuweist? Ruft dies nicht zwangsläufig eine abwehrende Reaktion hervor, mit der das Publikum zu Recht auf seiner Verfügungsgewalt über den Modus seiner Teilhabe besteht? Wie können Interventionen in der Dimension der Adressierung aussehen, die die Selbstbestimmtheit der Teilhabe respektieren? In seinem einflussreichen Text Publics and Counterpublics hat der Literaturwissenschaftler Michael Warner publics als »collectives of friends and strangers« definiert, in denen ein gemeinsames Imaginäres zu zirkulieren beginnt (Warner 2002). Diese Zirkulation wird durch eine jeweils spezifische Ansprache und Adressierung angestoßen. Ein solches Kollektiv von
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Freund_innen und Fremden erstmals anzusprechen, heißt demnach immer, sich an eine partiell imaginäre Gruppe zu wenden, deren Existenz man im Zuge der Adressierung quasi kontrafaktisch voraussetzt, wie zum Beispiel in »Freunde der Gärtnerei!«, »Revolutionäre!«, »Queer People of Utah!« oder »Liebe Schwarzfahrer!«. Gelingt die Ansprache, fühlen sich die Adressat_innen also tatsächlich angesprochen, dann scheint sich diese Voraussetzung zu bestätigen. Dennoch stellt sich die entsprechende Öffentlichkeit im Performativ der Adressierung erst her. Die szenische Kunst der Versammlung hat nun die Möglichkeit diese retrospektive Bestätigung in der Figur des »als was« in der Schwebe zuhalten und damit das performative Potential der Adressierung im Sinne eines Spielraums öffentlicher Teilhabe freizulegen. Wo sich, wie beim Kongress der Schwarzfahrer, theatrale Performance und konventionelle Formate öffentlicher Versammlungen überlagern und die Grenze zwischen Fiktion und Realität uneindeutig wird, lässt sich auch die Grenze potentiell erfolgreicher Ansprachen in Richtung Unwahrscheinlichkeit verschieben. Anders formuliert: Im Theater kann man sich probeweise an Öffentlichkeiten wenden, die es (noch) gar nicht gibt – an counterpublics. Die szenische Kunst der Versammlung – so meine These – entwickelt daher eine neue Virtuosität der Adressierung. Statt sich an die eine alte, immer schon gegebene ›Öffentlichkeit‹ zu wenden, folgt die szenische Kunst der Versammlung dem Versprechen, durch neue Arten der Ansprache neue Öffentlichkeiten auf Probe ins Leben rufen zu können. Aus der Perspektive der Teilnehmenden ist diese Virtuosität im besten Fall als ein Freiraum erfahrbar, als ein Vexierspiel inmitten der von Althusser noch als unbedingt gedachten Figur der Anrufung. Sie erscheint als Option, der probeweise Folge geleistet werden kann, nicht muss.
D IE T EILHABE
DER
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Unter dem Titel Wem gehört die Bühne? beendete die Kulturstiftung des Bundes im Mai 2011 ihr Programm »HEIMSPIEL«, in dem partizipatorische Projekte an Stadt- und Staatstheatern gefördert wurden, mit einer Konferenz im Schauspiel Köln. Zur Eröffnung wurde die Inszenierung Fuck my Life! von Pol Heyvaert gezeigt, in der Jugendliche aus der irischen Stadt Cork auf der Bühne stehen. Hintergrund ist die hohe Zahl von Teen-
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agerselbstmorden in Cork. Warum aber gerade Cork zu dieser traurigen Berühmtheit gekommen sein mag, darüber erfährt das versammelte Publikum nichts. Stattdessen setzt die Inszenierung auf authentische Selbstdarstellung und ermöglicht es den beteiligten Jugendlichen, ›center stage‹ von ihrem Leben zu erzählen. Der Regisseur glänzt durch sein Casting ebenso wie durch videogestützte Techniken, die es ihm ermöglichen, Authentizität und Wiederholung in der Arbeit mit jungen Laien in Einklang zu bringen. Die Inszenierung zeigt par excellence die Ästhetik, die das Heimspielprogramm vielerorts zur Entfaltung gebracht hat. Im Unterschied dazu ist der Tenor zahlreicher Konferenzbeiträge eher kritisch: Am Ende stünde die Erkenntnis, dass Partizipation um der Partizipation willen an Grenzen stößt. Sobald nämlich unbezahlte ›Laien‹ in künstlerischen Projekten mitarbeiten, sobald also diejenigen, die Stadttheater eigentlich rezipieren sollen, zu Produzent_innen werden, gerät die hergebrachte Gewaltenteilung der theatralen Versammlung, die Gewaltenteilung zwischen Publikum einerseits und Regie andererseits ins Wanken. Die Frage nach der Legitimation von Verfügungsgewalt stellt sich neu. In der Tat: Wem gehört eigentlich die Bühne, die des Stadt- und Staatstheaters – und wer entscheidet mit welchem Recht, was darauf geschieht? Erfahrungen aus Dutzenden von Projekten zeigen: Ob und wie diese Frage gestellt und beantwortet wird, kann über künstlerischen Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Die Konferenz diskutiert Lösungsstrategien: Es gilt das Wie der Zusammenarbeit, der Kollaboration neu zu bedenken. Dafür sind die Interessen und Motive der Beteiligten in ein Verhältnis zu der von ihnen verlangten Leistung zu setzen. Halten die szenischen Künste angesichts dessen am Prinzip der Interesselosigkeit als Distinktionsmerkmal der theatralen Versammlung fest, können dabei nur ganz bestimmte Interessen und Motive zur Geltung kommen, und zwar solche die sich traditionell mit der behaupteten Interesselosigkeit der Kunst verbinden lassen. Dies sind insbesondere die Bedarfe nach öffentlicher Aufmerksamkeit – zum Beispiel für sonst eher marginalisierte Erfahrungen, die Bedarfe nach Wissen und Bildung – zum Beispiel im Kontext der Aufarbeitung historischer Zusammenhänge oder klassischer künstlerischer Stoffe und Techniken, – oder, ganz einfach, der Bedarf nach mitmenschlichem Kontakt. Dem entsprechen die Schwerpunkte partizipatorischer Projektarbeit an Stadt- und Staatstheatern, in der es überwiegend um biographische Selbstdarstellung, kulturelle Bildung und Socializing geht. Dabei
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ist den Beteiligten durchaus bewusst, dass sie zugleich zur Manövriermasse der Institution im Kontext von audience development werden. In ihrem gemeinsamen Heimspielprojekt Alibi-Agentur von 2007 machten die geheimagentur und das Hamburger Thalia-Theater den Versuch, aus dieser zugleich formalen wie thematischen Begrenztheit partizipatorischer Projektarbeit auszubrechen, indem sie die Frage nach möglichen Interessen und Motiven offen stellten und die Aktivität der Mitwirkenden an konkretere Vorteile knüpften: Am ersten Abend des dreiteiligen Projekts wurden die Zuschauer_innen eingeladen, für den zweiten Abend Alibis vorzubereiten. Wer dann am zweiten Abend während der Performance die Bühne betrat und dort – zum Beispiel mittels eines auf Lautsprecher gestellten Anrufs – nachweisen konnte, dass er oder sie eigentlich gerade woanders sei, erhielt im Gegenzug vom Theater ein Alibi anderer Art, nämlich wahlweise eine Bescheinigung über ein Praktikum im Thalia-Theater nebst persönlichem Empfehlungsschreiben oder aber einen Originalabendzettel, in dem er oder sie namentlich hinter einer selbst gewählten Funktion, etwa »Regie:«, erschien. Über drei Abende hinweg kam im Thalia Theater auf diese Weise eine Versammlung von potentiellen Alibinehmer_innen und -geber_innen zustande. Neben dem unmittelbaren Austausch von Alibis wurde im Rahmen dieser Versammlung – in Form von Vorträgen und dokumentierten Recherchen – erörtert, ob die Figur des Alibis neue Strategien im Umgang mit der Vereinzelung von Interessen ermöglicht, mit der wir im Zuge ökonomischer Prekarisierung konfrontiert sind. Obwohl ich bei diesem Projekt nur aus der Perspektive der Macherinnen urteilen kann, so scheint mir im Rahmen der Alibi-Agentur doch deutlich geworden zu sein, dass das direkte Thematisieren von Interessen und Motiven der Partizipation keineswegs einer deterministischen oder instrumentalistischen Logik unterstehen muss, sondern selbst ein szenisches Spiel sein kann, in dem, ungeachtet konkret nutzbarer Vorteile, die jouissance der gestifteten Komplizenschaften und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten im Zentrum steht. Für eine szenische Kunst der Versammlung – so das zweite Charakteristikum, das ich vorschlagen möchte – erweist sich die Frage nach den Interessen und Motiven der Beteiligten als komplexe und immer mehrdeutige Dimension künstlerischer Intervention und Kollaboration. Damit hat die szenische Kunst der Versammlung insbesondere das Potential, kollektive Strategien und ökonomische Strukturen im Übergang zur sogenannten Wis-
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sensgesellschaft zu erforschen und zu erproben, die sich insgesamt durch ein Unscharfwerden der Grenzen von Produktion und Rezeption – production und consumption – auszeichnet. In diesem Kontext ist das, was man Partizipation nennt, niemals neutral, sondern ereignet sich als spezifische Form der Kollaboration in einem weiten Spektrum zwischen Open-SourcePrinzipien einerseits und neoliberal optimierten Formen der prosumption andererseits.
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V ERSAMMLUNG
Im Rahmen der Ausstellung Making Things Public, die 2005 am ZKM in Karlsruhe stattfand, präsentierte der Philosoph Peter Sloterdijk folgendes konzeptionelle Kunstwerk: Im Hinblick auf das gravierende globale Demokratiedefizit wird hier eine Installation angeboten, die zur Verbreitung der politischen Kultur des Westens einen Beitrag leisten kann. The Pneumatic Parliament ist ein schnell installierbares, transparentes, aufblasbares Parlamentsgebäude, das im Gelände abgeworfen werden kann und sich dann selbst entfaltet. Innerhalb von eineinhalb Stunden lässt sich die schützende Hülle für parlamentarische Versammlungen herstellen, und innerhalb von vierundzwanzig Stunden lässt sich die komfortable innenräumliche Atmosphäre einer Agora etablieren. Innerhalb von 24 Stunden zuzüglich Flugzeit kann somit die architektonische Voraussetzung für einen demokratischen Prozess Gestalt annehmen.2
Plakativ weist das Konzept des pneumatischen Parlaments darauf hin, dass Orte und Zeiten, Räume und materielle Strukturen keineswegs äußerliche Merkmale oder rein abstrakte Erfordernisse politischer Versammlungen sind. Vielmehr steht die reale Performanz einer Versammlung in enger Beziehung zur Verfasstheit und Gewordenheit ihres Ortes und der Ordnung ihrer Zeit. Die Materialität von Versammlungen ist daher nicht ohne weiteres übertragbar. Während das Konzept des pneumatischen Parlaments auf das Fehlen parlamentarischer Architekturen zu reagieren behauptet, gab es etwa zur gleichen Zeit, also 2005, andernorts offenbar ein Parlamentsgebäude zuviel. 2
http://www.g-i-o.com/pp1.htm vom 23.12.2012.
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Zeitgleich zur Ausstellung in Karlsruhe lässt sich die Kuratorin und Intendantin Amelie Deuflhard gemeinsam mit den Künstler_innen von raumlaborberlin auf ein riskantes Unterfangen ein: Um vorzuführen, dass und wie der Palast der Republik doch noch zum Forum ganz anderer, neuer Formen des sich Versammelns werden könnte, schienen radikale Maßnahmen erforderlich. Binnen Wochen wuchs daher im und schließlich aus dem Palast der Republik heraus ein künstlicher Berg. Die Figur des Berges – semantisch einerseits verbunden mit majestätischer Souveränität, andererseits aber auch mit der klandestinen Logik von Rebellen, die sich traditionell in den Höhlen und verborgenen Winkeln der Berge versammeln, solange ihre Zeit noch nicht gekommen ist – schien geeignet, die historische Bedeutung des Gebäudes zu konterkarieren. Vor allem aber war den Berg zu bauen und temporär zu besiedeln – nicht nur im Hinblick auf den damals gegebenen Etat – ein aberwitziges und schon qua Dimension unkontrollierbares Vorhaben, das für seine Realisierung alle verfügbaren Energien des künstlerischen Prekariats nicht nur Berlins mobilisieren musste. Dies gelang, und so versammelten sich im Projekt Der Berg noch einmal zahllose Mitwirkende im Palast der Republik zu einem komplexen Experiment der Selbststeuerung am Rande des Chaos. Dass der Begriff assembly in den vergangenen Jahren sowohl in theoretischen als auch in künstlerischen Diskursen deutlich an Prominenz gewonnen hat, ist nicht zuletzt der Verbreitung der actor-network-theory zu verdanken, die programmatisch auch hinter der Ausstellung Making Things Public stand (Latour/Weibel 2005). Zentral für das hier vertretene Verständnis von Versammlungen ist, dass jedes assembly immer auch Dinge umfasst, ja, als assembly of things begriffen und entwickelt werden kann und sollte. Vielfältig hervorgehoben worden ist in diesem Zusammenhang die Schlüsselrolle von materiellen und medialen Strukturen, von Räumen und Zeiten im Hinblick auf das Zustandekommen, das Was, Wer, Wie und Wofür von Versammlungen. Doch während im ZKM viele künstlerische Installationen eher von der Möglichkeit anderer, ihre Materialität nicht länger negierender Versammlungen kündeten, produzierte die Performance Der Berg im Palast der Republik eine konkrete, ständig sich wandelnde Versammlung. Über Technik und Design vermittelt, steht die actor-network-theory eher der bildenden Kunst nahe. Zu wenig Beachtung fand daher bisher, dass gerade den szenischen Künsten die entscheidende Rolle materieller und
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medialer Faktoren für Versammlungen wohl bekannt ist, ja, dass sie in vieler Hinsicht mit dem zentralen Arbeitsmaterial der szenischen Künste kongruieren: die Anordnung der Mitwirkenden in Raum und Zeit, die Durchdringung von Semantik und Funktionalität des Szenarios im Sinne des ›Bühnenbildes‹, sowie die Kanäle, die die Kommunikation innerhalb dieses Szenarios steuern. Das hier liegende Potential einer szenischen Kunst der Versammlung lässt sich exemplarisch noch einmal anhand des von Hannah Hurtzig 2011 inszenierten und kuratierten Kongresses Die Untoten zeigen: Um das Problem sich überlagernder Geräuschkulissen in einer Kongresshalle zu lösen, in der ständig mindestens fünf Veranstaltungen gleichzeitig stattfanden, verlegte Hurtzig die Soundebene des Kongresses komplett in das sonst für Synchronübersetzungen genutzte technische System: Bis zu 15 Rednerinnen und Redner sprachen also, vergleichsweise leise, in Mikrophone und waren für die Besucher_innen über Kopfhörer auf ebenso vielen Kanälen wahlweise zu empfangen. Diese technische Lösung brachte in Kombination mit der porösen Veranstaltungsarchitektur ein unerhörtes Surplus, denn nun war es möglich, in einer Veranstaltung Platz zu nehmen, während man nach eigenem Gutdünken den Sound anderer hörte, die man in der Ferne oft auch visuell ausmachen konnte. Durch zusätzliche, sehr sparsam eingesetzte Interventionen auf der auditiven Ebene (»hei du, ja du, dreh dich mal um«) wurde der ganze Kongress über Stunden und Tage in eine Schwebe von An- und Abwesenheiten, in eine Atmosphäre zuweilen unheimlicher Fernwirkungen versetzt. Die Technik der Synchronübersetzung wurde von einem Mittel der Kommunikation zum entscheidenden Agenten einer Versammlung, deren Kopräsenz medial gebrochen wurde, um so das Thema des Kongresses auch körperlich erfahrbar zu machen. Eine szenische Kunst der Versammlung – so also das dritte Charakteristikum – ist sich ihrer Expertise um die Materialität und Medialität von Versammlungen bewusst, einer Expertise, nach der – nicht zuletzt im Kontext der neuen radikaldemokratischen Bewegungen – ein wachsender gesellschaftlicher Bedarf besteht.3
3
Vgl. zur Beziehung zwischen Materialität, Medialität und Zeitlichkeit der Versammlung den folgenden Beitrag von random people.
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DER
V ERSAMMLUNG
Kongresszentrum, Messe, Börse, Kirche, Schule, Parlament, Gericht, Festsaal, Sportarena …? – die Liste gegebener Formate und Rahmungen für öffentliche Versammlungen ist nicht unendlich. Zu vielen sozialen Performances, die sich auf den entsprechenden gesellschaftlichen Bühnen abspielen, wurden im Laufe der vergangenen 15 Jahre wissenschaftliche Analysen vorgelegt.4 Parallel zu den Theater- und Kulturwissenschaftler_innen sind aber auch die Theatermacher_innen ausgezogen, um öffentliche Versammlungen zu untersuchen und zu testen, wie sie auf szenische Intervention ansprechen. So rief das Performance- und Radiokollektiv LIGNA 2008 im Rahmen des Projektes Prognosen über Bewegungen in der Berliner Innenstadt zu einer Demonstration gegen Einschränkungen im Versammlungsrecht auf. Unter dem Titel Das Unbewusste der Sterne war diese Demonstration zugleich eine Performance, die zur kollektiven Spekulation über die Zukunft der Demonstration einlud. Eine Momentaufnahme daraus: Wir, die Demonstrant_innen, liegen in der Mitte der Kreuzung auf der Straße. Es ist still, der Asphalt ist warm. Die Stimme im Radio stellt Fragen. … wie könnte eine Demonstration aussehen, in der sich Bewegung und politische Forderung aufeinander beziehen? … Was ist die zukünftige Zeit politischer Bewegungen? Müssen sie immer vorneweg, immer vor der Zeit sein? Oder unterbrechen sie den Zeitlauf? Ist es möglich, sich so langsam zu bewegen, dass die Demonstration die Straße für immer besetzt hält? … könnten Demonstrationen so langsam werden, bis die Zeit anhält? (LIGNA 2009)
Entstanden vier Jahre vor den Blockadetechniken des arabischen Frühlings und der Occupy-Bewegung hat sich diese performative Prognose als erstaunlich treffend erwiesen. Zugleich zeigt dieses Beispiel, wie die immer schon gegebene Theatralität öffentlicher Versammlungen den Künsten Ansatzpunkte für forschungsorientierte Interventionen bietet. 4 Vgl. dazu die zahlreichen vom Forschungsschwerpunkt »Theatralität« erarbeiteten Analysen in der von Erika Fischer-Lichte und anderen herausgegebenen gleichnamigen Reihe von Sammelbänden (Fischer-Lichte et al. 2000–2005).
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Dieser Bewegung aus dem Theater heraus entspricht nun andererseits eine Neubesetzung der Bühne, denn umgekehrt wird wieder wahrnehmbar, dass sich viele verschiedene Formate der öffentlichen Versammlung auch im Theater versammeln können. Denkt man beispielsweise an die Reihe der sogenannten Themenwochenenden zurück, die das HAU Berlin unter der Leitung von Matthias Lilienthal geprägt haben, so ist nicht zu bestreiten, dass das Hebbel am Ufer, und nicht nur dieses Theater, in Laufe der letzten Jahre versuchsweise all dies gewesen ist: Kongresszentrum, Messe, Börse, Kirche, Schule, Parlament, Gericht, Festsaal, Sportarena und einiges mehr. Die Ingebrauchnahme solcher gesellschaftlicher Rahmungen ist attraktiv für Erkundungen am Rande theatraler Repräsentation, denn all diese Formate öffentlicher Versammlungen sind durch jeweils eigene performative Protokolle bestimmt. Holt man sie ins Theater, so setzen sie den theatralen Repräsentationsformen ihre eigene, spezifische Theatralität entgegen. Auf diese Weise beginnen Konventionen der Versammlung sich wechselseitig zu befragen. Vielfach kennen die Teilnehmenden die zum jeweiligen Format gehörigen Handlungen und Verhaltensformen und erleben im Theater, wie diese zu zitierbaren und rekombinierbaren Aktionsfiguren werden, wie beispielsweise in She She Pops Warum tanzt Ihr nicht? von 2005. Eine szenische Kunst der Versammlung – so das vierte Charakteristikum – nutzt das Erkenntnis- und Erfahrungspotential, das sich aus der Theatralität gegebener gesellschaftlicher Versammlungsformen ergibt. Darüber hinaus begreift sie die Überlagerung von Theatralitäten aber auch als Chance zur Hybridbildung und lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass aus dem kombinatorischen Spiel mit der Theatralität gegebener Versammlungsformen ständig neue Formen des Versammelns entstehen. Die szenische Kunst der Versammlung zeichnet sich also durch eine doppelte Forschungsrichtung aus – einen dis-cursus, ein Hin- und Herlaufen aus dem Theater heraus und wieder hinein, im Zuge dessen sich Theater und verschiedene gesellschaftliche Zusammenhänge und Milieus in neuer Weise ins Verhältnis zueinander setzen. Sie tut dies in einer eigenen Fortschreibung theaterhistorischer Traditionen der Versammlung und erhebt gegenüber anderen Fortschreibungen keinen Führungsanspruch. Wohl aber hat diese szenische Kunst aus der Opposition gegenüber dem, was man in diesem Zusammenhang »Repräsentationstheater« nennt, herausgefunden und folgt mittlerweile einem eigenständigen Forschungsprogramm.
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Dabei geht es weder darum, in der theatralen Versammlung qua Repräsentation ein Modell für die Gesellschaft zu sehen, noch darum, die theatrale Versammlung gegenüber anderen Formen der Versammlung grundsätzlich zu distinguieren. Stattdessen nutzt die szenische Kunst der Versammlung das Theater, innerhalb und außerhalb seiner Mauern, für die Forschung, für die experimentelle und kollektive Auseinandersetzung mit einer Vielzahl gegebener, möglicher und unmöglicher Versammlungen. Mit den Charakteristika der Adressierung, der Kollaboration, der Materialität und der Theatralität als Hybridität habe ich versucht, die verschiedenen Dimensionen dieser Auseinandersetzung zu beschreiben.
L ITERATUR Auslander, Philip (1999): Liveness. Performance in a Mediatized Culture, New York/London. Blau, Herbert (1990): The Audience. Baltimore. Bormann, Hans-Friedrich (2001): »Der unheimliche Beobachter. Chris Burden, 1975: Performance als Dokument«, in: Fischer-Lichte, Erika et al. (Hgg.) (2001): Wahrnehmung und Medialität. Tübingen/Basel, S. 403–422. Felten, Gundula (2004): Die Funktion des sensus communis in Kants Theorie des ästhetischen Urteils. München. Fischer-Lichte Erika et al. (Hgg.) (2000–2005): Theatralität I bis VII. Tübingen/Basel. Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main. Fraser, Nancy (1992): »Rethinking the Public Sphere. A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy«, in: Calhoun, Craig (Hg.): Habermas and the Public Sphere. Cambridge, MA, S. 109-142. Habermas, Jürgen (1965): Strukturwandel der Öffentlichkeit. München. Latour, Bruno/Weibel, Peter (2005): Making Things Public. Atmospheres of Democracy. Karlsruhe/Cambridge. LIGNA (2009): »Das Unbewusste der Sterne. Eine Demonstration. (Skript der Radiosendung)«, in: Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle/van Eikels, Kai (Hgg.): Prognosen über Bewegungen. Berlin. Roselt, Jens (2008): Phänomenologie des Theaters. München.
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Die Kunst des Nicht-da-Seins D ANIEL L ADNAR UND E STHER P ILKINGTON ( RANDOM PEOPLE ) I am here You are there Together We are everywhere KOMMENTAR VON PHIL BABOT AUF WWW.LIVEARTLIVEBLOG.NET
L IVE ART L IVE B LOG Jetzt live Während wir dies hier schreiben, schauen wir manchmal auf die Webseite der englischen Zeitung Guardian: hier läuft gerade ein Liveticker (auf englisch: live blog) zum Finale der Herren in Wimbledon 2012 – wir tun das nicht, weil wir uns besonders für Tennis interessieren würden, sondern weil es im Folgenden kurz um Liveticker gehen soll. Liveticker sind ein gängiges Tool der Berichterstattung im Internet geworden – nicht nur bei Sportereignissen, sondern auch beispielsweise bei Parlamentsdebatten, Naturkatastrophen, Gerichtsprozessen, Revolutionen usw. Die Bandbreite dieser Ereignisse zeigt, dass die Form des Livetickers mit jedwedem Inhalt gefüllt
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werden kann – soweit es sich bei diesem Inhalt um etwas handelt, bei dem man »live« dabei sein kann. Liveness ist das Alleinstellungsmerkmal. Dies ist für uns als Performancemacher_innen und -forscher_innen aus zweierlei Gründen interessant: auf der einen Seite wird hier das vermeintlich zentrale Charakteristikum von Performancekunst als Qualitätsmerkmal verwendet, andererseits in einem ganz anderen Sinn – live bedeutet hier immer schon medial vermittelt, bezieht sich nicht auf die Kopräsenz einiger in einem »Hier und Jetzt«, sondern auf ein zerstreutes Publikum, dem jedoch versprochen wird, über den Liveticker an einem »Jetzt« teilnehmen und teilhaben zu können. Doch das »Jetzt« des Livetickers ist ein unterbrochenes – nur alle paar Minuten werden neue Updates über das Geschehen über den Ticker verschickt. Das Publikum ist nicht nur räumlich zerstreut, sondern auch aufmerksamkeitstechnisch: wenn man dem Liveticker folgt, lassen sich währenddessen auch andere Dinge erledigen, zum Beispiel ein Aufsatz schreiben (oder auch umgekehrt).1 Während die liveness des Livetickers eine besondere Nähe zum Geschehen verspricht, findet jedoch – anders als in anderen Live-Übertragungsmedien – ein viel offensichtlicherer Übersetzungsvorgang statt: Das Geschehen wird in Sprache wiedergegeben, ganz offenkundig nicht in aller Vollständigkeit, da nur alle paar Minuten ein Update gepostet wird: Was passiert dazwischen? Was wird in den Liveticker aufgenommen, was geht verloren? Potentiell richten Liveticker sich an ein Massenpublikum, sind von der ganzen Welt aus zugänglich, und behaupten den (aufmerksamkeitsökonomischen) Wert ihres Gegenstandes, in dem sie ihn eines Liveberichts für würdig erachten.2 Liveticker bündeln Aufmerksamkeit in der Zerstreuung. Liveticker binden vor allem in letzter Zeit immer mehr die Zuschauer_innen ein, ermöglichen eine Teilhabe am Erstellen des accounts eines Ereignisses (wir werden in der Folge auf diesen englischen Begriff zurückkommen und erläutern, warum wir ihn der gängigsten deutschen Übersetzung »Bericht« vorziehen), der sich dadurch zugleich in mehrere accounts aufsplittert: Mit Twitter und über Kommentarseiten wird das Geschehen von mehreren Autor_innen gleichzeitig beschrieben, dokumentiert und kommentiert. Der Liveticker als account wird hierdurch zum kollektiven Unterfangen. 1
Das Spiel in Wimbledon wurde mittlerweile wegen Regens unterbrochen.
2
Das Spiel in Wimbledon geht weiter, nicht weil es aufgehört hätte zu regnen, sondern weil ein Dach ausgefahren wurde.
