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German Pages 398 Year 2014
Nicole L. Immler Das Familiengedächtnis der Wittgensteins
Edition Kulturwissenschaft | Band 12
Für meine Familie
Nicole L. Immler (Dr. phil.) arbeitet als Historikerin und Kulturwissenschaftlerin an der Universität Utrecht, sowie in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Europäische Zeitgeschichte, Erinnerungskultur, Entschädigungspolitik, Oral History, Biographieforschung und Ludwig Wittgenstein. Herausgeberin von ›The making of‹ Genie: Wittgenstein & Mozart. Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen (2009).
Nicole L. Immler
Das Familiengedächtnis der Wittgensteins Zu verführerischen Lesarten von (auto-)biographischen Texten
Gedruckt mit Förderung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF, Wien) und mit finanzieller Unterstützung des Landes Niederösterreich, des Landes Steiermark, der Wissenschafts- und Forschungsförderung der Stadt Wien (MA 7/Kultur) und der Universität Graz.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung | 9
Das Phänomen ‚Ludwig Wittgenstein‘ | 14 Die Quellen und die Fragestellung | 16 Das Familiengedächtnis: Ein kulturwissenschaftliches Untersuchungsfeld | 18 Die Rückkehr der Auto-/Biographie in die Wissenschaftsgeschichte | 21 Die Quellenkritik | 24 Dank | 28
LUDWIG W ITTGENSTEIN: AUTO -/BIOGRAPHISCHES I. Ludwig Wittgenstein und seine Biograph(inn)en | 31
1. Hermine Wittgenstein: Skizze ‚Ludwig‘ aus den Familienerinnerungen | 31 2. Wittgenstein-Rezeptionen: Verführerische Lesarten? | 38 2.1 Die Psychologisierungen in den 1970er Jahren | 42 2.2 Die Neubewertung des Wiener Fin de Siècle | 44 2.3 Der Vergangenheits-Diskurs in den 1990er Jahren | 47 2.4 Der ganzheitliche Blick: Biographie, Philosophie und Edition | 51 2.5 Die Suche nach einer Kohärenz von Werk und Leben | 56 3. Die Herausforderungen der Biographieforschung | 59 II. Ludwig Wittgensteins autobiographische Reflexionen | 65 1. Wittgensteins autobiographische Schriften | 66 1.1 Autobiographie in den Manuskripten | 66 1.2 Die Tagebücher 1914–16, 1930–32, 1936–37 | 71 1.3 Die Briefe | 81 1.4 Die Beichten | 85 2. Wittgensteins Motivationen zum autobiographischen Schreiben | 90 2.1 „Es war also zum Großteil Eitelkeit“ | 90 2.2 „Ersatz für einen Menschen“ | 93 2.3 „Nachahmungstrieb“ | 94 2.4 Zur Rolle biographischer Details: Die jüdische Herkunft | 101 3. Wittgensteins Einstellung zur Autobiographie | 107 3.1 „Wandern“ als biographisches und philosophisches Konzept | 108 3.2 „Kein Mitglied einer Denkgemeinde“ | 109 3.3 Traditionelle oder postmoderne Autobiographik? | 114
4. Wittgensteins philosophische Schreibpraxis | 119 4.1 Skriptgenese: Von der „Landschaftsskizze“ zum „Album“ | 119 4.2 Die Methode: „Familienähnlichkeiten“ und „übersichtliche Darstellung“ | 125 5. Parallelen zwischen Autobiographie und Philosophie | 131 6. Auto-/biographische Irritationen: Authentizität versus Inszenierung? | 136 6.1 Der „autobiographische Pakt“: Zu Signaturen des Textes | 143 6.2 Auto-/Biographiemodelle: Genie, Künstler, Außenseiter | 149 6.3 Geheimschrift und Beichte – Wahrheitsgesten? | 165 6.4 Zum Einfluss der Auto-/Biographieforschung | 172 III. Autobiographische Skepsis: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit | 175
HERMINE W ITTGENSTEINS F AMILIENERINNERUNGEN I. Die Autorin und das Manuskript | 181 II. Das Genre der Familienchronik: Ein kulturwissenschaftliches Untersuchungsfeld | 185
1. Zwischen Genealogie und Familiensinn, Memoiren und Autobiographie | 185 2. Die Familienchronik: Mentales Modell und spezifisches Narrativ | 189 III. Die Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein | 193
1. Familiengeschichte: Eine Skizze | 193 2. „Elaborierte Geschichten“: Ein problemorientierter Blick | 211 2.1 Text und Kontext: Schreibsituation und Schreibmotive | 212 2.2 Stilisierungen und Leerstellen – ein Schlüssel zur Chronik? | 217 3. Hermine Wittgenstein | 261 IV. Vergessen: Eine Strategie oder Zufall? | 271
1. Genretypisches Vergessen: Charakteristika der Familienchronik | 272 2. Kontextspezifisches Vergessen: Autobiographisches Schreiben nach 1945 | 275 V. Erzählen: Der Schreibstil ein Denkstil? | 281
1. Erzählen als soziale Praxis | 283 2. Eine Typologie weiblichen Schreibens? | 286 3. Erzählmodelle | 291
VI. Die Familienerinnerungen – eine Legende? Zu Strategien einer Chronik | 303
Selbstdarstellung einer Autorin | 305 VII. Epilog: Die Familie im Gespräch über die Familienerinnerungen | 311
RE -READING: HERMINE UND LUDWIG W ITTGENSTEIN 1. Die Beziehung der Geschwister | 324 2. Memoiren – Autobiographie: Zur (Er-)Findung von Wahrheit | 344 3. Selbstbilder – Fremdbilder: „Ein Bild hielt uns gefangen...“ | 350 Bibliographie | 361
Primärliteratur | 361 Briefwechsel | 362 Memoiren | 363 Unpublizierte Handschriften und Typoskripte | 363 Sekundärliteratur | 364 Sekundärliteratur zu Ludwig Wittgenstein | 364 Allgemeine Sekundärliteratur | 371 Internet-Quellen | 380 Archive | 380 Bildnachweise | 383 Index | 385
Namensregister | 385 Sachregister | 390 Familien-Stammbaum | 393
Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen. (Ludwig Wittgenstein, PU §115)
Wir sind z. B. geneigt zu denken, daß es etwas geben muß, das allen Spielen gemeinsam ist, und daß diese gemeinsame Eigenschaft die Anwendung der allgemeinen Bezeichnung ‚Spiel‘ auf die verschiedenen Spiele rechtfertigt; während Spiele doch eine Familie bilden, deren Mitglieder Familienähnlichkeiten haben. Einige haben die gleiche Nase, einige die gleichen Augenbrauen und andere wieder denselben Gang; und diese Ähnlichkeiten greifen ineinander über. (Ludwig Wittgenstein, Das Blaue Buch, 37)
Einleitung
Ludwig Wittgenstein sitzt mit seinen beiden Schwestern Hermine und Margarete am reich gedeckten Esstisch im gutbürgerlichen Salon, umgeben von der goldglänzenden Ahnengalerie, die Atmosphäre ist stickig; er spricht: Das Speisezimmer von dem alles Unheil ausgegangen ist Vater Mutter Kinder nichts als Höllendarsteller in Suppen und Saucen ist immer alles das etwas wert gewesen ist ertränkt worden hatte ich einen tatsächlichen hatte ich einen wertvollen Gedanken ertränkte ihn die Mutter in ihrer Suppe [...] von dem Vaterplatz aus sind nur Todesurteile gefällt worden [...] um mich erretten zu können zuerst der englische dann der norwegische Umweg [...] Daß wir zusammen Musik gemacht haben als ob es Jahrtausende zurück läge.1
Dann stopft er sich den Mund mit den Brandteigkrapfen seiner ältesten, es immer zu gut meinenden Schwester Hermine voll – bis er fast erstickt. Die Luft zum Atmen gibt es für ihn erst, als Hermine das Zimmer verlassen und er die Porträts der Ahnen umgedreht hat. – So hat Thomas Bernhard die Beziehung der beiden Geschwister Hermine und Ludwig Wittgenstein in seinem Theaterstück Ritter, Dene, Voss publikumswirksam in Szene gesetzt.2
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Thomas Bernhard, Ritter, Dene, Voss, in: Ders., Stücke 4, Frankfurt/M. 1988, 183f. Das Stück wurde unter der Regie von Claus Peymann bei den Salzburger Festspielen 1986 uraufgeführt, dann ins Repertoire des Wiener Burgtheaters aufge-
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Die Verehrung des Bruders durch die Schwester und dessen Leiden am Zuhause, das sind die beiden Pole eines Gefühlszenarios, einer Dialektik aus Zuneigung und Distanz. Hermine gilt zwar als seine Lieblingsschwester, diejenige, die seine Wurzeln und seine familiäre Eingebundenheit symbolisiert; zugleich verkörpert sie aber auch die Lebensform der Eltern, als Kunstmäzene gleichsam den Idealtypus des zu Wohlstand gekommenen Wirtschaftsbürgertums, einen familiären Rahmen, an dem der Bruder leidet und von dem er zeitlebens flüchtet. Es ist ein Zuhause, in welches der Bernhard’sche Ludwig, nicht nur entlassen, sondern regelrecht eingeliefert wird; geradewegs aus der Irrenanstalt Steinhof kommend. Hier vermischen sich Fakten und Fiktionen. Bernhard synthetisiert zwei Figuren zu einer, den Philosophen Ludwig und seinen verrückten Neffen Paul, einen langjährigen Steinhof-Insassen, doch kaum einer merkt es, so nahe sind sich Wahnsinn und Genie, so vertraut scheinen diese Bilder.3 Wie entstanden diese stereotypen Bilder in der Wittgenstein-Literatur – Hermine als Mutterersatz für den ‚kleinen Ludwig‘, die den Bruder mit ihrer Zuneigung fast erstickt, Ludwig Wittgenstein als gequälter Denker und die Familie Wittgenstein als eine zerstörerische Gemeinschaft – worauf stützen und wodurch legitimieren sich diese bekannten und hegemonialen Erzählweisen? Ein Blick auf die Praxis der Biograph(Inn)en sowie in die autobiographischen Texte von Ludwig und Hermine Wittgenstein verrät Neues. Die Familie Wittgenstein gehörte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu den wohlhabendsten Familien in der Habsburger Monarchie; sie wurden auch die ‚Carnegies‘ Österreichs genannt, ihr sagenhafter Reichtum gründete sich auf dem Stahlimperium von Karl Wittgenstein, des Vaters von Hermine und Ludwig Wittgenstein. Dieser gesellschaftliche Hintergrund, wie die einflussreichen Ideen von Ludwig Wittgensteins philosophischem Werk und das stets neue und auch populäre Interesse an seiner Person, machen ihn und das Wittgenstein’sche Familiengedächtnis als Forschungsobjekt so interessant. Eine große Neugier gegenüber Ludwig Wittgenstein als Person gab es schon zu seinen Lebzeiten. Er war im Cambridger Universitätsalltag in den 1930er Jahren allgegenwärtig: Ich „wußte eine Menge über ihn, ohne eigentlich mit ihm zusammengekommen zu sein. Er scheint von Anfang an eine legendäre Figur gewesen zu sein, und überall in Cambridge erzählte man sich Geschichten über ihn“,4 schreibt seine Schülerin Fania Pascal. Und bereits kurz nach seinem Tod 1951 galt er bereits als eine „Legende“, wenn Ingeborg Bachmann 1953 schreibt, dass „die Legende sein Leben abgelöst [hat] noch zur Zeit als er lebte, eine Legende von freiwilliger
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nommen und mit der gleichen Besetzung der Uraufführungsinszenierung 2004 am Berliner Ensemble gespielt. Paul Wittgenstein war ein Freund Thomas Bernhards, diese Freundschaft hat er in einem Buch verewigt: Vgl. Thomas Bernhard, Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft. Frankfurt/M. 1987. Fania Pascal, Meine Erinnerungen an Wittgenstein, in: Rush Rhees (Hg.), Porträts und Gespräche, Frankfurt/M. 1987, 35–83, 42.
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Entbehrung, vom Versuch eines heiligmäßigen Lebens, vom Versuch, dem Satz zu gehorchen, der den Tractatus beschließt: ‚Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.‘“5 Damit hat Bachmann einige der zentralen Erzählmuster benannt, die die philosophische, doch vor allem die biographische Literatur zu Wittgenstein in den folgenden Jahrzehnten bestimmen sollten. So begegnen einem immer wieder dieselben Geschichten, die oft wenig erklären, sondern das unerklärliche, Mythifizierende an seiner Person redundant wiederholen, bis der Verdacht entsteht, dass das Bild von ihm bereits ein stereotyp tradiertes und wiederholt abgeschriebenes ist. Andere sehen sogar eine gewisse Beliebigkeit, „there seem to be as many Wittgensteins as there are biographers“, schreibt Elisabeth Leinfellner: „Wittgenstein, the engineer [...] the Gentile [...] the Jew [...] the reasonable [...] the schizoid.“6 Oder, wie es James Klagge pointiert formuliert hat: „some wish to see Wittgenstein as a companion in misery, as the gay review might suggest. Personal friends might wish to see something redemptive in Wittgenstein’s struggles. Biographers may wish to find unity in a life. Philosophers of various stripes may wish to see Wittgenstein as an ally, or alternately as a purveyor of mistaken views.“7 Auch die Tatsache, dass viele indirekte Wittgenstein-Zitate in den Memoiren seiner Freunde ein markantes Eigenleben entwickelten und dass selbst Personen, die Wittgenstein kaum gekannt hatten, Erinnerungen an ihn verfassten, waren für mich der Anlass, zu zentralen Primärquellen der Wittgenstein-Forschung zurückzugehen: zu seinen eigenen autobiographischen Bemerkungen sowie den Familienerinnerungen seiner Schwester. Um zu fragen: Wie beschreiben sich Ludwig und Hermine selbst in ihren Texten, wie sehen sie sich gegenseitig und in welcher Weise finden sich ihre Darstellungen bei den Biographen wieder? Es sind diese Überlappungen von Fremd- und Selbstzuschreibungen, die diese Arbeit zeigen und analysieren möchte. Welche Erkenntnisse kann eine Gegenüberstellung der Geschwister liefern? Hermine Wittgenstein war die erste Biographin ihres Bruders. Ihre Familienerinnerungen gehören zu den am häufigsten zitierten Quellen zur Biographie des Bruders. Das Kapitel Ludwig wurde als einziges Kapitel publiziert und ist somit zentral für das Bild vom ‚privaten‘ Ludwig Wittgenstein und dem Verhältnis der Familie zu ihm.8 Die Erinnerungen der ältesten
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Ingeborg Bachmann, Zu einem Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte, in: Frankfurter Hefte 1953, 7. Abgedruckt in Ludwig Wittgenstein, Schriften, Beiheft 1, Frankfurt/M. 1972. Elisabeth Leinfellner, Review of James C. Klagge (Ed.), Wittgenstein, Biography & Philosophy, Cambridge 2001, in: German Studies Review 27/1, 2004, 215–217. James Klagge, Editor’s Preface, in: Ders., Biography & Philosophy, Cambridge 2001, ix–xv, xii. Hermine Wittgenstein, Familienerinnerungen, 1948 (FamEr). Hermine Wittgenstein, Mein Bruder Ludwig, in: Rush Rhees (Hg.), Porträts und Gespräche, Frankfurt/M. 1987, 21–35; Auszüge der Familienchronik sind auch publiziert
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Schwester an ihren jüngsten Bruder gehören zu den wenigen Memoiren, die noch zu seinen Lebzeiten geschrieben wurden, was der Quelle einen besonderen Wert verleiht. Mit Ausnahme des Kapitels Ludwig und einzelnen zitierten Bemerkungen zur Familie war das 250-seitige Typoskript bislang unpubliziert und nur verschiedenen Biograph(Inn)en und Forscher(Inn)en durch Familienkontakt zugänglich. Die Chronik wird nun jedoch auch veröffentlicht.9 Das ist der richtige Moment, um zu fragen, was ein solcher Text für die Wissenschaft bedeutet und welche Bedeutung er für die Autorin, wie für die ganze Familie, hatte und bis heute noch hat; in Form einer chronologisch verfassten Familiengeschichte, aber auch in der Darstellung der Familienmitglieder. Während Ludwig Wittgenstein stets ein begehrtes Objekt der Biographen war, dienten seine Geschwister lange Zeit lediglich als Informanten über Ludwig oder die Familie. Heute werden zwar Biographien über sie10 geschrieben und ihre Tagebücher herausgegeben, dennoch gilt das Interesse zumeist der Familie und den vermeintlichen Skandalen, oder noch immer in erster Linie dem Bruder: ‚Ludwig sagt ...‘ heißt dann auch der Titel des publizierten Tagebuchs von Hermine Wittgenstein.11 Diese Arbeit will die Familienchronik wie ihre Autorin aus dem Schatten ihres Bruders Ludwig heraustreten lassen. Es gab lange seitens Familie und Forschung Zweifel am Wert solcher privater Schriftstücke. So betrachten manche Forscher Familienchroniken als unergiebig oder wegen ihres äußerst subjektiven Charakters als unzuverlässige Quelle. Dennoch wurden häufig Einzelpassagen daraus zitiert. Diese blieben jedoch kontextlos, denn der Gesamttext blieb bisher unveröffentlicht. Dieser Sachverhalt wie auch das ambivalente Verhältnis der Nachkommen zu dieser Familienerzählung bewogen mich zu dieser Analyse der Familienerinnerungen als Ganzes, und zwar aus einer geschichtswissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Perspektive, die neue Lesarten des Textes und der durch die Familienchronik mitproduzierten Images von Hermine und Ludwig Wittgenstein offeriert. Das Kapitel ‚Ludwig‘ steht sozusagen am Beginn einer Geschichte der Vereinnahmungen Ludwig Wittgensteins durch seine Biograph(Inn)en. Diese wird im ersten Teil gezeigt, indem einzelne biographische Beschreibungen vorgestellt werden, die in den letzten Jahrzehnten das Bild von Ludwig Wittgenstein maßgeblich geprägt haben. Jene Fremdzuschreibungen werden dann mit Wittgensteins eigenen Selbstbeschreibungen in seinen autobiogra-
u.a. in: Bernhard Leitner, Die Architektur von Ludwig Wittgenstein. Eine Dokumentation, London 1973, 17–32. 9 Editionsprojekt von Ilse Somavilla am Brenner-Archiv der Universität Innsbruck, das im Frühjahr 2012 veröffentlicht wird (Haymon Verlag). 10 Vgl. Ursula Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein. Bauherrin, Intellektuelle, Mäzenin, Wien-Köln-Weimar 2003; Alexander Waugh, The House of Wittgenstein: A Family at War, London 2008; Lea Singer, Konzert für die linke Hand, Hamburg 2008; Birgit Schwaner, Die Wittgensteins. Kunst und Kalkül. Das Porträt einer Familie, Wien 2008. 11 „Ludwig sagt …“. Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein, hg. v. Mathias Iven, Berlin 2006.
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phischen Texten konfrontiert, um zu sehen, inwieweit biographische Erzählmuster bereits auf autobiographischen Darstellungsmustern basieren. Im zweiten Teil dient die Analyse der Familienerinnerungen als ein Fallbeispiel dafür, um zu zeigen, inwieweit eine spezifische Form des auto-/biographischen Schreibens wie eine Familienchronik die Darstellung ihres Bruders Ludwig und die Selbstdarstellung der Autorin erheblich mitgeformt hat. Denn eine Chronik hat nicht nur spezifische Inhalte, eine gewisse Struktur und Erzählanordnung, sondern auch eine Eigendynamik und Funktionen, die das Dargestellte prägen. Das Lesen der Texte nach ihrer inneren Struktur, sowie in ihren historischen und biographischen Kontexten, bringt die Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten von auto-/biographischen Textstellen erneut zum Vorschein und verdeutlicht die Dramatisierungsmomente, die dem Erzählen – ob seitens der Protagonisten selbst oder ihrer Biograph(Inn)en – inne wohnen. Das Buch hat somit verschiedene textliche Ebenen, die durch eine kulturwissenschaftliche Perspektive miteinander kommunizieren: Neue Fragen, basierend auf theoretischen Ansätzen aus der Erzähltheorie, der Auto/Biographie- und Erinnerungsforschung zum Verhältnis von Forscher und Erforschtem, zu Erzählstrukturen und dem Formgebungsprozess von Lebensgeschichten,12 ermöglichen eine Re-Lektüre der bisherigen Ludwig Wittgenstein-Biographien wie auch der auto-/biographischen Texte innerhalb der Familie Wittgenstein. Damit wird die zunehmende quellenkritische Hinterfragung der philosophischen Werk-Editionen von Ludwig Wittgenstein fortgesetzt und auf den biographischen Quellenbestand ausgedehnt. Andererseits soll auch ein Beitrag dazu geleistet werden, am Fallbeispiel der Familie Wittgenstein, allgemeiner über das Thema Auto-/Biographie und Familiengedächtnis nachzudenken und diese dialektische Bezogenheit in der kulturwissenschaftlichen Forschung deutlicher zu positionieren. Das Buch wird zeigen, was aus den Wittgenstein’schen Texten zum Thema Auto-/Biographie zu erfahren ist und welche Relevanz Ludwig Wittgenstein für Historiker und Kulturwissenschaftler haben kann. Was der Literatur erlaubt ist, scheint für die Wissenschaft unzulässig: den Philosophen Ludwig Wittgenstein mit seiner Schwester Hermine in ein solches Nahverhältnis zu bringen. Auch wenn eine solche wechselseitige Bezugnahme wegen ihrer unterschiedlichen Naturen intellektueller und lebensbiographischer Art nicht sinnvoll erscheint, werden bei einer Gegen-
12 Vgl. als Überblick zur Biographieforschung u.a.: Michael Corsten, Beschriebenes und wirkliches Leben. Die soziale Realität biographischer Kontexte und Biographie als soziale Realität, in: BIOS 2, 1994, 185–205; Thomas Böning, Dichtung und Wahrheit. Fiktionalisierung des Faktischen und Faktifizierung der Fiktion. Anmerkungen zur Autobiographie, in: Gerhard Neumann/Siegrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, 343–373; Martin Fuchs/Eberhard Berg (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnologischen Repräsentation, Frankfurt/M. 19952.
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überstellung individuelle Charakteristika deutlicher, als wenn die jeweiligen autobiographischen Texte nur für sich betrachtet werden. Denn es liegen damit zwei sehr unterschiedliche Formen auto-/biographischen Schreibens und von Selbstdarstellung vor, die in ihrer Gegensätzlichkeit aufschlussreich sind: Hinsichtlich ihrer Autoren, wie auch den Genres Autobiographie und Familienchronik und in Bezug auf den Konstitutionsprozess eines Wittgenstein’schen Familiengedächtnisses, zu dem beide Stimmen einen Beitrag leisten, ebenso wie zum Wittgenstein’schen Bilderkanon. Dabei ist es nämlich gerade auch das familiäre Umfeld, präsentiert in den Familienerinnerungen, welches die Wahrnehmung von Ludwig Wittgenstein als Person wie auch als Philosoph nachhaltig geprägt hat und nach wie vor prägt. Fragen zur Biographie von Ludwig Wittgenstein werden von Philosophen gerne als bloße Anekdoten betrachtet, die nichts mit seinen philosophischen Gedanken zu tun haben. Allerdings haben die biographischen Anekdoten vielfach Einfluss darauf genommen, wie er als Philosoph wahrgenommen wurde. Dem Wunsch nach einer getrennten Betrachtungsweise steht somit die Realität der Rezeptionsgeschichte entgegen. Insofern scheint es doch legitim, diesen biographischen Anekdoten und der Karriere gewisser Zitate mehr Aufmerksamkeit zu widmen und ihre Funktionen im jeweiligen Entstehungs- und Rezeptionskontext zu zeigen. Auch die Familienchronik von Hermine Wittgenstein wurde bisher vor allem im Hinblick auf die Fakten der Familiengeschichte gelesen, und nicht als ihre Darstellung von Familie, auch nicht als Text mit deutlich autobiographischen Absichten. Diese Arbeit ist somit ein Plädoyer, Wittgensteins autobiographische Bemerkungen nicht alleine im Hinblick auf sein Werk und die Familienchronik nicht nur im Blick auf die Familie zu lesen, sondern auch im Hinblick auf die Eigendynamik und den spezifischen Charakter autobiographischer Darstellungen im Spannungsfeld von Konstruktion, Repräsentation und Rezeption.
D AS P HÄNOMEN ‚L UDWIG W ITTGENSTEIN ‘ War es nach Wittgensteins Tod 1951 in Österreich noch eher sehr still um den Philosophen, signalisierte eine Ausstellung im Jahr 1997 mit dem Titel Ludwig Wittgenstein: Wirklichkeit und Mythos bereits ein überdeutliches Verlangen nach Zuordnung und Eindeutigkeit in der Unübersichtlichkeit eines nun blühenden Forschungszweiges: mehrere Wittgenstein-Gesellschaften und Wittgenstein-Archive wurden gegründet,13 die Österreichische
13 Die Österreichische, Internationale (ehemals Deutsche) und Nordamerikanische Wittgenstein-Gesellschaft haben als ihre jeweiligen Schwerpunkte die analytische und Wissenschafts-Philosophie, das Spätwerk Wittgensteins und die Wirkungsgeschichte des Werkes; das Wittgenstein-Archiv Bergen die elektronische Ausgabe des Wittgenstein Nachlasses, das Wittgenstein-Archiv Cambridge die ‚Wiener Ausgabe‘ und das Brenner-Archiv Innsbruck die Edition von Briefen und Tagebüchern.
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Forschungsgemeinschaft vergibt seit 1988 den ‚kleinen‘ und das Österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur seit 1996 den ‚großen‘ Wittgenstein-Preis, den mit rund einer Million Euro höchstdotierten Wissenschaftspreis in Österreich. International, insbesondere im anglophonen Sprachraum, war Wittgenstein viel länger schon anerkannt, zuletzt vom Time-Magazin sogar zu dem Philosophen des 20. Jahrhunderts gekürt worden, einer „[who] continues to attract fanatics who devote their life to disagreeing with one another“14. Doch wie konträr Wittgensteins Werk in den letzten 50 Jahren auch diskutiert und rezipiert wurde – ob seitens unterschiedlicher philosophischer Strömungen oder jenseits der Fachgrenzen von Architekten, Künstlern oder Literaturwissenschaftlern – ein gemeinsamer Nenner dieser unterschiedlichen Rezeptionen scheint zumindest seine Biographie zu sein. Von Beginn an stand sie mit im Zentrum der Aufmerksamkeit, wohl auch deshalb, weil es immer schwierig war, Wittgenstein philosophisch einzuordnen und deswegen oft ein Weg über die Biographie gesucht wurde. Die Biographieforschung diente dabei als Hilfswissenschaft der Philosophen, bekam aber selbst lange keine eigene Bedeutung zugesprochen. Das fordert dazu heraus, die Biographieforschung als eigene Disziplin mit ihren methodischen und theoretischen Grundlagen vorzustellen und damit nicht nur bisher gängige biographische Wittgenstein-Bilder zu untersuchen, sondern auch seine autobiographischen Texte, sozusagen die Grundlage der Biographen, unter dieser Perspektive neu zu betrachten. Selten ist es der Biograph selbst, der seine gesellschaftlichen Hintergründe und individuellen Motivationen zum Schreiben thematisiert und offen legt, wobei der Frage einer Historisierung aus der jeweiligen Gegenwart stets klare Grenzen gesetzt sind. Dennoch gehört es jüngst zum guten Ton des biographischen Arbeitens, diese Hintergründe mit zu reflektieren und darzulegen, ebenso wie die verwendete Methode. Ein näherer Blick auf einzelne Biographien über Ludwig Wittgenstein mit ihren jeweiligen Schwerpunkten zeigt deutliche Wechselwirkungen von gesellschaftlichen Verhältnissen und wissenschaftlichen bzw. biographischen Fragestellungen: Sie reflektieren beispielsweise den Einfluss der Psychologisierung der 1970er Jahre durch ihre Fragen nach intimen persönlichen Details; die Fragen nach Identität in den 1980er Jahren wirken bei der Neubewertung ‚Wiens um 1900‘, oder die Auswirkungen der Erinnerungs-Forschung der 1990er Jahre zeigen sich in einer Hinwendung zum Thema des Jüdischen. Damit sind Wittgenstein-Biographien teils bewusste, doch großteils unbewusste Produkte historisch-gesellschaftlicher Umstände und Diskurse. Diese Verweise auf Denkmuster der bisherigen Biographieforschung dienen als einleitende Vorbemerkungen über den konstruktiven, also den gestalteten Charakter von Biographien, um dann unter dieser Perspektive die autobiographischen Texte in den Blick zu nehmen. Denn die Schwierigkeiten einer Annäherung an eine so genannte ‚biographische Wahrheit‘ beginnen bereits beim auto-
14 Daniel Dennett, in: Time-Magazin, 29.3.1999.
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biographischen Material; mit der Frage, inwieweit die Biographisierten, ihr Leben bereits selbst nach gewissen Erzählmustern und Stereotypen gestalten und damit gewisse Lesarten bewusst oder unbewusst mit initiiert haben. Das sind Erzählmuster, die dann oft von Biograph(Inn)en einfach übernommen werden. Vorliegendes Buch ist somit keine klassische Biographie über Ludwig Wittgenstein noch über Hermine Wittgenstein und die Familie, denn an die Stelle einer chronologischen Erzählung ‚von der Wiege bis ins Grab‘ rückt ein Blick auf Schlüsselmomente beider Biographien: auf Schnittstellen, Brüche und Lebensphasen. Wie es Simon Jarvis im Times Literary Supplement formulierte: „One could wish that there were fewer biographies and more partial lives published. The partial life, unable to allow the false naturalness of biology and chronology to do the work of establishing a form, is better able to begin from a drastically precise set of questions and interests.“ (10.6.2000). Hier ist formuliert, was sich in der Wissenschaftsgeschichte langsam als Trend gegen die Biographie als Ganzes und für die Darstellung von Ausschnitten abzeichnet, mitunter als Strategie gegen große, idealisierte und ideologisierte Erzählungen. In diesem Sinne leiten eine vergleichende Darstellung und problemorientierte Fragen die Reflexion über die bestehenden Biographien wie den Blick auf die auto-/biographischen Quellentexte, die besonders ausführlich zitiert werden, um die Quellen sichtbarer zu machen, wie neue Lesarten herzuleiten.
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UND DIE
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Die autobiographischen Äußerungen Ludwig Wittgensteins sind über seinen gesamten Nachlass verstreut. Sie finden sich in seinem philosophischen Werk, seinen Tagebüchern und Briefen. Obwohl Wittgenstein nie eine Autobiographie geschrieben hat, kann aus seiner Form des autobiographischen Schreibens und seiner Art der Selbstdarstellung auf seine Einstellung gegenüber dem Autobiographischen geschlossen werden, nämlich über seine Bemerkungen zu den Genres Autobiographie und Tagebuch, seine methodischen Überlegungen sowie seine Praktiken, ein Tagebuch zu führen, für viele seiner privaten Notizen eine Geheimschrift zu verwenden und Freunden gegenüber Beichten abzulegen. Es wird gefragt, von welchen Motiven und äußeren Zusammenhängen Wittgensteins autobiographische Bemerkungen und Praktiken beeinflusst und geformt sind. Welche Rolle spielen seine Tagebücher für ihn selbst? Welche Bedeutung hat für ihn die Verwendung einer Geheimschrift? Welche Funktion haben seine beichteähnlichen Geständnisse an Freunde und Familie? Solche Fragen machen deutlich, dass diese Forschungsarbeit sich nicht als eine Untersuchung zu Wittgensteins Philosophie versteht, dennoch ist die philosophische Dimension nicht auszublenden, denn Ähnlichkeiten zwischen seinem philosophischen und autobiographischen Schreiben – Überschneidungen methodischer und begriffli-
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cher Natur sowie in der Problematik der Formgebung – geben ebenfalls Aufschluss über Wittgensteins Haltung gegenüber dem Genre Autobiographie. Ein ganz anderes Genre mit anderen theoretischen Herausforderungen ist das der Familienchronik. Die Familienerinnerungen sind ein zusammenhängender Text und beschreiben die Familiengeschichte der Wittgensteins, beginnend mit der napoleonischen Zeit, dem Urgroßvater und der deutschen Herkunft und reichen bis zu den Erfahrungen der Familie im Zweiten Weltkrieg in Wien. Die Familienerinnerungen sind bis jetzt noch nie als Ganzes kritisch beleuchtet worden, in dem Sinne von Guy Miron: „The very choice made by a particular individual to write down memoirs [is] a form of participation in social processes.“15 Das Verfassen von Familienerinnerungen bedeutet demnach eine Teilnahme an einem sozialen Prozess. Eine solche Erfahrungsgeschichte ist stets mit besonderen quellenkritischen Herausforderungen verbunden, denn die Aussagekraft von lebensgeschichtlichen Zeugnissen ist unmittelbar davon abhängig, wie viel vom Gesamtzusammenhang, der Schreibsituation und der Motivation der Autoren, den gesellschaftlichen, politischen und familiären Verhältnissen bekannt ist. Damit wird die Situation Hermine Wittgensteins in der Wiener Gesellschaft Ende der 1940er Jahre näher erläutert und gefragt: Warum wählte sie das Genre Familienerinnerungen? Welche Rückschlüsse lassen Aufbau, Struktur und Rhetorik des Textes über ihre Motive zu? In welcher Weise wirken sich einzelne Erinnerungsschwerpunkte auf die Darstellung der Familie und die Selbstdarstellung der Autorin aus? Familienerinnerungen zu schreiben bedeutet, sich und ein Familienkollektiv zu repräsentieren – und damit auch Erinnerungen vorzugeben. Dabei ist auch das Vergessen eine Art Erinnerungsstrategie. Solche Leerstellen oder andere Sichtweisen können nur andere zeitgenössische oder familiennahe Texte zeigen. Wie Eckart Liebau schreibt: „Der Blick ‚von innen‘ kann die wirklichen Zusammenhänge und die wirklichen Brüche nicht in den Blick bekommen; er führt zu systematischen Fehleinschätzungen und -urteilen.“16 Nur von außerhalb könne die Konstruktion des Autors nachvollzogen werden: „[…] firstly the expression of truth must be seen in contemporary systems of truth-finding and therefore has to be relativated each time. Secondly, each self expression has to be seen in the context of other self expressions that are formed culturally. Thirdly, images of identity are temporary and cannot be developed a priori that means that they have to
15 Guy Miron, Autobiography as a Source for Writing Social History. German Jews in Palestine/Israel as a Case Study, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXIX, 2000, 251–281, 252. 16 Eckhart Liebau, Laufbahn oder Biographie. Eine Bourdieu-Lektüre, in: BIOS 1, 1990, 83–89, 87.
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be newly set each time.“17 Dementsprechend werden Ludwig Wittgensteins autobiographische Bemerkungen sowie die Familienerinnerungen in der Interaktion mit anderen lebensgeschichtlichen Äußerungen – Texten und Zeugen – betrachtet: So werden der Briefwechsel zwischen den Wittgenstein-Geschwistern,18 die Tagebücher von Hermine Wittgenstein und Margarete Stonborough und einige Memoiren aus dem familiären Umfeld mit einbezogen, wie die Erinnerungen der Familie Nohl-Oser, Paul Kupelwiesers, Marguerite Respingers oder Joan Ripleys sowie Interviews mit Familienmitgliedern; und damit auch neue Quellen erschlossen.19 Diese verschiedenen auto-/biographischen Texte haben in unterschiedlicher Weise dazu beigetragen, ein Wittgenstein’sches Familiengedächtnis auszuformen. Welchen Wert hat ein Familiengedächtnis für die Forschung und insbesondere für die Wittgenstein-Literatur?
D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS : E IN KULTURWISSENSCHAFTLICHES U NTERSUCHUNGSFELD Der Soziologe Maurice Halbwachs hat als erster dezidiert von einem Familiengedächtnis gesprochen, der Selbstthematisierung von Familie in der Familie. Er beschreibt das Familiengedächtnis als eine spezifische Erinnerungsgemeinschaft: „Diese Erinnerungen […] sind gleichzeitig Modelle, Beispiele und eine Art Lehrstücke. In ihnen drückt sich die allgemeine Haltung der Gruppe aus; sie reproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und Schwächen.“20 Das Familiengedächtnis konstituiert sich nach Halbwachs durch die Kommunikation zwischen den Generationen, entwickelt sich also im Umgang mit anderen. In seinem Hauptwerk Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen spricht er über die Familie als einen wesentlichen „sozialen Rahmen“, innerhalb dessen erinnert wird, was bedeutet, dass innerhalb dieses Rahmens nur in einer gewissen Art und nur gewisse Dinge erinnert wer-
17 Ortrun Niethammer, Identity, Linearity and Biography. Concepts of the Theory of Autobiography?, in: Christa Hämmerle (Ed.), Plurality and Individuality. Autobiographical Culture in Europe, Wien 1995, 33–41, 35. 18 Teile des unpublizierten Briefwechsels aus dem Privatarchiv von Pierre Stonborough (Enkel von Ludwig Wittgensteins Schwester Margarete, verh. Stonborough) sind im Brenner Archiv der Universität Innsbruck. 19 Die Familie Nohl-Oser ist ein deutscher Familienzweig der Familie Wittgenstein, Paul Kupelwieser war ein Geschäftspartner von Karl Wittgenstein, Marguerite Respinger war die Freundin von Ludwig Wittgenstein, Joan Ripley ist die Tochter von Paul Wittgenstein. 20 Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/M. 1985 (Org. 1925), 210; vgl. auch: Ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/M. 1985 (Org. 1955). Ein anderer „sozialer Rahmen“ ist beispielsweise die Religion.
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den können. Am Beispiel der Wittgenstein’schen Familienchronik lässt sich zeigen, in welcher Weise eine solche „familiäre Rahmung“ beeinflusst, wie Hermine Wittgenstein ihre Erinnerungen formuliert, und welche Rolle die Familie als Dialogpartner und als soziales Setting spielt. Halbwachs’ Gedanken aus den 1920er Jahren wurden in der jüngeren Gedächtnisforschung – von der diese Arbeit inspiriert ist – breit rezipiert, wie in den erinnerungstheoretischen Ansätzen zum kommunikativen und kulturellen Gedächtnis von Aleida und Jan Assmann, die zeigen, wie sich durch Erinnerung spezifische ‚Wir-Gemeinschaften‘ konstituieren. Während sie betonen, dass jede erinnerte Vergangenheit einen „Appellcharakter“21 hat, das heißt eine spezifische Absicht verfolgt, gibt es jedoch auch absichtslose Quellen, wie Familienbriefe, die „nicht zu Zwecken der Traditionsbildung verfertigt“ wurden, sondern alleine „im sozialen Gebrauch Vergangenheit“ herausbilden, nämlich „en passant“, das so genannte soziale Gedächtnis (Harald Welzer).22 Eine solche Unterscheidung zwischen absichtlich und absichtslos verfassten Quellen spielt eine Rolle, wenn die Wittgenstein’sche Familienchronik und die Tagebücher mit den alltäglichen Familienbriefen gegengelesen werden. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich zahllose solcher Quellen für eine Kulturgeschichte der Familie Wittgenstein angesammelt, die – teils publiziert, teils unpubliziert – in Familienbesitz oder in öffentlichen Sammlungen vorliegen, Tausende von Briefen, Fotos und Dokumenten in Schachteln; manche davon sind seit wenigen Jahren in Datenbanken erfasst.23 Der kulturwissenschaftliche Diskurs betrachtet dieses durch Tagebücher, Familienerinnerungen, Fotos und Briefe überlieferte Familiengedächtnis als aufschlussreiche Quelle.24 Denn das Aufleben der Erinnerungsforschung in den letzten Jahren verlieh dem Biographischen und Autobiographischen eine
21 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, 212. Vgl. auch: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/M. 1991; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Einen Überblick über verschiedene erinnerungstheoretische Ansätze gibt: Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2005. 22 Harald Welzer greift dafür den Begriff des ‚sozialen Gedächtnisses‘ von Peter Burke auf, bezieht sich aber direkt auf das Konzept von Maurice Halbwachs vom ‚kollektiven Gedächtnis‘. Welzer, Das soziale Gedächtnis, 9–24, in: Ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, 12, 16, 161. Vgl. auch: Angela Keppler, Soziale Formen individuellen Erinnerns. Die kommunikative Tradierung von (Familien-)Geschichte, in: Welzer, Das soziale Gedächtnis, 137–159, 145f. 23 Vgl. div. Publikationen auf: http://www.wittgenstein-portal.com, http://www. wittgenstein-news.org (1.1.2011). 24 Vgl. u.a.: Miriam Gebhardt, Das Familiengedächtnis. Erinnerungen im deutschjüdischen Bürgertum 1890 bis 1932, Stuttgart 1999; Claudia Vorst, Familie als Erzählkosmos. Phänomen und Bedeutung der Chronik, Münster 1995; Josette Coenen-Huther, Das Familiengedächtnis. Wie Vergangenheit rekonstruiert wird, Konstanz 2002; Anne Muxel, Individu et mémoire familiale, Paris 1996.
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zunehmende Relevanz, insbesondere nachdem ein gewisser ‚subjective turn‘ in der Erinnerungsforschung stattgefunden hat: Galt das Interesse lange vor allem dem, wie sich Erinnerung in der Öffentlichkeit zeigt, in Museen, Denkmälern oder Gedenkfeiern (den so genannten ‚Erinnerungsorten‘)25, kam es sukzessive zu einer allmählichen Abwendung von den großen kulturellen oder politischen „Meistererzählungen“ (Jean-François Lyotard) und ihren Örtlichkeiten, hin zur Entdeckung der ‚kleinen Erzählungen‘,26 der psychologischen und sozialen Prozesse, und wie sich Erinnerungen familien- und generationsspezifisch konsolidieren. In den letzten Jahren erfahren gerade diese familiären Erinnerungsprozesse eine neue Dynamik. Ausgelöst durch einen Generationenwechsel erschienen in den letzten Jahren zahllose Autobiographien und Biographien und es zeichnete sich sogar als Trend ab, Geschichte als Familiengeschichte zu erzählen: ob in Museumsausstellungen, in der Sammelstrategie von Archiven27 oder am Literaturmarkt in Form von Familienromanen oder Väterbiographien, in denen oft der Nationalsozialismus auch als Familiengeschichte erzählt wird. Dabei setzt sich die Enkelgeneration heute weniger kritisch, wie noch die Kindergeneration der 68er gegen die ‚Tätergeneration‘ der Väter, sondern emotional mit der Vergangenheit auseinander und will statt radikalem Neuanfang Familienerinnerungen bewahren und Kontinuitäten pflegen.28 Wie jüngste Forschungsarbeiten zeigen, wird dieser Aufarbeitung von Familiengedächtnissen29 sogar eine brisante gesellschaftspolitische Relevanz zugemessen, wenn es um die so genannte ‚Vergangenheitsbewältigung‘ geht.30 Über das Familiengedächtnis wird aber nicht nur die Historie erschlossen, sondern werden auch vermehrt Fragen nach dem Zusammenhang von persönlichen Erzählungen, historischem Bewusstsein und der Ausbildung der eigenen Identität ge-
25 Als einer der Väter dieses ‚Memorybooms‘, der in den letzten 20 Jahren nicht nur unter Historikern ausgebrochen ist, gilt Pierre Nora mit seinem Projekt der lieux de mémoire, einer siebenbändigen Topographie des französischen Kollektivgedächtnisses: Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, 7 Bde, Paris, 1984–92. 26 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 1986, 122; Lutz Niethammer, Kommentar zu Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS 1, 1990, 91–93, 92. 27 Solche Memoiren-Sammlungen gibt es u.a. am Institut für Geschichte der Juden in Österreich in St. Pölten, im Literaturhaus in Wien, am Leo Baeck-Institut in New York oder in der Wiener Library in London. 28 Vgl. Aleida Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur, Wien 2006. 29 Einzelne Wiener Beispiele: Karl-Heinz Rossbacher, Literatur und Bürgertum. Fünf jüdische Familien von der liberalen Ära bis zum Fin de Siècle, Wien 2003; Marie-Theres Arnbom, Friedmann, Gutmann, Lieben, Mandl, Strakosch. Fünf Familienporträts aus Wien vor 1938, Wien 2002. Vgl. auch: Georg Gaugusch, Wer einmal war: Die jüdischen Familien Wiens 1800–1938, Wien 2011. 30 Vgl. Waltraud Kannonier-Finster/Meinrad Ziegler, Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien-Köln-Weimar 1993, insbes. 230–254.
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stellt.31 Fragen, denen auch die vorliegende Arbeit am Beispiel der Familie Wittgenstein nachgeht. Dieses wissenschaftliche Interesse am Familiengedächtnis und an der persönlichen Gedächtnisgeschichte ist äußerst jung, denn die Autobiographie, und damit auch alle anderen lebensgeschichtlichen Zeugnisse wie Tagebuch, Brief, Familienerinnerungen oder Memoiren, mussten sich die wissenschaftliche Anerkennung erst hart erarbeiten. Das auto-/biographische Genre ist zwar äußerst populär, doch gilt es vielen als unwissenschaftlich, da hier die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen oftmals schwer zu ziehen ist; so wurde lange doch zwischen einer historischen und einer biographischen Wirklichkeit unterschieden. Deshalb herrschte gegenüber der Biographie und autobiographischen Zeugnissen in der Wissenschaftsgeschichte stets eine ambivalente Haltung.32 Das hat auch mit der jüngeren deutschsprachigen Wissenschaftstradition und dem Vorurteil ‚biographisches Arbeiten sei unwissenschaftlich‘ zu tun.
D IE R ÜCKKEHR DER AUTO -/B IOGRAPHIE W ISSENSCHAFTSGESCHICHTE
IN DIE
Die Anerkennung des Biographischen seit den 1980er Jahren ging einher mit der so genannten interpretativen Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften, mit der die Standortgebundenheit jeder Wissenschaft und die Abhängigkeit des Forschungsobjekts vom jeweiligen Betrachter zum Selbstverständnis wurde.33 Die Diskussion verlagerte sich im Zuge dessen von der Frage der Interpretation zu jener der (angemessenen) Methode. Die Methodenvielfalt und damit auch ihr interdisziplinärer Charakter sind es, die die Biographieforschung auszeichnen. Mit der zunehmenden Interdisziplinarität der Forschungslandschaft und der Ausbreitung der Kulturwissenschaften hat sich somit die Biographie heute (erneut) wissenschaftlich etabliert34: Denn die Biographie stand im positivistischen, empirie-gesättigten 19. Jahrhundert schon einmal im Zentrum der Gesellschaft und der Wissenschaft – in der Malerei oder im Museum symbolisiert im Porträt, in der Wissenschaft in der Suche nach der Einheit von Werk und Leben. Es gab eine rege auto-
31 Vgl. u.a. Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt/M. 1998. 32 Margit Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte – Wissenschafts-Geschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23, 2000, 17–36. 33 Vgl. Jürgen Schlaeger, Biography: Cult as Culture, in: John Batchelor (Ed.), The Art of Literary Biography, Oxford 1995, 57–72, 63. 34 Vgl. Nicole L. Immler, ‚The making of ...‘ Überlegungen zur Biographieforschung aus der Perspektive der Kulturwissenschaften – eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), ‚The making of …‘ Genie: Mozart und Wittgenstein. Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen, Innsbruck-Wien-Bozen 2009, 11–30, 13f.
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biographische Sammeltätigkeit, denn man erwartete von der Biographie Hilfe für das Verstehen des Textes (und umgekehrt), der wiederum als Zeugnis einer Epoche galt. Wilhelm Dilthey forderte die Historiker dazu auf, autobiographisch zu arbeiten, denn historisches sei biographisches Arbeiten, da jede Auswahl subjektiv sei. Sein Bekenntnis zur Subjektivität wird hier eines zur Biographie. Mit dem Niedergang des Positivismus setzte sich danach im deutschen Sprachraum eine eher biographiefeindliche Tradition durch, verbunden mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber narrativen Geschichtsdarstellungen, da narrativ und fiktiv oft gleich gesetzt wurden.35 Hatte die Biographie in der Wissenschaftsgeschichte der 1930er Jahre noch einen großen Stellenwert, korrespondierend mit dem Glauben an den autonomen Wissenschaftler,36 interessierte in den späten 1960er Jahre nicht das Individuum, sondern die Biographie als soziales Konstrukt.37 Insbesondere in der Nachkriegszeit herrschte eine totale Disqualifizierung der Biographie vor, denn im „Zeitalter der Ideologien standen Biographien unter Ideologieverdacht“.38 Der Glaube an das autonome Subjekt ging nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus verloren, die Folge war eine Abwendung vom Individuum hin zu einer strukturbetonten Sozial- und Gesellschaftsgeschichte. Erst ab den 1970er Jahren unterstützten theoretische Strömungen wie die Rezeption der angelsächsischen ‚Cultural Studies‘ oder etwas später des ‚New Historicism‘ (der den Autor, das Werk und seine Epoche in engen Bezugskontexten sieht) die Wiederentdeckung der Biographie. Auch Bewegungen wie die ‚Geschichte von unten‘, die den Blick auf marginalisierte Gruppen lenkte und ihnen eine Stimme verlieh, haben das biographische Arbeiten maßgeblich beeinflusst,39 wie auch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Damit setzte sich ein Anerkennen subjektiver Alltagserzählungen durch, denn man wollte historische Erfahrungen sichern. Dem früher als Einschränkung empfundenen Faktor der Subjektivität und Selektivität wurde nun besondere Qualität beigemessen.40 Seit den 1980er Jahren gehören Autobiographien und lebensgeschichtliche Erzählungen somit zu einem bestimmenden Teil des wissenschaftlichen Diskurses. Ein Interesse, das von
35 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/M. 20023, 438. 36 Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte – Wissenschafts-Geschichte, 17–36. 37 Vgl. Martin Kohli/Günther Robert (Hg.), Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984. 38 Antonia Grunenberg, Von Vagabunden und Bio-Mythen. Die Suche nach den wahren Biographien, in: Kursbuch, Die Rückkehr der Biographien 148, Berlin 2002, 10–23, 23. 39 Vgl. u.a.: Christian Klein (Hg.), Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002; Bettina Völter/Bettina Dausien/ Helma Lutz/Gabriele Rosenthal (Hg.), Biographieforschung im Diskurs, Wiesbaden 2005. 40 Katja Patzel, „Alle Erinnerung ist Gegenwart“. Zur Selbstverortung des Individuums im Prozeß der Modernisierung, in: Clemens Wischermann (Hg.), Die Legitimität der Erinnerung und der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, 189–214, 207.
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der postmodernen Rede von der ‚Identität‘ ebenso genährt wurde, wie von einem generellen Paradigmenwechsel in der Geschichtsschreibung, den Dan Diner diagnostizierte: Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 sei das Paradigma Gesellschaft (gedeutet über soziale Klassen) von dem der Erinnerung (gedeutet über die Vergangenheit) abgelöst worden.41 So bedeuten die jüngsten Diskussionen über die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus und über die Restitution von ehemals geraubten Objekten ein Wiederaufbrechen von Erinnerungen im Allgemeinen, wie bei den betroffenen jüdischen Familien im Besonderen42 – insbesondere bei einst so reichen Familien wie den Wittgensteins. Aber auch die Generationenablöse hat eine neue Sicht auf die Wittgenstein’sche Familiengeschichte bewirkt. Einerseits gibt es keine Zeitzeugen mehr, was einen Zugang zur Familiengeschichte erschwert, aber dies erlaubt auch neue Annäherungen, wie etwa über eine größere Bereitschaft der Nachkommen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und zu erzählen, sowie die Tagebücher von Wittgensteins Schwestern und die Familienchronik für Editionen zugänglich zu machen. Das verstärkte Interesse am Familiengedächtnis wurzelt aber nicht nur in dem geschilderten Wandel in der Wissenschaftskultur und in innerfamiliären Prozessen (Generationenablöse), gemeinschaftlichen Erinnerungsritualen (Gedenkfeiern) und politischen Diskussionen bezüglich des Zweiten Weltkriegs (Identitäts- und Restitutionspolitik), sondern auch in technologischen Impulsen (Datenbanken), die das Phänomen Erinnerung in den letzten Jahren multiplizierten;43 wie die elektronisch zugänglichen Wittgensteinquellen, Briefwechsel, Memoiren oder auch Manuskripte, die heute ganz andere und vernetzte Blickweisen erlauben. Diese leichtere Verfügbarkeit der Quellen und die Vervielfältigung von Zugriffsmöglichkeiten bergen Herausforderungen. Oder, wie Stuart Hall betont hat: Die Bedeutung liegt nicht (nur) in den Texten an sich, sondern entsteht auch in und durch ihren Gebrauch.44 Ab wann und zu welchen autobiographischen Materialien Zugang gewährt wurde, gibt Aufschluss über die Struktur von Familiengedächtnissen und Generationsbedürfnissen. Ob und wie diese autobiographischen Texte verstanden wurden und werden, spiegelt historische und gesellschaftspolitische Bedingungen wider. Dass die autobiographischen Zeugnisse der Familie Wittgenstein von der Wissenschaft gerade in den letzten Jahrzehnten wieder entdeckt wurden, hat mit dieser Rückkehr der Auto-/Biographie in die Wissenschaftsgeschichte
41 Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, 7. 42 Vgl. für einen hist. Überblick mit Blick auf das Familiengedächtnis: Nicole Immler, Restitution and the Dynamics of Memory: A Neglected Trans-Generational Perspective, in: Astrid Erll/Ann Rigney (Ed.), Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory, Berlin-New York 2009. 43 Jay Winter, Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den ‚Memory-Boom‘ in der zeithistorischen Forschung, in: Werkstattgeschichte 30, 2001, 5–16, 5f. 44 Stuart Hall, Kodieren/Dekodieren, in: Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, 92–110.
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zu tun. Dieses Umdenken in der Wissenschaftskultur führte dazu, Familienchroniken oder Tagebücher als aufschlussreich zu betrachten und dem ehemals vernachlässigten Quellentyp neue Bedeutung zu verleihen. Was bedeutet es nun konkret, das Familiengedächtnis der Wittgensteins in diesem skizzierten Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv, Privatheit und Öffentlichkeit zu betrachten? Das Familiengedächtnis formt sich im Dialog, über die im Kollektiv immer wieder erzählten Erinnerungen an Personen und Ereignisse der gemeinsamen Geschichte, in denen „Vorstellungen und Urteile der Familie über sich selbst“ und über andere enthalten sind.45 Somit gibt die Wittgenstein’sche Familienchronik Aufschluss über die Selbstwahrnehmung von Hermine Wittgenstein – wie über das Bild, das sie von der Familie oder ihrem Bruder Ludwig vermitteln wollte. Darüber hinaus erzählen Familienerinnerungen, wie jeder andere autobiographische Text, eine Geschichte, mittels derer jede(r) Einzelne seine bzw. ihre Vergangenheit mobilisiert und ihr Bedeutung gibt, sowie auch das Verhältnis zur eigenen Geschichte und zu anderen gestaltet. Denn einen Text über sich selbst zu schreiben bedeutet, das eigene Ich zu ‚entwerfen‘. Das erfordert, Geschichten zu erzählen über sich selbst und über Andere; aber auch Geschichten einzubeziehen, die Andere über einen erzählen oder in welche man selbst eingebunden ist, als Teil einer sozialen Gruppe.46 Um erklären zu können, warum gerade diese Geschichte – und keine andere – erzählt wird, sind die Strukturen und die Mechanismen der Texte zu durchleuchten. Denn jede Erzählung ist eine Entscheidung. Deshalb ist eine Quellenkritik unerlässlich. Das Wesen jeglicher Quellenkritik kann mit Luisa Passerini pointiert werden: „All autobiographic memory is true. It is up to the interpreter to discover in which sense, for which purpose.“47
D IE Q UELLENKRITIK Untersuchungen zu Sprache, Text und Subjektivität machen es unmöglich, die Wittgenstein’sche Familienchronik und die autobiographischen Bemerkungen von Ludwig Wittgenstein nur als simple Reflexionen von Realitäten zu lesen. Autobiographische Zeugnisse können nicht nur als autonomes Schreiben interpretiert werden, sondern sind auch in Bezug auf das gesellschaftliche Umfeld und dessen Diskurse, in welche sie sich einschreiben, zu betrachten. Deshalb sind die Entstehungsbedingungen lebensgeschichtlicher
45 Nina Leonhard, Öffentliche versus familiale Geschichtserinnerung? Beobachtungen zur individuellen Deutung des Nationalsozialismus bei drei Generationen, in: Gerald Echterhoff/Martin Saar (Hg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, 203–223, 205. 46 Maureen Whitebrook, Identity, Narrative and Politics, New York 2001, 4. 47 Luisa Passerini, Interpreting Women’s Lives. Feminist Theory and Personal Narratives, Bloomington 1989, 261.