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Indem sie liveness zur Bedingung haben, aber auf andere Weise als die Performancekunst, eignen sich Liveticker sowohl als Forschungsverfahren als auch als Forschungsgegenstand für Performanceprojekte. Im Jahre 2011 führte das von der Performancegruppe red park gegründete Institut für Alltagsforschung den Liveticker zur Erforschung des Alltags ein und berichtete per Liveticker von alltäglichen Ereignissen an verschiedenen Orten Wiens.3 Im Herbst 2011 gründeten wir als random people (die Verfasser dieses Aufsatzes und Gareth Llǔr) das Live Art Live Blog4 mit dem erklärten Ziel, die Form des Livetickers endlich auf die Kunstform anzuwenden, die sich durch liveness definiert: die Performancekunst.5
Live Art und Live Blog Das Live Art Live Blog wurde im Rahmen des Experimentica Festival 1.1. gelauncht, das vom 12. bis zum 16.10.2011 am Chapter Arts Centre in Cardiff stattfand. Am ersten Tag des Festivals stellten wir das Blog in einem performativen Launch-Event vor. Die Einführung des Blogs erfolgte hierbei ausschließlich über das Blog selbst, das während der Performance für das Publikum live projiziert wurde. Wir als Performer_innen und Gastgeber_innen sprachen somit nicht live, sondern adressierten das anwesende Publikum nur durch das Blog: 18.07 – liveartliveblog Hello! 18.07 – liveartliveblog This is a blog. 18.08 – liveartliveblog A live blog. 18.08 – liveartliveblog A live blog about live art. 18.08 – liveartliveblog This is the live art live blog.
3
www.alltagsforschung.org vom 29.01.2013.
4
www.liveartliveblog.net vom 29.01.2013.
5
Während das Spiel in Wimbledon weitergeht, machen wir unsere erste Schreibpause.
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18.08 – liveartliveblog can you all see ok? 18.09 – liveartliveblog Again: Welcome! Croeso! Willkommen! 18.09 – liveartliveblog Thanks for joining us, wherever you are. We are, of course, in the media room in Chapter Arts Centre, but you might be somewhere else entirely, in Vienna, in Venice, in Vaasa, in Stockholm, in Aberystwyth, … 18.10 – liveartliveblog There are about 20 people here in the media room, many friendly faces. We will now take a photo, so that the people out there can see the people in here. 18.10 – liveartliveblog If you’d like to remain anonymous, we would ask you to step to the side for a moment while we take the photo. Everybody else please: Say cheese! Or you might want to wave at the camera.
Das »you« des Live-Blogs richtete sich von Beginn an an zwei Publika: das anwesende Publikum (»the people in here«) und das nicht-anwesende (»the people out there«). Nur aus dem jeweiligen Zusammenhang ergab sich, wer im konkreten Fall jeweils angesprochen wurde. Das Live Art Live Blog adressierte so seine beiden Öffentlichkeiten: die im Arts Centre für die Performance eigens versammelte und die vor den Computern verstreute – was auch Personen inkludieren konnte, die unterwegs waren.6 Der Live-Blog wurde bei dem Launch auch in seiner eigentlichen Funktion eingeführt, als Online-Bericht von Live-Performances. Künstler_innen zeigten als Teil des Launch-Events Performances und Präsentationen, die sich mit dem Verhältnis von Performance und Wissensproduktion befassten. So beschrieb beispielsweise das Institut für Alltagsforschung seine Arbeit mit Livetickern per Videobotschaft, die Performancekünstlerin Kathryn Ashill aß das von Samuel Hasler verfasste Manifest des Festivals (ein zweiseitiges Dokument, zuvor gelesen von Richard Huw Morgan), das schwedische Projekt squid – ein Online-Archiv, das Texte von Künstler_innen und Kulturschaffenden sammelt und veröffentlicht, in denen diese noch einmal auf andere Weise die Erkenntnisse aus Forschungsprozessen artikulieren, die sie im 6
So erfuhren wir später von Zuschauer_innen, die erst während des Events eingetroffen waren, dass sie dieses bereits auf der Reise nach Cardiff verfolgt hatten.
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Hinblick auf ein konkretes Projekt durchgeführt haben und damit ein »space for what we call the parallel knowledge that emerges from an investigative, creative process«7 – stellte sich über ein eigens geschriebenes Performancescript vor, vorgetragen von uns und Freiwilligen aus dem Publikum, und Daniel Ladnar zeigte seine Lecture-Performance Would Joseph Boys have used PowerPoint? (an dieser Stelle wurde dann das Publikum eingeladen, das Bloggen zu übernehmen).8 Diese verschiedenen Präsentationsformate machten so schon beim Launch deutlich, dass über Performances live zu bloggen bedeutet, recht unterschiedliche Ereignisse zu dokumentieren, Ereignisse, die auf verschiedene Arten mit Text, mit Aktionen und mit diversen Medien arbeiten. Die Einbeziehung (anwesender) lokaler und (nicht anwesender) internationaler Künstler_innen unterstrich und gewährleistete zudem, dass verschiedene Publika an verschiedenen Orten das Blog verfolgen würden, und die Beiträge von Künstler_innen, die nicht vor Ort sein konnten, gaben dem Slogan »We’re here for you«, mit dem wir den Blog beworben hatten, eine weitere Bedeutungsebene. In dem Launch-Event wurde der Live Art Live Blog somit in seinen verschiedensten Funktionen und Möglichkeiten eingeführt, getestet und auch hinterfragt (vielleicht mehr als während des restlichen Festivals)9 – als Dokumentation, die gleichzeitig zu dem Live-Event stattfindet, als Kommentar zu dem Live-Geschehen, als Adressierung verschiedener Publika 7
http://www.squidproject.net vom 15.11.2012. Squid wurde gegründet von den Künstler_innen Katja Aglert, Janna Holmstedt und Martijn van Berkum, die gemeinsam das Projekt organisieren und kuratieren. Neben dem Onlinearchiv veranstaltet Squid auch Live-Veranstaltungen mit Performances, Präsentationen und Diskussionen unter Beteiligung der Künstler_innen, die im Archiv vertreten sind.
8
Ein Beispiel: 19.01 – liveartliveblog by the way, our audience are now all naked 19.02 – liveartliveblog do jokes work in blogs?
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Der Live Art Live Blog begleitete auch das BLOP Festival in Bristol (25. Februar 2012, Arnolfini Arts Centre). Da der Blog schon gelauncht war, fand hier kein weiteres Live-Event statt. Als Kontextualisierung des Blogs im Rahmen eines Festivals scheint uns im Nachhinein so ein Event, in dem Live Performances und Blog in einem Raum aufeinandertreffen, sehr produktiv.
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und Öffentlichkeiten. Der Live-Blog wurde als Online-Performance präsentiert, die parallel zu den Live-Performances stattfand, und trat auch als performatives Medium in Erscheinung: Er wurde nicht nur genutzt, um das Geschehen zu dokumentieren, sondern auch, um Dinge geschehen zu lassen – kurz gesagt, als Instruktion, zum Beispiel: »Say cheese.« Die Projektion des Blogs während die Performances live stattfanden, stellte Live-Event und Live-Blog gegenüber, zeigte Parallelen und Unterschiede, Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten auf, die alle in dem »Hier und Jetzt« zwischen den »people in here« und den »people out there« aufbrachen. Und im Raum selbst kam es so zu einer Zerstreuung der Aufmerksamkeit, die manchmal mehr dem Blog, manchmal mehr der Performance galt, und die nicht nur die Zuschauer_innen betraf, sondern auch die Performer_innen. Auf diese Weise entstand ein Feedback-Loop zwischen Performer_innen und Blog, der wiederum über das Blog auch für das nicht anwesende Publikum sichtbar wurde: 18.34 – liveartliveblog so far she has eaten half a page. i’m not sure if she likes it. but she smiles. 18.35 – liveartliveblog kathryn eats the manifesto and reads the live blog while eating. she admits she does not like it.
Vorherige Ausgaben des Experimentica Festivals waren gelegentlich auch schon mit einem Blog begleitet worden – es gab writers-in-residence, die Kritiken über die Performances dort online stellten. Und auch sonst sind Festivals begleitende Blogs keine Seltenheit und stellen oft ein weiteres Element der Online-Präsenz neben Webseiten, Facebook und Twitter dar. Während Blogs sonst aber eher der Ort für einen Diskurs um das Festival herum sind und zum Beispiel der Mikroblogging-Dienst Twitter meist eher für Ankündigungen oder Highlights verwendet wird,10 ist das Ziel des Live Art Live Blogs eine möglichst umfassende Dokumentation live zu geben – ein Unterfangen, an dem das Blog selbst ganz explizit auch scheitert (»19.38 – esther – I’m typing, so I missed that …«). Und die Aufgabe, 10 Auch wenn Besucher von Performances über Twitter gelegentlich berichten, was sie gerade sehen, geschieht das selten mit dem Ziel, einen umfassenden Bericht einer Performance zu geben.
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möglichst viel von dem zu beschreiben, was geschieht, verhindert meist, dass explizite Reflexionen und Kommentare ihren Weg in das Blog finden; die buchhalterische Chronist_innentätigkeit erfordert meist alle Aufmerksamkeit. Das Live Art Live Blog wird somit auch ein Archiv des vergangenen Festivals – Performance für Performance, Wort für Wort, Update für Update. Was das Live Art Live Blog jedoch versucht ist, ganz explizit, eine Teilhabe an dem Live-Event auch denen zu ermöglichen, die nicht anwesend sein können. Dass das Live Art Live Blog dies auf eine andere Weise gewährleistet als spätere Dokumentation zeigt sich auch an der Reaktion der Künstler_innen, über deren Arbeiten live gebloggt wurde:11 der Link zu dem Blog wurde oftmals Freunden, Familien, Kolleginnen etc. an anderen Orten nicht nur nach, sondern vor der Performance zugeschickt – als Angebot, dem Live-Event an anderen Orten beizuwohnen. Somit wurde eine andere Öffentlichkeit als die, die sich vor Ort versammelt hatte, oftmals mitgedacht. Während beim Launch beide Öffentlichkeiten zugleich über den Blog angesprochen und damit miteinander verschränkt wurden, spaltete sich die Adressierung während des Festivals scheinbar wieder auf – die Live-Performance richtete sich an das anwesende Publikum, das Live-Blog an das abwesende. Und doch kam es immer wieder zu Überschneidungen: durch unsere Anwesenheit im Publikum, die ständig an »the people out there« erinnerte, aber auch durch Zuschauer_innen, die auf ihren Laptops oder Smartphones gleichzeitig Performance und Blog verfolgten. Und manchmal wurde diese Option auch genutzt, um uns während der Performance auf Fehler hinzuweisen und das Blog oder die Arbeit zu kommentieren12 – »responses« waren sowohl über die Kommentarfunktion auf dem Blog als auch über Twitter möglich. Auch für manche der Anwesenden änderte sich damit das Verhältnis zu dem, was vor ihren Augen live vorging. Auf diese Weise machte das Live Art Live Blog sichtbar, wie sich die Rezeption von Performancekunst eben nicht nur im »Hier und Jetzt« des Performance-Ereignisses vollzieht, sondern auf verschiedenen Zeitebenen zwischen verschiedenen zerstreuten Öffentlichkei 11 Alle Künstler_innen wurden vorher von uns um ihr Einverständnis gefragt, nicht alle waren einverstanden damit, dass wir von ihren Performances bloggen würden. 12 Ein Beispiel: »›wiered show‹ was actually ›wiered shit‹« [sic!].
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ten – und das auch, wenn gerade niemand von einer Performance live bloggt. Fragen Die Erfindung des Live Art Live Blogs ist einer von vielen Versuchen in unserer Arbeit als random people, die spezifischen Beziehungen in den Blick zu nehmen, die Performancekunst zu den diversen Öffentlichkeiten aufbaut, die durch eine Performance adressiert werden. Der Plural ist wichtig hier, denn es geht dabei auch darum, die diskursive Verbreitung und Fortschreibung von Performances jenseits ihrer Existenz als singuläre Ereignisse zu untersuchen. Dieses Forschungsinteresse manifestiert sich dann in Arbeiten, die auf verschiedene Weise das Verhältnis von Performancekunst und Dokumentation ins Spiel bringen: zum Beispiel in Performances, die auf eine Reise gehen oder von einer Reise berichten, und damit das »Hier und Jetzt« der Performance aufsplittern; in Lecture-Performances, die als eine öffentliche Manifestation eines längeren Forschungsprozesses fungieren; oder in instruction pieces, deren Realisierungen nur eine von vielen möglichen Realisierungen desselben Materials darstellen. Während das live vor Ort versammelte Publikum üblicherweise als konstitutiv für das Performance-Ereignis betrachtet wird, lautet unsere Frage: Welche Rolle spielen all jene, die nicht dabei sind? Und aus dieser Frage ergeben sich weitere Fragen: Welche Formen von Teilhabe an Performance sind jenseits einer Teilnahme an dem Performance-Ereignis denkbar? Auf welche Weise artikuliert sich in dem Verhältnis von Performance und Dokumentation eine spezifische Ökonomie der Performancekunst? Und nicht zuletzt, im Kontext dieses Bandes: Wie kann Performance im Sinne eines »Forschens aller« als das Produkt eines kollektiven Prozesses verstanden werden, der sich eben nicht nur zwischen den am Live-Event beteiligten Akteur_innen (Performer_innen, Zuschauer_innen) entspannt, sondern an dem über die Dokumentation künstlerische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse und Akteur_innen aller Art beteiligt sein können? Diesen Fragen wollen wir in der Folge nachgehen, und wenden uns hierfür zunächst der Geschichte der Performancekunst selbst zu.
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P ERFORMANCE , D OKUMENTATION
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F ORSCHUNG
Shooting Shoot
Am 19.11.1971 wurde der Performancekünstler Chris Burden in der F Space Gallery in Santa Ana, Kalifornien, von einer Kugel in den linken Arm getroffen. Ein Freund des Künstlers feuerte aus 15 Fuß Entfernung einen Schuss aus einem Kleinkalibergewehr ab. Abgemacht war, dass der Freund einen Streifschuss setzen würde. Stattdessen ging die Kugel direkt durch Burdens Arm, und zurück blieb, wie Burden es später beschreiben würde, ein »smoking hole«, ein »rauchendes Loch«. Angeblich hatte sich Burden just in der Sekunde, in der sein Freund abdrückte, entschieden, den Arm zu bewegen. Auf den Fotos, die von Burden nach der Performance entstanden sind, kann man sowohl die Eintritts- und die Austrittswunde erkennen, und einen schmalen Blutfaden, der den Arm entlang dort herunterrinnt, wo die Kugel getroffen hat. Obwohl nur etwa zehn Leute anwesend waren, um Burdens Performance zu sehen – »Maybe ten people that I knew came over and saw it.« (Burden 1993, 18), berichtet Burden – ist Shoot zu einem der ikonischen Werke der Performancekunst geworden. Für Burden selbst ist die Echtheit des Schusses der Grund für die anhaltende Faszination an seiner Arbeit: »[…] I think the reason that the piece works, or continues to work, is that you see it on television and in films over and over, and it’s always fake if you actually see people being shot on television. Actually, being shot is quite different.« (Burden 1993, 20) Obwohl Burden sagt, dass er keine Ahnung hat, wie das Esquire Magazine an die Fotos von Shoot gelangt ist, begleiteten diese 1973 einen Artikel mit dem Titel Proof That The 70s Have Finally Begun. Aber nicht nur die 70er Jahre hatten begonnen, sondern mit ihnen die Formierung von »performance and performance art […] as major cultural activities in the United States as well as in Western Europe and Japan« (Carlson 2004, 110). Die Publikation der Dokumentation von Shoot in Esquire und anderen Zeitschriften machte Burden zu einer Celebrity, wie er selbst in einer Anekdote erzählt, die sich – wohl zufälligerweise, aber auch folgerichtig – im Fotoladen abspielte: »I remember going to the photo store, and the man at the photo store had seen the magazine. He said, ›Oh, you’re famous now‹.« (Burden 1993, 18) Die Fotos von Shoot waren Beweis nicht nur dafür, dass die 70er Jahre endlich begonnen hatten, oder dass Chris Burden berühmt geworden war, ihr Status
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als »Beweis« beschreibt auch und vor allem ihr Verhältnis zu dem originären Performance-Event. Burden wusste nicht nur um die Bedeutung von Dokumentation für seine Arbeit, er setzte diese auch ganz gezielt ein: »The combination of the dispassionate, dry written statement with the still image, like a police documentation, was really important. There would be no explanation as to why these things had happened, or what it meant.« (Burden 1993, 17) Der dokumentarische Stil, den Burden hier beschreibt, greift, wie so viele andere Beispiele früher Performancekunst, eine »deliberately raw aesthetic, resembling crime reportage« (Warr 2003, 32) auf, und bemüht damit eine Wahrnehmung der Photographie als Beweis und objektive Wiedergabe eines Ereignisses, die sich von der Indexikalität der Photographie ableitet. Die nach gängigen Definitionen vergängliche Performancekunst überlebt damit als Foto, das wiederum bestimmten Kategorien gerecht werden muss, als »the ›good‹ image from a picture editor’s point of view« (Warr 2003, 32). Burdens Shoot ist aus diesem Blickwinkel eben nicht zuletzt auch ein photo shoot. Performance und Dokumentation In den letzten Jahren hat sich im Bereich der Performance Studies eine ausführliche Debatte um das Verhältnis von Performancekunst und Dokumentation entsponnen,13 die sich in weiten Teilen als kritische Auseinandersetzung mit Peggy Phelans bekannter Definition von Performance verstehen 13 Der von Amelia Jones und Adrian Heathfield herausgegebene Band Perform Repeat Record: Live Art in History (2012) versammelt neben neuem Material auch einige zentrale Texte dieser Debatte. Wie bereits der Untertitel des Buches verrät, in dem für die untersuchten Kunstformen der Überbegriff Live Art gewählt worden ist, beschränkt sich die Debatte selten auf die Performancekunst alleine: so versammelt Perform Repeat Record auch Positionen zu und aus Bereichen wie Tanz, Theater oder Body Art. Während wir für den Live Art Live Blog (auch weil das besser klingt als »Performance Art Live Blog«) ebenfalls von Live Art sprechen, verwenden wir hier die Begriffe »Performancekunst« und gelegentlich, aber zumeist um das Ereignis und nicht ein spezifisches Genre zu beschreiben, »Performance«, da eine Auseinandersetzung mit historischer Performancekunst den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet.
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lässt, nach der Performance erst durch ihr Verschwinden wird. Hier noch mal das entsprechende Zitat: Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology. Performance’s being […] becomes itself through disappearance. (Phelan 1996, 146)
Es ist nicht Phelan alleine, die eine solche Position formuliert; vielmehr handelt es sich bei der Annahme, dass Performance sich ob ihrer Ereignishaftigkeit von allen anderen Kunstformen unterscheide, um das kunsthistorische Alleinstellungsmerkmal der Performancekunst.14 Und nicht nur bei Phelan ist mit dieser Annahme auch ein politischer Anspruch verbunden, bei der die Vergänglichkeit der Performancekunst als Abwendung vom auf Objekte fixierten Kunstmarkt verstanden wird: »Performance clogs the smooth machinery of reproductive representation necessary to the circulation of capital.« (Phelan 1996: 148) Leider stimmt das so nicht. Doch vor der notwendigen Relativierung dieser Position muss auch anerkannt werden, dass Phelans Ausführungen ein historisches Selbstverständnis der frühen (und auch mancher zeitgenössischer) Performancekunst sehr treffend 14 Hans-Friedrich Bormann beschreibt diese Vorstellung zu Beginn seines Aufsatzes Der unheimliche Beobachter: Chris Burden, 1975: Performance als Dokument: »Nach einer geläufigen Vorstellung findet die Kunst der Performance im Modus des Ereignisses statt. Singularität und Prozessualität dienen als begriffliche Abgrenzungen zum Kunstwerk als Objekt und sichern so die Kohärenz der kunsthistorischen Perspektive. Vor diesem Hintergrund gelten Dokumente und Artefakte als sekundäre, defizitäre Erscheinungsform, der die ungegenständliche Aktion selbst vorzuziehen wäre.» (Bormann 2001, 403) Und deswegen lächeln Performancekünstler_innen auch nicht auf Fotos: um zu signalisieren, dass ihre Aufmerksamkeit alleine der gegenwärtigen Erfahrung der Performance und nicht deren Repräsentation gilt. Nicht unbedingt gegenüber dem Publikum, aber gegenüber der Kamera würden sich Performancekünstler_innen damit so verhalten, wie Schauspieler_innen im naturalistischen Theater gegenüber der vierten Wand.
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artikulieren,15 die Vorstellung dass, wie Philip Auslander schreibt, »[…] live event is ›real‹ and that mediatized events are secondary and somehow artificial reproductions of the real« (Auslander 1999, 3). Mit dieser Vorstellung einher geht eine Hierarchisierung, die das Performance-Event gegenüber allen Formen von Dokumentation privilegiert. Oder, wie Burden es formuliert: »Actually, being shot is quite different«. Doch bereits der Verweis auf diese Differenz macht klar, dass das LiveEvent auf die mediale Repräsentation als Referenzsystem angewiesen ist, um seine eigene liveness zu autorisieren.16 So hat Auslander die gegenseitige Abhängigkeit von Performance und Dokumentation beschrieben, bei der die Dokumentation das dokumentierte Event erst als Performance kenntlich macht: Dokumentation »produces an event as a performance« (Auslander
15 Gleichzeitig kann es nicht genügen, den politischen Anspruch, der in diesem Selbstverständnis zum Ausdruck kommt, einfach als unhaltbar abzuqualifizieren. Eine Kritik der reflexhaften Annahme, dass Performancekunst unmittelbarer, realer, echter als andere Kunst und deswegen per se politisch, kritisch, radikal oder revolutionär sei (wie sie Sven Lütticken in dem Aufsatz »Performance Ideology: Past and Present« (Lütticken 2012) beschreibt und problematisiert) sollte auch nach den Bedingungen fragen, unter denen eine politische Performancekunst trotz aller Einwände vorstellbar wird. 16 Auslander begründet seine Argumentation gegen eine ontologische Differenz zwischen Live-Performance und medialen Repräsentationen aus der Beobachtung heraus, dass Live-Performance mediale Repräsentationen in sich aufnehmen kann, und beobachtet ein zunehmendes Verschwimmen der Opposition zwischen »live« und »mediatisierter« Performance: »Live performance has thus become the means by which mediatised representations are naturalized, according to a simple logic that appeals to our nostalgia for what we assumed was the im-mediate: if the mediatised image can be recreated in a live setting, it must have been ›real‹ to begin with. This schema resolves (or rather fails to resolve) into an impossible oscillation between the two poles of what once seemed a clear opposition: whereas mediatised performance derives its authority from its reference to the live or the real, the live now derives its authority from its reference to the mediatised, which derives its authority from its reference to the live, etc.« (Auslander 1999, 38–9)
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2006, 5).17 Und Rebecca Schneider hat in ihrem einflussreichen Aufsatz »Performance Remains« gefragt, inwieweit die Wahrnehmung von Performance als verschwindend nicht die Logik des Archivs fortschreibt, das nur beachtet, was es in sich aufnehmen kann, und damit materielle Spuren gegenüber anderen Formen des Erinnerns bevorzugt. Performance kann dann als Ausweg aus dem »house arrest« (Derrida 1995, 2) des Archivs verstanden werden: Performance »remains, but remains differently«, das heißt auch, dass in Performance andere Formen des Erinnerns, und damit auch andere Formen von Wissen, verhandelt werden können (Schneider spricht hier von »flesh memory« (Schneider 2012, 146).18 Und last but not least hat Amelia Jones in einem weiteren zentralen Text zum Verhältnis von Performance und Dokumentation darauf verwiesen, dass gegenüber keinem kulturellen Produkt eine unmittelbare oder unvermittelte Beziehung möglich ist – »there is no possibility of an unmediated relationship to any kind of cultural product, including body art« (Jones
17 An dieser Stelle muss auch erneut auf Bormann verwiesen werden, der – wie Auslander – der Vorstellung einer notwendigen ontologischen Differenz zwischen Performance und Dokument widerspricht. Anhand von Burdens Video Documentation of Selected Works 1971–1974 von 1975 erörtert Bormann, wie gerade die scheinbare Unzulänglichkeit des (in diesem Fall filmischen) Dokumentationsmaterials Burden erlaubt, das »Erfahrungspotential der Dokumente selbst zu erschließen« (Bormann 2001, 410), so dass auch die Betrachtung der Dokumente zu einem »Ereignis« werden kann. Während wir bisher ausschließlich auf die photographische Dokumentation von Burdens Arbeit eingegangen sind, geht Bormanns Text auch auf die auch für Burden wichtigen Unterschiede zwischen verschiedenen Medien der Performancedokumentation ein. Den Verweis auf Bormanns auch sonst sehr aufschlussreichen Text belassen wir hier (erneut) in einer Fußnote, weil er ohne sich auf diese zu beziehen sozusagen parallel zu der Debatte im anglophonen Bereich der Performance Studies läuft, die wie hier kurz skizzieren wollen. 18 Schneider richtet ihren Fokus auf die Rolle des Körpers in der Performance, sie interessiert sich für Arbeiten »in which history is not limited to the imperial domain of the document, or in which history is not ›lost‹ through body-to-body transmission« (Schneider 2012, 146) .
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1997, 11).19 Interessant für unsere Überlegungen hier ist jedoch vor allem der Ausgangspunkt von Jones’ Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Performance und Dokumentation. Wenn wir zuvor von einer Hierarchisierung gesprochen haben, die das Live-Event der Dokumentation vorzieht, bedeutet das auch, dass ein bestimmter Zugang zu Performance (die Anwesenheit bei dem originärem Live-Event) anderen, vermittelten Zugängen vorzuziehen sei. Jones beginnt ihren Aufsatz »›Presence‹ in Absentia: Experiencing Performance as Documentation« wie folgt: I was not three years old, living in central North Carolina, when Carolee Schneeman performed Meat Joy at the Festival of Free Expression in Paris in 1964; three when Yoko One performed Cut Piece in Kyoto; eight when Vito Acconci did his Push Ups in the sand at Jones Beach […] (Jones 1997, 11)
An der Unmöglichkeit, räumlich wie zeitlich, bedeutenden historischen Performancearbeiten als Zuschauerin beizuwohnen, entzündet sich für Jones die Frage, wie sie als Wissenschaftlerin über diese Arbeiten schreiben soll, ohne sie auf die Weise wahrgenommen zu haben, die nach gängiger Performancekunstideologie die einzig »wahre« Zugangsweise zu Performances ist. Jones’ Schlussfolgerung: I would argue, however, that the problems raised by my absence (my not having been there) are largely logistical rather than ethical or hermeneutic. That is, while the experience of viewing a photograph and reading a text is clearly different from that of sitting in a small room watching an artist perform, neither has a privileged relationship to the historical ›truth‹ of the performance […]. (Jones 1997, 11)
An diesem Statement zeigt sich, was sonst eher implizit verhandelt wird, nämlich, dass in der Debatte um Performancekunst und Dokumentation nicht zuletzt auf dem Spiel steht, welche Möglichkeiten der Teilhabe an 19 Tatsächlich verweist die photographische Dokumentation nach Jones auf den supplementären Charakter auch der Performer-Körper selbst: »Seemingly acting as a ›supplement‹ to the ›actual‹ body of the artist-in-performance, the photograph of the body art event or performance could […] be said to expose the body itself as supplementary, as both the visible ›proof‹ of the self and its endless deferral.« (Jones 1997, 14)
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Performancekunst (auch jenseits der Teilnahme an dem originären Performance-Event) existieren. Performanceökonomien – Deluxe experiences Etwa zehn Menschen sollen laut Chris Burden bei Shoot dabei gewesen sein, »Maybe ten people that I knew came over and saw it.« In einem 1973 erschienen Artikel in der New York Times (Titel: »He Got Shot – For His Art«) ist von »12 intimates« (nach: Bedford 2012, 79) die Rede, also von zwölf Vertrauten. Ob zehn oder zwölf Zuschauer_innen, in jedem Fall waren dies geladene Gäste aus Burdens Bekanntenkreis, die »rübergekommen« sind, um live zu sehen, was der anonyme Photograph für die Nachwelt festhalten würde. Oder anders gesagt: erst in der Veröffentlichung der photographischen Dokumentation wird die Performance öffentlich. Nach Möglichkeiten der Teilhabe an Performancekunst zu fragen bedeutet daher auch, die spezifische Ökonomie der Performancekunst genauer in den Blick zu nehmen. Die oben zitierte Annahme, dass sich Performancekunst ob ihrer Vergänglichkeit dem Warenkreislauf entziehen könne, ist in mehrerlei Hinsicht problematisch.20 Zunächst einmal ignoriert diese Annahme, dass Performancekunst von Anfang an, als Dokumentation, Ob 20 Während wir uns hier auf eine Untersuchung von Performance als Ware beschränken, kann man natürlich auch fragen, wie es um Performance als Arbeit bestellt ist, also nicht um Performance als Produkt, sondern als spezifische Form der Produktion. Paolo Virno sieht in der »virtuosen« Tätigkeit des »performing artist« das Modell immaterieller Arbeit im Post-Fordismus: »First of all, theirs is an activity which finds its own fulfilment (that is, its own purpose) in itself, without objectifying itself into an end product, without settling into a ›finished product‹, or into an object which would survive the performance. Secondly, it is an activity which requires the presence of others, which exists only in the presence of an audience.« (Virno 2004, 52) Während der Verzicht auf die Herstellung von Objekten für Performancekunst einmal einen Ausweg aus der Logik der kapitalistischen Produktion zu versprechen schien, entwickelt sich diese parallel in dieselbe Richtung, so dass Performancekunst heute gar als Modell kapitalistischer Produktion fungieren kann: »The dematerialization of art has completed its capitalist turn.« (Lütticken 2012, 190)
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jekte produziert hat.21 Es ist jedoch nicht erst ihre Übersetzung in Dokumentation, die Performance zu einer Ware macht (auch wenn dies durchaus geschehen kann und kaum ein Museum zeitgenössischer Kunst heute ohne Exponate auskommt, die Performances dokumentieren).22 Doch um zur Ware zu werden, muss Performance nicht zum Objekt werden, wie Sven Lütticken ausführt: »After all, according to Marxist political economy, a commodity does not have to be a material object: a commodity is anything that is exchanged for money, anything that is sold.« (Lütticken 2012, 189) So hat ein aktueller Bericht der Boston Consulting Group zum Beispiel festgestellt, dass im Luxussegment derzeit die Verkaufszahlen von Erfahrungen, von »deluxe experiences«, um 50% schneller wachsen als die für Dinge.23 Im Pressetext zu dem Bericht heißt es: ›All over the world, luxury shoppers tell us they’d rather spend more on experiences than on clothes and jewellery. They’ve gone from ‘all my friends and I wear Cartier’ to ‘I cherish spa days with my friends’,‹ says Michelle Eirinberg Kluz, a BCG prin-
21 Das wiederum bedeutet, dass Arbeiten, die sich nicht so einfach in ein anderes Medium übertragen lassen und damit dem Selbstanspruch der Performancekunst am nächsten kommen, aus aufmerksamkeitsökonomischer Hinsicht auf der Strecke bleiben, wie auch die Performancekünstlerin Hayley Newman feststellt: »[…] it is the image and its supporting text that is given privilege in publications on the subject, creating a handful of historical performances that have become notorious through their own documentation, leaving others behind that have not made the transition into the single image.« (Newman 2001, 39) Die Künstler_innen, die ihre Arbeit nicht dokumentieren, oder deren Arbeit sich nicht zur Dokumentation eignet, finden nach Newman schwerer Zugang in die Geschichtsschreibung der Performancekunst. Auf der anderen Seite beschreibt Lütticken, wie der Verzicht auf Dokumentation, insofern dieser ein »spectacle of absence« (Lütticken 2012, 193) kreieren kann, auf dem Kunstmarkt durchaus wirkungsvoll eingesetzt werden kann (ein Aspekt, auf den wir noch zurückkommen werden). 22 Boris Groys diagnostiziert für die zeitgenössische Kunst gar eine grundlegende Verschiebung des Interesses »away from the art work and toward art documentation« (Groys 2012, 209). 23 http://www.bcg.com/media/PressReleaseDetails.aspx?id=tcm:12-107201 15.11.2012.
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cipal and coauthor of the report. ›Although experiences are more intangible than an item, consumers consider them more memorable.‹
Wenn Phelan also schreibt, dass »Performance honors the idea that a limited number of people in a specific time/space frame can have an experience of value which leaves no visible trace afterward« (Phelan 1996, 147), dann ist dieses Lob des Wertes der besonderen Erfahrung, die Performance ermöglicht, eben auch völlig unabhängig von der Frage, ob eine materielle Spur bleibt, uneingeschränkt kompatibel mit der Logik, nach der Erfahrungen verkauft und vermarktet werden.24 In dem oben bereits zitierten Pressetext heißt es außerdem, dass junge Menschen sich heute eher darüber definierten, was sie getan und erfahren haben als darüber, was sie besäßen, und dass daraus ein »greater sense of purpose and satisfaction« erwachse als aus dem Kauf von Dingen. Statt »mein Haus mein Auto mein Boot« heißt das Motto heute immer mehr »been there, done that«.25 Und welcher Fürsprecher der Performancekunst würde nicht zustimmen, dass Performancekunst zu erleben sinnvoller und befriedigender sei als der Kauf von beispielsweise Armbanduhren? Gerade die angenommene Nicht-Reproduzierbarkeit von Performancekunst lässt sie unter diesem Blickwinkel noch exklusiver erscheinen als manches Kunstobjekt, das beispielsweise seinen Weg ins Museum findet. Auf dem Kunstmarkt ist es die Idee des Originals, über die 24 Auch an dieser Stelle könnte man mit Virno weiterdenken, der beschreibt, wie Erfahrungen, die historisch nicht dem Bereich der Arbeit zugerechnet wurden, heute nicht mehr von diesem zu trennen sind und damit dem Modus kapitalistischer Produktion unterliegen: »Labor and non-labor develop an identical form of productivity, based on the exercise of generic human faculties: language, memory, sociability, ethical and aesthetic inclinations, the capacity for abstraction and learning. […] The crucial point here is to recognize that in the realm of labor, experiences which mature outside of labor hold predominant weight; at the same time, we must be aware that this more general sphere of experience, once included in the productive process, is subordinate to the rules of the mode of capitalistic production.« (Virno 2004, 103–104) 25 Der Ausdruck »been there, done that« wird gelegentlich noch um den Zusatz »bought the T-shirt« ergänzt. »Been there, done that, bought the T-shirt« verweist dann wiederum darauf, wie Objekte durch Erfahrungen, die sie repräsentieren, aufgeladen werden.
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Wert geschöpft wird – wird etwas in Serie hergestellt, so muss es limitiert und nummeriert werden. Kunstwerke erhalten ihren Wert gerade dadurch, dass sie der Zirkulation entzogen werden. Das Insistieren auf dem LiveEvent als ausschließlicher Form der Teilnahme an Performancekunst verunmöglicht die Teilhabe an Performances all jenen, die nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein können, und lässt Performancekunst – sicherlich unbeabsichtigt – als ultimatives Luxusgut erscheinen. Die Aufgabe muss also sein, für Performancekunst ein Modell von Erfahrung zu entwerfen, das nicht auf Ausschluss beruht. (Mehr als) Zur richtigen Zeit am richtigen Ort Während das Live-Ereignis der Performance dem (oftmals kleinen) anwesenden Publikum vorbehalten ist, werden, wie sich am Beispiel Shoot zeigt, viele Performances dennoch über Zeit und Ort dieses Ereignisses hinaus bekannt und auch rezipiert.26 Die Geschichte der Performancekunst ist genau genommen eine Geschichte der Performancekunstdokumentation. 26 Christopher Bedford entwirft in diesem Kontext – und selbstverständlich wieder in Abgrenzung zu Phelan, und ebenfalls mit Bezug auf Shoot – die Vorstellung einer »viral ontology of performance«: »[…] I want to draw attention to a new concept of the ontology of performance art, one in which a given performance – in this case Burden’s now infamous work – splinters, mutates, and multiplies over time in the hands of various critical constituencies in a variety of media, to yield a body of critical work that extends the primary act of the performance into the indefinite future through reproduction. This approach in turn forces us to relinquish our attachment to the performance as primary act and instead submit to the notion that the object of performance art is in fact a long, variegated trace history that begins with the performance, but whose manifestations may extend, theoretically, to infinity. This extended trace history I will refer to as the viral ontology of performance art.« (Bedford 2012, 78) Es muss hier jedoch angemerkt werden, dass der Prozess, den Bedford skizziert, nicht notwendigerweise erst mit der Performance beginnt. So beschreiben Pearson und Shanks in Theatre/Archaeology: Disciplinary Dialogues, dass sich der Prozess der Performancedokumentation »before, during and after the event« (Pearson/Shanks 2001, 58) vollzieht.
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Für diese Dokumentation hat sich gerade in der Anfangszeit ein klares, beinahe standardisiertes Format etabliert – Foto plus kurzer Text – welches als Index für das vergangene und für viele auch verpasste Ereignis fungiert. Dies bedeutet jedoch auch: Performance wurde von jeher für verschiedene Publika produziert. Tracy Warr unterscheidet zwischen »three layers of audience«: Each performance work may have at least three layers of audience: the immediate audience, the audience that experiences the work through its distributed and fragmentary documentation, and the audiences of posterity, doing the same, but adding more layers to the discourses, texts and interpretations of the work. (Warr 2003, 31)
Zwei Aspekte sind hieran für uns interessant: Während erstens der Fokus auf den Live-Moment, auf die Kopräsenz aller Beteiligten gerichtet wird, also auf der einen Seite alle NichtAnwesenden scheinbar exkludiert werden, werden diese andererseits in den verschiedensten Formen der Dokumentation, die zumindest teilweise bereits während des Events (und manchmal auch davor) entstehen, gleichzeitig als künftiges Publikum adressiert. Diese Adressierung kann beispielsweise auch genau darin bestehen, die Kamera des Photographen explizit zu ignorieren,27 und selbst die Entscheidung, jegliche Dokumentation zu untersagen, muss als Entscheidung für eine bestimmte Form der Repräsentation verstanden werden: Lütticken beschreibt beispielsweise, wie Tino Sehgals undokumentierte Performances als Gerüchte zirkulieren: »The prohibition on photography stimulates instead the reproduction of the work in the form of rumor.« (Lütticken 2012, 193) Auch die Entscheidung gegen Dokumentation schafft eine bestimmte Form von Aufmerksamkeit für eine vergangene Arbeit (auch im Sinne einer Ökonomie der Aufmerksamkeit), und damit eine bestimmte Form der Adressierung eines Publikums, das sich eben nicht nur aus den Anwesenden zusammensetzt, sondern auch aus potentiell all jenen, die nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Die 27 An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass es auch in der frühen Performancekunst Beispiele für Arbeiten gibt, in denen die Kamera nicht bloß mitgedacht wird, sondern als konstitutives Element der Performance in Erscheinung tritt, so beispielsweise in vielen Arbeiten Vito Acconcis, am berühmtesten vielleicht in dessen Following Piece (1969).
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Öffentlichkeit der Performance ist immer größer als ihr unmittelbares Publikum. In Publics and Counterpublics beschreibt Michael Warner, wie sich Öffentlichkeiten erst durch die Adressierung als solche konstituieren. Warner unterscheidet zwischen einer Öffentlichkeit als »concrete audience, a crowd witnessing itself in visible space, as with a theatrical public« und einer Öffentlichkeit, die in Relation zu Texten und ihrer Zirkulation entsteht (Warner 2005, 66). In ihrer untrennbaren Verbindung zur Dokumentation lässt die Performancekunst diese Öffentlichkeiten sich überschneiden, indem sie eine (mindestens) doppelte Adressierung durchführt.28 Diskussionen über Performancedokumentation widmen sich jedoch vorwiegend der Relation zwischen Performance-Event und Dokumentation und klammern damit die Beziehung aus, die jede Performance zu den Nicht-Anwesenden entwirft. Eine Ausnahme stellt (neben den oben zitierten Ausführungen Warrs) Auslanders Diskussion von Performancedokumentation dar, die ganz explizit das Publikum der Dokumentation in den Blick nimmt und dieses sogar als wichtiger für die Performance erachtet als das Live-Publikum. Um diese Argumentation nachzuvollziehen, zitieren wir hier ausführlich: I submit that the presence of that initial audience has no real importance to the performance as an entity whose continued life is through its documentation because our usual concern as consumers of such documentation is with recreating the artist’s work, not the total interaction. As a thought experiment, consider what would happen were we to learn that there actually was no audience for Chris Burden’s Shoot, that he simply performed in an empty gallery and documented it. I suggested that such a revelation would make no difference at all to our perception of the performance, our understanding of it as an object of interpretation and evaluation, and our assessment of its historical significance. In other words, while the presence of an initial audience may be important to performers, it is merely incidental to the performance as documented. […] when artists decide to document their performances, they assume responsibility to an audience other than the initial one, a gesture that ultimately obviates the need for an initial audience. […] In that sense, it is not the ini-
28 Dass die Trennlinie zwischen den verschiedenen Öffentlichkeiten nicht klar zu ziehen ist, weiß auch Warner: »distinctions […] are not always sharp« (Warner 2005, 66).
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tial presence of an audience that makes an event a work of performance art: it is its framing as performance through the performative act of documenting it as such. (Auslander 2006, 6, 7)
Auslander schreibt durchaus polemisch gegen das Primat der Kopräsenz und liveness in der Performancekunst an – so sehr, dass er das Live-Publikum kurzerhand für überflüssig erklärt. Interessanter als eine solche Konkurrenzsituation erscheint uns jedoch, wie sich die verschiedenen »layers of audience«, die verschiedenen Öffentlichkeiten der Performance, und das heißt auch die verschiedenen Adressierungen, überlagern und wie sie ineinander greifen: Wie werden in einer Performance die Anwesenden und Nicht-Anwesenden gleichzeitig und gleichzeitig ungleichzeitig angesprochen? Während Auslander von »Konsumenten« der Dokumentation schreibt, spricht Warr dem Publikum auch eine produzierende Funktion zu – und dies ist der zweite für uns interessante Aspekt an ihrem Argument: Das Performanceereignis wird in der Dokumentation nicht nur festgehalten und den zuvor Nicht-Anwesenden zugänglich gemacht, sondern diese können (als, wie Warr sie nennt, »audiences of posterity«) der Dokumentation neue Ebenen hinzufügen, diese erweitern und somit an der Performance mit- und fortschreiben. Und das rückt dann auch die Frage in den Blick, wie sich die verschiedenen Formen von Wissen zueinander verhalten, die über eine (vergangene) Performance kursieren beziehungsweise wie Wissen durch und über diese Performance auf allen Ebenen ihrer Rezeption von den verschiedenen Beteiligten (an- oder abwesend) produziert wird. Accounts – lost in translation Um hervorzuheben dass das Performance-Event auch ein nicht anwesendes Publikum, eine andere Öffentlichkeit, adressiert, und um die Möglichkeit dieser Öffentlichkeit, der Performance im Nachhinein neue Ebenen und Aspekte hinzuzufügen, in den Blick zu nehmen, möchten wir – ergänzend zum Begriff der Dokumentation, weitestgehend synonym aber in mancher Hinsicht darüber hinaus weisend – an dieser Stelle einen weiteren Begriff ins Spiel bringen: den account. Die Wahl eines englischen Begriffes hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Großbritannien – und genauer gesagt: Wales – für uns in den letzten Jahren ein wichtiger Arbeitskontext war. Doch
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in jeder deutschen Übersetzung des Begriffes account vermissen wir die eine oder andere uns wichtig erscheinende Nuance, die den Begriff überhaupt erst interessant hat erscheinen lassen. Um diese verschiedenen Assoziationen und Implikationen des Begriffes für uns nutzen zu können – oder ihnen in anderen Worten Rechnung zu tragen (auf englisch »to account for them«), sprechen wir jetzt auch in diesem deutschen Text von accounts – bis wir eine entsprechende Übersetzung gefunden haben.29 Übliche Übersetzungen für account sind »Bericht« oder »Darstellung«. Und diese Bedeutungen sind auch zentral, wenn man von Performancedokumentation als account spricht: durch die Dokumentation wird ein ganz bestimmtes Narrativ des vergangenen Ereignisses produziert und gleichzeitig das Ereignis in einem anderen Format und Medium dargestellt – zumindest meistens. Denn wichtig ist hierbei, dass ein account im Gegensatz zu Dokumentation nicht notwendigerweise eine Opposition zwischen vergänglichem Live-Ereignis und bleibendem Dokument impliziert: während Dokumentation (im allgemeinen Verständnis) in anderen Medien als Performance stattfindet (Foto, Text, Video), kann ein account auch live und damit vergänglich sein (zum Beispiel in Formen wie Oral History, Re-enactment oder in manchen Lecture-Performances). 30 Die Verbkonstruktion »to give an account« beschreibt eine Tätigkeit, die sowohl schriftlich als auch mündlich, aber eben auch anders medial vermittelt vollzogen werden kann. Neben den Bedeutungen des »Berichts« und der »Darstellung« bietet der Begriff jedoch noch andere Konnotationen, die ihn für den Kontext der Performancedokumentation treffend erscheinen lassen: zum einen impliziert er Fragen von Verantwortlichkeit oder Rechenschaft (»accountability«), zum anderen verweist er auf ökonomische Zusammenhänge (»account« ist auch das englische Wort für »Konto« und »Abrechnung«, und der »accountant« ist natürlich der »Buchhalter«). Wie wir bereits festgestellt haben, wird in der Debatte um Performancedokumentation eben auch die Ökonomie der Performancekunst verhandelt. Wenn wir anstatt von Dokumentation von accounts sprechen, stellen wir auch genau diese Frage der Ökonomie in den Raum: Was rechnet 29 Vorschläge hierzu gerne per E-Mail an: [email protected]. 30 Pearson und Shanks haben für Performances, die andere Performances dokumentieren, den Begriff der »second-order performance« (Pearson/Shanks 2001, 58) eingeführt.
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sich im account und was nicht? Und wie können wir uns vielleicht verrechnen? Einen account von einer Performance vorzulegen, impliziert Verantwortlichkeit nicht nur gegenüber dem, was ›wirklich‹ geschehen ist, sondern auch in Bezug darauf, was in einem account inkludiert wird und was nicht, an wen sich dieser richtet und an wen nicht, und wie dieser verbreitet wird. Und diese Frage betrifft nicht nur die Künstler_innen selbst, oder die mit der Dokumentation beauftragten (oft anonym bleibenden) Personen, sondern, wenn die »audiences of posterity« diesem account neue Ebenen, neue accounts hinzufügen, alle (und eben auch zukünftige) Öffentlichkeiten der Performance. In der Übersetzung von Performances in accounts geht eben nicht nur etwas verloren, vielmehr erschließen die accounts der Performance auch neue Bedeutungs- und Verständnisebenen. Adressierungen von accounts In Judith Butlers Giving an Account of Oneself wird to give an account mitunter als »Rechenschaft ablegen« übersetzt. Die Verbindung von Narration und Verantwortlichkeit, die sich im Begriff account finden lässt, kommt sowohl in Butlers Buch als auch in Adriana Cavareros Relating Narratives, auf das Butler sich streckenweise bezieht, zum Tragen.31 Butler und Cavarero schreiben beide nicht über Performancekunst oder Dokumentation, sondern über die Konstitution des Subjekts, darüber, wie das Subjekt von sich selbst erzählt beziehungsweise wie es an dem Versuch, die eigene Geschichte zu erzählen, stets scheitern muss.32 31 Butlers Giving an Account of Oneself wurde übersetzt als Kritik der ethischen Gewalt. 32 Butler spricht von account und nicht von story, da Fragen der Verantwortung und Rechenschaft bei ihr im Zentrum stehen. So wird in der deutschen Übersetzung dieser Aspekt betont – »An Account of Oneself« (der Titel des ersten Teils des Buches) heißt hier »Rechenschaft von sich selbst« (siehe Butler 2003). Hiermit wird nochmals deutlich, dass es keine deutsche Übersetzung gibt, die die beiden Bedeutungen von account als Narration und Rechenschaft beinhaltet. So kann im Fließtext der deutschen Übersetzung auch nicht durchgehend von Rechenschaft gesprochen werden, an einigen Stellen wird account mit »Darstel-
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Obwohl ihre Theorien damit nicht eins-zu-eins auf Fragen der Performancedokumentation übertragbar sind, wollen wir uns hier doch auf sie beziehen, da beide den Aspekt der Adressierung hervorheben, die Bedingung eines jeden accounts ist.33 Für beide ist der Andere/die Andere Voraussetzung, die eigene Geschichte zu erzählen – Butler spricht von der »structure of address«, die jedem account unweigerlich innewohnt und ohne die der account nicht stattfinden kann. Genau diese »structure of address« macht dann jedoch den account unmöglich, da das Ich sich selbst erst durch eine Adressierung als solches konstituiert hat und nicht zurückkehren kann zur »scene of address by which it is inaugurated«, aber auch, weil »the structure of address in which the account itself takes place« (Butler 2005, 67) unüberschaubar bleiben muss, da die Adressierung die Form ihrer Rezeption nicht kennen kann. Auch für Cavarero ist das Subjekt nicht in der Lage, die eigene Geschichte zu erzählen; im Gegensatz zu Butler konzentriert sie sich aber nicht auf diese Unmöglichkeit, sondern vielmehr auf die Fähigkeit des Anderen, diese Geschichte zu erzählen: »[…] it is the other […] who can realize such a narration.« (Cavarero 2000, 56) Für Butler wie Cavarero schließt die Unfähigkeit, die eigene Geschichte zu erzählen, jedoch nicht den Versuch aus, diese dennoch zu erzählen – wie Cavarero es formuliert: »I will tell you my story in order to make you capable of telling it to me.« (114) Giving an account ist also – mit Blick auf Butler und Cavarero – eine relationale Praxis: Immer an den Anderen adressiert, ist dieser Bedingung des accounts. Von Performancedokumentation als account zu sprechen bedeutet für uns also auch, diese Struktur der Adressierung hervorzuheben. Während Dokumentation einen Zugang zum vergangenen (und verpassten) Ereignis zu versprechen scheint, wird in der Diskussion um Performancedokumentation genau dieses Versprechen stets hinterfragt, zu unterschiedlich seien der Live-Moment und die Dokumente, die diesen festhalten. lung« oder »Geschichte« übersetzt, je nachdem, welcher Aspekt im Argument gerade betont werden soll (und grammatikalisch umsetzbar ist). 33 Eine Anwendung von Cavareros Erzähltheorie auf Fragen der Performancedokumentation findet sich auch in dem Aufsatz The Journeys of Lone Twin: Traces, Stories, Narration (Pilkington 2011).