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Texte sowie die gesellschaftspolitischen und familiären Rahmenbedingungen zu rekonstruieren, da Erzählen in erster Linie nicht ein selbstreflexiver Akt ist, sondern sich an Zuhörer, an ein Publikum richtet. Auch wenn autobiographische Materialien zu Lebzeiten oft unpubliziert bleiben, haben sie nicht nur innerhalb der privaten Sphäre ihren Wirkungskreis, denn sie sind zumeist für ein Publikum oder die Imagination des ‚anderen Ich‘ geschrieben, was auch als Positionierungsversuch innerhalb eines Kollektivs zu verstehen ist. Dieser Aspekt, der für jede Form des autobiographischen Schreibens maßgeblich ist, wurde bisher in der Wittgenstein-Literatur vernachlässigt. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit ist in der Frage nach der Schreibmotivation in allen lebensgeschichtlichen Zeugnissen zentral, denn, wie Jerome Bruner betont, „Erzählungen werden nicht nur gebildet, um Erfahrungen mitzuteilen, sondern auch und zuerst, um diese zu gestalten“.48 Die Wittgenstein’schen Familienerinnerungen geben somit Aufschluss nicht nur über die Geschichte einer Familie, sondern insbesondere über ihre Entstehungszeit: die Jahre des Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit in Wien. Diese historische Erzählsituation gilt es näher zu beschreiben, denn die Rahmenbedingungen des Erinnerns wirken sich deutlich auf Form und Inhalt aus, wie auch auf die Selbstdarstellung der Autorin. Ludwig Wittgensteins autobiographische Bemerkungen haben ebenfalls ihre jeweiligen spezifischen Entstehungsbedingungen, die seine Selbstdarstellung prägten. Neben der Schreibsituation ist es vor allem die Wahl des Genres, die Inhalte und Rezeptionsweisen vorgibt. Jedes Genre – ob Autobiographie, Tagebuch, Brief oder Beichte – ist eine Textsorte mit einer spezifischen Intention, Funktion und Rezeption.49 Diese Zugehörigkeit zu einem Genre zu berücksichtigen, heißt den Rahmen einer Interpretation zu kennen. Ein Blick auf Tagebücher enthüllt nicht nur persönliche Merkmale, sondern auch genrespezifische Eigenarten. Ebenso sind Briefe oder Geständnisse spezifische Formate, die gewisse Inhalte und Rezeptionsweisen vorgeben. Auch die Familienchronik ist ein literarischer Typus und ein historisches Phänomen, vor dessen Folie erst die spezifischen Merkmale der Wittgenstein’schen Chronik beschrieben und interpretiert werden können. Da autobiographische Texte zumeist die Absicht haben, Fakten zu zeigen, aber bereits als Textform gewissen Strukturen, Normen und Regeln unterliegen, welche die Fakten formen, richtet sich der Blick auch auf die Schnittstelle zwischen Geschichtsschreibung und Literatur, zwischen fact und fiction.50 So herrscht ein gespanntes Verhältnis dort, wo es darum geht,
48 Jerome S. Bruner, Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, in: Straub, Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, 46–80, 52. 49 Vgl. als Überblick u.a.: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 19982; Martina WagnerEgelhaaf, Autobiographie, Stuttgart-Weimar 2000; Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000. 50 Über die Diskussionen zum Thema ‚Erzählen‘, ‚Identität‘ und ‚Erinnerung‘ kam es zu wesentlichen interdisziplinären Überschneidungen. Vgl. u.a.: Hayden White,
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auch die Legende, die eine Person von sich aufbaut, mit zu reflektieren. Pierre Bourdieu nannte dies L’illusion biographique: das Bedürfnis des Autobiographen nach Sinn zwinge ihn, eine „gleichzeitig retrospektive und prospektive Logik“ zu entwickeln, um Konsistenz und Konstanz darzustellen, ebenso Beziehungen und Folgewirkungen, die „so zu Etappen einer notwendigen Entwicklung gemacht werden“. Das mache ihn zum „Ideologen seines eigenen Lebens“ – unterstützt durch die „natürliche Komplizenschaft des Biographen, der […] dazu beiträgt, diese artifizielle Kreation von Sinn zu akzeptieren“.51 Unterstützt aber auch durch literarische Konventionen und Erzählmuster, die das auto/biographische Schreiben modellieren. Welche Erzählstrukturen wurden nun seitens Hermine und Ludwig Wittgenstein für ihre Lebensgeschichte gewählt, welche Funktion haben sie jeweils für die Wahrnehmung und Darstellung vom Selbst? Auch genderspezifische Perspektiven helfen, die Schreibhaltung der Autoren und ihre Art sich darzustellen zu reflektieren, die Rollenverteilung innerhalb der Familie und der Gesellschaft, ebenso wie Stereotype, zu verdeutlichen – ob nun das Selbstund Fremdbild von Frauen im Wiener Großbürgertum oder das ‚genialer‘ Philosophen. Diese kulturwissenschaftliche Analyse plädiert dafür, den konstruktiven und strategischen Charakter von autobiographischen Texten im Allgemeinen und der Wittgenstein’schen Texte im Besonderen mehr zu berücksichtigen. So kann beispielsweise gezeigt werden, dass die Familienerinnerungen trotz ihres auf den ersten Blick beschaulichen, harmonisierenden Charakters ein erhebliches Konflikt- und Erkenntnispotenzial in sich tragen. Denn wie die Struktur des Textes, gewisse Themenschwerpunkte, Stilisierungen und Leerstellen es nahe legen, verfolgte Hermine nicht nur eine deskriptive Beschreibung der Familiengeschichte, sondern könnte die Chronik auch als ein Machtinstrument zur Stärkung ihrer Position innerhalb der Familie verwendet haben. Dieser emanzipatorische Impetus der Chronik wurde in der Forschung bisher verkannt; ebenso die Beeinflussung der Erzählung durch ihre persönliche Situation in den Jahren 1944–48 und durch die Wahl des Genres, die auch eine Entscheidung für eine gewisse Rhetorik und eine bestimmte Form der Erzählung darstellt. Vergleicht man das Bild von Hermine Wittgenstein in der bisherigen Literatur zu den Fakten ihres Lebens, besteht ein Ungleichgewicht. Das könnte an den Familienerinnerungen, ihrer Art des Schreibens und der Selbstdar-
Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit, in: Ders., Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1990, 11–39. Führend in der Diskussion um narrative Theorie waren u.a. Charles Taylor, Paul Ricœur, Hayden White, Jean-François Lyotard, Jacques Derrida und Richard Rorty, dem prominenten Proponenten des linguistic turn, der die Sprache als konstitutiv für das Verständnis der (sozialen) Wirklichkeit erachtet. 51 Bourdieu, Die biographische Illusion, in: BIOS 1, 1990, 75–81, 76. Deshalb fordert Bourdieu für die Biographieforschung ein stärkeres Eingehen auf die vielfältigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
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stellung liegen. Dieses Bild von Hermine als einem farblosen ‚Vatertöchterchen‘, einer ältesten Schwester, die den jüngsten Bruder kritiklos verehrte und ihm vor allem als Mutter-Ersatzfigur diente, gibt demnach eher Aufschluss über Hermines eigenes Frauenbild, doch zeigt wenig von ihrer Persönlichkeit. Hier gehe ich von der Annahme aus, dass das von Hermine Wittgenstein suggerierte Familienbild und ihre Selbstbeschreibung von der Forschung allzu unreflektiert übernommen wurde – ohne den Repräsentationscharakter der Chronik näher in Betracht zu ziehen, ohne die Entstehungszusammenhänge des Textes bedacht, ohne ihre persönlichen Legenden berücksichtigt zu haben. Durch diese positivistische Rezeption der Familienerinnerungen färbte der allgemeine Grundtenor der Familienchronik die biographische Wittgensteinliteratur ein, wird Hermines Beschreibung von sich, dem Bruder oder der Familie von Biographen einfach übernommen, statt nach den Mitteln der (Selbst-)Darstellung zu fragen. Damit kam es allzu leicht zu einer Übernahme ihrer Selbstsicht oder ihrer Selbstpräsentation als Außensicht – eine Problematik, die sich auch in den Ludwig Wittgenstein-Biographien wieder findet. Zum Beispiel im ambivalenten Wechselverhältnis zwischen der von Wittgenstein häufig formulierten Suche nach Aufrichtigkeit und dem hartnäckigen Klischee als ethisch rigorosen Menschen. Ludwig und Hermine Wittgenstein erlebten und inszenierten sich in ihren autobiographischen Texten nach gewissen biographischen Mustern ihrer Zeit. Beide Geschwister entwerfen mittels gewisser Erzählmodelle ein Bild vom eigenen Selbst, das internalisierten Rollenbildern ihrer Zeit und einer spezifischen Gegenwart entspricht. Zum Aufbau des Buches: Dem Überblick über einzelne Etappen in der Biographieforschung zu Ludwig Wittgenstein folgt eine Zusammenstellung und Analyse seiner autobiographischen Reflexionen und eine Analyse der Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein. Das Buch stellt zwei Formen des auto-/biographischen Schreibens gegenüber: die splitterhaft in seinem Werk verteilten autobiographischen Selbstreflexionen, und die offiziöse Geschichtsschreibung über die Familie seitens der Schwester, ein für die Nachwelt entworfenes Familien-Selbstbild. Die unterschiedlichen Textformen geben nebeneinander gestellt neue Einsichten in die Funktionsmechanismen von Erinnern und Erzählen. Neben den Überschneidungen bei gewissen autobiographischen Themen sind es vor allem die charakteristischen Unterschiede in der Einstellung zum autobiographischen Schreiben und ihren Strategien im Umgang mit Vergangenheit, die für die Auseinandersetzung mit beiden Biographien aufschlussreich sind. Diese kulturwissenschaftliche Analyse der unterschiedlichen auto-/biographischen Quellentypen und ihres prägenden Formats zeigt Ansätze für kontextuelle und interdisziplinäre Lesarten auf, und ermöglicht dadurch ein re-reading der Images von Ludwig und Hermine Wittgenstein. Interview-Ausschnitte mit Nachkommen der Familie zeigen abschließend die Einstellungen einzelner Familienmitglieder gegenüber ihrer Vergangenheit und insbesondere der Fami-
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lienchronik. Das gewährt einen Einblick in das aktuelle kommunikative Familiengedächtnis der Wittgensteins.
D ANK Jede Form des wissenschaftlichen Arbeitens hat auch autobiographische Hintergründe: Die vorliegende Arbeit, eine überarbeitete und ausgeweitete Version meiner Dissertation, ist die Konsequenz von meiner mehrjährigen wissenschaftlichen Mitarbeit an der Erstellung einer biographischen Datenbank zu den persönlichen und institutionellen Verflechtungen von Ludwig Wittgenstein, im Rahmen der Wiener Ausgabe am Wittgenstein Archiv in Cambridge. Dem Herausgeber der Schriften Ludwig Wittgensteins in der Wiener Ausgabe, Michael Nedo, sei an dieser Stelle besonders dafür gedankt, dass er mir durch sein unerschöpfliches Wissen und seine Begeisterungsfähigkeit die Person Ludwig Wittgenstein so nahe gebracht hat; und großzügig auch viele Photos für diesen Band zur Verfügung gestellt hat. An dieser Stelle möchte ich gerne auch all jenen danken, die mich durch diese Jahre begleitet und in dieser Arbeit unterstützt haben, in freundschaftlicher und wissenschaftlicher Hinsicht: Den Nachkommen der Familie Wittgenstein, Cecilia und Andreas Sjögren, Franz und Stephan Stockert, Joan Ripley, insbesondere Françoise und Pierre Stonborough für ihre Gesprächsbereitschaft und für den Zugang zu familiären, unveröffentlichten Quellen. Weiters danke ich Alois Pichler, Allan Janik und Ilse Somavilla für ihre gerne geteilten Kenntnisse rund um die Person und das Werk Ludwig Wittgensteins. Johannes Feichtinger, Heidemarie Uhl und Moritz Csáky danke ich für inspirierende Reflexionen in theoretischer und methodischer Hinsicht; Peter Stadlbauer, Karoly Kokay und Helmuth Lethen für die Kommentierung einzelner Kapitel; Caroline Schubert und ganz besonders Josef Schiffer für inhaltliche Anregungen und ein engagiertes Lektorat sowie Sabine Krammer für das professionelle Layout. Ebenso wichtige Wegbegleiter waren Heidemarie, Gerlinde und Dietmar, die mit mir auf WittgensteinPfaden gewandelt sind, sowie meine Familie, die mich in all meinem Tun (auch jenseits der Familientraditionen) unterstützt. Zuletzt ein großes Merci an Hans, der manche Langatmigkeit des Forschens geduldig mit Humor und Enthusiasmus unterstützt. Für die finanzielle Unterstützung meiner Arbeit bin ich diversen Institutionen zum Dank verpflichtet: dem David-Herzog-Fonds der Karl-FranzensUniversität Graz, dem Deutschen Historischen Institut in London, dem Jubiläumsfond der Österreichischen Nationalbank sowie der Europäischen Union für ein ARI-WAB-Stipendium am Wittgenstein Archiv in Bergen.
Ludwig Wittgenstein: Auto-/Biographisches
Abbildung 1: Photo-Collage von Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein Archive, Cambridge)
I. Ludwig Wittgenstein und seine Biograph(inn)en
1. H ERMINE W ITTGENSTEIN : S KIZZE ‚L UDWIG ‘ DEN F AMILIENERINNERUNGEN
AUS
Die erste Biographin Ludwig Wittgensteins war seine Schwester Hermine, die dem Bruder in der Familienchronik ein 15-seitiges Kapitel widmet. Was wissen wir von seinem Leben, erzählt aus der Perspektive der Schwester? Welche Erzählweise wählt sie, um den Bruder zu porträtieren? Das LudwigKapitel beginnt: [...] dabei überkam mich der Wunsch, noch rasch wenigstens eine flüchtige Skizze von Ludwig zu entwerfen, der mir doch der interessanteste und wertvollste der Brüder scheint [...] Es ist freilich schwer, über einen Lebenden zu schreiben, besonders wenn keine Möglichkeit besteht, sich mit ihm über Unklarheiten zu besprechen. Ich hoffe aber, Ludwig wird mir diese nach bestem Wissen und Gewissen vorgenommene Aufzählung von Tatsachen nicht übel nehmen, und wenn es uns beschieden sein sollte, noch einmal in dieser Welt zusammen zu kommen, so kann ich ja nach seinem Wunsch kleine Änderungen vornehmen; zu Größeren werde ich mich nicht leicht verstehen. Ich gebe, wie gesagt, nur eine Aufzählung von Tatsachen und hoffe, daß die Persönlichkeit, um die es sich mir handelt, von selbst durchscheinen wird. (FamEr, 106)
Im Gegensatz zur Naturliebe des Bruders Paul betont sie Ludwigs großes technisches Interesse, der schon mit zehn Jahren eine Modell-Nähmaschine nachbauen konnte und beschreibt, wie er mit vierzehn Jahren erstmals an eine öffentliche Schule kommt, an das Realgymnasium in Linz, weil er infolge des „sonderbaren Unterrichtsplanes“ des Vaters nicht die nötige Vorbildung für ein Wiener Gymnasium besaß. Einer seiner Mitschüler erzählte mir viel später, daß Ludwig ihnen allen wie aus einer fremden Welt herabgeschneit vorgekommen war. Er hatte ganz andere Lebensformen
32 | DAS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS als sie, redete z.B. seine Mitschüler mit ‚Sie‘ an, schon das allein wirkte wie eine Barriere; auch seine Interessen, seine Lektüre etc. waren gänzlich von den ihrigen verschieden. Vermutlich war er etwas älter als die Buben seiner Klasse und jedenfalls ungleich reifer und ernster. Vor allem aber war er seelisch ungeheuer empfindlich, und ich kann mir denken, daß auch seine Mitschüler ihm gewiß aus einer anderen Welt zu stammen schienen, aus einer schrecklichen! (FamEr, 107)
Sein Weg führte ihn nach der Matura an die Technische Hochschule in Berlin, wo ihn, neben flugtechnischen Fragen, auch die Philosophie zu interessieren begann: Zu dieser Zeit oder etwas später ergriff ihn plötzlich die Philosophie, d.h. das Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und so völlig gegen seinen Willen, daß er schwer unter der doppelten und widerstreitenden inneren Berufung litt und sich wie zerspalten vorkam. Es war eine von den Wandlungen, deren er noch mehrere in seinem Leben durchmachen sollte, über ihn gekommen und durchschüttelte sein ganzes Wesen. Er schrieb damals an einer philosophischen Arbeit und faßte schließlich den Entschluß, den Plan dieser Arbeit einem Professor Frege in Jena zu zeigen, der ähnliche Fragen behandelte. Ludwig befand sich in diesen Tagen fortwährend in einer unbeschreiblichen, fast krankhaften Aufregung, und ich befürchtete sehr, daß Frege, von dem ich wußte, daß er ein alter Mann sei, nicht die Geduld und das Verständnis aufbringen werde, um so auf die Sache einzugehen, wie es der ernste Fall erheischte. Ich war daher während Ludwigs Reise zu Frege in großer Sorge und Angst, es ging aber weit besser als ich dachte. Frege bestärkte Ludwig in seinem philosophischen Suchen und riet ihm, nach Cambridge als Schüler zu einem Professor Russel [sic] zu gehen, was Ludwig auch tat. (FamEr, 107f.)
Nach dieser sich schwierig gestaltenden Berufsfindungsphase des Bruders schildert Hermine Wittgenstein euphorisch ihren Besuch in Cambridge im Jahr 1912 und ein Treffen mit Bertrand Russell, der zu ihr sagte: ‚We expect the next big step in Philosophy to be taken by your brother.‘ (FamEr, 108) Nun glaubt sie auch den Bruder am richtigen Ort. Als nächste Phase beschreibt sie seinen Aufenthalt in Norwegen: Ludwig ging bald darauf nach Norwegen, um ganz in der Einsamkeit an seinem Buch zu schreiben. Er kaufte sich dort eine kleine Blockhütte auf einer Felsenspitze, die in einen Fjord hineinragte, und in dieser Blockhütte hauste er ganz allein, in einer ungeheueren geistigen Gesteigertheit und Angespanntheit, die einem krankhaften Zustand sehr nahe kam. (FamEr, 108)
Bei Kriegsausbruch 1914 fuhr Ludwig nach Österreich zurück und rückte „trotz seines operierten beiderseitigen Leistenbruchs“ als Freiwilliger ein: Es war ihm, wie ich genau weiß, nicht nur darum zu tun, sein Vaterland zu verteidigen, sondern er hatte den intensiven Wunsch, etwas Schweres auf sich zu nehmen
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und irgend etwas Anderes zu leisten als rein geistige Arbeit. Es gelang ihm zuerst nur, mit einer militärischen Reparaturwerkstätte nach Galizien zu kommen, er ließ aber nicht nach zu bohren, um an die Front zu gelangen. […] Schließlich setzte er seinen Wunsch durch. Dann absolvierte er, nachdem er mehrere Tapferkeitsmedaillen bekommen hatte und durch eine Explosion verwundet worden war, einen Offizierskurs in Olmütz und wurde, glaube ich, Leutnant. (FamEr, 109)
Sie verzeichnet eine große Veränderung des Bruders nach dem Krieg, resultierend in seiner Entscheidung auf seinen Erbteil zu verzichten: Schon damals bereitete sich in Ludwig eine tiefe Wandlung vor, die sich erst nach dem Krieg auswirken sollte und die schließlich in dem Entschluß gipfelte, kein Vermögen mehr besitzen zu wollen. Er wurde von den Soldaten ‚der mit dem Evangelium‘ genannt, weil er immer Tolstois Bearbeitung der Evangelien bei sich trug. – Gegen Ende des Krieges kämpfte er an der italienischen Front, geriet bei dem sonderbaren Waffenstillstand in italienische Gefangenschaft, und als er endlich wieder nach Hause kam, war es sein Erstes, sich seines Vermögens zu entledigen. Er schenkte es uns Geschwistern, mit Ausnahme unserer Schwester Gretl, die damals noch sehr vermögend war, während wir viel von unserem Vermögen eingebüßt hatten. (FamEr, 109)
Hermine Wittgenstein beschreibt das Unverständnis der Familie für den Entschluss, seinen Erbteil den Geschwistern zu schenken. Sie selbst habe dies respektiert, wissend, dass zu „dieser Mentalität Ludwigs die ganz freie, gelockerte Möglichkeit gehörte, sich von seinen Geschwistern in irgend einer Situation helfen zu lassen“: Wer die ‚Brüder Karamasoff‘ von Dostojewski kennt, wird sich der Stelle erinnern, in der gesagt wird, daß der sparsame und genaue Iwan wohl einmal in eine prekäre Situation kommen könnte, daß aber sein Bruder Aljoscha, der nichts vom Geld versteht und keines besitzt, bestimmt nicht verhungern würde, weil Jeder mit Freuden mit ihm teilen und er es ohne Bedenken annehmen würde. Ich, die dies alles genau wußte, habe alles getan, um bis ins Kleinste Ludwigs Wünsche zu erfüllen. (FamEr, 110)
Hingegen konnte sie seine Entscheidung, nicht nach Cambridge zurückzukehren, sondern „einen ganz unscheinbaren Beruf zu wählen“ und Volksschullehrer zu werden, lange nicht verstehen. Es folgt eine Aufzählung seiner verschiedenen Stellungen, vom Gärtnergehilfen bei den Barmherzigen Brüdern in Hütteldorf und im Stift Klosterneuburg, über die Lehrerbildungsanstalt in Wien zum Volksschullehrer in Trattenbach, später in Otterthal und dann in Puchberg am Schneeberg. In seiner Zeit als Volksschullehrer brachte Ludwig gelegentlich seine Schüler auf den Ausflügen nach Wien in Hermines Tagesheim unter oder unterrichtete dort in den Ferien. Die Schwester bezeichnet den Bruder als
34 | DAS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS geborenen Lehrer [...] alles interessiert ihn selbst und er weiß aus allem das Wichtigste herauszufassen und klar zu machen. [...] es war uns allen ein Hochgenuß: er trug nicht nur vor, sondern suchte die Buben durch Fragen an die richtige Lösung heranzubringen. [...] das Interesse, das er erweckte, war ungeheuer.
Aber wie Hermine durchaus hellsichtig erkennt: Zu einem Volksschullehrer gehört aber nicht nur die Fähigkeit etwas interessant vorzutragen und begabte Schüler zu fördern, ja weiter zu fördern als es der Unterrichtsplan verlangt. Es gehört dazu auch die Geduld und die Routine, die Unbegabten und Faulen, die Mädchen, die ganz andere Dinge im Kopf haben, so weit zu bringen, daß sie mit den nötigsten Kenntnissen versehen die Schule verlassen. Es gehört dazu auch Geduld und Geschicklichkeit im Verkehr mit den oft sehr unverständigen Eltern. Diese Geduld konnte Ludwig nicht aufbringen, und an diesem Mangel scheiterte schließlich seine Tätigkeit. Meiner Meinung nach kündigte sich wohl auch schon wieder eine neue Phase seiner Entwicklung an. (FamEr, 111)
Sie skizziert, wie nach dem Ersten Weltkrieg zwei Freundschaften zerbrochen waren: die mit Gottlob Frege, nachdem dieser völliges Unverständnis für den Tractatus gezeigt hatte, und mit Bertrand Russell, der diesen ins Englische übersetzt und zweisprachig herausgegeben hatte: „Ludwig nahm ihm, soviel ich weiß, einige halb-populäre Abhandlungen übel und die Freundschaft hielt nicht stand.“ Was dann folgte, bezeichnet sie als „Zwischenstadium“: Als Ludwig seinen Lehrerberuf aufgab, hofften wir, er werde sich wieder der Philosophie zuwenden, doch folgte zunächst ein Zwischenstadium, aus dem sich dann etwas ganz Neues, Unerwartetes herauskristallisierte. (FamEr, 112)
Es kündigt sich einer neuer Berufswechsel an, der zum Architekten. Der Bruder wird neben Paul Engelmann zum Mitgestalter des von der Schwester Margarete in Auftrag gegebenen Familienpalais: Engelmann, den wir als Architekten sehr schätzten, da er für meinen Bruder Paul und mich durch Adaptierung einige sehr unschöne Räume in auffallend schöne verwandelt hatte und der uns auch menschlich nähergekommen war, zeichnete die Pläne für das Haus, das dort entstehen sollte, bei Gretl und unter ihrer ständigen Mitarbeit. Nun kam auch Ludwig hinzu, interessierte sich in seiner intensiven Weise sehr für die Pläne und Modelle, begann sie abzuändern und verbohrte sich mehr und mehr in die Sache, bis er sie endlich ganz in die Hand bekam. Engelmann mußte der viel stärkeren Persönlichkeit weichen, und das Haus wurde dann bis ins kleinste Detail nach den von Ludwig geänderten Plänen und unter seinen Augen gebaut. Ludwig zeichnete jedes Fenster, jede Tür, jeden Riegel der Fenster, jeden Heizkörper mit einer Genauigkeit, als wären es Präzisionsinstrumente, und in den edelsten Maßen, und er
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setzte dann mit seiner kompromißlosen Energie durch, daß die Dinge auch mit der gleichen Genauigkeit ausgeführt wurden. (FamEr, 114)
Die Familienerinnerungen beschreiben, wie Ludwig den Hausbau (1926– 29) sukzessive übernahm und Engelmann ‚entthronte‘. Es folgen genaue Ausführungen über die vom Bruder ausgetüftelten technischen und ästhetischen Details, gespickt mit Bewunderung für die beiden Geschwister: [...] ich bewundere meine Schwester Gretl, die ihm in dieser Beziehung völlig freie Hand ließ. Zwei große Menschen waren da als Architekt und Bauherr zusammengekommen und so konnte bei diesem Bau etwas in seiner Art Vollendetes geschaffen werden. (FamEr, 112)
Während dieses Aufenthalts in Wien begann sich Ludwig auch mit anderen Interessen zu beschäftigen, der Bildhauerei und der Musik: Er hatte sich seinerzeit in dem italienischen Offiziers-Gefangenenlager mit dem gleichfalls gefangenen Bildhauer Michael Drobil befreundet und er interessierte sich später in Wien außerordentlich für die bildhauerischen Arbeiten, die dieser Künstler in Angriff nahm, beeinflußte ihn auch in gewißer Weise [...] Auch die Musik übte eine immer stärkere Anziehung auf Ludwig aus; er hatte in seiner Jugend nie ein Instrument gespielt, mußte aber als Lehrer eines erlernen und wählte die Klarinette. Ich glaube, daß erst von da an sein starkes musikalisches Gefühl so recht zur Entwicklung kam, jedenfalls spielte er mit großer musikalischer Empfindung und hatte viel Freude an seinem Instrument. (FamEr, 117)
Dass der Bruder äußerlich so gar nicht in das gesellschaftliche Milieu hineinpasste, in das er geboren war, ist Hermine auch eine Anekdote wert: Er pflegte [seine Klarinette] statt in einem Etui in einem alten Strumpf herumzutragen und da er gar nicht auf seine äußere Erscheinung hielt, z.B. alle Tage des Jahres und zu allen Gelegenheiten in braunem Rock und grauer, womöglich geflickter Flanellhose, mit offenem Hemd und ohne Krawatte einherging, so gab er oft ein sonderbares Bild ab, aber sein ernstes Gesicht und seine energische Haltung waren so imponierend, daß ihm jeder sofort den ‚Herrn‘ ansah. Eine belustigende Episode, die mir Drobil später erzählte, scheint dem zu widersprechen, doch spielt da vielleicht auch die Gesamtsituation mit: Drobil hatte wie erwähnt, Ludwig im Gefangenenlager kennen gelernt, hatte seinen Namen nicht gehört oder nicht verstanden und angenommen, daß der ziemlich abgerissen aussehende, äußerst anspruchslose Offizier aus kleinen ärmlichen Verhältnissen stamme. Zufällig kam in einem Gespräch die Rede auf ein Porträt von Klimt, ein Fräulein Wittgenstein darstellend; es ist das Bildnis meiner Schwester Gretl und wie alle Porträts dieses Künstlers höchst raffiniert und elegant, ja mondän zu nennen. Ludwig sprach von diesem Bild als ‚das Porträt meiner Schwester‘, und der Kontrast zwischen seiner unrasierten, ungepflegten Gefangenenerscheinung und der Erscheinung der Dargestellten war so überwältigend, daß
36 | DAS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Drobil einen Augenblick dachte, Ludwig sei nicht recht bei Sinnen. Er konnte nur die Worte hervorbringen: ‚Ja bist denn Du ein Wittgenstein?‘ und noch bei der Rückerinnerung schüttelte er wie erstaunt den Kopf und mußte lachen. (FamEr, 117f.)
Sodann schildert sie die Rückkehr ihres Bruders zur Philosophie nach Cambridge und das eher unübliche Prozedere seiner Promotion: [...] da er aber nicht die übliche Vorbildung besaß, z.B. an keiner Universität promoviert worden war, so hätte eigentlich einer Form Genüge geleistet werden müssen, die in einem solchen Fall eine feierliche Prüfung vor einem Professorenkollegium verlangt; selbst die offizielle Tracht des Kandidaten ist genau vorgeschrieben, wie das an den englischen Universitäten so Sitte ist. Ludwig weigerte sich absolut, diese Tracht anzulegen, und es war eine Ehrung für ihn, daß sie ihm erlassen und die Prüfung in vornehmster Weise dahin abgeändert wurde, daß die Professoren Ludwig baten, ihnen Stellen aus seinem Buch zu erklären. (FamEr, 119f.)
Hier beschreibt die Schwester seine Sonderrolle in Cambridge, würdigt dann aber insbesondere seine charakterlichen Qualitäten und sein „großes Herz“: Gewiß er verlangte oft nicht wenig von seinen Freunden und Geschwistern, nicht in materieller, sondern in geistiger Beziehung, in Bezug auf Zeit, geistiges Mitgehen, Verständnis, aber er war auch immer bereit, alles für sie zu tun. (FamEr, 119f.)
Daraufhin schildert sie, wie er nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 der Familie ganz konkret geholfen hatte, indem er versuchte, die Verhandlungen über die Vermögensangelegenheiten und den Ariernachweis mit der Reichsstiftungskammer in Berlin in bester Weise zu beeinflussen: Als meine Schwester Lenka und ich uns im Jahre 1939 in einer schwierigen, nicht ungefährlichen Lage befanden, zögerte Ludwig keinen Augenblick, während seines Sommerurlaubs mit Direktor Groller, unserem Vermögensverwalter und Ratgeber nach Berlin und New York zu fahren, um die Sache für uns günstiger zu gestalten. Es handelte sich zum Teil um eine Vermögens- und Geldangelegenheit, also um eine ihm fremde Materie, und doch imponierte er dem Leiter der Reichsbank-Devisenstelle in Berlin durch seine das Wesentliche erfassende Klarheit. [...] und wenn er in New York nicht das für uns erreichte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, so lag die Schuld wahrhaftig nicht an ihm.
Das Kapitel schließt mit der Bemerkung: Von New York fuhr er direkt nach England zurück, und da er infolge des Krieges später nicht mehr nach Wien kommen konnte, so habe ich ihn seit sechs Jahren nicht gesehen. Ich würde mich nicht wundern, wenn in dieser Zeit noch eine Wandlung mit ihm vorgegangen wäre, aber Verstand und Herz wären von dieser Wandlung be-
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stimmt nicht berührt und die sechs Jahre würden wie ein Augenblick versinken, wenn es zu einem Wiedersehen kommen könnte. (FamEr, 119f.)
Zu Weihnachten 1948 kam Ludwig, der 1938 die englische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, zum ersten Mal seit dem Krieg wieder nach Österreich und besuchte seine an Krebs erkrankte Schwester Hermine. Als sie im Sterben liegt, notiert er im Februar 1949 im Manuskript 138: „Mining im Sterben. Großer Verlust für mich und Alle. Größer als ich geglaubt hätte.“ (10.2.1949) Und zwei Woche später: Ringsherum werden die Wurzeln abgeschnitten, an denen mein eigenes Leben hängt. Meine Seele ist voller Schmerzen. Sie hatte vielseitiges Talent und Verstand. Aber nicht nackt zu Tage liegend, sondern verhüllt; wie die menschlichen Eigenschaften liegen sollen. (25.2.1949, BEE)1
Hier wird die intensive persönliche Beziehung zwischen den Geschwistern deutlich. Diese wird im Rahmen der Familienchronik später noch eingehender betrachtet, wie auch die Darstellung Ludwigs innerhalb der Logik einer Familienchronik. Zunächst seien hier nur knapp einige von ihren prägnanten Erzählmomenten zusammengefasst. Hermine führt in den Familienerinnerungen an verschiedenen Beispielen aus, wie „seelisch ungeheuer empfindlich“ ihr jüngster Bruder gewesen sei, wie fremd er seiner Umgebung war oder diese ihm. Sie zeigt seinen Verzicht auf dass elterliche Erbe beeinflusst von seiner intensiven Lektüre an der Front, von Tolstoi, dem Evangelium und von Dostojewski und beschreibt ihn als leidenschaftlich, ungeduldig und ruhelos. Sie zeigt ihn als unschlüssig in seiner Berufung, hin und hergerissen zwischen dem Studium der Philosophie und dem Bedürfnis praktisch zu arbeiten, schließlich aber in jeder Sparte (Ingenieur, Philosoph, Volksschullehrer, Architekt) reüssierend; wenn auch als Volksschullehrer an seiner eigenen Ungeduld, an zu großen Ansprüchen an die Schüler und an einer unverständigen Umgebung scheiternd. Warum auch Landlehrer sein, wenn ihn Bertrand Russell als vielversprechenden Philosophen anerkannt hatte? Sie konzentriert sich auf das exzeptionelle: seinen Rückzug nach Norwegen verknüpft sie mit einer geistigen Angespanntheit, nahe einem „krankhaften Zustand“, bei seiner Promotion betont sie das unübliche Prozedere, und beschreibt sein saloppes Äußeres als Kontrapunkt zu seiner sozialen Herkunft. Dennoch zeigt sie ihn als einen, der sich um den Dialog mit und innerhalb der Familie bemühte. Die ausführlichen Schilderungen des Hausbaues in der Kundmanngasse präsentieren den Bruder als maßgeblichen Architekten des Hauses für seine Schwester Margarete. Ihre Beschreibung des Hauses als „hausgewordene Logik“, oder ihr Bild von Ludwig als Einzelgänger und Sozialneurotiker, der (zu) viel von sich und anderen verlangt, sind Erzählmomen-
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Ludwig Wittgenstein, Bergen Electronic Edition, Oxford 2000 (BEE).
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te, die wir in der biographischen Wittgenstein-Literatur wiederfinden werden. In welcher Weise die Biographen Hermine Wittgenstein auf den Spuren ihres Bruders folgten, welche neuen Erzählmomente aufgegriffen werden und welche Gegenbilder entstehen – das wird im Folgenden Thema sein, ebenso welchen Beitrag Ludwig Wittgenstein selbst für die Wahrnehmung seiner Person leistete.
2. W ITTGENSTEIN -R EZEPTIONEN : V ERFÜHRERISCHE L ESARTEN ? Nur sich nicht in Teilfragen verstricken sondern immer dort hinaus flüchten wo man freien Überblick über das ganze eine große Problem hat wenn auch dieser Überblick noch unklar ist! (Ludwig Wittgenstein, 1.11.1914, TR)
Es gibt keine von Ludwig Wittgenstein veröffentlichten oder als solche explizit verfassten autobiographischen Schriften, mit Ausnahme von Tagebüchern aus den 1930er Jahren. Alle übrigen persönlichen Bemerkungen sowie sein Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg sind Teil seiner philosophischen Manuskripte oder seiner Briefe. Besonderen Charakter haben hier seine so genannten ‚Beichten‘ in Briefform, in denen Wittgenstein Freunden gegenüber persönliche Unklarheiten näher erläuterte. Abgesehen von dieser Ausnahme findet das Private bei Wittgenstein keine separate Textform. Nicht zuletzt war es sein weitgehender Verzicht auf die Veröffentlichung seiner philosophischen Gedanken, der die Neugier des Lesepublikums motivierte. So publizierte er nach dem Erstwerk Logisch-philosophische Abhandlung (Tractatus logico-philosophicus, 1922) – abgesehen von einem Essay und einer Buchrezension – weder seine Manuskripte noch Autobiographisches. Diese 20.000 unveröffentlichten Manuskriptseiten förderten die Neugier, später verstärkt durch die unvollständige Veröffentlichung seiner Kriegstagebücher von 1914–16 ohne die chiffrierten Teile durch seine Nachlassverwalter (Elizabeth Anscombe, Rush Rhees und Georg Henrik v. Wright) im Jahr 1961. In der ersten offiziell publizierten Version der Tagebücher 1914–1916 in der Werkedition bei Suhrkamp fehlten die zumeist auf den linken Manuskriptseiten notierten Geheimschriftstellen. Doch wurden die Tagebücher auch nicht für eine erste Begegnung mit dem ‚privaten Wittgenstein‘ publiziert, sondern um „Hilfsmittel“ für das Verständnis des Tractatus zu sein und um manche Bemerkungen zu rekontextualisieren sowie „to cut short some argument where wholly irrelevant contexts are supposed by an interpretation“ – gemeint sind Diskussionen um vermeintliche Wittgenstein-fremde Kontexte.2 So wurden Wittgensteins kodierte Be-
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Ludwig Wittgenstein, Notebooks 1914–16, ed. G.H.v. Wright/G.E.M. Anscombe, Oxford 1961, V.
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merkungen zunächst überklebt und damit für die erste MikroficheVerfilmung des Nachlasses, den so genannten Cornell-Film der Cornell University (1968), „politisch korrekt und moralisch sauber“ unsichtbar gemacht.3 Damit wurde in den 1960er Jahren begonnen, eine Teilung zwischen dem wissenschaftlichen und dem privaten Wittgenstein einzuleiten, wo das Private scheinbar nicht nur um des privaten Willens ausgeblendet wurde, sondern weil auch nur so eine bestimmte Lesart gewahrt werden konnte, die des ‚logischen Wittgenstein‘, eines Cambridge-Philosophen. Dieser beschränkte Quellenzugang zum ‚privaten Wittgenstein‘ gab infolgedessen jedoch zu zahllosen Spekulationen Anlass, unterstützt durch den bis dahin geringen biographischen Quellenbestand. Auch die Offenheit und Komplexität seines philosophischen Werkes, welches sich eindeutigen Kategorien und Interpretationen entzog, verführte dazu, Wittgensteins Werk durch seine Biographie zu (v)erklären. Der folgende Überblick über einzelne Forschungsergebnisse der letzen fünf Jahrzehnte zur Biographie Ludwig Wittgensteins stellt einige ihrer Subtexte und Paradigmen vor. Ist auch jede Form der Systematisierung problematisch im Sinne einer Simplifizierung der Phänomene, verdeutlichen gebildete Kategorien doch gewisse interpretatorische Tendenzen, die für den Umgang mit auto-/biographischem Material sensibilisieren. Ludwig Wittgenstein starb 1951, aber erst in den 1970er Jahren kamen die ersten biographischen Schriften auf den Markt. Familie und Freunde hatten lange Einwände gegen eine Biographie, im Glauben, dass er selbst dies nicht geschätzt hätte. So ist der Wittgenstein-Cousin Friedrich Hayek (später bekannter Ökonom und Nobelpreisträger) am Widerstand der Umgebung gescheitert, als er 1953 eine Biographie begonnen hatte, die dann lediglich ein biographical sketch blieb.4 Die Skepsis zeigt ein Brief von Wittgensteins Freund Rudolf Koder an den Material suchenden Hayek: „Wenn Ludwig Wittgenstein mich jetzt hören und sehen könnte, würde er sicherlich sagen, was schwätzt Du da zusammen.“5 Wittgensteins Schwester Margarete hatte sich Hayeks Ansinnen hingegen komplett verweigert, wie sie ihrem Sohn Thomas schreibt: „Ich habe ihm einen sehr kalten Absagebrief geschrieben und gesagt, wie sehr wir gegen diese Art von ‚biographischer Skizze‘ seien, wie gräulich sie dem Luki gewesen waren.“ (Mai 1953, P.St.) Es bedurfte erst der „vielen Missverständnisse und falschen Berichte“, der „Verherrlichungen und Anfeindungen“ und der intellektuellen Anerkennung Wittgensteins, um ein Umdenken zu bewirken, sodass Kurt Wuchterl und Adolf Hübner im Jahr 1979 die erste, von der Familie autorisierte Biographie
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Andreas Roser, Wittgensteins Nachlass auf CD-Rom, http://michael-funken.de/ information-philosophie/philosophie/wittgensteincd.html (1.1.2011). Friedrich A. Hayek, Wittgenstein, A Biographical Sketch, Unfinished Draft of a Sketch of a Biography of Ludwig Wittgenstein, in: Hayek Papers, Hoover Institution, Stanford University, California, (061–22). Wuchterl/Hübner, Wittgenstein, 8.
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schreiben konnten. Diese war aber auch eine Antwort auf das allmählich zunehmende Interesse am Thema Biographie, auch in der Wissenschaft. Zunächst blieb es noch bei Editionen: Die Tagebücher Wittgensteins aus dem Ersten Weltkrieg wurden in der ersten Werkedition bei Suhrkamp 1961 in beschränktem Umfang publiziert, und es folgten die ersten edierten Briefwechsel mit Kollegen und Freunden. Die erste ‚echte‘ Biographie erschien im Jahr 1973 von William Bartley, zwei Jahre später, immer noch anhand weniger biographischer Materialien, die erste Fernseh-Film-Biographie ‚Wittgenstein‘ von dem Wiener Avantgarde-Filmer Ferry Radax, 1976 wurde das Wittgenstein-Symposium in Kirchberg am Wechsel eingerichtet, eröffnet mit einer Ausstellung zu Biographie und Werk. 1979 folgte die, oben bereits genannte, erste autorisierte Biographie von Kurt Wuchterl und Adolf Hübner, dem Mitbegründer des Kirchberg-Symposiums, 1983 gefolgt von der collageartigen Zusammenstellung von Photos und Briefen von Michael Nedo und Michele Ranchetti sowie den zu Klassikern gewordenen Biographien: Brian McGuinness‘ Wittgensteins frühe Jahre (1988) und Ray Monks The Duty of Genius (1990). Während McGuinness umfassend Material sammelte und eine Art Familienbiographie schrieb, um damit auch die Reihenfolge und die Zusammenhänge der nach und nach gefundenen unpublizierten Manuskripte nachvollziehen zu können, verfasste Monk eine intellektuelle Biographie unter dem spezifischen Aspekt der Darstellbarkeit von Wittgensteins Denken. Beide wurden rund um Wittgensteins hundertsten Geburtstag 1989 publiziert, welcher auch Anlass für eine Ausstellung in der ‚Secession‘ in Wien war. Im Ausstellungskatalog schrieb erstmals ein Familienmitglied über die eigene Familie.6 Anfang der 1980er Jahre wurden die ersten Memoiren seiner Freunde7 und Wittgensteins Geheime Tagebücher publiziert,8 in den 1990er Jahren die sehr umfassend kommentierten Briefwechsel mit Freunden und Familie,9 sowie eine Wiederveröffentlichung von Wittgensteins Kriegs- und Cambridge-Tagebüchern10 und ein familiär- und intel-
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Cecilia Sjögren, Die Familie, in: Wittgenstein, Ausstellungskatalog der Secession 1, Wien 1989, 98–118. 7 Vgl. zu Memoiren u.a. jene von Norman Malcolm (1984), David Hume Pinsent (1990), Georg Henrik v. Wright (1977, 1982), Theodore Redpath (1990) sowie die Memoirensammlungen von K.T. Fann (Ed.), Ludwig Wittgenstein: The Man and his Philosophy, New York 1978; F.A. Flowers (Ed.), Portraits of Wittgenstein, 4 Bde, Bristol-Sterling 1999; Rush Rhees (Ed.), Ludwig Wittgenstein. Personal Recollections, Oxford 1981 (dt.: Porträts, 1992). 8 Ludwig Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914–1916, hg. u. dok. v. Wilhelm Baum, Wien 1991 (Geh.TB). 9 Vgl. zu Briefwechseln u.a. jene mit Paul Engelmann (1967) und Ludwig v. Ficker (1969). Später folgten jene mit: C.K. Ogden (1973), G.H.v. Wright (1983), B. Russell, G.E. Moore, J.M. Keynes, F.P. Ramsey, W. Eccles, P. Engelmann and L.v. Ficker (1980), G. Frege (1989), L. Hänsel (1994), Familienbriefe (1996), Gegenbriefe L. v. Ficker (1986); Wittgenstein and Norway (1994), R. Koder (2000). 10 Ludwig Wittgenstein, Denkbewegungen. Tagebücher 1930–1932, 1936–1937, hg. v. Ilse Somavilla, Innsbruck 1997 (TB).
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lektuell-biographische Streifzüge mit Wittgenstein in Wien bzw. etwas später Wittgenstein in Cambridge.11 Neben dieser historisch-biographischen Literatur zeigen auch Arbeiten zu Wittgensteins Philosophie ein Interesse an der Verknüpfung von Biographie und Werk,12 wie beispielsweise in der Debatte um die philosophische wie geographische Verortung der Person, in der Editionsgeschichte seiner Werke und dem zunehmenden Interesse an seinen Bemerkungen zu ethischen, religiösen und kulturellen Fragen sowie in den aktuellen Diskussionen über den Wert der Biographie für die Auseinandersetzung mit Wittgensteins Philosophie. Diese Fragestellungen wurden einerseits durch eine verbesserte Quellenlage ermöglicht, andererseits war es das Interesse an Biographischem, welches die Quellensuche und -editionen erst initiierte. Wie es Michel Foucault beispielhaft gezeigt hat, unterliegt jede Forschung zu einem gewissen Grade einem Zeitgeist, weil das jeweilige Umfeld die Kategorien der Wahrnehmung formt und dadurch bestimmt, welche Fragen gestellt werden. Demnach definiert jeder öffentliche Diskurs einen bestimmten Kommunikationsraum, gibt Regeln der Erfahrungsrezeption und der Textproduktion vor, also „Bedingungen der Möglichkeit – und der Unmöglichkeit – zu bestimmten Zeiten bestimmte Aussagen über die Welt und sich selbst zu machen“. Damit sind Diskurse nicht nur eine Gesamtheit von Zeichen, sondern Praktiken, die „systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.13 Es kann am Beispiel der Wittgenstein-Biographien, insbesondere an umstrittenen Punkten in seiner Biographie, exemplarisch gezeigt werden, inwieweit Forschungsfragen und -ergebnisse Produkte historisch-gesellschaftlicher Umstände und Interessen sind und wie es zu einseitigen Betonungen im Umgang mit der Person Wittgenstein kam: bei der Frage nach der jüdischen Herkunft, der nationalen Zuordnung, der Selbstund Fremdzuschreibung als ‚Genie‘ und den Spekulationen über Außenseitertum, Homosexualität und Misogynie. Aus einer Vogelperspektive sollen hier maßgebliche Etappen in der Biographieforschung vorgestellt werden, einem Gedanken Wittgensteins folgend: Wenn ich beschreiben soll, wie ein Gegenstand aus der Ferne ausschaut, so wird diese Beschreibung nicht genauer dadurch, daß ich sage, was bei näherem Hinsehen an ihm zu bemerken ist. (PU, § 171)
11 Allan Janik/Hans Veigl, Wittgenstein in Wien. Ein biographischer Streifzug durch die Stadt und ihre Geschichte, Wien 1998; Hans Veigl, Wittgenstein in Cambridge. Eine Spurensuche in Sache Lebensform, Wien 2004. 12 Vgl. u.a. Ludwig Wittgenstein – Schriften. Beiheft, Frankfurt/M. 1960; K.T. Fann (Ed.), Ludwig Wittgenstein: The Man and his Philosophy, New York 1978; C.G. Luckhardt (Ed.), Wittgenstein: Sources and Perspectives, Bristol 1996 (Org. 1979); Wendelin Schmidt-Dengler/Martin Huber/Michael Huter (Hg.), Wittgenstein Und. Philosophie – Literatur, Wien 1990; James C. Klagge (Ed.), Wittgenstein, Biography & Philosophy, Cambridge 2001; Brian McGuinness, Approaches to Wittgenstein. Collected Papers, London-New York 2002. 13 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, 74.
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Ich gehe nachfolgend auf einzelne Diskurse ein, nicht aber auf inhaltliche Fakten, welche Fragen und philosophische Problemstellungen evozierten. Mit dieser konstruktivistischen Perspektive wird die Bedeutung eines Textes insbesondere eine Frage des Kontextes – doch natürlich wird nicht alle Bedeutung von außen an einen Text herangetragen. Aber mit dem Rezeptionsumfeld veränderte sich auch die zunehmende Durchsetzung der Person Ludwig Wittgenstein als öffentliche Person, was wiederum neue Publikationsstrategien mit sich brachte. Diese Arbeit reagiert auf die bisherige Rezeptionsgeschichte, was bedeutet, dass sie auch dieselben Schwerpunkte setzt, so wie sie vorgegeben sind: Dennoch soll die Kontextualisierung zeigen, dass es ‚gemachte‘ Kontexte sind, und dass diese Blicke auf Wittgenstein nicht nur im Material selbst liegen, sondern auch im Auge des Betrachters. 2.1 Die Psychologisierungen in den 1970er Jahren William Bartley schrieb die erste allgemein bekannte Wittgenstein-Biographie, Wittgenstein, ein Leben (1983, Org. 1973), welche u.a. durch ihre Spekulationen über ein geheimnisvolles Privatleben Wittgensteins bekannt wurde. Diese Perspektive wurde durch die heftige, kritische Rezeption des Buches außerordentlich verstärkt. Bartleys Buch führte durch eine freudianische Argumentationsweise eine vermeintliche Promiskuität Wittgensteins und Probleme mit der eigenen Homosexualität als eine Art Erklärungsmodell für dessen ‚verquälte‘ Persönlichkeit an. Er leistete damit Vorschub für psychologisierende und auch reduktionistische Deutungen: Mancher liest aus Bartleys Buch heraus, dass Wittgensteins Homosexualität verantwortlich gewesen sei für seinen Erfolg in Cambridge.14 Für andere erklärt gerade dieser Umstand charakteristische Züge des Tractatus: „triebhaft“ und „schuldhaft“ versuche sich Wittgenstein „in die Reinheit einer strengen Komposition zu retten“, das innerliche Chaos in der Ordnung des Textes zu bändigen: „Und auf dieser Folie wird auch die ungeheure Spannung verständlich, in der Wittgensteins philosophische Konstruktionen stehen: die Gespaltenheit zwischen Mathematik und Mystik, Positivismus und Metaphysik, Sprachkritik und Ethik, zwischen dem noch Aussprechbaren und dem Unaussprechlichen“.15 Dies ist eine Lesart Colin Wilsons, der behauptet, Wittgensteins sexuelle Ausschweifungen hätten seine gesamte Philoso-
14 Ludger Lütkehaus, Sammelrezension zu Wittgenstein-Biographien in der Süddeutschen Zeitung, 8.9.2001. 15 Vgl. ebenda; sowie Rezensionen zit. n. Richard Freadman, Genius and the Dutiful Life: Ray Monk’s Wittgenstein and the Biography of the Philosopher as Subgenre, in: Biography, An Interdisziplinary Quarterly 2, 2002, 301–342, 323.
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phie geprägt.16 Hier wird er psychoanalytisch auf einen homosexuellen Außenseiter reduziert und sein Werk dementsprechend missgedeutet. Bartleys Biographie war in ihrer Freud’schen Argumentation vom Interesse der 1970er Jahre geprägt, einer „Tyrannei der Intimität“ (Richard Sennett), die auf moralische Normen verpflichtete und pathologische Abweichungen suchte. Die Familie wie auch Philosophen wehrten sich gegen eine in ihren Augen falsche, reduzierende oder unwesentliche Fragestellung. Um dem ‚Heiligen‘ seine ‚Unschuld‘ zu bewahren, wurde, dem Zeitgeist gemäß, moralisiert statt argumentiert.17 Dass Bartley viele seiner Quellen nicht nannte, blieb großteils ungestraft, denn er spekulierte erfolgreich mit einer gewissen Neugier und Bereitschaft des Publikums, die schwierige Persönlichkeit Wittgensteins erklärt zu bekommen. Hier zeigt sich beispielhaft, wie das Schreiben einer Biographie, ebenso wie die Lektüre derselben, von Erwartungen und Einstellungen des Autors und des Lesers geprägt sind. Als die geheimschriftlichen Bemerkungen von Wilhelm Baum als Geheime Tagebücher (1991) erstmals ediert und ohne Zustimmung der Nachlassverwalter publiziert wurden, so intendierte er damit – neben einer Neudeutung des Tractatus – auch, zur Klärung der von Bartleys Biographie initiierten Spekulationen über Wittgensteins Homosexualität beizutragen.18 Doch auch diese Veröffentlichung hat, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, schon alleine aufgrund des unglücklichen Titels Geheime Tagebücher eine einseitige Rezeption mit bedingt und eine gewisse Stigmatisierung Wittgensteins als Homosexuellen eher verstärkt als relativiert. Denn indem ein scheinbar verheimlichtes Privatleben außerordentlich in den Mittelpunkt rückte, wurde jenes zugleich überbewertet. Und spätestens seit dem Film von Derek Jarman, Wittgenstein (1993), wurde dessen Person auch auf die Fahnen der Homosexuellen-Bewegung geheftet – und damit gesellschaftspolitisch instrumentalisiert. Auch auf wissenschaftlicher Ebene galt das Interesse der 1970/80er Jahre zunehmend dem homo psychologicus (Carl Schorske) der Wiener Moderne, da „Individualismus und Narzissmus, Flexibilität und Modernität sowie auch psychologische Labilität“ ebenso Begriffe der Kulturkritik der 1980er Jahre wie der Wiener Moderne waren.19 Mit dieser Psychologisierung von Gesellschaft und Wissenschaft ging ein neuer Fokus auf Wittgensteins philosophisches Werk einher, ermöglicht vor allem durch neue Quellen: die
16 Vgl. Monk, Anhang: Bartleys Wittgenstein und die kodierten Bemerkungen, in: Monk, Wittgenstein, 615–621, 616. Monk kritisiert Bartleys Thesen und ihre Fortführung u.a. bei Colin Wilsons The Misfits: A Study of Sexual Outsiders. 17 Vgl. Monk, Wittgenstein, 619. Widerlegung der Thesen Bartleys von Rush Rhees und J.J. Stonborough (Sohn von Margarete Stonborough) in der Zeitschrift The Human World im Febr. 1974. 18 Vgl. Baum, Vorwort, in: Geh.TB. Erstmals auszugsweise 1982 publiziert in der Zeitschrift für katholische Theologie (Nr. 105), vollständig 1985 in der spanischen Zeitschrift Saber (Nr. 5 u. 6). 19 Jacques Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben. Tagebuchliteratur der Wiener Moderne, Wien 2000, 21.
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geheimschriftlichen Bemerkungen sowie die ersten Briefwechsel mit Kollegen und Freunden, die wie auch die ersten Memoiren seiner Freunde nun publiziert wurden. Statt nur mehr den reinen Logiker zu sehen, wurden nun – mitinitiiert durch die geheimschriftlichen Bemerkungen, die Wittgenstein als religiösen Denker zeigen – auch die religiösen, ethischen und mystischen Aspekte des Tractatus rezipiert und dessen Neudeutung initiiert wie auch ein zunehmendes Interesse an den Philosophischen Untersuchungen, die 1953 aus dem Nachlass herausgegeben wurden. Geprägt war dieser Trend von einem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld, in dem zunehmend nach dem psychologischen Empfinden des Einzelnen und nach alltäglichen Beeinflussungen und Reaktionen gefragt wurde. Das Individuum wurde nun weniger als autonomes Subjekt als in seinen Bezügen zur Umwelt wahrgenommen. In der Wittgenstein-Forschung führte das dazu, nach den familiären und intellektuellen Bezügen zu fragen. 2.2 Die Neubewertung des Wiener Fin de Siècle In den 1970/80er Jahren hing das Interesse an Wittgenstein eng mit der Frage nach seiner philosophischen wie geographischen Zuordnung zusammen, in den Schlagworten von Wittgenstein’s Vienna oder einer Österreichischen Philosophie. Es war der Zeitpunkt, als im Zuge der nationalen Selbstfindung Österreichs – sichtbar an der Nationalismusforschung und dem zentralen Stellenwert der Frage nach Identität – die Wiener Jahrhundertwende durch die Arbeiten von W. M. Johnston und Carl Schorske breitenwirksam erforscht wurde.20 Rudolf Haller hat erstmals 1968 die Frage gestellt, ob Wittgenstein ein österreichischer Philosoph sei, um zumindest zu argumentieren, dass er kein englischer Philosoph sei. Diese Perspektive war motiviert durch das Übergewicht der anglophonen Rezeption Wittgensteins in den 1950/60er Jahren mit verstärkter Beachtung seiner englischen Jahre. Wie Haller betont, kann in der „Behauptung der eigenständigen Entwicklung der österreichischen Philosophie nur eine allgemeine, wenngleich komplexe Tendenz, nicht jedoch eine generelle Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck gebracht werden“.21 Doch verschiedene Autoren haben nach Haller die Perspektive einer österreichischen Philosophie „ernst genommen, verteidigt, ausgebaut“. Auch William Bartleys Biographie Wittgenstein, ein Leben verweist auf ge-
20 William Johnston, Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938, Wien-Köln-Graz 19923 (Org. 1974); Carl Schorske, Wien – Geist und Gesellschaft im Fin-de-Siècle, Frankfurt/M. 1982 (Org. 1980). 21 Rudolf Haller, Gibt es eine österreichische Philosophie?, in: Ders., Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur Österreichischen Philosophie, Amsterdam 1986, 31–43, 32. Schlagwortartig verkürzt gilt als typisch Österreichische Philosophie: Kritik an der Metaphysik, Fokus auf Empirie, Prüfen und Detailarbeit gegenüber spekulativer Systemtheorie. Vgl. Friedrich Wallner, Der Beitrag jüdischer Philosophen zur österreichischen Philosophie, in: Österreichisch-jüdisches-Geistesund Kulturleben 1, Wien 1988, 108–143.
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sellschaftliche Verhältnisse in Österreich, welche die Philosophie Wittgensteins angeblich geprägt hätten, wie die Glöckel’sche Schulreform oder die Bühler’sche Erziehungspsychologie. Im selben Jahr wurde das erste Werk über das so genannte ‚Wittgenstein-Haus‘ in Wien veröffentlicht, nachdem es zwei Jahre zuvor vor dem Abbruch gerettet worden war.22 Zur selben Zeit avancierte Allan Janiks und Stephen Toulmins Wittgenstein’s Vienna (1973, dt.: 1983) zu einem Standardwerk, die soziopolitischen Hintergründe der Wiener Jahrhundertwende beleuchtend und die für Wittgenstein prägende deutschsprachige Gedankenwelt und die ‚Wiener Kultur‘ schildernd. Bis dahin war er nur als ein Vertreter der angelsächsischen logischen und analytischen Philosophie betrachtet worden, als ein „Produkt aus Cambridge“, der lediglich eine „anekdotenhafte“ Beziehung zu seiner Heimat pflegte, rekonstruierend platziert „zwischen Musil und Trakl“.23 Nun wurden diese „eingefahrene(n) Rezeptionsgewohnheiten produktiv irritiert“ und dem angloamerikanischen Sprachraum der „Ethiker“, „schweigende Mystiker“ und „Metaphysiker Wittgenstein präsentiert“ und damit eine Wende in der Interpretation vom Positivistisch-analytischen zum Ethischen mitinitiiert.24 Wittgenstein wurde bald darauf zum typischen Vertreter der „kreativen Milieus“ in Wien um 1900 stilisiert, zum Repräsentanten österreichischer Identität, sein Werk zum Spiegel der Wiener Moderne. Dass das Buch Wittgensteins Wien in erster Linie als eines über Wien rezipiert wurde, hatte nach Janik mit der damaligen Situation zu tun: Seit den 1960er Jahren rückten Städte zunehmend in den Fokus der Forschung, wie auch das Österreichische als etwas vom Deutschen Unabhängiges wahrgenommen wurde.25 Die Entstehungsgeschichte der ‚Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft‘ (1974) und des Wittgenstein-Symposiums in Kirchberg am Wechsel (1976, gerade rechtzeitig zum 25. Todestag eingerichtet und seitdem jährlich tagend) kann ebenfalls als eine Institutionalisierung von Wittgensteins Philosophie in Österreich gelesen werden, befördert vom Trend nationaler Selbstvergewisserung sowie dem auflebenden Interesse am ‚österreichischen Gedächtnis‘. Wenn sich die Gesellschaft auch nicht als eine geschlossene Gemeinschaft der Wittgensteinexegese, sondern als ein offenes Forum verstand und von Beginn an international ausgerichtet und besetzt war, so war sie doch mit der Erwartung gegründet worden, der Region wirtschaftliche Impulse zu liefern und einen Beitrag zum Kulturleben Österreichs zu leisten.26 Beim ersten Wittgenstein-Symposium wurde eine bis da22 Vgl. Bernhard Leitner, Die Architektur von Ludwig Wittgenstein. Eine Dokumentation, London 1973. 23 Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben, 285. 24 Vgl. Lütkehaus, Rezension in der Süddeutschen Zeitung, 8.9.2001. 25 Gespräch mit dem Autor. Vgl. Allan Janik, In Place of an Introduction: On Writing Wittgenstein’s Vienna, in: Ders., Essays on Wittgenstein and Weininger, Amsterdam 1985, 5–25. 26 Elisabeth Leinfellner, The Austrian Wittgenstein Society and the Int. Wittgenstein Symposia: A Short History, in: Die Wittgenstein-Landschaft in Niederösterreich, zum 25. Int. Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel,
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hin einzigartige Dokumentation zu seinem Leben gezeigt, und das zu einer Zeit „als die ‚offizielle‘ Philosophie in Österreich Wittgenstein noch gewöhnlich als einen uninteressanten, halb verrückten Außenseiter abtat“.27 Konrad Wünsches Wittgenstein als Volksschullehrer (1985) kann im Umfeld dieser Etablierung des Symposiums gelesen werden, als eine intensive Kontaktaufnahme mit der Umgebung, in der Wittgenstein sechs Jahre lang (1920–26) als Lehrer gewirkt hatte. Wurden diese Jahre im Jahr 1979 in einer Biographie noch als „verlorene Jahre“ getitelt, bekamen sie später eine zentrale Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Person Wittgenstein zugewiesen, auch um die Entwicklungen von seinem Frühwerk hin zum Spätwerk mit zu erklären. Seit nun mehr zwei Jahrzehnten wird er unmittelbar assoziiert mit dem schöngeistigen Horizont der Wiener Moderne. Er gehört zum heutigen Bild von Wien, das wesentlich geprägt ist von der Perspektive auf das Fin de Siècle als „kreatives Milieu“, initiiert von Publikationen und Ausstellungen während der 1980er Jahre.28 Diese Wien-Forschung hat den Blick auf Wittgensteins Biographie und Werk maßgeblich verändert, nachdem die Werke von Carl Schorske, Allan Janik und Stephen Toulmin ein neues Paradigma verordnet hatten.29 Die Stadtgeschichte von Wien wurde zum Angelpunkt einer neuen Wittgenstein-Rezeption. War dieses gesteigerte wissenschaftliche und öffentliche Interesse an der Wiener Jahrhundertwende eine Folge veränderter Gegenwart oder gab es „tatsächlich besondere Eigenschaften der Wiener Moderne“? Emil Brix sieht die „permanente Notwendigkeit, mit Gegensätzen umgehen zu lernen“ als das spezifisch ‚Moderne‘ und verortet das Interesse daran zu einem bestimmten Zeitpunkt: als in der Gegenwart Identitätsdefizite durch die „sogenannte Krise des Fortschritts“ deutlich wurden, als gesamteuropäisch ein Auseinanderdriften von Politik, kulturellen und wissenschaftlichen Vorstellungen zu be2002, 21–29, 21; vgl. auch: Christian Kanzian [u.a.] (Hg.), „Wir hofften, jedes Jahr noch ein weiteres Symposium machen zu können“. Zum 30. Int. Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel, Kirchberg 2007. 27 Vgl. Mathias Iven, Auf den Spuren Ludwig Wittgensteins in Niederösterreich, in: Wittgenstein Jahrbuch, Innsbruck 2000, 145–147, 146. 28 Vgl. u.a.: Peter Berner/Emil Brix/Wolfgang Mantl (Hg.), Wien um 1900. Aufbruch in die Moderne, Wien 1986; Emil Brix/Patrick Werkner (Hg.), Die Wiener Moderne, Wien-München 1990; Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende, Wien-Köln-Graz 1993; Emil Brix/Allan Janik, Kreatives Milieu. Wien um 1900, Wien-München 1993; Rudolf Haller (Hg.), Nach Kakanien. Annäherungen an die Moderne, Wien-Köln-Weimar 1996. 29 Paradigmen sind nach Thomas Kuhn Hypothesen, die verschiedene Dinge in einen Zusammenhang stellen, die zuvor nur getrennt wahrgenommen wurden. Forschungs-Paradigmen in der ‚Wien um 1900‘-Forschung waren beispielsweise Hermann Brochs „Wertevakuum“, William Johnstons „therapeutischer Nihilismus“, Ilse Bareas Rede von der Gegenreformation, Robert Kanns „zyklisches Modell“ oder Carl Schorskes „fehlender Liberalismus“. Letzteres wurde von Steven Beller teilweise widerlegt, als er die Juden als Träger eines aufgeklärten Liberalismus identifizierte. Vgl. Allan Janik, Vienna 1900 Revisited: Paradigms and Problems, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 15, Innsbruck 1996, 20–43.
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obachten war und dieser Krise mit einer Wiedergewinnung historischer Dimensionen begegnet wurde: Der Erbe einer erfolgreichen Epoche zu sein wurde Gegenstand einer identitätsorientierten Kulturpolitik.30 Auch Wittgenstein fand darin seinen Platz. Auf diese regelrechte Verklärung der künstlerisch-kreativen Zirkel des Wiener Fin de Siècle hat erst die Ausstellung Traum und Wirklichkeit (1985) im Wiener Künstlerhaus öffentlichkeitswirksam aufmerksam gemacht. Das führte in weiterer Folge zu einem Rethinking of Vienna (Steven Beller),31 wie die Kontroverse um den Bundespräsidenten Kurt Waldheim 1986 zu einem ‚revisiting‘ der österreichischen Nachkriegsgeschichte Anlass gab. In diesem Zusammenhang kamen neue Fragen auf, die sich auch in der Wittgensteinliteratur wiederfanden: zur Bedeutung von Zentraleuropa und Globalisierung, Universalismen und Partikularitäten, Kulturalismus und Dogmatismus (u.a. in den Werken von Ernest Gellner, J.C. Nyíri). Im Kontext der so genannten ‚Spaßgesellschaft‘ der späten 1980er Jahre und einer poststrukturalistischen Beschäftigung mit der sprachlichen Gestaltung der Wirklichkeit lag ein Fokus auf Wittgensteins Begriff des Sprachspiels als Metapher für einen postmodernen Geisteszustand (u.a. bei Jean-François Lyotard oder Wolfgang Welsch), der auch die Pluralität und gesteigerte Komplexität reflektiert, die nun in die Lebenswelt eindringt und die Gesellschaft neu strukturiert. 2.3 Der Vergangenheits-Diskurs in den 1990er Jahren Ähnlich dominant wie die Frage nach einer nationalen Identität eine Dekade zuvor, beherrscht in den 1990er Jahren ein anderes Paradigma die Forschungslandschaft zu Wittgenstein. Die Diskussionen um die Vergangenheitsbewältigung in der Zweiten Republik, die sich ausdehnende Exilforschung, die Propagierung der Begriffe Identität in den 1980er und Erinnerung in den 1990er Jahren – sie alle sind wesentlich durch die internationale Holocaust-Forschung geprägt.32 Ihre Frage nach der Bedeutung jüdischer Kultur beeinflusste auch die biographische Wittgensteinforschung. Was in den späten 1970er Jahren noch ein marginales Thema war, auf Verweise in Nachworten beschränkt, steht in biographisch-philosophischen Veröffentlichungen der 1990er Jahre zu Ludwig Wittgenstein an prominenter Stelle, wie die Frage: Was Wittgenstein a Jew?33 Über den Stellenwert des Jüdi-
30 Vgl. Emil Brix, Das österreichische und internationale Interesse am Thema ‚Wien um 1900‘, in: Ders./Patrick Werkner (Hg.), Die Wiener Moderne, 141. 31 Steven Beller (Ed.), Rethinking Vienna 1900, New York-Oxford 2001. Neue Impulse bekam das Interesse am Wiener Fin de Siècle in den 1980/90er Jahren durch die Arbeiten von Rudolf Haller, J.C. Nyíri, Ritchie Robertson und Edward Timms (u.a. Hg. der Zeitschrift Austrian Studies), Sander Gilman und Robert S. Wistrich. 32 Vgl. Daniel Levi/Nathan Sznaider, Erinnerungen im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/M. 2001. 33 David Stern, Was Wittgenstein a Jew?, in: Klagge, Wittgenstein Biography & Philosophy, 237–272.
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schen für Ludwig Wittgenstein und seine Familie herrscht nach wie vor Uneinigkeit. Ein Blick auf Wittgensteins Manuskripte zeigt: Im Werkregister (Konkordanz) zu seinen Manuskripten aus den Jahren 1928–32 kommt der Begriff Jude nur zwei Mal vor, im Gesamtwerk etwa zwanzig Mal. In den posthum von Georg Henrik v. Wright edierten Vermischten Bemerkungen (1977), einer Sammlung von Wittgensteins Gedanken über Kunst, Kultur, Religion und den geschichtlichen Standort seines Werkes, wird der Eindruck einer Dichte der Auseinandersetzung mit dem Jüdischen erweckt, die in Relation zum Gesamtwerk und zu den Bemerkungen im privaten Umfeld so bei weitem nicht gegeben ist. Das zeigt das Interesse einzelner Forscher, einer Forschungsgemeinschaft oder der Öffentlichkeit Ludwig Wittgenstein in dieser spezifischen Rolle zu verorten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Autorintention und Rezeption offenbarte sich, als die dort aufscheinenden Bemerkungen Wittgensteins hinsichtlich eines jüdischen Selbsthasses eine neue Debatte in der Forschung auslösten, und eine verstärkte Bezugnahme auf Otto Weininger. Als die erste Sammlung von ErinnerungsPorträts (1981) folgte, stellte der Herausgeber Rush Rhees Wittgensteins Bemerkungen zum Jüdischen in Bezug zu seiner Biographie und zu seiner Weininger-Rezeption.34 Ein Thema, das Brian McGuinness und Ray Monk in ihren Biographien wieder aufgreifen. Behandelt McGuinness das Thema eher in genealogischer Hinsicht, liest Monk Wittgensteins jüdische Äußerungen vor allem als eine Auseinandersetzung mit Weininger, sich selbst und seinem Werk. Die Meinungen hinsichtlich der Bedeutung des Jüdischen für Wittgenstein sind seitdem sehr widersprüchlich: Die einen lesen ihn als weitsichtigen Kritiker von Antisemitismus (Béla Szabados) oder sogar als rabbinischen Denker (Russell Nieli), andere als einen sich selbst hassenden Antisemiten (Yuval Lurie) oder einfach als Vertreter zeitgenössischer Vorurteile (Gerhard Wassermann).35 Der Familienbiograph Brian McGuinness hat eine widersprüchliche Haltung: Geht er in seiner Biographie (1988) noch selbstverständlich davon aus, dass Ludwig Wittgenstein ein Jude war, stellt er eine Dekade später diesen Umstand in Frage: Zuerst konstatiert er, darin Rush Rhees folgend, dass Wittgenstein weniger das Jüdische selbst oder der historische Aspekt interessiere, sondern sich von dieser Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Jüdisch-Seins ein besseres Verständnis seiner eigenen Person erhofft habe. Dabei hätte ihm das Judentum „themes“ für seine Selbstkritik geliefert, denn „in 1931, at any rate, Jewishness was a moral
34 Vgl. Rhees, Postscript, in: Ders., Personal Recollections, 190–231, 197f. 35 Ich folge in der Beschreibung der Debatte Stern, Was Wittgenstein a Jew?, 237f. Hier finden sich ein Überblick zu den verschiedenen Positionen sowie ein ausführlicher Literaturanhang. Vgl. u.a.: McGuinness, Wittgenstein and the Idea of Jewishness, in: Klagge, Biography & Philosophy, 221–236; Béla Szabdos, Was Wittgenstein an Anti-Semite? The Significance of Anti-Semitism for Wittgenstein’s Philosophy, in: Canadian Journal of Philosophy 29, 1999, 1–28; sowie Arbeiten von J.C. Nyíri, Allan Janik, Gerhard Wassermann.
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category, whose concrete manifestations are of secondary importance“. Anschließend versucht McGuinness einige Definitionskriterien des Jüdischen vorzulegen, um zu prüfen, inwiefern Wittgenstein Jude war oder nicht, und trifft das provokante Resümee, dass weder die Familie Wittgenstein noch dieser selbst jüdisch gewesen sei: „Wittgenstein did not think of himself as Jewish, nor need we do so. The concept is an attractive, although, or because, a confused one […] But in any case these are aspirations, not realities.“36 Darüber hinaus befürchtet er sogar, durch seinen Beitrag das unglückliche Thema weiter zu prolongieren. Wie David Stern resümiert: „[H]e begins by insisting on Wittgenstein’s need to deny that he was a Jew, and ends up denying that Wittgenstein was a Jew“.37 Da bleibt mit Stern zu fragen: Kann man überhaupt von ‚den Juden‘ als einer Gruppe im Sinne einer Einheit in irgendeiner sinnvollen Weise sprechen? Und: Ist es gegenwärtig opportun zu zeigen, wie unjüdisch die Familie war? Die Rede vom Jüdischen gilt heute oftmals als ein ‚Diktat des Jüdischen‘, eine in alle Bereiche hinein reklamierte Nachkriegs-Perspektive. Diese Gefahr besteht auch für die Wittgensteinforschung, denn auch hier seien die Überlegungen, wie McGuinness selbst anführt, „to a considerable degree obscured by the affections and passions of our own half of the century“.38 Es seien die Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch die sich der Blick auf die Jahrhundertwende unter der Prämisse des Jüdischen richte. Und es sind eben gerade diese Erfahrungen, die gewisse Lesarten von Wittgenstein befördern und andere unterdrücken. Beispielhaft dafür sind gewisse Polarisierungen in der Wiener Fin de Siècle-Forschung, wie sie in der Beller-Gombrich-Kontroverse der 1990er Jahre zum Ausdruck kamen: auf der einen Seite die Position Steven Bellers, der das Kreativitätspotenzial der Jahrhundertwende in nahezu ausschließlichem Zusammenhang mit der jüdischen Erfahrung von Differenz sieht,39 auf der anderen Seite die des Kunsthistorikers Ernst Gombrich, der die Idee von einer spezifisch jüdischen, säkularen Kultur in Europa sowie die Bedeutung einer jüdischen Identität für die assimilierten Juden in Wien um 1900 grundsätzlich in Frage stellt.40 Beide Ansätze sind problematisch, weil sie dem Jüdischen für das
36 McGuinness, Wittgenstein and the Idea of Jewishness, 231. 37 Stern, Was Wittgenstein a Jew?, 243. 38 McGuinness, Wittgenstein and the Idea of Jewishness, 223. Ein gutes Beispiel dafür ist das markt- und zeitgeistkonform geschriebene Werk von Kimberley Cornish, The Jew of Linz, rein spekulativ in seiner Annahme, dass Hitlers Antisemitismus eine seiner Ursachen in der Begegnung mit Wittgenstein im Gymnasium in Linz gehabt hätte. Vgl. Hermann Möcker, War Wittgenstein Hitlers ‚Jude aus Linz‘, wie Kimberley Cornish aus antipodischer Sicht meint?, in: Österreich in Geschichte und Literatur 5, 2000, 281–333. 39 Vgl. Steven Beller, Central Europe. Birthplace of the Modern World?, in: Austrian History Yearbook 23, 1992, 89. 40 Auf der Tagung des Londoner Austrian Cultural Institut Fin de Siècle Vienna and its Jewish Cultural Influences im November 1996 kamen die gegensätzlichen Positionen zu Wort. Emil Brix fasst die Position Bellers prägnant zusam-
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Wien um 1900 entweder zu wenig oder zu viel Bedeutung zumessen. Die sich hier gegenüberstehenden Interpretationslinien finden sich auch in der Wittgenstein-Forschung wieder. David Stern resümiert diese Debatten jedoch insgesamt als „confused“ und verweist auf das ambivalente, inkonsistente Konzept des Jüdischen, sodass die Frage nicht lauten sollte, ob Wittgenstein ein Jude war oder nicht, sondern zu fragen sei, welche unterschiedliche Arten es gibt, ihn als Juden zu sehen und was diese Zuordnung, Jude oder Antisemit zu sein, bedeute.41 Er fordert mehr wissenschaftliche Selbstreflexivität für die gegenwärtige Debatte, ihre Begrifflichkeiten und die Autor-Perspektive ein. Dies macht Sinn, denn generell erschweren Begriffe wie ‚Rasse‘, ‚Klasse‘ oder ‚Nation‘ heterogene Kriterien und sind Ausdruck eines essentialistischen Identitätsverständnisses, das sich nicht um Differenzierungen bemüht. Wie heterogen beispielsweise das Judentum war, auch in seiner Bedeutungsvielfalt, wurde und wird oft übersehen.42 Ebenso vielfältig sind die Möglichkeiten einer Definition des Jüdischen. Die Rede von einer ‚jüdischen Identität‘ wird begrifflich oft als gegeben hingenommen, dabei ist sie wie jede andere Identität weder stabil noch eindeutig. Sie ist von ethnischen, nationalen und religiösen Aspekten geprägt (ob orthodox, reformistisch oder säkular, Ashkenazi, Sepharde, männlich oder weiblich), konnte aber auch eine juristische Bedeutung haben, wenn wie in Österreich-Ungarn die staatsbürgerliche Registrierung über die Konfession erfolgte. Es waren die Nationalsozialisten, die aus einer Frage der Religion eine der Rasse machten. Brauchte es nach den Nürnberger Gesetzen drei jüdische Großeltern, um Jude zu sein, wobei nach dem Recht der Nationalsozialisten die väterliche Linie relevant war, zählt nach jüdischer Abstammungslehre die Linie von der Mutter sowie ein praktizierter Glaube. Sprechen die Einen, die individuelle Aspekte eher negieren, von einer jüdischen als einer literarischkünstlerischen, kollektiven Identität, verweigern Andere dieses Konzept einer kulturellen jüdischen Identität als eine von Hitler kreierte Kategorie mit dem Argument, dass es zwischen Nicht-Juden und nicht-religiösen Juden keine Unterschiede gäbe. In der zeitgenössischen Forschung werden nun zunehmend statt kultureller Inhalte die Grenzen zwischen Gruppen als bestimmender Faktor von Gruppenidentität betont bzw. der Blick statt auf Assimilation auf gegenseitige Beeinflussungen gerichtet. Fragen, die sich gegenwärtig stellen, gelten somit nicht mehr der Definition, sondern: Wer bezeichnet, was wird bezeichnet und welche Realität entsteht dadurch? Deshalb interessiert in diesem Buch nicht, nach welchen Kriterien Wittgenstein (k)ein Jude war, sondern inwieweit seine Bemerkungen zum Jüdischen eine
men, in: Preface, in: Ernst Gombrich, Lecture 17.11.96. The Visual Arts in Vienna circa 1900 – Reflections on the Jewish Catastrophe, London 1997, 26 u. 5. 41 Stern, Was Wittgenstein a Jew?, 237f. 42 Vgl. Péter Hanák, Problems of Jewish Assimilation in Austria-Hungary in the Nineteenth and Twentieth centuries, in: Eric Hobsbawm, The Power of the Past, Cambridge 1984, 235–250, 243.
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Rolle für seine autobiographischen Reflexionen gespielt haben. Der Blick richtet sich damit auf den familiären Alltag und auf familiäre Selbstzuschreibungen, und damit auch auf andere Begrifflichkeiten, die für Wittgensteins Auseinandersetzung mit sich selbst wichtig waren. 2.4 Der ganzheitliche Blick: Biographie, Philosophie und Edition Erst in den 1990er Jahren wurde der ‚private Wittgenstein‘ auch vonseiten der Philosophen umfassender entdeckt. Der Biographietrend verlief seit der ersten Veröffentlichung der so genannten Geheimen Tagebücher, der (Familien-)Briefe und Memoiren lange nahezu ganz von der Philosophie abgekoppelt. Diese Trennung zwischen Ludwig Wittgensteins Werk und seinem Leben wurde jedoch zunehmend hinterfragt: zuerst recht singulär durch die Veröffentlichung der Vermischten Bemerkungen, später und mit Folgewirkungen durch die Veröffentlichung von Wittgensteins Wien und Wittgensteins Tagebüchern aus den 1930er Jahren und die zwei großen Wittgenstein-Biographien. So kam es über das Paradigma der Biographie nun zu einer wechselseitigen Beeinflussung der Diskussionen zwischen Philosophie, Biographieforschung und Editionswissenschaft. Ein disziplinenübergreifender Austausch, der das Potenzial hat, Forschungsdogmen zu erkennen, begann sich zu entfalten. Spricht man gemeinhin sogar von einem zeitgenössischen Dilemma eines überbordenden biographischen Interesses, hinter welchem die Werke selbst oft zu verschwinden drohen, ist das Besondere im Fall Wittgenstein: Hier inspirieren sich seit den 1990er Jahren die Interessen an Biographie und Philosophie gegenseitig. Es ist ein Zugeständnis an den vielfach geforderten Theorien- und Methodenpluralismus und an die Dialogkultur, wenn sich nun auch die Philosophie für kulturwissenschaftliche Perspektiven und ihre interdisziplinäre Methodik öffnet. Sichtbar wird das in der Diskussion zwischen denen, die die Biographie als belanglos für das Verstehen des Werkes von Wittgenstein erachten, und denjenigen, die die Biographie als Voraussetzung jeglichen Verständnisses betrachten. James Conant nennt diese zwei Strömungen innerhalb der Philosophie die reduktionistische, welche die Biographie als Schlüssel für das Werk sehe, und die mehrheitsfähige kompartmentalistische, nach der das Verstehen des Lebens irrelevant sei für das Verstehen des Werkes, da es die wissenschaftliche Geistesleistung zu einem Ergebnis von ‚external features‘ simplifiziere.43 Diese Dialektik hat sich in der zeitgenössischen Philosophie jedoch in eine Vielzahl unterschiedlichster Beziehungsformen zwischen beiden Polen aufgelöst. Dennoch zeigt das Wiederaufleben eines alten philosophischen Streits unter neuen Vorzeichen, wie sehr die Biographieforschung in den letzten Jahr-
43 Vgl. James Conant, Philosophy and Biography, in: Klagge, Philosophy & Biography, 16–50, 17f.
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zehnten an Qualität, Anerkennung und integrativer Bedeutung gewonnen hat. Zugleich wurde diese Debatte mit beeinflusst von neuen Erkenntnissen aus philologischen Untersuchungen des Werkes (seitens Alois Pichler, Georg H. v. Wright, Elizabeth Anscombe) und aus der Editionswissenschaft (Michael Nedo). Die umfassendere Wahrnehmung der Person Wittgenstein führte zu einem kritischeren Blick auf die bisherigen Werk-Editionen und die Editionspraktiken, die dem Willen des Autors selbst bis dahin wenig Rechnung getragen hatten. Für die erste Werkausgabe wurden vereinzelte Texte aus dem Gesamtbestand herausgenommen, betitelt und gesondert publiziert. Damit wurden seine philosophischen Schriften unter Kategorien erfasst und mit thematischen Titeln publiziert, die er selbst nie intendiert hatte. Wittgenstein verzichtete großteils auf Titel bzw. Bezeichnungen als eine Form des „editing“ (Ralph Jewell).44 Einen Titel zu geben, bedeutet ganz bewusst einen Rahmen für die Lesart vorzugeben. So sind alle kursierenden Titel, mit Ausnahme der beiden neutralen Titel der LogischPhilosophischen Abhandlung und der Philosophischen Untersuchungen, keine von Wittgenstein gewählten, sondern die der Editoren. Dies entspricht einer gewissen Rezeptionsvorgabe, die Wittgenstein beispielsweise auch ganz bewusst unterläuft, wenn er seine Vorlesungsdiktate nach der Umschlagfarbe der Hefte benennt: Brown Book, Yellow Book und Blue Book. Die Diskussion über die Verantwortung von Nachlassverwaltern, die Notwendigkeit, Eingriffe kenntlich zu machen, Methoden und Interessen zu offenbaren, ist im Anschluss an jede neu publizierte Werkedition geführt worden. Doch erst die zunehmenden Erkenntnisse aus seiner Biographie und der Philologie in den 1990er Jahren haben Wittgensteins spezifischen Denkund Schreibstil erkennen lassen: in der Sicht des Werkes als Gesamtwerk, wo jede Bemerkung nur in der „Summe ihrer Kontexte“ (Michael Nedo) zu verstehen sei. Dies signalisiert schon einen fast religiösen Anspruch der Totalität, der ebenso kaum einzulösen ist. Dennoch führte die Erkenntnis, dass Wittgensteins persönliche Notizen Teil der Manuskripte sind, und es demnach keine Teilung in Wesentliches und Unwesentliches, Privates und Öffentliches gibt, zu Editionen des Gesamtnachlasses.45 Hier soll nicht über
44 Ralph Jewell, Einleitung zum Workshop The authentic in Wittgenstein’s philosophy, am Wittgenstein Archiv der Universität Bergen, 14.10.2003. Vgl. auch Ders., Some Remarks about Authenticity, in: Wittgenstein-Jahrbuch, 3, 2007. 45 Diesem Gedanken, in demokratischer Weise Zugang zum Gesamtnachlass zu gewähren, folgt die Wiener Ausgabe (hg. v. Michael Nedo, für den Zeitraum 1928–35), ebenso die Bergen Electronic Edition (Initiative G.H. v. Wrights, hg. v. Alois Pichler). Beide machen die komplizierte Textgenese transparent: Von den in großen Kontorbüchern handschriftlich festgehaltenen Gedanken, zur diktierten maschinschriftlichen Synopse (Materialsammlung), von der daraus hergestellten Zettelsammlung aus ausgeschnittenen und neu gruppierten Bemerkungen, hin zu darauf basierenden neuen Manu- und Typoskripten. In der WA machen Konkordanz und Registerbände mit verknüpfender Nummerierung und
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Abbildung 2: Text- und Werkgenese bei Wittgenstein, Schema der ‚Wiener Ausgabe‘ (Wittgenstein Archive, Cambridge)
‚richtige‘ und ‚falsche‘ Edierweisen diskutiert werden, weil es gewiss verschiedene legitime Arten gibt, Wittgenstein zu edieren. Es geht viel mehr darum, die jeweiligen Interessen zu eruieren, die an die unterschiedlichen
einer spezifischen Typographie die diversen Arbeitsschritte kenntlich, in der BEE sind diverse Textschichten elektronisch einsehbar.
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Methoden geknüpft sind. Die große Suhrkamp-Werkausgabe, so wird von mehreren Seiten vermutet, hatte zum Ziel, Kohärenz und Linearität in den Texten Wittgensteins aufzuzeigen, „aus dem Nachlass jene Texte herauszukonstruieren, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich eine gewisse Text- und Editionsspanne aus der Sicht eines Endproduktes zusammenfassen“.46 Dabei seien die „Aufräumarbeiten im Manuskript“ gegen die charakteristische Methodik Wittgensteins gerichtet: „Im Unterschied zu Karrierephilosophen hielt er sich in seinen Überlegungen niemals strikt an ein Thema. Die Souveränität bestand genau darin, was seine Epigonen ‚ausscheiden‘, mit dem Rest interferieren zu lassen“, schreibt Herbert Hrachovec.47 Damit autorisierten die Editoren nur eine gewisse Art, über Wittgenstein zu sprechen, statt ihn selbst zu hören, so lautet die Kritik. Eine Auswahl zu treffen, beinhaltet immer die Problematik der Kriterien, sowohl bei den verschiedenen Editionen von Wittgensteins philosophischem Werk als auch bei der Herausgabe seiner persönlichen Schriften. Denn jeder edierte Text schafft eine neue Interpretationsschicht, die der Herausgeber durch die Bearbeitung geschaffen hat, aber auch durch die Wahl des verwendeten Mediums. Monika Seekircher hat am Beispiel des Briefwechsels auf die unterschiedliche Bedeutung verwiesen, ob für die Herausgabe einer Briefedition eine Buch- oder Computeredition gewählt werde. Diese Entscheidung beeinflusse wesentlich die Wahrnehmung der Inhalte. So suggeriere das Durchblättern von Briefen mehr das Gefühl von Authentizität als das ‚Durchklicken mit der Maus‘. Die Botschaft sei abhängig davon, in welche Zusammenhänge sie gestellt werde: ob als integrierter Bestandteil des elektronischen Gesamtbriefwechsels oder als abgeschlossenes Ganzes in Buchform.48 Diese Überlegungen gelten im selben Maße für die Edition der Manuskripte und der Tagebücher, da auch hier die Edierweisen den Inhalt und die Rezeption prägen. ‚Klickt‘ man sich beispielsweise durch die elektronische Edition von Wittgensteins Manuskripten, die Bergen Electronic Edition (BEE), zeigen sich die Wiederholungen von Satzfragmenten und ihre Reformulierung in unterschiedlichen Zusammenhängen, das heißt die Bearbeitungsschritte werden sichtbar, und damit tritt unmittelbar eine gewisse Distanzierung zu den Texten ein. Die bei den Wittgenstein-Editionen lange vorherrschende Praxis, zwischen Privatem und Philosophischem zu trennen, scheint das Resultat einer intellektuellen Haltung gewesen zu sein, die für die Trennung von Biographie und Philosophie einsteht. Sind aber die privaten Argumente wirklich
46 Alois Pichler, Zum Big Typeskript, 2000, http://wab.aksis.uib.no/alois/pg.htm (1.1.2011). Mit Bezug auf D.Z. Phillips, On editing Wittgenstein, in: Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations, ed. D.Z. Phillips, Oxford 1997, 55–61. 47 Herbert Hrachovec, Verläßliche Verlassenschaft, http://hrachovec.philo.at/witted/ witted.html (1.1.2011). 48 Monika Seekircher, Der Wittgenstein-Gesamtbriefwechsel in maschinenlesbarer Form, in: Werner M. Bauer [u.a.] (Hg.), Ich an Dich, Edition, Rezeption und Kommentierung von Briefen, Innsbruck 2001, 189–204, 202.
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private Probleme oder nicht vielmehr, wie D.Z. Phillips meint, eigentlich philosophische Probleme, „referring to difficulties in doing philosophy“, eine Art Schritt zurück aus der Philosophie und Reflexion über das Philosophieren selbst?49 Die Zusammenstellung von persönlichen Bemerkungen Wittgensteins über Kunst, Kultur und Politik, die so genannten Vermischten Bemerkungen, wurden öfters wegen der willkürlichen Kriterien der Auswahl und der Trennung von Werk und Leben kritisiert. Béla Szabados schreibt: „Such a separation is likely to blind us to the philosophical aspects of the personal and the personal aspects of the philosophical.“50 Auch über ihren Wert gibt es geteilte Meinungen. Manche Philosophen halten diese persönlichen Bemerkungen nur für bedingt wertvoll, da sie lediglich den Zeitgeist widerspiegeln im Tenor von Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus und falschen Hoffnungen in den Bolschewismus.51 Andere hingegen sehen sie als wichtige autobiographische Quelle, wie deren Herausgeber Georg Henrik v. Wright: „Although by no means an autobiography, it tells us more than any other written source about Wittgenstein’s intellectual character and view of life, and also about how he regarded his relationship with his times.“52 Er zeigt sich hier interessiert an einer Verortung Wittgensteins. Im Vorwort gibt von Wright zwar zu, dass diese vorgenommene Unterteilung in persönliche und philosophische Bemerkungen nicht ganz gelingen kann, und betont deshalb zugleich, wie sehr diese Bemerkungen vor dem Hintergrund von Wittgensteins Philosophie zu lesen seien. Diese Debatte reflektiert Ray Monk mit seiner Biographie Ludwig Wittgenstein, The Duty of Genius, wenn er, wie er selbst schreibt, die bis in die 1980er Jahre separierten Interessen an Wittgenstein – sein Leben, kulturelle, ethische und religiöse Themen und die Philosophie – aufeinander bezog, um, angelehnt an Wittgensteins Spätphilosophie, zu beschreiben und nicht zu erklären. Denn auch der Prozess des Schreibens einer Biographie sei eine „non theoretical activity“: Einsichten würden gezeigt, nicht benannt werden. Deshalb nennt Monk die Biographie auch „a typical Wittgensteinian genre“, denn sein Leben ohne das Werk anzuschauen, sei ebenso verkehrt wie vice versa.53 Gerade weil Wittgenstein stets besorgt war, dass der Geist, in dem er seine Arbeit geschrieben hatte, missverstanden werde oder unverstanden bliebe, macht es nach Monk so notwendig, seine Biographie mit einzubeziehen – insbesondere, weil Wittgenstein selbst in seinen Bemerkungen zum
49 D. Z. Phillips, Philosophy’s Cool Place, Ithaca-New York 1999, 46, zit. n. Conant, Philosophy and Biography, 25. 50 Béla Szabados, Autobiography and Philosophy: Variations on a Theme of Wittgenstein, in: Metaphilosophy 26, 1995, 63–80, 64. 51 Vgl. Hans-Johann Glock, Wittgenstein and Reason, in: Klagge, Biography & Philosophy, 195–220, 217. 52 G.H. v. Wright, Wittgenstein in Relation to his Times, in: Ders., Wittgenstein, Oxford 1982, 203–216, 203. 53 Monk, Philosophical Biography: The Very Idea, in: Klagge, Biography & Philosophy, 3–15, 5. Weniger transparent ist Monk bei manchen seiner Quellen, wie den indirekten Zitaten ohne Belegstellen.
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Tagebuch, ebenso wie in den verschiedenen Vorworten zu seinen Arbeiten, auf diese Zugangsweise hinweist. Monks Ansatz reflektiert damit nicht nur den stattgefundenen Rezeptionswandel vom sprachanalytischen hin zum ethischen und ästhetischen Wittgenstein, sondern gibt dem Leser darüber hinaus noch das „verführerische“ Gefühl, Wittgenstein durch diese Harmonisierung von Werk und Leben besser zu verstehen.54 Eine Kohärenz zwischen Wittgensteins Leben und Werk zu sehen, oder sehen zu wollen, das hat in der Philosophie einen deutlichen Perspektivenwandel eingeleitet. Das hat mitunter damit zu tun, dass sich biographische Quellen, unterstützt von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten, zusehends im Feld der Philosophie ihre Anerkennung verschafften und sogar einen Rezeptionswandel ausgelöst haben. Es gab jedoch auch inhaltliche Voraussetzungen, die immer mehr Philosophen dazu veranlassten, Leben und Werk bei Wittgenstein enger zusammen zu denken. 2.5 Die Suche nach einer Kohärenz von Werk und Leben James Conant sieht aus philosophischer Perspektive im Falle Wittgenstein durchaus Sinn darin, Leben und Werk gemeinsam zu betrachten, denn dieser sei kein moderner Philosoph, der eine „well-reasoned philosophical theory“ suchte, sondern einer, der in der sokratischen Tradition der antiken Philosophie stand, „philosophy as a way of life“ zu sehen.55 Wie Wilhelm Vossenkuhl betont, gehe es auch bei Wittgensteins Sprachkritik nicht um „die Anwendung philosophischer Einsichten im Leben“, sondern seine „Kritik der Sprache“ diene dazu, „Klarheit und Übersicht im Leben zu gewinnen“.56 seine Erforschung der Grundlagen (der Grammatik, des Wortgebrauchs, der Mathematik, der Logik) gelte deshalb nicht einer „introspektive[n] Erforschung des eigenen Selbst, sondern dessen Gestaltung“ durch Wörter. Auch Rolf Wiggershaus sieht Wittgensteins Philosophieren als „reflektierende Lebenshaltung“.57 Dementsprechend, so Richard Shusterman, habe dieser keine Denkschule begründen wollen, kritisierte er doch die Philosophie als Institution sowie philosophische Kongresse, Journale oder die Epistemologie in dem Glauben, dass die Philosophie eine existenziellere Aufgabe habe: „to help us lead better lives by bettering ourselves through self-knowledge, self-criticism, and self-mastery“.58 Er weigerte sich auch, einer Denkschule
54 Alfred Nordmann, The Sleepy Philosopher: How to Read Wittgenstein’s Diaries, in: Klagge, Philosophy & Biography, 156–175, 157. 55 Conant, Philosophy and Biography, 21f. 56 Wilhelm Vossenkuhl, Ludwig Wittgenstein, in: Einsichten, Forschungen an der Ludwig-Maximilian-Universität München, http://www.lrz-muenchen.de/~einsich ten/1995_2/artikel1995_2_06.html (Aug. 2004). 57 Rolf Wiggershaus, Wittgenstein und Adorno. Zwei Spielarten modernen Philosophierens, Essen 2000. 58 Richard Shusterman, The Philosophical Life: Wittgenstein Between Dewey and Foucault, in: Kjell S. Johannessen/Tore Nordenstam (Ed.), Wittgenstein and the Philosophy of Culture, Wien 1996, 261–283, 266.
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beizutreten (wie dem Wiener Kreis), das aber nicht aus Gründen eines, wie es mit Thomas Macho zu betonen ist, „misanthropischen Solipsismus“, sondern aus einer „ethischen Konsequenz der ‚Geniereligion‘ […] der Forderung nach einer tief empfundenen Einheit von Leben und Lehre“.59 Darin dürften auch die Gründe liegen, dass er ein anfänglich eher schwieriges Mitglied der Cambridger Studentengruppe der Apostles war und auch in anderen Kreisen wie Bloomsbury für seinen ethischen Rigorismus bekannt war.60 Es sei, so behauptet Conant, gerade dieses Ringen um eine durchgehende ethische Haltung bzw. um ein ethisch-moralisches Anliegen in Leben und Philosophie, welches an Wittgenstein so fasziniere. Diese Übereinstimmung von Werk und Leben als zentrales Moment seiner Biographie wurde bereits von seinen Zeitgenossen und Freunden wahrgenommen. Wittgensteins Freund Ludwig Hänsel betont in seinen Erinnerungen an Wittgenstein in den 1950er Jahren dessen Nähe von „Leben und Schreiben“, den „Akt des Verzichtes“, der sich bei Erbe und Professur wiederholt, und spricht von der „großen Spannung“ zwischen seinem „Lebensernst“ (Religiosität) und seinem „analytischen Denken“ sowie einem engen Zusammenhang zwischen beidem, trotz der strengen Grenze von Sagbarem und Unsagbarem (HänselBr, 245 u. 319). Wittgensteins Schüler Georg H. v. Wright beschrieb, wie die Suche nach Übereinstimmung von Leben und Werk in dessen Philosophie begründet liege. So begreife Wittgenstein die Philosophie als Lebenspraxis und nicht als theoretische Aktivität. Er sehe jeden Einzelnen im sozialen Zusammenhang, den Lebensformen,61 verankert, welche ihren Ausdruck in Sprachspielen finden, den Grundlagen des Denkens und Fühlens.62 Sprache war für Wittgenstein nicht nur ‚Benennung‘, sondern auch ‚Handeln‘, so schreibt er selbst:
59 Thomas Macho (Hg.), Ludwig Wittgenstein, München 2001, 22. 60 Vgl. Richard Deacon, The Cambridge Apostles. A History of Cambridge University’s Elite Intellectual Secret Society, London 1985, 101. 61 Vgl. Joachim Schulte, Die Hinnahme von Sprachspielen und Lebensformen, in: Wilhelm Lütterfelds/Andreas Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt/M. 1999, 156–170, 157. Den Begriff Lebensform verwendet Wittgenstein zumeist im Zusammenhang mit Sprachspiel, doch nicht als Synonym. Beide unterstreichen jeweils das Aktive und Praxisbezogene. Lebensform als Begriff kommt in den Philosophischen Untersuchungen nur fünf Mal vor, im übrigen Werk auch selten. Erscheint er manchen als vom kulturwissenschaftlichen Trend der Gegenwart inszeniert, ist er dennoch ein Grundbegriff, so Schulte, weil er an exponierten Stellen verwendet werde, wo Kerngedanken präsentiert werden – darin ähnlich dem auch selten verwendeten, doch zentralen Begriff der Familienähnlichkeiten. Joachim Schulte, Die Hinnahme von Sprachspielen und Lebensformen, in: Wilhelm Lütterfelds/Andreas Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt/M. 1999, 156–170, 157. 62 Vgl. Georg Henrik von Wright, Eröffnungsvortrag zum II. Ludwig Wittgenstein Symposium Kirchberg 1977, Manuskript, 1.
58 | DAS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen. (PU, § 7)
Und an andrer Stelle heisst es: Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. (PU, § 23)
Die philosophischen Probleme haben demnach, so Wright, ihren Grund in Sprachverwirrungen (verursacht durch Sprachspiele), die auf Störungen in der Lebensform hindeuten. Ein Philosoph könne diese Störungen beschreiben und ihren Einfluss auf sein Denken verhindern, aber nur Veränderungen in der Lebensweise würden diese „Krankheiten der Zeit“ aufheben. In diesem Sinne sind die Philosophischen Untersuchungen oft als therapeutisches Buch beschrieben worden, weil Wittgenstein selbst darin gesagt hatte: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit.“ (1.5.1945) Die Heilung erfolge, indem die Frage verschwinde. Deshalb habe er eine Veränderung seiner Lebensweise angestrebt, welche die quälenden philosophischen Fragen überflüssig machen würde. Ein anderer Grund, der dafür spricht, Leben und Werk bei Wittgenstein zusammen zu betrachten, liegt in seiner eigenen Beschreibung der philosophischen Tätigkeit als eine „Arbeit an sich selbst“. Demnach gilt es, das Leben zu verändern, damit sich das Problematische von selbst verliere, wie es in den Manuskripten heißt: Die Lösung des Problems, das Du im Leben siehst, ist eine Art zu leben, die das Problemhafte zum Verschwinden bringt. Daß das Leben problematisch ist, heißt, daß Dein Leben nicht in die Form des Lebens paßt. Du mußt dann dein Leben verändern, und paßt es in die Form, dann verschwindet das Problematische. (27.8.1937, VB)
Diese Auffassung Wittgensteins von der Philosophie als Arbeit an sich selbst wurde schon von mehreren Seiten beschrieben. Das Schreiben sei für ihn ein Mittel zum Zweck gewesen, ein Medium der Selbstfindung und habe ihm „Halt und Sicherheit“ gegeben.63 Oft wurde es auch als ethische und insbesondere protestantische Haltung beschrieben: seine bemühte, fast schon verzweifelte Suche nach Klarheit über sich selbst und die Verdammung von Stolz und Eitelkeit. Diese Faszination am ethischen Ideal betonte nicht nur Ray Monks Biographie, sondern motivierte auch den Film von Derek Jarman Wittgenstein (1993), wie Terry Eagleton im Filmskript schreibt: „Wittgenstein suffered all his life from that curious mania known as Protestantism, in which nothing is random or contingent, everything a po-
63 Vgl. Alois Pichler, Wittgenstein und das Schreiben: Ansätze zu einem Schreiberporträt, Dipl. Germ. Univ. Innsbruck, 1997, 49–52.
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tential sign of salvation or damnation.“64 Im Hinblick auf das Ziel Anständigkeit und Echtheit habe er alles als ein Fehlverhalten oder als Verbesserung bewertet. Diese Zuschreibungen aus dem anglophonen Raum unterschlagen oft Wittgensteins römisch-katholische Erziehung und seine doch sehr komplexe Beziehung zur Religion. Denn er steht nicht nur in dieser protestantisch-calvinistischen Tradition, sondern bezieht sich neben der Luther-Bibel auch auf Augustinus, Tolstoi, Kierkegaard oder Schopenhauer.65 So waren ihm von der protestantischen „Ernsthaftigkeit“ seiner Großeltern, die er selbst nicht mehr gekannt hatte, der Selbstzwangcharakter des Protestantismus, seine Innerlichkeitssehnsucht und Verinnerlichung der Affektund Handlungskontrolle nicht fremd; dennoch prägte ihn auch ein gewisser katholischer ‚barock-österreichische‘ Habitus, was sichtbar wird in seinem Bedürfnis nach Geständnissen oder in seiner Rede über die Beichte. Übersteigerte Appelle zur Aufrichtigkeit finden sich in seinen Tagebüchern wie auch in den Briefen an die Geschwister wieder. So schreibt er seiner Schwester Helene Salzer: „Nenn’ mich einen Wahrheitssucher und ich will zufrieden sein.“66 Diese Suche nach der Wahrheit wurde oft als eine Suche Wittgensteins nach Klarheit über sich selbst und (auch die Philosophie) als eine Arbeit an sich selbst interpretiert.
3. D IE H ERAUSFORDERUNGEN B IOGRAPHIEFORSCHUNG
DER
Elisabeth Leinfellner hat darauf hingewiesen, dass diejenigen, die die Kohärenz von Leben und Philosophie bei Wittgenstein analysieren, davon ausgehen, dass sie damit ihr Verständnis von Wittgensteins Philosophie erweitern – sich jedoch nicht fragen, inwieweit sie damit das Verstehen auch einschränken.67 Ich möchte die Frage weiterführen, doch anders stellen, und fragen, inwiefern nicht gerade das Zusammendenken von Leben und Werk – ob als sokratisches Ideal oder der Philosophie als Arbeit an sich selbst – das auf einer Interpretation von Wittgensteins Biographie und somit auch auf seinen autobiographischen Texten beruht, nicht Gefahr läuft, seine autobiographischen Bemerkungen alleine im Hinblick auf sein Werk zu lesen, aber nicht
64 Terry Eagleton, Einleitung, in: Wittgenstein, The Terry Eagleton Script, The Derek Jarman Film, London 1993, 5–13, 8. 65 Sein Verhältnis zum Glauben gilt als „zwiespältig“, assoziiert mit „etwas Dunklem“ und dem Gefühl des Ausgeliefertseins an „Gott den gestrengen Richter“ (im Sinne Luthers und des Alten Testaments) wie auch mit der „Licht“Metapher, als ein Symbol u.a. für reine Geistigkeit. Vgl. u.a.: Ludwig Wittgenstein, Licht und Schatten, hg. v. Ilse Somavilla, Innsbruck 2004. 66 Zit. n. Ludwig Wittgenstein, Sein Leben in Bildern und Texten, hg. v. Michael Nedo/Michele Ranchetti, Frankfurt/M. 1983, 292. 67 Leinfellner, Review of Klagge, Wittgenstein, Biography & Philosophy, in: German Studies Review 27/1, 2004, 215–217.
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im Hinblick auf die Eigendynamik und den spezifischen Charakter autobiographischer Darstellungen im Spannungsfeld von Konstruktion, Repräsentation und Rezeption. Der philosophische und der oft so genannte protestantische Hintergrund von Wittgensteins ‚Arbeit an sich selbst‘ wurde schon von mehreren Autoren ausgeleuchtet – zu seiner Skepsis gegenüber dieser ‚Arbeit an sich selbst‘, wie generell gegenüber Fragen des Autobiographischen, wurde in der Forschung noch wenig gesagt. Auch scheint es Ähnlichkeiten zu geben zwischen seinem philosophischen und seinem autobiographischen Schreiben, insbesondere in Bezug auf Überlegungen zur Rolle des Autors (Autor-Intention) und zu den Bedingtheiten einer textlichen Struktur (wie Genre und Rhetorik). Wie Terry Eagleton betonte, hat Wittgenstein lange vor der Kulturtheorie gezeigt, dass das Ich ein soziales Konstrukt ist, dass die innersten Gefühle durch das gesellschaftliche Umfeld geprägt sind, weil dieses die Sprache bestimmt, mit der das Innere thematisiert wird. Er dekonstruierte damit beispielsweise den starken Glauben der Romantiker an eine Privatsprache wenn er „the public nature of our most apparently private terms“ betonte.68 War sich Wittgenstein also solcher sozialen Bedingheiten im Philosophieren äußerst bewusst, sieht Eagleton doch „an intriguingly disjunct“ zwischen ihm als Person und seiner Philosophie: „He lived a secret sexual life, but insisted that nothing was hidden; he appealed to the constitutive role of convention in all that we say and do, and had all the insouciant disdain for convention of the aristocrat. There is a split, here as elsewhere, between the man and the work, which the Freudianism he thought no more than a tolerably interesting fiction might do well to examine.“69 Hier weist Eagleton auf ein vernachlässigtes Element in der Wittgenstein-Forschung hin. Wittgensteins Rede von der Philosophie als einer aktiven Lebenspraxis und sein Streben nach Klarheit und Transparenz wurde so sehr in den Vordergrund gerückt, dass die Diskrepanzen zwischen seinen Ansprüchen und seinem Leben oftmals übersehen wurden. Beispielsweise wenn er alles durch Konventionen bestimmt sieht, andererseits ständig vor ihnen auf der Flucht ist, sich aber dann doch oft wieder selbstverständlich in jene einfügt. Auch McGuinness hat bereits in seiner Biographie, doch deutlicher erst in jüngster Zeit, auf diese Grauzone zwischen Realität und Wunschvorstellung hingewiesen. Im Vorwort von Wittgensteins frühe Jahre (1988) heißt es noch vorsichtig: „Ich bin überzeugt, daß Wittgenstein selbst sein Leben in dieser Weise sehen wollte. Was mir hier zu schildern obliegt, ist ebenso sehr die Persönlichkeit, die er schaffen wollte, wie die Persönlichkeit, die er wirklich war – sofern es überhaupt einen Unterschied gibt zwischen den beiden.“70 Ab den späten 1990er Jahren jedoch wird bei McGuinness zunehmend eine 68 Eagleton, The Script, 10f. Vgl. dazu Wittgensteins Privatsprachenargument, das diskutiert, ob es ein Subjekt ohne Bezug gibt – und dies verneint, weil jede private Erfahrung nur über ein äußeres Bezugssystem formulierbar sei. 69 Eagleton, The Script, 10f. 70 McGuinness, Wittgenstein, 19.
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differente Position manifest: „For, in fact, much that we have observed about Wittgenstein’s philosophical method – the insistence on honesty about just what was at stake in any action, the rejection of received opinions as to fact or value – were features of his life, too, or of what he wished his life to be.“71 Auch andere Autoren haben auf diese Grauzone und vor allem ihre Mitverursacher, die Biographen, verwiesen. Richard Freadman beispielsweise problematisierte den Modellcharakter von Ray Monks Biographie. Mit der Titel gebenden Thematisierung des Selbstkonzepts ‚Genie‘ und des leitenden ethischen Imperativs ‚Pflicht‘ – The Duty of Genius – gehe Monk zwar auf dominante Haltungen in Wittgensteins Leben ein und könne damit auch die Verknüpfung von Werk und Leben gut charakterisieren, dennoch überzeichne er seine „fast gewaltsame Notwendigkeit“ des Selbstverstehens durch eine zu enge Verknüpfung christlicher und philosophischer Elemente in Form des kategorischen Imperativs,72 kulminierend in einem der Biographie vorangestellten Motto von Otto Weininger aus Geschlecht und Charakter: „Logik und Ethik aber sind im Grunde ein und dasselbe – Pflicht gegen sich selbst.“ Damit werde nicht nur der konfessionelle Aspekt in Wittgensteins Leben überbetont, sondern die einseitige Weininger-Rezeption leite auch die überzogene Darstellung der Genialität als Postulat des kategorischen Imperativs. Nach Freadman versäumt es der Autor, die psychologischen und familiären Hintergründe, die kulturelle und historische Prägung dieser Moralvorstellung und dieses Pflichtbewusstseins zu berücksichtigen, und statt kausal zu argumentieren, zu fragen, warum er beispielsweise Weininger rezipiert habe. Damit fehlen auch der biographische Metakommentar und ein Verweis auf andere mögliche Erklärungen. Monk thematisiere zwar seinen biographischen Diskurs im Verhältnis zu Wittgensteins Philosophie, er parallelisiere jedoch unkritisch sein Schreiben mit dem Wittgensteins – wenn er dessen späten Gedanken folgt, das Verstehen basiere darin, Verbindungen zu sehen und nicht zu erklären – und antworte darauf mit einer positivistischen biographischen Technik, welche die Daten für sich sprechen lasse: Diese Methode, ‚Verbindungen zu sehen‘, ist bereits eine biographische Konvention seit dem 18. Jahrhundert und lässt nach Freadman dem Leser zu viel Spielraum, sie sei als Methode für eine Biographie zu verhalten und verrate zu wenig von den kausalen Zusammenhängen, mit denen der Biograph das Leben und das Werk verbindet; von dem Verhältnis zwischen dem Diskurs des Biographen und dem Diskurs des biographierten Subjekts; von der Art und Weise, wie der Biograph Einfluss nimmt auf die Reputation des Subjekts; von den narrativen Techniken, um das Objekt zum Sprechen zu bringen; von der Plotstruktur und dem Aufbau als Koordinaten für den Leser. Um Vorwürfen dieser Art zu entgehen, zieht sich Monk auf die Auto-
71 McGuinness, Approaches to Wittgenstein. Collected Papers, London-New York 2002, 5. 72 Zit. n. Freadman, Genius and the Dutiful Life, 335, 324, 329 u. 338.
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rität der verwendeten Zitate zurück, die er als den Herzschlag einer Biographie, als „life-blood of biography“,73 als für sich selber sprechend, als authentisch ohne Erklärungsbedarf bewertet. Hier zeigt er ein eigenwilliges Verhältnis zu dem Zitat als solchem, wenn er zwischen Auswahl und Interpretation unterscheidet – bedeutet doch alleine ihre Auswahl und Einbettung schon eine Form der Interpretation. Der Glaube, dass sich aus autobiographischen Materialien problemlos das Leben und die Gefühle des Autors rekonstruieren lassen, steht im Widerspruch zu den kritischen Kommentaren Wittgensteins über das autobiographische Schreiben an sich. Monks Argument, das eigene biographische Schreiben der Schreibweise von Wittgenstein anzunähern, suggeriert zwar Nähe und Intimität, kann aber erkenntnistheoretisch gesehen doch eine Falle sein. Eine weitere Problematik formuliert Monk indirekt selbst, wenn er schreibt, ihm sei es leichter gefallen, die Biographie über Wittgenstein als über Russell zu schreiben, weil jene aufgrund des reduzierten Lebensstils viel mehr Kohärenz aufweise. Mit David Stern wäre hier zu fragen, ob Monk nicht eine Kohärenz herbei schreibt, welche Wittgenstein selbst zwar lebenslang gesucht hatte, aber welche nur a posteriori zu finden ist.74 Auch Brian McGuinness versucht, wie es im Vorwort von Wittgensteins frühe Jahre heißt, Wittgensteins Leben „als ein verständliches Ganzes darzustellen, das als Einheit gesehen werden kann“. Er benennt aber zugleich auch seine eigene Rolle als Biograph und sein Schreibmotiv: „Durch die Arbeit […] konnte ich in gewisser Weise die Erfahrungen der Generation meiner Eltern nacherleben. Überdies hatte ich mir auch die interessanten Seiten einer besonders verfeinerten deutschen Kultur zu eigen zu machen.“75 Das erklärt den Fokus seiner Arbeit, Schwerpunkte und Argumentationsmuster. Seine Biographie ist insofern transparenter, als der Autor die Implikationen biographischen Schreibens nennt, zwar psychologisch spekuliert, doch gemäß der romanhaften Erzähltradition des 19. Jahrhunderts.76 Diese zeigt sich auch im Titel, der auf eine Entwicklungsgeschichte verweist und damit auf das Genre einer Familien-Biographie. Monk hingegen sieht seine Biographie als „philosophical biography“. Denn auch wenn das Gesamtwerk eine vom Autor unabhängige Geschichte habe, sei es wesentlich, was das Werk für den Autor bedeutet habe. Er sieht die Biographie als Fallstudie ohne generellen Anspruch und bezieht sich in seinem Verständnis direkt auf Wittgenstein selbst: „I think one of Wittgenstein’s great insights was to insist that, in biography, it is non-theoretical understanding that we are after.“ Ein gute Biographie sei unabhängig von
73 Øystein Hide, Biographie, Philosophie and the Only Thing that Really Matters: Life. Interview with Ray Monk, Samtiden 3/2003 (auf dt. in: Nicole L. Immler (Hg.), ‚The making of …‘ Genie: Wittgenstein & Mozart. Biographien, ihre Mythen und wem sie nützen, Innsbruck-Wien-Bozen 2009, 165–181). 74 Stern, Was Wittgenstein a Jew?, 249. 75 McGuinness, Wittgenstein, 11. 76 Vgl. Freadman, Genius and the Dutiful Life, 339.
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Theorie, welche lediglich die Suche sei nach einem „short cut, something that would make the slow accumulation of understanding provided by experience unnecessary“.77 Damit suggeriert Monk, dass es keinen Autor gebe. Doch wer hat die Masse an Zitaten zusammenmontiert? Diese Reflexion der Autorposition fehlt ebenso wie des Schreibprozesses, der legitimiert sein durch einen unbedingten Glaube an das Zitat als authentisches Medium soll. Monk sieht den großen Vorteil einer Biographie darin, dass es Leben ohne Theorie präsentiert, weil das Verstehen von sich selbst „fundamentally and importantly non-theoretical“ sei.78 Aus dieser Perspektive wird der biographie-theoretische Trend lediglich als „desire to ‚justify‘ biography“ deklassifiziert. Ein Anliegen dieses Buches ist hingegen zu zeigen, dass ein tieferes Verständnis von biographischen Zusammenhängen nur mit theoretischen Ansätzen möglich ist. Es ist unbestritten, dass jede Biographie zu einem gewissen Maße fiktionalisieren muss, um ein Bild zu erschaffen oder Bekanntes in einem neuen Licht zu betrachten, doch wäre statt deskriptiven Selbst- und Fremdzuschreibungen zu folgen, zu fragen, warum und wann etwas geschrieben wurde, wie die Erzählungen funktionieren, und welchen konstruktiven und illusorischen Gehalt sie haben. Einen biographietheoretischen Ansatz zu verwenden bedeutet somit weder einen „short-cut“ noch bloße Rechtfertigung, sondern ist eine Methode, ist eine Metaebene der Reflexion des Schreibens, der Perspektive und des Agierens des Autors – und damit die Chance auf einen ausgewogeneren Blick auf die Person Wittgenstein. Wie beschrieben, gibt es verschiedene Verweise auf eine übersehene Diskrepanz zwischen Wittgensteins Selbstdarstellung und seinem Leben sowie eine davon fehlgeleitete Rezeption. Welche Strategien wurden dagegen gesetzt? Elisabeth Leinfellner und Sascha Windholz plädierten im Rahmen ihrer Ausstellung Ludwig Wittgenstein. Wirklichkeit und Mythos (eröffnet 1997 zum 20. Int. Symposium in Kirchberg) dafür, diesen nicht als „österreichisches Gesamtkunstwerk“ darzustellen und sich nicht an der „so beliebten Einheit von Leben und Werk [zu] orientieren, welche ja, je nach Blickwinkel, entweder eine Banalität oder eine romantische Fiktion“ sei, denn beides diene dem Mythos Wittgenstein. Um jenen zu entkräften sei „weder eine Sammlung von Erinnerungsstücken noch ein biographisches Unternehmen im vertrauten Sinne [erlaubt], wo nach der Illusion der ‚Einheit von Werk und Leben‘ gefahndet wird“, sondern es seien vor allem Beteiligte und Zeitzeugen (Lehrer, Schüler, Freunde) heranzuziehen.79 Doch ließe sich fragen, ob ein Blick auf auto-/biographische Primärquellen und die Aussagen von Zeitzeugen helfen kann, gewissen Stilisierungen seitens Wittgenstein und seiner Biographen auf die Spur zu kommen? Auch ist zu fragen, ob dieser Glaube an Primärquellen berechtigt ist und welchen Prä-
77 Hide, Gespräch mit Monk, 5, 11f. 78 Ebenda, 11. 79 Vgl. Iven, Auf den Spuren Ludwig Wittgensteins in Niederösterreich, 146.
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missen diese Quellen wiederum unterliegen. Wo liegen die Grenzen zwischen Beschreibung und Inszenierung, zwischen Darstellung und Selbstdarstellung, zwischen ‚echter‘ Absicht und Täuschung bzw. Selbsttäuschung? Kann ein Mythos hinterfragt werden, ohne einen neuen zu formen? Wie in den skizzierten Debatten und Entwicklungen in der WittgensteinForschung zu sehen war, findet sich in den bisherigen Biographien ein bestimmter problemorientierter Subtext – Freud’sche Argumente bei Bartley, religiöse Konversion und ethischer Imperativ bei Monk, Topos Herkunft und bürgerliche Familie bei McGuinness, Wiener Moderne-Kontext bei Janik und Toulmin. Der Rezeptionsüberblick hat gezeigt, wie die Strategien der Biographen jeweils der Logik des Neuen verpflichtet waren. Während in Teilen der Wittgensteinliteratur der letzten zwei Jahrzehnte die ‚Einheit von Werk und Leben‘ im Zentrum eines neuen Verstehens stand und versucht wurde, ein kohärentes Bild zu präsentieren, betonen neue Perspektiven in der Biographieforschung die Widersprüche zwischen Wittgensteins philosophischen Zielen und seinem Leben, seinem Denken im Allgemeinen und seinem Denken über sich selbst. Gerade in diesem Zusammenhang liegt es nahe, seine autobiographischen Bemerkungen als Zeichen der Selbstreflexion und als Akt der Selbstdarstellung näher zu betrachten. Schreiben die Biographen jene Biographie, zu deren Verfassen er selbst nie fähig war? Sind sie zu sehr bestimmt von Vorgaben, welche Wittgenstein durch seine Schriften fixiert und suggeriert, statt die Selbstpräsentation auch als ‚Performance‘ zu sehen und zu zeigen? Wurde seine Selbstsicht zu sehr zu einer Außensicht? Nachfolgend werden einige Ambivalenzen und Paradoxien sichtbar gemacht, die in den kursierenden biographischen Erzählungen zum Teil verloren gegangen sind, so werden Brüche, Verwerfungen, Vieldeutigkeiten und Leerstellen in den auto-/biographischen Erzählungen markiert und die durch Biographiemodelle mit verursachte Komplexitätsreduktion gezeigt.
II. Ludwig Wittgensteins autobiographische Reflexionen
Nearly all my writings are private conversations with myself. Things that I say to myself tête-a-tête. (Ludwig Wittgenstein, CV, 77e)
„Sollte Sie diese Karte doch erreichen, so antworten Sie wenigstens gleich; etwas Autobiographie könnte dabei nicht schaden […]“, schreibt Adele Jolles an Ludwig Wittgenstein. (Geh.TB, 120f.) Dieser war in brieflicher Form stets sparsam mit seinen autobiographischen Vertraulichkeiten wie auch ohne Einsicht in die Notwendigkeit einer biographischen Skizze auf dem Umschlag des Tractatus logico-philosophicus. So schrieb er am 4. August 1922 dem Herausgeber C.K. Ogden: […] nur was meine Biographie angeht, verstehe ich nicht den Sinn. Wozu soll ein Kritiker wissen, wie alt ich bin? Soll es etwa heißen: Von einem jungen Burschen, der sein Buch bei solchem Höllenlärm geschrieben hat wie an der österreichischen Front, kann man eben nicht mehr erwarten? Wenn ich wüßte, daß der Kritiker an Astrologie glaubt, würde ich vorschlagen, Datum und Stunde meiner Geburt auf den Umschlag zu drucken, damit er mir das Horoskop stellen kann (26/IV 1889, 18 Uhr).1
Ebenso verleugnet er seine Herkunft während seiner Tätigkeit als Grundschullehrer. Als Wittgenstein im Jahr 1920 eine Lehrerstelle in Reichenau am Semmering ausschlägt, weil er nicht als Mitglied einer berühmten Familie erkannt werden will, schreibt ihm sein Bruder Paul: „Daß man nichts weder simulieren, noch dissimulieren kann, folglich auch eine feine Erziehung nicht, brauche ich doch Dir nicht zu sagen.“ (FamBr, 74) Dennoch weist Wittgenstein dem Biographischen in Bezug auf das Verstehen seiner Gedanken eine große Bedeutung zu, wenn er in seinem Tagebuch schreibt: „Die Denkbewegung in meinem Philosophieren müßte sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe und dem Verständnis meiner Lage
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Zit. n. Monk, Wittgenstein, 227.
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wiederfinden lassen.“ (7.11.1931, TB, 62) Damit werden die autobiographischen Bemerkungen in seinen Manuskripten, die Tagebücher und Briefe zu einer wichtigen Quelle.
1. W ITTGENSTEINS
AUTOBIOGRAPHISCHE
S CHRIFTEN
Wittgensteins Reflexionen über eine mögliche Autobiographie in den Manuskripten, in Briefen und in verschiedenen Gesprächen mit Freunden zeigen, dass ihm nicht nur der autobiographische Diskurs wichtig war, sondern dass er auch eine Autobiographie geplant hatte. Es bleibt jedoch bei autobiographischen Bemerkungen, die sich quer durch den Brief- und Manuskriptbestand ziehen. Jene werden im Folgenden zueinander sowie zu Wittgensteins Lebensumständen in Beziehung gesetzt. Dabei werden den verschiedenen Genres – philosophische Manuskripte, Tagebuch, Brief – jeweils eigene Kapitel gewidmet, um den Text als Quelle im Auge zu behalten und zu zeigen, wie die spezifischen Texttypen für die Biographieforschung Unterschiedliches leisten können. Denn das Medium der Darstellung ist eine beeinflussende und gestaltende Größe, da jede Darstellungsform ihre eigene Rhetorik hat. Deshalb geht es nicht in erster Linie um den Wahrheitsgehalt des dargestellten Sachverhalts, sondern um die Auswahl des Beschriebenen, die Art der Darstellung und der Bedeutungsgebung. 1.1 Autobiographie in den Manuskripten Wittgensteins persönliche Bemerkungen sind über den gesamten philosophischen Nachlass verstreut, mal ganze Seiten füllend, dann wieder steht nur ein Satz mitten unter philosophischen Betrachtungen. Wenn er sich auch oft gedanklich damit auseinandergesetzt hat, eine Autobiographie zu schreiben, außer einem fragmenthaften Abriss über zwei Seiten ist nichts erhalten. In einem Brief an Ludwig Hänsel heißt es im Jahr 1924: An der Psychologie arbeite ich nicht und werde ich wohl auch nie mehr arbeiten, denn das geht mir doch nicht vom Herzen. (Diese Arbeit ist mit meinem Wesen nicht mehr verkuppelt). An der Biographie schreibe ich; sie ist scheußlich, aber es ist die einzige Arbeit, die ich überhaupt machen kann und es ist gut, daß sie geschrieben wird – oder wäre zum mindesten gut, wenn es im rechten Geist geschähe. (HänselBr, 85f.)