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Auch in den Theorien von Butler und Cavarero geht es um die gleichzeitige Unmöglichkeit und Möglichkeit des accounts. Hier aber rücken anstatt des Versuchs, das Vergangene festzuhalten, die Schwierigkeiten der Adressierung in den Vordergrund, die derjenige, der den account ablegt, nicht überschauen kann beziehungsweise über die er keine Rechenschaft ablegen kann. Jedoch kann – Cavareros Argument folgend – der account vom Anderen weitergeführt und weitergegeben werden. Einen account abzulegen kann viele andere accounts hervorbringen. Cavarero verwendet in diesem Zusammenhang – in Anlehnung an Walter Benjamins ›Der Erzähler‹ – den Begriff des Netzes, eines »web of stories« (Cavarero 2000, 125). In diesem Netz jedoch überschneiden sich die accounts nicht nur, sondern (re-)produzieren sich gegenseitig durch die Notwendigkeit des Weitererzählens durch den Anderen (ebd.). Warrs »audiences of posterity«, die dem account der Performance neue accounts hinzufügen, erscheinen somit nicht als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit der Performance: »I will tell you my story in order to make you capable of telling it to me« – das heißt hier auch, dass die accounts derjenigen, die die Performance konzipiert oder durchgeführt haben, nur als Vorlage für weitere accounts zu verstehen sind. Giving an account ist somit nie die Sache eines Einzelnen, sondern der Beginn einer kollektiven Arbeit. Und das bedeutet auch, dass die Performance im account aus dem Modus des Ereignisses wieder in den Modus eines Prozesses übergeht und die zeitliche und räumliche Begrenztheit des Ereignisses verlässt, in der sich dessen Exklusivität begründet. Prozess, Produkt und Öffentlichkeit Interessanterweise werden im Bereich der künstlerischen Forschung ähnliche Fragen gestellt wie im Bereich der Performancedokumentation, (wobei hier die Fragestellung eher den pragmatischen Problemen einer Einordnung der künstlerischen Forschung in bestehende Strukturen und Modelle der Wissensproduktion und -vermittlung gilt): Das akademische Gebot, den Prozess und die Befunde der Forschung auf angemessene Weise zu dokumentieren und verbreiten, wirft im Zusammenhang mit der künstlerischen Forschung eine Reihe von Fragen auf. Was bedeutet ›angemessen‹ in diesem Zusammenhang? Welche Formen der Dokumentation würden einer For-
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schung gerecht, die von einem intuitiven schöpferischen Prozess und implizitem Verständnis geleitet wird? Welchen Wert hat eine rationale Rekonstruktion, wenn sie von dem tatsächlichen, sprunghaften Verlauf der Forschung entfernt ist? Welches sind die besten Möglichkeiten, über nicht-begriffliche künstlerische Befunde Rechenschaft abzulegen? (Borgdorff 2012, 86)
Auch wenn sich die Frage aufdrängt, wie spezifisch ein sprunghafter Verlauf und ein intuitives Vorgehen für künstlerische Forschung sind, so geht es doch auch hier um die Übersetzung eines zeitlichen Vorganges in ein anderes Medium. Gerade kamen wir ja bereits auf die spezifischen Zeitlichkeiten von Prozess und Ereignis zu sprechen. Besteht nicht ein Widerspruch zwischen der These, dass Performance im account beziehungsweise in der Dokumentation aus dem Ereignis in einen Prozess übergeht, und der hier der Dokumentation eines künstlerisch-wissenschaftlichen Prozesses zugesprochenen Rolle, eben diesen Prozess als Befund zu fixieren, so dass er publizierbar und zitierbar wird?34 Dieses Problem stellt sich nur, wenn man davon ausgeht, dass mit der Präsentation, mit der Veröffentlichung der »Befunde«, die Forschung abgeschlossen sei beziehungsweise wenn man auch für die künstlerische Forschung an der in den Wissenschaften gängigen Trennung zwischen Forschung und Darstellung festhält, während sich doch gerade dort ein anderes Verhältnis zwischen Prozess und Produkt der Forschung erproben ließe. Dies beschreibt Sibylle Peters anhand der Lecture-Performance in Der Vortrag als Performance35: in ihrem Bezug auf den 34 Jean-Baptiste Joly und Julia Warmers beschreiben, wie »artistic research« (bei allen unterschiedlichen Auffassungen des Begriffs und der Praxis, die dieser umfasst) durch einen Perspektivwechsel vom Produkt zum Prozess geprägt ist (vgl. Joly/Warmers 2012, IX). 35 Dass die Trennung zwischen Prozessen der Forschung und Darstellung in den szenischen Künsten nicht in derselben Weise gegeben ist wie in den Wissenschaften, beschreibt Peters auch im Hinblick auf die angenommene Ergebnisoffenheit der künstlerischen Präsentation in Bezug auf die Rezeption durch das Publikum: »Während die Wissenschaften generell dazu neigen, Forschung im Sinne der Produktion neuen Wissens und Darstellung im Sinne der Vermittlung bereits produzierten Wissens als zwei verschiedene Prozesse zu begreifen, ist im Kontext der szenischen Kunst die Arbeit an der Darstellung, also an der künstlerischen Präsentation, mit der Forschung weitgehend identisch. Ein wesentlicher
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wissenschaftlichen Vortrag nimmt sich die Lecture-Performance eines Formates an, das, so Peters, »traditionell als Format der Wissensvermittlung […] gilt« (Peters 2011, 187) – im Gegensatz zu einem Bezug auf »Orte und Verfahren der Wissensproduktion«, wie er sich im Verweis auf Anordnungen wie »Experiment, Versuch und Labor« (Peters 2011, 185) findet, auf die sich viele künstlerische Arbeiten auch und besonders im Bereich der szenischen Künste berufen. Dieser Bezug geht einher mit einer Charakterisierung solcher Arbeiten als (ergebnisoffener) Prozess,36 und nach Peters wird darin die in den Wissenschaften vorherrschende Privilegierung der Forschung gegenüber der Darstellung fortgeschrieben: Die mit Begriffen wie Labor und Experiment verbundene Gegenüberstellung von Prozess- und Produktorientierung lässt Forschung und Darstellung/Aufführung als gegensätzliche Pole erscheinen und transportiert damit implizit das wissenschaftliche Schema von Forschung (primär) und Darstellung (sekundär). Im Unterschied dazu wäre darauf zu insistieren, dass die Stärke und die Besonderheit des künstlerischen Zugangs zu Forschungsprozessen gerade darin liegt, dieses wissenschaftliche Schema zu konterkarieren. (Peters 2011, 186)
Zu fragen wäre hier jedoch, inwieweit eine Aufführung, auch wenn sie sich als Prozess, als Experiment, als Versuch versteht, da sie sich an eine Öffentlichkeit wendet, immer bereits Forschung und Darstellung zusammenführt, und damit als Modell einer Teilhabe an Prozessen fungieren könnte, die sonst nicht öffentlich sind. Letztlich stehen sich hier zwei unterschiedliche Verfahren gegenüber: einerseits, einen Forschungsprozess selbst als öffentlichen Vorgang zu realisieren und andererseits, die Präsentation von Forschung, von Wissen, als Szene und Verfahren der Wissensproduktion Grund dafür liegt darin, dass die künstlerische Präsentation im Unterschied zur wissenschaftlichen Präsentation prinzipiell als offen im Hinblick darauf gilt, was sich dem Publikum dabei vermittelt.« (Peters 2011, 184) 36 In der Bezugnahme auf prozesshafte Verfahren der Wissensproduktion artikuliert sich nach Peters ein Verständnis der Aufführung selbst als ergebnisoffener Prozess: »eine szenische Präsentation als Labor oder Experiment zu betiteln und damit als Teil eines Forschungsprozesses zu kennzeichnen, an dem das Publikum beteiligt sein soll, heißt ja zunächst nichts anderes, als den ergebnisoffenen Charakter der Aufführung zu hypostasieren.« (Peters 2011, 185)
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ernst zu nehmen, und damit eben auch als (öffentlichen) Teil eines Forschungsprozesses. Aus dem Blickwinkel dieses Aufsatzes jedoch, der ja nach der Rolle der abwesenden Öffentlichkeiten für die Wissensproduktion über und mit Performancekunst fragt, muss auch festgestellt werden, dass das erste Verfahren (zum Beispiel als Forschung an der szenischen Form selbst) durchaus im Modus eines singulären Ereignisses vollzogen werden kann, während beispielsweise die Lecture-Performance ihrem Gegenstand gegenüber (auch als singuläres Ereignis) immer bereits eine sekundäre (vermittelnde, dokumentarische) Position einnimmt und auf einen Forschungsprozess außerhalb des Ereignisses verweist, der wiederum auch über sekundäre Materialien und Dokumente präsentiert wird. Sie kann daher als ein Beispiel künstlerischen Forschens mit Mitteln der Performance dienen, in der die Live-Performance oftmals nur einen Abschnitt, eine Manifestation, einen account, eine Form der öffentlichen Präsentation des Forschungsprozesses darstellt.37 Auf diese Weise in einen Forschungsprozess eingebettet kann die einzelne Performance nicht mehr auf dieselbe Weise Charakteristika wie Singularität und Unmittelbarkeit für sich in Anspruch nehmen wie das eine Performance wie Shoot noch konnte. Aus dem Blickwinkel der Performancekunst selbst kann so ein Modell des künstlerischen Forschens dann auch allgemeiner als ein Beispiel einer anderen Konzeption der Zeitlichkeit von Performance jenseits des singulären Ereignisses betrachtet werden.38 37 Zu bedenken ist hier jedoch auch, wie Peters in einem anderen Text vorschlägt, inwieweit eine solche Anwendung der (Lecture-)Performance als Präsentation eines nicht abgeschlossenen Prozesses auch einem »Produkt und Präsentationszwang« (Peters 2006, 124) folgt, nach dem ein künstlerischer Prozess »mittlerweile in jedem Stadium präsentabel zu sein hat« (Peters 2006, 123), und sich die Lecture-Performance damit im Verweis auf ein »noch zu erzielende[s] Optimum« der Logik der Business-Präsentation (Peters 2006, 124) annähert. 38 Solche anderen Zeitlichkeiten der Performancekunst, wie wir sie hier für ein Modell des künstlerischen Forschens mit Performance vorschlagen, sind zuletzt auch außerhalb der Debatte um Performancedokumentation beschrieben worden. So bemerkt Adrian Heathfield anhand seiner Betrachtungen über die Langzeitperformances von Tehching Hsieh, dass andere Zeitlichkeiten der Performancekunst in ihrer Geschichtsschreibung bislang zu wenig Beachtung gefunden haben: »The aesthetics of duration and the understandings of temporality
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»Giving an account« als Forschungsverfahren Wenn das singuläre Ereignis nicht mehr alleiniger Maßstab der Performancearbeit ist, dann stellt sich die Frage nach der Dokumentation aus dem Prozess selbst auf eine andere Weise (und zudem nicht ausschließlich im Bezug auf die Einhaltung »akademischer Gebote«), dann ist es nicht mehr notwendigerweise das Ereignis, dass dokumentiert werden muss, sondern dann ist das Ereignis vielleicht selbst Dokumentation neben anderen Dokumentationen, account neben anderen accounts. Denn wenn die öffentliche Aufführung dazu genutzt wird, bisherige Forschungsprozesse und auch -ergebnisse zusammenzufassen und zu präsentieren, verschwimmen die Grenzen zwischen Performance und account, und die Live-Performance ist dann ein account in einem Netz von vielen accounts. Accounts dienen der Kommunikation und Vermittlung einerseits nach außen; in einem Forschungsprozess, an dem mehrere Menschen in verschiedenen Funktionen beteiligt sind, verbinden accounts aber auch die verschiedenen Elemente und Akteure der Forschung miteinander. Accounts bezeichnen dabei nicht nur das, was einem Publikum präsentiert wird, egal, ob live oder aufgezeichnet; Macher_innen, Zuschauer_innen, alle Beteiligten präsentieren accounts von Performances – und dies unabhängig von der Anwesenheit bei einem bestimmten Ereignis. Und hier macht es dann auch Sinn, Bedfords bisher nur in einer Fußnote zitiertes Konzept einer »viral ontology of performance« (Bedford 2012, 78) in den Fließtext zu rücken; »there is no performance outside its discourse« (Bedford 2012, 77), schreibt Bedford, und beschreibt anhand von Burdens Shoot den akkumulativen Prozess, in dem Performance »through discourse and reproduction« (Bedford 2012, 86) immer wieder aktualisiert wird.39 these aesthetics live out have been underaddressed in art theory. Durational aesthetics might also suggest a somewhat different temporal concept from the model of the time of performance that has prevailed in performance theory. Following Peggy Phelan’s far-reaching and field-defining work it has become commonplace to emphasize Performance and Live Art’s qualities of transience and ephemerality, allied to a force of disappearance, and thereby to ascribe to performance a singular temporality: that of the event.« (Heathfield 2009, 13) 39 Bedfords Fokus liegt hierbei auf der Rolle des wissenschaftlichen Diskurses. Doch bereits sein Verweis auf den Times-Artikel über Shoot macht deutlich,
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Das Medium dieser Aktualisierung ist für uns der account. Und vielleicht kann Shoot auch als Beispiel dafür dienen, dass derjenige, der einen account gibt, wie Butler schreibt, die Rezeption und Verbreitung dieses accounts nicht überschauen kann. Ein account kann eine Vielzahl von accounts nach sich ziehen, vielleicht wird er aber auch ungehört verhallen. Und das rückt den account als buchhalterische Praxis in den Blick. Worüber gibt es accounts, worüber nicht? Was wird in den account eingerechnet, was ausgerechnet? Bei dieser Art der Buchhaltung geht es nicht um eine ausgeglichene Bilanz, sondern darum, aufzuzeigen, dass genau anhand des Verhältnisses von Performance und Dokumentation, von LiveEreignissen und ihren Aktualisierungen in dem, was verbreitet, weitergegeben, diskutiert, erinnert und weitererzählt wird (in welcher Form auch immer), Performancekunst die eigene Ökonomie als Teil der kapitalistischen Ökonomie verhandeln und hinterfragen kann. Das Verhältnis zwischen Ereignis und account – oder besser, zwischen Ereignissen und accounts – muss dabei in keiner Art und Weise angemessen sein: lang andauernde und strapaziöse Performances können in kurze accounts gepackt werden,40 die kürzesten Performances (und was ist schneller vorbei als ein Schuss?) können durch den account in Form eines Schwarz-Weiß-Fotos und eines kurzen Texts zu berühmt-berüchtigten Werken der Kunstgeschichte werden. Kein account kann jemals vollständig sein. Und in seiner Unvollständigkeit, in der Unmöglichkeit, einen angemessenen account abzulegen, begründet sich die Notwendigkeit für weitere accounts. Mike Pearson und Michael Shanks schreiben über die Erinnerungen an Performance-Ereignisse: »The same event is experienced, remembered, characterised in a multitude of different ways, none of which appropriates singular authority.« (Pearson/Shanks 2001, 58) Sie verweisen hierbei auf »watchers and of the watched, and of all those who facilitate their interaction – technicians, ushers, stage-managers, administrators« als Träger_innen dieser Erinnerungen und Informationen über vergangene Performance-Ereignisse. Während der unhierarchische Charakter dieser Aufzählung unbedingt beizubehalten ist, muss sie unserer Meinung nach jedoch noch erweitert werden um die »au dass es eben nicht nur wissenschaftliche Öffentlichkeiten sind, die an diesem Prozess beteiligt sind. 40 Ein Beispiel hierfür wäre Richard Longs Text Work Crossing Stones (1987), indem ein zweiwöchiger Walk in einem vierzeiligen Text bilanziert wird.
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diences of posterity«, die Performance erst über ihre Dokumentation erleben, aber dadurch ebenso in der Lage sind, accounts über Performance abzulegen. Über eine Vielzahl von accounts und accounts von accounts entsteht Performance als das Produkt eines zerstreuten Kollektivs auf diese Weise immer wieder neu.
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Künstlerisch-wissenschaftliche Forschung in den Ruinen der Universität? Performance als wissenschaftliche Veröffentlichungsform H EIKE R OMS
Performative Kunstpraxis und wissenschaftliches Forschen haben vor allem eines gemein: für sie ist Öffentlichkeit konstitutiv. Ein Akt des Forschens (ob am Schreibtisch, im Archiv, im Laboratorium oder im Studio ausgeführt) wird letztlich erst dann zur Forschung, wenn seine Ergebnisse anderen zum Zweck einer öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht werden. Neben Büchern und Fachzeitschriften gehören daher auch performative face-to-face-Formate der Zusammenkunft im Namen der Forschung (wie zum Beispiel Vorträge oder Konferenzen) trotz steigender Sorge um unseren carbon footprint und trotz der Alternativen durch digitale Vernetzung weiterhin zum gängigen akademischen Veröffentlichungsrepertoire. Peters (2011), Schramm et al. (2003) und andere haben darauf hingewiesen, dass sich in solchen performativen Formaten wie dem »Vortrag als Performance« (Peters 2011), aus- und vorgeführt auf den »Bühnen des Wissens« (Schramm et al. 2003), Forschung und ihre Darstellung, Wissensproduktion und Wissenspräsentation auf eine Weise vereinen, die den gemeinsamen öffentlichen Charakter von Wissenschaft und Kunst offenlegt. Mir geht es in diesem kurzen Essay ebenfalls darum, den Verbindungen von Wissenschaft, künstlerischer Praxis und Öffentlichkeit nachzuspüren. Mein Fokus ist jedoch ein wenig enger gefasst: mich interessiert nicht so sehr die wissenschaftliche Veröffentlichung als eine Form der Performance, sondern vielmehr ihre Gegenseite: der Einsatz performativer Kunst als
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Form wissenschaftlicher Veröffentlichungspraxis. Kunst als Veröffentlichungsform wendet sich, anders als wissenschaftliche Publikationen oder akademische Vorträge, oft an ein nicht-akademisches Publikum. Szenische Projekte, Installationen oder Ausstellungen dienen zunehmend Wissenschaftler_innen dazu, ihre Forschungsergebnisse mit einer breiteren Öffentlichkeit zu teilen. Dies ist nicht nur für diejenigen der Fall, die künstlerischwissenschaftliche Forschung betreiben, sondern auch für Wissenschaftler_innen, deren Forschungsprozesse ansonsten gängigeren Methoden folgen. In meiner eigenen kunsthistorischen Forschungsarbeit, deren Schwerpunkt auf der Performancekunst der sechziger und siebziger Jahre liegt,1 setzte ich häufig performative Formate – wie beispielsweise öffentlich geführte Oral-History-Interviews, Re-enactments oder partizipatorische Installationen – ein, um damit meine oft in detaillierter Archivarbeit gefundenen Einsichten anderen auf eine Weise zugänglich zu machen, die direkter, unmittelbarer und partizipatorischer zu sein vermag als die einer klassischen Buchpublikation (die ich allerdings ebenfalls anstrebe).2 Ich werde gegen Ende dieses Aufsatzes die Gelegenheit nutzen, meine Arbeit etwas genauer darzulegen. Ich möchte hiermit schon einmal zwei Behauptungen vorwegnehmen: zum einen (Peters, Schramm und anderen folgend), dass in solchen performativen Formaten nicht nur die Ergebnisse der Forschung, sondern der Forschungsakt selber öffentlich gemacht wird. Und zum anderen, dass durch eine solche Veröffentlichung der Forschung als Prozess diese sich einer möglichen Teilhabe anderer öffnet. Zunächst jedoch möchte ich mich einem anderen Aspekt widmen, der derzeit mit der Entwicklung performativer Wissenschaftsproduktion einhergeht. Unerwarteterweise scheine ich mich mit meiner Suche nach einer breiteren öffentlichen Teilhabe an meiner Forschungsarbeit auf der Seite derer zu befinden, denen eine solche Forderung letztlich dazu dient, ver 1
»What’s Welsh for Performance? Beth yw ›performance‹ yn Gymraeg? – Locating the early history of performance art in Wales, 1965 – 1979« erhielt eine zweijährige Förderung vom britischen Arts and Humanities Research Council AHRC (2009-2011). Das Projekt gewann den David Bradby TaPRA Award for Outstanding Research in International Theatre and Performance 2011. www.performance-wales.org vom 16.11.2012.
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Roms, Heike (in Vorbereitung): When Yoko Ono Didn’t Come to Wales: Locating the Early History of Performance Art. Cardiff.
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steckt genau ihrem Gegenteil, nämlich einer verstärkten Privatisierung der Forschung, in die Hände zu spielen. Ist die Öffentlichkeit, nach deren Teilnahme wir streben, lediglich ein Phantasma, welches sich leicht dazu instrumentalisieren lässt, traditionelle akademische Werte wie die Zweckfreiheit der Grundlagenforschung oder die Freiheit der Wissenschaft zu untergraben? Und arbeitet die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung einer solchen Instrumentalisierung unbeabsichtigt zu? Hintergrund meiner Überlegungen ist die gegenwärtige britische Universitätslandschaft, in der ich seit etwa zehn Jahren Theaterwissenschaft und Performance Studies lehre.3 Großbritannien wird ja oft als wegweisend für die institutionelle Anerkennung künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung angesehen: practice-as-research (oder practice-based research oder practice-led research) ist dort bereits seit zwei Jahrzehnten fest in Promotionsordnungen und wissenschaftlichen Förderprogrammen verankert (wenn auch die epistemologischen und pragmatischen Konsequenzen einer solchen Verankerung noch immer heftig diskutiert werden).4 In der Debatte um die Legitimation künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung findet seit kurzem eine subtile Verschiebung statt. In den ersten Jahren der Diskussion um practice-as-research ging es vor allem um epistemologische Fragen. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Behauptung, dass es sich bei künstlerisch-wissenschaftlicher Forschung um eine neue oder neu wieder zu entdeckende Form der Wissensproduktion handele (siehe zum Beispiel Nelson 2006). Dieses Wissen, das oft als embodied knowledge, How-to-Wissen, knowledge in action oder tacit knowledge charakterisiert wird, wird gemeinhin als eine kritische Alternative zu unserem herkömmlichen, an Rationalität, Handlungsferne und Objektivierbarkeit gebundenem Wissensmodell begriffen. Seit neuestem aber – so mein Eindruck – wird practiceas-research nicht mehr nur epistemologisch begründet, sondern oft mit dem Verweis darauf legitimiert, dass die Kunst – die sich in den letzten Jahren 3
Zur Zeit Professorin der Performance Studies an der Aberystwyth University in Wales.
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Für eine Übersicht über die historische Entwicklung der Debatte um practicebased research in Großbritannien siehe Piccini (2003). Für eine Zusammenfassung der epistemologischen Implikationen dieser Debatte siehe Piccini und Kershaw (2003) und Nelson (2006). Für eine allgemeine Einführung siehe Allegue et al. (2009).
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vermehrt um Fragen von Partizipation und relational aesthetics gekümmert hat – der Forschung neue Öffentlichkeiten zu erschließen und neue Arten der Teilhabe an wissenschaftlicher Forschung zu ermöglichen vermag.5 Künstlerische Strategien der Teilhabe können der Wissenschaft als neue Veröffentlichungsformen dienen, mit deren Hilfe eine breitere, nichtakademische Öffentlichkeit in Forschung einbezogen werden kann – mit dieser Haltung scheinen wir uns jedoch ganz im Einklang mit der derzeitigen Wissenschaftspolitik der konservativ-liberalen Regierungskoalition in Großbritannien zu befinden. Großbritannien ist in der Tat ein interessanter Testfall für die Beziehung zwischen Öffentlichkeit, Wissenschaft und künstlerischer Praxis. Britische Universitäten werden zunehmend in Privatunternehmen umgestaltet. Erhebliche Kürzungen des Bildungshaushaltes haben zur Folge, dass Universitäten in England keine staatlichen Zuschüsse mehr für die Lehre von Kunst-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften erhalten und sich in Zukunft ihre Gelder durch hohe Studiengebühren selbst erwirtschaften müssen.6 Damit wird der universitären Bildung und Ausbildung von Künstler_innen und Geisteswissenschaftler_innen das gesellschaftliche Interesse abgesprochen – ein künstlerisch ausgerichtetes Studium wird zur Privatsache derer die meinen, es sich leisten zu können. Interessanterweise geschieht dies nun im selben Moment, in dem für den Bereich der Forschung ein öffentliches Interesse und gesellschaftliche Teilhabe eingefordert werden. Seit kurzem wird nämlich von allen For 5
Diese Verschiebung ist nicht nur in Großbritannien zu beobachten. So heißt es zum Beispiel im Förderantrag für das künstlerisch-wissenschaftliche Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe: Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste: »in der Kombination wissenschaftlicher und künstlerischer Forschungsverfahren« bestehe eine »Chance, Forschungsprozesse auf mehr gesellschaftliche Teilhabe hin zu öffnen.« (Burri et al. 2011, 3). Und das Colloquium of Artistic Research in Performing Arts (CARPA) in Helsinki findet 2013 unter dem Motto »The Impact of Performance as Research« statt.
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In Schottland und Wales erhalten heimische Student_innen Zuschüsse zu ihren Studiengebühren, die den Universitäten zugute kommen – eine direkte Förderung der Kunst- und Humanwissenschaften wurde auch hier gekürzt (vgl. Richardson, Hannah (2010): »Humanities to lose English universities teaching grant«, in: BBC News education Webseite, 26.10.2010, http://www.bbc.co.uk/ news/education-11627843 vom 27.01.2013.
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scher_innen in Großbritannien erwartet, dass sie gesellschaftliche Relevanz und Partizipation in ihren Forschungsvorhaben nicht nur nachweisen, sondern auch strategisch herstellen müssen. Im Englischen spricht man hier von impact (wörtlich übersetzt »Eindruck« oder »Einwirkung«), oder auch public engagement (»öffentliche Teilhabe«). In diesem Zusammenhang beginnen Kunst- und Geisteswissenschaftler_innen sich darüber zu legitimieren, dass ihre Bereiche für eine stärkere Einbeziehung von Öffentlichkeit sozusagen prädestiniert seien: eben weil in ihren Disziplinen durch die Etablierung von practice-as-research Strategien entwickelt worden sind, die in der Verbindung wissenschaftlicher und künstlerischer Verfahren Forschung auf mehr gesellschaftliche Teilhabe hin zu öffnen vermögen. Diese Situation hat zur Folge, dass künstlerisch-wissenschaftliche Forschungsvorhaben vor allem in den performativen Künsten zu Modellfällen eines neuen impact-Paradigmas instrumentalisiert werden. Zugleich aber, dies ist jedenfalls meine Hoffnung, stellen solche Vorhaben auch Strategien zur Verfügung, mit denen man sich einer solchen Instrumentalisierung (wenigstens teilweise) entziehen kann. Denn, wie bereits erwähnt, machen performative Forschungsmethoden nicht nur die Ergebnisse der Forschung, sondern auch den Forschungsakt selbst öffentlich und öffnen diesen somit einer möglichen Teilhabe anderer – einer Teilhabe, die sich jedoch nicht immer kontrollieren und instrumentalisieren lässt.
IN
DEN R UINEN DER U NIVERSITÄT ? P ERFORMANCE ZWISCHEN EXCELLENCE UND IMPACT
The University in Ruins lautet der Titel einer 1996 (posthum) veröffentlichten Aufsatzsammlung des kanadischen Literaturwissenschaftlers Bill Readings. Wie es dieser melancholisch anmutende Titel vermuten lässt, erstellt Readings eine recht pessimistische Diagnose der Rolle der Universität als öffentliche Institution im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert. Was hier in Ruinen liegt ist laut Readings das Ideal der kulturellen Bildung, das seit dem frühen 19. Jahrhundert (in der Folge von Wilhelm von Humboldt) der modernen Universitätserziehung zugrunde gelegen hat. Dieses Ideal bezog seine Legitimation aus einem Modell von nationaler Kultur, für das Lehre
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und Forschung, Forschungsprozess und Wissensprodukt, Institution und Öffentlichkeit als komplementär zusammengedacht wurden.7 Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts bildet sich, so Readings, im Zuge der schwindenden Bedeutung nationalstaatlicher Souveränität und wachsender ökonomischer und kultureller Globalisierung ein neues Modell für die Universität heraus, das er die »techno-bureaucratic University of Excellence« nennt: eine von techno-bürokratischen Überlegungen gesteuerte Institution, in er die Ideologie einer nationalen Kultur durch eine neue Referenzgröße ersetzt wird – die der »Exzellenz«. Und Exzellenz hat nun einmal per Definition keinen eigentlichen Inhalt: was unterrichtet und geforscht wird, ist dem techno-bürokratischen Universitätssystem weniger wichtig, als das es auf exzellente Weise geschieht. Um Exzellenz zu verdinglichen, werden komplizierte Evaluierungsprozesse ins Leben gerufen: in Großbritannien werden beispielsweise alle paar Jahre die Qualität britischer Forschungsleistungen in einem aufwendigen Verfahren – dem sogenannten Research Excellence Framework (REF)8 – gemessen und alljährlich Leistungstabellen für Forschung und Lehre veröffentlicht. (Readings Diagnose dürfte einem aber auch in Deutschland mit seinen universitären Exzellenzinitiativen und Exzellenzclustern, bekannt vorkommen.) Für Performanceforscher_innen stellt die techno-bureaucratic University of Excellence mit ihren auf Performanceoptimierung ausgerichteten Operationen ein interessantes Forschungsobjekt dar. Mithilfe von Jon McKenzies Überlegungen zum gegenwärtigen Perform-or-Else-Paradigma (McKenzie 2001) ließe sich beispielsweise Readings Modell einer Umgestaltung der University of Culture zur techno-bureaucratic University of Excellence gleichsetzen mit dem Wandel von »Disziplin« als dominierendem Machtmodell des 19. Jahrhunderts zu »Performance« als Machtmodell des 20. 7
Laut Readings folgte Humboldts Modell der »University of Culture« dem ersten modernen Modellversuch der Universität, nämlich dem kantischen Modell einer »University of Reason«, siehe Readings 1996, 54ff.
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Das erste dieser Verfahren fand 1986 unter dem Titel Research Assessment Exercise (RAE) statt. Weitere Runden des RAE wurden 1989, 1992, 1996, 2001 und 2008 durchgeführt. In der RAE 2008 wurde die Forschung von fast 50000 Wissenschaftler_innen an 173 britischen Hochschulen einer Bewertung unterzogen (RAE 2008). Die nächste Bewertungsrunde, umbenannt in Research Excellence Framework (REF), findet 2014 statt.