Erst am 28. Dezember 1929 bezieht er sich erneut auf dieses Vorhaben, wenn er in den Philosophischen Betrachtungen schreibt: Etwas in mir spricht dafür meine Biographie zu schreiben und zwar möchte ich mein Leben einmal klar ausbreiten um es klar vor mir zu haben und auch für andere. Nicht so sehr, um darüber Gericht zu halten als um jedenfalls Klarheit und Wahrheit zu schaffen. (WA 2,156,1)
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Am ersten Juli 1931 heißt es in den Philosophischen Bemerkungen: In meiner Autobiographie müßte ich trachten, mein ganzes Leben wahrheitsgetreu darzustellen und zu verstehen. So darf meine unheldenhafte Natur nicht als ein bedauerliches Accidens erscheinen, sondern eben als eine wesentliche Eigenschaft (nicht eine Tugend). (WA 3,305,1)
Hier zeigt sich Wittgensteins unbedingtes Verlangen nach Klarheit über sich selbst. Jahre später schreibt er selbstkritisch, fast resignativ über das autobiographische Schreiben: Wer sich selbst nicht kennen will, der schreibt eine Art Betrug. Wer in sich selbst nicht hinuntersteigen will, weil es zu schmerzhaft ist, bleibt natürlich auch mit dem Schreiben an der Oberfläche. (17.2.1938, BEE)
Neben diesen einzelnen verstreuten Bemerkungen gibt es im Nachlass zwei Seiten mit skizzenhaften Notizen aus den 1920/30er Jahren. Das sind die bislang einzigen gefundenen autobiographischen Erinnerungen Wittgensteins. Sie beginnen mit analysierenden Schilderungen aus der Kindheit: „Ich war ein zärtliches aber ein charakterschwaches Kind soweit meine Erinnerung zurück reicht“, während er „schon sehr früh die größere Charakterstärke“ des Bruders Paul erkannt habe. Es folgt die Beschreibung eines Ereignisses, welches wenn nicht für meine Zukunft richtunggebend so doch für mein damaliges Wesen charakteristisch war. Wie es dazu kam weiß ich nicht ich sehe mich nur in einer Tür unseres Hauses stehen und denken: ‚Warum soll man die Wahrheit sagen, wenn es einem vorteilhafter ist zu lügen?‘ Ich sah nichts was dem entgegen stünde […] Ich war nicht boshaft und meine Lügen hatten den Zweck mich in den Augen anderer angenehm erscheinen zu lassen. Es waren lauter Lügen aus Feigheit.
Dem folgt der Nachsatz: „Ich will nicht gegen mich satirisch sein, sondern versuchen gerecht zu sein.“ Dann folgen Erinnerungen an das 10./11. Lebensjahr, fragmentarisch gereihte Schlagworte untereinander gesetzt, ohne Interpunktion: Ohrfeige Turnschule suchen arische Abstammung Rauferei Verhältnis zu Paul zu Gretl zu Rudi gute Erinnerung Wolfrum ich trachte ihn zu gewinnen und meinem Bruder abspenstig zu machen Verliebtheit. Paul Störenfried treuherziges Gesicht
68 | DAS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Unzucht Lateinische Aufgaben für Papa Selbstmordgedanken.
Der Entwurf endet etwas narrativer mit einem Blick auf seinen Schulaufenthalt in Linz, wo Wittgenstein drei Jahre verbracht hatte, von 1903 bis 1906: Realschulklasse erster Eindruck. ‚Mist‘. Verhältnis zu den Juden. Verhältnis zu Pepi. Verliebtheit + Hochmut. Hut herunterwerfen. Bruch mit Pepi. Leiden in der Klasse. Halbe Versöhnung + abermaliger Bruch mit P. Schein der Unschuld ich lasse mich aufklären. Religiosität, Beeinflussung durch G., Gespräch über die Beichte mit meinen Kollegen. Versöhnung mit P. + Zärtlichkeit Erfindungen Halbe Beichte gegen Mining in denen ich doch immer als ausgezeichneter Mensch zu scheinen weiß. Berlin2
Wittgenstein kritisiert in diesen autobiographischen Notizen seine eigene Charakterschwäche als Kind und zeigt sich selbstkritisch als jemand, der bereits in frühen Jahren äußerst reflexiv und bewusst zum eigenen Vorteil agierte. Ob die Lügen in der Kindheit oder später die ‚halbe Beichte‘ gegenüber der Schwester – beide unterlaufen seinen Anspruch der Aufrichtigkeit, assoziiert mit großer Charakterstärke, und zeigen seine Bemühungen als „ausgezeichneter Mensch“ zu scheinen. Hier vermischt sich nach McGuinness der Anspruch aristokratischer Höflichkeit mit dem protestantischen Anspruch der Aufrichtigkeit, ein Dilemma, welches die gesamte Familie und ihre Briefwechsel geprägt habe. Die Briefe sind gefüllt mit Eingeständnissen von Fehlern, mit Tadel oder Kritik an dem Gegenüber, harmonisiert durch die stets versicherte gegenseitige Zuneigung. Hier sieht McGuinness ein „allgemeines Bild der Verbitterung angesichts seiner Versuche zu verheimlichen, dass er nicht alle nach eigener Auffassung an ihn gestellten Erwartungen erfüllt hatte“.3 In dieser Deutung manifestiert sich die inzwischen gängige Interpretation, dass die Wittgensteins von einem gewissen protestantischen Erbe, und insbesondere Ludwig von einem Leiden an der eigenen Unzulänglichkeit, geprägt war. Doch in Wittgensteins autobiographischer Skizze formuliert sich, wie ich meine, nicht nur Selbstkritik und der rigorose Anspruch an sich selbst, sondern zugleich auch eine gewisse Distanz zum eigenen Verhalten in Form eines fast ironischen Kommentars, indem die Absurdität der autobiographischen Absicht gezeigt wird. Insbesondere der letzte Satz – „Halbe Beichte gegen Mining in denen ich doch immer als ausgezeichneter Mensch zu scheinen weiß“ – zeigt den illusori-
2 3
Zit. n. Brian McGuinness, Wittgenstein, 90f. McGuinness, Wittgenstein, 92.
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schen Charakter solcher Entblößungen, die wiederum nur Verhüllungen sind. Dieser ironische Charakter von Wittgensteins autobiographischen Reflexionen bleibt oft unbeachtet. Es bleibt bei diesen fragmenthaften Verweisen unklar, ob Wittgensteins Darstellung als Beginn einer Autobiographie, als Geständnis oder als Lebensschilderung für einen Psychiater gedacht war, wie Brian McGuinness spekuliert hat. Doch die Absicht sei „ohnehin die gleiche“; und zwar jene, sich um Wahrheit zu bemühen, doch zugleich auch anderen gefällig sein zu
Abbildung 3: Autobiographische Skizze von Ludwig Wittgenstein, ca. 1920– 1930 (Brian McGuinness)
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wollen. Zu dieser Ambivalenz, die jedes autobiographische Schreiben prägt, äußert sich Wittgenstein immer wieder explizit. So betreffen seine autobiographischen Bemerkungen, welche über die Manuskripte und Notizbücher verteilt sind, weniger seine persönlichen Erinnerungen als vielmehr das autobiographische Schreiben an sich. Dennoch hatte er scheinbar eine Autobiographie geplant, wenn er in den Philosophischen Bemerkungen am 28. Dezember 1929 schreibt: Die Wahrheit über sich selbst kann man in dem verschiedensten Geiste schreiben. Im anständigsten und unanständigsten. Und danach ist es sehr wünschenswert oder sehr unrichtig daß sie geschrieben werde. Ja es gibt unter den wahrhaften Autobiographien die man schreiben könnte alle Stufen vom Höchsten zum Niedersten. Ich zum Beispiel kann meine Biographie nicht höher schreiben als ich bin. Und durch die bloße Tatsache daß ich sie schreibe hebe ich mich nicht notwendigerweise ich kann mich dadurch sogar schmutziger machen als ich schon war. (WA 2,156,1)
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Was führte Wittgenstein dazu, zu dem Zeitpunkt der erstmaligen Erwähnung 35 Jahre alt, eine Autobiographie schreiben zu wollen? Und es dann doch nicht zu tun? Autobiographisches Erzählen ist ein besonderer Ausdruck der Suche nach Selbstverortung und Selbstdarstellung. Deshalb ist es erstaunlich, dass Wittgenstein, obwohl stets auf der Suche nach sich selbst (so zumindest der Tenor zahlloser Biographen), außer der genannten zweiseitigen autobiographischen Skizze nichts explizit Autobiographisches hinterlassen hat – bis auf bruchstückhafte Tagebücher. Was verrät ein Blick in diese tagebuchartigen Notizen? 1.2 Die Tagebücher 1914–16, 1930–32, 1936–37 Die tagebuchartigen Notizen aus dem Ersten Weltkrieg aus den Jahren 1914 bis 1916 sind Teil von Wittgensteins philosophischen Manuskripten (MS 101, 102 und 103), geschrieben auf deren Versoseiten. Die Tagebücher aus den 1930er Jahren, 1930–32 und 1936/37 sind hingegen ein eigenständiges Skript (MS 183), welches in den 1990er Jahren im Nachlass seines Freundes Rudolf Koder gefunden wurde. Welche Bedeutung hatten die Tagebücher für Wittgenstein? Wie Wittgenstein in den Philosophischen Betrachtungen schreibt, beginnt er 1906 als Student an der Technischen Hochschule Charlottenburg mit tagebuchartigen Aufzeichnungen. Als 17-Jährigem war ihm, wie er schreibt, das Tagebuch zuerst ein Bedürfnis, später ein Habitus; zuerst aus dem Bedürfnis heraus entstanden, sich jemandem anzuvertrauen und sich über persönliche Dinge klar zu werden, später auch geprägt durch die Liebe zu diesem literarischen Genre. Außer diesen rückblickenden Verweisen ist aus seinen zwei Jahren in Berlin dazu nichts erhalten. Die ersten erhaltenen tagebuchartigen Notizen sind jene aus den Jahren 1914–16. Da sie Teil seiner philosophischen Manuskripte sind, haben sie insofern einen besonderen historischen Wert, weil sie – zumindest auf den ersten Blick – keiner öffentlichen Meinung verpflichtet sind. Es geht hier jedoch nicht in erster Linie darum, den dokumentarischen Wert von Wittgensteins Tagebüchern zu untersuchen. Mit Philippe Lejeune argumentiert ist weniger der Inhalt des Tagebuchs, als vielmehr die soziale Praxis, ein Tagebuch zu führen, aufschlussreich, denn „[…] the keeping of a diary is primarily a social practice located in a specific context, the text being no more than the by-product of this practice“.4 Das Tagebuch nicht als Bilanz, sondern alltägliche Praxis und Ergebnis einer spezifischen Situation. So entspringen Schreibakte nicht immer nur einem besonderen Bewusstsein für Individualität, sondern werden häufig durch Krisen und Umfelder evoziert. Das Niederschreiben der jeweiligen Sicht auf sich selbst ist aber auch eine Frage der Erziehung, eine bildungsbürgerliche Tradition, die zu einer internalisierten Form der Selbst-
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Zit. n. Rachael Langford/Russell West (Ed.), Marginal Voices, Marginal Forms: Diaries in European Literature and History, Amsterdam-Atlanta/Ga. 1999, 20.
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reflexion anhält. Auch die Geschwister Hermine und Margarete Wittgenstein griffen zu dieser Methode. Wittgensteins Tagebücher können als Bestandteil der Manuskripte als biographisch motivierte Reflexionen über das Philosophieren betrachtet werden, sind aber auch charakterisiert durch Selbstanalysen, Gedanken über Gott und Glauben, Sünde und Sinn. Ein Tagebuch zu schreiben war für ihn ein Weg, sich selbst zu verstehen und mit sich selbst ins Reine zu kommen, wie er es in den Philosophischen Betrachtungen formuliert: Ich muß aus meinem Tagebuch, wenn es in Ordnung sein soll quasi eben ins Freie – in das Leben – treten und weder wie aus einem Kellerloch ans Licht steigen, noch wie von einem höheren Ort wieder auf die Erde herunterspringen müssen. (1.9.1929, WA 2,45,1)
Wittgenstein beschreibt dort auch, wie er dazu kam, ein Tagebuch zu führen: Es ist merkwürdig, daß ich seit so viel Jahren fast nie mehr das Bedürfnis empfunden habe, Tagebuchaufzeichnungen zu machen. In der allerersten Zeit in Berlin als ich damit anfing auf Zetteln Gedanken über mich aufzuschreiben, da war es ein Bedürfnis. Es war ein für mich wichtiger Schritt. Später entsprang es zum Teil dem Nachahmungstrieb (ich hatte Kellers Tagebücher gelesen) zum Teil dem Bedürfnis doch etwas von mir niederzulegen. Es war also zum Großteil Eitelkeit. Zum Teil freilich auch wieder der Ersatz für einen Menschen dem ich mich anvertrauen konnte. Später mischte ich dazu die Nachahmung der Pepysschen Tagebücher. Freilich ist es, wie immer, schwer hier gerecht zu sein, denn es waren Natürliches und eitle Bestrebungen stark vermischt. (1.9.1929, WA 2,44,7)
Doch was Wittgenstein hier auf eine „eitle“ Praxis reduziert hat, hat auch gesellschaftliche Hintergründe. Erster Weltkrieg Die Bedeutung von Wittgensteins Erfahrungen im Ersten Weltkrieg für den Gehalt und die Gestalt seiner Tagebücher hebt Regine Munz hervor. Sie setzte Wittgensteins Feldpost, seine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg und Äußerungen im Tractatus, der zum großen Teil im Krieg geschrieben wurde, miteinander in Beziehung. Wie Wittgenstein seine Kriegserlebnisse in den Briefen und im Tagebuch verarbeitet, zeigt nach Munz ein Brief an seine Schwester Hermine vom 12. April 1917: Ich glaube wohl nicht daß das Umsichgreifen des Krieges den Grund hat den Du angibst. Hier handelt es sich – glaube ich – um einen vollständigen Sieg des Materialismus und den Untergang jedes Empfindens für Gut und Böse. […] Von mir kann ich nichts sagen. Ich lebe noch immer. (FamBr, 38)
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Die tatsächlichen Kriegserfahrungen werden verschwiegen, verharmlost, poetisiert oder in Phrasen verpackt – eine „innere Zensur“, die charakteristisch sei für Feldpostbriefe und nach Munz „der Auslöschung des Kriegsgedächtnisses auf seine Weise Vorschub“ leistete.5 Die Schwester erkennt jedoch diese Verharmlosung und schreibt: Mein Herzenslukas. Für Deinen lieben Brief tausend Dank, aber es tut mir leid dass Du von Dir nichts sagen kannst, erstens, weil ich daraus sehe, dass Alles nicht in Ordnung ist und dann weil ich mir nicht einmal das Unangenehme dadurch klar machen kann, sondern nur Unbestimmtes ahne. Könnte ich Dich doch nur sprechen, ich wäre gewiss wieder erschrocken wie sich die Kluft zwischen Dir und allen anderen Menschen die ich kenne verbreitert hat, aber ich wüsste wenigstens woran ich bin. (28.4.1917, FamBr, 38)
Im Gegensatz zu seiner äußeren Wahrnehmung als tapferer Soldat, materialisiert in einigen Orden oder betont beiläufigen Bemerkungen über den Krieg, zeigen sich Wittgensteins existenzielle Krisen nur in den Geheimen Tagebüchern: gefüllt mit düsterer Todessehnsucht und Todesangst, Klagen über religiöse und moralische Unzulänglichkeit, Anrufungen Gottes, als er als Artilleriebeobachter an der Front steht. Über die direkten Kriegserfahrungen herrscht Schweigen. Dafür ist nach Munz „nicht alleine sprachloses Entsetzen, die Angst vor der Zensur oder eine etwaige Rücksichtnahme auf die Angehörigen verantwortlich“, da diese auch in den Tagebüchern nie erwähnt werden, sondern „Tagebuchnotizen und Feldpostbriefe erscheinen vielmehr als ein Entlastungsdiskurs, der gerade nicht den Zweck darin hat, den Krieg zu beschreiben, sondern darin, eine Wirklichkeit, die wohl auf direktem Weg nicht verarbeitet werden konnte, überhaupt aushalten zu können“.6 Denn als ein Hauptproblem des Soldaten im Krieg galt die Bewahrung subjektiver Wirklichkeit im entpersonalisierten Massenkrieg an der Front. Da war es wichtig, neben dem äußeren ein inneres Feindbild zu haben: „Nicht mehr nur das Fremde, vorgeblich Feindliche wird kategorisiert, um eigene Identität durch Abgrenzung im Kampf herzustellen und zu stabilisieren, sondern auch die individuelle psychische Disposition des Kombattanten.“7 Gerade diese psychosoziale Verfassung ist in Wittgensteins Tagebüchern allgegenwärtig sowie das innere Feindbild, das unmoralische, ungläubige und lasterhafte ‚andere Ich‘.
5
6 7
Regine Munz, „Von mir kann ich nichts sagen. Ich lebe noch immer.“ – Ludwig Wittgensteins Schreiben im Ersten Weltkrieg, in: Ulrich Arnswald/Anja Weiberg (Hg.), Der Denker als Seiltänzer. Ludwig Wittgenstein über Religion, Mystik und Ethik, Düsseldorf 2001, 157–178, 176. Munz, „Von mir kann ich nichts sagen. Ich lebe noch immer“, 164. Bernd Ulrich, Kampfmotivationen und Mobilisierungsstrategien. Das Beispiel Erster Weltkrieg, in: Heinrich v. Stietencron/Jörg Rüpke (Hg.), Töten im Krieg, Freiburg-München 1995, 399–419, zit. n. ebenda, 165.
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Generell bedeutete der Erste Weltkrieg und insbesondere das Jahr 1918 einen kulturellen, ökonomischen und nationalen Zusammenbruch, der die meisten Lebensbiographien stark geprägt hat. Indem die Vorkriegszeit in Distanz rückte, ging auch ein Stück Identität verloren und der Dualismus Individuum/Kollektiv wurde die „spezifische Mythologie“ eines neuen Zeitalters, in dem sich jeder Einzelne in diesem Spannungsfeld – aktiv gestaltendes Individuum versus passiv geleitete Massenbiographie – deutete, schreibt Peter Sloterdijk über die Weimarer Zeit.8 Überlagert war dieser Dualismus noch von einer Sinnstiftung durch ein Symbol oder eine Idee: Denn die Erfahrung von einem nicht erklärbaren Krieg zwang dazu, eine Sinnhaftigkeit zu konstruieren aus Feindbildern und Ideologisierungen als einer Form psychischer Abwehrhaltung. So bedeutete der Kampf für oder gegen etwas oft die Aufhebung eines Sinndefizits. So hat Siegfried Kracauer das Aufleben auto-/biographischen Schreibens nach dem Ersten Weltkrieg als Versuch der Rückgewinnung von Individualität angesichts der Übermacht historischer und sozialer Kräfte interpretiert. Das Tagebuch zeigt sich damit als eine Form sozialer Praxis, um die Privatsphäre von der Öffentlichkeit abzugrenzen und sich kollektiven Kräften durch persönliche Erinnerungsstrategien zu entziehen. Zugleich ist es aber auch die Fortschreibung einer Kampfsituation, der äußere Feind wird durch einen inneren ersetzt. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze betonen, dass der Krieg bei den meisten Soldaten nicht nur ihr autobiographisches Schreiben ähnlich prägte, sondern auch zu einer allgemeinen Hinwendung zur Religion führte. Auch Ludwig Wittgenstein griff auf den „ethischen Rigorismus“ der Vorkriegszeit zurück, um sich gegen den „Sieg des Materialismus“ oder die „Gemeinheit der Leute“ zu wehren. Seine religiösen Sätze und Deutungsmuster, ebenso wie seine philosophischen Arbeiten oder seine private Mystik aus der Lektüre Leo Tolstois, Fjodor Dostojewskis und William James’, „bildeten Refugien verunsicherter Identität“ angesichts der emotionalen Verwerfungen. Hier brachten die Religion und das Schreiben „vertraute Vorkriegsgewohnheit und mentale Selbstvergewisserung in den Frontalltag“, insbesondere in den langen Phasen gezwungener Untätigkeit, schreibt Regine Munz.9 Auch der Tractatus sei im praktischen Sinne ein „Kriegsprodukt“. Einerseits karg und enigmatisch, wenn Wittgenstein von der „Wahrheit“ und „endgültigen Lösung“ philosophischer Probleme spricht (EngelBr, 143), andererseits verweist er auf das Unsagbare, wie im Tractatus Satz 6.41: „Der Sinn der Welt muss ausserhalb ihrer liegen“; womit er sich später in seinen Gedanken zu Religion, Mystik, Ethik und Ästhetik näher auseinandersetzte. Wenn Wittgenstein seinem Verleger Ficker schreibt, er solle nur Vorwort und Schluss lesen, weil das Wesentliche nicht im geschriebe-
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Peter Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre, München-Wien 1978, 265, vgl. auch: 63f., 259 u. 274f. Munz, „Von mir kann ich nichts sagen. Ich lebe noch immer“, 165f.
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nen Teil stehe, zeigt sich hier, wie gezielt er das Vorwort einsetzt. Das Vorwort verweist auf eine, wie Munz es nennt, „paradoxe Beziehung“ zwischen Leben und Wissenschaft, indem die Ängste in die privaten Notizen gebannt werden, doch im philosophischen Werk als Unsagbares zumindest metaphorisch anwesend sind.10 Und, wie weiterzuführen ist, sie bilden auch formal als Teil des Manuskripts doch eine Einheit. Dass für Wittgenstein selbst diese Verbindung zentral war, zeigt eine Bemerkung in einem Brief im Jahr 1913 an Russell, in dem er wünschte, zumindest sein Tagebuch zu veröffentlichen, wenn es schon nicht gelinge, den Tractatus zu veröffentlichen: I am convinced that I never will publish anything during my lifetime. But posthumously you must make sure to publish my diary, in which the entire story is to be found. (CamLetters, 58)
Hier bleibt undeutlich, welches diary gemeint ist. Es gab verschiedene Notizbücher, die Vorarbeiten zum Tractatus enthalten, wie die Notes on Logic, den Proto-Tractatus und drei weitere Notizbücher. Wird meist spekuliert, dass es sich hier um ein ähnliches, nicht mehr erhaltenes Notizbuch handle,11 deute ich es, nämlich diary u.a. auch umgangssprachlich übersetzend, als Verweis auf seine privaten Tagebuchnotizen. Das wirft ein ganz neues Licht auf das Tagebuch. Denn damit werden Tagebuch und Manuskript von Wittgenstein als eine Einheit betrachtet, eine Einheit, die nicht nur den Schreibumständen der Kriegssituation zuzuschreiben war, welche die Mittel begrenzte, sondern eine bewusste Verbindung von philosophischem Werk und Gefühlswelt. Eine solche formale Überschneidung stellt wiederum einen Bezug her zu dem von Wittgenstein formulierten, jenseits des Textes liegenden Bedeutsamen, dem Unaussprechlichen, wenn er am 2. August 1916 schreibt: „Ja, meine Arbeit hat sich ausgedehnt von den Grundlagen der Logik zum Wesen der Welt.“ (BEE) Wenige Monate später heißt es im so genannten Proto-Tractatus: Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. (1.1.1917, BEE)
Hier kann ein Einfluss seiner Tolstoi-Lektüre gesehen werden, den ein Brief seiner Schwester Hermine aus den 1920er Jahren dokumentiert: Sie schildert Ludwig ein Gespräch Leo Tolstois – beschrieben in Anna Karenina und in seinem Bekenntnisbuch Ispoved (Beichte) – mit einem gottesfürchtigen Bauern, das in Tolstoi, der sich zu dieser Zeit in einer schweren Lebenskrise und Sinnsuche befand, eine innere Wandlung bewirkte: Er begann, wie sie schreibt, Gott zu fühlen. „Durch dieses Gefühl unterschied er sich sofort von
10 Ebenda, 168 u. 175. 11 Vgl. CamLetters, 58; auch Baum, Nachwort, in: Geh.TB, 160f.
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den anderen Menschen geradeso wie von seinem früheren Leben, denn jetzt hatte er Religion.“ Diese Form der Unterscheidung zieht sie auch zwischen sich und dem Bruder, sowohl im Brief als ähnlich auch in ihrem Tagebuch: Die Stufe auf welcher ich (Papa, Darwin, Kaiser Josef) stehen, ist charakterisiert durch das Gefühl für das Gute u. das Nicht-Gefühl für Gott, also den Mangel an Religion. Diese Stufe hatte auch Tolstoi vor seiner Umwandlung inne, er war ein hochanständiger Mensch und Schluss. Eine ganz andere Stufe ist die, in der das GottGefühl […] anfängt. Und insofern hast Du recht dass diese Berührung das Wesentliche ist […]. (FamBr, 206f. bzw. HW-TB, 82)
Bemerkenswert ist nicht nur der Inhalt, sondern auch der Zeitpunkt, zu dem Wittgenstein Tolstoi für sich entdeckte, nämlich der Erste Weltkrieg. „In solchen Situationen“, schreibt Jan Assmann, „entstehen nicht nur Texte, sondern erhalten vor allem schon vorhandene Texte erhöhte Normativität.“12 Das kann bedeuten, dass Lektüren normativer wirken, als sie es zu anderen Zeiten gewesen wären. So ist es nicht der Schriftsteller oder die Thematik alleine, sondern auch der Zeitpunkt der Lektüre, die ihn für Wittgenstein so wertvoll macht. Das dürfte auch den Rücktritt von seinem Erbe im Jahr 1919, wie auch die Entscheidung, die Philosophie zugunsten einer lebenspraktischeren Arbeit aufzugeben, stark mit beeinflusst haben. Die 1930er Jahre Die erst in den 1990er Jahren entdeckten Tagebücher aus den Jahren 1930– 32 und 1936/37, ein geschlossenes Manuskript (MS 183), sind die einzigen, die bis heute gefunden wurden. Ob weitere existier(t)en, ist ungewiss, hatte Wittgenstein doch Russell mehrmals aufgefordert seine Notizbücher zu verbrennen. So schreibt er ihm im November 1919: „P.P.S. Etwas äußerst wichtiges fällt mir ein: Unter meinen Sachen befinden sich auch eine Menge Tagebücher und Manuscripte diese sind alle zu verbrennen!!!“ (Briefe, 97f.) Wittgenstein fällt etwas „äußerst wichtiges“ ein, dass etwas Unwichtiges (seine Manuskripte) zu verbrennen sei – ein ironisches, doch auch eitles Wortspiel. Im Februar 1922 schreibt er ihm erneut: „Meine Tagebücher und Notizen verwende, bitte, zum einheizen. Wenn Du täglich 2-3 Blätter zum Feueranzünden benützt werden sie bald aufgebraucht sein und ich hoffe sie werden gut brennen. Also – weg damit! – Bitte empfiel [sic] mich Deiner Frau und grüß den kleinen Buben. Und schreib wieder einmal.“ (CamLetters, 177f.) Eine Bemerkung vom 6. Juni 1941 in den Manuskripten vermerkt hingegen, dass es verstreute Tagebucheintragungen in den Manuskripten gab:
12 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 7f.
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Da ich aus Versehen zwei Seiten überblättert habe so will ich den Raum als Tagebuch benutzen. Ich hatte den Gedanken, noch jemals für mich über philosophische Probleme nachzudenken schon ganz aufgegeben […]. (BEE)
Bedeutsam sind die Zeiträume, in welchen jene Tagebücher entstanden sind: in der ersten Zeit nach Wittgensteins Ankunft in Cambridge und vor und während seines zweiten, neunmonatigen Aufenthalts in Norwegen. Beide Male war es eine Auseinandersetzung mit einer neuen Umgebung, wie mit sich selbst und neuen Aufgaben. Beide Zeitperioden waren in philosophischer Hinsicht sehr produktiv. Wittgenstein beginnt das Tagebuch einige Monate nach der unmittelbaren Rückkehr nach Cambridge. Es zeigt seine Beschäftigung mit neuen philosophischen Fragen, die die Abkehr vom Tractatus und seine Wende zur späteren Sprachphilosophie ankündigen. Neben der Formulierung neuer philosophischer Gedanken war es vor allem die Auseinandersetzung mit seiner Beziehung zu Marguerite Respinger und mit seinem Cambridger Umfeld, das ihn beschäftigte. Die Schreibweise ist eine ähnliche wie in den Manuskripten: Über den Nachlass verstreute und sich an verschiedenen Stellen wiederholende Bemerkungen werden auch im Tagebuch wieder aufgegriffen. Doch gibt es auch sehr persönliche Eintragungen, die nach Ilse Somavilla den engen Zusammenhang seiner Lebensprobleme mit seiner philosophischen Denkweise sichtbar machen. So seine Reflexionen über Kunst, Kultur und Musik sowie über ethische und religiöse Fragen. Diese seien oft „verhüllt“ in Form von bildhaften Gleichnissen, weil sie dem „Bereich des Unaussprechlichen“ zugeordnet sind: Damit zeige sich nach Somavilla seine Suche nach philosophischer Klarheit als eine Suche nach Klarheit über sich selbst. Sie konstatiert darin zwar Parallelen zu den Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg und zu persönlichen Bemerkungen in seinem Werk, jedoch komme in keiner anderen seiner Schriften sein „Leiden des Geistes“ (wie Wittgenstein religiöse Erfahrung nannte), seine „innere Not an den Grenzen des Sagbaren und wissenschaftlich Erklärbaren […] in vergleichbarer Intensität und Glaubwürdigkeit zum Ausdruck“. Neben einer Kontinuität sei aber auch eine Bewegung und Neuerung seiner Gedanken sichtbar, die sich in der Dynamik seines Schreibens zeige und in den zahllosen Varianten von Überarbeitungsschritten.13 Wittgenstein selbst nannte dies die „Denkbewegung in meinem Philosophieren“ (7.11.1931, TB, 62). Dass die Tagebücher geradezu Wittgensteins Denkbewegungen wiederholen und damit den Leser mit seiner charakteristischen Art zu denken vertraut machen, das weist für Alfred Nordmann den zentralen Wert der Tagebücher aus: „[...] we witness Wittgenstein performing a certain kind of work that concerns the articulation of meaning, and meaning is articulated in the
13 Somavilla, Einleitung, in: TB, 7–9, 8f.
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course of leading a life.“14 Das Tagebuchschreiben habe ihm dabei geholfen, sich in einen Zustand zu versetzen, in dem ihm das Philosophieren wie das Entspannen möglich, und das Denken nicht mehr auf Partikulares fokussiert war, sondern von einem zum anderen gleiten konnte. Wittgenstein wiederhole auf diesem Wege nur seine Art zu philosophieren, zeige jedoch keine seiner Motivationen für die Philosophie. Deshalb plädiert Nordmann dafür, in Wittgensteins privaten Texten nicht in hermeneutischer Art nach kohärenten Erklärungen für das wissenschaftliche Werk zu suchen, sondern sie als abgeschlossene und „self-contained“ Texte zu betrachten. Widerspricht dem aber nicht die formale Gestalt der Tagebücher, nämlich ihre in die Manuskripte integrierte Form? Auffallend sind die formalen Unterschiede der Tagebücher aus den 1930er Jahren zu denen aus dem Ersten Weltkrieg. Die späteren waren nicht mehr Teil der Manuskripte, sondern ein separates Manuskript. Was machte Wittgenstein in den 1930er Jahren die Trennung zum Anliegen? Bedeutet es, dass es keinen solchen unmittelbaren Zusammenhang mehr gibt, zwischen dem privat Erlebten und seinem philosophischen Werk, wie ihn sein erstes Tagebuch noch suggeriert? Oder signalisiert das einen neuen Glauben an die Form des Tagebuchs? Neben den erwähnten inhaltlichen Überschneidungen gibt es auch eine formale Übereinstimmung: Vorausgesetzt, man will die Geheimschrift als eine solche autobiographische Textsorte lesen. Findet sich in den frühen Tagebüchern auf der linken Seite in der Regel die Geheimschrift (als Geheime Tagebücher publiziert) und auf der rechten Seite in Normalschrift (als Tagebücher 1914–1916 publiziert), fehlt diese Unterteilung in den späteren Manuskripten und Tagebüchern, und Wittgenstein wechselt relativ willkürlich zwischen beiden Schriften und mischt damit wiederum Philosophisches und Autobiographisches in besonderer Weise. Welche Bedeutung kommt der Geheimschrift zu? Die Geheimschrift Es war die Geheimschrift, welche mit der Frage nach einer Trennung von philosophischen und persönlichen Bemerkungen heftige Diskussionen innerhalb der Wittgensteinforschung auslöste. So war es eine Aufgabe der Nachlassverwalter, nicht nur Wittgensteins Manuskripte, sondern auch die darin enthaltenen, in Geheimschrift kodierten persönlichen Bemerkungen zu edieren. Die kodierten Bemerkungen fehlten sowohl in der ersten NachlassVerfilmung (Cornell-Film) als auch in der ersten Suhrkamp-Werkedition (1960er Jahre). Sie wurden erstmals von Wilhelm Baum vollständig ediert und 1991 als Geheime Tagebücher publiziert. Baum hatte der Quelle in zweierlei Hinsicht Bedeutung zugemessen, einerseits mehr zur Entstehungsgeschichte des Tractatus zu erfahren, andererseits zur Klärung der, von William Bartleys Biographie 1973 initiierten und eingangs erwähnten, Spekula-
14 Alfred Nordmann, The Sleepy Philosopher: How to Read Wittgenstein’s Diaries, in: Klagge, Biography & Philosophy, 156–175, 161.
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tionen über Wittgensteins Sexualität beizutragen. Mit der vollständigen Edition der Tagebücher war es nach Hans Blumenberg tatsächlich möglich, die kanonisierte Deutung des Tractatus als „‚Bibel‘ des logischen Positivismus“ (die Philosophie des Wiener Kreises) und als „Werk eines Anti-Metaphysikers“ zu hinterfragen. Denn die Geheimschriftstellen zeigen Wittgenstein als einen zum moralischen Rigorismus neigenden religiösen Denker, beeinflusst von Sören Kierkegaard und Leo Tolstoi15 – während der Tractatus, so Blumenberg, „nichts vom Typus des erlösenden Worts“ enthalte.16 Damit nimmt Baum in Anspruch, wie er selbst schreibt, einen Paradigmenwechsel in der Deutung mitinitiiert zu haben. Denn wenn Wittgensteins Philosophie zu jener Zeit „Ingenieurszüge“ trägt – „(m)aschinenartiges Denken, Verknüpfungsregeln, kognitive Präzision, die Verpflichtung auf das Sprachmaterial“ – handle es sich doch, wenn man den Text in seiner Gesamtheit betrachtet, um die „reinste negative Theologie“: „Es ist ein Schweigen über das Wichtigste, das, was sich nicht sagen läßt.“17 Weiters tragen nach Baum die Geheimschriftstellen auch wesentlich zum Verstehen Wittgensteins als religiösem Denker wie zur Klärung des umstrittenen Sachverhalts seiner Homosexualität bei. Dabei geht es Baum weniger um den Fakt, den er angesichts zahlloser Aussagen von Wittgensteins Freunden (Bertrand Russell, Friedrich Hayek und anderen) für unbestritten hält, sondern um den Stellenwert dieses Umstandes für Wittgenstein selbst. Es ist nicht die Frage relevant, ob er homosexuell war oder nicht (eine Frage, die an eine Biographieforscherin wie mich immer wieder gestellt wird), sondern welche Bedeutung dieser mögliche Fakt für ihn gehabt haben mag. So ist es für Baum nur „im Zusammenhang mit Wittgensteins Begehren nach ‚Reinheit‘ und ‚Anständigkeit‘ […] notwendig, seine Sexualität zu beleuchten“, denn hier erkläre die Homosexualität möglicherweise Wittgensteins Ausbrüche von Selbstverachtung und seine Selbstmordgedanken, weil er sich – wie auch der von ihm verehrte Weininger – radikal an „moralischer Größe“ und einem „falsch formulierten ethischen Ideal“ orientierte.18 Wie die Rezeptionsgeschichte jedoch zeigt, hat die Veröffentlichung der Geheimen Tagebücher schon alleine wegen des Titels eine einseitige Rezeption mitbedingt und eine gewisse Stigmatisierung Wittgensteins als ‚sich selbst verachtenden‘ Homosexuellen eher verstärkt als relativiert. Es hätte der Differenzierung geholfen, auf den scheinbar absichtslos und großteils regellos eingesetzten Charakter der Geheimschrift zu verweisen. Er schreibt in den Manuskripten über die Geheimschrift: Es ist ein großer Unterschied zwischen den Wirkungen einer Schrift die man leicht und fließend lesen kann und einer die man schreiben aber nicht leicht entziffern (le-
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Hans Albert, Vorwort, in: Geh.TB, 7–8, 7. Zit. n. Baum, Vorwort, in: Geh.TB, 9–10, 9. Baum, Nachwort, in: Geh.TB, 155–172, 171f. Baum, Nachwort, 164.
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Nach Ilse Somavilla wollte Wittgenstein damit kostbare Gedanken vor oberflächlichen Lesern schützen. Doch das „Kostbare“ ist so vielfältig, dass es kaum zu definieren ist. Die Geheimschrift wäre dann konsequent, wenn sie das, was eigentlich nur gezeigt werden dürfe, kodiert hätte. Das würde Wittgensteins Haltung entsprechen, die er im Tractatus wie in seinen frühen Briefen zum Ausdruck bringt: dass Gedrucktes unpersönlich zu sein habe und dass persönliche Gespräche ein besseres Medium der Klärung seien.19 Eine Haltung, die sich auch in seiner Ablehnung von Georg Edward Moores Principia Ethica (1903) (einem der einflussreichsten philosophischen Werke in England und die ‚Bibel‘ der Bloomsbury-Gruppe) zeigt, da Ethik nicht gelehrt, sondern nur gezeigt werden könne; oder in seiner Kritik an Tolstois Werk Resurrection, es sei eine Moral-Predigt, statt die Botschaft latent in einer Geschichte zu zeigen.20 Wittgenstein chiffrierte viele, aber nicht alle seiner persönlichen Bemerkungen in den Manuskripten oder im Tagebuch. Die Geheimschrift findet sich erstmals in den Notizbüchern aus dem Ersten Weltkrieg. Im ersten Notizbuch sind diese persönlichen Bemerkungen, zumeist Reflexionen über das Philosophieren, noch räumlich getrennt von den philosophischen Bemerkungen, auf die Versoseiten geschrieben. In den späteren Notizbüchern sind sie nur mehr völlig verstreut zu finden. Sie stehen in den Notizbüchern zumeist in Normalschrift, werden aber durch eckige Klammern abgehoben. Erst beim Einschreiben in den Manuskriptband wurden sie kodiert. Auch in seinen Briefen verwendet Wittgenstein zeitweise die Geheimschrift, bestehend aus einer Umkehrung des Alphabets (z=a, y=b, r=i und j, n=n)21, so wenn er seinen Schwager Max Salzer als „Hxszhrzn“ (Schasian) anspricht (FamBr, 157) und beifügt, er möchte doch seine Frau (Wittgensteins Schwester Helene) fragen, was dies bedeute. Ein Code, der übrigens von der ganzen Familie genutzt wurde als eine Art Familienkommunikation, wie andere familienspezifische Vokabeln auch. Deshalb scheint jener weniger auf ‚Verbergen‘ angelegt zu sein, wie die gängige Interpretation in der Forschung meint, als vielmehr sich spezifisch an die Familie zu wenden,22 bzw. sogar eine spezifische dialogische Form der Kommunikation zu suchen, auf die später noch zurückgekommen wird (vgl. II.6.3.).
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Vgl. McGuinness, Wittgenstein, 182f. Vgl. Malcolm, A Memoir, 43. Vgl. zu einer genauen Aufschlüsselung: G.H. v. Wright, Einleitung, in: VB, 14f. Das hat auch schon Joachim Schulte vermutet. Vgl. Joachim Schulte, Letters from a Philosopher, in: Klagge, Biography & Philosophy, 176–194, 178.
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1.3 Die Briefe Wie es im Laufe der Zeit zu vermehrt autobiographischen Verweisen in seinen Manuskripten kommt, werden auch Wittgensteins Briefe immer kritischer und persönlicher, und es gibt immer wieder autobiographische Verweise auf Verknüpfungen seiner Person mit seinem Werk. So schreibt Wittgenstein noch kurz vor dem Ersten Weltkrieg an seinen Lehrer Bertrand Russell: „Vielleicht glaubst Du daß es Zeitverschwendung ist, über mich selbst zu denken; aber wie kann ich Logiker sein, wenn ich noch nicht Mensch bin! Vor allem muß ich mit mir selbst in’s Reine kommen!“ (Briefe, 47) In einem Brief an Paul Engelmann heißt es am 9. September 1925: „Ich kann jetzt nicht mehr schreiben, weil ich in den wichtigsten Dingen noch unentschlossen bin.“ (EngelBr, 39) Wittgenstein hat diese Verbindung nicht nur für sich selbst formuliert, sondern schließt auch bei der Beurteilung anderer Werke oft vom Autor auf dessen Werk und umgekehrt, was deutlich zu sehen ist im Verhältnis zu seinen Lehrern Bertrand Russell und George Edward Moore. Die Freundschaft mit Moore beruht, wie viele von Wittgensteins Freundschaften, auf den gemeinsamen Interessen am Poetischen und am gemeinsamen Musizieren, nicht auf Moores Leistungen in der Philosophie, wie er am 10. März 1937 an einen Freund schreibt: „Dieser ist zwar ein Denker, aber er hat – soviel ich beurteilen kann – nie eine entscheidende Entdeckung in der Philosophie gemacht. Er hat aber in seinem Lehrberuf mehr genützt, als viele Andere [...] durch seine Ehrlichkeit [...] durch seinen Ernst.“ (HänselBr, 143) Von seinem Lehrer Russell distanziert sich Wittgenstein in dem Maße, als er erkennt, dass nicht nur dessen Erkenntnistheorie und Logikbegriff ein anderer ist, sondern auch ihre Werturteile unterschiedliche sind: Du magst darin recht haben, dass wir selbst vielleicht nicht einmal so sehr verschieden sind: aber unsere Ideale sind es ganz und gar. Und darum konnten und können wir nie über Dinge, worin unsere Werturteile in Betracht kamen, mit einander reden, ohne zu heucheln, oder zu zanken. (3.3.1914, Briefe, 52)
Kam Russell wegen seines radikalen Pazifismus 1918 sogar ins Gefängnis, rückte Wittgenstein bei Kriegsausbruch 1914 zum freiwilligen Kriegsdienst ein. Glaubt Russell jedoch, die Unstimmigkeiten mit Wittgenstein lagen in dessen späterer Hinwendung zur Religion,23 hegt dieser nach Auskunft der Familienchronik vielmehr einen Unwillen gegenüber Russells populäre Publikationen, die ihm wenig anständig erschienen. (FamEr, 112) Wie sehr
23 Vgl. Wittgenstein, hg. v. Nedo/Ranchetti, 236. Russell befürchtet gegenüber Moore, dass ihn Wittgenstein als Rigorosumsprüfer vielleicht nicht mögen würde: „The last time we met he was so much pained by the fact of my not being a Christian that he has avoided me ever since.“ (27.5.1929).
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Wittgenstein das Werk mit der Person des Autors identifiziert, wird auch bei der Kommentierung seiner Lektüre deutlich: Schätzt er bei William James dessen Werk wegen seiner Menschlichkeit, denn seine Philosophie zeige, was für ein Mensch er sei,24 sagte er über den Anthropologen James Frazer, „(he) is much more savage than most of his savages“, und kommentiert damit Werk und Autor zugleich. (RemFrazer, 131) Auch in anderer Hinsicht wird bei Wittgenstein alles in Übereinstimmung gedacht, indem „certain things may be expressed in contexts of one sort but not in contexts of another“.25 So zeigen seine Briefe ein einfühlsames Eingehen auf sein Gegenüber, ob philosophisches Publikum oder Freund. Selbst Grußkarten sind nie banal, sondern zeigen eine persönliche Note und ein Eingehen auf den anderen. In Briefen wie an seinen Freund Hänsel betont Wittgenstein immer wieder, dass jeder Inhalt die ihm passende Form finden müsse, und zeigt eine strikte Auffassung davon, was in einem Brief, einem Gespräch oder in der Philosophie gesagt werden könne und was nicht. (HänselBr, 143) Auch in der Familie war er dafür bekannt, jeden zur Präzision zu zwingen: erst zu sagen was man meine, dann welche Bedeutung es für einen selbst und im Allgemeinen habe.26 Familienspezifische Vertrautheit signalisieren die Verwendung des Codes oder Witzeleien, die sich insbesondere in Briefen an die Schwester Helene finden: Wie Bemerkungen über ‚Hausschatz-Bücher‘, die er verfassen will oder über seine Manuskripte, die sich als Brennmaterial bestens eignen. Hier offenbaren sich nach Joachim Schulte Wittgensteins heimliche Ängste, an seinem Buch oder an seinem Anspruch, allgemein verständlich schreiben zu können, zu scheitern. Galt der Begriff ‚Hausschatz‘ im 19. Jahrhundert als zentrales Element einer klaren Wissensordnung, als beliebte Vorstellung in einer Zeit „transzendentaler Obdachlosigkeit“,27 signalisiert Wittgenstein mit dieser Referenz zumindest ein deutliches Ordnungsbedürfnis. Diesen Ordnungswillen zeigt Wittgenstein auch in seiner Eigenart, seine philosophischen Bemerkungen ständig neu zu arrangieren oder in seiner Angewohnheit, Fotos stets nachzubehandeln und auf perfekte Proportionen zuzuschneiden. Damit sind nur einige Beispiele genannt, um den Charakter von Wittgensteins Briefwechseln zu zeigen. Dieser umfasst etwa 140 Briefpartner, darunter weniger Kollegen als Freunde und Familie, aber auch mit den philosophischen Briefpartnern (Russell, Frege, Moore, Engelmann u.a.) ging es 24 Wittgenstein schreibt über die Lektüre von William James Varieties of religious experience an Russell am 22.6.1912: „Dieses Buch tut mir sehr gut, womit ich nicht sagen will, daß ich bald ein Heiliger sein werde, doch ich bin mir einigermaßen sicher, daß es mich ein wenig weiterbringt auf dem Weg der Besserung, auf dem ich gerne noch sehr viel weiterkommen würde: Es hilft mir nämlich, glaube ich, mich von der Sorge freizumachen.“ (CamLetters). 25 Schulte, Letters from a Philosopher, 177f. 26 Joan Ripley, Empty Sleeve. The biography of a musician, 1987, Typoskript, 203. 27 Saskia Haas, Hausbücher und Familienschatz. Zu einer Wissensordnung des 19. Jahrhunderts. Vortrag am IFK in Wien am 20.6.2005.
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nur zum geringeren Teil um explizit philosophische Inhalte. Eine Analyse des gesamten Briefwechsels zeigt nach Monika Seekircher seine „spezifische Denkweise“, und dass „Wittgenstein als Briefschreiber Dinge artikulieren konnte, deren Artikulation er sich als philosophischer Autor versagte“, wie in jener berühmten Leseanweisung in seinem Brief an seinen Verleger Ludwig von Ficker, in dem er 1919 zum Sinn des Tractatus Stellung nimmt: […] der Sinn des Buches ist ein Ethischer. Ich wollte einmal in das Vorwort einen Satz geben, der nun tatsächlich nicht darin steht. […] Ich wollte nämlich schreiben, mein Werk besteht aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem, was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist das Wichtige. Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt […]. (Briefe, 96f.)
Wittgenstein erläuterte in seinen Briefen nicht nur Motive und Zusammenhänge, sondern setzte sich nach Seekircher zudem „auf direktere und konkretere Weise mit dem Moralischen auseinander“. Das werde sichtbar in einer engen „Verknüpfung präziser Denkabläufe mit einer bis ins Skrupulöse reichenden moralischen Gewissenhaftigkeit bei der Austragung von Meinungsverschiedenheiten mit verschiedenen Partnern“. Diese Streitereien und Konflikte, Entschuldigungen und versöhnliche Angebote in seinen Briefen zeigen sehr gefühlsbetonte Beziehungen. Hier ist mit Seekircher zu fragen, „inwieweit die Gattung Brief eine ganz spezifische Art von Philosophie ermöglicht, vielleicht eine Konkretheit, die Wittgenstein in seinen philosophischen Schriften zwar auch fordert, aber in dieser Form nicht einlösen kann“?28 Es scheinen der spezifische Adressat und der explizite Dialogcharakter zu sein, die Präzision abverlangen. Das zeigt nach Alois Pichler auch Wittgensteins Schreibstil, der in den Briefen deutlich wird, den er jedoch als bezeichnend für sein gesamtes Schreiben sieht: „Ordnung, Deutlichkeit, Struktur gewinnt die Briefseite durch Unterstreichungen und Ausrufezeichen [...]. Die Bedeutung der Unterstreichungen und Rufe in seinen Briefen beweist sich durch die Häufigkeit ihres Auftretens, ihre Quantität besitzt ihrerseits inhaltliche Qualität [...] nämlich als Möglichkeit, andere zu erreichen, nicht nur ihnen etwas mitzuteilen.“29 Wittgenstein unterstreiche das, was eine Aussage verstärke (‚sehr‘, ‚bitte‘, ‚mehr‘), nicht Inhalte oder Fakten und betone somit den Dialogcharakter des Werkes. Dem gegenüber stehen zahllose Äußerungen, die das Scheitern Wittgenstein am dialogischen Prinzip in der alltäglichen Lehrpraxis beschreiben: Ob seine Schüler, die von den Dialog-Schwierigkeiten berichten oder Kollegen, die ihn als jemanden beschreiben, der immer alleine 28 Vgl. Monika Seekircher, Der Wittgenstein-Gesamtbriefwechsel in maschinenlesbarer Form, 191. 29 Mit Bezug auf Konrad Wünsche, Wittgenstein, 131f., zit. n. Alois Pichler, Wittgenstein und das Schreiben: Ansätze zu einem Schreiberporträt. Dipl. Germ. der Universität Innsbruck 1997, 46f.
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denke und dessen „Bemühen des mit seinen selbst gestellten Problemen ringenden Genies“ die Studenten nur beiwohnen konnten.30 Dennoch: Wittgensteins Schreibstil, sein Mitreflektieren des jeweiligen Adressaten in den Briefen oder das penible Einhalten sozialer Rituale (wie Geschenke an Geburtstagen) zeigen, dass er sich seiner Umgebung und seines Gegenübers sehr bewusst war. In der Form des Briefes bekommt das Gegenüber mehr Gewicht. Denn er konnte in „der dialogischen Form des Briefes, welche immer an ein konkretes Du gerichtet ist, auch konkrete Beispiele für einen so schwer faßbaren Bereich wie die Ethik geben, und zwar durch sein eigenes Handeln in Interaktionen mit seinen Briefpartnern“.31 Wittgenstein schrieb lieber einen Brief, als sich der Gefahr auszusetzen, seine Freunde zu einem falschen Zeitpunkt oder in einem falschen Geiste zu treffen und dann nur oberflächlich zu reden. In dieser spezifischen Form, ein Schweigen zu thematisieren, treffen sich nach Monika Seekircher Brief- und Werknachlass indirekt. In der Wittgensteinforschung spielen seine Briefe eine zentrale Rolle, weil sie einen konkreten Beitrag zum Verständnis seines Werkes und seiner Person leisten: Sie helfen die Werkgenese zu eruieren und die Technik seines Schreibens nachzuvollziehen und damit indirekt seine Philosophie besser zu verstehen. Sie sind wegen ihres expliziten Erläuterungscharakters (Brief an Ficker) eine exemplarische Darstellung seiner Art (dialogisch) zu denken und zu schreiben – und zeigen trotz großer Disharmonien seine starke Eingebundenheit in das Familienleben sowie enge Kontakte mit Freunden. Besonders intensiv waren seine Briefwechsel während seiner Aufenthalte in seinen oft so genannten Rückzugsdomizilen an den westlichen Peripherien Europas: Cornwall, Irland, Norwegen. Von hier schrieb Wittgenstein regelmäßig Briefe an Freunde und Familienangehörige, klagte über Einsamkeit und wollte von seinen Freunden besucht werden, die dann auch kamen, sogar sein Lehrer Moore. Es scheint weniger ein Rückzug gewesen zu sein, um Menschen aus dem Weg zu gehen, wie so oft kolportiert, sondern eher ein weitergeführter, man könnte sogar sagen, ein intensivierter Austausch nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit seiner Umgebung. Betont Alois Pichler, dass die Ortswechsel Wittgensteins Arbeit zumeist gut taten und sowohl sein philosophisches Arbeiten als auch „die Arbeiten an sich selbst“ jeweils inspirierten,32 könnte die gesuchte Einsamkeit doch auch eine gesuchte Auseinandersetzung mit seinen Freunden gewesen sein. Einige von Wittgensteins frühen Briefen kreisen um Fragen der Selbstdefinition, wenn es schlaglichtartig in einem Brief aus dem Jahr 1913 an Russell heißt: „Identity is the very devil!“ oder an Moore „Identity plays hell with me!“ (23.10.1913, CamLetters, 41 u. 43) Nach den Kriegserfah30 F.R. Leavis, Wittgenstein – einige Erinnerungsbilder, in: Rhees, Porträts, 84– 106, 100f. 31 Monika Seekircher, Wittgensteins „praktische Ethik“ in seinen Briefen, in: Arnswald/Weiberg, Der Denker als Seiltänzer, 213–230, 230. 32 Pichler, Wittgenstein und das Schreiben, 36.
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rungen scheint ihm jedoch, so Seekircher, die Beschäftigung mit Logik fragwürdig und wichtiger mit sich selbst „in’s Reine zu kommen“.33 Es zeigt sich peinigende Selbstkritik in Briefen an Paul Engelmann oder seine Schwester Hermine, wenn er ihr am 25. Juni 1919 schreibt: „Ich arbeite nicht und denke immer daran, ob ich einmal ein anständiger Mensch sein werde und wie ich es anstellen soll.“ (IEAB) Viele seiner Briefe an Familie und Freunde haben einen solchen Geständnischarakter. Diese ‚Geständnisse‘ haben ähnlich wie die Geheimschrift zu zahllosen Spekulationen Anlass gegeben. 1.4 Die Beichten Die Beichten sind gewissensreinigende Gespräche, Geständnisse, zum Teil in Briefform, die Wittgenstein im Jahr 1936/37 mit einigen Freunden (Ludwig Hänsel, Maurice O’C. Drury, Paul Engelmann, George Edward Moore, Rush Rhees, Fania Pascal, Francis Skinner oder Rowland Hutt), Familienangehörigen aber auch selbst mit Frau Jolles, seiner früheren Vermieterin in Berlin, führte, in denen er Sachverhalte ausführte, die nie explizit ausgesprochen waren und ihn deswegen bedrückten; beispielsweise seine jüdische Herkunft.34 Im Gegensatz zum Tagebuch, das im protestantischen und pietistischen Kulturbereich für die innere Gewissenserforschung eine bedeutende Rolle gespielt hat, ist die katholische Beichte eine kommunizierende Form der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber. Wird hier Wittgensteins lebenslange Thematisierung von Aufrichtigkeit zum aktiven Versuch, Täuschungen und Selbsttäuschungen aufzuheben? Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist ein Brief Paul Engelmanns an Wittgenstein, in dem er über eine Beichte berichtet, die er vor sich selber abgelegt habe, um eine neue Orientierung zu bekommen: Dann aber tat ich etwas, was ich Ihnen mitteilen kann, da Sie mich genug kennen, um es nicht für eine Schmockerei zu halten. Ich legte nämlich eine Art ‚Beichte‘ ab, indem ich mich der Reihe nach an die Ereignisse meines Lebens zu erinnern suchte, so ausführlich, als dies eben im Verlauf einiger Stunden möglich ist. Bei jeder Begebenheit versuchte ich mir klarzumachen, wie ich mich hätte benehmen sollen. Durch eine solche allgemeine Übersicht vereinfachte sich mir das verworrene Bild sehr. Am Tage darauf revidierte ich auf Grund der gewonnenen Einsicht meine Pläne und Absichten für die Zukunft. […] Ich weiß absolut nicht, ob etwas ähnliches für Sie jetzt gut oder nötig ist; aber vielleicht hilft Ihnen diese Mitteilung etwas für Sie jetzt richtiges zu finden […] Sollte etwas von dem, was ich über meine Erlebnisse gesagt habe für Sie anwendbar sein, so bedenken Sie bitte eines: Ich glaube, das ganze wäre unmög-
33 Seekircher, Wittgensteins „praktische Ethik“ in seinen Briefen, 214f. 34 Vgl. Monika Seekircher, Wittgensteins Beichte, in: Rudolf Haller/Klaus Puhl [u.a.] (Hg.), Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie. Eine Neubewertung nach 50 Jahren, Kirchberg 2001, 281–287.
86 | DAS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS lich durchzuführen gewesen, wenn ich nicht von vorneherein mit dem Bewußtsein einer ‚Aufgabe‘ darangegangen wäre. (Natürlich keiner weltverbessernden Mission, sondern einer moralischen, allgemein menschlichen Aufgabe). (19.6.1920, IEAB)
Engelmann formuliert hier einige Gedanken, die Wittgenstein möglicherweise später beeinflusst haben. Denn Bemerkungen über die Beichte kommen in Wittgensteins autobiographischen Notizen aus den 1920er Jahren bereits vor, häufen sich jedoch erst Mitte der 1930er Jahre. So spricht er im Jahr 1931 in den Manuskripten von einer Beichte: „Eine Beichte muß ein Teil des neuen Lebens sein.“ (VB, 40) An Hermine schreibt er im Oktober: „Ich denke immer wieder an das, worüber wir einmal auf der Hochreit gesprochen haben (Beichte etc.) […] Wäre die Beunruhigung nicht so oberflächlich, so würde eine Besserung eintreten.“ (IEAB) Und sie antwortet: Auf das was Du von der Beichte etc. schreibst, kann ich schriftlich nicht antworten, obwohl ich glaube dass ich Dich ganz gut verstehe. Es ist schon schwer genug zu sagen was man meint, aber zu schreiben ist es unmöglich. Aber damit hast Du ja bestimmt recht, dass die Beunruhigung das einzige Gute ist was man hat. (1.11.[1931], FamBr, 131f.)
Im Tagebuch schreibt Ludwig Wittgenstein am 7. November: Denn auch diese Beichte nützte mir nichts wenn sie gleichsam wie ein ethisches Kunstwerk gemacht würde. Ich will aber nicht sagen, daß ich sie darum unterlassen habe, weil mir das bloße Kunststück nicht genug war: ich bin zu feig dazu. (TB, 62)
Erst fünf Jahre später setzt er diese Gedanken dann in die Tat um, als er Hänsel am 7. November 1936 ein Geständnis schickt, das einzige erhaltene Dokument von mehreren dieser Art. Es ist ein Geständnis bezüglich seiner „feigen Lüge“ über seine jüdische Abstammung: Ich habe Dich und mehrere Andere einmal in der italienischen Gefangenschaft damit angelogen, daß ich sagte, ich stamme zu einem Viertel von Juden ab und zu drei Viertel von Ariern, obwohl es sich gerade umgekehrt verhält. Diese feige Lüge hat mich lang gedrückt, & ich habe diese Lüge, wie viele andere, auch andern Menschen gesagt. Ich habe bis heute nicht die Kraft gefunden, sie zu gestehen. – Ich hoffe, Du wirst mir verzeihen; ja ich hoffe sogar, Du wirst mit mir weiter & so wie bisher verkehren & mich nicht weniger gern haben. Ich weiß, das ist viel erwartet, aber dennoch hoffe ich es. Ich habe Dir auch sonst noch manche Lüge abzubitten. – Ich wünsche, daß Du diesen Brief Deiner lieben Frau & den Kindern, meinen Geschwistern & ihren Kindern, dem Drobil & meinen übrigen Freunden & der Frau Sjögren bekanntmachst; d.h. ihn ihnen zu lesen gibst. Mögen auch sie mir alle verzeihen; ich weiß, daß ich Dir & Allen einen großen Schmerz zufüge & doch muß ich es tun. Ich fürchte, daß mir mancher vielleicht nicht ganz wird verzeihen können. (HänselBr, 136)
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Er bittet Hänsel den Brief weiterzuleiten, weil er plant, beim nächsten Besuch in Österreich ein umfassendes Geständnis abzulegen und mit dem Brief dazu gewissermaßen den Weg zu bahnen. Als Hänsel sich verweigert, schickt er einen eigenen Geständnisbrief an Hermine, wie er im Tagebuch vermerkt: Ich habe heute den Brief mit einem Geständnis an Mining abgeschickt. Obwohl das Geständnis offenherzig ist, so fehlt mir doch noch immer der Ernst, der der Lage entspricht. (24.11.1936, TB, 70)
Wie es aus Familienkreisen heißt, lag sein schriftliches Geständnis Weihnachten in der Bibliothek in der Alleegasse zur Einsicht auf. Margarete antwortet dem Bruder: Wenn Dich das Geständnis erleichtert hat, so danke ich Gott, dass er es Dir ermöglicht hat. Die Lenka habe ich, so anständig als ich konnte, geführt. Dass ich jeder Deiner gestandenen Sünden die gleichen, oder weit ärgere der selben Art entgegen zu stellen hätte, weisst Du ja gewiss. (3.12.1936, FamBr, 154f.)