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und 21. Jahrhunderts. »Bildung« als Methode sozialer Disziplinierung in der bürgerlichen Gesellschaft hat einem Ausbildungsmodell Platz gemacht, welches in der Durchsetzung von Performance und Effizienz den neuen Anforderungen einer globalisierten Weltordnung entgegenkommt. Für die gesellschaftliche Teilhabe an der Universität bedeutet dies folgendes: die Universität stellt nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert geträumt, eine rationale, nationale bürgerliche Öffentlichkeit sozusagen in idealer Miniaturform dar, deren Rolle als Ideal aber eben nur deshalb funktionierte, da realiter ein Grossteil dieser Öffentlichkeit von einer Universitätsausbildung ausgeschlossen war (Readings 1996, 140ff). In der techno-bureaucratic University of Excellence passiert stattdessen zweierlei. Im Bereich der Lehre wird gefordert, die Universitätsausbildung breiteren Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen: In Großbritannien beispielsweise hatte sich die Labour-Regierung vor einigen Jahren zum Ziel gesetzt, 50% aller Schulabgänger_innen zu einem Universitätsstudium zu bewegen. Zum anderen wird die Forschung einer breiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit weitgehend entzogen. Wenn Wissenschaftler_innen veröffentlichen, dann heißt dies – oder hieß dies bis noch vor kurzem –, sie teilen ihre Forschungsergebnisse mit einer Öffentlichkeit, die sich in erster Linie aus anderen Wissenschaftler_innen zusammensetzt. Exzellenz in der Forschung wird durch die Anerkennung von Kolleg_innen gemessen, durch das sogenannte peer-review. Hinter dieser scheinbar qualitativen Größe verstecken sich jedoch harte quantitative Fakten; so hieß es in einer Broschüre des Higher Education Founding Council of England (HEFCE): UK researchers are among the most productive in the world, and the number of times the work of UK academics is read and cited by other academics, per million pounds spent, is the highest worldwide. (HEFCE 2009, 19)
Die Vergabe von britischen Forschungsgeldern wird als Belohnung charakterisiert für die Anerkennung, welche die so ausgezeichnete Forschungsleistung in der Wissenschaftsgemeinschaft genießt. Ökonomische Konsequenzen werden somit auf eine Weise dargeboten, die sie als kompatibel mit dem traditionellen akademischen Wertesystem gegenseitiger wissenschaftlicher Wertschätzung erscheinen lassen – in Wirklichkeit dient aber
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dieses System in Großbritannien vor allem als bürokratischer Verteilungsmodus für einen begrenzten Geldtopf.9 Anderthalb Jahrzehnte sind seit der Veröffentlichung von Readings Analyse verstrichen, aber in vielerlei Hinsicht ist seine Diagnose einer zunehmenden Bürokratisierung, Kommerzialisierung und inhaltlichen Entleerung der techno-bureaucratic University of Excellence nach wie vor zutreffend. Was Readings allerdings nicht vorausgesehen hat, ist, dass in Großbritannien das Kriterium der »Exzellenz« zunehmend von einem anderen Kriterium ersetzt wird, auf dessen Grundlagen Entscheidungen über die Qualität und damit die Finanzierung von Forschung getroffen werden: dem Kriterium von »Impact«. In der impact strategy des Arts and Humanities Research Councils (AHRC) (die britische Variante der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den Bereich von Kunst- und Humanwissenschaften) heißt es beispielsweise als Antwort auf die Frage: »Why is there an increasing emphasis on demonstrating the impact of research?«: »It is necessary to show public value from public funding« [Herv. d. Verf.].10 Forschung, die öffentliche Gelder bezieht, muss ihren Wert für die Öffentlichkeit nachweisen und – vor allem – anschaulich machen (»to show«) können. Wenn sich daher Forscher_innen derzeit um Gelder für Projekte bemühen, müssen sie ihrem Antrag einen sogenannten pathway to impact beilegen: eine Art »Wegbeschreibung«, die darlegt, auf welche Weise sich das Forschungsprojekt seiner gesellschaftlichen Wirkung versichern will. Denn solch eine Wirkung kann nicht dem Zufall oder der Nachwelt überlassen werden: Impact zählt nur dann als solcher, wenn er direkt und gewollt ist. Und wenn 2014 erneut die Forschungsleistungen britischer Wissenschaftler_innen einer landesweiten Prüfung unterzogen werden (dem bereits ge 9
2012/13 werden vom HEFCE 1558 Millionen Britische Pfund für Forschung ausgegeben – die Verteilung geschieht auf Grundlage der von RAE gewonnenen Daten zur jeweiligen Forschungsqualität der Universitäten. Siehe auf der Webseite des Higher Education Founding Council of England (HEFCE) »How we fund research«. http://www.hefce.ac.uk/whatwedo/rsrch/howfundr/ vom 16.11. 2012.
10 AHRC, n.d.: »Impact Summary and Pathways to Impact – Frequently Asked Questions – AHRC«, in: Arts and Humanities Research Council, http://www.ah rc.ac.uk/Funding-Opportunities/Documents/ImpactFAQ.pdf vom 02.12.2012.
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nannten Research Excellence Framework), nach der der Umfang der Gelder entschieden wird, welche die jeweiligen Universitätsinstitute vom Forschungshaushalt zugeteilt bekommen, werden diese Leistungen nicht nur nach inhaltlichen Kriterien bewertet, sondern auch nach den Wirkungen, welche die Forschung über den akademischen Rahmen hinaus auf soziale, wirtschaftliche oder kulturelle Entwicklungen nachweisen kann.11 Die Beurteilung dieser Wirkung wird nicht mehr nur von anderen Wissenschaftler_innen vorgenommen werden, sondern auch von sogenannten research usern – beispielsweise Industrieunternehmerinnen, Verlagsleitern, Geschäftsführerinnen von Wohltätigkeitsinstitutionen, Ministerialbeamten oder Museumskuratorinnen –, welche die nichtakademische Öffentlichkeit in den Gremien repräsentieren sollen.12 Wie der englische Theaterwissenschaftler Alan Read kürzlich vorgeschlagen hat: so wie das Reden von der »Exzellenz« keinen eigentlichen Inhalt hat, so hat das Reden von »Öffentlichkeit« in der »Impact«-Debatte keine eigentliche Form.13 Denn um welche »publics« es sich denn genau handelt, auf die man dergestalt forschend wirken möchte, bleibt oft im Ungewissen. Read verlangt daher, dass Readings Modell um eine neue Phase erweitert werden muss, die er »the phantom of the ›Public‹« nennt – die Ära der Universität als Wirkungsträger für eine phantasmatische Öffentlichkeit. Indem man die Repräsentant_innen dieser Öffentlichkeit benennt und zu research usern ernennt – wobei sich diese natürlich nur aus einem »repräsentationswürdigen« Teil der Bevölkerung rekrutieren – erweckt man den Anschein, man hätte sich von generalisierenden Vorstellungen von Öffentlichkeit verabschiedet und arbeite stattdessen mit klar demographisch identifizierbaren Gruppierungen. Doch was hier im Namen einer verstärkten öffentlichen Teilhabe beschworen wird, ist in Wirklichkeit nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Privatisierung des Universitätssystems. Denn wenn man derart klar benennen kann, wer von Forschung profitiert, 11 Zu den Kriterien des Research Excellence Frameworks 2014 siehe die REF 2014 Webseite: http://www.ref.ac.uk/ vom 16.11.2012. 12 Siehe die Richtlinien für Research User des Research Excellence Frameworks 2014 auf der REF 2014 Webseite: http://www.ref.ac.uk/users/ vom 16.11.2012. 13 Read, Alan: »In the Ruins of the University: Performance & Its Publics«. Gespräch veranstaltet von der Performance Research Group am King’s College London, 20.01.2012.
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dann könnte man doch eigentlich die Finanzierung der Forschung gleich diesen Abnehmer_innen überlassen. So heißt es denn auch in einem Regierungspapier der konservativ-liberalen Koalition: The Government is keen to create a more effective science and innovation system, which maximises the impact of public investment in science on business innovation, and provides greater incentives for businesses to collaborate with science. (HM Treasury et al. 2006, 10.)
Man möchte die Effizienz von Forschung als »geringe Kosten – große Wirkung« demonstrieren, um damit privaten Firmen die Investition in Forschung schmackhaft zu machen. Welche Rolle spielt nun die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung in diesem Zusammenhang? Unter den Impact Case Studies – von AHRC und REF zur Verfügung gestellte Fallstudien, mit deren Hilfe beispielhafte Formen öffentlicher Wirkung von und Teilhabe an Forschung vorgestellt werden14 –, befinden sich eine ganze Reihe von Projekten mit künstlerischer Ausrichtung. Bei den meisten handelt es sich dabei um practice-asresearch-Projekte, deren Wirkungspotential darauf zurückgeführt wird, dass sie sich künstlerischen Veröffentlichungsformen bedienen, denen per se schon eine Form öffentlicher Teilhabe eingegeben ist: Ausstellungen, Performances oder Lesungen, zum Bespiel. Über solche Methoden der Zuwendung zum Publikum erreiche, so wird impliziert, die künstlerischwissenschaftliche Forschung eine breite kulturelle und soziale Wirkung. Da ist viel von Demokratisierungsprozessen die Rede, von lokaler Identitätsfindung, von Erinnerungsarbeit und so weiter. (Eine solche Charakterisierung des vermeintlichen Wirkungspotentials künstlerischer Arbeit ist uns natürlich auch aus der zeitgenössischen Kunst selber vertraut.) Zudem, so wird argumentiert, entstehe dazu häufig noch ein klarer ökonomischer Nutzen: Kartenverkauf, erhöhte Besucherzahlen in Galerien und Museen und so fort. 14 Siehe zum Beispiel die »Impact Pilot Exercise« der REF auf der REF 2014 Webseite: http://www.ref.ac.uk/background/pilot/ vom 16.11.2012; und die »Pathways to Impact« Case Studies der Research Councils http://www.rcuk. ac.uk/media/brief/impactcase/Pages/home.aspx vom 26.11.2012.
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Vor einigen Jahren habe ich mich in einem Aufsatz mit der Entwicklung von practice-based research in Großbritannien beschäftigt (Roms 2009). Mein Argument war, dass diese Entwicklung die techno-bürokratische Universität nicht nur nicht in Frage stellt, sondern mit dieser sogar erstaunlich kompatibel ist. Denn für das techno-bürokratische Universitätssystem bedeuten epistemologische Herausforderungen keine eigentliche Gefahr. Im Gegenteil: Wo akademische Streitereien um Wissensmodelle weniger wichtig sind als Profitfaktoren, macht es Sinn, die Universität um neue Wissensmodelle und alternative Forschungsmethoden zu erweitern. Denn mit einer solchen Erweiterung erweitern sich eben auch die Profitmöglichkeiten: künstlerisch-wissenschaftliche Projekte können einem Institut neue Fördertöpfe eröffnen. Mit unserer Suche nach mehr Partizipation und breiterer öffentlicher Teilhabe scheinen wir uns wiederum auf der Seite derer zu befinden, denen solche Forderungen letztlich zur Privatisierung der Forschung und zur verstärkten Ökonomisierung der Wissenschaft dienen. In der Ära der phantasmatischen Öffentlichkeit wird der künstlerischen Forschungspraxis eine neue Rolle zugeteilt: wie ich oben skizziert habe, werden vor allem die der Öffentlichkeit zugewandten performativen Künste zu Modellfällen des neuen impact-Paradigmas instrumentalisiert. Im Gegenzug verengt sich damit die Bandbreite der akzeptierten künstlerisch-wissenschaftlichen Methoden. Practice-as-Research oder PaR (eine vielgenutzte Abkürzung) wird heute vielerorts auf SPaR (Spectator-Participation-as-Research, Heddon et al. 2012, 122) reduziert, da hier am einfachsten eine unmittelbare Wirkung behauptet werden kann.
E INE F ALLSTUDIE Ich möchte nun, wie anfangs angekündigt, kurz mein derzeitiges Forschungsprojekt vorstellen. Die Gefahr, die eigene Arbeit damit zum Modellfall zu erhöhen, ist mir bewusst – auf der anderen Seite möchte ich mein besonderes Interesse an der Debatte um künstlerisch-wissenschaftliche Forschung nicht verhehlen. Meine Arbeit zählt nicht im engen Sinne zum Bereich dessen, was in Großbritannien gemeinhin als practice-as-resarch angesehen wird – dieses Label ist noch immer fast ausschließlich KünstlerForscher_innen vorbehalten, die mithilfe kreativer Praxis über kreative Pra-
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xis forschen, obgleich der Begriff practice im Prinzip ja nicht nur künstlerische Praxis meinen muss. Mein Ansatz versucht sich künstlerischwissenschaftlicher Forschung sozusagen von der anderen Seite her zu nähern: als Performance-Historikerin, deren Forschungsschwerpunkt auf der britischen Performanceszene der sechziger und siebziger Jahre liegt, interessiere ich mich vor allem dafür, wie künstlerische Strategien der Historisierung – zum Beispiel des Re-enactments oder der Selbstarchivierung – von Wissenschaftler_innen als historiographische Methodiken in kunstgeschichtlicher Forschung eingesetzt werden können. Obgleich Re-enactments oder künstlerische Interventionen in Archive derzeit Hochkonjunktur haben, bestehen in der Kunstgeschichte und der Theaterwissenschaft nach wie vor oft Vorbehalte gegenüber dem Einsatz solcher performativer Methoden in der Forschungsarbeit – Re-enactment wird beispielsweise als künstlerische Strategie breit diskutiert, aber als historiographische Methodik selten ernst genommen.15 Dies legt die Vermutung nahe, dass in der Geschichtsforschung – selbst in ihrer theater- und kunstorientierten Variante – der Performance als Forschungsmethode gegenüber der Verdacht besteht, der Präsenzmythos, der der Performance oft innewohnt, führe dazu, dass auf unkritische Weise die Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit verleugnet und damit eine vermeintliche Authentizität der Rekonstruktion behauptet würde. Dies ist ganz und gar nicht meine Erfahrung. Im Gegenteil, ich behaupte, dass die Anwendung performativer Formen der Forschung ermöglichen, die Prozesshaftigkeit geschichtlicher Konstruktion vorzuführen und anschaulich zu machen – und dazu gehört vor allem auch die Prozesshaftigkeit der geschichtlichen Forschung selbst. Ein paar Worte zum Inhalt meiner Forschung: Diese versucht, hinsichtlich der sechziger und siebziger Jahren die Entstehung und Entwicklung je 15 Für eine Übersicht historiographischer Positionen zu Re-enactment siehe Agnew 2004; für eine Darlegung derzeitiger theaterhistorischer Auseinandersetzungen mit Re-enactments siehe, unter anderem, Davies et al. 2011. Schneiders bahnbrechende Studie zum Re-enactment (Schneider 2011) beginnt den Diskurs zu verändern: Auch wenn Schneider selbst Re-enactment nicht als historiographische Methode einsetzt, so öffnen doch ihre Überlegungen zum Re-enactment Möglichkeiten einer methodologischen Neudefinition für Performancehistoriographie.
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ner Kunstpraktiken zu erkunden, die wir häufig unter dem Label der Performance Art zusammenfassen – und zwar im Kontext von Wales, dem westlichsten Teil des Vereinigten Königreiches. Mir geht es dabei nicht darum, spezifische lokale Manifestationen der Kunstform aufzuspüren, die man als »Walisische Performance Art« identifizieren könnte. Vielmehr versuche ich herauszufinden, wie sich die Hauptströmungen künstlerischen Experimentierens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – zum Beispiel Happenings, Fluxus, Destruction in Art, Body-Art, Performance-Art, und so weiter – auf die Kunstproduktion in einem vergleichsweise marginalen kulturellen Kontext ausgewirkt haben. Ich hoffe, damit aufzudecken, wie die Geschichte der Performance Art sich nicht nur – wie bereits von anderen ausführlich dokumentiert – in den Metropolen der Kunstwelt wie New York oder London entwickelt hat. Stattdessen haben, so hoffe ich zeigen zu können, performative Strategien der Kunstpraxis die künstlerische Szene der sechziger und siebziger Jahre sehr viel breiter beeinflusst. Ich versuche damit auch einen Einblick zu gewinnen, wie Performance Art als Kunstbewegung mit transnationalem Einfluss in unterschiedlichen lokalen Kontexten realisiert wurde. Meine Forschung hat sich zu diesem Zwecke einer Reihe performativer Verfahren bedient: darunter Oral-History-Gesprächen vor Publikum; sitespecific Formen von Interviews ausgeführt an Orten mit besonderer Bedeutung für die Geschichte der Performance Art in Wales; Re-enactments von historischen Performances an Originalschauplätzen und vor ehemaligen Augenzeug_innen; und partizipatorische Installationen, mit deren Hilfe ich vor allem die Erinnerungen von Zuschauer_innen an vergangene Performances zu aktivieren versucht habe.16 Diese sind, so möchte ich hinzufügen, nicht die einzigen Methoden, die ich in meiner Forschung verwende. Zusammen mit meiner Assistentin, Dr. Rebecca Edwards, habe ich beispielsweise über die Jahre in über fünfundfünfzig britischen Archiven (wie dem Tate Archiv, dem Victoria & Albert Museum, dem Henry-MooreInstitute, etc.) und privaten Sammlungen (vor allem denen von Künstler_innen selbst) Material zur Geschichte der Performance in Wales gesammelt. Wir haben dabei über 4500 Dokumente digitalisiert, die zum Teil über eine Datenbank im Internet einzusehen sind, die derzeit fast 650 Per 16 Für eine detaillierte Diskussion unterschiedlicher Inszenierungen von Oral History in meinem Projekt siehe Roms und Edwards 2011.
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formances, die in Wales zwischen 1965 und 1979 stattgefunden haben, dokumentiert (www.performance-wales.org). Archivarbeit und performative Forschungsarbeit sind für mich eng miteinander verknüpft und haben sich im Laufe meiner Arbeit immer wieder gegenseitig beeinflusst und herausgefordert. Was die Auswahl meiner Methoden insgesamt motiviert, ist die Frage, die, wie ich vermute, den Grossteil historischer Forschung motiviert: Die Frage danach, was als Evidenz dienen kann für die Geschichten, die wir zu konstruieren versuchen. Dieses ist, so sollte ich vielleicht hinzufügen, mein erstes Forschungsprojekt mit historischem Schwerpunkt. Ich situiere meine Arbeit ganz im Bereich der Performance Studies – und Performance Studies hat sich bisher wenig um die Frage historischer Evidenz gekümmert. Das hat sicher damit zu tun, dass Performance Studies sich als Feld seit langem einer Ontologie der Präsenz verpflichtet hat und gegenüber kritischen Konzepten, die mit den theoretischen, methodischen und praktischen Implikationen von Geschichtsschreibung verbunden sind, eine tiefe Skepsis hegt. Trotzdem ist das Problem der »Evidenz« in einer Reihe von Debatten, die für die Performance Studies eine zentrale Rolle spielen, implizit berührt, wie zum Beispiel in der Diskussion um das Verhältnis von Performance und Dokumentation (siehe zum Beispiel Phelan 1993, Auslander 2006) oder in der jüngsten Debatte zum Thema Performance und Archiv (siehe zum Beispiel Schneider 2001, Roms und Gough 2002, Taylor 2003).17 Für den Zweck meiner Argumentation hier möchte ich diese Debatten sehr kurz – und zugegebenermaßen verkürzend – zusammenfassen. Die Diskussion über Dokumentation hat sich vor allem auf die ontologische Dimension von Evidenz konzentriert, nämlich auf die Frage, ob (und wie) ein Dokument einen Beweis für die Realität eines Ereignisses liefern kann. Dieses zieht die Überlegung nach sich, was eine solche Realität ausmacht oder, kurz gesagt, worin die Ontologie der Performance besteht. Die Verschiebung der Diskussion von »Dokumentation« zu »Archiv« als zentralem kritischem Terminus in den letzten Jahren zeugt von einer Verlagerung des Interesses von der Frage, was als Zeugnis für das Ereignis der Performance dienen kann, zur Frage danach, wie Performance selbst zum Zeugnis geleb-
17 Vgl. den Beitrag von random people, insbesondere S. 197f.
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ter Erfahrungen wird.18 Für diese Debatte sind nicht mehr ontologische, sondern epistemologische Probleme zentral: Schneider und Taylor beispielsweise sehen in der Anerkennung der Performance als Evidenz eine epistemologische Herausforderung an das, was Taylor als die »preponderance of writing in Western epistemologies« (Taylor 2003, 16) identifiziert, und was Schneider die »patrilineal, West-identified […] logic of the Archive« (Schneider 2001, 100) nennt. Ich fühle mich beiden Debatten verpflichtet. Ich möchte ihnen jedoch einen weiteren Aspekt hinzufügen, der weniger mit Ontologie oder Epistemologie als mit Hermeneutik zu tun hat: nämlich eine stärkere Aufmerksamkeit auf die Performance von Evidenz selber – oder, in anderen Worten, auf eine Untersuchung dessen, wie Evidenz konstruiert und evident gemacht wird in den Praktiken unserer Forschung. Aktuelle philosophische und kulturwissenschaftliche Debatten betonen, dass der Begriff der »Evidenz« sowohl den Beweis wie seine (Re-)Präsentation umfasst (siehe Lévy/ Pernot 1997; Peters/Schäfer 2006). Diese terminologische Ambiguität ist das Ergebnis seiner zweifachen Wurzeln in Philosophie und klassischer Rhetorik: während in der Philosophie evidentia Beweishaftigkeit bezeichnet, bezeichnet der Begriff in der Rhetorik eine Form affektiver Präsentation. Dies ist die performative Dimension der Evidenz (Peters/Schäfer 2006): Um als Beweis zu überzeugen, muss etwas als solcher dargestellt werden. Und in eben dieser Darstellung zeigt sich die Konstruiertheit der Evidenz. Die narrative Konstruktion von Geschichtsschreibung hat spätestens seit Hayden White viel selbstreflexive historiographische Aufmerksamkeit erfahren. In ähnlicher Weise interessiere ich mich für die performativen Konstruktionen, die in der Aus- und Durchführung von Akten historischer Forschungsarbeit stattfinden. Aus diesem Grund fühle ich mich zu performativen Praktiken wie der Oral History oder des Re-enactments hingezogen: nicht so sehr, weil sie alternative Formen von Wissensproduktion darstellen, oder womöglich sogar vermeintlich angemessenere Formen für die Einsicht in Performance-Wissen liefern (wie es der epistemologisch nuancierte practice-as-research Diskurs vorschlägt); sondern weil sie uns helfen 18 In diesem Zusammenhang ist es lohnenswert, den kurzen aber einflussreichen Artikel von Muñoz zu »Ephemera as Evidence« zu erwähnen (Muñoz 1996).
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können, die prozesshafte, auf Mutmaßung aufbauende Beschaffenheit aller geschichtlicher Konstruktion evident zu machen. In der Kürze dieses Essays bleibt leider kein Raum, um dieser Behauptung genauer nachzugehen. An anderer Stelle (Roms 2008; deutsch Roms 2010) habe ich dargelegt, wie zum Beispiel in Oral-History-Interviews die Möglichkeit besteht, verbalisierte Erinnerungen und archivierte Dokumente miteinander so in Verbindung zu bringen, dass »Evidenzlücken« in beiden Formen der Historisierung offen gelegt werden. Dabei geht es mir nicht darum, die eine Form gegen die andere auszuspielen, sondern unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie unsere unterschiedlichen Versionen von Geschichte sich in einer Auseinandersetzung mit solchen Evidenzlücken konstruieren. Was performative Formate wie Oral-History-Interviews (deren performative Dimension ich durch die Durchführung vor Publikum noch stärker zu betonen versucht habe) oder Re-enactments darüber hinaus auszeichnet, ist (wie bereits oben ausgeführt), dass mit ihnen nicht nur die Ergebnisse der Forschung, sondern der Forschungsakt selber öffentlich gemacht wird und sich so einer möglichen Teilhabe anderer öffnet. Ich möchte hier nicht unterschlagen, das im Bezug auf eine solche Teilhabe Fragen von Autorschaft, Autorität und Verantwortlichkeit ins Spiel kommen, die sehr viel komplexer sind als ich hier Gelegenheit habe zu diskutieren. Dennoch möchte ich hier einmal behaupten, dass Performance das Potential hat, die in den Kunst- und Humanwissenschaften üblicherweise von vereinzelten Wissenschaftler_innen durchgeführte Forschungsprozesse auf Formen eines kollaborativen Austausches hin zu öffnen. Und da in performativen Formaten der Akt der Forschung und seine Veröffentlichung oft zusammenfallen, können diese dazu beitragen, eine Öffentlichkeit in Form einer community of interest um ein Forschungsprojekt aufzubauen, die an der Forschung auf ihre Weise teilzunehmen beginnt. So hat das National Museum of Art in Wales 2011 in seiner ersten Ausstellung walisischer zeitgenössischer Kunst auch Dokumentationen und Objekte von Arbeiten der Performance Art aufgenommen, die ihnen mein Projekt zur Verfügung gestellt hatte.19 Ich habe erneut im Herbst letzten 19 National Museum of Art (Cardiff): I cannot escape this place – Ni allaf ddianc rhag hon, Ausstellung, Eröffnung 09.07.2011. Beinhaltete Dokumentation fol-
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Jahres für eine Joseph Beuys Ausstellung mit dem Museum zusammengearbeitet, der ich Material zu Beuys wenig bekannten Arbeiten in Wales zugesteuert habe. Das walisische Arts Council hat im vergangenen Sommer mein Projekt zum Anlass genommen, eine kleine Ausstellung über eine wichtige walisische Performancearbeit der späten siebziger Jahre zu organisieren.20 In diesem Jahr erscheint von mir recherchiertes Material zu einem Fluxuskonzert, das 1968 in dem kleinen walisischen Universitätsstädtchen von Aberystwyth stattgefunden hat, in einer großen europaweiten Ausstellung zum fünfzigsten Geburtstag von Fluxus.21 Performancekünstler haben mein Archiv mehrfach als Material für neue Arbeiten benutzt.22 Und es vergeht keine Woche, in der ich nicht von jemandem einen Brief oder eine Email bekomme, dessen verstorbener oder entfremdeter Vater, Mutter oder Freund in der britischen Kunstszene der sechziger Jahre beteiligt war, und der nun Informationen über deren Leben und Arbeit mitteilen oder mitgeteilt bekommen möchte. Ich möchte abschließend darauf hindeuten, dass künstlerisch-wissenschaftliche Forschung hier die Möglichkeit bietet, sich einer Instrumentalisierung durch die techno-bureaucratic University of Excellence wenigstens teilweise zu entziehen. Readings hat in diesem Sinne vorgeschlagen, den Raum der Universität taktisch zu nutzen, ohne dabei nostalgisch der verlorenen öffentlichen Rolle der Universität nachzutrauern (Readings 1996, 119ff) Die künstlerisch-wissenschaftliche Forschung vermag eine solche taktische Nutzung umzusetzen, so mein Vorschlag, indem sie impact oder gender Performances: Davies, Ivor (1968): Adam on St Agnes Eve. Swansea. Und Davies, Paul (1977): Welsh Not. Wrexham. 20 Arts Council of Wales: Back to the Future – Nôl i’r Dyfodol. Display während des Royal National Eisteddfod Wrexham, 30.07. – 06.08.2011. Als Zentrum des Displays diente die Dokumentation von Paul Davies (1977): Welsh Not. Wrexham. 21 The Lunatics are on the Loose: European Fluxus Festivals 1962–1977, Ausstellung in Berlin (Akademie der Künste), Kopenhagen (Nikolaj Kunsthal), Kraków (MOCAK), Paris (Goethe-Institut), Poznan (University of Arts), Vilnius (Contemporary Art Centre), etc. Eröffnung in Berlin Juli 2012. 22 Mit dem What’s Welsh for Performance? Commissioning Fond unterstützt das Projekt zudem neue Performancearbeiten junger in Wales lebender Künstler_innen.