Im Tagebuch denkt er zu dieser Zeit auch darüber nach, den norwegischen Freunden Anna Rebni und Arne Draegni ein Geständnis zu machen: Heute liess Gott mir einfallen – denn anders kann ich’s nicht sagen – dass ich den Leuten hier im Ort ein Geständnis meiner Missetaten machen sollte. Und ich sagte, ich könne nicht! Ich will nicht obwohl ich soll. Ich traue mich nicht einmal der Anna Rebni und dem Arne Draegni zu gestehen. So ist mir gezeigt worden dass ich ein Wicht bin. Nicht lange ehe mir das einfiel sagte ich mir ich wäre bereit mich kreuzigen zu lassen. Ich hätte doch so gern, daß alle Menschen eine gute Meinung von mir haben! Wenn es auch eine falsche ist; und ich es weiß daß sie falsch ist! (25.11.1936, TB, 70)
Ähnliches schreibt er auch dem Freund Paul Engelmann und Anfang 1937 suchte er George Edward Moore, Fania Pascal und Rush Rhees auf, um seine Sünden zu gestehen. Pascal und Rhees korrigieren jedoch Wittgensteins Selbsteinschätzung und berichten, dass sie nie das Gefühl hatten, Wittgenstein habe je etwas verheimlicht.35 Es war wohl eine Konsequenz seines „pathetisch“ ausgeprägten Strebens nach Aufrichtigkeit, ebenso seine nochmalige Reise im Sommer 1937 nach Niederösterreich, um sich bei den Kindern zu entschuldigen, die er einst als Lehrer unsanft behandelt hatte.36 Wittgenstein machte nicht nur wiederholt harmlose Geständnisse, wie gegenüber
35 Vgl. Fania Pascal, Meine Erinnerungen an Wittgenstein, 67. 36 Macho, Wittgenstein, 23.
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Alice Ambrose, sich wertlos zu fühlen,37 sondern führte auch immer wieder Gespräche unter vier Augen, so genannte Klärungen, in denen jedoch weniger „eine Klärung des Problems, als vielmehr die Klärung per se“ intendiert wurde,38 und die Wittgenstein auch Geständnisse nannte: Im vorigen Jahr habe ich mich, mit Gottes Hilfe aufgerafft und ein Geständnis abgelegt. Das brachte mich in ein reines Fahrwasser in ein besseres Verhältnis zu den Menschen und zu größerem Ernst. Nun aber ist alles das gleichsam aufgezehrt und ich bin nicht weit von dort, wo ich war. (18.11.1937, BEE)
Was veranlasste ihn zu diesen Geständnissen? Im Jahr zuvor war Wittgenstein mit Gilbert Pattison nach Frankreich gereist, verbrachte neun Monate in Norwegen, kehrte im Frühjahr 1937 nach Cambridge zurück und reiste im Sommer darauf mit Ludwig Hänsel wiederum nach Norwegen. Diese zahllosen Ortswechsel dürften – erinnert man sich an die erhöhte Kommunikationsdichte bei Wittgenstein während seiner Reisen und Studienaufenthalte – diesen Reflexions- wie auch Kommunikationsprozess unterstützt haben. Den Gedanken zur Beichte dürfte die Lektüre der Bekenntnisse von Augustinus mit initiiert haben. Obwohl er jene bereits in der Kriegsgefangenschaft gelesen hatte, werden diese in den Manuskripten erstmals im Juni 1931 erwähnt, ebenso das Geständnis und die Beichte als solches. Gemeinsam mit den Bemerkungen über die Beichte häufen sich in Wittgensteins autobiographischen Notizen aus den 1930er Jahren Bemerkungen über Augustinus – besonders am 1. November 1936 in der letzten Version des frühen Vorwortes zu den Philosophischen Untersuchungen.39 Wittgensteins Geständnisse werden wegen dieser zeitlichen und inhaltlichen Übereinstimmung oft im Zusammenhang mit seiner Lektüre Tolstois (Kurze Darlegung des Evangelium) oder Augustinus’ gelesen. Beide Autoren verehrte er. Doch inwiefern war hier eine Vorbildfunktion gegeben? Tolstoi beschreibt in Anna Karenina wie in seinem Bekenntnisbuch Ispoved (Beichte) die Begegnung mit einem gottesfürchtigen Bauern, der in ihm eine innere Wandlung bewirkte. In Augustinus’ Bekenntnissen wird ein Ereignis, das Lesen der Bibel, zum Wendepunkt vom sündigen Leben hin zur Berufung zum Priester. Kann damit das ‚Modell Augustinus‘ als eine Form der Handlungsanleitung zur Transformation von Wittgensteins Leben gesehen werden? So präsentiert es Ray Monk in seiner Wittgenstein-Biographie: Die Bekenntnis37 Oets K. Bouwsma, Wittgenstein: Conversations, 1949–1951, ed. J.L. Craft/Ronald E. Hustwit, Indianapolis 1986, 9. 38 Vgl. Gespräch mit Anna Rebni am 15.11.1937, Pichler, Wittgenstein und das Schreiben, 56. 39 Augustinus und seine Bekenntnisse gelten als der meist zitierte Bezug in den Philosophischen Untersuchungen, in den Manuskripten 111 Mal genannt, Plato und Sokrates zusammen lediglich 105 Mal. Vgl.: David Stern, Nestroy, Augustine, and the Opening of the Philosophical Investigations, in: Haller/Puhl [u.a.] (Hg.), Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie, Wien 2002, 425–445, 436; Vgl. HänselBr, 251.
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se von Augustinus seien ein Vorbild für seine geplante Autobiographie gewesen, mit der Funktion, mit sich selbst ins Reine zu kommen.40 Damit nennt er zugleich ein Leitmotiv seiner Biographie, das des ethischen Handelns als Bindeglied zwischen Werk und Leben: Die Beichte als Mittel zur Arbeit an sich selbst. Auch Rush Rhees weist den Geständnissen eine zentrale Schlüsselrolle zu im Wandel von Wittgensteins Selbstverständnis, von seiner frühen Rede davon, die Natur des Selbst zu erkennen und zu verstehen, hin zu der Absicht, nur mehr einer sein zu wollen, der sich nicht selber täuscht.41 Philologische Untersuchungen von Alois Pichler unterstützen die Überlegung, die Geständnisse als Wendepunkt zu einem „neuen Leben“ (Ludwig Wittgenstein) zu sehen. Er diagnostiziert einen ab dieser Zeit veränderten Schreibstil Wittgensteins.42 Auch Norberto Abreu e Silva Neto liest Wittgensteins Tagebücher in dieser Augustinischen Tradition mit Michel Foucaults Technologien des Selbst, in welchem Gewissenserforschung und Beichte zu den wichtigsten Techniken gehören, um sich selbst zu ergründen. Dabei vollende sich die Suche nach dem Selbst und nach Selbsterkenntnis in einer Art Askese: „guided by the ideal of looking for the Perfect.“43 Nach Neto basieren Wittgensteins Tagebücher im Wesentlichen auf dem Mut sich selbst zu betrachten (Gewissenserforschung) und der Ehrlichkeit (des Geständnisses) als Mittel, um sich selbst zu erkennen – und formuliert damit gewissermaßen auch den Tenor der Forschung. Zugleich bezweifelt er jedoch jeglichen Praxisbezug. Für Neto war das Streben nach Selbsterkenntnis als Utopie bei Wittgenstein stets präsent und die Erforschung seines Selbst genug an Trost und Erleichterung. Schließlich, wie es Alfred Nordmann in Wittgensteins eigenen Worten pointiert, ein Philosoph drücke sich nur teilweise aus in dem, was er sage, doch vor allem, indem er es sage: „Ein Apostel sein ist ein Leben. Es äußert sich wohl zum Teil in dem was er sagt, aber nicht darin dass es wahr ist, sondern darin dass er es sagt […].“ (TB, 74) Nordmann sieht in dem dort zum Ausdruck gebrachten Leiden weniger das Resultat einer Überempfindlichkeit, als ein Beispiel für Wittgensteins Art zu philosophieren.44 Hier werden die Geständnisse jeder lebenspraktischen Funktion beraubt. Das erinnert an Bemerkungen zum Geständnis aus den späten 1940er Jahren, wenn es in den Manuskripten nüchtern heißt: Was macht man mit so einem Geständnis: ‚Als ich es sagte, war ich mir der Unwahrheit bewußt.‘ Die Verwendung ist nicht leicht zu beschreiben. Was ist die Wichtig-
40 Hide, Gespräch mit Monk, 4. 41 Rhees, Postscript, 201. 42 Alois Pichler, Thesen zu der Entstehung und Eigenart der Philosophischen Untersuchungen, in: Haller/Puhl [u.a.], Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie, 167–174. 43 Vgl. Norberto Abreu e Silva Neto, Facing up to Wittgenstein’s Diaries of Cambridge and Skjolden: Notes on Self-knowledge and Belief, in: Löffler/Weingartner (Hg.), Wissen und Glauben, Kirchberg 2003, 12–14, 12f. 44 Alfred Nordmann, The Sleepy Philosopher, 168.
90 | DAS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS keit davon, daß Einer so ein Geständnis macht – muß er denn seinen Zustand richtig beurteilen können? – Es kommt eben nicht auf einen innern Zustand an, den er beurteilt, sondern gerade auf sein Geständnis. (9.3.1947, BEE)
In den folgenden zwei Jahren reflektiert Wittgenstein mehrmals über das Geständnis und dessen Bedeutung: Ist es nicht ein höchst merkwürdiges Sprachinstrument? Was ist eigentlich merkwürdig daran? Nun, – es ist schwer vorstellbar, wie der Mensch diesen Wortgebrauch lernt. Es ist gar so subtil. (1.9.1947, BEE)
An anderer Stelle konstatiert er allerdings doch lebenspraktische Bezüge: „Geständnis, war es Selbstbeobachtung, ...?“ (27.10.1948, BEE) Welche Rolle die Geständnisse in Wittgensteins autobiographischem Selbstverständnis gespielt haben könnten, wird noch zu sehen sein.
2. W ITTGENSTEINS M OTIVATIONEN ZUM AUTOBIOGRAPHISCHEN S CHREIBEN Jede autobiographische Textform hat ihren spezifischen Charakter, in deren Rahmen die Haltung des Autors jeweils anders sichtbar wird. Was führte Wittgenstein jedoch dazu, überhaupt eine Autobiographie schreiben zu wollen? Es sind unterschiedliche Motivationen dafür erkennbar. Manche formuliert Wittgenstein selbst in seinen Schriften. Er nennt das „Bedürfnis doch etwas von mir niederzulegen“, den „Nachahmungstrieb“ durch die Beschäftigung mit bestimmter Lektüre wie auch seine Einsamkeit und die Notwendigkeit eines „Ersatzes für einen Menschen“. Andere Motive zeigt ein Blick auf seine persönliche Lebenssituation und die jeweiligen gesellschaftlichen Umfelder. 2.1 „Es war also zum Großteil Eitelkeit“ Als einen Beweggrund für sein Tagebuch nennt er das „Bedürfnis doch etwas von mir niederzulegen“, damit einhergehend führt er zugleich die Eitelkeit als Gefahr an, die mit dem Schreiben unmittelbar verbunden ist. In den Philosophischen Betrachtungen kritisiert er die narzisstische Tendenz der Gattung Tagebuch: Soweit das Tagebuchschreiben nicht selber Leben ist, ist es in meinem Fall schlecht. Denn es wird für mich, wie alles was ich mache beinah sicher zum Anlaß der Eitelkeit und je weniger Zeit ich habe mich auf eitle Weise selbst zu bespiegeln, desto besser. Das Leben zerstreut, verblast am besten diesen Rauch und er ist auch wenn er bloß vorübergehend gedacht wird harmloser.
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Anschließend betont er: Wesentlich ist auf was sich die Eitelkeit bezieht. Zerstörend wirkt sie erst wenn sie sich auf das Höchste bezieht. […] Während ich diese Notizen hierherein von einem Zettel abschrieb mußte ich mir immer wieder sagen daß es besser wäre sie nicht zu schreiben weil sich die ganze Zeit die Eitelkeit regte. Ich freute mich es geschrieben zu haben und zwar in einer dummen Weise und konnte mir selber nicht klarmachen was mich freute aber es war nicht das Harmlose. Ich bin jetzt wie ein Kind das das Lachen verbeißt und dem man nun sagt ‚so lach doch heraus! aber warum lachst Du denn?‘ Wo Wärme ist da kann die Eitelkeit nicht gut gedeihen. Was die Anderen von mir halten beschäftigt mich immer außerordentlich viel. Es ist mir sehr oft darum zu tun einen guten Eindruck zu machen. D.h. ich denke sehr häufig über den Eindruck den ich auf andere mache und es ist mir angenehm wenn ich denke daß es gut ist und unangenehm im anderen Fall. (1.9.1929, WA 2,45)
Im Tagebuch heißt es am 15. November 1931: Wenn ich sage, ich möchte die Eitelkeit ablegen, so ist es fraglich, ob ich das nicht wieder nur aus einer Eitelkeit heraus will. Ich bin eitel und soweit ich eitel bin, sind auch meine Besserungswünsche eitel. Ich möchte dann gern wie der und der sein der nicht eitel war und der mir gefällt, und ich überschlage schon im Geiste den Nutzen, den ich vom ‚Ablegen‘ der Eitelkeit haben würde. Solange man auf der Bühne ist, ist man eben Schauspieler, was immer man auch macht. (TB, 64)
Im nachfolgenden Absatz: Ich höre im Geist schon die Nachwelt über mich reden, statt mich selbst zu hören, der, da er mich kennt, freilich ein viel undankbareres Publikum ist. Und das muß ich tun: nicht den Andern in der Phantasie hören sondern mich selbst. D.h. nicht dem Andern zusehen, wie er mir zusieht – denn so mache ich’s – sondern mir selbst zusehen. Was für ein Trick, und wie unendlich immer wieder die Versuchung auf den Andern, und von mir weg, zu schaun. (TB, 64f.)
Weil Wittgenstein das Tagebuch immer wieder mit Eitelkeit assoziiert, wird es gerade auch deswegen oft wieder unterdrückt. So schreibt er: „Hätte viel über mich selbst, meine schlechten Gefühle, Ängstlichkeiten und Übelwollen zu schreiben, aber ich versäume es.“ (29.10.1937, BEE) Diese Denunziation von Eitelkeit betraf nicht nur das Schreiben über sich, auch sein Ringen um ein Werk in Buchform war, wie er schreibt, von Eitelkeit motiviert, aus Sorge um die Authentizität seiner Gedanken. Denn vieles von dem, was er in seinen Vorlesungen und Diskussionsklassen weitergegeben hatte, wurde, wie er es selber formulierte, „vielfach missverstanden, mehr oder weniger verwässert, oder verstümmelt“ in Umlauf gebracht, und damit nicht nur das philosophische Werk seiner Präzision beraubt, sondern auch „meine Ei-
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telkeit aufgeregt und sie drohte mir immer wieder die Ruhe zu rauben“.45 So war er sehr bemüht, die Originalität seiner Gedanken vor Plagiaten zu retten und führte einige Briefwechsel wegen verfälschter Wiedergabe, so mit Alice Ambrose und Friedrich Waismann. Als Waismann einen Aufsatz Über den Begriff der Identität publizierte,46 schrieb ihm Wittgenstein am 19. Mai 1936: Ich habe gestern den Sonderabdruck Ihres Aufsatzes über Identität erhalten & ihn gelesen & danke Ihnen für seine Zusendung. Ich halte es nun für richtig & sogar für meine Pflicht Ihnen das folgende zu schreiben [...] Ich bitte Sie sich im Geiste in meine Lage zu versetzen: Ich habe jetzt sicher Jahrelang schwer, & mit Erfolg gearbeitet & habe nicht nur in dieser Zeit noch nichts veröffentlicht sondern bin heute noch zweifelhaft ob ich meine Arbeit je in eine Form bringen werde in der ich glauben werde sie veröffentlichen zu können. Ist es da nicht natürlich daß ich wünschen soll daß die denen ich die Resultate meines Denkens zur Verfügung gestellt habe dies – wo es geht – in klarer & eindeutiger Weise zum Ausdruck zu bringen? Und ich habe diese Resultate nicht nur ‚in vielfachen Gesprächen‘ angedeutet sondern sie Ihnen & Andern eingehendst erklärt, diktiert & Ihnen meine Manuskripte zur Verfügung gestellt. Ich sage dies aber nicht in vorwurfsvollem Geiste, sondern zur Rechtfertigung meines Verlangens. (IEAB)
Mit solchen Reaktionen verlieh Wittgenstein den eigenen Ideen deutlich an Gewicht. Trotzdem schreibt sein Student Maurice O’Connor Drury in seinen Erinnerungen, dass Wittgenstein „den größten Teil seines Lebens Pläne gemacht [hat], [...] ein ganz anderes Dasein zu führen als das des Universitätsphilosophen“, weil er diese Art intellektuelle Eitelkeit verabscheute. Er zitiert Ludwig Wittgenstein: „Als ich meine Professur aufgab, dachte ich, endlich sei ich meine Eitelkeit losgeworden. Jetzt merke ich, daß ich eitel bin auf den Stil, in dem ich mein Buch zu schreiben vermag.“47 Wie die Zitate zeigen, scheint die Eitelkeit ein reflektierter, wenn auch ambivalenter Gegenstand seiner Selbstkritik und ein Angelpunkt in Biographie und Werk gewesen zu sein. Auch seine Studenten berichten von permanenten Selbstanklagen während seiner Vorlesungen, er kritisierte hart, sich selbst ebenso wie andere, beklagte seine eigene Eitelkeit, entschuldigte sich oft für seine Dummheit oder schlechte Beispiele. Auch seine Tagebücher wie philosophischen Schriften sind durch solche editorischen Kommentare gekennzeichnet, in denen er immer wieder auch seine Angst davor äußert, zu lügen oder sich selbst zu täuschen. Er arbeitet, wie er selbst schreibt, im Tagebuch daran, sich selbst zu erkennen und seine Eitelkeit zu besiegen. Dabei sei,
45 Vorwort zum 1938 geplanten Buchprojekt, das 1945 im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen zu wesentlichen Teilen wieder auftaucht. 46 Friedrich Waismann, Über den Begriff der Identität, in: Erkenntnis 6, 1936, 56– 64. 47 Maurice O’C. Drury, Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein, in: Rhees, Porträts, 117–141, 117f.
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wie Alfred Nordmann betont, Wittgenstein nicht besonders eitel gewesen, er habe nur erkannt, dass Eitelkeit kein Problem des Charakters oder der Moral sei, sondern jegliches Wissen (auch über sich selbst) verhindere, wenn er im Tagebuch formuliert: Alles oder beinahe alles was ich tue auch diese Eintragungen sind von Eitelkeit gefärbt und das beste was ich tun kann ist gleichsam die Eitelkeit abzutrennen, zu isolieren und trotz ihr das Richtige zu tun obwohl sie immer zuschaut. Verjagen kann ich sie nicht. Nur manchmal ist sie nicht anwesend. (2.5.1930, TB, 23)
Wie Wittgenstein schreibt, brauche es eine gesonderte Aufmerksamkeit für die Eitelkeit, den Aufwand jene zu isolieren, was Mut erfordere, welcher wiederum die Voraussetzung für Selbsterkenntnis sei. Gerade darin, in der Isolierung der Eitelkeit, die seine Gedankenbewegungen verwässere, liege nach Nordmann die Bedeutung seiner Geständnisse.48 Doch sind sie nicht viel eher Teil dieser Eitelkeiten, indem er die Rhetorik des Genres geschickt für sich verwendet? 2.2 „Ersatz für einen Menschen“ Wittgenstein nennt das Tagebuch auch einen „Ersatz für einen Menschen“. Gerade wenn das gewohnte soziale Milieu verlassen wird, in Zeiten von Isolation, irritierendem sozialen Umfeld oder einfach nur in der Auseinandersetzung mit dem Fremden, werden die Herkunft und das Eigene oft erst deutlich bewusst. Das zeigen Wittgensteins Kriegstagebücher ebenso wie seine Briefe aus den verschiedenen Orten Niederösterreichs, aber auch aus Cambridge. Sie betonen jeweils die Schwierigkeiten der Kommunikation mit seinem sozialen Umfeld. Oft schreibt er im Ersten Weltkrieg von dieser Gefahr: „Nur sich selbst nicht verlieren!!“ (12.11.1914, BEE) Es war die „Beschränktheit“ der einfachen Soldaten, die Wittgenstein quälte: „Das macht den Verkehr mit ihnen fast unmöglich, weil sie einen ewig mißverstehen.“ (8.5.1916, BEE) Diese in Code geschriebenen reflektierenden Bemerkungen in den Manuskripten sind in der Kriegszeit dichter, da es ihm offensichtlich an Ansprechpartnern fehlte. Auch die Funktion des Tagebuches ist eine ähnliche, wenn es in den Philosophischen Betrachtungen heißt: „Es war zum großen Teil Eitelkeit. Zum Teil freilich auch wieder der Ersatz für einen Menschen dem ich mich anvertrauen konnte.“ (1.9.1929, BEE) Gerade in solchen Konfliktsituationen wie im Krieg kristallisiert sich in besonderem Maße ein Bewusstsein für die eigene soziale Identität heraus, welches formuliert werden will. Sah Wittgenstein in einer typisch aristokratischen Manier, den Kriegsdienst als Chance dafür, Teil des ‚normalen‘ Volkes zu sein, und als eine willkommene Ablenkung von sich selbst durch eine Aufgabe im Dienst eines Kollektivs, pflegte er mit dem Tagebuch doch
48 Nordmann, The Sleepy Philosopher, 167.
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Individualität und eine gewisse Form der sozialen Askese, die als Selbstversicherungsstrategie und ‚Festigung eines brüchigen Ichs‘ gelesen werden kann. Nach dem Krieg setzte sich dies in der Entsagung vom großen Erbteil und im Rückzug nach Niederösterreich fort, in die bodenständige Tätigkeit als Volksschullehrer. Doch die sozialen Reibeflächen blieben die gleichen. Aus Otterthal schreibt er im Februar 1925 dem Architekten Paul Engelmann: „Ich leide sehr unter den Menschen, oder Unmenschen, mit welchen ich lebe! Kurz alles wie immer.“ (Briefe, 146) Tagebuch und Brief sind damit nicht nur alltägliche Praxis, sondern auch das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit einer neuen Umgebung. 2.3 „Nachahmungstrieb“ Wittgensteins Tagebuch aus dem Ersten Weltkrieg ist nicht nur mit diesen persönlichen Lebenssituationen verknüpft – Jugend und psychisches Ungleichgewicht, Erlebnis von Krieg und Fremde, Hinwendung zum Glauben – sondern spiegelt auch seine Lektüre und deren „Nachahmung“ wieder, was auf seine Liebe zu einem literarischen Genre, aber auch auf seine Herkunft verweist. Das Tagebuch erfuhr in der Epoche der Moderne eine neue Blüte in Bourgeoisie und Kleinbürgertum; es verlor seinen protestantischenpietistischen Charakter der inneren Gewissenserforschung und wurde zur säkularisierten Praxis; durch Urbanisierung und zunehmende Mobilität wollte man über die Artikulation von Selbstreflexion hinaus das „Leben festhalten“.49 Disziplingeschichtlich lange als egozentrisch, banal, historisch wertlos betrachtet, da sie zwischen Subjektivem und Objektivem, Literarischem und Historischem changieren, interessierten Tagebücher aus der Zeit der Wiener Moderne zunehmend als vermeintlich ‚authentische‘ Erfahrungsberichte.50 Die Wiener Moderne Wie Jacques Le Rider detailliert nachgezeichnet hat, weisen Wittgensteins Tagebücher die Charakteristiken der von ihm genannten literarischen Vorbilder tatsächlich auf: von Samuel Pepys (1632–1703) scheint die Kryptographie persönlicher Bemerkungen in den Manuskripten inspiriert, wenn auch nicht so eingeschränkt wie bei diesem angewendet, auf nichtkonformistische Meinungen und sexuelle Abenteuer; von Gottfried Keller (1819– 1890) der hohe ethische Anspruch und die Themen Moral, Depression und mangelnde literarische Kraft. Keller gehörte während Wittgensteins Studienjahren zu den Klassikern, hatte das autobiographische Schreiben seiner Zeit maßgeblich beeinflusst und seine Bewunderung ausgelöst für die Fähigkeit „Ausdruck und Gefühl so genau in Einklang zu bringen“51. Darüber 49 Jacques Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben, 29. 50 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Europäische Tagebücher: Eigenart-FormenEntwicklung, Darmstadt 1990, 13f. 51 McGuinness, Wittgenstein, 387.
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hinaus scheint es aber auch mit den Tagebüchern von diversen Vertretern der Wiener Moderne wesentliche Familienähnlichkeiten zu geben: ein Unbehagen an der Moderne, das Erleben einer Kulturkrise und einer krisenhaften eigenen Identität. Hier sieht Le Rider Wittgensteins Tagebücher in der Tradition von Hofmannsthals Chandos-Brief, in Bezug auf religiöse und metaphysische Fragen um Ausdruck ringend, sowie des Freud’schen Unbehagens an der Kultur, dem Bewusstsein dafür, „daß ein großer Teil der Leiden des Individuums von der Verinnerlichung der sozialen und kulturellen Widersprüche abhängt“.52 Diese Interpretation kritisiert jedoch Brian McGuinness: Wittgensteins Ansicht, dass sich manches nicht sagen lasse, liege nicht an der mangelnden Fähigkeit des Formulierens und der Unzulänglichkeit des Ausdrucks, wie es der Chandos-Brief symbolisiere, sondern der Inhalt selbst verwehre sich der Formulierung. „Das selbstgewählte Schweigen angesichts der durch Missbrauch besudelten Ausdrücke ist nicht dasselbe wie die Überzeugung, dass alles Sagenswerte grundsätzlich nicht unmittelbar mitgeteilt werden kann.“53 Damit kritisiert McGuinness, dass Wittgenstein oft in den Kontext der Wiener Moderne gesetzt wird, ohne dass seine Spezifika, wie beispielsweise die Vermeidung von Zitaten, beleuchtet werden. Der gesellschaftliche Hintergrund der Wiener Jahrhundertwende war in jenen Jahren trotz Multi-Lingualität und gelebter alltäglicher Interkulturalität gekennzeichnet durch sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, Antisemitismus und verfestigte Vorurteile, wie die „Eitelkeit der Sprache“. In diesem Umfeld sieht Le Rider das Tagebuch an sich als Ausdruck eines Rückzugs ins Ich, ins „monologische Schreiben“, als Schutz vor dem gesellschaftlichen Chaos, der Pluralität, welche die Moderne ermöglicht hat, aber zugleich der Grund ihrer Zerstörung war.54 Wo es keine öffentlichen Diskussionen oder keine Auseinandersetzung über Moral, Ethik und Gesellschaft gab, war der Rückzug in einen gepflegten Individualismus die häufige Konsequenz. Die mangelnden Möglichkeiten politisch zu partizipieren, resultierten oft in innerer Emigration oder Engagement im systemfernen Be-
52 Jacques Le Rider, Aljoscha, Myschkin oder Stavrogin? Die persönlichen Notizbücher und geheimen Tagebücher Wittgensteins, in: Ders., Kein Tag ohne Schreiben, 285–312, 294. Mit Bezug auf Allan Janiks und Stephen Toulmins Wittgenstein’s Vienna. 53 McGuinness, Wittgenstein, 185. 54 Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben, 115. Die von Le Rider untersuchten Tagebücher der Hauptvertreter der Wiener Moderne, geschrieben 1870–1949, blieben alle zu Lebzeiten unveröffentlicht und hatten unterschiedlichste Entstehungsmotive: Bei Kafka als Zufluchtsort bei Schreibstörungen (63), bei Freud als Arbeitstagebuch bzw. Heft der ethnologischen Selbstbeobachtung (85), bei Kraus als unprivates Journal in Form der Fackel (126). Bezeichnet Musil das Tagebuch als „Zeichen der Zeit“, „die bequemst und zuchtloseste Form“ und „tägliche Gazette“ (255), verweigerte sich Hofmannsthal diesen „Sentimentalitäten“ und dem „Kult des Ich“. Er sah die Gefahr „der schiefen Bahn der Moderne zu folgen“, sich Sentimentalitäten hinzugeben, statt sich zu einer Form zu zwingen (109, 107).
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reich Kunst, Kultur und Wissenschaft. Auch Stephen Toulmin sieht Wittgenstein als beispielhaft für diese gesellschaftliche Entfremdung vieler bürgerlicher Intellektueller jener Zeit. Dies zeige sich in der strikten Trennung von Reflektierendem und Musischem, von Werten und Tatsachen, wenn es in Wittgensteins Tagebuch heißt: „Was geht mich die Geschichte an? Meine Welt ist die erste und einzige!“ Oder wenn er von der „Sprache, die alleine ich verstehe“ spricht. Thomas Macho sieht hinter solchen fast solipsistisch anmutenden Wendungen „mächtige und schmerzhafte Einsamkeitserfahrungen, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis an den Rand des Wahnsinns gereicht hatten“. Selbstgespräche, wie sie das Tagebuch gewährt, hätten ihn davor bewahrt: „Wittgensteins Therapie war eine grammatische Therapie, die das angsterregende Imaginäre stets in symbolische Formen und Ordnungen bannen wollte.“55 Was Macho als individuelles Charakteristikum beschreibt, ist nach Regina Munz eher ein allgemeines Kennzeichen von Kriegstagebüchern.56 Sie sieht, wie bereits beschrieben, Tagebücher als mentale Selbstvergewisserungen im Kriegsalltag, denn die dort festgehaltenen Ideologisierungen (wie die Rede von ‚der Wahrheit‘) sowie äußere und innere Feindbilder halfen dabei, eine Sinnhaftigkeit zu konstruieren. Es zeigt sich jedoch mehr an Wittgensteins Schreibstil als an den Inhalten des Tagebuches, dass er in die Darstellungsformen der Jahrhundertwende eingeordnet werden kann; und keiner ‚Privatsprache‘ folgt.57 So gilt seine vernetzte Schreibweise mit Verweisungscharakter als ein Charakteristikum der literarischen Moderne um 1900 und findet sich bei Robert Musil, Walter Benjamin, Georg Simmel oder Marcel Proust. Auch ist diese Unübersichtlichkeit und Ununterscheidbarkeit in der Darstellungsform, der Mischung von Leben und Werk symptomatisch bis in die 1920er Jahre, wo Bericht, Journalismus, Autobiographie und Novelle sehr dicht nebeneinander lagen, wie in Musils Werk, „das alles zugleich sein wollte: Autobiographie und Roman, theoretisches Essay und narrative Fiktion, enzyklopädisches System und Poesie“.58 Vor dem Hintergrund dieses Genre-Mix der Jahrhundertwende, man denke nur an die unterschiedlichen Formen von Essays, werden Wittgensteins Überlegungen zur Äquivalenz von Form und Inhalt verständlicher. So wenn er seinen Freund Ludwig Hänsel anweist, nur dann etwas niederzuschreiben, wenn die richtigen Worte und die richtige Form dafür gefunden werden: „Wenn Du etwas weißt, so sag‘s ihm; wenn Du einen Gedanken gehabt hast, so teil ihn ihm als Gedanken mit; wenn Du
55 Thomas Macho, „Kultur ist eine Ordensregel“. Zur Frage nach der Lesbarkeit von Kulturen als Texte, in: Gerhard Neumann/Siegrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, 236. 56 Munz, „Von mir kann ich nichts sagen. Ich lebe noch immer“, 157–178. 57 Jacques Bouveresse hat das Genre Tagebuch in Bezug auf Wittgensteins Privatsprachen-Argument untersucht. Ders., Le mythe de l’intériorité. Experience, signification et language privé chez Wittgenstein, Paris 1976. 58 Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben, 258.
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Zweifel hast, so teil sie als Zweifel mit, etc.“ (10.3.1937, HänselBr, 143) Aus diesem Geiste heraus kritisierte Wittgenstein öfters wissenschaftliche Arbeiten, hat selber aber nie Polemiken geschrieben, weil er meinte, über die dafür treffende Sprache nicht zu verfügen. Hier plädiert er dafür, nicht nur stets den Autor hinter dem Text sichtbar werden zu lassen, sondern formuliert auch die zentrale Frage des autobiographischen Schreibens, nämlich dass jede Textform den Inhalt und damit die Rezeption des Gesagten oder Geschriebenen präge. Auch in Wittgensteins Bemerkungen über den ‚Aphorismus‘ zeigt sich, wie sehr er der Form Bedeutung zumaß. Wenn die Forschung auch darüber streitet, ob er aphorismenhaft geschrieben habe,59 sah er sich selbst von den Gefahren der aphoristischen Schreibweise beeinflusst, weshalb er Karl Kraus’ Schriften, die er vor dem Ersten Weltkrieg sehr geschätzt hatte, zunehmend kritisch betrachtete: Wer in Aphorismen, Bemerkungen, schreibt, der muß verdaut haben. Sonst ist der Aphorismus ein Schwindel. Ich weiß freilich wie sehr die aphoristische Schreibweise – besonders durch Kraus – in unserer Zeit liegt. Und wie sehr bin ich selbst von ihm beeinflußt. Auch im schlechten Sinne. (HänselBr, 143)
An anderer Stelle heißt es: Rosinen mögen das Beste an einem Kuchen sein; aber ein Sack Rosinen ist nicht besser als ein Kuchen; und wer im Stande ist, uns einen Sack voll Rosinen zu geben, kann damit noch keinen Kuchen backen, geschweige, daß er etwas besseres kann. Ich denke an Kraus und seine Aphorismen, aber auch an mich selbst und meine philosophischen Bemerkungen.60
Wittgensteins Stil wurde oft als literarisch beschrieben und das beeinflusste auch die Art, wie er gelesen wurde und wird, anders als jeder andere analytische Philosoph. Er spielte jedoch nicht mit der Form wie einige seiner Zeitgenossen – zum Beispiel Hermann Bahr, der zahllose Unterscheidungen in Kalender, Tagebuch und Skizzenheft getroffen hatte – sondern reflektiert eher die Formgebung an sich und entzieht sich einer solchen. Eine Konsequenz dieses Fehlens einer eindeutigen Form war ein oft unübersichtlicher Nachlass, so bei Bahr, bei Musil – und auch bei Wittgenstein. Das Besondere bei ihm ist jedoch, dass aus Mangel an Veröffentlichungen der Nachlass
59 Es wurde oft auf die Ähnlichkeit mit dem Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg verwiesen und Wittgensteins Schreibweise als eine aphoristische beschrieben. Thomas Macho hingegen lehnt diese Beschreibung ab, denn ein Aphorismus sei „eine Theorie in Miniaturform, ein abgeschlossener Gedanke, oft auch nur ein Witz, ein Wortspiel oder eine knappe Pointe […] ein Gedanke mit Rufzeichen“, der „ähnlich dem Witz […] keine Wiederholung“ vertrage. Macho, Wittgenstein, 25. 60 McGuinness, Wittgenstein, 75.
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selbst maßgeblich wird, während bei anderen der Nachlass nur eine Vorform zum Werk selbst bildet. Die 1930er Jahre Wittgensteins Bemerkungen über eine geplante Autobiographie in den 1930er Jahren sind auch von einem bestimmten intellektuellen Umfeld inspiriert. Er hatte sich zu dieser Zeit auf verschiedene Weise mit Autobiographischem auseinandergesetzt: Er hatte diverse Autobiographien gelesen, u.a. die des italienischen Aeronauten Lunardi oder die Bekenntnisse von Augustinus, und hatte in den 1930er Jahren intensiven Austausch mit Russell, als dieser an seiner Autobiographie schrieb. Wie dem ersten Band von Russels Autobiographie waren auch Wittgenstein die Bekenntnisse von Augustinus ein Vorbild für seine Autobiographie. Diese Parallele formuliert Ray Monk, der beide Personen porträtiert hat, verweist aber auf Unterschiede: „I would say that Wittgenstein sought to improve himself, while Russell sought to improve the world, and that therefore Wittgenstein’s values were essentially religious and Russell’s essentially political.“61 Denkt man daran, dass Augustinus’ Bekenntnisse als klassischer Vorläufer und als religiöses „Gründungsdokument“ des Genres Autobiographie gelten, mit dem die „theoretische Reflexion des Erinnerungsproblems“ einsetzte, und dessen „Theorem der Erlösung durch memoria bis weit in die Moderne“ nachhallte,62 dann verweist das doch auf eine viel grundsätzlichere Auseinandersetzung von Wittgenstein mit dem Thema Erinnerung und Autobiographie – auch jenseits einer „erbarmungslos“63 Augustinischen Anklage und Analyse der eigenen Fehler und die Suche nach ihren Beweggründen in der Vergangenheit. Zur selben Zeit hatte Wittgenstein auch Kontakt zu der BloomsburyGruppe und zu Lytton Strachey, mit dem er bereits als Mitglied des elitären studentischen Diskussionszirkels The Apostles zu tun hatte, und welcher, ebenso wie Virginia Woolf, mit seinen Biographie-Werken die biographische Tradition in England modernisierte, unter der bis dahin undenkbaren Berücksichtigung von privaten Quellen und psychoanalytischen Begründungszusammenhängen. Strachey hatte das Leben der Königin Viktoria, wie auch das von Königin Elisabeth I., beschrieben und löste im zeitgenössischen Biographie-Diskurs Debatten darüber aus, was eine gelungene Darstellung sei und wo die Grenzen des Genres lägen. Wie Russell hatte Wittgenstein Strachey gelesen und sein Werk Life of Victoria in Vorlesungen und Manuskripten kritisiert, insbesondere den letzten rein spekulativen Abschnitt:
61 Monk, Philosophical Biography: The Very Idea, 13. 62 Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001, 60 u. 62. 63 McGuinness, Wittgenstein, 90.
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Wir lesen in einer Erzählung, jemand habe einen Traum gehabt und ihn niemandem mitgeteilt. Wir fragen nicht, wie der Autor das erfahren konnte. – Verstehen wir es nicht, wenn Strachey Vermutungen darüber anstellt, was die Königin Victoria knapp vor ihrem Tode vor sich gesehen haben mag? Freilich – aber verstanden Leute nicht auch die Frage, wie viele Seelen auf einer Nadelspitze Platz hätten? D.h.: die Frage, ob man das nicht versteht, hilft uns hier nicht; wir müssen fragen, was wir mit einem solchen Satz anfangen können. – Daß wir den Satz verwenden, ist klar; wie wir ihn verwenden, die Frage. Daß wir den Satz verwenden, sagt uns noch nichts, weil wir die gewaltigen Verschiedenheiten der Verwendung erkennen. Wir sehen also das Problem im Wie. (1.9.1947, BEE)
Lytton Strachey hatte mit Eminent Victorians die viktorianische Moral mit Hilfe ihres bevorzugtesten Genres, der Biographie, kritisiert. Der Autor war durch die psychoanalytische Denkart von Freud, die eigene Homosexualität und ausschweifende Lebensart sensibilisiert für die zu entlarvende Scheinmoral, wie auch durch die Aufbruchsstimmung vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Nach Ansicht von Ulrich Raulff diente die Biographik für den Bloomsbury-Kreis dabei als „Mittel der Absage und Mittel der Erneuerung zugleich: Absage an die moralischen Standards und die heroische Selbststilisierung der Viktorianer [...] Erneuerung des Lebens- und Schreibstils im pazifistischen, promiskuitiven, elitären und ‚modernen‘ Bloomsbury [...] als Mittel der Befreiung aus einer als zwanghaft empfundenen Epoche, Biographik aber auch als Labor zur Erprobung neuer vitaler und artistischer Möglichkeiten“.64 Strachey gilt nicht nur als der ‚erste‘ moderne Biograph, sondern auch als der „Erbe eines Zeitalters, das dem Konsum erzählten Lebens sein unerhörtes Ausmaß wie auch seine enzyklopädische Form gegeben hatte“,65 in Form des 63-bändigen Dictionary of National Biography (DNB 1885–1900), herausgegeben von Leslie Stephen, dem Vater von Virginia Woolf. Auch Woolf schrieb in den 1920/30er Jahren verschiedene theoretische Essays über The new biography oder The art of biography. Wie Strachey wendet sie sich gegen die Tradition der DNB. Eine Biographie erfasse die Persönlichkeit nicht durch eine Ansammlung von offiziellem Material, sondern durch geschickte Manipulation: „[…] facts must be manipulated; some must be brightened; others shaded: yet, in the process, they must never loose their integrity“.66 Gerade am Anfang des 20. Jahrhunderts verändert sich das Genre der Biographie massiv, verliert die Hälfte ihres Umfangs und der Biograph schreitet nicht mehr „slavish in the footsteps of his hero“67,
64 Ulrich Raulff, Wäre ich Schriftsteller und tot … Vorläufige Gedanken über Biographik und Existenz, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Hamburg 1996, 187–204, 200. 65 Ebenda, 194, 203. 66 Virginia Woolf, The New Biography (1927), in: Andrew McNeillie (Ed.), The Essays of Virginia Woolf IV, 1925–1928, London 1994, 473–480, 473. 67 Woolf, The New Biography, 475.
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sondern gewinnt mehr Freiheiten: er urteilt, kürzt, synthetisiert, distanziert und emanzipiert sich von seinem Subjekt – und wird damit als Autor sichtbarer. In The Art of Biography sieht Virginia Woolf Stracheys Biographie von Viktoria als gelungen an, weil „he treated biography as a craft; he submitted to its limitation“, während die von Elisabeth „treated biography as an art; he flouted its limitation“. Die Kunst der Fiktion sei das Arrangement, die Suggestion und der dramatische Effekt – jedoch müsse die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen aufgezeigt und eine mangelnde Quellenlage, wie bei Elisabeth, zugegeben werden.68 Ihr Essay A Room of one’s own (1929) ist hingegen ein autobiographisch gefärbter Text, hervorgegangen aus einer Vortragserie im Jahr 1928 am Newnham College und Girton College, zwei der Frauencolleges der Universität Cambridge. In ihren Vorträgen setzte sich Woolf öffentlichkeitswirksam für emanzipatorische Belange ein: Sie vertrat die These, dass wenige Frauen als Künstler oder Komponisten zu Ruhm gelangten, weil sie lange keine eigenen Räume oder kein eigenes Geld gehabt hätten, oder Beschränkungen anderer Art unterlagen. Ihr Text kann vor dem Hintergrund zeitgenössischer Debatte gelesen werden, als im Cambridge der 1920er Jahre darüber diskutiert wurde, ob den Frauen das ‚full membership‘ zur Universität – welches verbunden war mit diversen Privilegien – gewährt werden sollte. Bekamen Frauen an der Universität Oxford jenes gemeinsam mit dem Recht auf Abschlüsse bereits im Jahr 1920, wird im in dieser Hinsicht konservativeren Cambridge ein Jahr später das Recht auf Abschlüsse gewährt, das full membership jedoch erst im Jahr 1947. Woolfs Essay wurde auch von Wittgenstein wahrgenommen und in Bezug auf die autobiographischen Hintergründe der Autorin, die er von gemeinsamen Diners bei John Maynard Keynes kannte, diskutiert. Er meinte, dass Woolf vor dem Hintergrund ihrer Familie – in der die Einzelnen nach distinktivem Verhalten und äußerem Erfolg beurteilt wurden – so argumentieren müsse, damit jedoch lediglich den Maßstab des Vaters unreflektiert wiedergebe, statt ihn zu hinterfragen.69 Ein Problem, für das Wittgenstein sensibilisiert war, denn der Maßstab des Vaters war auch für ihn selbst eine heikle Referenzgröße. Besser identifizieren konnte er sich vermutlich mit Woolfs kritischen Bemerkungen über Cambridge, die an seine eigenen Bemerkungen erinnern, wenn sie schreibt: „Much though I hate Cambridge, and bitterly though I have suffered from it, I still respect it. I suppose that even without education, as I am, I am naturally of that narrow, ascetic, puritanical breed“.70 Als Ludwig Wittgenstein im Jahr 1931 Schwierigkeiten des autobiographischen Schreibens verdeutlichen will, wie die Anerkennung der eigenen Natur, bemüht er einen außergewöhnlichen Vergleich: was es be-
68 Vgl. Woolf, The Art of Biography (1939), in: Rachel Bowlby (Ed.), The Crowded Dance of Modern Life. Selected Essays 2, London 1993, 144–151, 147. 69 Vgl. Rhees, Postscript, in: Ders., Personal Recollections, 190–231, 206f. 70 Nigel Nicolson (Ed.), Virginia Woolf. Letters IV, Harcourt 1979.
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deute, wenn ein „Straßenköter“ seine Biographie schriebe, und welche Gefahren dann lauerten, nämlich seine Natur zu verleugnen, sie durch Stolz zu überhöhen oder sich davon zu distanzieren. (WA 3,305,1) Dieses bizarre Beispiel (zit. vgl. 5.) lässt an Virginia Woolfs Biographie eines Hundes denken, die sie zwei Jahre später veröffentlichte: Flush. A Biography (1933). Ihre damals sehr erfolgreiche Romanbiographie über den Cockerspaniel von Elizabeth Barrett Browning, wie über Browning selbst, charakterisiert eine Mischung aus Fakten und Phantasie, insbesondere die Erzählperspektive aus Sicht des Hundes. Wittgensteins Gedanken zur Autobiographie können im Zusammenhang mit diesem Aufbruch der Biographie rund um Lytton Strachey und Virginia Woolf betrachtet werden. So dürfte der Erfahrungshorizont Bloomsbury, wie zuvor der Erste Weltkrieg und die Wiener Moderne, sein Nachdenken über Autobiographie wesentlich mit geprägt haben. 2.4 Zur Rolle biographischer Details: Die jüdische Herkunft Auch Wittgensteins Gedanken zum Jüdischen können in unterschiedlichster Weise als eine explizite Form der Auseinandersetzung mit sich selbst gelesen werden. Mit dem Gedanken des „Jüdisch-Seins“ beschäftigte er sich seit den frühen 1930er Jahren in den Manuskripten, etwa in dort festgehaltenen Träumen. Zur selben Zeit formulierte er dort auch autobiographische Bemerkungen. In den späten 1930er Jahren nannte er seinen Charakter und den seiner Arbeit einen „jüdischen“, 1936/37 entstanden die Geständnisse an seine Freunde und die Familie über seine jüdische Herkunft und 1938 politisierte sich im Zuge des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich die Auseinandersetzung mit seiner Herkunft durch den Staatsbürgerschaftswechsel. Im Jahr 1931 schreibt Wittgenstein erstmals Anmerkungen über jüdischen Intellekt und Geist und betont, wie sehr sich die westliche Zivilisation von der jüdischen Kultur unterscheide: „Der Jude wird in der westlichen Zivilisation immer mit Maßen gemessen, die auf ihn nicht passen.“ (13.9.1931, VB, 51) Sucht er hier nach „Maßen“, die auf ihn selber passen? In Wittgensteins Gedanken zum Jüdischen finden sich vor allem Verweise auf seine eigene Biographie sowie zur Verbindung zwischen Biographie und Werk in Begrifflichkeiten wie Genie oder Talent. So heißt es über jüdisches Talent und Originalität: Das jüdische ‚Genie‘ ist nur ein Heiliger. Der größte jüdische Denker ist nur ein Talent. (Ich z.B.). Es ist, glaube ich, eine Wahrheit darin, wenn ich denke, daß ich eigentlich in meinem Denken nur reproduktiv bin. Ich glaube, ich habe nie eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie wurde mir von jemand anderem gegeben […] Was ich erfinde, sind neue Gleichnisse.
Diese Reproduktivität sieht Wittgenstein als jüdische Eigenschaft an und schreibt dazu weiter:
102 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Das ist nun nicht die Angabe eines Lasters und es ist alles in Ordnung, solange das nur völlig klar bleibt. Gefährlich wird es erst, wenn man die Art des Jüdischen mit der des Nicht-Jüdischen Werks verwechselt, und besonders, wenn das der Schöpfer des ersteren selbst tut, was so nahe liegt. (1.4.1932, VB, 42)
Wittgenstein greift das Jüdische in der Unterscheidung zwischen Talent und Genius erst in den Jahren 1939/40 erneut auf. Sein Freund und Nachlassverwalter Rush Rhees war der erste, der einen Zusammenhang zwischen dessen Anmerkungen zu einer Autobiographie, seinen Geständnissen und den Bemerkungen zum Jüdischen hervorhob. Nach Rhees beziehen sich einige Gedanken zum Jüdischen auf Otto Weiningers Auffassung vom Judentum in Geschlecht und Charakter, von dem sich Wittgenstein als beeinflusst bezeichnet hat. Weininger hatte die jüdische Frage nicht als eine anthropologische, sondern als die einer Geisteshaltung diskutiert, was nach Rhees in Wittgenstein ein Nachdenken über die Situation der Juden in Europa ausgelöst habe und auch darüber, was in ihm selbst jüdisch sei; Gedanken jedoch, wie Rhees betont, „Weininger never could have written“.71 Während Weininger und Karl Kraus das Jude-Sein ein ethisches Problem oder ein Problem des Charakters oder des Willens genannt hatten, welches „nur individuell gelöst“ werden könne durch die Überwindung der Natur, habe Wittgenstein jene Zuschreibung als eine wertfreie Feststellung gesehen und er zog, wie Rhees betont, daraus eine andere Konsequenz, nämlich die, authentisch zu sein. Das bedeute seiner eigenen Natur nachzugehen: „Laß nur die Natur sprechen und über die Natur kenne nur ein höheres, aber nicht das, was die anderen denken könnten.“ (1929 VB, 12) Die Bemerkungen über das Jüdisch-Sein hätten ihm nur dazu gedient, sich selbst auf die Spur zu kommen. Spricht Wittgenstein vom „jüdischen Denker“, der sich als ein solcher zu erkennen geben sollte, dann geht es ihm darum, die Autorenschaft klar zu bezeichnen. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass seine Überlegungen zum Jüdischen in die gleiche Zeit fallen wie seine Gedanken zu einer Autobiographie. Bereits Rhees hat darauf verwiesen, dass auch Wittgensteins Idee zu einer Autobiographie von Otto Weininger angeregt worden sein könnte, der schrieb: „[G]erade im wirklich treuen Gedächtnis liegt auch die Wurzel der Pietät.“72 Nach Weininger hat der begabte Mensch ein Interesse an einer Rückerinnerung an einzelne Erfahrungen und ihre Bedeutung für sein Leben, um sich durch Selbstbeobachtung seiner Kontinuität und seiner selbst zu vergewissern. Betrachtet man Wittgensteins zweiseitige autobiographische Notizen aus den 1920/30er Jahren, die Erinnerungsfragmente an die Schulzeit beinhalten, wie „Turnschule suchen arische Abstammung“ und „Verhältnis zu den Juden“, zeigt das einen gewissen Stellenwert des Jüdischen. Inwiefern beschäftigte er sich im Alltag mit diesen Fragen?
71 Rhees, Postscript, 198 u. 208f. 72 Ebenda, 202.
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Wittgenstein dürfte das erste Mal mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert worden sein, als es für ihn ein Hindernis bildete, einem deutschnationalen Turnverein beizutreten. Viele Jahre später, 1916, fand sich Wittgenstein erstmals in einem jüdischen Intellektuellen-Zirkel, genannt das ‚Palais am Mauritzplatz‘. rund um Paul Engelmann in Olmütz wieder. Er genoss nach Engelmann die Behaglichkeit des Engelmann’schen Kreises, „was bei Wittgenstein, der ja überall, außer in seinem Wiener Familienkreis, sich so vereinsamt fühlte wie in einer Wüste [...] übermäßige Gefühle der Dankbarkeit erweckte“. (EngelBr, 43) Auch wenn McGuinness das Unjüdische des jüdischen Zirkels herausstreicht,73 das Schicksal jener Freunde, die im Zuge des wachsenden Antisemitismus zur Emigration gezwungen waren, muss Wittgenstein berührt und die Frage nach dem Jüdischen persönlich gefärbt haben. So war mit der zunehmenden Judenfeindlichkeit Fritz Zweig emigriert; Peter Eng beging Selbstmord; Max Zweig begann, in seinen Stücken jüdische Verfolgung und Widerstand zu thematisieren und wanderte nach Palästina aus, wo auch Paul Engelmann lebte, der schon viel früher einen universellen Zionismus pflegte. Neben dem immer deutlicheren Ausschluss der Juden aus der Öffentlichkeit kam Wittgenstein in direkten Kontakt mit Antisemitismus sowohl durch die Ermordung Moritz Schlicks als auch durch Vorkommnisse innerhalb seiner eigenen Familie. Im Jahr 1930 pöbelte der Ziehsohn seiner Schwester Margarete, Wedigo von Zastrow, gegen den Familienfreund Oskar Wollheim (der Sektionschef im Finanzministerium war), und diese zog Wittgenstein zu Rate, wie dem zu begegnen sei. Zum großen Familienstreit führte die Frage nach der jüdischen Herkunft 1938, als Paul sich als Einziger für das Exil entschied, während die Schwestern, unterstützt durch Ludwig, bereit waren, für eine „Arisierung“ eine enorme Summe zu bezahlen. Das hatte zur Folge, wie McGuinness problematisch, fast herausfordernd formuliert: „They made themselves, what they had always thought they were, non-Jewish, and in their talk and discussions made the distinctions they had always made.“ Der Begriff Assimilation scheint ihm in diesem Zusammenhang unangebracht; er nennt die Geschichte der Wittgensteinfamilie eine charakteristische für die „evaporation of Jewishness“: „Wittgenstein, in a confessional phase, reproached himself bitterly for having minimized his Jewish ancestry. Yet he was right to minimize it, if a correct impression of his family and its influence on him was the aim. No one at the turn of the century would have thought of characterizing that large cousinhood as a Jewish family, as it is occasionally described today.“74 Hier stützt sich McGuinness auf den Ökonomen Karl Menger, einen Freund von Wittgensteins Tante Clara, der in seinen Erinnerungen an den Wiener Kreis bemerkte, dass, wenn es so eine Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Haushalten gebe, der Wittgenstein’sche zu den letzteren
73 Vgl. McGuinness, Wittgenstein and the Idea of Jewishness, 226f. 74 Ebenda, 221f.
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gehöre.75 In seiner Biographie sieht McGuinness Ludwig Wittgenstein und seine Geschwister von einem latenten „jüdischen Selbsthass“ eines Karl Kraus oder Otto Weiningers geprägt, der sich 1938 im Willen zur Arisierung geäußert haben soll. Hingegen habe nach 1945 die jüdische Abstammung gewissermaßen ein positiv konnotiertes Sonderbewusstsein in der Familie evoziert, und er sah „gerade in ihr die Quelle ihrer Energie und ihrer Intelligenz“.76 Somit scheint der Frage des Jüdischen, in Zusammenhang mit Wittgensteins autobiographischen Bemerkungen, wohl doch eine gewisse Relevanz zuzukommen. Für Wittgensteins Selbstwahrnehmung sind seine Bemerkungen zum Jüdischen, insbesondere auch solche in Bezug auf seine Familie, durchaus aufschlussreich, wenn er schreibt: Macht und Besitz sind nicht dasselbe. Obwohl uns der Besitz auch Macht gibt. Wenn man sagt, die Juden hätten keinen Sinn für den Besitz, so ist das wohl vereinbar damit, daß sie gerne reich sind, denn das Geld ist für sie eine bestimmte Art von Macht, nicht Besitz. (Ich möchte z.B. nicht daß meine Leute arm werden, denn ich wünsche ihnen eine gewisse Macht. Freilich auch, daß sie diese Macht recht gebrauchen möchten.) (1.4.1932, VB, 44)
Hier formuliert er die besondere Machtposition seiner Familie, die er durchaus schätzt, zugleich zeigt es die Außenseiterposition, die er stets eingenommen und in der er sich gesehen hat. Hier schließt er an Diskussionen an, die öfters im Familienkreis geführt wurden, und die auch in den Tagebüchern seiner Schwestern Margarete und Hermine verzeichnet sind. Bei allen drei Geschwistern wird das Vermögen und die Machtfülle der Familie immer wieder thematisiert und problematisiert – auch wenn nach dem Rückzug des Vaters ins Privatleben sich die Macht nur mehr hinter den Kulissen durch den Einfluss auf bekannte Industrielle manifestierte. In den Familienerinnerungen selbst ist von dieser kritischen Haltung kaum etwas zu spüren. Anders als dort suggeriert, zeigen die in Briefen und Tagebüchern aufgezeichneten Diskussionen innerhalb der Familie, dass das Bewusstsein für die jüdische Familienabstammung bereits vor dem Jahr 1938 ein Thema war – evoziert durch Bekanntschaften, wie mit Paul Engelmann, oder durch die Lektüre Otto Weiningers. Es kommt zu familiären Reflexionsprozessen über individuelle Eigenheiten, über Identifikation als etwas selbst Gewähltes oder Zugewiesenes, aber nichts Natürliches. Auch wenn die Familie im allerhöchsten Maße assimiliert war, gab es doch ein Bewusstsein für die jüdische Herkunft. Sich als Angehöriger einer Minderheit zu fühlen, wenn auch nur am Rande, bot in jedem Fall ein Reflexionspotenzial, dessen Wittgenstein sich durchaus bewusst war.
75 Vgl. Karl Menger, Reminiscences of the Wittgenstein Family, in: Flowers, Portraits, 111–116. 76 McGuinness, Wittgenstein, 17.
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Viele von Wittgensteins biographischen Verweisen klingen kryptisch, so wenn er schreibt: „Die Denkbewegung in meinem Philosophieren müßte sich in der Geschichte meines Geistes, seiner Moralbegriffe und dem Verständnis meiner Lage wiederfinden lassen.“ (7.11.1931, TB, 62) Er führt jedoch nicht näher aus, worauf er sich damit genau bezieht, sodass diese Leerstelle als Herausforderung zu verstehen ist. Was verbirgt sich hinter seinem Plädoyer für ein „Verständnis meiner Lage“? Autobiographische Überlegungen helfen oft bei der Deutung früherer Entscheidungen. Deshalb treten Wittgensteins autobiographische Bemerkungen nicht zufällig in komprimierter Form nach großen biographischen Veränderungen oder sogar Brüchen auf: So finden sich die ersten Bemerkungen Wittgensteins über ein geplantes Tagebuch 1908 anlässlich der Übersiedlung nach Berlin. Seine ersten Tagebücher entstehen aber erst im Ersten Weltkrieg, vom spannungsgeladenen Umfeld motiviert, wie von inneren Irritationen und einer Hinwendung zum Glauben. Eine nächste autobiographische Reflexionsphase folgt nach der Wiederaufnahme der Philosophie in Cambridge 1929. Das zeigt sich in seinen Bemerkungen in den Manuskripten zu einer geplanten Autobiographie wie zum eigenen Jüdisch-Sein. Einzelne Begegnungen in den 1920er Jahren dürften diesen Reflexionsprozess maßgeblich beeinflusst haben, wie etwa Wittgensteins Kontakte zum jüdischen Olmützer Kreis (seit 1916) um den Freund Paul Engelmann, ebenso die Lektüre von Otto Weininger oder Anfang der 1930er Jahre antisemitische Vorkommnisse im familiären Umfeld. Zugleich kam es in dieser Zeit zu einer erneuten Auseinandersetzung mit seiner früheren philosophischen Position im Tractatus. Anlass dafür war die gemeinsame Arbeit an einem Buch mit Friedrich Waismann, der versuchte, Wittgensteins Gedanken zu strukturieren und in Buchform zu bringen (1930–33/34). Waismann protokollierte als Assistent Moritz Schlicks dessen Gespräche mit Wittgenstein zwischen 1926 und 1933 und wurde im Wiener Kreis zum Sprecher für dessen Ideen.77 Es bildete sich bald ein LehrerSchüler-Verhältnis heraus. Jedoch wendete sich Wittgenstein zunehmend gegen das gemeinsame Buch, weil Waismann eine gewisse Beständigkeit der Gedankenführung wünschte und jede Problemlösung als eine abgeschlossene Diskussion betrachtete, während Wittgensteins Denken sich von den Ansätzen des Tractatus fortentwickelte und er neue Gedanken zu formulieren versuchte. Das Tagebuch 1932/33 schrieb Wittgenstein also zu einer Zeit, als er philosophisch höchst produktiv war. Mit dem Big Typeskript fand er erstmals eine Gliederung und eine gewisse Struktur für seine Arbeit
77 Waismanns Verdienst ist es, die Gedanken Wittgensteins aus den Jahren 1928– 35 zugänglich gemacht zu haben, wie auch durch seinen Versuch der Strukturierung ihn inspiriert zu haben. Doch das geplante Buch Logik, Sprache, Philosophie (1965; dt. 1976) kommt aufgrund stetiger neuer Präzisierungen zu keinem Abschluss und wird erst im Nachlass veröffentlicht. Vgl. Gordon P. Baker, Verehrung und Verkehrung. Waismann und Wittgenstein, in: C.G. Luckhardt (Ed.), Wittgenstein: Sources and Perspectives, Bristol 1996, 243–285, u.a. 244 u. 253f.
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und sein geplantes Buch – auch wenn sich jene bald wieder auflösten. Im Privatleben hingegen gab es Turbulenzen durch das Ende der langjährigen Beziehung zu Marguerite Respinger, die von ihr gelöst wurde, als er sich nicht in der Lage sah, ihren „bürgerlichen“ Wünschen nach Heirat nachzukommen. Die Auseinandersetzung damit wie auch mit Charaktereigenschaften von Freunden geben dem Tagebuch einen sehr intimen Charakter, wenn es auch zugleich philosophische Diskussionen reflektiert. Zu jener Zeit äußert sich bei Wittgenstein eine neue philosophische Denkweise, die bereits auf die Philosophischen Untersuchungen verweist: Seinen Vortrag über Ethik am 17. November 1929 vor der Cambridger Gesellschaft der Heretics, einer 1909 gegründeten, losen Verbindung von Freidenkern, gestaltet er ungewöhnlich persönlich. So notiert Friedrich Waismann in einer Gesprächsnotiz vom 17. Dezember, dass der Vortrag vor allem zum Schluss „in der ersten Person gesprochen“ wurde: „Hier läßt sich nichts mehr konstatieren; ich kann nur als Persönlichkeit hervortreten und in der ersten Person sprechen.“78 Bemerkenswert daran ist auch, dass dies Wittgensteins zweiter und letzter öffentlicher Vortrag war – nachdem er den ersten einige Monate zuvor bei der Aristotelian Society gehalten hatte. Als er im Jahr 1936/37 seine Geständnisse für Freunde und Geschwister formuliert, hatte er sich gerade nach Norwegen zurückgezogen, um dort an den Philosophischen Untersuchungen arbeiten zu können. Jene Reisen waren nicht nur eine Suche nach einer ‚tabula rasa‘, nach einem Neuanfang, sondern führten auch zur Neukonstitution mancher seiner früheren Beziehungen. So hatte sich das Verhältnis zu seinen Lehrern Bertrand Russell und G.E. Moore bereits durch den ersten Norwegenaufenthalt (1913) maßgeblich verändert. Moore mutierte zu einer Art Student oder Adorant, als er Wittgenstein nach Norwegen nachreiste, wo ihm jener seine Gedanken diktierte. Zu Russell hatte er ein zunehmend ambivalentes Verhältnis, aus dem Gefühl, dass sie sich nur in philosophischer, keineswegs in ideeller Hinsicht verstanden. Wenn das der Freundschaft auch keinen unmittelbaren Abbruch tat, zeigt sich doch eine Unsicherheit Russells, als er 1929 zu Wittgensteins Rigorosumsprüfer erwählt wird, ob jener das goutieren würde.79 Ein maßgeblicher Einschnitt in Wittgensteins Biographie war das Jahr 1938 mit dem Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland sowie der Zweite Weltkrieg. Beide Ereignisse beeinflussten sein Leben insofern, als er nicht mehr nach Österreich reisen konnte und sich in der Folge um die britische Staatsbürgerschaft bemühte. Darüber hinaus dürften die Probleme seiner Schwestern und ihr Ansuchen um den Nachweis einer arischen Abstammung sein Bewusstsein für die jüdische Herkunft verstärkt haben, denn es kommt zu erneuten Auseinandersetzungen mit dem Jüdischen in seinen Ma-
78 Zit. n. Joachim Schulte, Vorwort, in: Ludwig Wittgenstein, Vortrag über Ethik, Frankfurt/M. 1989, hg. v. Joachim Schulte, 7–8, 7. 79 Vgl. Wittgenstein, hg. v. Nedo/Ranchetti, 236.
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nuskripten, wenngleich die autobiographische Beschäftigung damit bereits viel früher eingesetzt hatte. Summarisch betrachtet zeigt sich, dass nicht nur nach biographischen Veränderungen, sondern auch in höchst produktiven Arbeitsphasen ein vermehrtes Bedürfnis Wittgensteins zu konstatieren ist, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Da es ihm nur in bestimmter Umgebung möglich war, kreativ zu sein, stehen persönliche Befindlichkeit und Werk in noch engerer Wechselwirkung.
3. W ITTGENSTEINS E INSTELLUNG AUTOBIOGRAPHIE
ZUR
Der Frage nach Wittgensteins Einstellung gegenüber dem Genre der Autobiographie ist jene nach seiner Zuordnung, seinem Verständnis von Heimat und Identität inhärent. Was kann über seine Selbstverortung, geographischer und intellektuell-kultureller Natur, gesagt werden? Die Biographen haben die verschiedenen Identitäten, die Wittgenstein zugeschrieben werden, an unterschiedlichen Erfahrungen thematisiert: Brian McGuinness vor allem die frühen Jahre, den Einfluss der Familie und ihres Reichtums, der österreichisch-habsburgischen Kultur, des Ersten Weltkrieges und der Depression, Ray Monk eher die Erfahrungen in England, in Manchester und im Cambridger Milieu. Die Frage nach der geographischen Zuordnung spielt nach McGuinness insofern eine Rolle, als viele seiner Fragestellungen von außen an ihn herangetragen worden seien (durch Bertrand Russell, Gottlob Frege, Piero Sraffa oder Luitzen E.J. Brouwer), und sich Wittgenstein selbst auch als Reproduzent der Gedanken anderer präsentiert. Doch der Philosoph lebte für seine Arbeit und wollte nicht zulassen „von Wien oder Cambridge definiert zu werden“, schreibt McGuinness.80 Allgemein ist solchen Zuordnungen gegenüber eine gewisse Skepsis zu bewahren, wie es der deutsche Soziologe Georg Simmel formuliert hat: Örtliche Distanz sei nicht gleichbedeutend mit emotionaler Distanz. Der allgemeine Raum sei eben nur die conditio sine qua non für die „Gestalt der Dinge, aber nicht ihr Wesen noch der erzeugende Faktor“: „Zu den häufigsten Ausartungen des menschlichen Kausaltriebes [gehört], formale Bedingungen, ohne die bestimmte Ereignisse nicht stattfinden können, für positive, produktive Ursachen derselben zu halten.“81 Welche Bedeutung gab Wittgenstein selbst dem unmittelbaren Lebensumfeld?
80 McGuinness, Einleitung, in: FamBr, 6–14, 7. 81 Georg Simmel, Der Raum und die räumliche Ordnung der Gesellschaft (1918), in: Otthein Rammstedt (Hg.), Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M. 1992, 687–702, 687f.
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3.1 „Wandern“ als biographisches und philosophisches Konzept Ludwig Wittgenstein führte seit 1929 eine duale Existenz zwischen England und Österreich, zwischen akademischer Lehrverpflichtung und Leben in der Familie; war Deutsch die Sprache, in der er dachte und arbeitete, so gewährte das universitäre Leben in England ein gewisses Maß an Freiheit, wie es in seinem Nachruf durch das Trinity College heißt: „He is not the first who could take refugee in our society, because it was large enough to make no demands on him.“82 Aber Wittgenstein hielt diese „Luft zum Arbeiten“ nicht für grundsätzlich erstrebenswert, und riet einigen seiner Freunde, wie Maurice O’C. Drury, einen praktischen Beruf zu erlernen: In Cambridge gibt es für Sie keinen Sauerstoff. Mir macht das nichts aus, denn ich produziere meinen eigenen Sauerstoff. Was Sie brauchen, ist, daß Sie normale Men83 schen kennenlernen […]
Dieser Einfluss, den er auf seine Freunde und Studenten ausübte, ihrer „Natur“ nach zu handeln (davon ausgehend, dass er ihre „Natur“ kenne), scheint ihm ein Anliegen gewesen zu sein, weil er selbst lebenslang dieser Vorstellung folgte, immer wieder unter Phasen der Selbstentfremdung litt, doch mit dem Verzicht auf sein Erbe (1919) oder seine Professur (1947) daraus jeweils auch Konsequenzen zog. Wittgensteins intensive Auseinandersetzung mit seinen Freunden, insbesondere seine Einflussnahme auf ihre Lebenswege, scheint nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem ‚Anderen‘, sondern vor allem seine Ansprüche an sich selbst, wie auch unrealisierte Wünsche, widerzuspiegeln, etwa wenn sein Schüler Norman Malcolm Wittgensteins Leben als eine „constant journey“ beschreibt und den Zweifel als seine „moving force“.84 Er selbst schreibt: „Frieden in den Gedanken. Das ist das ersehnte Ziel dessen, der philosophiert.“ (4.3.1944, VB, 91) Verstand Wittgenstein die Philosophie als eine Kartographie der Landschaft, so sah er sich selbst als Wandernden: „Du mußt erst auf die Wanderschaft gehen und dann kannst du in die Heimat zurückkehren und dann wirst du die andern verstehen.“ (11.9.1929, BEE) Ob das biographische oder das philosophische „Wandern“ – es ist mehr als nur eine Metapher, die eine Art Heimatgefühl beschreibt: Bring den Menschen in die unrichtige Atmosphäre und nichts wird funktionieren, wie es soll. Er wird an allen Teilen ungesund erscheinen. Bring ihn wieder in das richtige
82 Lord Edgar D. Adrian, Master des Trinity Colleges (1951–65), Jahresrede am ‚Commemoration Feast‘ 1952, in: Adrian Papers, Wren-Library, Trinity College Cambridge. 83 Maurice O’C. Drury, Gespräche mit Wittgenstein, in: Rhees, Porträts, 142–234, 172f. 84 Malcolm, A Memoir, 18.
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Element, und alles wird sich entfalten und gesund erscheinen. Wenn er nun aber im unrechten Element ist? Dann muß er sich also damit abfinden, als Krüppel zu erscheinen. (18.5.1942, VB, 88)
Für Wittgenstein war das richtige Umfeld von großer Bedeutung. Seine Schwester Hermine führt in den Familienerinnerungen aus, wie „seelisch ungeheuer empfindlich“ ihr Bruder gewesen sei. (FamEr, 107) Dasselbe zeigen auch seine Briefe aus den verschiedenen Lebensphasen, die sein Leiden an seinen Kameraden im Ersten Weltkrieg oder an den ‚Unmenschen‘ während seiner Volksschullehrerzeit in Otterthal thematisieren. Aber auch in Cambridge, 1929 dorthin zurückgekehrt, empfand er Unbehagen gegenüber der High-Table-Society und fühlte sich aufgrund sprachlich-idiomatischer und kultureller Differenzen häufig missverstanden. So schreibt er im Frühjahr 1929 unter dem Eindruck enttäuschender Missverständnisse hinsichtlich der Anerkennung der Logisch-Philosophischen-Abhandlung als Doktorarbeit an den Freund und Mathematiker Frank Ramsey: Für jemanden in meiner Lage ist es immer schlimm, einsehen zu müssen, daß man sich nicht auf die Leute verlassen kann, auf die man sich so gern verlassen würde. In hohem Maße liegt das sicher daran, daß wir verschiedener Nationalität sind: Was eine Aussage für mich zu implizieren scheint, das impliziert sie für Dich noch lange nicht. Solltest Du einmal für eine längere Zeit unter Ausländern leben und auf sie 85 angewiesen sein, dann wirst Du verstehen, was für mich so schwierig ist.
Das Ringen um Klarheit und der Versuch, Missverständnisse durch ausführliches Beschreiben aufzulösen, kennzeichnet seine gesamte Korrespondenz, so auch die Briefe an die Familie. Unabhängig vom Aufenthaltsort scheint sich Wittgenstein oft fremd gefühlt zu haben, was weniger mit einem bestimmten geographischen Ort zu tun hatte, als mit dem Gefühl nicht verstanden zu werden. 3.2 „Kein Mitglied einer Denkgemeinde“ Mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 bekommt die Frage des Verstanden-Werdens eine politische Dimension. Wittgensteins Reflexionen über den Wechsel der Staatsbürgerschaft und die Frage des deutschen „Judenpasses“ sind in Bezug auf die Wertigkeit der Nationalität für ihn aufschlussreich. Nach dem Anschluss schreibt er an den befreundeten Ökonomen John Maynard Keynes: Ich muß auch sagen, daß mir der Gedanke, deutscher Staatsbürger zu werden (oder zu sein), entsetzlich vorkommt […] Den Gedanken, die britische Staatsbürgerschaft zu erwerben […] habe [ich] immer mit der Begründung zurückgewiesen, daß ich kein
85 Zit. n. Wittgenstein, hg. v. Nedo/Ranchetti, 168.
110 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS nachgemachter Engländer werden will. […] nun muß ich zwischen zwei neuen Staatsangehörigkeiten wählen, von denen mir eine alles nimmt, während die andere es mir zumindest gestatten würde, in einem Land zu arbeiten, in dem ich, mit Unterbrechungen, den größten Teil meines Erwachsenenlebens verbracht, die innigsten 86 Freundschaften geschlossen und die beste Arbeit geleistet habe.
Zur gleichen Zeit schreibt er in den Manuskripten: „Aber ferner, weil ich in Österreich nicht arbeiten könnte und arbeiten muß, um leben zu können, ich meine: um bei Verstande zu bleiben. Ich werde daher im Ausland leben müssen.“ So ist es nicht nur die emotionale Zugehörigkeit zu seiner Familie und den Freunden, die ihm Sorgen bereitet, sondern auch die der inneren Klarheit, „weil der Konflikt solange die Sache nicht klar ausgesprochen ist, immer über mir schwebt“.87 Auch wenn sich Wittgenstein für das Ausland entscheidet, versteht er sich doch als Teil einer österreichischen Kultur, wenn er schreibt: „Wer eine Tradition nicht hat und sie haben möchte, der ist wie ein unglücklich Verliebter.“ (29.11.1948, VB, 145) Denn Tradition, erklärt Hans-Georg Gadamer, ist wie ein Vorurteil und damit Bedingung jeglichen Verstehens.88 Wittgenstein bekannte sich gerne als Anhänger der Zeit vor Schumann und pflegte eine Form der Nostalgie für die Literaten der Periode vor 1848 (Goethe, Keller, Grillparzer, Hebel etc.), wenn es in den Manuskripten heißt: Ich denke oft darüber, ob mein Kulturideal ein neues, d.h. ein zeitgemäßes oder eines aus der Zeit Schumanns ist. Zum mindesten scheint es mir eine Fortsetzung dieses Ideals zu sein, und zwar nicht die Fortsetzung, die es dann tatsächlich erhalten hat. Also unter Ausschluß der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ich muß sagen, daß das rein instinktmässig so geworden ist, und nicht als Resultat einer Überlegung. (10.10.1929, VB, 23)
Die Philosophie stand damals mehr im Mittelpunkt der Gesellschaft und war fachübergreifend ein Anliegen aller Wissenschaftsdisziplinen sowie Teil der bürgerlichen Allgemeinbildung. Wittgenstein vermisst an der modernen Kultur die Teilnahme des Einzelnen an einer Gesellschaft und an einem Dienst am Höheren, berichtet sein Freund Maurice O’C. Drury. Ihm gegenüber soll er gesagt haben: „Meine Denkweise ist in der heutigen Zeit nicht gefragt, ich muß zu sehr gegen den Strom schwimmen.“89 Im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen nennt er es die „Finsternis dieser Zeit“ und bezieht sich damit, wie sein Schüler Georg Henrik van Wright näher erläutert, nicht alleine auf den Zweiten Weltkrieg, sondern auf ein allgemeines Bewusstsein für einen verloren gegangenen Kulturkreis, sichtbar bei86 Am 18.3.1938, ebenda, 387f. 87 Am 14.3.1938, ebenda, 296f. 88 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 279f. 89 Drury, Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein, 120.
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spielsweise im zunehmenden Antisemitismus, welcher seinen Freund Engelmann bewog auszuwandern. Wittgensteins Kulturpessimismus sieht er auch von Oswald Spengler beeinflusst, zwar nicht von dessen Vision eines bevorstehenden Kulturuntergangs, doch von der „Form der geschichtlichen Betrachtungsweise“.90 Georg Kreisel führt diese Sicht insbesondere auf dessen österreichisch-englische Lebensverhältnisse zurück, auf eine Stimmung in der englischen Gesellschaft in den 1930er Jahren, die jener in Österreich vor 1918 entsprochen habe.91 Es ist diese kritische Haltung, die auch sein Verhältnis zu seinen Schülern wie zu seinen potenziellen Lesern bestimmt, in seiner diagnostizierten Kluft zwischen Werk und Epoche oder zwischen Leser und Autor. Umso wichtiger waren ihm einzelne Personen, die ihm ein Heimatgefühl vermittelten. So war beispielsweise Ludwig Hänsel für Wittgenstein „neben einigen seiner Geschwister und Rudolf Koder der Garant für seine lebenslänglich starken inneren Bande zu seiner Heimat einschließlich ihrer Tradition und Kultur“. Er verkörperte für Wittgenstein „einerseits altösterreichische Tradition, andererseits kritische Auseinandersetzung mit der damaligen geistigen und kulturellen Situation“.92 Sein Kulturpessimismus ist somit auch im Kontext eines generellen Unbehagens im NachkriegsEuropa zu sehen. Politisch scheint Wittgenstein keiner „Denkgemeinde“ anzugehören. Er hatte zwar Sympathien für die Linken, aber glaubte nicht an diese Ideologie, wenn man seiner Russischlehrerin glauben will, die schrieb: „In einer Zeit, da sich das intellektuelle Cambridge nach links orientierte, war er immer noch ein altmodisch Konservativer der untergegangenen Doppelmonarchie.“93 Sein Schüler und Nachlasswalter Georg H. v. Wright sah ihn vor allem auf sich selbst bezogen: „Wittgenstein always put first what was the personally right choice, especially when it was a difficult one: what was politically right came a long way after.“ Dem Motto folgend: „Just improve yourself that is all you can do to improve the world.“94 Ähnliches zeigt sich in seinen Gedanken über den Katholizismus: „Die Symbole des Katholizismus sind so wunderbar [...] Aber jeder Versuch, ein philosophisches System daraus zu machen, ist anstößig.“95 So wehrte er sich gegen die Kirche, gegen jede Partei – sah jede Mitgliedschaft, jede Zugehörigkeit als Einengung an und begründet dies in einer Bemerkung gegenüber Norman Malcolm: „[…] in der Philosophie dagegen müssen Sie ständig bereit sein, die Richtung, in die Sie gehen, zu wechseln.“96 Wittgenstein plädierte nie für irgendeinen
90 Von Wright, Eröffnungsvortrag, 1977. 91 Interview mit Georg Kreisel im April 2000 am Wittgenstein Archiv in Cambridge. 92 Ilse Somavilla, Der rechte Ton. Gedanken zur Freundschaft, in: HänselBr., 325– 338, 325. 93 Fania Pascal, Meine Erinnerungen an Wittgenstein, 77. 94 Von Wright, Postscript, in: CV, 139. 95 Maurice O’C. Drury, Gespräche mit Wittgenstein, 148. 96 Norman Malcolm, Einleitung, in: Rhees, Porträts, 13–20, 19.
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„Ismus“, was zu der These führte, er habe sich häufig bewusst in die Rolle des Solipsisten versetzt, „um negative Folgen des Subjektivismus im Denken, Erkennen und Sprechen zu verhindern oder zumindest einzugrenzen“.97 Sind die oben genannten Zitate den Erinnerungen von Freunden entnommen und damit von deren Haltung zu ihm geprägt, ist folgendes Zitat von Wittgenstein selbst unmissverständlich: „Der Philosoph ist nicht Bürger einer Denkgemeinde. Das ist, was ihn zum Philosophen macht.“ (1.11.1931, BEE) Sein Nachdenken über Zuordnungen zeigt, dass sich in seinem Fall nur periphere geographische oder emotionale Festschreibungen treffen lassen. So beschreibt er beispielsweise selbst das ‚Österreichische‘ als etwas nur schwer Greifbares, wie es kryptisch in den Philosophischen Betrachtungen heißt: Ich glaube, das gute Österreichische (Grillparzer, Lenau, Bruckner, Labor) ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit. (7.11.1929, WA 2,107,4)
Dieser Satz, bereits 1929 geschrieben, zeigt, dass Wittgenstein keine Verwechslung von deutscher und österreichischer Identität zulässt und belegt seine Auffassung, dass es so etwas wie das Österreichische und eine Zugehörigkeit zu der österreichischen Kultur gebe. Rudolf Haller meint dazu: Daß seine Wahrheit nicht auf Seiten der Wahrscheinlichkeit zu finden sei, könnte heißen, daß sie jenseits der Wahrscheinlichkeit zu finden wäre. Es könnte aber auch gemeint sein, daß sie nicht im Umkreis des Erwarteten, Gewohnten liege, nicht dort, wo man sie sucht, sondern dort, wo man sie nicht sucht. Was Wittgenstein jedenfalls damit ausdrücken will – und er sieht sich selbst sicherlich als einen Beispielfall – ist, daß es dabei um etwas Nicht-Beiläufiges, um etwas Unbedingtes geht, dem das Klischee des Österreichischen als des Ungenauen, Beiläufigen und Unverbindlichen zu98 tiefst im Wege steht.
Sieht Haller hier eine Auseinandersetzung Wittgensteins mit dem Klischee, dem Naheliegenden und kulturell Selbstverständlichen, so vermutet Moritz Csáky gerade in der „Erkenntnis dieser ambivalenten Offenheit, dieser konfliktreichen Mehrfachkodierung, die das ,Österreichische‘ letztlich bestimmt und daher schwer faßbar macht“, etwas spezifisch Österreichisches.99 Hier
97 Wilhelm Vossenkuhl, Wittgensteins Solipsismus, in: Wilhelm Lütterfelds/Andreas Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt/M. 1999, 213–243, 213 u. 243. 98 Rudolf Haller, Gibt es eine österreichische Philosophie, in: Ders. (Hg.), Fragen zu Wittgenstein und Aufsätze zur Österreichischen Philosophie, Amsterdam 1986, 31–43, 43. Als Beispiel nennt er den Objektivismus Wittgensteins in seinem Begriff der Sachverhalte und Tatsachen. 99 Moritz Csáky, Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft. Rede anlässlich der Verleihung des Vogelsang-Staatspreises 1998, Vortragsmanuskript, 6. Zur
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wird Wittgenstein zum Fürsprecher einer Mehrfachkodierung, die das Nationale insbesondere im Kontext der durch Vielfalt (der Völker, der Sprachen, der kulturellen und religiösen Symbole, der staatlich-verfassungsmäßigen Strukturen) charakterisierten Österreichisch-Ungarischen Monarchie als zu kurz greifend deklariert – und nach einem Identitätsbegriff fragt, der jenseits definitiver nationaler Zuordnungsschemen liegt. Auch Wittgenstein selbst stellt sich in diese Tradition: Ich habe ein Bild mit verschwommenen Farben und komplizierten Übergängen. Ich stelle ein einfaches mit klar geschiedenen Farben aber mit dem ersten verwandtes daneben. Ich sage nicht daß das erste eigentlich das andere sei; aber ich lade den Andern ein das Einfache anzusehen und verspreche mir davon daß gewisse Beunruhigungen für ihn verschwinden werden. (Hängt meine Art des Denkens mit dem Zerfall der großen Staaten in kleine unabhängige mit dem Hervortreten der Minoritäten zusammen?) (1.3.1932, BEE)
Hier kann mit Ernest Gellner gefragt werden, inwieweit nicht der spezifische Wiener Kontext das Denken Wittgensteins geprägt habe, sondern vielmehr das vorhandene dynamische Spannungsfeld zwischen einem abstraktuniversalistischen Kosmopolitismus (der mit einem starken Individualismus einhergehe und durch einen supranationalen Habsburgmythos politisch vertreten sei) und einem romantischen Gemeinschaftssinn (der in Nationalitäten mit klar definierten Grenzen zum Ausdruck komme).100 Vor diesem Hintergrund skizziert Gellner Wittgensteins Entwicklung von einer Privatsprache, die ohne Kultur auskommt und einem logischen Sprachideal folgt, wie im Tractatus vorexerziert, hin zu einer kontextgebundenen, von Alltag und gesellschaftlicher Praxis geprägten Sprache. Wittgenstein nennt den neuen Bezugsrahmen auch „Willen“: Merkwürdigerweise hat das Problem des Verstehens der Sprache mit dem Problem des Willens zu tun […] Einen Befehl zu verstehen noch ehe man ihn ausführt hat eine Verwandtschaft damit eine Handlung zu wollen ehe man sie ausführt. (11.1.1930, WA, 2,166,7)
Mehrfachkodierung von Identitäten vgl.: Csáky/Reichensperger, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Literatur als Text der Kultur, 11–20, 16. 100 Gellner, Language and Solitude. Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma, Cambridge 1998, 186. Gellner liest Wittgensteins ‚Sprachspiel‘Konzept jedoch erstaunlicherweise in einem rein nationalistischen Kontext. So sei die Einbettung der Sprache in die soziale Wirklichkeit ein nationales Argument und das Sprachspielkonzept nicht eine postmoderne Spielerei, sondern forciere nationale Abgrenzungen. Speziell zu den Philosophischen Untersuchungen heißt es: Es sei eben keine „wholly novel philosophy of language“ (Peter Hacker), sondern „a commonplace in the climate in which […] Wittgenstein grew up.“ (156) Hier wird Wittgenstein zum Proponenten eines romantisierten Gemeinschaftsglaubens, der an die „absolutisation of cultures“ glaubte. Vgl. Gellner, Language and Solitude, 186f.
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Dass im ‚Willen zu etwas‘ Heimat und Identität liege, dies erinnert an die Definition von Ernest Renan, den Wittgenstein gelesen hatte, der Nation als Erinnerungs- und Willensgemeinschaft.101 In diesem Spannungsfeld von Abkoppelung und Anerkennung kann Wittgensteins Suche nach einer Vorstellung von Heimat und Identität gesehen werden. Entzieht er sich auch lokalen Zuordnungen – möglicherweise einer Erkenntnis Rechnung tragend, wie sie Gellner formuliert hat, „truth is not cultural, but trans-cultural“102 – zeigt sein Streben ‚der Natur nach zu gehen‘ doch seine Suche nach Wahrheit und Klarheit, nach Wertsetzung, Subjektivität und Authentizität im Denken wie im Handeln. Dennoch bringen seine Begrifflichkeiten eine vorsichtige Haltung gegenüber der Problematik von Zuordnungen zum Ausdruck, wie es sich in seinen Versuchen, eine Autobiographie zu schreiben, zeigt. 3.3 Traditionelle oder postmoderne Autobiographik? Wittgensteins Schüler Rush Rhees hat sich früh mit dessen autobiographischen Bemerkungen auseinander gesetzt. Er legte den Schwerpunkt auf die Beichten in Verbindung mit Fragen des Jüdischen und Wittgensteins Weininger-Rezeption sowie auf seine Pläne, 1935 nach Russland zu gehen. Rhees sieht im Schreiben über sich selbst den steten Wunsch, ein anderer zu werden als der er ist, frei von Selbsttäuschung in Bezug auf eigene Fehler und damit in der Lage zu sein, ein anderes Leben zu führen. Dabei betont er, wie wichtig es Wittgenstein war etwas zu tun und nicht nur durch Nachdenken etwas zu erreichen: He could not become clear by intellectual examination and argument with himself […] but only by doing something he found difficult, something that needed courage – such as writing out a confession to show his friends; or by doing something which brought him troubles which he hoped would do him some good […]; or in the war by trying to be placed in situations where his life was constantly in danger. He could, perhaps, lead a new life if he could do something that would change the way he looked on his life and on himself.103
Habe er noch in den ersten zwei Kriegsjahren immer wieder von der Gefahr geschrieben, sich in sich selbst zu täuschen und über seine Versuche jemand anderer zu werden, kommt er nach dem Krieg, so die Wahrnehmung seiner Umgebung, „greatly changed“ zurück. Zeigt ein Vorkriegsbrief an Russell noch Wittgensteins Wunsch zur Veränderung, schreibt er an Engelmann 1916, dass er sich selbst nun als ein Veränderter wahrnimmt:
101 Ernest Renan, Was ist eine Nation?, Vortrag am 11.3.1887 an der Sorbonne, in: Michael Jeismann/Henning Ritter (Hg.), Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus, Leipzig 1993, 308f. 102 Vgl. Gellner, Language and Solitude, 186f. 103 Rhees, Postscript, 191.
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Es ist allerdings ein Unterschied zwischen mir jetzt und damals, als wir uns in Olmütz sahen. Und dieser Unterschied ist soviel ich weiß der, dass ich jetzt ein wenig anständiger bin. Damit meine ich nur, dass ich mir jetzt ein wenig klarer bin über meine Unanständigkeit als damals. (EngelBr, 10)
Das Kriegserlebnis wird hier als Katharsis beschrieben. Er beginnt danach ein neues Leben als Volksschullehrer, nachdem er auf sein väterliches Erbe verzichtet hatte. Eine ähnliche Form der Katharsis wird auch seiner Beichte zugeschrieben, denn auch sie erfordert einen Akt des Handelns, nicht nur bloße Selbstreflexion, wie er schreibt: „Eine Beichte muss ein Teil des neuen Lebens sein.“ (1931, VB, 40) Rhees sieht diese Gedanken im Zusammenhang mit Wittgensteins Interesse an einer Autobiographie – welches 1931 in den Manuskripten formuliert ist – wie auch mit der Lektüre von Otto Weininger und dessen Auffassung von einer Autobiographie. Weininger argumentiert, dass eine Person, die eine Autobiographie schreibt und ihr Leben in ein kohärentes Muster bringen kann, eine besonders pietätvolle Person sei. Zudem habe insbesondere der begabte Mensch ein Interesse an „Rückerinnerung an das eigene Leben“, somit sei es das Genre eines Menschen mit großem Charakter und Unsterblichkeitsbedürfnis: „[…] die Abfassung einer vollständigen Selbstbiographie [ist], wenn sie aus originärem Bedürfnis heraus erfolgt, stets ein Zeichen eines höheren Menschen. Denn gerade im wirklich treuen Gedächtnis liegt auch die Wurzel der Pietät.“104 Nach Rhees versuchte Wittgenstein, die Spannungspole einer autobiographischen Auseinandersetzung zwischen Selbsterkenntnis und Heuchelei im Streben nach transformatio zu überwinden: Er exemplifiziert diese These an zwei Handlungen, nämlich der Meldung zum Kriegsfreiwilligen und dem Ablegen von Beichten. In seinen frühen Bemerkungen drückte Wittgenstein das Bedürfnis aus, jemand anderer werden bzw. sich nicht über sich selbst täuschen zu wollen, in den 1930er Jahren im Zusammenhang mit der geplanten Autobiographie die Sorge darüber, diese im „richtigen Geiste“ zu schreiben, und am 9. April 1947, während er die letzte Vorlesung in Cambridge hält, nennt er als erstrebenswert, „nicht sein zu wollen, was man nicht ist“. (VB, 118) Rhees sieht bei Wittgenstein einen gewandelten Selbstbezug: Während seinen frühen Wünschen nach Veränderungen noch der Glaube an das Echte und Wahre zu Grunde liege, zeigten seine späteren Bemerkungen einen Glauben an die permanente Veränderung als Maß der „Selbstverbesserung“. Das ist entwicklungstheoretisch eine verführerische Interpretation, doch ist sie nicht beeinflusst von der Debatte über die Werkunterteilung in den ‚frühen‘ und ‚späten‘ Wittgenstein? Auch Béla Szabados sieht diese zwei Dimensionen in Wittgensteins autobiographischen Bemerkungen, „the pursuit of self-acceptance and that of self-transformation“, wie sie Rhees skizziert, doch er diagnostiziert keine Veränderung Wittgensteins als Person, sondern lediglich im Denken über
104 Rhees, Postscript, 202 u. 201.
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sich selbst.105 Wittgenstein spreche zwar in seinen frühen Bemerkungen vor allem davon, die Natur des Selbst zu erkennen und zu verstehen, und in seinen späteren Bemerkungen davon, sich Selbst verändern zu wollen, wozu die Autobiographie oder die Geständnisse hätten dienen sollen – „This insistence that the language games of selfreflection must link with a change in one’s life“ oder Wittgenstein selbst: „the true revolutionary revolutionizes himself“ (CV, 18e) – dennoch erkenne er in beiden Projekten die Risiken der Selbsttäuschung. Denn Wittgensteins Bezug auf „the genuine self“, sei nicht mehr „the inner self“ von Augustinus, Descartes oder Rousseau, die noch meinten, jenes erreichen zu können „by stripping away layers of socialisation and convention“. Als genuin gelte bei Wittgenstein eine Selbstbeschreibung, die sich nicht durch Interpretation distanziere sowie erkenne, dass die „idea of a final home […] like the idea of a universal, absolutly certain foundation“ eine Illusion sei.106 Szabados benennt hier nicht nur das traditionelle autobiographische Projekt – ob auf die Erkenntnis der eigenen Natur oder auf Transformation angelegt – als das einer Selbsttäuschung, sondern zeigt auch Wittgensteins Bewusstsein für die Gefahren dieses Genres. Damit konstatiert er dessen Skepsis gegenüber der traditionellen Autobiographie und deklariert ihn zugleich als Repräsentant der modernen Autobiographik: „Wittgenstein, in his observations on the roles and functions and possibilty of autobiography, sees the death of traditional autobiography and points to ways of transforming it to suit our present needs.“ Bereits der Aufsatz-Titel, Autobiography after Wittgenstein, unterstreicht Szabados’ These, dass Wittgenstein das Denken über Autobiographie revolutioniert habe bzw. Parameter nenne, die für die moderne Autobiographie charakteristisch seien. So beginne diese mit dem Misstrauen sich selbst gegenüber und dem Gefühl, dass viele andere Stimmen durch das eigene Selbst sprechen, mit dem Ziel „to create himself out of this chaos of voices“. Dabei fühle sich der reflexive Schreiber stets „as if he were faking, as if he is living in a different age, as if he is a ‚copy‘ rather than an ‚original‘“; und nichts sei kohärent oder konsequent, sondern in stetiger Bewegung: „Autobiography as a quest for knowledge of the ‚self‘, for an object to be discovered and then known, for a ‚true self‘ beneath the layers of socialisation, is dead.“107 Ist es legitim, Wittgenstein als einen Vertreter moderner Autobiographie zu betrachten? Seine direkte Auseinandersetzung mit der Autobiographie als spezifischem Genre zeigt, dass er eine große Skepsis gegenüber dem autobiographischen Schreiben besaß und den Anspruch der traditionellen Autobiographik nach dem ‚wirklich treuen Gedächtnis‘ als unmöglich entlarvte. Anders als es die Weininger-Rezeption in der Wittgensteinforschung nahe legt, nimmt er einen viel reflexiveren Zugang zur Frage der Selbstbiographie ein
105 Béla Szabados, Autobiography after Wittgenstein, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 50, 1992, 1–12, 10. 106 Szabados, Autobiography after Wittgenstein, 11 (FN 42), 9, 6. 107 Ebenda, 2, 5.
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als Weininger, wenn er gerade Begrifflichkeiten wie ‚originär‘ oder ‚treues Gedächtnis‘ kritisch hinterfragt: „Wenn einer nicht lügt, ist er originell genug […] Ja schon das ist ein Anfang guter Originalität, nicht sein zu wollen, was man nicht ist.“ (9.4.1947, VB, 118) Oder wenn es noch viel skeptischer heißt: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.“ (PU, § 115) Wittgenstein war sich der Gefahr der Selbsttäuschung permanent bewusst, und erkannte, dass es keine Autobiographie ohne das Risiko einer Selbsttäuschung gibt. Gerade auf dieses Risiko und den dazu notwendigen Mut nimmt er immer wieder Bezug: Es ist unmöglich wahrer über sich selbst zu schreiben, als man ist! Das ist der Unterschied zwischen dem Schreiben über sich und über äußere Gegenstände. Über sich schreibt man nicht auf Stelzen oder auf einer Leiter sondern auf den bloßen Füßen. (12.12.1937, BEE)
Zwei Monate später heißt es: Ich lüge noch immer. Ich sehe immer wieder, daß ich mich nicht entschließen kann mir die Wahrheit über mich zu sagen. Oder daß ich sie mir nur für einen Augenblick gestehe und wieder vergesse. Besonders meine kleinliche Eitelkeit, Feigheit, die Methoden, sie zu verhüllen, etc. will ich nicht wahrhaben. Ich suche andere und mich zu hintergehen und ich verstecke die Dinge so lange aus Furcht vor der Wahrheit, bis ich auch nicht mehr gescheit genug bin, sie zu finden. (10.2.1938, BEE)
Und am 13. Januar 1940: Jeder Mensch trachtet sich selbst zu betrügen: und wer jemand betrügen will, macht’s natürlich geschickt und nicht ungeschickt; er wird dem Andern nicht sagen, was der schon durchschauen kann, sondern was er nicht durchschauen kann. (BEE)
Besonders deutlich wird Wittgensteins Skepsis am Projekt des Autobiographischen in seinen Gesprächen mit Oets Kolk Bouwsma zu Beginn der 1950er Jahre.108 Bouwsma hatte Fjodor Dostojewskis Roman Notes from Underground gelesen, über den damals in der Öffentlichkeit heftig debattiert wurde, inwieweit Autor und Werk übereinstimmen, insbesondere wegen der autobiographisch undeutlichen Verweise am Anfang und Ende der Geschichte. Dort spielt der Autor mit dem Verlangen des Lesers nach Refe-
108 Als Wittgenstein seinen Freund Norman Malcolm im Juli 1949 in Ithaca, New York, besucht, trifft er einige seiner ehemaligen College-Kollegen, u.a. auch Oets K. Bouwsma, Student von Wittgensteins Studentin Alice AmbroseLazerowitz. Dieser hält die Gespräche mit Wittgenstein, später weitergeführt in Oxford, in Conversations 1949–1951 fest. Die Problematik des Textes ist die indirekte Zitierweise, was die Zuordnung der Aussagen oft erschwert. Vgl. Bouwsma, Conversations.
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renz. Denn Protagonist wie Antiheld tragen jeweils autobiographische, doch äußerst gegensätzliche Charakterzüge. In der Geschichte fordert der Held öfters dazu auf, offen zu sein und sich nicht vor der ganzen Wahrheit zu ängstigen, und spielt damit zugleich auf die (Un-)Möglichkeit autobiographischer Wahrheit an. Diese Sequenzen waren auch Diskussionsthema zwischen Bouwsma und Wittgenstein, der Dostojewski stets gerne und oft gelesen hatte, diesem Werk gegenüber aber gewisse Vorbehalte hat: Er findet es nicht nachvollziehbar, dass der Protagonist, der seine Demütigung wahrnimmt und reflektiert, sich nicht ändert und keine Technik entwickelt, um sich nicht in seinen Handlungen permanent zu wiederholen. Im Versuch des Autors, über sich selbst zu schreiben, sieht Wittgenstein „a certain falsity“: „Of course, one can certainly tell the truth about what happened, but here one’s attitudes towards one’s own actions and the explanations of them are certain to introduce the false note.“ Und wenn der Autor sage, „I am a spiteful person“, sei es eine Form des Posierens, denn „even though he certainly was a spiteful person. There might be a way of saying what is true truly and a way of saying what is true falsely“. In diesem Zusammenhang äußerte Wittgenstein generelle Bedenken über die Sinnhaftigkeit einer Autobiographie: No one can write objectively about himself and this is because there will always be some motive for doing so. And the motives will change as you write. And this becomes complicated, for the more one is intent on being ‚objective‘ the more one will 109 notice the varying motives that enter in.
Wenn auch Bouwsma dieses Thema initiierte, war es doch Wittgenstein, der hier – möglicherweise unter dem Eindruck seiner Krankheit und des Wissens um sein Krebsleiden – diese Thematik einer Autobiographie neu für sich überdenkt und einer generellen Skepsis Ausdruck verleiht. Hatte er stets gerne Briefwechsel und Biographien wie jene von Cromwell, Napoleon oder Bismarcks Gedanken und Erinnerungen gelesen, oder auch als Lektüre weiterempfohlen, äußert er nun seine Abneigung gegenüber Biographiereihen, wie der von Arthur Schilpp, einem englischen Standardwerk zu Intellektuellenbiographien, und kommentiert die dortige Beschreibung von Moores Kindheit lapidar damit, dass auch der Schuhmacher eine Kindheit habe.110 Vielleicht war diese Bemerkung auch von der Furcht motiviert, bald selbst Gegenstand in besagten Bänden zu sein – und es war ja nicht zuletzt seine Kindheit, die er in seinen skizzenhaften autobiographischen Aufzeichnungen sehr doppeldeutig, wenig ruhmreich und bar jeder Nostalgie schilderte. Noch aufschlussreicher als diese einzelnen Zitate zum Genre Autobiographie könnte sich eine folgende Gegenüberstellung erweisen: Wittgen-
109 Bouwsma, Conversations, 70f. 110 Bouwsma, Conversations, 28.
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steins autobiographisches und philosophisches Arbeiten als ähnliche Denkformen zu parallelisieren – in der Reflexion von Methode, Wahrheit und Subjektivität. Deshalb sollen hier seine Gedanken zu einer Autobiographie in Bezug zu seinem gescheiterten Versuch, seine spätere Philosophie in einem Buch festzuhalten, gelesen werden.
4. W ITTGENSTEINS
PHILOSOPHISCHE
S CHREIBPRAXIS
Wittgensteins Schreibstil wurde schon oft im Zusammenhang mit der Editionspraxis oder einem literarischen Anspruch betrachtet – nicht jedoch in Bezug auf sein autobiographisches Schreiben. Nachfolgend wird die Beschreibung seiner Versuche, ein zweites Buch zu schreiben, in seine biographischen Lebensumstände eingebettet, weil diese maßgeblich dafür sein dürften, dass es zu einer veränderten Einstellung sowohl zur Philosophie als auch zur Autobiographie und sich selbst kam. 4.1 Skriptgenese: Von der „Landschaftsskizze“ zum „Album“ Viele Jahre hatte Ludwig Wittgenstein Cambridge den Rücken gekehrt. In Österreich vom Ersten Weltkrieg überrascht, kehrt er nicht an den Ort, wo er von 1911 bis 1914 studiert hatte, zurück. Die Empörung über die Ablehnung seiner Arbeit Logic, in der er sich den formalen Kriterien eines Bachelors – Vorwort, Fußnoten und Quellenverweisen – verweigert hatte, mag dazu mit beigetragen haben. War hier seine Ablehnung einer Form lediglich ein formales Hindernis, sollte Jahre später damit eine Grundfrage Wittgenstein’ scher Philosophie formuliert sein. Wittgenstein schrieb noch bis Kriegsende an der Logisch-Philosophischen Abhandlung – 1922 unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus berühmt geworden und 1929 als Dissertation von der Universität Cambridge anerkannt – und glaubte, damit seine philosophische Kraft erschöpft zu haben: Frank Ramsey, auf Besuch bei Wittgenstein in Puchberg am Schneeberg, schreibt an seine Mutter am 20. September 1923: „He [Wittgenstein] says he himself will do nothing more, not because he is bored, but because his mind is no longer flexible. He says no one can do more than 5 or 10 years work at philosophy.“111 Zwischenzeitlich als Lehrer in Niederösterreich, dann als Architekt des Hauses seiner Schwester in Wien arbeitend, waren es insbesondere die ab Februar 1927 mit Moritz Schlick und anderen Mitgliedern des Wiener Kreises geführten Gespräche, die ihn zur „Wiederbeschäftigung mit der Philosophie“, wie er selbst es nennt, zurückführten. Der Tractatus vermittelt mit seiner linearen Nummerierung in sieben Hauptsätze und der Rede von der Logik als „reinstem Kristall“ (PU, § 97)
111 Zit. n. Wittgenstein, hg. v. Nedo/Ranchetti, 192.
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den Glauben an die Darstellbarkeit von Problemen und ihre Lösbarkeit.112 Dennoch zeigte sich dem Verfasser bald, dass mit diesen Problemen noch nichts gelöst war. In mehrmaligen Anläufen versuchte Wittgenstein später seine neuen Gedanken in ein Buch zu fassen, doch fand er für die Mehrdimensionalität des Denkens keine Klammer mehr, was das Projekt zum Scheitern verurteilte: „There is a truth in Schopenhauer’s view that philosophy is an organism, and that a book on philosophy, with a beginning and end, is a sort of contradiction.“113 Trotz der immer wieder neuen Anordnung seiner Manuskripte auf den Tischen des Trinity College ließ sich der Widerspruch zwischen organischer Philosophie und linearer Buchform nicht aufheben.114 Ab 1929 war Wittgensteins Suche nach der richtigen Form essentiell für sein Philosophieren und bestimmte alles Schreiben. Die folgenden zwei Jahrzehnte waren geprägt von zahllosen vergeblichen Versuchen, seine Arbeiten in ein Buch zu fassen. Im Herbst 1937 arbeitete er nochmals an einem Buch mit der Idee, einen linearen Entwurf zumindest zu versuchen, aber als er diktierte, kamen ihm doch Zweifel am Stil und er schrieb 1938 in einer frühen Version des Vorworts zu den Philosophischen Untersuchungen: Es zeigte sich mir, daß das Beste was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; daß meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Neigung, einem Gleise entlang weiterzuzwingen. (BEE)
Damit gab er das lineare Buchprojekt auf. Nicht ganz freiwillig: Der Anschluss verhinderte bis Kriegsende die Rückkehr zu den in Österreich lagernden Manuskripten und beendete damit – nach den schweren inneren Schreibkämpfen – auch äußerlich das Ringen um das Buch, das Wittgenstein begonnen hatte, weil er um die Authentizität seiner Gedanken besorgt war. Er hatte zwar stets auch seine Vorlesungen als Publikationen betrachtet,115 war damit aber zunehmend unzufrieden, weil Vieles von dem, was er in seinen Vorlesungen und Diskussionsklassen weitergegeben hatte, „vielfach missverstanden, mehr oder weniger verwässert, oder verstümmelt“ in Umlauf gebracht wurde, wie er im Vorwort zum 1938 geplanten Buchprojekt schreibt. Auch deshalb war ihm eine Veröffentlichung in Buchform ein Anliegen. Doch in mehreren Vorwortsentwürfen zu den Philosophischen
112 Vorbildwirkung hatte möglicherweise das mathematische Nummernsystem von Russells Principia Mathematica (McGuinness, Wittgenstein, 411), doch auch Rousseau hatte in seinen Confessiones ein Nummernsystem, jedoch um „den rhetorischen oder musikalischen Rhythmus des Textes zu betonen […] und sich gegen eventuelle Risse in der Gliederung abzusichern“. Vgl. Lejeune, Der autobiographische Pakt, 192. 113 Wittgenstein’s Lectures, Cambridge 1932–35, ed. Alice Ambrose. From Notes of Alice Ambrose and Margaret Macdonald, Oxford 1979, 43. 114 Vgl. Michael Nedo, Wittgensteins Denken und Schreiben im Widerspruch zur Form des Buches, Vortrag an der Universität Siegen am 17.1.1996; Ders., Einführung, in: Ludwig Wittgenstein – Wiener Ausgabe, Wien-New York 1993. 115 Malcolm, A Memoir, 48.
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Untersuchungen beschreibt er die Buchform als eine der Natur seiner Gedanken widersprechende und nennt sein nunmehriges Ziel „eigentlich nur ein Album“ (PU, 232). Mit einem veränderten philosophischen Konzept, basierend auf einer Ablehnung von Kanonisierung und Linearität, legitimiert er seinen Schreibstil. Diesen „polyphonen“ Charakter der Philosophischen Untersuchungen sieht Alois Pichler vom Stil Dostojewskis inspiriert, der durch Einschübe und Perspektivenwechsel die Erzählung aufbricht, um den Leser zum Nachdenken und Reflektieren anzuregen und das Fragment als bewusste Einladung zur Diskussion verwendet.116 Oder hatte Wittgenstein sogar die Texte des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin gekannt? Dieser hatte die Texte von Tolstoi als monologisch und somit als autoritär, dogmatisch und konservativ abgelehnt, während er die Romane Dostojewskis als vielstimmige und dialogische Literatur schätzte.117 Ob Wittgensteins Polyphonie, sein Spiel mit Intertextualität und Dialogen durch Michail Bachtin beeinflusst wurde, kann lediglich vermutet werden. Er pflegte jedenfalls einen freundschaftlichen Kontakt zu dessen Bruder, dem Philologen Nicholas Bachtin, den er in den frühen 1930er Jahren – als Michail Bachtin unter Stalin Schreibverbot erhielt – in Cambridge kennen lernte. Später besuchte Wittgenstein ihn des Öfteren an der Universität in Birmingham und las mit ihm gemeinsam Texte von Dostojewski und Tolstoi. Es ist anzunehmen, dass der Text von Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs (Org. 1929), zumindest erwähnt wurde. Bachtin sieht darin Dostojewskis Romane als charakteristisch für die Vielstimmigkeit von Texten, wo die Stimme des Autors nur eine unter vielen ist. Das betont die kulturelle und historische Verankerung von Texten und Interpreten und fordert den Dialog zwischen Autor, Leser, Text und Kontexten heraus. Beispiele für diese Formen intertextueller Beziehungen sind das direkte Zitat oder Anspielungen, rahmende Texte wie Einleitung, Vorwort, Motto, Nachwort oder Epigraph, auch kommentierende (Metatext) oder parodistische Verweise (Hypertextualität) auf andere Texte. Nach Bachtin ist jede Äußerung mit den Intentionen und Akzenten anderer Sprecher angereichert und deshalb untrennbar mit Dialog und Zitat verbunden, wie jeder Text in Beziehung zu denken sei, als Schnittpunkt von Vortexten. Damit verweist er jeweils auf die betrachterabhängige Relativität jeder Erkenntnis.118 Das sind alles Aspekte, die sich auch in Wittgensteins Denk- und Schreibstil finden. Wittgenstein war kein dichterischer Erzähler: Seine Texte sind übersichtlich, ohne Fachjargon, prägnant und kurz formuliert mit geringem Umfang und lapidaren Titeln. Sein Sprachstil reflektiert den Arbeitsstil: In verschiedenartige Notizbücher geschrieben, entsteht durch ein permanentes
116 Alois Pichler, Thesen zu der Entstehung und Eigenart der Philosophischen Untersuchungen, in: Haller/Puhl [u.a.], Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie, 167–174. 117 Vgl. Nünning, Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, 32–33. 118 Vgl. Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/M. 1979, 169, zit. n. ebenda, 211f., 241 u. 32.
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Rearrangieren der Bemerkungen eine Art ‚Hypertext‘,119 eine Vernetzung, primär basierend auf Rückgriff, eine Methode, die geprägt ist durch zahllose Wiederholungen in unterschiedlichen Verflechtungen und der Idee eines organischen Gesamtwerkes folgt. Quer verweisende Nummerierung sollte die Masse von lose angeordneten philosophischen Bemerkungen zu einem Netz verbinden und die gedanklichen Fäden im Werk transparent machen. Wittgenstein erklärte für das Gesamtwerk die philosophische Bemerkung zur stilistischen Form, mit dem Fragment als Konsequenz. Zu dieser skizzenhaften Schreibweise gehört neben dem Zahlensystem als einer Art Hierarchie und Ordnung die gezielte Verwendung von Mottos und Vorworten, die als Leseanleitung dienen, als einer ‚Technik der Lektüre‘. Eine deutliche Leseanleitung gibt Wittgenstein, wenn er wünscht, dass die Logisch-Philosophische Abhandlung gemeinsam mit seinem späteren Werk, den Philosophischen Untersuchungen, zu veröffentlichen sei, mit dem verbindenden Motto Johann Nestroys: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“ Denn die „Natur der Untersuchung“ selbst verlange, wie Wittgenstein schreibt, eine integrierte Betrachtung: „Sie nämlich zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen“ und vergleicht seine philosophischen Bemerkungen mit einer Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind. Die gleichen Punkte, oder beinahe die gleichen, wurden stets von neuem von verschiedenen Richtungen her berührt und immer neue Bilder entworfen. (PU, 231)
Wittgenstein habe damit im Sinne einer ‚organischen Philosophie‘ das rigide, linear vorwärts schreitende Denken der Moderne verabschiedet und jenseits von Einheitsobsessionen „die irreduzible Vielfalt von Sprachspielen“ und damit auch die Pluralität als Grundverfassung von Denk- und Lebensformen aufgedeckt, und für sich akzeptiert, schreibt Wolfgang Welsch.120 Indem er die postmoderne Perspektive als Chance sieht, erhalte die „Landschaftsskizze“ Legitimität. Damit war Wittgenstein nicht mehr ein „behauptungsfreudiger System- oder Totalitätsphilosoph traditionellen Stils“, sondern seine Theorie der Sprachspiele wurde zu einem der „mächtigsten Argumente des modernen und nach-modernen Pluralismus“.121 Er hat hier gezeigt, dass Fortschritt nicht die Ablösung der einen Theorie durch die nächste ist, sondern dass das Neue nur insofern neu ist, als es etwas Neues beant-
119 Vgl. Pichler, Untersuchungen zu Wittgensteins Nachlaß Bergen: Working Papers from the Wittgenstein Archives at the University Bergen 8, 1994, 16f.; David G. Stern, The Wittgenstein Papers as Text and Hypertext: Cambridge, Bergen, and Beyond, in: Kjell S. Johannessen/Rolf Larsen/Knut Olav Åmås (Ed.), Wittgenstein and Norway, Oslo 1994, 251–274, 270. 120 Vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 35 u. 177. 121 Peter Sloterdijk, Vorwort, in: Macho, Wittgenstein, 1–9, 8.
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worten kann, aber dennoch viele Gemeinsamkeiten mit den alten Theorien teilt, also nur zum Teil neu ist und somit charakterisiert ist durch Beifügungen statt Gegenüberstellungen und Abgrenzungen. Oder wie es Terry Eagleton formuliert hat: „Like all good artists, Wittgenstein is selling us less a set of doctrines than a style of seeing.“122 Dazu gehören auch seine rhetorischen Fragen oder der ironische Dialog mit sich selbst. Parameter; die auch seine Vorlesungen prägten. So war ihm zuerst als Lektor, später als Professor in Cambridge daran gelegen, seinen Studenten nur Anleitungen zum Denken zu geben, nichts Fertiges zu liefern und auch nicht Übereinstimmung zu suchen, wie es in einem Taschennotizbuch (MS 155) heißt: What I should like to get you to do is not to agree with me in particular opinions but to investigate the matter in the right way. To notice the interesting kind of things, which will serve as keys if you use them properly. (1931, BEE)
Diese Form der Denkanleitung verglich er mit Landkarten oder Stadtplänen, wie es in der Vorlesung über Mathematik heißt: „Ich versuche, euch auf Reisen durch ein Land zu führen“ und vergleicht die philosophischen Probleme mit einer fremden Stadt, in der man die Wege nicht kennt, und diese stets aufs Neue beschreiten muss, bis man sich an jedem Punkt der Stadt auskennt; nicht nur auf den Hauptstrassen.“ Statt neue Straßen „so werde ich jeden Tag neue Wörter zeigen“.123 Das wurde auch seitens seiner Studenten so wahrgenommen und geschätzt, wenn etwa Alice Ambrose die Lehrmethode Wittgensteins mit der von G.E. Moore vergleicht: Sie schildert „clarity“ als „Moore’s guiding light“, in der Tradition der public schools und ihrem Interesse an Klarheit und Modellen des Denkens, während Wittgenstein nur „hints“ und „pointers“ gab, „general remarks about how to deal with a problem“.124 Eine Methode, die auch verhindern sollte, dass ihn die Studenten lediglich wiederholten und imitierten, statt mit seinen Ideen zu arbeiten. Ein hehres Ziel, doch vergeblich: Längst schon galt er in Cambridge als Kultphilosoph. Wittgenstein betont zwar immer wieder, weder das Mitglied einer Denkgemeinde sein zu wollen, noch eine Denkschule schaffen zu wollen, dennoch kreiert er um sich herum eine hartnäckige ‚Wittgenstein-Mania‘, die nach Ansicht des Philosophen Alfred J. Ayer auch deshalb entstand, weil es Wittgenstein an ebenbürtigen Kontrahenten mangelte und Frank Ramsey, der ihm intellektuell gleichrangig war, so früh gestorben war: „[Ayer] once said that philosophy in Cambridge would have taken a happier course if Ramsey had lived to challenge Wittgenstein.“125 Auch Ramsey selbst beschreibt Wittgenstein als rigide, als dieser im Januar 1929 für kurze Zeit bei ihm wohnt: dogmatisch, jähzornig und auf seiner
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Eagleton, The Script, 5–13, 9. Zit. n. Macho, Wittgenstein, 32. Ambrose, Moore and Wittgenstein as Teacher, in: AAPT News, Oct. 1988, 9–13. Ben Rogers, A.J. Ayer. A Life, London 1999, 258.
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Meinung beharrend. An einen Freund schreibt er: „[Wittgenstein] is in much better spirits, and very nice, but rather dogmatic and inclined to repeal explanations of simple things. Because if you doubt the truth of what he says he always thinks you haven’t understood it.“126 Hier wird die Kluft deutlich zwischen Wittgensteins formulierten Ansprüchen an sich selbst und einer gewissen Lebensrealität. In den Vorlesungen wie in seinen Manuskripten war die Art der Präsentation für Wittgenstein ein wesentliches Element seiner Philosophie. Einerseits stets darum bemüht, spontan und natürlich zu sein, war er jedoch oft unzufrieden mit dem eigenen Ausdruck (und dem anderer) und formulierte seine philosophischen Schriften permanent um – von seinen stilistischrhetorischen Fähigkeiten nicht immer überzeugt: „Du mußt die Fehler Deines eigenen Stils hinnehmen. Beinahe wie die Unschönheiten des eigenen Gesichts.“ (23.11.1948, VB, 144) Dennoch wurde er gerade auch für seinen Stil bekannt. Das Skizzen- und Albumhafte der Philosophischen Untersuchungen wird von vielen Seiten als postmodernes antiautoritäres und pluralistisch verfasstes Schreiben bewertet, als Tugend – von anderen hingegen als ein Unvermögen apostrophiert: Alois Pichler sieht die Wahrheit in der Mitte, weil Wittgenstein es meisterhaft verstanden habe, aus der Not eine Tugend zu machen.127 Beispielsweise indem er versuchte für die Annäherung an die ‚Wahrheit‘ Heterogenitäten nicht im Sinne der Moderne zu überwinden, sondern zur Arbeitsmethode zu erheben. Mit der Konsequenz, dass es dem frühen Wittgenstein noch gelang, sein Denken in eine Buchform (Tractatus) zu pressen, während später nur mehr das Big Typescript (1934), die Vorlesungsdiktate des Blauen (1933/34) und Braunen Buches (1934/45),128 und nach langem Ringen auch die Philosophischen Untersuchungen in die Nähe einer Buchform kamen. Aber gerade letztere blieben „eigentlich nur ein Album“. (PU, 232) Ansonsten ist sein gesamtes philoso-
126 Am 4.3.1929 an Sebastian Sprott, Frank Ramsey Papers, King’s College Cambridge. 127 Die Bemerkungen § 105–110 (297–299) in den Philosophischen Untersuchungen zeigen insbesondere den Wandel vom Früh- zum Spätwerk. Vgl. Alois Pichler, Thesen zu der Entstehung und Eigenart der Philosophischen Untersuchungen, in: Rudolf Haller/Klaus Puhl [u.a.] (Hg.), Wittgenstein und die Zukunft der Philosophie, Wien 2001, 167–174. 128 Wittgensteins Vorlesungen waren so populär, dass er beschloss, an ihrer Stelle ausgesuchten Studenten (Alice Ambrose, H. M. S. Coxeter, Reuben Louis Goodstein, Margaret Masterman und Francis Skinner) zu diktieren und Kopien zu verteilen. Das Blue Book, benannt nach dem blauen Umschlag, war die erste Publikation von Wittgensteins philosophischen Methoden. Während der Diktierpausen notieren Ambrose und Masterman zusätzliche Gespräche mit Wittgenstein, das spätere Yellow Book. 1934/35 diktiert Wittgenstein Ambrose und Skinner das Brown Book. Dieser Versuch, erste Ergebnisse seiner Arbeit zu formulieren (auch als Vorentwürfe der Philosophischen Untersuchungen betrachtet) wurde mit Wittgensteins Erlaubnis an einzelne Personen, u.a. G.E. Moore und Th. Redpath, verteilt. Vgl. Ambrose, Ludwig Wittgenstein: A Portrait, 270.