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Wirkungen ermöglicht, die im Forschungsplan eben nicht bereits vorweggenommen und eingeplant sind. Denn durch das öffentliche Zurverfügungstellen des Forschungsaktes entsteht die Möglichkeit, dass andere sich an diesem Akt nicht nur beteiligen, sondern ihn sich selbst auch aneignen können, und zwar außerhalb des universitären Rahmens, in dem das Forschungsprojekt seinen Ursprung hatte. Eine der für mich interessantesten, da unerwarteten Folgen meines Projektes ist es, dass auf den Seiten von Facebook und in regelmäßigen Zusammenkünften oder reunions Gruppen von Künstler_innen, die durch mein Projekt wieder in Kontakt gekommen sind, sich nun unabhängig und oft ohne mein Wissen sich ihre geteilte Geschichte gemeinsam wieder aneignen.
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Unmittelbare Produktivkraft? Künstlerisches Wissen unter Bedingungen der Wissensökonomie1 T OM H OLERT
K ENNWORT :
KNOWLEDGE PRODUCTION
In einem Gespräch, das Vertreter_innen der sogenannten Kunstwelt im Jahr 1999 mit dem Wissenschaftshistoriker Peter Galison führten, stellte der Kurator Okwui Enwezor eine Frage, die an den epistemologischen, aber auch ontologischen Grundlagen der Kunst rührt: Dem Verweis auf das scheinbar Augenfällige, nämlich dass der Kunstbetrieb in erster Linie nach Objekten, greifbaren physischen Dingen von »sichtbarer, empirischer Evidenz« verlange, folgte die Bitte nach einer Auskunft über die Zukunft der Kunst als Prozess der Forschung. »Diese Konzentration der zeitgenössischen Kunst auf greifbare Objekte sorgt dafür, dass der Markt mit fertigen Produkten beliefert wird und nicht mit Ideen der Art, wie sie in Laborexperimenten entstehen können. Wie könnte die Wissenschaft ein Modell für eine neue Art der künstlerischen Kompetenz liefern? Wie könnte sie ein neues Modell für die Produkte liefern, die im Atelier entstehen?« (Obrist/Vanderlinden 1999, 101) 1
Geänderte Fassung eines Vortrags, der auf dem Workshop Forschung in Kunst und Wissenschaft. Herausforderungen an Diskurse und Systeme des Wissens (04.–05.05.2012) im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, gehalten wurde.
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Enwezor ging von einem Defizit aus, einer ontologischen Schwäche des Systems »Gegenwartskunst«. Aus ökonomischen Gründen räume es den physischen Dingen, und das heißt vor allem: den Unikaten, den Originalwerken, die sich als Objekte der Spekulation und des Prestigestrebens eignen, Vorrang gegenüber kognitiven Prozessen, Ideenbildungen und Gedankenexperimenten ein, während genau diese in den Laborwissenschaften an der Tagesordnung seien. Aber trifft diese Einschätzung der zeitgenössischen Kunst, der contemporary art überhaupt zu? Hat Enwezor nicht selbst mit seinen verschiedenen Ausstellungsprojekten, unter anderem mit der von ihm geleiteten Documenta 11 von 2002, nachgewiesen (oder nachzuweisen versucht), dass die Gegenwartskunst eine Form der »Wissensproduktion« sein kann oder als eine solche konzipiert werden sollte? Und wäre nicht weiter zu fragen, in welchem Maße diese – vermeintlich immaterielle – »Wissensproduktion« Teil derselben Ökonomie ist, die den materiellen Werken die Funktion von zwar sonderbaren, aber letztlich ganz dem Tauschwert verpflichteten Waren zuschreibt? »Knowledge production« war ein Schlüsselbegriff in der Vermittlung der Documenta 11 (und er ist es 2012, zur Documenta 13, ergänzt um »artistic research«, wieder) (vgl. zum Beispiel Müller2 2007, 143–149). Das shibboleth »Wissensproduktion« wurde damals von Enwezor und seinem Kurator_innen-Team strategisch gewählt, um für die Kunst und von der Kunst der Gegenwart eine Diskursivität und Produktivität (oder: diskursive Produktivität) zu beanspruchen, die dem in vieler Hinsicht widerspricht, was (nicht nur aus Enwezors Sicht) der Kunstbetrieb vor allem nachfragt. Nun verdankt sich der strategische Wert des Begriffs »knowledge production« auch einer Reihe von Konnotationen und Assoziationen, die – in Verbindung mit zeitgenössischer Kunst gebracht – wiederum nach Erklärungen verlangen. Denn als ein Modus von »knowledge production« betrachtet, wird Kunst einem Kontext zugeordnet, der ihr vorderhand fremd, wenn nicht gar inkompatibel zu sein scheint: der Welt der Wissensökonomie. Andererseits scheint diese Zuordnung heute ganz selbstverständlich. So als wäre der Umstand, dass wir umgeben sind von einer Realität, die wir »Wissensgesellschaft« oder »kognitiver Kapitalismus« zu nennen uns angewöhnt haben, diese Neubeschreibung der Kunst als Wissensproduzentin 2
Markus Müller war Leiter der Kommunikation der Documenta 11, 2002.
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zwingend mache. Wenn Kunst also gar nicht anders kann als Wissen zu produzieren, was wäre dann der Anteil von Forschung an dieser Produktion? Beziehungsweise: Gibt es etwas, das Forschung von Wissensproduktion unterscheidet und womöglich erlaubt, die Identifizierung von Kunst mit Wissensproduktion zu problematisieren?
ANWENDUNG DER W ISSENSCHAFT UND DER K UNST AUF DIE P RODUKTION (M ARX UND M ACHLUP ) Ich will diese Frage aber zunächst zurückstellen und in einem kurzen diskurshistorischen Umweg darauf eingehen, was »Wissensproduktion« in diesem Zusammenhang überhaupt bedeuten könnte. Karl Marx hat in seinem in den letzten Jahren wieder viel zitierten »Maschinenfragment« aus den Grundrissen von 1857/58 im Vorgriff auf die späteren Theorien der Wissensökonomie hervorgehoben, in welchem Maße »das allgemeine Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen wird.« (MEW Bd. 42, 602) Marx sagt damit auch, dass die Produktivkraft der lebendigen Arbeit von der »Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion« (ebd., 600) abhängt. Im Anschluss an diese Überlegungen aus dem »Maschinenfragment« ließe sich nun fragen, in welcher Weise heute die Künste auf die gesellschaftliche Produktion »angewendet« werden, sich an ihr beteiligen, den general intellect bewohnen. Als der österreichisch-amerikanische Ökonom Fritz Machlup in den 1950er Jahren damit begann zu untersuchen, »wie die Nation [gemeint waren die USA] Wissen produziert«, wurde ihm schnell bewusst, dass eine solche Untersuchung nicht bei dem stehen bleiben könne, was die »R and D people« [also die Experten in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Unternehmen und den diesen angeschlossenen universitären Forschungseinrichtungen] als »S and T information« (scientific and technological information) bezeichnen. Vielmehr müsse eine solche Untersuchung ausgeweitet werden auf das gesamte Bildungssystem und zudem auf die Nachrichten verarbeitenden Medien – vom Verlagswesen, also von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und so weiter, bis zu Radio und Fernsehen.
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Aber Machlup, der einerseits als Verfechter der sogenannten neoklassischen Mikrotheorie gilt, dem es bei seinen Untersuchungen des Verhältnisses von Wissen und Wirtschaft letztlich auf Wissen als Ware ankam, die gekauft, verkauft und in welche investiert werden kann (vgl. Langlois 1985, 233), hielt es andererseits für notwendig, für seine umfassende quantitativstatistische Studie zur »knowledge production« (deren Manuskript 1962 abgeschlossen war) weitere Kanäle der Übertragung und Vermittlung von Information und Wissen zu berücksichtigen: Neben der Rolle der Telegraphie, des Telefons, der Post sowie der neuen kybernetischen Maschinen und Dienste der computergestützten Datenverarbeitung waren dies auch: »artistic creation and communication« (vgl. Machlup 1980, xvi–xvii). Allzu lange hielt sich Machlup unter der Überschrift »artistic knowledge« zwar nicht mit den Künsten auf; andere Bereiche seiner Studie sind deutlich ausführlicher geraten. Aber es erscheint nichtsdestoweniger bemerkenswert, dass er überhaupt daran interessiert war, den volkswirtschaftlichen Beitrag der Künste zur Wissensökonomie in seine Analyse mit einzubeziehen. Den Unterschied der Künste zu »Wissenschaft« und »wissenschaftlichem Wissen«, aber auch zu Technologie und allgemeinem praktischen Wissen wollte Machlup dabei in solchen »Tätigkeiten« sehen, die menschliche Eigenschaften kombinieren, die nicht allein durch Bücher und Vorlesungen angeeignet werden können. »Diese Tätigkeiten sind ›Kunst‹, indem sie nach Urteilskraft, Intuition, Erfindungs- und Einbildungskraft« ebenso verlangen wie nach der »Fähigkeit, korrekte Diagnosen und Prognosen anzustellen« (ebd., 92) [Übers. v. T.H.]. Machlup macht zudem deutlich, dass für sein Vorhaben nicht die Anwendung von Wissen in den Künsten von Belang sei, also der Umstand, dass Künstler_innen Wissen benutzen, sondern die Produktivität der Künste in Hinblick auf die Gehirne der Leserinnen, Betrachter, Hörerinnen und Zuschauer. Sein dafür erforderlicher, weitgefasster Wissensbegriff, der unter »Wissensproduktion« jede menschliche oder durch Menschen induzierte Aktivität begreift, die in einem menschlichen Geist eine bedeutungsvolle Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erkenntnis oder Bewusstseinsbewegung hervorruft, verändert oder bestätigt, – dieser weitgefasste Wissensbegriff erlaube auch die Berücksichtigung nichtverbalen Wissens, das Sehen von Formen, Farben und Bildern, das Hören von Geräuschen, Melodien, Harmonien und Rhythmen, die Berührung von rauen oder glatten Oberflächen,
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das Riechen, das Schmecken usw. »Die gezielte Produktion von Sinnesimpressionen dieser Art und der ihnen folgenden kognitiven und affektiven Prozesse […] ist ein Teil der Produktion von Wissen in ihrer Gesamtheit [is a part of the total production of knowledge].« (Ebd., 93) [Übers. v. T.H.] Entlang der verschiedenen Künste spielte Machlup durch, wie die Aktivierung der Sinne einen Gewinn von nonverbalem und verbalem Wissen in der Bevölkerung erzeugt, die mit Kunst in Berührung kommt. Aber zum einen waren seine Kenntnisse der zeitgenössischen Kunstproduktion der 1950er bis 1970er Jahre, dem Zeitraum, in dem er sich diesen Fragen widmete, gelinde gesagt überschaubar; und zum anderen beließ er es bei sehr allgemeinen Spekulationen über die möglichen ökonomischen Effekte dessen, was er »artistic knowledge« oder »the production of knowledge without words« (ebd., 96) nannte. Dennoch, es bleibt Machlups grundsätzliche Entscheidung beachtenswert, die Künste in eine quantitative Analyse des Anteils von Wissensproduktion an der Gesamtwirtschaftsleistung einer Nationalökonomie einzubeziehen.
K UNST
UND
M ODE 2 K NOWLEDGE P RODUCTION
Als Okwui Enwezor und die Documenta 11 den Begriff der Wissensproduktion wieder ins Spiel brachten, war es nun gerade nicht die volkswirtschaftliche Bedeutung von Kunst als Faktor und Bereich der wissensbasierten Ökonomie, was diesen Begriff geeignet erscheinen ließ, eine Repositionierung der Gegenwartskunst vorzunehmen – und zwar gezielt in Kontrast zu einem Kunstverständnis, das durch Marktgesetze und -mechanismen bestimmt war. Enwezors Frage an den Wissenschaftshistoriker Peter Galison hob vielmehr darauf ab, ob und wie die Wissenschaft ein Modell für eine neue Art der künstlerischen Kompetenz liefern könne. Eine Frage, die eine gewisse Nachgeordnetheit der Kunst gegenüber der Wissenschaft impliziert und deshalb einem Projekt der grundsätzlichen Neubewertung der künstlerischen Wissensproduktion nur bedingt gehorcht. Peter Galison antwortete damals, dass sich in den Wissenschaften sowohl die Geschwindigkeit, mit der Daten zirkulieren, als auch die Zahl der Verknüpfungen zwischen verteilten Entitäten deutlich erhöht hätten, weshalb die Fixiertheit (oder Fixierbarkeit) von wissenschaftlichen (aber auch künstlerischen) Ergebnissen bzw. »Produkten« in doppelter Weise heraus-
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gefordert würde, während diese »Produkte« sich durch immer neue, aufeinander folgende Interpretationen, neue Formen der Verbreitung/Distribution von Daten und eine daraus resultierende, veränderte »sozio-epistemologische Struktur« (Hauptmerkmal: Kollaboration) stetig wandeln würden (Obrist/Vanderlinden 1999, 103). Man kann in dieser Antwort leicht Elemente dessen wiedererkennen, was in den wissenschaftstheoretischen Diskussionen der vergangenen zwei Jahrzehnte als Mode 2 knowledge production verhandelt worden ist. Henk Borgdorff hat bereits über die möglichen Beziehungen zwischen künstlerischer Forschung und der idealtypischen Mode 1/Mode 2-Unterscheidung veröffentlicht (vgl. Borgdorff 2007, 73–79). Dennoch sei hier in groben Zügen rekapituliert, was die Urheber_innen dieser Unterscheidungen (und Autor_innen der einflussreichen Studien The New Production of Knowledge von 1994 und Re-Thinking Science von 2001) dazu behaupten: Während sie als Modus 1 jene Formen der Wissensproduktion bezeichnen, die auf Newtons Physik zurückgehen und ebenso durch die Trennung zwischen wissenschaftlichen Institutionen und Akteuren einerseits und deren gesellschaftlicher Umwelt andererseits gekennzeichnet sind (wie zum Beispiel durch eine Ordnungsstruktur der Forschung, die sich an den wissenschaftlichen Disziplinen und der Institution der Universität ausrichtet), soll es sich beim Modus 2 um Wissen handeln, das vor allem in den Kontexten seiner unmittelbaren Anwendung, in der Industrie, in der Wirtschaft, in der Kultur, in der Gesellschaft und so weiter produziert wird, also in einer sozialen Umwelt, die bevölkert ist von lauter Stakeholdern. In dieser Umwelt entstehen die wissenschaftlichen Probleme überhaupt erst, werden Methodologien entwickelt, Ergebnisse verbreitet und Anwendungsweisen definiert. Die Wissensproduktion im Modus 2 ist zudem – unterstützt durch die Entwicklung der Kommunikationstechnologien – geographisch zunehmend verstreut und mobilisiert; darüber hinaus ist sie grundsätzlich offen, denn die Forscher_innengemeinschaften sind im Unterschied zu den traditionellen universitären scientific communities durchlässig. So entstanden (und entstehen weiter) zunehmend neue, außeruniversitäre Formen der Wissensorganisation – von think tanks über Managementberatungsagenturen bis hin zu selbstorganisierten Aktivist_innen-Gruppen. »The research game is being joined by more and more players – not simply a wider and more eclectic range of producers but also orchestrators, brokers, disseminators, and
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users«, so formuliert Michael Gibbons, einer der Autoren der oben genannten Studien (Gibbons 2008, 3). Diese soziale Deterritorialisierung der Wissensproduktion geht einher mit neuen Formen der Transdisziplinarität, die sich von multidisziplinären Formen der Wissensproduktion unterscheiden, weil sie nicht notwendig von existierenden Disziplinen bestritten werden oder zur Gründung neuer Disziplinen beitragen, sondern formelle und informelle Verknüpfungen mischen. Was jetzt so klingen mag, als würde die Ablösung des Modus 1 durch den Modus 2 der Wissensproduktion zu einem Freiheitsgewinn, zur Demokratisierung der Wissenschaft und zu einer geradezu anarchischen Auflösung der Disziplinenordnung führen, erweist sich bald als eine äußerst ambivalente Konfiguration. Akzeptiert man überhaupt die Prämissen der Behauptung dieses Paradigmenwechsels (so idealtypisch er auch angelegt sein mag), was angesichts erstaunlicher Beharrungskräfte des vermeintlichen Modus 1 der Wissensproduktion, einer nicht immer nachvollziehbaren Topographie der Disziplinierung (entstehen Wissensdisziplinen nicht auch außerhalb der Universität?), aber auch wegen der äußerst unterschiedlichen Forschungsmilieus und -traditionen bisweilen schwer fällt, so ließe sich ebenso gut sagen, dass hier nichts anderes als die Postmoderne oder vielmehr: die Neoliberalisierung von Wissenschaft, von Forschung und Lehre, beschrieben wird. Dieser Konsequenz verschlossen sich auch die Autor_innen dieses Modells nicht ganz, die es in einem nächsten Schritt unternahmen, die mode 2 knowledge production mit der Vorstellung einer mode 2 society in Verbindung zu setzen. Der Übergang von Modus 1 zu Modus 2, von industrieller, fordistischer und disziplinärer zu postindustrieller, postfordistischer und transdisziplinärer Gesellschaftsordnung und Wissensproduktion wird auf das Ende des Kalten Krieges datiert und vor allem mit den kombinierten Phänomenen von Globalisierung und Privatisierung in Verbindung gebracht, mit einer Restrukturierung der Forschungsförderung entlang ökonomischer und gesellschaftlicher Prioritäten, mit der Ökonomisierung des Bildungssektors und der allgemeinen politischen Forderung nach Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Aber weiterhin behaupten sie, dass sich die Demarkationslinien zwischen Regierung, Industrie und Universität, zwischen universitärer und außeruniversitärer Wissenschaft; zwischen Grundlagenforschung, ange-
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wandter Forschung und Produktentwicklung auflösen. Modus 2 gilt ihnen grundsätzlich als eine Bewegung über etablierte Kategorien und institutionelle Grenzen hinweg. Diese Transgressionen und Rekonfigurationen charakterisieren, was mit Silvio Funtowicz und Jerome Ravetz seit den frühen 1990er Jahren auch als »post-normale« Wissenschaft oder Forschung bezeichnet werden kann (vgl. Ravetz/Funtowicz 1991 und Funtowicz/Ravetz 1991, 137–152). In diesem Rahmen einer »post-normalen« Wissenschaft wird die immer wieder eingeforderte Distinktion zwischen angewandter Forschung und Grundlagenforschung problematisch. Freilich ist in den Mode-2-Szenarien so gut wie nie explizit von den Künsten als Wissensproduzenten die Rede. Dafür aber von den humanities (im Unterschied zu den social sciences sowie science und technology), wobei die Autor_innen von The New Production of Knowledge durchaus Zweifel anmelden, ob ihre Beobachtungen zur Mode 2 knowledge production auch auf Philosophie, Literatur, Literaturwissenschaften, Kulturwissenschaften, Geschichtswissenschaften oder Linguistik zutreffen: In einem gewissen Sinne stehen die humanities ein bisschen an der Seite, als zweifelnd-gewitzte Kommentatoren, die den Untergang prophezeien oder spielerisch Kritik üben, sowie als Performer, die pastiche-Unterhaltung bieten oder heritage culture, um von der Angst einflößenden Komplexität und Volatilität der Welt abzulenken. (Gibbons et al. 1994, 110) [Übers. v. T.H.]
Deutlich zu spüren ist die Herablassung der Wissenschaftsforscher_innen gegenüber dem, was sie hier zusammenfassend humanities nennen. Zudem lässt sich aus diesen Äußerungen leicht ableiten, wie sie die Rolle der Künste charakterisieren würden – nämlich als kritisches, amüsantes Ornament der Verhältnisse. Aber es folgt auf das Obige noch ein Satz, der die gesellschaftliche Bedeutung der humanities und ihren möglichen Anteil an Mode 2 knowledge production hervorhebt – und auch hier liegt es nahe, an die Künste zu denken: In einem anderen Sinne sind sie [die humanities] sogar noch tiefer verwickelt; mittels der Kulturindustrie formen und gestalten sie mächtige, sogar hegemoniale Bilder, und in einem Hochschulwesen der Massen wirken sie unmittelbar auf die neue soziale Schichtung ein. (Ebd.) [Übers. v. T.H.]
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Gewisse Akteur_innen der humanities, unter ihnen Philosoph_innen oder Schriftsteller_innen, würden die Distanz zwischen creation und contextualisation, zwischen Bedeutungsproduktion und gesellschaftlichem Handeln, zwischen ästhetischer Praxis und theoretischer Analyse immer wieder aufheben (vgl. ebd., 108). In dieser Unmittelbarkeit zeigt sich im Grenzfall auch die social accountability, also die einbindende Rechenschaftspflicht und Verantwortung der sogenannten Stakeholders, der Praktiker_innen, Wissensakteur_innen, User_innen usw. Ein Bild, das sich hier einstellt, ist das der Philosoph_in oder Künstler_in als aktivistische public intellectual oder auch als lokal situierte ›organische Intellektuelle‹, für die Partizipation und Parteinahme Hand in Hand gehen können. Dies wäre ein Modell von Kultur- und Kunstproduktion, das viel mit einer feministischen und postkolonialen Epistemologie zu tun hätte, in der sich die Kritik der Verteilung und Verdrängung von Wissen mit der Produktion von neuen, ermächtigenden Wissensformen verbindet. In anderer Hinsicht erscheinen Rhetorik und Terminologie des Mode-2Modells von avantgardistischen ästhetischen Konzepten geleitet – der oft verwendete Begriff der »Transgression« wäre hier nur ein Beispiel. Solche ästhetischen Referenzen machen vermutlich auch den großen Reiz aus, den die Thesen über einen neuen Typus der Wissensproduktion, der durch historische, soziale und technologische Veränderungen bedingt ist (und diese seinerseits mitbedingt), auf den Diskurs der künstlerischen Forschung ausüben.
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ALS W ISSENSPRODUKTION BEHAUPTET WERDEN SOLLTE Doch kommt es mir hier weniger darauf an zu klären, ob sich künstlerische Forschung/artistic research eher dem einen oder dem anderen Modus der Wissensproduktion zuordnen lässt oder aus dieser binären Kategorisierung ganz heraus fällt, als darauf, wie Kunst überhaupt als Wissensproduktion behauptet werden kann und warum diese Behauptung strategisch sinnvoll ist. Zunächst ist ja, gerade in Hinblick auf einen landläufig progressiven, von Kapitalismuskritik geprägten Kunstbegriff, die Adaptation dieses Kon-
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zepts der Ökonomietheorie verwunderlich. Droht hier doch immer schon das Schreckgespenst der Ökonomisierung und Kommodifizierung von Wissen – sei es als zu patentierendes, lizenzierendes und damit dem Gemeinwesen entzogenes Wissen, sei es als Wissens-Spektakel der Populärwissenschaft oder der Diskursprogramme von Theaterfestivals, Kunst-Biennalen, Literatur- und Kunstmessen. Deshalb wird bei der Berufung auf »Wissensproduktion« die Semantik des Begriffs umcodiert, wie es Okwui Enwezor, Sarat Maharaj und andere im Kontext der Documenta 11 getan haben, als sie »Wissensproduktion« von den Zentren und den Metropolen an die Peripherie und die (Post-)Kolonien verschoben und dort, mutiert, anarchisch, post-normal als Form der Selbstermächtigung in radikal interdisziplinären Aktivitäten an den Rändern der Kunst wiederfanden. Sarat Maharaj, einer der Ko-Kuratoren der Documenta 11, interessierte sich besonders für die Entgrenzung überkommener Kunstbegriffe durch Gruppen, die in China, Indien oder Afrika mit allen möglichen Medien und Technologien arbeiten. Solche Praktiken seien in Modi der Wissensproduktion verwickelt, die oft nur eine indirekte Beziehung zum Visuellen hätten, den Erwartungen des globalen Galerien- und Museumsbetriebs nicht entsprechen und eher »research machines« gleichen würden, mit deren Hilfe soziale, politische, epidemiologische und andere Daten sichtbar gemacht werden könnten (vgl. Birnbaum im Interview mit Sarat Maharaj 2002, 110). An anderer Stelle wunderte sich Maharaj, warum er selbst eigentlich so emphatisch von »knowledge production« spreche (vgl. Maharaj 2009). Der strategische Nutzen des Begriffs, so seine Antwort, liege für ihn darin, sich mit der Rede von Wissensproduktion entschieden von der Rede vom Wissenstransfer abzugrenzen. Der Logik der Replikation in der identischen Übertragung wolle er die Logik der Produktion als Ereignis entgegensetzen. Eine Produktion würde stets einen Mehrwert, Unerwartetes hervorbringen, während der Transfer nichts weiter als die autoritäre Übermittlung in sich abgeschlossener Wissens- bzw. Datenpakete sei. Maharajs produktivistische Wende, also die semantische Aneignung und Umwidmung des Produktionsbegriffs für eine Theorie des Überschusses und der Kontingenz künstlerischer Wissenspraxis, findet derzeit manche Entsprechungen im Kunstbetrieb – zum Beispiel ganz buchstäblich in einer verbreiteten Wiederentdeckung des Produktivismus der 1920er und
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1930er Jahre (Expósito 2010)3 oder in der – mit dieser Wiederentdeckung eng zusammenhängenden – Debatte darüber, ob die unmittelbare gesellschaftliche Wirksamkeit und Relevanz der Kunst angesichts der eklatanten Krisen der Gegenwart (vom Klimawandel bis zum Schuldenregime) nicht den radikalen Verzicht auf jeglichen Autonomieanspruch und auf die Privilegien der Institution Kunst zwingend nach sich ziehe. In einer solchen, auf die Überwindung des Kapitalismus und seiner Wissensvorstellungen zielenden Perspektive wäre die Behauptung von Kunst als Wissensproduktion nichts anderes als die Behauptung von Kunst als Entkoppelung des Denkens (und Fühlens) von jeglicher kapitalistischer Wertschöpfung. Eine solche Perspektive scheint selbst in abgeschwächter Form kaum kompatibel mit den aktuellen institutionellen Anrufungen, die Kunst und Forschung in einem Atemzug nennen, wird hier doch zumeist tunlichst jede politische Positionierung vermieden, die keine forschungspolitische wäre. Aber das muss ja kein Dauerzustand sein – und die aktuellen und kommenden Krisen des Bildungs- und Wissenschaftssystems werden ihren Teil dazu beitragen, dass sich die vorderhand so plausible Verflechtung von kognitivem Kapitalismus mit einem Verständnis von Künstler_innen als Wissensproduzent_innen als schwierige Allianz erweist. Bevor es endgültig soweit ist, müssten Status und Statur künstlerischer Forschung konsequent unter Berücksichtigung der Bedingungen des kognitiven Kapitalismus reflektiert werden. Was bedeutet es, über Kunst so zu sprechen, als wären ihre Praktiken per se denen der sogenannten immateriellen Arbeit der Symbolproduktion und Informationsverarbeitung verwandt, wenn nicht sogar deren Modell? Müsste man nicht vielmehr umgekehrt von der materiellen Produktion solcher individuellen und institutionellen Formate wie artistic research/künstlerische Forschung sprechen? Die Performance-Theoretikerinnen und Choreographinnen Bojana Cvejiü und Ana Vujanoviü nennen das emergente System von Stipendien, residencies, »Laboratorien«, Graduiertenkollegs, Doktoratsprogrammen und anderen mehr oder weniger temporären Arbeitssituationen »ein Zusammentreffen von Information, sozialen Beziehungen und Dienstleistungen in der Gegenwart, Ausgestelltheit oder Atmosphäre von Künstler_innen beim Arbeiten und Netzwerken« (Cvejiü/Vujanoviü, 2010, 4.) [Übers. v. T.H.]. 3
Sowie die Schwerpunktausgabe »Neue Produktivismen« von transversal, September 2010, http://eipcp.net/transversal/0910 vom 04.08.2012.