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phisches Werk formal offen, eine Sammlung von Taschennotizbüchern, Manuskripten, Typoskripten und Zetteln, ohne lineare Argumentation mit Anfang und Ende, Theorien meidend, auf Beispiele setzend, weder Synthesen noch Resümees ziehend, ein offenes System und in der Thematik mäandernd. Sein Werk, durch Vorworte und Mottos verknüpft, verlangt eine integrierende Betrachtung und pflegt die Vermischung von persönlichen und philosophischen Bemerkungen. Wenn man so will, hat Wittgenstein mit dieser Art, seine Manuskripte aus einer Masse loser Bemerkungen zusammenzustellen, den poststrukturalistischen Textbegriff (Julia Kristeva, Jacques Derrida) als Gewebe von Querverweisen vorweg genommen – dabei harmoniert der Begriff ‚Gewebe‘ sehr mit Wittgensteins eigener Bezeichnung „organische Philosophie“, die mehr umfasst als die Frage von Text-undKontext oder die Summe der Kontexte. Sein Werk gilt deswegen nicht nur als Experimentierfeld postmoderner Texttheoretiker, als Inspiration für Literaten und als Herausforderung für Editoren, sondern auch als interessant für jene Kulturwissenschaftler, die das Frageinteresse vom Gegenstand zur Methode verlagert haben. Er gehört zu den Philosophen, die wie Friedrich Nietzsche, Georg Simmel, Ernst Cassirer oder Karl Mannheim über die Beschaffenheit von Wissen nachdachten, die Existenz von objektiven Erkenntnissen hinterfragten, den Anspruch der Wissenschaften, „das Monopol auf ‚sichere‘ Erkenntnis zu haben“, zurückwiesen und wissenschaftliche Selbstwahrnehmung einforderten.129 Die Methode wurde auch seitens der Philosophen immer wieder als das eigentlich Neue an Wittgensteins Denken angesehen. 4.2 Die Methode: „Familienähnlichkeiten“ und „übersichtliche Darstellung“ Deutlich wird das methodische Anliegen Wittgensteins nicht nur in seinem Schreibstil oder Vortragsstil, sondern auch in seiner Kritik am populärsten ethnographischen Werk seiner Zeit, James G. Frazers The Golden Bough, seinen Bemerkungen über die Kompositphotographie von Francis Galton, an der Verwendung der Begriffe ‚Weltbild‘ und ‚Denkstil‘ wie seinem Konzept der ‚übersichtlichen Darstellung‘ oder dem der ‚Familienähnlichkeiten‘. Den Begriff der Familienähnlichkeiten sieht Michael Nedo heute quasi als „Synonym im derzeitigen Verständnis des sogenannten späten Wittgenstein“.130 Dies ist eine Perspektive, die jedoch auch das Gesamtwerk neu interpretiert, denn damit positioniert das zweite Werk das erste neu. Wilhelm Vossenkuhl schreibt über den Begriff: „Familienähnlichkeiten im Gebrauch von Wörtern und Ausdrücken unserer Sprache zeigen, was wir mit Wörtern tun können und was nicht. Wir sehen die Regeln, denen wir folgen 129 Vgl. Daniel, Kulturgeschichte, 36f. 130 Michael Nedo, Familienähnlichkeiten: Philosophie und Praxis, in: Wittgenstein, Biographie, Philosophie, Praxis. Ausstellungskatalog der Secession 1, Wien 1989, 146–157, 147.
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und erkennen, daß sie zu einem oder mehreren Spielen gehören. Sprachspiele des Grüßens, Fragens, Bittens, des Denkens und Empfindens, des Rechnens und des Beweisens sind Teil unsrer Sprache.“ Wittgenstein habe nichts davon gehalten, in Dualismen zu argumentieren, wissenschaftlich/unwissenschaftlich oder Wissenschaft/Religion, sondern betont, die Religion gehöre in ein „anderes Sprachspiel als die Naturwissenschaften“.131 Wittgenstein nennt den Begriff Sprachspiel, der bald einen zentralen Stellenwert in seinem Werk einnehmen wird, erstmals in seinem Vortrag über Ethik, den er vor der Cambridger Gesellschaft der Heretics im Jahr 1929 hält, als er über die Entwicklung der Kompositphotographie durch den Sozialwissenschaftler Francis Galton (1822–1911) spricht. Galton erzeugte mit der Kompositphotographie Mischporträts durch die Überlagerung von Bildern mehrerer Einzelpersonen, die durch die Mehrfachbelichtung einer fotografischen Platte mit den Aufnahmen mehrerer Personen erzeugt wurden. Das Resultat war ein leicht verschwommenes Bild, das, wie Galton schrieb, „keinen speziellen Menschen darstellt, sondern eine imaginäre Figur porträtiert, die die durchschnittlichen Züge einer bestimmten Gruppe von Menschen besitzt. [...] es ist das Porträt eines Typs und nicht eines Individuums“. Zu seiner Zeit bestand daran generell wenig Interesse, was Galton damit erklärt: „Wir neigen alle dazu, unsere Individualität zu affirmieren, und selbstständig dazustehen, und uns dagegen zu wehren, undifferenziert mit anderen vermischt zu werden.“132 Doch Wittgenstein experimentierte mit diesem Gedankenmodell auf mehrere Arten: Er erstellte eine Kompositphotographie von sich selbst und seinen drei Schwestern, gruppierte in seinem Photoalbum aus den 1930er Jahren die Photos nicht chronologisch oder auf Personen bezogen, sondern nach ähnlichem Bildausschnitt, Farbe, Ton oder Format, also nach „Familienähnlichkeiten in der Praxis der Photographie“.133 Wittgensteins Gedanke der Familienähnlichkeiten ist auch von Oswald Spengler und seinem Werk Untergang des Abendlandes (1918/22) beeinflusst.134 Wittgenstein schreibt:
131 Wilhelm Vossenkuhl, http://www.lrz-muenchen.de/~einsichten/1995_2/artikel 1995_2_06.html (Apr. 2004). 132 Francis Galton, Inquiries into Human Faculty and its Developments, London 1883, 362 u. 13 (übs. v. Andreas Broeckmann). Francis Galton war auch Eugeniker und sein rassenhygienisches Gedankengut fand durch die Übersetzung Otto Neuraths seinen Weg in die deutschsprachigen Wissenschaftskreise. Vor diesem Hintergrund wird Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeiten heute möglicherweise zu progressiv bzw. einseitig interpretiert. 133 Nedo, Familienähnlichkeiten: Philosophie und Praxis, 157. Vgl. auch: Michael Nedo, Familienähnlichkeiten: Philosophie und Praxis. Eine Collage, in: Günther Abel/Mathias Kroß/Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein: Ingenieur – Philosoph – Künstler, Berlin 2007, 163–178. 134 Vgl. Georg Henrik von Wright, Wittgenstein und seine Zeit, in: Ders., Wittgenstein, Frankfurt/M. 1986, 214–219. Er zeigt, was an Wittgensteins Einstellung zu seiner Zeit als typisch Spenglerisch gelten kann.
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So könnte Spengler besser verstanden werden wenn er sagte: ich vergleiche verschiedene Kulturperioden dem Leben von Familien; innerhalb der Familie gibt es eine Familienähnlichkeit, während es auch zwischen Mitgliedern verschiedener Familien eine Ähnlichkeit gibt; die Familienähnlichkeit unterscheidet sich von der andern Ähnlichkeit so und so etc. Ich meine: das Vergleichsobjekt, der Gegenstand von welchem diese Betrachtungsweise abgezogen ist, muß uns angegeben werden, damit nicht in die Diskussion immer Ungerechtigkeiten einfließen […]. (19.8.1931, VB, 48f.)
Statt die Kulturepochen in Gattungen zu klassifizieren und in ein Schema zu pressen, das nicht das Phänomen charakterisiere, sondern eine Deutung festsetze, gelte es jene nach unterschiedlichen Familienähnlichkeiten zu kategorisieren – nicht hierarchisch oder chronologisch, sondern in vergleichender Perspektive. Der Begriff Familienähnlichkeiten ist hier Ausdruck von einem generellem Widerstand gegen Dogmatismen und Essentialismen, und findet sich beispielsweise heute in der Gattungstheorie wieder: Verwandtschaft konstituiert sich durch ein Bündel von Merkmalen, wobei jeder immer nur einige, aber nie alle Merkmale teilt. Damit werden Gattungen nicht als natürlich beschrieben, sondern als Konstrukte, die einen Rahmen bieten.135 Sich Familienähnlichkeiten anzuschauen, bedeutet zugleich ein Plädoyer zu führen, durch übersichtliche Darstellung lediglich Verbindungen aufzuzeigen, wie Wittgenstein in den Bemerkungen über Frazers Golden Bough schreibt: Der Begriff der übersichtlichen Darstellung ist für uns von grundlegender Bedeutung. Er bezeichnet unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen. (Eine Art Weltanschauung, wie sie scheinbar für unsere Zeit typisch ist. Spengler) […] Diese übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge‘ sehen. (VorEthik, 37)
Statt wie Frazer, Spengler oder Galton nach Entwicklungshypothesen Daten zusammenzustellen, seien jene nur im Überblick zu präsentieren. Damit führte Wittgenstein den für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typischen Begriff der übersichtlichen Darstellung (er findet sich auch im Vorwort zu Ernst Machs Analyse der Empfindungen) erstmals in den Kontext methodischer Reflexionen auf dem Feld der Anthropologie ein. Wittgenstein las das Werk Frazers, eines Kollegen vom Trinity-College, gemeinsam mit seinem Freund Maurice O’Connor Drury im Jahr 1931 und diskutierte es später in seinen Vorlesungen. Er zeigte das Werk als den Versuch, fremde primitive Rituale zu erklären und zu verstehen, als geprägt vom Geist des Evolutionismus und dem linearen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts an die Entwicklungs-Triade Mythologie, Religion und Wissenschaft. Wittgenstein missfiel Frazers Interpretation des anthropologischen Materials: „Welche Enge des seelischen Lebens bei Frazer! Daher: welche Unmöglichkeit ein anderes Leben zu begreifen als das englische seiner Zeit!“ (WA 3, 265) Er
135 Vgl. Nünning, Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, 177.
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forderte, die Daten nebeneinander zu stellen, zu beschreiben und für sich selbst sprechen zu lassen, statt sie zu interpretieren. So heißt es in seinen posthum publizierten Remarks on Frazer’s Golden Bough: It is just as possible to see the data in their relations to one another and to embrace them in a general picture without putting it in the form of an hypothesis about temporal development. (RemFraz, 131)
Wittgenstein plädiert für diese Form der Beschreibung und übersichtlichen Darstellung an Stelle historischer oder logischer Erklärungen bereits im Brown Book, in dem er eine Sammlung von Sprachspielen vorstellt, ohne sie zu typologisieren. Damit fordert er nach Thomas Macho – der Wittgensteins Rede von der übersichtlichen Darstellung mit dem Begriff der dichten Beschreibung von Clifford Geertz vergleicht – bereits den Paradigmenwechsel, der in der Ethnologie später mit den Feldforschungen von Bronislaw Malinowski und Margaret Mead durchgesetzt wurde.136 In den zeitgenössischen Diskussionen um Transnationalität und Nationalität, Fremdheit und Vertrautheit werden Wittgensteins kritische Überlegungen deshalb gerne als Vorreiter postkolonialer Denkart deklariert, er selbst als Wegbereiter des Anti-Eurozentrismus vereinnahmt, und sein Kulturbegriff, Kultur als geteilte Lebenspraxis, „visionary“ (Wolfgang Welsch) genannt.137 Denn er propagierte absolute Transparenz bei der Gedankenanordnung: Und wir dürfen keinerlei Theorien aufstellen. Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten […] Die Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringung neuer Erkenntnisse, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten. Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel der Sprache. (1.11.1936, PU, § 109)
Dieses Nachdenken über die Sprache reflektiert zugleich ein Bewusstsein dafür, dass jede wissenschaftliche Theorie von verschiedenen Formen der Weltbeschreibung geleitet und nur gültig ist in der Gesellschaft, in der sie entwickelt wurde, wie auch jede Form der Darstellung eine Art der Weltanschauung ist, die der ererbte Hintergrund unseres wissenschaftlichen und alltäglichen Denkens ist. Das (eigene) Weltbild thematisiert Wittgenstein vor allem in Über Gewißheit als „der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide“. (ÜG, § 94) Dieser Blick sei eben immer nur eine Art der Betrachtungsweise, keine Charakterisierung des Phänomens. Indem er „Begriffe wie Wissen, Wirklichkeit und Wahrheit als von einem Weltbild abhängig“ beschreibt, verlieren sie nach Anja
136 Macho, „Kultur ist eine Ordensregel“, 242f. 137 Vgl. u.a. Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 1, 1995, 39–44.
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Weiberg „viel von ihrem Absolutheitsanspruch“ und werden „zu kultur- und gesellschaftsbedingten Begriffen relativiert“.138 So habe sich Wittgensteins Vorstellung von dem, was ein Begriff ist, unter dem Einfluss des Sprachspielkonzepts verändert, von etwas scharf Umgrenztem zu etwas Unscharfem, nur mehr durch Beispiele zu Beschreibendes. So macht jede Sprache und Grammatik die Welt immer nur unter einer bestimmten Perspektive zugänglich oder liegt einem eigenen Weltbild immer die Voraussetzung anderer zu Grunde. Damit hängt die Überzeugung von der eigenen Ansicht immer mit der Gegenwart eines Gegenübers zusammen, das heißt, die Überzeugung der eigenen Richtigkeit setzt kurioserweise ein plurales Meinungsklima voraus. Nach Ansicht Weibergs vertritt Wittgenstein diese plurale Welt nicht durch Relativismus, sondern durch die Frage des Stils, des Denkstils und des persönlichen Stils sowie der Offenheit des Sprachspiels, wenn er schreibt: „In gewisser Weise mache ich Propaganda für einen Stil des Denkens im Unterschied zu einem anderen. Dieser andere Stil stößt mich ehrlich ab.“139 Einen Denkstil, der nicht Erkenntnisgewinn anstrebt, wie Weiberg betont, sondern die persönliche Gewissheit als maßvolleres Ziel. Oder wie Wittgenstein selbst schreibt: „Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung.“ (17.3.1951, BEE) Diese Haltung kann jedoch schon viel früher beobachtet werden, in Wittgensteins Ablehnung von Frazers Methode oder in seinen Bemerkungen zum Jüdischen. Denn auch dort fordert Wittgenstein Beschreibungen statt Interpretationen, um über die Beschreibung des Jüdischen sich selbst zu verstehen, das heißt durch die Beschreibung des Anderen zu der Sicht auf das Eigene zu kommen. Diese Gedanken spiegeln sich auch in seiner Einstellung zur Musik wider, wenn er seine Gedanken über die „Inkommensurabilität von Lebensformen“ auf Musikepochen anwendet und davon spricht, dass jede Musik Ausdruck ihrer Zeit und als solche zu verstehen sei und deshalb verschiedene Epochen nicht miteinander zu vergleichen wären: Daß die Musik nach Mozart (besonders natürlich durch Beethoven) ihr Sprachgebiet erweitert hat, ist weder zu preisen, noch zu beklagen; sondern: so hat sie sich gewandelt. (2.11.1946, VB, 110)
Christoph Landerer verweist hier auf einen Wandel in Wittgensteins Einstellung: Hätten sich im Frühwerk die „Klarheit der klassischen Formensprache, ihre innere Logik und Folgerichtigkeit, tief in sein Denken eingegraben“, was Logik und Musik eigentümlicherweise parallelisiere, und die Moderne am Maßstab der Klassik zum Scheitern verurteile, spreche er später nur
138 Mit Bezug auf Richard Raatsch, vgl. Anja Weiberg, Philosophie und Leben, 275, 279 u. 281f. 139 Wittgenstein, Vorlesungen über Ästhetik, Psychoanalyse und den religiösen Glauben, hg. v. Cyril Barrett, Düsseldorf-Bonn, 1994, 46, zit. n. ebenda.
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mehr von einem Wandel der Musik.140 In den Worten Martin Albers: An die Stelle „ästhetischer Wertung“ tritt nun die „Beobachtung des historischen Verlaufs“. Diese kulturrelativistische Betrachtungsweise, schreibt Landerer, habe Wittgenstein unter dem Einfluss von Oswald Spengler in den 1930er Jahren entwickelt. Unterschiede werden nicht bewertet und damit hierarchisiert, sondern beschrieben. Dieses veränderte Urteil über Kunst zeigt sich auch in Wittgensteins Gedanken über die Bewertung seines eigenen Werkes: Am Gefährlichsten aber scheint es zu sein, wenn man seine Arbeit irgendwo in die Stellung bringt, wo sie, zuerst von einem selbst und dann, von Andern mit den alten großen Werken verglichen wird. An so einen Vergleich sollte man gar nicht denken. Denn wenn die Umstände heute wirklich so anders sind, als die frühern, daß man sein Werk der Art nach nicht mit den früheren Werken vergleichen kann, dann kann man auch den Wert nicht mit dem eines andern vergleichen. Ich selbst mache immer wieder den Fehler, von dem hier die Rede ist. Unbestechlichkeit ist alles! Konglomerat: Nationalgefühl, z.B.. (14.1.1948, BEE)
Wittgensteins Methode, die Position des Betrachters zu thematisieren und die Wege des Denkens sichtbar zu machen, Klarheiten zu schaffen statt Resultate oder Modelle zu präsentieren, faszinierte die Vertreter vieler Disziplinen. Könnte diese Methode – in ähnlicher Weise praktiziert von Moritz Schlick oder Ernst Mach141 – eine politische Art von Antwort gewesen sein auf den Zeitgeist der Ideologisierungen von rechts und links, den Dogmatisierungen und Welterklärungen? Denn mit diesen eben erwähnten Begrifflichkeiten zieht sich Wittgenstein von Antworten, Systematisierungen und Modellen zurück. Die vorangegangenen Bemerkungen Wittgensteins zur Schreibpraxis, zum Versuch ein Buch zu schreiben sowie zu seiner Methodik, zeigen sein intensives Nachdenken über Form, Darstellung und Methode – Aspekte, die für autobiographische Fragen eine zentrale Rolle spielen. Was charakterisiert nun seine autobiographische Darstellung? Ist eine Parallele zu sehen zwischen seinem philosophischen und seinem autobiographischen Schreibstil, der philosophischen und autobiographischen Methode, seiner Unfähigkeit ein philosophisches Buch zu verfassen und seinem Verzicht auf eine Autobiographie? Meint also diese Krise der philosophischen Repräsentation (Jacques Derrida) auch eine Krise der autobiographischen Narration?
140 Vgl. Christoph Landerer, „Die raffinierteste aller Künste“. Wittgenstein und die Musik, in: Österreichische Musikzeitschrift 11/12, 2001, 10–19. Mit Bezug auf Martin Alber, Wittgenstein und die Musik, Innsbruck 2005. 141 Die Begriffe ‚Sprachspiel‘ oder ‚Denkstil‘ finden sich ebenfalls bei Ernst Mach, aber auch bei Moritz Schlick oder Ludwig Fleck. Für diese Hinweise danke ich Volker Munz.
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5. P ARALLELEN ZWISCHEN AUTOBIOGRAPHIE UND P HILOSOPHIE Philosophie wie Autobiographie beschreibt Béla Szabados als ähnliche Genres, beide haben die Objektivität zum Ziel und arbeiten am Verstehen des Selbst: „The cravings for unity, for essence, for the total picture, for the real and the true.“ Denn nicht nur die Philosophie, auch die Autobiographie sei „a working on oneself, on one’s way of seeing things, on one’s own interpretation and what one expects of it“, wie Szabados Wittgenstein paraphrasiert.142 Deswegen tragen beide die Gefahr des Selbstbetrugs in sich. Denn eine forcierte Suche nach Wahrheit, sowohl in der Philosophie als auch in der Form eines traditionellen autobiographischen Projekts, müsse in Selbsttäuschung und Frustration enden. Indem sie versuchen, sich als „detached, disengaged, rational, objective“ zu geben, gehen beide das Risiko der Selbsttäuschung ein. Denn die Subjektivität jeder Schreibmotivation bzw. die Unmöglichkeit eines objektiven Blicks prägt nicht nur das autobiographische Schreiben, sondern auch die Tätigkeit des Philosophierens. Ein Argument, das Charles Taylor breitenwirksam formuliert hat: „We delude ourselves if we think that philosophical or critical language is somehow more hard edged and more free from personal index than that of the poets or novelists. The subject does not permit language which escapes personal resonance.“143 Da die Sprache der Autobiographie immer eine engagierte und der Schreibprozess immer kontextbedingt ist, sind die Vorgaben objektiv und natürlich zu sein, nie zu erreichen. Damit zeigt Szabados das traditionelle autobiographische Projekt mit dem Ziel der Selbsterkenntnis als das einer Selbstfrustration. Wenn auch nicht alle Autobiographien danach streben, das wahre Selbst zu finden, so bestehe doch die Gefahr, von einem falschen Selbst auszugehen, also die Gefahr der Selbsttäuschung. Nach Szabados war sich Wittgenstein dieser Gefahr bewusst und verfolgte diverse Strategien, um diesen Schwierigkeiten auf philosophischer und autobiographischer Ebene zu begegnen. Was Wittgenstein in den Manuskripten, Tagebüchern und Briefen immer wieder thematisiert, ist sein Anliegen der Selbstachtung, was für ihn eine Anerkennung der eigenen Natur bedeutet. Jede Form, diese zu verleugnen, sie durch Stolz zu überhöhen oder sich durch Posen davon zu distanzieren, kritisiert er vehement:
142 „Working in philosophy – like working in architecture in many respects – is really a working on oneself. Of one’s own way of seeing things. On one’s own interpretation. And what one expects of them.“ (CV, 16e) Béla Szabados, Autobiography and Philosophy: Variations on a Theme of Wittgenstein, in: Metaphilosophy 26, 1995, 63–80, 64f. 143 Taylor, Sources of the Self, Cambridge 1989, 512, zit. n. ebenda, 79f.
132 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Wenn ich es durch einen Vergleich klar machen darf: Wenn ein ‚Straßenköter‘ seine Biographie schriebe, so bestünde die Gefahr a. daß er entweder seine Natur verleugnen, oder b. einen Grund ausfindig machen würde auf sie stolz zu sein, oder c. die Sache so darstellte als sei diese seine Natur eine nebensächliche Angelegenheit. Im ersten Falle lügt er, im zweiten ahmt er eine für den Naturadel natürliche Eigenschaft, den Stolz nach der ein vitium splendidum ist das er ebensowenig wirklich besitzen kann, wie ein krüppelhafter Körper natürliche Grazie. Im dritten Fall macht er gleichsam die sozialdemokratische Geste, die die Bildung über die rohen Eigenschaften des Körpers stellt, aber auch das ist ein Betrug. Er ist was er ist und das ist zugleich wichtig und bedeutsam aber kein Grund zum Stolz anderseits immer Gegenstand der Selbstachtung. Ja ich kann den Adelsstolz des Andern und seine Verachtung meiner Natur anerkennen, denn ich erkenne ja dadurch nur meine Natur an und den andern der zur Umgebung meiner Natur, die Welt, deren Mittelpunkt dieser vielleicht häßliche Gegenstand, meine Person, ist. (1.7.1931, BEE).
Im selben Geiste behauptet er nicht nur eine Verpflichtung des Philosophen zu einer genauen und reflexiven Sprache, sondern fordert auch ein solches sprachliches Bewusstsein für den Alltag. Beispielhaft zu sehen ist dies in seiner Kritik an Malcolms Auffassung vom ‚Nationalcharakter‘. So hält Wittgenstein dessen Bemerkung angesichts eines versuchten Anschlages auf Hitler, die Engländer seien zu „anständig und zivilisiert“ für eine solche Hinterhältigkeit, für äußerst dumm und sagt: „[…] what is the use of studying philosophy if all that it does for you is to enable you to talk with some plausibility about some abstruse questions of logic, etc. and if it does not improve your thinking about the important questions of everyday life“.144 Statt also, wie Szabados ausführt, die übliche philosophisch distanzierte Haltung des „spectator of time“ oder des „exile from a community“ (so der frühe Wittgenstein) einzunehmen, philosophiere Wittgenstein ab den 1930er Jahren viel in der ersten Person: „‚I am inclined to say …‘, ‚I am tempted to think …‘, and such confessions are very much part of the character of his work.“145 Das, so betont Szabados, charakterisiere auch den Autobiographen, dass jener vor allem über sich selbst spricht, während der Philosoph meist im ‚wir‘ schreibe, Allgemeinheit reklamiere und für Andere spreche. Wittgenstein hingegen habe nie diesen allgemeinen Anspruch an sein philosophisches Werk gehabt, sondern sich nur an diejenigen Leser gerichtet, die sich in seinem Werk wiedererkennen: „I ought to be no more than a mirror in which my reader can see his own thinking with all its deformities, so that helped in this way, he can put it right.“ (CV, 18e) Der Philosoph sieht sich hier nicht als Prophet, sondern als Spiegel für den Lesenden, der seinem Leser den Weg weist, sich selbst auf die Spur zu kommen. Das äußert sich auch in seiner philosophischen Methodik, bei der er stets bemüht war, den Weg des Denkens zu zeigen und nicht vorzugeben, frei
144 Malcolm, A Memoir, 35. 145 Szabados, Autobiography and Philosophy, 67.
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von Einflüssen und Illusionen zu sein. Er thematisiert jene nicht nur in Form von Vorbildern oder Vorurteilen, ‚Familienähnlichkeiten‘ oder ‚Sprachspielen‘, sondern ist sich auch der genreübergreifenden Problematik bewusst: Zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen bezieht er sich beispielsweise auf Augustinus, der meint, daß es die Ahnen sind, die Familiengeschichte oder die Philosophietradition, die das Denken bestimmen. In beiden Genres verschwinde das Selbst in Gemeinschaften, Kontexten oder Denktraditionen: „[…] the narratives, methods, vicissitudes and limits of these two genres might criss-cross, overlap […]. In autobiography, as in philosophy, we do not speak first […] Both genres, we might say, run in the family.“146 Wittgenstein sei sich im besonderen Maße der Kontexte des eigenen Schreibens und der darin involvierten Sprachspiele und ihrer unterschiedlichsten Funktionen, welche Sprache zu erfüllen habe, bewusst gewesen. So markiere er mit dem Begriff ‚Konversion‘ bewusst einen Einschnitt in der Autobiographie.147 Szabados sieht bei Wittgenstein jedoch eine gewisse Distanz zu diesem Projekt. So seien seine Geständnisse nur bedingt durch die Lektüre der Bekenntnisse von Augustinus beeinflusst, denn die Confessions von Rousseau wie das Werk von Augustinus – beide bekannt als die Vorläufer des Genres Autobiographie – hätten zwar die Subjektivität von Auswahl und Darstellung beschrieben, basierten aber doch auf gewissen Sicherheiten des Wissens und der Selbsterkenntnis. Wittgenstein hingegen hätte diese Vorstellung der traditionellen Philosophie, vom Wissen um das Descart’sche Selbst (‚Cogito ergo sum‘), nicht mehr geteilt, sondern das Wissen und der Zweifel am Selbst gehörten für ihn zusammen, wenn er schreibt: Understanding oneself properly is difficult because an action to which one might be prompted by good and generous motives is something one may also be doing out of cowardice or indifference. (CV, 48e)
Diese Form des Zweifels und der Unruhe veranlasst Szabados, Wittgenstein zum Vertreter einer modernen Autobiographik zu reklamieren. Auch bei anderen Definitionen von moderner Autobiographik, wo das Wesen der Selbstdarstellung weniger in einer Sinnfindung gesehen wird, sondern in der Suche danach,148 ist ein Zusammenhang mit Wittgenstein erkennbar. Bei dieser Suche verlieren äußere Einheit und gegliederter Aufbau zunehmend an Bedeutung, und auch Autobiographie und Tagebuch beginnen sich formal weitgehend aneinander anzunähern. Diese Verwischung des Genres findet sich in Wittgensteins Texten, ebenso wie die Überlappung
146 Ebenda, 75f. 147 Ebenda, 64; Ders., Autobiography after Wittgenstein, 2, 6. 148 Ingrid Aichinger, Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk, in: Niggl, Die Autobiographie, 170–199, 194 u. 198.
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zwischen autobiographischen und philosophischen Anliegen.149 Die Uneindeutigkeit der Form prägt Wittgensteins gesamten Nachlass. Deshalb ist die Skriptgenese bedeutsam, nicht nur, weil die meisten seiner Schriften nicht veröffentlicht sind, sondern auch, weil ihm selbst der Entstehungsprozess seiner Gedanken wichtig war, wie es seine Notizbücher, aber auch das Konzept seiner Vorlesungen dokumentieren: Ihm ging es darum, die Entwicklung der Gedanken transparent zu machen, nicht Resultate zu präsentieren. Dazu hatte er seine Notizbücher stets gebraucht – ohne welche die Redundanzen in den Manuskripten auch nicht erklärbar sind. Dennoch hatte er Spuren dieses Kompositionsprozesses verwischt, indem er Teile der Notizbücher selbst vernichtete oder dies anordnete. Die Beschäftigung mit Wittgensteins Nachlass zeigt, dass es zahllose Varianten, aber keinen einen ‚wahren‘ Text gibt. Ähnlich scheint es mit den autobiographischen Texten zu sein. Weder hatte er bestimmte Texte als ‚autobiographische Texte‘ autorisiert noch hat er jene explizit verfasst, sondern eher implizit und vernetzt durch zahllose Bezüge zu Werk und Leben jene zu solchen gemacht. Ähnlich spiegeln sich die mäandernden Bewegungen seines philosophischen Schreibstils in seinen autobiographischen Bemerkungen wider, welche über die Manuskripte verteilt sind, niemals die ultimative Form einer Autobiographie findend. Ist dies als Strategie zu sehen, um sich Fest- und Zuschreibungen zu entziehen? War Wittgensteins Methode des Philosophierens, seine unhierarchische mehrstimmige Anordnung der Gedanken im Text, eine unbewusste Antwort auf die regelrechte Fetischisierung seines Erstwerkes Tractatus, das gleich nach seinem Erscheinen berühmt geworden war und die Wahrnehmung von Wittgenstein lange dominiert hatte? Das Spätwerk, so könnte argumentiert werden, begegnet mit seiner offenen, netzartigen Struktur dieser Gefahr einer „Fetischisierung“ von Texten, wo ein „isoliertes Fragment die Gesamtheit“150 verdrängt. Ob die Textur seiner Manuskripte diese Absicht hatte oder nur die Konsequenz seiner vielfältigen Themen oder auch seines
149 David Schalkwyk sieht beispielsweise eine Verbindung zwischen Wittgensteins philosophischem Projekt (die Worte zu ihrem Ursprung zurückzuführen oder das philosophische Schreiben als Anfertigen von Landschaftsskizzen) und seinem persönlichen Zustand, einer Form der Verlorenheit und Selbstentfremdung. Vgl. Schalkwyk, Wittgensteins „unvollkommener Garten“. Die Leitern und Labyrinthe von Philosophie als Dichtung, in: John Gibson/Wolfgang Huemer (Hg.), Wittgenstein und die Literatur, Frankfurt/M. 2006, 84–109. 150 Ich verweise hier auf eine Analogie mit David Frisbys Argumentation hinsichtlich des Werks von Georg Simmel, dessen „unvollständige dialektische Form […], in welcher Dichotomien und Antinomien an den Beginn des Essays gestellt werden, die […] in keinerlei Synthese münden“, ihm ermöglicht „derartig viele Themen in einem einzigen Aufsatz zu verknüpfen“ und ihm diese offene Form auch erlaubt, wie es Siegfried Kracauer formuliert habe, „von jedem Punkt seines Werkes zu jedem anderen zu gelangen“. David Frisby, Georg Simmels Großstadt: eine Interpretation, in: Lutz Musner/Gotthart Wunberg/Christina Lutter (Hg.), Cultural turn. Zur Geschichte der Kulturwissenschaften, Wien 2001, 65–86, 67f.
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Schreibstils war, muss unentschieden bleiben. Damit, so könnte man aber annehmen, diente das ständige Umschreiben seiner Manuskripte, das Einweben wiederkehrender Satzfragmente in unterschiedlichste Neukonstellationen (deutlich sichtbar in der ‚Bergen Electronic Edition‘), zu diesem Zeitpunkt nicht mehr der Suche nach dem Unverrückbaren Ausdruck, „in order to get things exactly right“,151 als vielmehr das Verrückbare zu demonstrieren, wie die immer selben Bemerkungen in anderen Zusammenhängen neue Wirkungen entfalten und andere Bedeutungen bekommen. Schließlich ist die Kehrseite einer Suche nach dem Unverrückbaren das Bewusstsein für das Verrückbare. Wittgenstein schreibt in den 1930er Jahren: Ich schreibe öfters Philosophische Bemerkungen die ich einst gemacht habe an der falschen Stelle ab: dort arbeiten sie nicht! Sie müssen dort stehen, wo sie ihre volle Arbeit leisten! (6.3.1937, TB, 94)
Dementsprechend verwendet er auch zeitlebens viel Zeit auf das Ordnen und Umstellen von Bemerkungen. Dennoch scheint er in seinem Spätwerk weniger die einzig gültige Konstellation zu suchen, als die Vielverwendbarkeit sprachlicher Formulierungen demonstrieren zu wollen. Schließlich nimmt er in den Philosophischen Untersuchungen den Konstruktivismus vorweg, wenn er fast resignierend schreibt: „Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten.“ (PU, § 114) Hier wird der Form an sich eine radikale Skepsis entgegen gebracht, wie sie auch dem Begriff des ‚Albums‘ oder der ‚Landschaftsskizze‘ inhärent sind. Wittgenstein suggeriert damit, das Streben nach einem Buch aufzugeben. Dennoch scheint sein Schreibstil auch ein bewusstes Stilmittel, wenn nicht sogar „Täuschungsmanöver“, zu sein: Denn Wittgensteins Sprach- und Schriftbildspiel – unterstützt durch den Wechsel zwischen privaten und philosophischen Bemerkungen, sowie den Sprachen Deutsch, Englisch oder der Geheimschrift – vermeidet zwar Linearität, sie maskiert sie aber auch, wie Øystein Hide betont.152 Denn trotz der beschriebenen Skepsis Wittgensteins gegenüber der linearen Buchform durchziehen Linearitäten und Kontinuitäten sein Werk. Zudem kämpfte er lebenslang mit der äußerlichen Form: Zuerst bei seiner Bachelor-Arbeit, dann bei der Veröffentlichung des Wörterbuchs für Volkschulen (welches für die zum Teil assoziative Reihung der Wörter kritisiert wurde), weiters die diversen Versuche den Tractatus zu publizieren und seit den 1930er Jahren der langwierige Versuch, seine neuen Gedanken in ein Buch zu fassen. Die späten Schriften signalisieren zwar eine Zufriedenheit mit der „Skizze“ und Wittgenstein suggeriert, mit dem Scheitern der Buchform leben zu können, dennoch war er bis zum Lebensende darum bemüht dieses fertigzustellen. Was gerne als postmoderner Ha-
151 Schulte, Letters from a Philosopher, 189. Vgl. McGuinness, Approaches, xi. 152 Vgl. Dissertationskonzept von Øystein Hide, Manuskript.
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bitus gelesen wird, scheint oft doch nicht mehr als die Sehnsucht nach diesem; so scheint er doch gefangen zu sein in der Realität von allgemeinen Erwartungen an Linearität, Buchform und Lesbarkeit, von akademischer Konkurrenz und Selbstvergewisserung als Autor und einem gewissen Verlangen nach einer abgeschlossenen Form. Wittgensteins sensibles Bewusstsein für die Schwierigkeiten und die Problematik eines kohärenten Narrativs findet sich auch in seinen autobiographischen Bemerkungen – doch auch diese sind ambivalent. Trotz seiner Skepsis gegenüber biographischer ‚Wahrheit‘ und der Wahl einer äußerst formlosen Fassung zeigen seine Reflexionen, dass er sich an Autobiographischem versucht hatte und ihm der dazugehörige Diskurs inklusive seiner Sprachregeln wichtig war. Liegen somit die philosophischen und autobiographischen Anliegen näher beieinander als bisher angenommen? Er fordert die deutliche Kennzeichnung der Autorschaft und die Transparenz von Schreibmotiven und Denktraditionen, Aufrichtigkeit gegenüber sich selbst und anderen, dennoch war sein Privatleben weitgehend unbekannt und er ordnete an, seine Notiz-, und Tagebücher zu verbrennen – und das alles im Sinne von Transparenz? So sind auch die Interpretationen von Szabados, inspiriert von jüngster Autobiographietheorie, kritisch zu hinterfragen: Sind ‚echte‘ Selbstbeschreibung und Selbsttäuschung unterscheidbar? Schützt das Wissen, autobiographische Wahrheit nicht erreichen zu können, vor Selbsttäuschung? Mit Wittgenstein argumentierend kommt die Selbsttäuschung oft aus der Sprache, von Sprachbildern, die einen täuschen und die einen gefangen halten. Wittgenstein kritisiert diese Macht von Sprachbildern, gleichzeitig jedoch verwendet er selbst zahllose Gleichnisse, welche die Studenten, wie Georg Kreisel berichtet, fesselten: „Was den außerordentlich kunstvollen und witzigen Stil seiner (besten) Analysen anbetrifft, ist zu bedenken, dass wir nicht nur von ‚Bildern der Sprache‘, sondern auch von witzigen Beispielen ‚gefangen‘ gehalten werden.“153 Welche Bilder vom Selbst sind es, die Ludwig Wittgenstein und damit auch die Biograph(Inn)en gefangen halten? Diese zeigen sich, wenn seine autobiographischen Reflexionen nicht nur als eine Form der Auseinandersetzung mit sich selbst, sondern auch als ein Medium der Selbstdarstellung betrachtet werden.
6. AUTO -/ BIOGRAPHISCHE I RRITATIONEN : AUTHENTIZITÄT VERSUS I NSZENIERUNG ? Nach wie vor zentral in der Biographieforschung ist die Frage nach der Authentizität, wenn der Biograph die Verlässlichkeit der Quellen prüft. Wie authentisch, hier im Sinne von wahr, ist ein Text, eine Geschichte über sich selbst oder andere, eine Anekdote, eine Beschreibung, ein Familienwitz? 153 Zit. n. Wuchterl/Hübner, Wittgenstein, 144.
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Skepsis ist stets angebracht, denn alle Erzählungen enthalten weniger Fakten als vielmehr ihre Bewertung durch den Erzähler. Oft gibt es unterschiedliche Varianten einer Erzählung, wie im Falle des Buches Wittgenstein’s Poker: The story of a 10-minute argument between two great philosophers, welches die einzige Begegnung zwischen Karl Popper und Ludwig Wittgenstein im Moral Science Club in Cambridge im Oktober 1946 anhand von Interviews mit einzelnen Augenzeugen beschreibt.154 Indem die unterschiedlichen Versionen derselben Geschichte einfach nebeneinander gestellt wurden, ergeben sich die Fragwürdigkeiten einzelner Details von alleine und der Entstehungsprozess einer bzw. vieler Geschichte(n) wird sichtbar. Diese distanzierte und facettenreiche Art der Darstellung wäre bei manchen Unklarheiten zu Wittgensteins Biographie eine aufschlussreichere Präsentationsform. Der große Erfolg des Buches verdankt sich jedoch nicht nur diesem reflektierten Umgang mit dem ‚Geschichten-Erzählen‘, sondern auch dem Thematisieren einer starken Erzählfigur: nämlich wie die beiden Proponenten zweier gegensätzlicher Selbstverständnisse und Denktraditionen (Sprachphilosophie versus Kritischer Rationalismus) zum Kampf antreten, der eine bewaffnet mit einem Schürhaken (Wittgenstein), der andere mit Witz (Popper). Dieser Konflikt – und dessen Stilisierung zu einem zentralen Ereignis der Wissenschaftsgeschichte – wird zwar als ‚Erzählfigur‘ enttarnt, dennoch wird die Idee von einer Feindschaft auch fortgeschrieben. Es mag zwar eine persönliche Abneigung gegeben haben, jene war aber vor allem im Nachhinein dienlich, vor allem Popper selbst (in seiner Autobiographie), den Adepten der beiden Philosophen und den Richtungskämpfen in der Philosophie. Hier offenbart das Buch in inspirierender Weise, wie biographische Anekdoten vom jeweiligen Erzähler (aber auch von den Autoren selbst) modelliert werden. Mehr als eine Annäherung an die Vorkommnisse ist nicht zu haben. Doch eine solche Annäherung an eine biographische ‚Wahrheit‘ ist auch bei der Bearbeitung autobiographischen Materials schwierig. Als das Ziel jedes autobiographischen Schreibens gilt es zwar zumeist, sich selber nahe zu kommen, sich Ausdruck zu verleihen, inneren Erregungsprozessen und ihren Bedeutungen nachzuspüren, fern jeder Strategie sich nach inneren, nicht äußeren Maßstäben zu richten. Diesen Grundsatz nannte Philippe Lejeune den „autobiographischen Pakt“, die Übereinkunft des Autors mit dem Leser, dass das ‚Ich‘ im Text der Autor selbst ist, er ‚Wahres‘ erzählt und der Darstellung Sinn und Bedeutung zumisst. Dieser Anspruch Lejeunes an den Autor, Realität wiederzugeben, widerspricht jedoch der subjektiven Autorposition, denn jede Selbstdarstellung ist beeinflusst von Motiven und Mitteln der Darstellung. Der Leser erwartet zwar von einem autobiographischen Text ein besonders hohes Maß an Lebensechtheit oder Wirklichkeitstreue, der Rückgriff auf solchermaßen authentisches Material ist jedoch kein
154 Auf dt.: David Edmonds/John Eidinow, Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte. Eine Ermittlung, München 2001.
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Garant dafür, hier autobiographisch Wahres zu erfahren. In Bezug auf Lebensgeschichten, betont Lejeune, sei es deshalb besser von Authentizität als von ‚Wahrheit‘ oder von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu sprechen, denn es gehe damit auch um die psychische Realität des Ereignisses – wie der Mensch die Realität verarbeitet hat.155 Was Authentizität allerdings meint, das definiert jede wissenschaftliche Disziplin für sich anders, Definitionen, die sich auch unter jeweils neuen gesellschaftlichen Bedingungen verändern. Als authentisch, im Sinne von aufrichtig und wahrhaftig, gilt eine Person gemeinhin dann, insofern es eine Übereinstimmung gibt zwischen dem, „was die Person ‚äußerlich‘, also für andere wahrnehmbar, darstellt und dem, was sie ‚innerlich‘ für sich selbst, ist“.156 Sybille Krämer nennt dies die personale Authentizität und weist darauf hin, dass diese Idee vorrangig als normativer Begriff fungiert, weil diese Übereinstimmung kaum zu ermitteln ist: Es sei eine Idee, die aus philosophischer Perspektive in der protestantischen Entdeckung der Innerlichkeit wurzelt, sowie in „der Entfaltung von Selbstmodellen und individuellen Lebensformen im Sinne von Aufrichtigkeit (Habermas) oder Eigentlichkeit (Existenzialismus)“, sie werde aus postmoderner Perspektive (Sennett und Bohrer) „im Namen einer ubiquitären Medialität unseres Selbst- und Weltverhältnisses“ kritisiert, während die moralphilosophische Perspektive eine Positivierung des Authentischen (Taylor und Ferrara) versuche. Authentizität unter dem Eindruck von Habermas meint somit etwas anderes als unter dem Einfluss der Postmoderne. Auch Lionel Trilling skizzierte den historischen Wandel von Authentizitätsformeln, und zeigte damit, dass auch jene eine „inauthentische Konvention“, also soziokulturell geformt, sind: Umgangssprachlich bedeutet der Begriff authentisch ‚echt‘ und ‚original‘ im Gegensatz zu ‚nachgemacht‘ und in diesem Glauben an die Originalität liegt ein materieller, aber insbesondere ein psychologischer Wert: so in Jacques Rousseaus Rede vom „authentischen Menschen“ als revolutionärer Anspruch auf Selbstermächtigung157 oder in der Existenzphilosophie als Äquivalent für das ‚Eigentliche‘
155 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994, 158. 156 Dazu sieht sie als Gegensatz die materiale Authentizität, im Sinne von Originalität eines Objekts. Sybille Krämer, Zum Paradoxon von Zeugenschaft im Spannungsfeld von Personalität und Depersonalisierung. Ein Kommentar über Authentizität. Vortrag auf der Konferenz ‚Die Er/Findung von Authentizität‘ des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, 8–10.10.2008. 157 Das ist beispielsweise angedeutet im griechischen Ursprung des Wortes ‚autos‘ (selbst), ‚authenteo‘ heißt „eigenmächtig handeln“ bzw. ‚authentes‘ meint den Mörder oder Urheber, der selbst und in Eigenverantwortung etwas ausführt. Das sind Auszüge aus div. Wörterbüchern. Da sich Diskurse über Authentizität in unzähligen Bereichen (Theaterwissenschaft, Museologie, Marketing, Postcolonial Studies, Kulturkritik u.a.) wieder finden, variiert auch die Bedeutung des Begriffs; ob er z.B. mit der Frage von Essentialismus und Konstruktivismus, mit der Subjekttheorie (das ‚Ich‘ als authentischer Kern des Subjekts) oder wie hier mit der politisch-ethischen Forderung nach Selbstbestimmung einer Person verknüpft wird. Vgl. zu div. Verwendungsweisen aus transdisziplinärer Perspekti-
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in der Dichotomisierung von primitiver und moderner Kultur. Ob die Lebensphilosophie und Reformbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts oder der Moraljargon der 1960er Jahre, sie alle haben für eine Aufwertung des Authentischen gesorgt. Dadurch wurden Rituale der Distanz, wie Zeremonien, Diplomatie und Floskeln der Höflichkeit entwertet, und der freie Ausdruck von Emotionen, in Form von „Unordnung, Gewalt, Schmerz und Unvernunft“ aufgewertet, wenn die Avantgarde beispielsweise im Wahnsinn „ein Medium des subversiv Authentischen“ sah. 158 Das Konzept der Authentizität gilt als eine klassische Kategorie und Problematik der Ethnologie, denn viele Fragen des Selbst- und Fremdverstehens erhalten ihre Antworten erst in der konkreten Auseinandersetzung mit Menschen oder Texten, deren narrative Komponente anderen Wissenschaftsbereichen oft verborgen bleibt, wie beispielsweise der Philosophie, die das Konzept mehr als Abstraktum behandelt.159 Nachdem die Ethnologie den Begriff als Fiktion und als „rhetorische Konstruktion eines homogenen Anderen“ entlarvt und ihn unter dem Einfluss von Clifford Geertz in die Kulturwissenschaften getragen hat, half dort die Perspektive des Konstruktivismus den Begriff neu zu beleuchten: Die Vorstellung von einem unberührt bleibenden authentischen Kern einer Kultur wurde ebenso unannehmbar wie das Konzept von Originalität.160 Auch der Glaube an den auratischen Eigenwert eines Originalgegenstandes oder eines zeitgenössischen Zitats (der ‚Zeitzeuge‘) war in der Theorie der Human- und Sozialwissenschaften nun äußerst umstritten. Ende der 1970er Jahre hatte die Proklamation der Autorität des Authentischen in den Geisteswissenschaften noch einen Boom an Autobiographien, Tagebüchern und Biographien ausgelöst, weil man glaubte, in diesen Medien echte Gefühle und Erfahrungen zu vermitteln oder zu finden, nach dem Motto ‚Je intimer, desto echter‘. In diesem Kontext wurden auch Ludwig Wittgensteins Tagebücher und sein Privatleben entdeckt. Es kam damals geradezu zu einer Privilegierung des Begriffs Authentizität, soweit, dass Richard Sennett bereits von einer „Tyrannei der Intimität“ sprach.161 Gleichzeitig ging damit einher eine zunehmende Skepsis vieler Wissenschaften gegenüber der Möglichkeit unverstellter Unmit-
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ve: Ursula Amrein (Hg.), Das Authentische. Referenzen und Repräsentationen, Zürich 2009. Lionel Trilling, Das Ende der Aufrichtigkeit, Berlin 1980 (Org. Sincerity and Authenticity, 1972), zit. n. Helmut Lethen, Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze, in: Böhme/Scherpe, Literatur und Kulturwissenschaften, 205– 231, 222 u. 224. Vgl. Mark Münzel und Klaus-Peter Koepping auf einer Tagung der Universität Kassel, Verstehen und Verständigung, 22.–24.2.2001, vgl.: http://agd.polylog.org/ 3/rlu-de.htm (1.1.2011). Vgl. u.a: Bruce Baugh, Authenticity Revisited, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 4, 1988, 477–487; Marjorie Grene, Authenticity: An Existential Virtue, in: Ethics 4, 1952, 266–274. Lethen, Versionen des Authentischen, 222–224, 228. Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1986.
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telbarkeit. So stellten die Performanz- (Sprachverwendung) und Diskurstheorie Ende der 1970er Jahre, entsprechend dem Paradigma der Ideologiekritik, jede autobiographische Äußerung unter Generalverdacht, damit wurde jede Erinnerung zur Fiktion und jede autobiographische Äußerung zu einem Akt der Darstellung. Dieser Akt der Präsentation, die Performanz, ist ein Leitbegriff des dramatologischen Modells des Soziologen Erving Goffman. Er stellt mit der Analogie des Theaterspiels dar, wie in alltäglichen Interaktionen Menschen versuchen, einen Eindruck zu hinterlassen, indem sie Authentizität suggerieren.162 Dieser Begriff lebte jüngst im Feld der Kulturwissenschaften wieder auf und richtet den Blick auf die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, mit der Frage nach der Theatralität oder dem Ritualcharakter von Handlungen, der Inszenierung gesellschaftlicher Symbole oder der Bedeutungszuschreibung, die durch so genannte ‚Rahmungen‘ vorgenommen wird: Das Werk wird als Ereignis betrachtet, nicht als Text, sondern als inszenierte Aufführung.163 Dabei interessiert besonders die jeweilige zeitgenössische Gegenwart und der Herstellungsprozess des Werkes. Mit der Wahl einer bestimmten Gestalt für einen Text wird dessen Wahrnehmung maßgeblich geformt. Das Genre Tagebuch oder Autobiographie zu wählen, suggeriert von vornherein einen Anspruch auf Evidenz und Authentizität. Auch in der Biographieforschung seit den 1990er Jahren geht es somit nicht mehr primär um das Werturteil über biographische Fakten (echt/falsch), sondern um Mechanismen der Darstellung, die narrativen Strukturen, die Motive und die Perspektive des Autors und die Rekonstruktion der gesellschaftlichen wie spezifisch individuellen Rahmenbedingungen von Lebensbeschreibungen. Dabei werden die vormals in der Biographieforschung zu selbstverständlich verwendeten Begriffe wie authentisch und unmittelbar ergänzt durch gestaltet und inszeniert.164 In autobiographischer Hinsicht bedeutet authentisch wahrhaftig zu sein, im Moment des Handelns dieses als echt zu empfinden; nicht absichtlich vorzutäuschen, zu schauspielern, zu stilisieren oder zu inszenieren. Das ist
162 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 2003 (Org. 1959). Vgl. dazu u.a. Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel 2000. Die beiden Begriffe Inszenierung und Authentizität, die eigentlich Gegensätzliches bedeuten, werden hier im Kontext Theater hinterfragt wie auch miteinander verwoben, beispielsweise in der Frage, inwieweit gerade das, was als ‚authentisch‘ (ursprünglich, selbstverständlich) wahrgenommen wird, immer schon der Inszenierung bedarf. 163 Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004. Vgl. zur Vielfältigkeit des Begriffs: Uwe Wirth, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Ders. (Hg.), Performanz: Zwischen Sprachphilosophie zur Kulturwissenschaft, Frankfurt/M. 2002, 9–60. 164 Christian Klein, Von der Faszination des inszenierten Lebens – Herausforderungen und Chancen der aktuellen Biographik, in: Immler, ‚The making of …‘, 33– 44, 38.
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nicht nur schwer zu beweisen, auch dem Begriff des Authentischen ist selbst bereits der der Konstruktion inhärent: authentisch ist nichts von sich selbst aus, sondern etwas, was als authentisch betrachtet wird. ‚Wahrheit‘ gibt es aus konstruktivistischer Perspektive immer nur in Bezug auf eine bestimmte Theorie und nur innerhalb dieses Rahmens, der gewisse Regeln und Normen vorgibt. Bedeutung wird hierbei stets, wie Alfred Opitz betont, „über den sozialen Kontext und das jeweilige Kommunikationssystem“ hergestellt und damit erfolgt auch die Zuschreibung von ‚Wahrheit‘ nach „Regeln, die das System definiert“.165 Weil auch in der Biographieforschung ungeklärt ist, was ‚authentisch‘ ist, besteht hier vor allem Interesse daran, welche „Verfahren den Effekt des Authentischen auslösen“,166 und in welcher Weise sich Authentizität und Inszenierung gegenseitig aus- oder einschließen.167 In Teilen der Literatur der letzten zwei Jahrzehnte standen Wittgensteins sokratisches Ideal, sein Streben nach Aufrichtigkeit und sein ethischer und moralischer Rigorismus im Zentrum eines neuen Verstehens, und es wurde versucht, ein kohärentes Bild dieser Übereinstimmung zwischen Leben und Werk zu präsentieren. Dieses Interesse am ‚ethischen Wittgenstein‘ ist mit motiviert von einem emphatischen Lebensbegriff und der Sehnsucht nach glaubwürdig Echtem,168 im Kontext zunehmend medialisierter künstlicher Alltagskultur und wissenschaftlich-technischen Fortschritts, was in der Philosophie neuartige disziplinenübergreifende Fragen mit ethischen Implikationen auslöste; sowie wissenschaftsübergreifend eine Suche nach „wahrheitsverbürgenden Instanzen“ in einer säkularisierten Welt, beispielhaft artikuliert in diversen Authentizitätsdiskursen.169 Das sind Einflüsse, die sich in der Biographieforschung deutlich zeigen; jedoch in ihrem Sehnsuchtsgehalt oftmals unreflektiert bleiben. Jüngst gab es zwar, wie bereits beschrieben, skeptische Fragen, ob es seitens der Biographen nicht zu sehr zu einer Übereinstimmung von Wittgensteins Selbstsicht und ihrer Außensicht kam, weil sie sich zu sehr an seinen Vorgaben orientiert hatten.170 Dieser Verdacht soll Ausgangspunkt sein, zu einer Betrachtung seiner autobiographischen Be-
165 Alfred Opitz, Authentizität – Referentialität – Kontext. Anmerkungen zur aktuellen Theoriedebatte, http://www.ilch.uminho.pt/apeg/opitz.htm (Aug. 2004). Vgl. auch Alfred Opitz (Hg.), Erfahrung und Form. Zur kulturwissenschaftlichen Perspektivierung eines transdisziplinären Problemkomplexes, Trier 2002. 166 Lethen, Versionen des Authentischen, 209. 167 Ich folge damit einem Gedanken von Sybille Krämer, auch in Anlehnung an Helmuth Plessner. 168 Das Thema Ethik wurde auf dem 5. Int. Wittgenstein-Symposium, Ethik – Grundlagen, Probleme und Anwendungen, im Jahr 1980 in Kirchberg erstmals explizit diskutiert. 169 Vgl. Ursula Amrein, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Das Authentische. Referenzen und Repräsentationen, Zürich 2009, 9–24, 19. Vgl. dazu auch das Themenheft ‚Authentizität‘ im Wittgenstein-Jahrbuch, 3, 2007. 170 Terry Eagleton und Brian McGuinness verweisen im Ansatz, David Stern, Richard Shusterman und Richard Freadman detaillierter auf eine davon fehlgeleitete Rezeption.
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merkungen als Ausdruck von Selbstreflexion und Akt der Selbstdarstellung. Damit wird die Ebene der Darstellung, der Inszenierung und der Bedeutungsstiftung betreten.171 Es ist nicht der Begriff der Authentizität, dieser kommt in den Manuskripten nie vor, sondern das Streben danach, welches in Wittgensteins Werk und Leben eine zentrale Rolle spielt. So wenn er schreibt: Sich über sich selbst belügen, sich über die eigene Unechtheit belügen, muß einen schlimmen Einfluß auf den Stil haben; denn die Folge wird sein, daß man in ihm nicht Echtes von Falschem unterscheiden kann. So mag die Unechtheit des Stils Mahlers zu erklären sein und in der gleichen Gefahr bin ich. Wenn man vor sich selber schauspielert, so muß der Stil davon der Ausdruck sein. (17.2.1938, BEE)
Wittgensteins autobiographischen Bemerkungen war die Frage nach dem Sinn von Wahrheit, später nach der Möglichkeit von Aufrichtigkeit stets immanent. Doch er sieht auch deren Grenzen, wenn er am 12. Dezember 1938 in den Manuskripten schreibt: „Es ist unmöglich, wahrer über sich zu schreiben, als man ist.“ (BEE) Wittgenstein sieht die Ambivalenz, die dem autobiographischen Schreiben und dem Denken über sich selbst zugrunde liegt. So nennt er die Unbeständigkeit von Schreibmotiven, jene seien vielfältig, komplex und die wahren Motive blieben oft ungenannt. Er betont auch stets die Eitelkeit, die mit diesem autobiographischen Schreiben unmittelbar verbunden ist und kritisiert die narzisstische Tendenz der Gattung Tagebuch. In anderen Briefen hingegen nennt Wittgenstein die Eitelkeit etwas ihm Fremdes. Doch wenn er sich in einem Brief an seine Schwester Helene nicht als Philosoph, sondern als „Wahrheitssucher“ bezeichnet wissen will, ist das nicht nur einem ironischen Ton geschuldet, der die meisten Briefe an seine Schwester prägt, sondern auch einem Bescheidenheitsgestus, der nicht ganz glaubwürdig wirkt: Liebe Helene! Du schreibst in Deinem letzten Brief, ich sei ein großer Philosoph. Gewiß, ich bin’s, und doch möchte ich’s von Dir nicht hören. Nenn’ mich einen Wahrheitssucher und ich will’s zufrieden sein. Gewiß Du hast Recht, jede Eitelkeit ist mir fremd und selbst die abgöttische Verehrung meiner Schüler vermag nichts gegen die Unerbittlichkeit meiner Selbstkritik. Freilich, ich muss es zugeben, meine Größe setzt mich oft selbst in Staunen und ich kann sie nicht fassen trotz der enormen Größe meines Fassungsvermögens. Aber nun genug der Worte, wo Worte doch nur leer sind gegenüber der Fülle der Dinge. Mögest Du ewig […] Dein Ludwig. (1934, FamBr, 147)
171 Vgl. Nicole L. Immler, Die autobiographischen Reflexionen von Ludwig Wittgenstein: Zwischen Repräsentation und Konstruktion. Kulturwissenschaftliche Betrachtungen zum (auto-)biographischen Schreiben. In: Johann C. Marek/Maria E. Reicher (Hg.), Erfahrung und Analyse, 27. Int. Wittgenstein Symposium, Bd. XII, Kirchberg 2004, 147–150.
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Die Ironie, die ihm erlaubt ‚ungehörige‘ Dinge zu sagen, ist deutlich hörbar. Auch wenn er darin jede Eitelkeit bestreitet, suggeriert der Brief doch, wie es auch Joachim Schulte betont, dass hier jemand auch nach Größe sucht, nicht nur nach Wahrheit.172 Ebenso wirken seine Selbstanklagen oft pathetisch, selbst wenn Thomas Macho diesem Pathos einen ganz speziellen Charakter zuschreibt: „Wittgensteins Pathos war kein Pathos der akademischen Seriosität, sondern ein Pathos der existenziellen Integrität und Ernsthaftigkeit; Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Erkenntnis und Selbsterkenntnis, sollten nicht voneinander abgelöst werden.“ Bezug nehmend auf die fortwährenden Selbstbezichtigungen und die Sündenbekenntnisse heißt es: „Mag sein, daß Wittgenstein das Pathos der Aufrichtigkeit übertrieb […]; doch zwang ihn eben dieser Pathos zu einer permanenten Reflexion nicht nur der philosophischen, sondern auch der pädagogischen Praxis.“173 Wittgensteins pathetischer Wesenszug zeigt sich auch in anderen Lebensbereichen. Weniger verständnisvoll als viel mehr lakonisch heißt es bei Wittgensteins Freund David Pinsent in seinem Tagebuch über die gemeinsame Reise nach Norwegen, Wittgenstein sei pathetisch in seiner ständigen Rede vom Tod und hätte eine „morbid and mad conviction“, was er „a hopelessly pathetic business“ nennt.174 Ist dieses theatralische Pathos wirklich das auslösende Moment einer reflexiven Praxis, oder zeigt diese Interpretation nicht doch viel eher die Sehnsucht der Forscher nach einem makellosen Bild von Ludwig Wittgenstein? Auch seine häufige Thematisierung der eigenen Eitelkeit und seine Abscheu davor wurde in der Forschung zumeist als ein Zeichen eines gepeinigten Strebens nach Aufrichtigkeit und Anständigkeit interpretiert bzw. als eine Art Reinigung seiner philosophischen Gedanken. Doch wenn Wittgenstein die Gefahr von Eitelkeit und Egozentrik als Hintergedanken des Tagebuchs einräumt, entzieht er sich zugleich diesem Vorwurf, weil er seine eigene Unzulänglichkeit vor allem als ‚genre-thing‘ thematisiert. Ist diese ständige Sorge um Aufrichtigkeit nicht auch eine listige Ausflucht vor sich selbst? Wenn die eigene Aufrichtigkeit immer wieder hinterfragt wird, signalisiert das eine reflexive kritische Auseinandersetzung mit sich selbst oder geschieht es nicht auch in der Hoffnung den „autobiographischen Pakt“ mit dem Leser zu stärken? Dann ist es ein Mittel der Inszenierung statt des persönlichen Ausdrucks. 6.1 Der „autobiographische Pakt“: Zu Signaturen des Textes Der autobiographische Pakt steht am Anfang jedes Textes und tritt darin wiederholt auf. Wie Philippe Lejeune zeigt, steuert die so genannte „Randzone“ des gedruckten Textes – wie Autorenname, Titel, Untertitel, Name
172 Schulte, Letters from a Philosopher, 178. 173 Macho, Wittgenstein, 22f. 174 Pinsent, A Portrait of Wittgenstein as a Young Man, 77.