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Diese Konstellation läuft auf eine Vervielfältigung kleiner, befristeter Projekte hinaus. Sie bringt neue Formen der Autor_innenschaft, des Wissensverkehrs und der Spezialisierung (etwa der Performer_in als »multitasking bricoleur«) hervor, die trotz oder gerade wegen einer verbreiteten OpenSource-Rhetorik die Konkurrenz und Prekarisierung eher fördern als verhindern. Depression und Erschöpfung sind Symptome einer Individualisierung, die mit einem Kunstverständnis einhergeht, das »immaterielle Arbeit« zum Leitbegriff erklärt. Kollaborative Gemeinschaften, die der Konkurrenz erfolgreich widerstehen, bleiben dagegen die Ausnahme. Oft genug ist die Rede von der Kollaboration im Kunstkontext aber auch nur eine euphemistische Formel für Sparmaßnahmen und Effizienzsteigerung. Diskussionen über die institutionelle Verortung und programmatische Ausrichtung von Kunst als Forschung sind nur dann erfolgreich zu nennen, wenn es in und mit ihnen gelingt, die Identifizierung von Kunst als Modus der Wissensproduktion in ihrer ganzen politisch-ökonomischen Tragweite, aber auch im Hinblick auf ihre Subjektivierungseffekte zu begreifen. Die Freiheit der Kunst (und der Wissenschaft) ist nicht anders als über die Kritik der Verwicklung einer Kunst, die als Wissensproduktion gedacht wird, in die Logik des Wissenskapitalismus zu erreichen. Dabei ist die Unmittelbarkeit des »künstlerischen Wissens« (Machlup) als »Produktivkraft« (Marx) nicht etwa einseitig ein Problem, sondern mindestens ebenso sehr eine Chance. Zu prüfen wäre, was die Berufung auf »Wissensproduktion« tatsächlich bietet. Nur so ließen sich die Bedingungen nachhaltig verbessern, unter denen Künstler_innen und andere Kulturarbeiter_innen mit ihrem Wissen »unmittelbar« produktiv werden (können). Und man sollte vorsichtshalber damit rechnen, dass diese »unmittelbare« Produktivität letztlich (und vielleicht ist das schon heute der Fall) auf die Inanspruchnahme des Begriffs »Kunst« mitsamt seiner ontologischen Gewichte nicht mehr in dem gleichen Maße angewiesen sein könnte, wie es jede Rede von »Kunst als …« impliziert.
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L ITERATUR Birnbaum, Daniel (2002): »In Other’s Words [Interview mit Sarat Maharaj]«, in: Artforum. Vol. 40/No. 6, S. 106–110. Borgdorff, Henk (2007): »The Mode of Knowledge Production in Artistic Research«, in: Gehm, Sabine/Husemann, Pirkko/von Wilcke, Katharina (Hgg.): Knowledge in Motion. Perspectives of Artistic Research and Scientific Research in Dance. Bielefeld, S. 73–79. Cvejiü, Bojana/Vujanoviü, Ana (2010): »Exhausting Immaterial Labour [Einleitung]«, in: Exhausting Immaterial Labour. Gemeinschaftsausgabe von Le Journal des Laboratoires und TkH Journal for Performing Arts Theory. No. 17, S. 4–5. Expósito, Marcelo (Hg.) (2010): Los nuevos productivismos. Barcelona. Funtowicz, Silvio O./Ravetz, Jerome R. (1991): »A New Scientific Methodology for Global Environmental Issues«, in: Costanza, Robert (Hg.): Ecological Economics: The Science and Management of Sustainability. New York. S. 137–152. Gibbons, Michael (2008): »Why Is Knowledge Translation Important? Grounding the Conversation«, in: Focus. A Publication of the National Center for the Dissemination of Disability Research (NCDDR). Technical Brief No. 21. Gibbons, Michael et al. (1994): The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. London/Thousand Oaks/New Delhi. Langlois, R.N. (1985): »From the Knowledge of Economics to the Economics of knowledge: Fritz Machlup on Methodology and on the Knowledge Society«, in: Samuels, W.J. (Hg.): Research in the History of Economic Thought and Methodology: A Research Annual. Vol. 3. Greenwich, S. 225–235. Machlup, Fritz (1980): Knowledge: Its Creation, Distribution, and Economic Significance. Volume I: Knowledge and Knowledge Production. Princeton, S. xvi–xvii. Maharaj, Sarat (2009): »Know-how and No-How: Stopgap Notes on ›Method‹ in Visual Art as Knowledge Production«, in: Art & Research. Vol. 2/No. 2. MEW (Marx-Engels-Werkausgabe) (1956ff): Bd. 42. Berlin.
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Müller, Markus (2007): »Wissensproduktion/Knowledge Production«, in: Texte zur Kunst. 17. Jg./H. 66, S. 143–149. Obrist, Hans Ulrich/Vanderlinden, Barbara (Hgg.) (1999): Laboratorium. Köln. Ravetz, Jerome R./Funtowicz, Silvio O. (1991): Uncertainty and quality in science for policy. Boston.
Occupy Wissen Institutionalisierungsfragen zur »Forschung aller« U LRIKE B ERGERMANN
Wer forscht? In den Siebzigerjahren starb das revolutionäre Subjekt der Arbeiterbewegung oder zeigte sich als schon eine Weile erodiert durch das Angestelltendasein – so jedenfalls die Wahrnehmung vie-ler, die an deutschen Universitäten versuchten, die akademischen Elfenbeintürme mit Inhalten und Protagonist_innen mit gesellschaft-licher Relevanz auszustatten. Was ›der Linken‹ im allgemeinen weniger gut gelang, optimierten ›die Frauen‹ in dem Versprechen, in der Frauenforschung weibliche Erfahrung als Beforschte und Forschende einzubringen und damit zu einer Einheit von Leben und Wissensproduktion zurückzukehren… An dieser holzschnittartigen Geschichte lässt sich, gerade in ihren Überzeichnungen, einiges ablesen. Und es lassen sich Fragen gewinnen für das gegenwärtige Bemühen, akademische Institutionalisierungsfolgen abzuschätzen – für Konzepte zur künstlerischen Forschung, für neue und andere Wissensproduktionen. Wer soll die Forschung machen, sollen ›alle‹ sie sich nehmen, besetzen, okkupieren?
ALLE
ALS
ABWEICHUNG
Für die akademische Forschung gilt heute: Während im Zuge der BolognaReform einerseits die Normierung und Verschulung der Studiengänge zu-
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genommen hat,1 ergeht gleichzeitig die Aufforderung an alle Hochschulen, sich zu profilieren, eigene Standortvorteile zu kultivieren, Studiengänge auszudifferenzieren (auch wenn dies wiederum der geforderten Austauschbarkeit für die Mobilität der Studierenden widerspricht) und, im nächsten Zug, Exzellenzcluster und Leuchttürme zu bilden. Speziell sein, unverwechselbar sein, der Forschung insgesamt durch ungewöhnliche Konstellationen Innovationen zu bescheren ist das Ziel. Einzelne Disziplinen haben sich durch konservative Besetzungspolitiken die alte Identität zu erhalten versucht, während trotz aller Schelte die Inter- oder Transdisziplinarität weiterhin ein gewichtiges Förderkriterium darstellt. Was früher entweder ein revolutionäres oder ein angepasstes Subjekt war, ist heute ein kreatives geworden, von dem es heißt, dass es seine Subjektivierung gerade im selbsttätigen Erfüllen von Flexibilität, Mobilität und Autonomie erarbeite.2 Was in romantischer Besetzung noch mit einem Zugewinn von Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten durch das Ablehnen von Normen verbunden war, stellt sich heute eher im Modus einer »Norm der Abweichung«, einer permanenten Aufforderung zum Anders-Sein und darin ganz Man-selbst-Sein dar (vgl. von Bismarck, Boltanski, Wilding, Bröckling 2003 sowie Honneth 1
Zu Fragen nach dem Funktionieren der Beteiligten im Umbau der Universitäten mit geschlechterbezogener Perspektive vgl. »Gehen Sie zu weit! Generation und Geschlecht in der Bologna-Anrufung« (Bergermann 2010, 85–106).
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Prägnant zusammengefasst in einer aktuellen Publikation: »Eigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit, Kreativität sind die heute entscheidenden gesellschaftlichen Forderungen, die die Individuen zu erfüllen haben, um an der Gesellschaft teilnehmen zu können. […] An die Stelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern ist der unter dem Zeichen des Wettbewerbs stehende Zwang zur kreativen Selbstverwirklichung getreten. Man gehorcht heute nicht mehr, indem man sich einer Ordnung unterwirft und Regeln befolgt, sondern indem man eigenverantwortlich und kreativ eine Aufgabe erfüllt. Im Blick auf häufig wechselnde ›Projekte‹ sollten die einzelnen ihren eigenen Neigungen folgen, um sich jeweils ganz – mit allen Facetten ihrer Persönlichkeit – ›einzubringen‹. Es scheint, dass sich Einstellungen und Lebensweisen, die einmal einen qualitativen Freiheitsgewinn versprachen, inzwischen so mit der aktuellen Gestalt des Kapitalismus verbunden haben, dass daraus neue Formen von sozialer Herrschaft und Entfremdung entstanden sind.« (Menke/Rebentisch 2010, 7).
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2010). »Norm der Abweichung« heißt also für die akademische Wissensproduktion: Neue Aktanten herbeischaffen, ›künstlerische Forschung‹ ausprobieren, Forschungsglück durch Vervielfachung der Forschungskombinationen erhöhen! Natürlich ist die akademische Wissensproduktion keineswegs ein monolithisches und determinierendes Labor, vor dessen Betreten hiermit gewarnt wäre. Aber es lohnt sich, von den Strategien derjenigen zu lernen, die sich mit der systemischen Verwertung ihrer Systemkritik bereits auseinandersetzen mussten,3 einerseits um einer Selbstromantisierung zu entgehen (es sei denn, man mag sie), andererseits um länger dazubleiben und Handlungsoptionen zu behalten. Welche Versuche unternahm der akademische Feminismus, um »dissident zu partizipieren« (vgl. Hark 2005)? Wie windet sich die Forderung nach einem »Recht auf Stadt« darum herum, selbst Teil eines bunten Stadtmarketings zu werden?4 Warum die Wendung 3
Der Neoliberalismus ist gekennzeichnet durch seine Fähigkeit, Gegenstimmen, Kritik und Abweichungen zu assimilieren, mit Punk wurde als Mode schnell Geld verdient, die Multiplikation von Lebensstilen wird in individualisierbare Konsumvarianten hineindesignt, und der Künstler/die Künstlerin, der/die im 20. Jahrhundert freiwillig dem Stammtisch unverständlich geworden ist, wird zum Modellspender für das Management. 2012 ist eine als ›muslimisch‹ markierte Mode für westliche Frauen noch undenkbar, ist doch das Kopftuch politisch instrumentalisiert – aber es kann nicht mehr lange dauern, bis auch dieses Andere auf dem Laufsteg und in den Shops zu sehen ist.
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Wenn eine Stadt ihre Wirtschaft durch Tourismus ankurbelt, sich ein vermarktbares Image geben und »die Kreativen anlocken« will, sich hierfür der Kunstszene bedient, dieser aber gleichzeitig die Unterstützung entzieht, findet sich eben jene Kunstszene im Dilemma. Immer noch ist beispielweise der gegen große Widerstände realisierte Gemeinschaftspark Park Fiction auf St. Pauli nicht fertiggestellt, da finden sich die erkämpften Symbole schon auf MarketingBroschüren. Inmitten von Protest und Vereinnahmungsversuchen positionieren sich diverse Initiativen im Recht-auf-Stadt-Netzwerk; die Standpunktlogiken und ihre Zwickmühlen sind nachzulesen unter anderem in einem Manifest: Not In Our Name, Marke Hamburg (Ted Gaier, Melissa Logan, Rocko Schamoni, Peter Lohmeyer, Tino Hanekamp und Christoph Twickel 2009), das Manifest unter http://nionhh.wordpress.com/about/ und eine Diskussion der Reaktionen unter http://nionhh.wordpress.com/ vom 06.08.2012.
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zur Kunst in der Frage nach der Forschung aller für alle?5 Wollen wir einen »emanzipierten Lehrer«?6 Wenn man heute ›anders wissen‹, neue For 5
Dass ›Kunst‹ nicht nur ein Residuum für unverplante Innovation sein kann, sondern auch parallel zum Aufstieg des Handelskapitalismus den Geniekult einführte, hat Therese Kaufmann in einer Zusammenführung nicht nur der differenzierten Diskurse um »Kunst und Wissen«, sondern auch in deren historischer Verwobenheit im europäischen Kolonialismus herausgestellt (Kaufmann 2011, http://eipcp.net/transversal/0311/kaufmann/de vom 06.08.2012). Vgl. weiter zum eigenen Ort innerhalb der Creative Industries: von Osten 2007, http://eipcp. net/transversal/0207/vonosten/de vom 06.08.2012; zur Universität als neuer Fabrik: Raunig 2009, http://eipcp.net/transversal/0809/raunig/de vom 06.08.2012. Zum gesellschaftstheoretischen Rückgriff auf Kunst und Ästhetik vgl. insbesondere: Menke (Menke/Rebentisch 2010, 226-240), der argumentiert, dass dieser Griff nach modernen Figuren von Subjektivität und Freiheit in der nachmodernen, der nachdisziplinären Subjektform misslingen muss, erläutert am Begriff des Geschmacks, der gleichzeitig eine ästhetische wie soziale Kategorie darstellt.
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Rancières Bild intellektueller Emanzipation vom üblichen Lehr-/Lernverhältnis ging nicht davon aus, dass der Lehrer/die Lehrerin dem Schüler/der Schülerin voraus ist und der Abstand dieses Wissens immerzu verringert und wieder erneuert werden muss, sondern unterstellte verschiedene Formen der Intelligenz, des Wissens und Unwissens, Übersetzungsarbeiten zwischen ihnen und als Emanzipationsprozess das Erkennen und Praktizieren der »egalitären Macht von Übersetzung und Rückübersetzung« (Rancière 2010, 83.) Unabdingbar sei dazu zwischen beiden ein Abstand, ein Spektakel. »Dieses Spektakel ist ein Drittes, auf das sich beide Seiten beziehen können, das aber jede Art von ›gleicher‹ oder ›unverfälschter‹ Übertragung verhindert.« (Ebd., 86) Alle wissen, aber sie sind nicht gleich und sie wissen nicht Gleiches. Schüler_innen, Zuschauer_innen und alle bislang als passive Empfänger_innen Konzipierte beginnen ihre Emanzipation dann, »wenn wir den Gegensatz von Schauen und Handeln verwerfen und verstehen, dass die Aufteilung des Sichtbaren selbst Teil der Konfiguration von Beherrschung und Unterwerfung ist. Emanzipation beginnt dann, wenn wir verstehen, dass auch Schauen eine Handlung ist, die diese Aufteilung entweder bestätigt oder verändert, und dass ›die Welt zu interpretieren‹ bereits bedeutet, sie zu verändern, sie neu zu ordnen.« (Ebd., 85.) Die Implikationen von Hegemonietheorie (mit deren Aspekt des Einverständnisses) und der Gouvernementalität
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schungswege beschreiten will, spielt es dann eine Rolle, wenn diese morgen ein DFG-Netzwerk werden?
99% W ISSEN Selbstverwirklichung und Selbstvermarktung betreffen heute gleichermaßen die prosumers von Medien, von Kultur und Kunst, von Mainstream und universitärem Denken. Von Ökonomisierungen, Autonomie, Unfreiheit und ihren Lücken handeln neue Texte über Mediengouvernementalität, kreative Arbeit und Bildungspolitik. Denn die Kritik am Wissenschaftsmanagement an den Hochschulen, die Kritik an der Verwertung von ›Kreativität‹ und die Kritik an einer Ökonomisierung des Selbst in Medien haben einiges gemeinsam.7 Sie argumentieren gegen die Auffassung von Wissen, (und den Selbsttechniken) beschreibt Nora Sternfeld (Sternfeld 2009). Vgl. auch den Beitrag von Elise v. Bernstorff. 7
Hierzu gehört auch das Beschäftigtsein (eine Begleiterscheinung des Selbstmanagements). Hito Steyerl hat in Art as Occupation: Claims for an Autononomy of Life (Steyerl 2011) die occupation zwischen Erwerbsarbeit, Beschäftigtsein und Besetzungspolitiken untersucht. Auch Kunst wird zur Beschäftigung, insofern sie zunehmend den Prozesscharakter ihrer Herstellung hervorhebt, als Selbstzweck und nicht als Geldverdienen gilt: »Art-as-occupation«. Eigentlich basierte die Idee künstlerischer Autonomie gerade auf der Trennung von Kunst und Leben – während die Kunst der Instrumentalisierung entkam, verlor sie auch an gesellschaftlicher Relevanz, wogegen die Avantgardebewegungen wiederum angingen. Die Inkorporation von Leben in der Kunst ist nun ein ästhetisches Projekt, Teil einer Ästhetisierung der Politik – »art now occupies life«, wie Steyerl mit einer Umbesetzung der Occupy-Metapher formuliert, von den Praktiken der permanenten Selbstdarstellung bis zur Stadtwirtschaftskulturpolitik, der Identifikation mit seiner eigenen Beschäftigung bis zur Leugnung der Arbeitsteilung von Erwerbsarbeit und Kunst. Steyerl unterstützt, drittens, Forderungen wie »Occupy art spaces«, warnt aber davor, alle Arten von Beschäftigungen (inklusive der schlichten: Nach Hause gehen, Tränengas auswaschen, Kinder abholen) als ästhetische Praktiken zu begreifen. Steyerl, Hito (2011): »Art as Occupation: Claims for an Autononomy of Life«, in: e-flux journal. Nr. 30, Dez. http://www.e-flux.com/journal/art-as-occupation-claims-for-an-autono
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Produktivität und Medialität im Sinne ihrer Verwertbarkeit, sie suchen nach Freiräumen des Denkens und Gestaltens, und darin sind sie ähnlichen Paradoxien ausgesetzt: Sie sprechen im System aber gegen es; sie sind »dagegen – dabei« (vgl. Dany/Dörrie 1998)8, sie suchen nach einem Ort der Kritik9, und sie sind darin produktiv. Die Suche nach Orten »zwischen Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft« prozessiert also auf einem bekannten Feld und vertraut weiter auf die Produktivität von dem, was einerseits randständig, andererseits aber eben in neuen Nachbarschaften steht, wenn nicht gar ganz zwischen den Stühlen. Was bedeutet das für die Idee, die »Forschung aller« an die Stelle von »die Forschung weniger« zu setzen? Welche Subjekte sind das, die jetzt forschen sollen? Was unterscheidet dieses Unterfangen von Unternehmen, die offene Befragungen von Mitarbeiter_innen und Kund_innen vornehmen, um ihre Produkte zu verbessern? Wenn die Forschung aller der alten Wissensinstitution frisches Blut in den alten Genpool zuführen sollte, wäre das eine Win-win-Situation für alle, eine perfide Strategie der Institution, oder egal, solange die Ergebnisse stimmen? Im Jahr 2011 beeindruckte die Occupy-Bewegung mit dem Slogan »We are the 99%« (zuletzt auch auf dem Elitecampus der Harvard-Universität: »We want a university for the 99%«). Trotzdem ist es nicht automatisch demokratisch, wenn ›alle‹ etwas tun. Es kommt auf die Form der Beteiligung an, und es kommt darauf an, um was es geht. »Die Forschung aller« zielt nicht auf die, die ohnehin offiziell und bezahltermaßen bereits ›forschen‹. ›Alle‹ sind tendenziell die, von denen man nicht unbedingt sagen würde, dass sie ›forschen‹. Es geht also über die Erweiterung der Beteiligten um die Erweiterung oder Erneuerung des Begriffs des Forschens. Man könnte auch fragen: Ist Forschen nicht, was alle irgendwie tun? Im Bereich des künstlerischen Forschens lautet eine mögliche my-of-life-12/ vom 21.01.2013 – Vielen Dank für den Hinweis an Nanna Heidenreich. 8
Auf die Mediendebatte kann ich hier nur verweisen, siehe exemplarisch etwa Andrea Seier: »Fernsehen der Mikropolitiken: Televisuelle Formen der Selbstführung« (Seier 2009, 158–175) Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen (Seier/Waitz [im Druck]).
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Oder ist auch das bereits vereinnahmt? Vgl. Draxler 2008, http://www.eipcp.net/ transversal/0308/draxler/de/ vom 06.08.2012.
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Antwort: Künstlerische Tätigkeit lässt sich dann sinnvoll als forschend bezeichnen, wenn sie einen selbstreflexiven Zug aufweist und sich selbst die Frage nach ihrem Vorgehen gestellt hat. Wenn Forschen alles ist, jedes Tätigsein, Schlafen und Träumen, Backen und Schwimmen, weil man auch dort etwas herausfindet, experimentiert, tacit knowledge erwirbt, dann ist die Frage nach der Forschung aller überflüssig geworden, auch wenn nicht alle Wissensformen unbedingt »wissen, dass sie wissen«.10 Wer also formuliert die Frage? (Sicher nicht alle.) Muss denn immer Wissen produziert werden? Gibt es nicht auch einen Wunsch, nicht dermaßen zu lernen?11 Ist nicht Partizipation ein Wort wie ein Imperativ?
P ARTIZIPATION . W ENN
WIR ALLE WISSEN
In einem Programm namens Die Forschung aller müssten Unterschiede bestimmt werden zwischen einem gezielten, selbstreflexiven Prozess des Wissenserwerbs und der Idee, dass verschiedene akademische oder nichtakademische, künstlerische, handwerkliche etc. Praktiken ebenso forschende sind. Denn: Wenn alle forschen, forscht niemand. Oder es wäre überflüssig, diese Tätigkeit eigens zu benennen. Oder: Wenn alle forschen, ist das vielleicht so, wie wenn alle atmen oder alle essen. Und es sollen alle essen. Das hieße dann auch: Niemand kann sich etwas darauf einbilden, zu tun, was alle tun. Man kann kaum anders als immer zu lernen. Die Synapsen machen ihre Brownsche Molekularbewegung schon von alleine. Und es braucht keinen Propheten, um zu sehen: Die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen, sie arbeiten nicht und sie spinnen auch nicht, und sie lernen doch. Wie man braune Punkte macht zum Beispiel. Es ist der sexy intelligente Ian Malcolm, der im Jurassic Park grinsend sagt, die Natur finde immer einen Weg (mit seiner Lederjacke auf dem bald verletzten Körper). Man kann zwar die Synapsen systematisieren und sich auf die Systematiken etwas 10 Wie Karin Harrasser formulierte, der ich für intensive kritische Kommentare herzlich danke. 11 Immerhin von »Rückzug« ist im Vorbeigehen die Rede: Diederichsens Forderung nach diversen Wiederaneignungen ökonomisierter skills und Wissensformen umfasst auch die »Wieder-Versachlichung der personalisierten Techniken« und ein »Verfügen über Rückzugsmöglichkeiten«. Diederichsen 2010, 127.
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einbilden. Und auch damit Geld verdienen. Aber die Frage nach einer Forschung aller wäre damit zu früh beantwortet – denn käme Forschung von allein und ganz natürlich, wie die unsichtbare Hand des Marktes, bräuchte man kein kritisches Programm. Wenn alles ›Forschung‹ oder ›Wissen‹ ist, ist nichts Forschung oder Wissen. Das Wort ›Forschung‹ muss ein Platzhalter sein. Denn man weiß ja, wenn man die Sache ernst nimmt, nicht vorab, was es ist, das da erforscht worden sein wird. Es ist etwas, ein Ding, ein Kunstobjekt, ein Laborbefund, ein Stück Sprache. Wenn es erfunden wurde, war es wohl vorher nicht da. Und dann gibt es mehr Wissen in der Welt als man durch irgendwelche Wahrnehmungsöffnungen einatmen kann. Alles, was da ist, ist vielfältigst lesbar und speichert mehr Wissen als ich jemals rekonstruieren kann. Ich sehe den Fensterrahmen, er entstammt handwerklichem Wissen, industriellem Handling, komplizierten Handelswegen, in die nicht zuletzt EUFörderung zur Wärmedämmung und meine Mietgenossenschaft eingegangen sind, ich sehe ihn durch eine Brille, er umgibt Glas mit seiner langen Handwerks- und Kulturgeschichte, er ist Teil des riesigen kulturellen Imaginären, das das Fenster darstellt: Warum ist er weiß gestrichen, warum ist sein Öffnungsmechanismus anders als in England oder Griechenland, warum haben andere Häuser keine Fensterrahmen? All dieses Wissen ist in den Fensterrahmen eingegangen, weil irgendwelche Menschen irgendwann haben herausfinden wollen, wie man Licht ins Hausinnere lässt/wie man Glas rahmt/was wir gegen den Klimawandel tun können/welches Holz sich eignet und so weiter. Was zwischen Kunst (hier der Tischlerei), Wissenschaft (von Wirtschaftswissenschaft bis zur Philosophie) und Gesellschaft (Menschen organisieren Lichteinfall und Wärmedämmung) entsteht, hat noch nie nur einem Bereich angehört, jeder Produktion ist ein Zwischen eigen. Trotzdem fragen wir uns jetzt wieder nach einer neuen Forschung. Daher muss sich mit der erneuten Frage nach der Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft eine besondere Vermutung und ein besonderer Wunsch verbinden. An welcher Stelle in dieser Produktion (beispielsweise des Fensterrahmens) von ›Wissen‹ oder ›Forschung‹ gesprochen werden soll, wäre zu bestimmen: An welcher Stelle der Kette ist etwas Neues entstanden? Wo wurde der Hervorbringungsprozess reflektiert oder gar theoretisiert? Entsteht das Wissen erst im Auge des Betrachters, oder ist der metakritische Zug im Prozess selbst angelegt? Wozu dient ein Aufrechterhalten der Trennung von Handwerk und Forschung, oder: mit wel-
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chem Ziel wäre das implizite Wissen und Forschen der Tischlerin als Forschung zu bezeichnen?12 WER etwas weiß, wer ein Wissen erwirbt, hängt eng zusammen damit, WAS gewusst werden soll. Was wir wissen wollen, soll nicht nur von wenigen bestimmt werden. Und bloßes Wissen hilft nicht weiter. Exkurs 1: Nichtwissen / Wenn alle wissen müssen An einem anderen Beispiel wird das Unbehagen an der Partizipation schneller deutlich. Wenn es begrenzte medizinische Mittel in einer Gesellschaft gibt, wer soll dann darüber entscheiden, wie diese verteilt werden? Im Zeitalter von Generationenungleichgewicht und Medizintechnologien werden diese Fragen in Ethikkommissionen diskutiert. Nun hat die Philosophin Petra Gehring diese Praxis kritisiert.13 Wenn beispielsweise alle Insassen eines verirrten Bootes gleich viel Wasser bekommen, egal wie groß 12 Hier teilt sich die Diskussion um artistic research. Eine Seite diskutiert die Institutionalisierungen in PhD-Programmen für Künstler_innen und Designer_innen, die möglicherweise dazu führen, dass solche Abschlüsse für Professuren obligatorisch werden und damit ein Teil des Studiums abgewertet wird. Eine weitere betrachtet den wissenschaftshistorischen Wandel des Forschungsbegriffs im Rahmen der Ausdifferenzierung des Fachkanons in der (europäischen) Hochschulgeschichte, die Trennungen von Wissenschaft, Handwerk und Kunst und ihre Verschiebungen. 13 »Was besagt die Forderung nach ›mehr Transparenz‹? Auf den ersten Blick zielt sie lediglich auf Wissen, das man haben könnte, aber derzeit nicht hat. Im Zusammenhang mit ›Priorisierung‹ geht es dennoch um mehr. Transparenzforderungen haben hier einen normativen Beiklang. Es geht um die Botschaft, es müsse endlich aufgeräumt werden und um ein verändertes Rechenschaftslegungsverfahren: Eine lediglich durch Konsens und nicht durch Diskussion möglicher Alternativen autorisierte Praxis soll sich künftig der Prüfung durch Experten unterziehen – und dabei soll sich auch die Öffentlichkeit, die Betroffenen selbst, in möglichst analoger Weise als Experten verhalten. Die Leitvorstellung, zuvor diffuse Verantwortungsverhältnisse würden durch Transparenz irgendwie ›ethischer‹, bleibt dabei ihrerseits diffus. Geht es um Beteiligung möglichst aller?« (Gehring 2011, 588). Online unter http://www.forschung-und-lehre.de/ wordpress/Archiv/2011/ful_08-2011.pdf vom 06.08.2012.
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oder alt sie sind, ist damit einer Verteilungsethik gefolgt, die zugunsten einer rationalen Verteilung zum Beispiel nach Gewicht, Alter etc. nicht unbedingt sinnvoll zu verabschieden ist. Das ›selbstbestimmte‹ Handeln nach einem Wissen um Verteilungskriterien vermehrt ja nicht das Wasser, und: es entsolidarisiert prinzipiell alle im Boot, in einer »Friedloslegung aller Beteiligter«.14 Solange das Wissen um den Umbau der Verteilung nichts verändern kann, ist mit der Verteilung von Wissen nicht geholfen.15 Bezieht man diesen Befehl des »Willens zu Wissen« auf eine »Forderung nach Forschung«, so verlässt man zwar den Bereich des unmittelbar Existentiellen: Nicht jedes Wissen ist direkt lebenserhaltend oder -bedrohend. Aber wir lernen aus dem Blick aufs Boot: Wenn alle forschen sollen, so wird zu fragen sein, in welchem Kontext man die Ergebnisse betrachten soll beziehungsweise etwas als Ergebnis betrachten soll; Wer bestimmt, was von dem Gefundenen kommuniziert, weitergelehrt, aufbewahrt wird? Geht es um ein besseres Wissen, oder ist es automatisch besser, wenn viele daran beteiligt sind? Die Frage muss lauten: Was wäre ein besseres Wissen?16 Und sie ist nicht mit Verweis auf die Anzahl oder Breite der beteiligten Produzent_innen zu beantworten. Was gut sei, darüber kann man nicht abstimmen.17 Die Forderungen nach der Umsetzbarkeit des neuen Wissens, 14 Ebd. 15 Im Hintergrund steht hier ein diffuses Recht auf Nichtwissen: Friedlich sei der Mensch, der sich nie die Frage gestellt hat, ob sein Körper mehr oder weniger erhaltenswert ist, mehr oder weniger rationalisierbares Gut für die Gesellschaft enthält als ein anderer. 16 Es geht immer noch um das Versprechen, Neues herauszufinden, und zwar solches, das man mit den traditionellen Methoden alleine nicht herausfinden kann. Dann ist zu fragen: Warum immer Neues? Und wer bestimmt, was überhaupt neu ist? Macht die Natur Sprünge? Wo entstehen Qualitätsunterschiede im Denken? Graduell, plötzlich? Greift die Synapse ins Leere oder weiß sie immer schon, wo sie sich hinrankt? Und: Können es ›alle‹ sein, die über diese Kriterien befinden? 17 Dazu würde gehören, diejenigen Dinge zu finden, die es sich zu wissen lohnt – etwa mit Hilfe von Latour, denn »dasselbe Wort Ding bezeichnet matters of fact, Tatsachen, und matters of concern, Dinge, die uns angehen«. – »Warum nicht der fact position, der Tatsachen-Position, und der fairy position, der Mär-
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der Handlungsmöglichkeiten im Anschluss, der Mitgestaltung der Rahmenbedingungen des Wissenserwerbs und so weiter. müssen jedenfalls jede Forderung nach Forschung (aller oder einiger) begleiten. Exkurs 2: Nichtorte / Weltöffentlichkeit Man kann einen renommierten abendländischen Paten dazu heranziehen. Wie Jan Masschelein und Maarten Simons in ihrer Morphologie der WeltUniversität anführen, ist es Kants Weltbürger, der Modell steht für den öffentlichen Gebrauch der Vernunft; er ist der prototypische Gelehrte, und jedermann kann dieser Gelehrte sein (Masschelein/Simons 2010, bes. 46–50; Kant 1977). Weltbürger wäre, wer sich als Weltbürger versteht und sich in einem geteilten Diskursraum denkt, in dem er alle adressiert. Zwar beschränkt Kant diese Teilhabe in weiteren Schriften schnell wieder auf Professoren beziehungsweise. Schüler, aber zuerst denkt er die Aufklärung von dem öffentlichen gemeinsamen Denken her, gebunden an Präsenz und Sprache.18 Eine »Forschung aller« könnte hiervon die Momente der Selbstautorisierung und Adressierung nehmen, ebenso wie die Anlässe zur Selbstreflexion der selbstgezogenen Grenzen durch Zugänge zu Räumen und Medien.19
B ETEILIGTSEIN
UND
S ELBSTAUFKLÄRUNG
Unbehagen hin oder her, partizipiert wird ohnehin. Vor zehn Jahren hat Brian Holmes mit dem Topos des »flexiblen Charakters« das unternehmerische Selbst als gleichermaßen konsumierendes wie produzierendes, als prosumer-Subjekt in den Netzwerken der Kommunikation beschrieben (Holmes 2003, 141), worin Tom Holert heute die »Formsachen«, die ästhetische und soziale Gestalt und damit Gestaltbarkeiten politischer Handlungsmacht chen-Position, eine dritte Position hinzufügen, nämlich eine faire Position?« (Latour 2007, 24 und 46). 18 Auch Masschelein und Simons bleiben bei universitären Akteuren und Formaten, vor allem der Vorlesung. Ebd. 48, 56-64. 19 Weiter auch deren Ökonomisierung, vgl. Masschelein/Simons 2012 (Hinweis von Sibylle Peters).
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erkennt – obwohl gerade die Form »das Hoheitsgebiet ›künstlerischer‹ Subjektivität und Innovationskompetenz [bildet], die in Zeiten der creative industries, des lebenslangen Lernens und des projektbezogenen Arbeitens Modellcharakter angenommen haben.« (Holert 2010, 132f, 137 et passim) Aber wir sind eben die flexiblen Charaktere, die in Formsachen kompetent sind, und daher Teil des Problemfelds. Wie damit umgehen? Holert warnt davor, Kurzschlüsse künstlerischer und gesellschaftlicher Formen zu produzieren, Widerspiegelungstheorien zum Beispiel von »Relationen« und »Verhältnissen« und »Netzen« aufzustellen – solche Parallelisierungen, selbst Formalismen, sind jederzeit für alle Strategien benutzbar und eben nicht nur die kritischen; sie funktionalisieren ›Kunst‹ oder ›Medien‹ als Metaphernlieferanten für postfordistische Gesellschaften. Ob eine Form Kontrolle oder Ermächtigung befördert, lässt sich nicht vorab entscheiden, subversiver wie affirmativer Umgang sind möglich und auch kritische Konzepte können vereinnahmt werden. Holmes hatte in der Negation der Verwertbarkeit noch eine positive, identitätsstiftende Kraft gesehen: Die Beschreibung des flexiblen Charakters und die Suche nach Alternativen zu ihrer Herrschaft muss es dabei vermeiden, selbst wieder zu einem neuen Zweig der akademischen Industrie zu werden – und zu einem neuen potenziellen Ort für einen immateriellen Produktivismus. Stattdessen kann sie als Chance gesehen werden, neue Formen intellektueller Solidarität zu schaffen, ein kollektives Projekt für eine bessere Gesellschaft. Wenn sie in einer Perspektive der sozialen Veränderung ausgeführt wird, kann die Ausübung negativer Kritik selbst eine mächtige subjektivierende Kraft entwickeln, sie kann eine Möglichkeit sein, sich über die Anforderungen einer gemeinsamen Bemühung selbst zu formen.20
Holmes stellte sich mit der ›sozialen Perspektive‹ letztlich noch auf eine Seite der gesellschaftlich-ästhetischen Frage; Holert begibt sich hinein in das Terrain der Parallelformen. Er interessiert sich einerseits für die »Form« des Netzwerks, die Austausch, Intensivierung und Informationsfluss verspricht, aber ebenso instrumentell per Interaktivität und Feedback 20 Brian Holmes, »Der flexible Charakter. Für eine neue Kulturkritik«, in: Transversal, hg. von eipcp, Nr. 01, 2002, http://www.eipcp.net/transversal/1106/ holmes/de, übers. v. Birgit Mennel, vom 06.08.2012.
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struktur, ökonomisch verwertet wie in neue Subjektivitäten vernutzt wird, im Imperativ der Kooperation: »Statt Arbeit zu teilen, wird das Teilen zur Arbeit.« (Holert 2010, 135) Andererseits versucht er, mit Bourriauds relationaler Ästhetik (Bourriaud 1998), welche die Kunstproduktion nicht mehr in materiellen Objekten, sondern in Kommunikations- und Kollaborationsformen sieht, eine »besondere Arena des Austauschs« zu denken, insofern es insbesondere künstlerische Rekonfigurationen von Zeit und Formen seien, die Rancières emanzipatorische »Neuverteilung des Sinnlichen« ermöglichten (Holert 2010, 142). Diesem Einerseits und Andererseits ist letztlich wieder nur mit Aufklärung und Reflexion zu begegnen. »Die disziplinierenden Momente der Deregulierung und Vernetzung zu begreifen und die in der projektbasierten Polis erworbenen Kompetenzen aus ihrer gouvernemental gesteuerten Selbstbestimmung freizusetzen« (Holert 2010, 146) heißt: Die Forschung braucht Metawissen über das Forschen. Es ist dieses Wissen, es sind diese Erfahrungen, die »neue Formen des Informellen« sichtbar werden lassen, so Holerts zuversichtliches Fazit.21 Informelle Formen, das müssen Dinge sein, die es ›immer gerade noch nicht gibt, aber fast‹, zum Beispiel eine Forschung aller, die im Projekt bleibt und nicht im Spitzencluster endet. Oder ist ein Spitzencluster heute auch ein ewiges Projekt, in dem man nicht aufhört anzufangen? Die Gegenüberstellung von Allen und Eliten, von Prozess und Ergebnis lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten, und zwar nicht nur wegen der erfolgreichen Vereinnahmungstechniken flexibler Systeme (den institutionalisierten Gender Studies, dem Stadtmarketing mit kritischer Kunstszene, dem Selbstmanagement der Arbeitslosen), sondern auch, weil sich die Forschung selbst möglicherweise nicht unterscheiden lässt darin, ob sie von allen oder wenigen betrieben wird. Das wäre abschließend zu überlegen mit Hilfe des Begriffs der Übung. 21 »Die Kollektive und Gemeinschaften, die hier entstehen, sind nicht auf Sichtbarkeit um jeden Preis aus. Ihre Ästhetik, ihre Formensprache entstehen auf der Basis der Desillusionierung angesichts der (Un-)Möglichkeiten einer überholten Politik der Repräsentation. Zudem entwickeln sich neue Vorstellungen davon, was es heißt, unter den widersprüchlichen Bedingungen einer Netzwerkgesellschaft zu teilen, zusammen zu sein, etwas gemein zu haben. Auch diese: Formsachen.« (Holert 2010, 146)
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Ü BEN
ÜBERSCHREITEN
Die Übung interessiert im Zusammenhang mit der Forschung aller im Hinblick auf ihre doppelte Selbstführung. Man macht sich auch seine Forschung selbst. Man übt etwas ein, man ›erlernt sich‹ etwas, man diszipliniert sich (selbst), eine Praxis führt zu einem Wissen, und man bringt sich darin als (auch: wissendes) Subjekt selbst hervor. Doppelt ist dieser Begriff in Bezug auf Fragen der Macht und Disziplin einerseits, und in Bezug auf ein »ästhetisch-existentielles Selbstverhältnis, in dem die Form unseres Lebens zu einer ›Sache der persönlichen Entscheidung‹ wird«, andererseits, wie Christoph Menke in Foucaults Werk herausgearbeitet hat.22 Das Selbsttun ist nicht einfach eine Praxis freier Lebensführung, sondern kann ebenso gut eine Praxis der Disziplinierung sein. Wissen ist nicht Lernen ist nicht Forschung – gerade im Hinblick auf artistic research sind die Unterscheidungen nicht zu verwischen. Sie unterscheiden sich im Grad ihrer Institutionalisierung und Selbstreflexivität, in der Art von Übung, dem gefühlten Grad an Freiwilligkeit. Aber die Übung, genauer: die Unentscheidbarkeit der Selbstbestimmung in der Übung trifft zu sowohl auf Forschende in den Institutionen, also die Forschung Weniger, als auch auf solche in und zwischen allen möglichen wissensproduzierenden Feldern, also die Forschung von allen Möglichen. Wann sind Übungen Medien eines Prozesses der Disziplinierung und wann Medien einer freien Führung des eigenen Lebens? Jede einzelne Übung kann ebenso disziplinierend wie befreiend sein; jede Übung, ja schon sich zu üben ist zweideutig. Es gibt daher keine Methode der Übung, der man folgen könnte, um der Disziplinierung zu entkommen. Nichts, keine Anleitung, aber auch kein Bruch mit jeder Anleitung, kann sicherstellen, daß man eine ästhetischexistentielle Übung ausführt. Der Gegensatz von ästhetisch-existentiellen und disziplinären Übungen liegt nicht im Bereich ihrer Inhalte, Verfahren und Zwecke, sondern in dem, den Foucault wiederholt als den der ›Haltung‹ bezeichnet hat: ob eine
22 Christoph Menke (Menke 2003, 284) zitiert für das ästhetische Selbstverhältnis hier Michel Foucault Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten (Dreyfus/Rabinow 1987, 266) und verweist für das disziplinäre Selbstverhältnis auf Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Foucault 1977).
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Übung disziplinierend oder ästhetisch-existenziell ist, liegt an der Haltung, mit der man sie ausführt.23
Sich selbst als immer forschendes oder forschungsfähiges Subjekt zu begreifen, kann auch heißen: unter Produktionszwang stehen, und sei er als ganz natürlich verstanden. Alle als Forschende zu begreifen, kann auch heißen: alle potentiell unter Produktionsverhältnissen zu betrachten.24 Die Freiheit zu forschen ist praktisch ununterscheidbar von der Unterwerfung zur Forschung – es bleibt nur ein Unterschied übrig: die Haltung, eine unmessbare, unbeschreibbare Kategorie. Wer sollte eine Haltung bestimmen können? Wie standhaft ist eine Haltung, bewegt sie sich, kann man sie aus verschiedenen Blickwinkeln verschieden wahrnehmen? Für die Haltung, die eine Übung zu einer ästhetisch-existentiellen macht, habe ich vorgeschlagen, in der ästhetischen Freiheit zur Selbstüberschreitung ein entscheidendes Merkmal zu sehen. In ihr, in dieser Haltung ästhetischer Freiheit allein besteht, was die Übungen einer Ästhetik der Existenz von den normalisierenden der Disziplinarmacht unterscheidet – was also die Übungen einer Ästhetik der Existenz davor bewahren kann, eine weitere, vielleicht letzte und subtilste Form disziplinierender Unterwerfung zu werden. (Menke 2003, 299)
Auch die Selbstüberschreitung wird nicht regelbar, prognostizierbar sein, sie kann kein Element eines Forschungsprogramms werden. Das Okkupieren von Orten, an denen man nicht forschen darf, von Gegenständen, die als nicht forschungswürdig erachtet wurden, oder von Methoden oder Protagonisten, die bislang ausgeschlossen wurden, können Formen solcher Überschreitungen sein. Hierin würde man mit Holert nach »informellen Formen« suchen, mit Gehring auf Handlungsoptionen beharren, sich selbst zum Weltbürger erklären. Occupy bedeutete, etwas einzunehmen, zu besetzen, was einem nicht zugestanden wurde, eine Ermächtigungsgeste, eine grenzüberschreitende, attraktive Handlung. Eine Gemeinsamkeit der Occupy-Bewegungen seit 2011 liegt darin, dass sie sich standhaft einer politi 23 Christoph Menke verweist hier auf Foucault 1992, 9, 41 et passim. 24 Nach den alttestamentarischen »Lilien auf dem Felde« folgen hier eher die neutestamentarischen »Talente« (Matthäus 25, 14-30), die Reichtümer, die man nicht vergraben darf, sondern gesellschaftlich nutzbar machen muss.
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schen Logik verweigern, die von Massen auf Repräsentant_innen auf Forderungen schließt, und dass sie daher das Zusammenkommen organisieren, ohne darin mit einer Stimme zu sprechen. Als Forschung gedacht, könnte das heißen: kein Programm aufstellen, nicht definieren, wer ›alle‹ ist oder nicht, keine Produktionsverpflichtung. Es wird sowieso kein Exzellenzprogramm aller geben können. In erster Linie ginge es darum, neue Erfahrungen zu machen. Oder nur: Erfahrungen zu machen. Gut, vielleicht schon: bessere Erfahrungen zu machen.25 Und das dann wirklich nicht nur solo oder im klassenmäßigen oder globalen Norden. Unwissen und Nichtproduktion wären immer mit von der Partie. Occupy that.
L ITERATUR Bergermann, Ulrike (2010) »Gehen Sie zu weit! Generation und Geschlecht in der Bologna-Anrufung«, in: Wimmer, Michael/Pazzini, Karl-Josef/ Schuller, Marianne (Hgg.): Lehren bildet. Das Rätsel unserer Lehranstalten. Bielefeld, S. 85–106. Blumenkranz, Carla et al. (Hgg.) (2011): Occupy! Die ersten Wochen in New York. Berlin. Boltanski, Luc (2003): »Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel«, in: von Osten, Marion (Hg.): Norm der Abweichung. Zürich, S. 57–80. Bröckling, Ulrich (2003): »Bakunin Consulting. Inc.: Anarchismus, Management und die Kunst, nicht regiert zu werden«, in: von Osten, Marion (Hg.): Norm der Abweichung. Zürich, S. 19–38.
25 Weiterzulesen wäre hier, in den Worten von Karin Harrasser, bei Donna Haraway: Für sie heißt ›bessere Erfahrungen machen‹, reichere Erfahrungen zu machen oder auch das Einbeziehen zum Beispiel von ungleich verteilter Agency zwischen den Beteiligten in Erkenntnisprozessen. Zur Repräsentationsfrage bei Occupy vgl. zum Beispiel Blumenkranz et al. 2011; die Akteur_innen und ihr Zusammenspiel, den Medieneinsatz und die Diskussionen, wer Forderungen formulieren sollte, beschreibt besonders anschaulich Mattathias Schwartz (Schwartz 2011), online unter http://www.newyorker.com/reporting/2011/11/ 28/111128fa_fact_schwartz vom 06.08.2012.
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Dany, H. C./Dörrie, Ulrich/Sefkow, Bettina (Hgg.) (1998):͒dagegen – dabei. Texte, Gespräche und Dokumente zu Strategien der Selbstorganisation seit 1969. Hamburg. Diederichsen, Diedrich: »Kreative Arbeit und Selbstverwirklichung«, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hgg.): Kreation und Depression. Berlin, S. 118–128. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris 1975). Frankfurt/Main. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik (Qu’est-ce que la critique? Paris 1990). Berlin. Gehring, Petra (2011): »Für wen und warum eine Kriteriendiskussion?«, in: Deutscher Hochschulverband (Hg.): Forschung & Lehre. Heft 8, S. 586–588. Hark, Sabine (2005): Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus. Frankfurt/Main. Holert, Tom: »Formsachen. Netzwerke, Subjektivität, Autonomie«, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hgg.): Kreation und Depression. Berlin, S. 129–147. Holmes, Brian (2003): »The flexible personality«, in: ders., Hieroglyphs of the Future. Art and Politics in a Networked Era. Zagreb. Honneth, Axel (2010): »Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung«, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hgg.): Kreation und Depression. Berlin, S. 63–80. Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/Main. 1987, S. 265–292, Kant, Immanuel (1977): »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main. Latour, Bruno (2007): Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang (Why has Critique run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern. Chicago 2004). Zürich/Berlin. Masschelein, Jan/Simons, Maarten (2010): Jenseits der Exzellenz. Eine kleine Morphologie der Welt-Universität. Zürich. Masschelein, Jan/Simons, Maarten (2012): Globale Immunität, oder: Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums. Zürich.
256 | ULRIKE BERGERMANN
Menke, Christoph (2003): »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«, in: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hgg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt/Main, S. 283–299. Menke, Christoph (2010): »Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum«, in: Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hgg.): Kreation und Depression. Berlin, S. 226–240. Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hgg.) (2010): Kreation und Depression. Berlin. Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (2010): »Vorwort: Zum Stand ästhetischer Freiheit«, in: dies. (Hgg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin, S. 7–8. Rancière, Jacques (2010): »The Emancipated Spectator. Ein Vortrag zur Zuschauerperspektive« (Le Spectateur émancipé. Paris 2008), in: Unbedingte Universitäten (Hg.): Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee. Zürich/Berlin, S. 81–86. Schwartz, Mattathias (2011): »Pre-Occupied. The origins and future of Occupy Wall Street«, in: The New Yorker. 28.11.2011. Seier, Andrea (2009): »Fernsehen der Mikropolitiken: Televisuelle Formen der Selbstführung«, in: Loreck, Hanne/Mayer, Kathrin (Hgg.): Visuelle Lektüren – Lektüren des Visuellen. Hamburg, S. 158–175. Seier, Andrea/Waitz, Thomas (Hgg.) (im Druck): Klassenproduktion. Fernsehen als Agentur des Sozialen. Münster. Sternfeld, Nora (2009): Das pädagogische Unverhältnis. Lehren und Lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault. Wien. von Bismarck, Beatrice (2003): Kuratorisches Handeln: Immaterielle Arbeit zwischen Kunst und Managementmodellen, in: von Osten, Marion (Hg.): Norm der Abweichung. Zürich, S. 81–98. von Osten, Marion (Hg.) (2003): Norm der Abweichung. Zürich. Wilding, Faith (2003): »Kollektive Instandhaltung: Ein performativer Vortrag«, in: von Osten, Marion (Hg.): Norm der Abweichung. Zürich, S. 243–250.
Autorinnen und Autoren
Ulrike Bergermann ist Professorin für Medienwissenschaft und Vizepräsidentin für Forschung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Elise von Bernstorff ist Stipendiatin im künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste. Cristina Blanco ist Performancekünstlerin und Tänzerin in Madrid. Gabriele Brandstetter ist Professorin für Theaterwissenschaft und Tanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Ole Frahm ist Comicforscher und Gründungsmitglied des Radio- und Performancekollektivs LIGNA. Tom Holert ist freier Kunsthistoriker, Publizist und Künstler. Er ist Gründungsmitglied der Akademie der Künste der Welt Köln. Victoria Pérez Royo ist Professorin für Ästhetik an der Universität Zaragoza. Daniel Ladnar ist Performancekünstler und -theoretiker. Er ist Gründungsmitglied des Performancekollektivs Random People.
258 | DAS FORSCHEN ALLER
Zoe Laughlin ist Creative Director des Institute of Making am University College London. Sibylle Peters ist in der Leitung des FUNDUS THEATERs und des Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste. Esther Pilkington ist Performancekünstlerin und Koordinatorin des Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste. Inga Reimers ist Volkskundlerin/Kulturanthropologin und Koordinatorin des Studiengangs Kultur der Metropole an der Hafencity Universität Hamburg. Heike Roms ist Professorin für Performance Studies an der Aberystwyth University, Wales. José A. Sànchez ist Professor für Performing Arts an der Universidad de Castilla La Mancha, Cuenca. Gesa Ziemer ist Professorin für Kulturtheorie und kulturelle Praxis und Vizepräsidentin für Forschung an der Hafencity Universität Hamburg.
Science Studies Diego Compagna (Hg.) Leben zwischen Natur und Kultur Zur Neuaushandlung von Natur und Kultur in den Technik- und Lebenswissenschaften August 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2009-2
Stefan Kühl Der Sudoku-Effekt Hochschulen im Teufelskreis der Bürokratie. Eine Streitschrift 2012, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1958-4
Katharina Schmidt-Brücken Hirnzirkel Kreisende Prozesse in Computer und Gehirn: Zur neurokybernetischen Vorgeschichte der Informatik 2012, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2065-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Science Studies Rudolf Stichweh Wissenschaft, Universität, Professionen Soziologische Analysen (Neuauflage) April 2013, 360 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2300-0
Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz, Peter Gendolla (Hg.) Akteur-Medien-Theorie Mai 2013, ca. 800 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1020-8
Christine Wolters, Christof Beyer, Brigitte Lohff (Hg.) Abweichung und Normalität Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit 2012, 410 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2140-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Science Studies Celia Brown, Marion Mangelsdorf (Hg.) Alice im Spiegelland Wo sich Kunst und Wissenschaft treffen 2012, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., inkl. DVD mit Filmen und Musik, 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2082-5
Catarina Caetano da Rosa Operationsroboter in Aktion Kontroverse Innovationen in der Medizintechnik Mai 2013, 392 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2165-5
Susanne Draheim Das lernende Selbst in der Hochschulreform: »Ich« ist eine Schnittstelle Subjektdiskurse des Bologna-Prozesses 2012, 242 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2158-7
Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie 2011, 332 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3
Gudrun Hessler, Mechtild Oechsle, Ingrid Scharlau (Hg.) Studium und Beruf: Studienstrategien – Praxiskonzepte – Professionsverständnis Perspektiven von Studierenden und Lehrenden nach der Bologna-Reform April 2013, 314 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2156-3
Florian Hoof, Eva-Maria Jung, Ulrich Salaschek (Hg.) Jenseits des Labors Transformationen von Wissen zwischen Entstehungs- und Anwendungskontext 2011, 326 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1603-3
Christian Kehrt, Peter Schüssler, Marc-Denis Weitze (Hg.) Neue Technologien in der Gesellschaft Akteure, Erwartungen, Kontroversen und Konjunkturen 2011, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1573-9
Sibylle Peters Der Vortrag als Performance 2011, 250 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1774-0
Ulrich Salaschek Der Mensch als neuronale Maschine? Zum Einfluss bildgebender Verfahren der Hirnforschung auf erziehungswissenschaftliche Diskurse 2012, 226 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2033-7
Myriam Spörri Reines und gemischtes Blut Zur Kulturgeschichte der Blutgruppenforschung, 1900-1933 März 2013, 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1864-8
Birgit Stammberger Monster und Freaks Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1607-1
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