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der Reihe, Name des Verlages, Motto oder Vorwort – die gesamte Lektüre.175 Diese stiftet und definiert das Vertragsverhältnis zwischen Autor und Leser, dies jedoch in einer höchst komplexen und unberechenbaren Weise: „Man entzieht sich dem Vorwurf der Eitelkeit und Egozentrik, wenn man die Grenzen und Unzulänglichkeiten seiner Autobiographie ebenso scharfsichtig erkennt; und niemand merkt, dass im gleichen Zug der autobiographische Pakt indirekt auf das gesamte Werk ausgedehnt wird.“176 Denn damit werde gefordert, die narrative Produktion autobiographisch, d.h. referentiell zu lesen – wobei gerade dadurch möglicherweise das Gegenteil bewirkt werde, und der Leser den fiktiven Anspruch erkennt und den Text als nichtreferentiellen liest. Zudem würden Leser dazu neigen, das für „wahrer und tiefgründiger“ zu halten, was sie „gegen den Willen des Autors aus dem Text herauszulesen vermeinen“. Wird, nach Lejeune, die autobiographische Identität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist „nicht behauptet (im Fall der Fiktion), so wird der Leser gegen den Willen des Autors versuchen, Ähnlichkeiten herzustellen; wird sie behauptet (im Fall der Autobiographie), so wird er eher nach Unterschieden (Irrtümern, Entstellungen usw.) suchen wollen“.177 Im übertragenen Sinne könnte das heißen: Richtet sich der Blick auf Wittgensteins philosophische Bemerkungen, wird nach einer Übereinstimmung mit der Biographie des Autors gesucht, während seinen autobiographischen Bemerkungen an sich eher misstraut wird. Dort, wo der Leser Verbindungen selbst herstellt, glaubt er die echten Beziehungsgeflechte zu eruieren, dort wo eine Lesart vom Autor vorgegeben wird, wird er versucht sein, diese zu dekonstruieren. Eine Unterscheidung, die in der WittgensteinLiteratur bisher weitgehend fehlt. Auch wenn Hans-Georg Gadamers Grunddiktum gilt, dass jeder Text anders verstanden wird, als ihn sein Verfasser verstanden hat,178 ist die Lektüre jedes Textes doch von seiner Signatur abhängig. Welche Signaturen hat Wittgenstein gesetzt? In jeder autobiographischen Darstellung wird der Entwurf des eigenen Selbst verhandelt und kommuniziert. Auch Wittgensteins autobiographische Äußerungen sind ein Akt der Selbstentäußerung und entstehen im Hinblick auf einen fiktiven Entwurf vom eigenen Selbst, sind für Adressaten gedacht, wenn nicht für eine andere Person, so doch für das gewünschte andere Ich: So will der Autor gesehen werden, so sich verstanden wissen. Er betonte stets, wie wichtig es ihm sei, sich verständlich zu machen und eine positive Resonanz zu bekommen, und bemühte sich um große Transparenz, wenn er seine Gesprächspartner, und damit seine Korrektive oder seine Vorbilder nannte. Auch in diesem Nennen von Vorbildern ist die Frage der Selbstpositionierung direkt berührt. Doch diese Verweise sind nicht als unmittelbares
175 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, insbes. 13–51, 28. 176 Thomas Böning, Dichtung und Wahrheit. Fiktionalisierung des Faktischen und Faktifizierung der Fiktion. Anmerkungen zur Autobiographie, in: Neumann/ Weigel, Lesbarkeit der Kultur, 343–373, 362. 177 Ebenda, 369. 178 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 279f.
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Faktum zu sehen, sondern der Akt ihrer Vergegenwärtigung ist stets mit individuellen Deutungen verbunden. Vorbilder zu nennen heißt, Bedeutung zuzumessen und sich in dieser Tradition verstanden wissen zu wollen, weil jene das Selbstverständnis oder das Bild von sich selbst geprägt haben. Wenn Wittgenstein im April 1932 in seinen Manuskripten die Personen aufzählt, die ihn beeinflussten – „So haben mich Boltzmann, Hertz, Schopenhauer, Frege, Russell, Kraus, Loos, Weininger, Spengler, Sraffa beeinflußt […]“ – dann gibt er damit eine Reihenfolge in seiner intellektuellen Entwicklung vor, die dann von Biographen gerne aufgenommen und auch als solche präsentiert wird; allerdings ist dieses lineare Muster auch die „biographische Illusion“ (Pierre Bourdieu) eines Rückblickenden. Auch Wittgensteins Verweise auf die Vorbilder zu seinen Tagebüchern zeigen vor allem, in welchem Einflussfeld er sich sieht oder gesehen werden will, im Kontext der Epoche Samuel Pepys, Gottfried Kellers oder Robert Schumanns. Ein Kulturideal, welches ihm später die Rezeption als ‚Gegenwart verweigernder Kulturpessimist‘ sichert. Wittgensteins Tagebücher weisen zwar Charakteristika dieser literarischen Vorbilder auf, doch gab es auch zahllose „Familienähnlichkeiten“ zu den Tagebüchern diverser Vertreter der Wiener Moderne, und zwar im Unbehagen gegenüber der Moderne, im Empfinden einer Kulturkrise und einer krisenhaften eigenen Identität.179 Der Einfluss seiner Zeitgenossen, insbesondere seiner Lebenssituation, blieb deshalb lange weitgehend unreflektiert. Solche Verweise auf Vorbilder finden sich meist in Mottos, Vorworten, Titeln, Widmungen und Danksagungen. Jene sind Teil des so genannten Paratexts (Gérard Genette), „a transitional zone between text and beyond-text“, der zwischen Autor und Leser vermittelt, Teil der privaten und öffentlichen Geschichte eines Buches ist und damit auch eine Form der Darstellung: „The effect of the paratext lies very often in the realm of influence – indeed, manipulation – experienced subconsciously. This mode of operation is doubtless in the author’s interest, though not always in the reader’s. To accept it – or, for that matter, to reject it – one is better off perceiving it fully and clearly.“180 Wittgenstein wandte sich oft an seine Leser, wenn auch nur indirekt: If I say that my book is meant only for a small circle of people (if it can be called a circle), I do not mean that I believe this circle to be the elite of mankind; but it does comprise those to whom I turn (not because they are better or worse than others but) because they form my cultural milieu, my fellow citizens as it were, in contrast to the rest who are foreign to me. (CV, xiii)
179 Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben, 294 u. 117. 180 Gérard Genette, Paratexts. Tresholds of interpretation, Cambridge 1997, 407f. Genette kreierte auch den Begriff des Palimpsests, der das komplexe Spiel der Resonanz der Texte untereinander beschreibt.
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Oder in einem frühen Vorwort für die Philosophischen Betrachtungen heißt es: Dieses Buch ist für diejenigen geschrieben, die dem Geist in dem es geschrieben ist freundlich gegenüberstehen […]. (1930, VB, 29)
Im philosophischen Diskurs gilt es als authentisch, die Lesekriterien mitzuliefern, schreibt Bruce Baugh: „[…] the authentic work creates the conditions for its own proper reception in establishing the criteria by which it is to be understood“.181 Gilt das auch für autobiographische Texte? Wittgenstein war sich des imaginierten Lesers seines Tagebuches stets bewusst. Einerseits war er unzufrieden mit seinen Eintragungen im Tagebuch, andererseits schreibt er, dass er sich nicht von dem eitlen Gedanken befreien kann, wie jemand reagiere, der seine Tagebücher lese. So schreibt er in den Manuskripten: „Bei den Eintragungen in das Tagebuch denke ich oft, ob das auch ein gutes Licht auf mich werfen wird.“ (20.11.1937, BEE) Der Adressat ist hier beim Schreiben bewusst präsent, eine Schreibhaltung, der Wittgenstein eigentlich ablehnend gegenüber stand. Denn bei anderen Autoren schätzte er diese Adressierung nicht. So heißt es in einer Erwähnung gegenüber Norman Malcolm in Bezug auf Tolstois Novelle Resurrection (Auferstehung, 1899): I once tried to read ‚Resurrection‘ but couldn’t. You see, when Tolstoy just tells a story he impresses me infinitely more than when he addresses the reader. When he turns his back to the reader then he seems to me most impressive […] It seems to me his philosophy is most true when it’s latent in the story.182
Diese Vorbehalte halten Wittgenstein jedoch nicht davon ab, in seinen Manuskripten, seinem Tagebuch oder bei seinen Geständnissen regelmäßig an die Wirkung auf das Gegenüber zu denken oder einen Seitenblick auf die Nachwelt zu werfen: „‚Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze‘; das kann man von Jedem sagen, der ein Schauspieler ist, statt ein Künstler.“ (1.1.1932, BE) Das Streben nach dem ‚richtigen‘ Leben hat Wittgenstein zweifellos lebenslang begleitet, nur bleibt zu fragen, ob sein „autobiographischer Pakt“ mit dem Leser durch den direkten Dialog mit dem Leser als Versuche gewertet werden können, selbstreflexiv mehr Informationen preiszugeben, oder inwieweit solche Bemerkungen nicht auch Teil eines gewissen autobiographischen Darstellungsmodus und Stilisierungskanons sind. Zum Paratext gehören neben der Widmung an den Leser auch das Motto und das Vorwort. Ein Motto kann den Text kommentieren, seine Bedeutung spezifizieren sowie auf eine Denktradition verweisen. Zwei Zitate, die Wittgenstein seinen beiden Hauptwerken vorangestellt hatte, fanden in der Witt-
181 Bruce Baugh, Authenticity Revisited, 482. 182 Malcolm, A Memoir, 43.
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genstein-Forschung, nach der Überwindung der textimmanenten Phase, große Beachtung. Beide sind von österreichischen Schriftstellern. Der Tractatus beginnt mit einem Motto Ferdinand Kürnbergers (1821–1879): „[…] und alles, was man weiß, nicht bloß rauschen und brausen gehört hat, läßt sich in drei Worten sagen.“ Im Vorwort wird der Leser ähnlich programmatisch darauf verwiesen, dass das Buch kein Lehrbuch sei und „vielleicht nur der verstehen [werde], der die Gedanken […] schon selbst einmal gedacht hat“. Es verfolge auch keinen Anspruch auf Neuheit, doch „die Wahrheit“ der Gedanken scheint dem Autor „unantastbar und definitiv“. Wenn er auch nicht immer den idealsten Ausdruck gefunden hätte, folge es doch der Einsicht, dass philosophische Probleme auf den Missverständnissen in der Sprache beruhen. „Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.“ Doch er sei sich bewusst „wie wenig damit getan ist, daß diese Probleme gelöst sind“. (TR, 9f.) Im Vorwort der Philosophischen Untersuchungen heißt es dagegen viel skeptischer, dass es kein gutes Buch ist und von jemand anderem noch besser zu machen sei – was sein Schüler Henrik G. von Wright nicht als falsche Bescheidenheit, sondern aufrechten Glauben wertet.183 Dazu passt auch das vorangestellte Motto Johann Nestroys (1802–1862) aus dem Stück Der Schützling: „Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, daß er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.“ Lange wurde dieses Motto als etwas Externes ignoriert, nicht oder falsch übersetzt und lange nicht als Motto deklariert, dann unterschiedlichst interpretiert: Es wurde auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Theaterstück-Protagonisten und Wittgenstein verwiesen (Gordon P. Baker),184 es wurde als Zeichen seiner kulturellen Verortung in der Kultur der Wiener Jahrhundertwende, ihrer Volksautoren, Dialekte und Sprachspiele gelesen (Allan Janik/Stephen Toulmin), als Symbol für Wittgensteins konservative Zeitgeist- und Kulturkritik gesehen (Brian McGuinness, J.C. Nyíri), als Ausdruck von Wittgensteins Überzeugung, dass sein Fortschritt in der Philosophie nicht so groß sei, wie alle glaubten (Norman Malcolm), oder auch als Brücke zwischen seinem Früh- und Spätwerk (Michael Nedo) durch eine „Drehung in der Betrachtungsweise“185 interpretiert. Das Motto wurde auch als eine „phasenverschobene, zivilisations- und modernitätskritische Antwort Wittgensteins auf die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges“ gelesen (Regine Munz).186 David Stern verweist auf den geradezu multifunktionalen und -intentionalen Charakter der Interpretationen, lanciert von
183 Zit. n. Malcolm, A Memoir, 59f. 184 Ein Volksschullehrer, der diese Tätigkeit aufgibt, weil er sich zu Höherem berufen fühlt; der von seinen Freunden als Genius betrachtet wird; dem die Zeitumstände die Privilegien geraubt haben, ihn aber in der Stahlindustrie zu Erfolg kommen lassen. Vgl. Sterns Zusammenfassung der Positionen, in: Ders., Nestroy, Augustine, and the Opening of the Philosophical Investigations, 425–437, 431. 185 Vgl. Nedo, Wittgensteins Denken und Schreiben im Widerspruch zur Form des Buches, Vortrag 1996. 186 Munz, „Von mir kann ich nichts sagen. Ich lebe noch immer“, 175.
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Wittgenstein selbst, der mit dieser Vielstimmigkeit und mit der Frage „who speaks?“ den Leser zum Nachdenken über Bedeutungszusammenhänge gezwungen habe, weil das Problem des Verstehens damit selbst angesprochen werde.187 Das Motto werde von ihm somit nicht als Mittel einer historischen, geografischen oder kulturellen Positionierung, sondern als bewusste Signatur verwendet, um den Leser auf sich selbst zu verweisen, auf die Leserposition und, wenn man so will, auf das dekonstruktivistische Credo: Jeder Kontext ist kein Kontext per se, sondern ist ein gesetzter und gewollter. Diese Vielfalt an Deutungsansätzen zeigt, welche Bedeutung ein Motto für die Interpretation eines Werkes bekommen kann. Wittgenstein initiierte in gewisser Weise durch dieses Zitat, das zugleich ein Kommentar ist, ein Spektrum an vielfältigen Interpretationen. Welche Bedeutungszuweisung er selbst vornahm, darauf deutet zumindest sein Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen vom Januar 1945 hin, wenn er schreibt, dass er vor sechzehn Jahren mit der Philosophie wieder angefangen habe und ihn eine Re-Lektüre des Tractatus zu der Idee veranlasst habe, beide Werke gemeinsam zu veröffentlichen, da sie „nur durch den Gegensatz und auf dem Hintergrund meiner älteren Denkweise ihre rechte Beleuchtung erhalten könnten“. (PU, 232) Hier kann sein Vorwort als Erklärung des Mottos gelesen werden und als Appell für eine integrative Betrachtungsweise. Oft wurde später darüber spekuliert, ob Wittgenstein in den frühen 1920er Jahren an seiner Philosophie gearbeitet habe. Nachweise dazu wurden erst spät entdeckt: im Nachlass von Rudolf Koder und im Briefwechsel mit Ludwig Hänsel.188 In diesen Briefen schrieb Wittgenstein vom „arbeiten“ sowie von Manuskripten und einem Schreibbuch. Dass Wittgenstein der Philosophie fern war, stimmt somit nur im Hinblick auf universitäre Institutionen, inhaltlich hatte er sich stets betätigt. Deshalb kann das Vorwort mit dem Verweis auf Frank Ramsey und Piero Sraffa, die ihm halfen seine früheren „schweren Irrtümer“ zu erkennen, auch als ungenau oder als Teil einer autobiographischen Dramatisierung gesehen werden, die dem inneren Bedürfnis nach Wendepunkten nachkommt. Das bedeutet, dass es zwar möglicherweise die Auseinandersetzung mit Frank Ramsey, Moritz Schlick oder L.E.J. Brouwer war, die ihn zur Philosophie zurück brachte, dass damit aber in erster Linie Wendepunkte stilisiert wurden, die „dem Leben gewissermaßen Leitmotive des Handelns und Erleidens“ einschreiben und jeder Biographie Spannung und Dramatik geben.189 Seine empirische Praxis als Volksschullehrer und Architekt bekommt hier als beeinflussende Größe keine Relevanz für sein philosophisches Denken zugemessen. Statt eines unspektakulären chronologischen Prozesscharakters bekommen die Begegnung und die Inspiration wegweisende Macht. 187 Stern, Nestroy, Augustine, and the Opening of the Philosophical Investigations, 433f. 188 Vgl. Pichler, Wittgenstein und das Schreiben, 45f., mit Bezug auf Anton Unterkircher, Mit-Hg. des HänselBr. 189 Losego, Überlegungen zur ‚Biographie‘, 49.
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Auf ähnliche Weise Zäsur setzend, sind jene Bemerkungen Wittgensteins über die erste Begegnung mit Bertrand Russell, die ihm Mut gemacht habe, das Philosophiestudium zu beginnen. Hier zu finden sind Elemente einer Legitimationserzählung, einer Person, die sich im Kreise der Familie und sich selbst gegenüber rechtfertigen muss über den neu eingeschlagenen Weg, die Abwendung von den Ingenieurswissenschaften und damit den Vorstellungen des Vaters, hin zur Philosophie. Dieser Umorientierungsprozess wurde auch in der Familienchronik von Hermine Wittgenstein minutiös beschrieben, ebenso wie die zentrale Rolle Russells. Sie schildert nicht nur begeistert ihre persönliche Begegnung mit Russell, bei einem Besuch in Cambridge, sondern vor allem auch die anerkennenden Worte die Russell für ihren ‚kleinen‘ Bruder Ludwig fand. Auch hier ist es diese Anerkennung, die die Entscheidung ihres Bruders für die Philosophie in ihren Augen, wie in denen der Familie rechtfertigt. In der Beschreibung und Bedeutungsgebung dieses Ereignisses überlappt sich beispielhaft, wie noch zu sehen sein wird, die individuelle Erinnerung Ludwig Wittgensteins mit dem kollektiven Familiengedächtnis. Auch in diese Kategorie selbst gesetzter Einschnitte gehört Wittgensteins Formulierung in einem Brief aus seiner Volksschullehrerzeit an Frank Ramsey, man könne nie mehr als fünf oder zehn Jahre gute Philosophie betreiben. Auch hier rechtfertigt er sich gegenüber sich selbst und Dritten, diesmal jedoch für seinen Rückzug aus der Philosophie in die Volksschule, motiviert möglicherweise von einem Gefühl des Versagens oder auch von der Suche nach Anerkennung und Bestätigung. Es ist eine Aussage, die nach einer Reaktion fragt. Zäsuren werden oft gesetzt, um Veränderungen, oder gewünschte Veränderungen, zu markieren. Ein anderes Erzählelement ist diesbezüglich seine Äußerung, der Besuch eines Theaterstückes, nämlich Ludwig Anzengrubers Die Kreuzelschreiber, habe ihm gezeigt, was Religion bedeute. Ein weiteres wäre das bereits vielfach zitierte Geständnis. Das sind Muster autobiographischen Denkens und Schreibens, die der Tradition einer Konversionsbiographie folgen, nämlich eine Verbesserung des Selbst anzustreben, oder auch dem Ziel folgen, den Einzelnen in eine Gesellschaft oder eine Sinngemeinschaft zu inkludieren.190 Diese Dialektik des vorher/ nachher tendiert dazu, eine zweifellose Verurteilung oder bedingungslose Identifikation zu signalisieren, und dient auch dazu, Neuorientierungen zu stabilisieren. Der stilisierende Charakter ist solchen autobiographischen Verweisen immanent. 6.2 Auto-/Biographiemodelle: Genie, Künstler, Außenseiter Bei der Bearbeitung von autobiographischem Material ist stets die Legende, die ein Mensch im Laufe seines Lebens aufbaut, mitzureflektieren. Diese Selbststilisierungen sind zum Teil von den Erwartungen der Gesellschaft
190 Vgl. Friedrich, Deformierte Lebensbilder, 99f.
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mitmotiviert, als das verinnerlichte Soziale, der so genannte Habitus (Pierre Bourdieu), „eine praktische, keine erzählte Identität“.191 So gehört es beispielsweise im Bereich der Kunst dazu, sich von der Gesellschaft zu distanzieren und eine eigenwillige Individualität herauszubilden. Demnach sind Autobiographien und Biographien oft nach einem Künstlertypus modelliert: ob „akademisches Schulhaupt“, „revolutionärer Neuerer“, „der Künstler als Universalgenie“ oder der „Einsame und Verkannte“.192 Jeder Einzelne synthetisiert seine Handlungen zu Geschichten und in Bezug zu gewissen kulturellen Modellen und Mustern, die sich im Denken verfestigt haben. Daneben prägen auch öffentliche Diskurse und gesellschaftliche Umfelder den Einzelnen in seiner Selbstwahrnehmung. Heinz Bude verwendet den Begriff der Lebenskonstruktion als „stillschweigende Muster, nach denen eine Person ihre kontinuierlichen Eigenaktivitäten entsprechend der Struktur eines sozial anerkennungsfähigen Lebens modelliert“.193 Dabei favorisieren manche gesellschaftliche Bedingungen gewisse Konstruktionstypen. Mit Bude wäre hier zu fragen, inwieweit Wittgensteins Selbstbeschreibungen von den Erwartungen seines gesellschaftlichen Umfeldes mitmotiviert waren. Ein relevanter Diskurs in Bezug auf das Autobiographische war in Wien um 1900 die „Geniereligion“, wie sie Edgar Zilsel beschrieben hat.194 Insofern wäre zu fragen, inwieweit diese „Geniereligion“ ein Maßstab für Wittgensteins Selbstwahrnehmung und damit für seine Selbstdarstellung war, aber auch inwieweit dieser Diskurs die Wahrnehmung durch seine Biographen prägte. Wittgensteins Auseinandersetzung mit dem Genie wurde bereits in mehreren Kontexten gesehen: in unmittelbarer Wiener Nachbarschaft die Stilisierung Otto Weiningers zum modernen Genie, im Musikleben die Verehrung von Brahms oder Mahler, im Religiösen von Augustinus, Tolstoi oder Kierkegaard und in der „Ästhetik der Dekadenz“, welche die Nähe von Kreativität und Wahnsinn propagierte und damit auch das Leiden idealisierte – ob als Weg zur Läuterung der Seele (Augustinus) oder zur Erlösung (Schopenhauer).195 Für Thomas Macho verkörperte Wittgenstein geradezu die Idee des Genies, wie sie das 19. Jahrhundert hervorgebracht hatte: „ein Ästhet, ein Mystiker, ein exzentrischer Intellektueller, kurzum: ein abgrundtief moderner Geist, der sein eigenes Leben als Mythos, als Experiment, als singuläres, stets gefährdetes Projekt zu inszenieren versuchte“.196 Hier zeigt er Wittgenstein als Idol wie zugleich Opfer dieser „Geniereligion“, und deutet damit Stilisierungen an, auf die es sich lohnt sich näher
191 Eckart Liebau, Laufbahn oder Biographie?, 85. 192 Vgl. Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler, Frankfurt/M. 1980, 27, 157–164. 193 Kannonier-Finster/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 23. 194 Edgar Zilsel, Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung, hg. v. Johann Dvorak, Frankfurt/M. 1990, 59–61. 195 Vgl. Shustermann, The Philosophical Life, 274. 196 Macho, Wittgenstein, 12.
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zu konzentrieren. Obwohl der Begriff ‚Genie‘ in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft an Relevanz verlor, ist er im kulturellen Wien um 1900, wie in der Familie Wittgenstein, präsent. In Ludwig Wittgensteins Gesamtwerk wird der Begriff ‚Genie‘ etwa fünfzehn Mal erwähnt. Damit scheint er bedeutsam nicht nur für seine Selbstwahrnehmung (darüber wurde bereits öfters geschrieben), sondern auch für seine Selbstpräsentation. Er schreibt im Taschennotizbuch 162: Ich habe Imagination, und das unterscheidet mich von allen Lehrern der Philosophie hier, aber das macht mich noch nicht zum Genie. (BEE)
Zugleich trifft Wittgenstein die an der Jahrhundertwende durchaus übliche Unterscheidung zwischen Talent und Genius: Das Maß des Genies ist der Charakter, wenn auch der Charakter an sich nicht das Genie ausmacht. Genie ist nicht ‚Talent und Charakter‘, sondern Charakter der sich in der Form eines speziellen Talents kundgibt. (BEE)
Hier zeigen sich verschiedene Versuche, sich mit dem Begriff Genie auseinanderzusetzen, auch als Maßstab für sich selbst. Auch Wittgensteins Vorstellung vom kongenialen Leser – nur der könne erkennen, der im selben Geiste erzogen wurde oder denke – ist der Romantik und ihrer Genieästhetik verpflichtet: „Ob ich von dem typischen westlichen Wissenschaftler verstanden oder geschätzt werde ist mir gleichgültig weil er den Geist in dem ich schreibe doch nicht versteht.“ (6.11.1930, VB, 30) Dieses Gefühl, permanent missverstanden zu werden und deshalb auch nicht die Fortsetzung seiner Arbeit durch Andere wünschend, ist eine spezifische Form einer Selbstdarstellung, korrespondierend mit einer gewissen Selbstsicht, die an das Modell des ‚unverstandenen Genies‘ denken lässt. So hatte er mehrmals versucht, das Konzept des Genies zu analysieren, mitunter in der Furcht begründet, er selbst könnte dem Anspruch nicht gerecht werden, radikal Neues zu denken und stattdessen „nur reproduktiv“ zu sein. Daneben sind es besonders die Genese seines philosophischen Werkes und gewisse Verhaltensformen, die den Gedanken an eine Inszenierung von Größe zumindest nahe legen: Wittgenstein weigerte sich, abgesehen vom Tractatus (1922), einem schmalen Essay und einer Buchbesprechung, zu publizieren, was die Neugier erhöhte und Kritik fast unmöglich machte. Er gewährte nur ausgewählten Studenten zu ihm Zugang und später diktierte er einzelnen von ihnen statt Vorlesungen zu halten. Er traf nur ausgesuchte Mitglieder des Wiener Kreises, verkehrte auch sonst in keinem der intellektuell-künstlerischen Wiener Caféhaus-Kreise und widersetzte sich dieser Dialog-Kultur mit ihren gegenseitigen Abhängigkeiten und distanzierte sich völlig von akademischen Ritualen. Mit Erving Goffman ließe sich fragen, inwieweit Wittgenstein durch dieses impression management zugleich seine soziale Identität unbewusst und bewusst konstruierte.
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Die Auswirkungen auf die Biographik sind deutlich: Die Typisierung zum sensiblen, der Gesellschaft entfremdeten Außenseiter findet sich in den Familienerinnerungen Hermines. Auch seine Schüler und Freunde betonen in ihren Memoiren oft das Außerordentliche, Abseitige, Herausfordernde und Unverträgliche an seinem Charakter: Bertrand Russell schreibt in seiner Autobiographie: Er sei „vielleicht das vollendetste Beispiel eines Genies der traditionellen Auffassung nach, das mir je begegnet ist: leidenschaftlich, tief, intensiv und beherrschend“.197 Norman Malcolm schildert ihn als untypischen Akademiker wegen seines Temperaments und seines ungewöhnlichen Karriereverlaufs: Er beendete keinen Studienkurs, bekam den Doktortitel für ein Buch, besuchte nur eine philosophische Konferenz und lehnte jegliches akademische Leben, vom ‚High Table‘ bis hin zu philosophischen Journalen, ab. Alles das entspricht dem Bild eines Außenseiters, der dem Ritual entsagt und seinen eigenen Weg geht. Sein lebendiges Wesen und sein moralischer Ernst galten den einen als „unenglisch“ (Georg Kreisel), anderen galt seine Art des freundschaftlichen Umgangs, mit vielen Berührungen wie dem Schulterklopfen, als „echt österreichisch“ (Marguerite Respinger). Es ist jeweils die Differenz zur Umgebung, die interessiert, die Unklarheiten, Reibungen oder Missinterpretationen erklären soll, oder auch als der Stimulus für sein Genie gedacht wird. Unbestreitbar war Wittgenstein ein Außenseiter, insofern es den Reichtum und die Machtposition der Familie betrifft, und vielleicht auch ein untypischer Akademiker – dennoch war er in Cambridge am Trinity College etabliert, stand im Kontakt mit dem Wiener Kreis und in einem intensiven Austausch mit Freunden und Familie. Es wird jedoch zumeist lieber der ‚Einsamkeitstopos‘ bedient, statt zu betonen, wie sehr er neben der Distinktion die Gesellschaft suchte oder die Gegenwart von Freunden regelrecht brauchte – sowohl um vor ihnen zu denken, als auch um mit ihnen zu reisen oder sie zu besuchen bzw. von ihnen besucht zu werden. Ist der Blick ausschließlich auf Wittgenstein gerichtet, steht oft er als Einzelner, gerahmt von Originalität und Besonderheit, als Vorreiter im Vordergrund, während eine kontextualisierende Lesart die ebenso vorhandene Realität eines „kulturellen Gemeinschaftshandelns“ (Walter Methlagl) zeigen würde.198 So teilte Wittgenstein gewisse Ansichten mit einzelnen Vertretern der Wiener Moderne, deren Integrationsfigur Karl Kraus war, der von Wittgenstein verehrt wurde. Bei Personen wie Ludwig Ficker, Adolf Loos, Karl Kraus und Georg Trakl hatte Wittgenstein Anschluss gefunden in deren gemeinschaftlichem Handeln gegen das Ornament, im Misstrauen gegen das rein Ästhetische, in der Rede von der Stille. Selbst das gemeinsame Unterschreiben einer Postkarte zeige nach Methlagl die „Energie einer geheimen Verabredung“. Birgit Griesecke sieht im ausgeprägten Möglichkeitsdenken und in der Suche nach
197 Bertrand Russell, Autobiographie 1914–1944, 2, Frankfurt/M. 1970, 139. 198 Walter Methlagl, Bodenproben. Kulturgeschichtliche Reflexionen, Innsbruck 2002, 17f.
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einer Sprache, die dem Möglichen angemessen ist, eine Verbindung Wittgensteins mit Robert Musil, Edmund Husserl und Ludwig Fleck. Sie nennt diesen Schreibstil – sich selbst stets ins Wort zu fallen, zu entwerfen, verwerfen, zerschneiden und wieder zusammen zu kleben – einen „Prozess fortwährender experimenteller Autokorrektur“.199 In philosophischer wie in biographischer Hinsicht war Wittgenstein somit durchaus kein Einzelgänger, sondern lose verschiedenen Gruppen oder Denkströmungen seiner Zeit zuzuordnen. Diese Entkontextualisierung seitens der Biographen scheint ihn erst zu diesem Außenseiter gemacht zu haben, als der sich er selbst wahrgenommen hat. Ein weiterer Diskurs, in welchem sich Wittgenstein selbst biographisch verortet, ist der des Jüdischen. Es bleibt zu fragen, ob sein Wunsch, in der jüdischen Tradition verstanden zu werden, vom Zeitgeist oder tatsächlich von seinem Selbstbild inspiriert war. Denn jeder Bezugsrahmen (wie bereits gezeigt wurde) ist nicht nur gegeben, sondern auch gewählt, häufig einer, der Bedeutung maximiert. Wie es die Relevanztheorie zeigt, wird nur das gesagt, was auch Bedeutung hat. Welche Bedeutung haben diese Verweise in Bezug auf seine Biographie? Verfolgt Wittgenstein das Judentum als interessantes Konzept und als Mittel zum Zweck der Selbstanalyse (Rhees, McGuinness) oder um Selbstzweifeln (wie an seiner Originalität) Ausdruck zu verleihen (Monk)? Und in der Bewertung: Sind diese Verweise eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist (Szabados) oder doch nur eine Wiedergabe stereotyper Vorurteile seiner Zeit (Stern)? In diesem Spannungsfeld verändert sich auch die Bedeutung der Bemerkungen für das autobiographische Nachdenken über sich Selbst: ob sie als Beispiele für eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst oder nur für das Applizieren von Stereotypen und somit mehr als Stilmittel fungieren, um sich in einem Modell zu denken und zu präsentieren und damit sich selbst wieder aus dem Weg zu gehen, da stereotype Selbstzuschreibungen eher eine Auseinandersetzung mit sich selbst verhindern oder sie lediglich vortäuschen. Kann es jedoch gelingen sich allen öffentlich definierten Kategorien (die oft auf Stereotypisierungen basieren) zu verweigern, wie es Jean Paul Sartre einforderte, die völlige Befreiung des Selbst von der Gesellschaft? Authentisch zu sein bedeutet für ihn, sich nicht durch Andere, sondern durch sich selbst zu definieren und die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, nichts außerhalb des Selbst die eigene Entscheidung beeinflussen zu lassen. Für Martin Heidegger hingegen bedeutet authentisch zu sein, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden, ohne sich über eine Rolle oder eine Funktion zu definieren sowie seine Helden selber wählen zu können. Beide teilen den Anspruch, so Bruce Baugh, dass Authentizität bedeutet: „making one’s
199 Vgl. Birgit Griesecke, Autokorrektur. Möglichkeitsdenken im Umfeld des Wiener Kreises, in: Dies. (Hg.), Werkstätten des Möglichen 1930–1936. L. Fleck, R. Musil, L. Wittgenstein, Würzburg 2008.
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own condition“.200 Im philosophischen Diskurs ist der authentische Mensch sich selbst der Maßstab. Hier betont Thomas Macho, dass Wittgenstein zwar seine Vorbilder und Korrektive nennt, sich aber nicht überzeugen oder gar bekehren, sondern nur inspirieren und anregen lasse.201 Wie war nun diesbezüglich sein Verhältnis zum Judentum? War Otto Weininger ein solches Vorbild? Die Biographen lassen es vermuten: In seiner Biographie 1988 verweist McGuinness auf die jüdischen Wurzeln der Familie und beschreibt, wie sehr Ludwig Wittgenstein und seine Geschwister der jüdische Selbsthass eines Otto Weininger und Karl Kraus geprägt habe, im Jahr 1938 resultierend in einem unbedingten Willen zur Arisierung.202 Und Ray Monk sieht Wittgensteins antisemitische Äußerungen in Zusammenhang mit Selbstzweifeln, eigenem Versagen und seiner geplanten, doch nicht zustande gekommenen Ehe mit Marguerite Respinger: „Wittgenstein’s remarks on Jewishness, like his projected autobiography, were essentially confessional, and both seem in some way linked to the ‚sacred union‘ he planned for himself and Marguerite.“203 Monk argumentiert hier ganz im Stil theoretischer Diskurse der Wiener Jahrhundertwende, beispielsweise bei Weininger, in denen sich Fragen von Antisemitismus, Rasse und Gender eng aufeinander bezogen haben, „so that the racial other, the femine, and the homosexual are all constructed in terms of the same set of distinctions“. David Stern sieht darin eine plausible Verbindung: „There is reason to think that Wittgenstein’s uneasy relationship to his own racial identity […] also figures in his relationship to his sexuality.“ Schließlich sei Respingers Aufenthalt in Norwegen 1931 „conducted on strikingly Weiningerian lines. He found her a room of her own at a neighbour’s house, and proposed that they prepare for a new spiritual life by reading the Bible together.“204 Wittgenstein in einem unmittelbaren Nahverhältnis zu Weininger zu lesen und vor allem dessen Leiden an ‚seiner Natur‘, diese Parallelisierung hat die Weininger’schen Fragen von Genie, Rasse, Homosexualität und Misogynie ins Zentrum biographischer Rezeption gerückt und ein Bild von Wittgenstein kreiert,205 gegen welches sich nicht nur Marguerite Respinger ver-
200 Vgl. Bruce Baugh, Authenticity Revisited, 477–486, 478. Dieser Gedanke könnte mit Sartres Begriff der „komplizenhaften Reflexion“ weitergedacht werden, der u.a. bezeichnet, dass jeder Mensch sich mit bestimmten sozialen Aspekten seiner Persönlichkeit identifiziert (wie Beruf oder Status) und jene zur Schau stellt, doch wissend, dass er jene zur Schau stellt; also die unauthentische Seinsweise dem Menschen inhärent ist. 201 Macho, Wittgenstein, 21. 202 McGuinness, Wittgenstein, 17. 203 Monk, Wittgenstein, 317f., zit. n. David Stern, Was Wittgenstein a Jew?, 262. 204 Stern, Was Wittgenstein a Jew?, 262f. 205 Vgl. Béla Szabados, Wittgenstein’s Women: The Philosophical Significance of Wittgenstein’s Misogyny, in: Journal of Philosophical Research 22, 1997, 483– 508.
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wehrte,206 sondern das auch aus den (un)publizierten Familienquellen nicht in dieser Weise zu rekonstruieren ist. Familienintern gibt es aus dem Rückblick sogar eine bewusste Abgrenzung von einer solchen Lesart, wenn Joan Ripley, die Tochter von Paul Wittgenstein, schreibt: The Wittgensteins had mixed feelings about their Jewish heritage [...] in the more spiritual sense [...] This spirit, this Jewish ‚Geist‘, prompted their preoccupation with cultural activities and aesthetic values, with music and philosophy. [...] It was not the brand of Jewish self-hatred, guilt and shame found in men such as the Austrian writer Otto Weininger [...] It was, rather, a creative force, a giftedness that increased their sensitivity to the arts and sharpened their powers of introspection. (Ripley, 161f.)
Zweifellos hatten Otto Weininger und sein Werk Geschlecht und Charakter im Wien der Jahrhundertwende Kriterien der Selbstreflexion prominent definiert. Doch gilt sein Postulat vom Genie als eine Frage nicht nur der intellektuellen Außerordentlichkeit, sondern auch des Charakters, auch für Wittgenstein? Hat er dann nach Weininger’schen Mustern gelitten: an diesem Maßstab der ‚moralischen Größe‘, am ‚Jüdisch-Sein‘ und an seiner ‚Natur‘? Wittgenstein scheint weder ein besonders angespanntes Verhältnis zu Frauen noch in den 1930er Jahren ein besonders ‚schuldhaft verstricktes‘ Verhältnis zu seiner Sexualität oder seinem Jüdisch-Sein gehabt zu haben. Durch die zahlreichen Briefwechsel mit seinen Schwestern und mit Marguerite Respinger (1904–2000) wie auch seine Tagebucheintragungen wird Wittgensteins Beziehung zu ihr in den 1930er Jahren äußerst transparent. Dieser war ihr leidenschaftlich, doch auch unentschlossen, zugewandt. So heißt es in Wittgensteins Tagebuch am 9. Mai 1930: Ich bin sehr verliebt in die R. [...] Dabei weiß ich aber daß die Sache aller Wahrscheinlichkeit nach hoffnungslos ist. D.h. ich muß gefaßt sein, daß sie jeden Moment sich verloben & heiraten kann. Und ich weiß daß das sehr schmerzlich für mich sein wird. (TB, 26f.)
Zugleich sah er es auch als ein erzieherisches Projekt, wie Respinger selbst schreibt: „For years I had been like soft putty in his hands which he had worked to shape into a better being.“207 Hier ist beizufügen, dass in der gesamten Familie Wittgenstein ein ‚erzieherischer‘ Umgang miteinander gepflegt wurde: Sichtbar wird das an den prachtvoll gefeierten Geburtstagen, gekrönt von theatralischen allegorischen Stücken, in denen alle mitwirkten: „Diese Spielstücke waren zum Lob des Gefeierten, enthielten aber auch eine
206 Vgl. Josef G. F. Rothhaupt/Aidan Seery, Ludwig Wittgenstein war ein ‚Stern‘ in meinem Leben – Interview mit Marguerite de Chambrier, in: Wilhelm Lütterfelds [u.a.] (Hg.), Wittgenstein-Jahrbuch, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 2000, 113– 143, 120 u. 141. (Interview, Marguerite de Chambrier) 207 Ray Monk, Ludwig Wittgenstein and Marguerite Respinger, in: Flowers, Portraits 2, 153–159, 157.
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Lektion für alle. Diese Lektionen wurden mit Samthandschuhen, mit Eleganz und Witz vorgetragen.“208 Respinger beschreibt hier mit gewisser Ironie die Pädagogik im Hause Wittgenstein. Alle persönlichen Fragen zu ihrer Beziehung mit Wittgenstein bleiben in einem Interview unbeantwortet, es heißt nur: „Ich denke, daß alles was Wittgenstein tat, einer Gewissensfrage unterlag“. So schildert sie auch, dass der Grundtenor ihrer gemeinsamen Beziehung gewesen sei, „nach der Wahrheit zu streben.“209 Was hier zu einer platonischen Liebe idealisiert und stilisiert wird, war für das Leben dann doch zu wenig: Im Jahr 1933 heiratete sie nach langem Zögern einen Freund der Familie, Talla Sjögren. Wie seine Tagebücher zeigen, war die Ehe ein Anliegen von Marguerite, eine bürgerliche Erwartung, der sich Wittgenstein ausgesetzt sah, über die er sich mokierte und gegen die er sich sträubte. Er sah diese jedoch nie als Option, sondern begriff sich als ihr Freund und Unterstützer. Ein Brief der Schwester Margarete an ihren Sohn Thomas im Herbst 1929 zeigt recht deutlich die Einwirkungen Weiningers auf die Vorstellungen ihres Bruders von einer platonischen Liebe und wie fern ihm Vorstellungen von einer Ehebeziehung waren. So habe ihr Marguerite erzählt „dass er ihr angeboten hätte seine Haushälterin zu werden“, und kommentiert: „da war ich schon beruhigter“, denn nun waren die Verhältnisse klar ausgesprochen.210 Insbesondere in den Tagebuchaufzeichnungen von Hermine wird deutlich, wie ihr Bruder und sie selbst sich von den radikal ethischen Maximen und Thesen Weiningers faszinieren ließen. Doch Wittgenstein sprach auch von den „großartigen Irrtümern“, die Weininger begangen hatte, leider blieb unbenannt, worin er diese sah. Weininger und seine Thesen, wie insbesondere die zur Homosexualität, wurden in den 1920er Jahren am Familientisch diskutiert. Die Frage der Homosexualität hatte mit dem Selbstmord des Bruders Rudolf, 1904 durch Gift in einer Bar in Berlin, erstmals in der Familie konkrete Debatten ausgelöst. Rudolf hatte nicht nur unter einer problematischen Loslösung vom Elternhaus gelitten, sondern auch an seiner homosexuellen Veranlagung. Darauf lässt eine Todes-Notiz in der Berliner Sexuellen Zeitschrift schließen, an die er sich Rat suchend gewandt hatte.211 Wurden zu jener Zeit noch Krankheit und Absonderlichkeit mit diesen Fragen assoziiert, modernisierte und liberalisierte sich die Stimmung später, nach dem Tod des Vaters, innerhalb der Familie erheblich. Im Gegensatz zu seinem Bruder Rudolf scheint Wittgenstein wegen seiner Homophilie keine Selbstwertprobleme gehabt zu haben, wie es auch mündliche Quellen überliefern.212 Zudem war mit dem Leben in Cambridge das gesellschaftliche
208 209 210 211 212
Interview, Marguerite de Chambrier, 125. Ebenda, 136 u. 142. Zit. n. Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 193. Vgl. Gespräch der Autorin mit Allan Janik im Dez. 2004 in Wien. Gespräch mit Elisabeth Leinfellner (Österreichische Ludwig Wittgenstein-Gesellschaft), über Gerüchte und Gegengerüchte, die insbesondere in den Anfangsjahren des seit 1976 jährlichen Int. Wittgenstein-Symposiums in Kirchberg kursierten.
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Umfeld und der Diskurs ein anderer, weshalb wahrscheinlich nicht nur Russell Wittgensteins Begeisterung für die Weininger-Lektüre nicht nachvollziehen konnte: Homosexualität wurde zwar auch in England mit „Effeminierungspanik und Degenerationsangst“ assoziiert,213 hatte jedoch in Cambridge eine gewisse Tradition und war im avantgardistischen Umfeld von Bloomsbury und The Apostles allgegenwärtig. Mit beiden Kreisen hatte Wittgenstein Kontakt, wenn auch anfangs von Unbehagen oder Konflikten beherrscht. Seit 1912 war er Mitglied bei den Apostles, doch er ließ sich bald als passives Mitglied stilllegen, nachdem Austreten ein formales Problem war. Die Interpretationen reichen von Spekulationen über seine Ablehnung der frivol gepflegten Homosexualität seiner Mitbrüder (Aussagen von Moore und Russell) bis hin zu bloßer Langeweile (so Russell-Biographin Caroline Moorehead).214 Nach seiner Rückkehr nach Cambridge wurde er aber dennoch ein einflussreiches Mitglied der Gesellschaft. Auch sein Kontakt mit dem Bloomsbury-Kreis – eine Gruppe freundschaftlich libidinöser Beziehungen rund um die Ethik des Guten und Schönen von G. E. Moore – wird in Erinnerungen im Umfeld von Bloomsbury oft als gespannt beschrieben, und als eine Folge von Wittgensteins Intoleranz und unterschiedlicher Ansichten über Kunst und Sittlichkeit. Das pointiert ein satirisches Gedicht, das Julian Bell, der Sohn von Clive Bell und Virginia Woolfs Schwester Vanessa Stephen, in einer Studentenzeitschrift veröffentlicht: An Epistle on the Subject of the Ethical and Aesthetic Beliefs of Herr Ludwig Wittgenstein (Doctor of Philosophy) to Richard Braithwaite, Esq., M.A. (Fellow of King’s College). Hier ironisiert er Wittgensteins Art, alle Leute wegen Mißbrauchs der Sprache zu kritisieren, ohne sie selbst jedoch überhaupt zu Wort kommen zu lassen: But who, on any issue, ever saw Ludwig refrain from laying down the law? In every company he shouts us down, And stops our sentence stuttering his own; Unceasing argues, harsh, irate and loud, Sure that he’s right, and of his rightness proud. Such faults are common, shared by all in part, But Wittgenstein pontificates on Art.215
213 Anders als bei der kontinentalen Form des Antisemitismus wurden in England Homosexualität und Judentum jedoch nicht parallelisiert. Vgl. Schwanitz, Englische Kulturgeschichte, 247. 214 Vgl. Paul Levy, Moore: G. E. Moore and the Cambridge Apostles, London 1989, 268f.; Caroline Moorehead, Bertrand Russell. A Life, London 1992, 173; Richard Deacon, The Cambridge Apostles. A History of Cambridge University’s Elite Intellectual Secret Society, London 1985, 101. 215 Org. in: The Venture 5, 1930, 208–215, zit. n. Flowers, Portraits 2, 212–218, 212. In einem Nachdruck des Gedichts 1932 wird folgende Anm. hinzugefügt: „Der Verfasser möchte klarstellen, daß diese Satire weder als persönliche Attacke gemeint ist noch als Kritik der rein logischen und philosophischen Leistun-
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Im Bloomsbury-Zusammenhang wird häufiger auch ein schwieriges Verhältnis Wittgensteins zu Frauen stilisiert. Beispielsweise wird ein heftiger Zusammenstoß zwischen ihm und Lydia Lopokova, der Frau von J.M. Keynes, als ein „sadistic streak“ Wittgensteins interpretiert, wogegen andere Zeugen dies relativieren und von der Starrköpfigkeit und dem leidenschaftlichen Temperament beider berichten.216 Die Frauen selbst berichten Widersprüchliches. Frances Partridge, eine Freundin der Ramseys, schreibt in ihren Memories zu Wittgenstein: […] yet in mixed company his conversation was often trivial in the extreme, and larded with feeble jokes accompanied by a wintry smile [...] It was as if his jokes and trivialities were his only safety-valve from the tension caused by his all-consuming dedication to abstract ideas.217
Ist es die Gegenwart oder die Geringschätzung von Frauen, die Ludwig Wittgenstein zu diesem Verhalten veranlasste, oder ist darin nicht ein Verhalten wiederzuerkennen, das auch von seinem Vater überliefert ist: Karl Wittgenstein, eher ein Mann der Taten statt der Worte, hatte die Gewohnheit oft mit einem Witz ernsthafte Konversionen zu beschließen, um bei Geschäftsbesprechungen eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, aber auch um Leute auf Distanz zu halten und nicht zu privat zu werden: „Though father and sons ended up in entirely different lifestyles and careers, all three [Karl, Ludwig, Paul Wittgenstein] were intensely private individuals, willing to endure publicity solely for the sake of their work; personal feelings were kept tightly sealed.“ (Ripley, 154) Diese Beobachtung kann zumindest zeigen, dass es sich eher um allgemeine und auch familiäre Charaktereigenschaften handelt, als um ein spezifisch ablehnende Haltung Frauen gegenüber. Gerade die liebevolle Sorgsamkeit, die sein Vater der Mutter und sein Bruder Paul seiner Frau Hilde entgegenbrachten, entspricht nicht dem Bild eines autoritären patriarchalen Familienhaushaltes, wie es oft gezeichnet wurde. Vater wie Bruder waren zwar keine Familienmenschen und zeigen eine Autorität gegenüber ihren Söhnen, aber nicht gegenüber den weiblichen Mitgliedern der Familie. Auch das Verhältnis Ludwigs zu seinen Schwestern war ein offenes und vielfältiges. Mit Helene teilte er eine spezifische
gen Dr. Wittgensteins, sondern ausschließlich als Kritik gewisser Ansichten über Kunst und Sittlichkeit, die er vor drei Jahren vertreten hat.“ Vgl. Rhees, Porträts 42. Aus Wittgensteins Taschenkalendern (Wittgen-Cam) geht hervor, daß er Bell auch noch nach dieser Veröffentlichung trifft. 216 Nach Berichten von Quentin Bell, zit. n. Stanford Patrick Rosenbaum, The Bloomsbury Group. A Collection of Memoirs and Commentary, London 1995, 296, vgl. auch 82f. Der Bloomsbury-Biograph Rosenbaum betont jedoch, „the very conception of the Bloomsburygroup […] is illuminated by Wittgenstein’s fundamental notion of overlapping and criss-crossing similarities that constitute family resemblance“ und er sieht eine Entsprechung in einem berühmten Schlagwort der 1930er Jahre, only connect aus E.M. Forster’s Howard’s End. Ebenda, 172. 217 Frances Partridge, Memories, London 19992, 160.
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Form des Humors, mit Margarete intellektuelle Neigungen, mit Hermine einen tieferen Sinn für Religion und Literatur. Dennoch, auch Fania Pascal, seine verehrte Russischlehrerin, beschreibt sein Verhalten in weiblicher Gesellschaft als „ungehobelt“, schränkt es jedoch ein: Intellektuelle Frauen mochte er nicht, und in Gesellschaft wandte er ihnen buchstäblich den Rücken zu [...] Aber er war bezaubert, wenn er sah, wie Lettice Ramsey ein kompliziertes Nähkunststück zustande brachte [...] Werkzeug, materielle Gegenstände und alle Fertigkeiten [...] – diesen Dingen gegenüber brachte er die Geduld und Nachsicht auf, die er in bezug auf Menschen unmöglich fand.218
Dieses Zitat ist wohl klassisch zu nennen in der Weise, wie es stereotype Vorstellungen bedient und reproduziert, auch wenn es hier weniger um die Faszination für die häusliche Rolle der Frau als für die Technik geht. Ganz anders nämlich beschreibt Lettice Ramsey selbst, die Frau von Wittgensteins Freund Frank Ramsey, und eine erfolgreiche Photographin mit eigenem Atelier in Cambridge, ihr Verhältnis zu Wittgenstein, der sie auch nach dem Tod ihres Mannes regelmäßig besuchte, mit ihr Alltagsprobleme diskutierte, im Oktober 1930 einige Tage bei ihr wohnte und ihr auch seine Schwierigkeiten mit Marguerite anvertraute. In Wittgensteins Tagebuch heißt es: Dann nach Cambridge wo ich bei Lettice wohne die sehr freundlich und gut mit mir ist. Ich erzählte ihr von Marguerite und unseren Schwierigkeiten. – Ich bin mir über die Bedeutung aller meiner Erlebnisse mit M. sehr im Unklaren. Ich weiß nicht wohin das führen soll, noch was ich tun soll um es in der besten Weise zu beeinflussen. (2.10.1930, TB, 31)
Von diesem vertrauten Verhältnis berichtet auch Frances Partridge, eine Freundin der Ramseys, in einem Brief an ihren Ehemann Ralph: „We have seen quite a lot of Wittgenstein; he confides in Lettice that he is in love with a Viennese lady, but he feels marriage to be sacred, and can’t speak of it lightly.“219 Lettice Ramsey selber schildert ihr Verhältnis zu Wittgenstein in einem Brief an den Wittgenstein-Cousin Friedrich Hayek im Jahr 1953: He always made a moral issue of everything and you never knew when you would become involved in a terrible argument! The most innocent subject would often be fatal! [...] I never felt it was a good plan to see Ludwig unless one had at least 2 hours available. Usually the first hour would be spent in silence [...] but to be with him was wonderful, if exhausting!
218 Fania Pascal, Meine Erinnerungen an Wittgenstein, 41. 219 Partridge, Memories, 159.
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Sie beschreibt ihn als faszinierenden Charakter, dessen Einschätzung von Menschen jedoch fatal sei, sobald er etwas missbillige: „He could not bear gossip, but was a great gossip himself“.220 Sie scheint, trotz ihrer intellektuellen Fähigkeiten, eine besonders beruhigende Wirkung auf ihn gehabt zu haben, sodass Maynard Keynes an seine Frau Lydia Lopokova schreibt: Last night Ludwig came to dinner. He was much more ‚normal‘ in every way than I have ever known him. One woman at last has succeeded in soothing the fierceness of 221 the savage hunter – Lettice Ramsey.
Ein sehr freundschaftliches Verhältnis gab es auch zu Anna Rebni, seiner maßgeblichen Kontaktperson in Bergen, bei der Wittgenstein zeitweise wohnte. Seine Briefwechsel mit verschiedenen Frauen zeigen in der Regel ein respektvolles Verhältnis. Natürlich gab es Adressatinnen, die sich seinen Ansprüchen an die Auseinandersetzung durchaus bewusst waren und deshalb vorsichtig schrieben, sich aber durch seine Haltung nicht davon abbringen ließen, wie Adele Jolles, seine frühere Vermieterin in Berlin: Also: Sehr werter Herr Wittgenstein obwohl es verkehrt ist jemandem zu schreiben, der Briefe so geringschätzt u auch den oberflächlichsten Briefwechsel offenbar ablehnt tue ich es heute, nach fast einjähriger Pause, wieder. (1.6.1918, IEAB)
Es gibt auch Briefe von Helene Lecher, der Freundin seiner Schwester Hermine, die in Grinzing wie diese ein Tagesheim führte, und in welchem er, auf seinen Lehrausflügen nach Wien, mehrmals seine Schüler unterbrachte. Ein mehrfaches Thema ist der Gemütszustand seiner Schwester Hermine, über welchen Lecher ihn unterrichtet: Finden Sie nicht daß Minning gut u) zufriedener aussieht. Sie hat mich zwar im Stich gelassen u) ich vermisse sie schwer aber um den Preis daß sie jetzt glücklicher ist, bin ich zufrieden. (Januar 1922, IEAB)
Sie schätzt ihn und sein Verhalten gegenüber den Kindern sehr, das zeigt der Briefwechsel, der insbesondere ob seiner Privatheit und ethischen Aufgeladenheit erstaunt. Auch ihr, einer nur entfernt bekannten Kindergärtnerin, gegenüber hatte er seine Selbstzweifel formuliert, wenn sie in einem Antwortbrief über die Ambivalenz von Außen- und Innensicht schreibt: Ein tadelloser Mensch (wenigstens nach aussen) ist ja nicht zu verbergen. Es ist ja selbstverständlich daß wir mit allen möglichen Lastern behaftet sind; wenn wir den
220 Vgl. Briefwechsel zwischen Hayek und Freunden Wittgensteins und Familienangehörigen aus dem Jahr 1953 im Zuge seiner Arbeit an einer Biographie über Ludwig Wittgenstein. Hayek-Nachlass, Universität Stanford. 221 Am 25.2.1929, zit. n. Wittgenstein, hg. v. Nedo/Ranchetti, 225.
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natürlichen Egoismus überhaupt Laster nennen dürfen. Mir sind jedenfalls die natürlichen ehrlichen Thierinstinkte noch lieber als die scheinheilige Intrigue u) Maske die erst recht alles was mir gut u) recht erscheint, tötet. (Juni 1922, IEAB)
Ein Brief an den Freund Arvid Sjögren zeigt, wie Wittgenstein versucht sich in weibliche Personen und ihre Art zu denken hineinzuversetzen. Er schildert unterschiedliche Arten Religion zu erleben und bezieht sich insbesondere auf Arvids Frau: Es gibt, so seltsam das vielleicht klingt, etwas, was man religiöses Wissen, oder Verständnis, nennen kann, und wovon man viel besitzen kann, ohne doch viel Religion zu besitzen, die ja eine Art des Lebens ist. Mancher der anfängt, bis zu einem gewissen Grade religiös zu werden, fängt mit so einem Verständnis an: die religiösen Begriffe, Ausdrücke, fangen an, ihm etwas zu sagen. – Mancher aber kommt zur Religion von einer andern Seite. Er wird z.B. erst mehr und mehr hilfreich, uneigennützig, einsichtig etc. und am Ende fangen auch die religiösen Worte an ihm etwas zu sagen. – Ich meine: Der Eine kommt zur Religion beinahe durch eine Art von Philosophie, der Andere auf einem Weg, der ihn nicht einmal in die Nähe einer Philosophie führt. […] Deine Frau ist doch (bei allem Verstand) nicht denkerisch veranlagt; und so ist es also nur recht, wenn sie Worte nicht versteht, zu denen sie ein ganz anderer Weg führen müßte. (Wenn es ihr nämlich überhaupt beschieden ist zu diesem Punkt zu gelangen.) – Ich selbst bin, so wie Du, ein Denker. Der mir natürliche Weg, der übrigens bei mir vergleichsweise weit geführt hat, führt durchs Denken. Aber das ist doch nicht etwa der bessere Weg! Eher könnte man ihn ‚den Weg von außenherum‘ nennen. Deiner Frau ihrer wird, wenn es ihn gibt, vielleicht durch einen immer größeren Ernst führen. Und ihr auf dem weiterhelfen – wenn Einer das kann – scheint mir mehr Sinn zu haben, als ihr das Ziel auf einem Weg zu weisen, den sie nicht gehen kann und auch gar nicht zu gehen braucht. (9.10.1947, IEAB)
Hier kommt es zwar zu einer polarisierenden, aber keiner hierarchisierten Gegenüberstellung, wie es Gerüchte Wittgenstein immer wieder zuschreiben. Ebenso soll er intellektuelle Frauen abgelehnt haben. Doch in seinem Umfeld gab es einige dieser Frauen, die er durchaus geschätzt hat. Bekommen jene Beziehungen deshalb weniger Aufmerksamkeit, weil der ‚männlich‘ dominierte Blick in der Wissenschaftsgeschichte lange gewisse Vorurteile bzw. Machtverhältnisse festschrieb und die eigenständigen Leistungen von Frauen ignorierte? Die beiden Studentinnen Alice Ambrose und Margaret Masterman gehörten immerhin zu den fünf Auserwählten, denen Wittgenstein seine Vorlesungen (1932/33) diktierte und wo Schokoladenkuchen und Geburtstagsgeschenke „were the small pleasures of an intimate circle“.222 Schwierig gestaltete sich das Verhältnis von Ambrose zu Wittgenstein erst, als er mit der
222 Alice Ambrose, Ludwig Wittgenstein: A Portrait, in: Flowers, Portraits 2, 263– 272, 270.
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Darstellung seiner Theoreme in ihrer Dissertation unzufrieden war und die Veröffentlichung ihres zweiten Teils in der philosophischen Zeitschrift Mind verhindern wollte. Diese Unstimmigkeiten führten zu seinem Rücktritt als ihr PhD-Prüfer. Ambrose bemerkt dazu in ihrem Wittgenstein-Porträt: „In the end, there was a break between Wittgenstein and me, and dictation of the Brown Book ceased.“223 Nach Amerika zurückgekehrt, fertigte sie von den Diktaten einige Typoskripte an, die sie mit seiner Erlaubnis an weitere Personen verteilte. Über ihren anstrengenden Briefwechsel mit Wittgenstein schreibt sie im Februar 1936 an Frau Moore: I’ll lose perspective entirely if I must cope with minute analyses which W. sends across the Atlantic. He is as subtle that whether he’s right or wrong one suffers terribly [...] he made everyone who disagreed with him feel like a fool. That’s another expression of his egotism [...] I think he made even Moore feel like a fool when Moore didn’t see that he was right! And he is so strong that one is beaten at the start. He succeeds. And yet there is a very great deal in him to love. Were this not the case I should not have been so upset [...] I lose the ground I’d gained in mastery of my own thoughts. I should be better off if I could forget his fine qualities [...] or [be] 224 strong enough to ignore him.
Später herrschte ein durchaus freundschaftliches Verhältnis und Wittgenstein besuchte Ambrose, die gemeinsam mit ihrem Mann Morris Lazerowitz einiges zu seinem Werk veröffentlichte, 1949 auf seiner Amerikareise. Auch zu seiner Schülerin Elisabeth Anscombe hatte er ein sehr respektvolles Verhältnis, wohnte einige Wochen vor seinem Tod bei ihr in Oxford und wollte auch, dass sie seinen Nachlass mitverwaltet. Diese unterschiedlichen Stellungnahmen werden hier angeführt, um das Bild Wittgensteins hinsichtlich seines Verhältnisses zu Frauen etwas differenzierter darzustellen und die Weininger’sche Lesart zu entkräften und als einen reduzierenden Blick zu zeigen. Zugleich ist Wittgensteins Verhalten Frauen gegenüber auch im Zusammenhang mit seinem rigiden Verständnis von Privatheit zu sehen, das auch in den autobiographischen Bemerkungen zum Ausdruck kommt. Diese geschilderten Beziehungsnetze relativieren die Selbstsicht Wittgensteins als ‚einsamer Denker‘, oder die Einsamkeitssehnsucht, die ihm oft von Biographen zugeschrieben wurde – manchmal sogar pathologisiert als autistische Veranlagung (Michael Fitzgerald, Louis Sass). Auch seine regelmäßigen Aufenthalte im Försterhaus des familiären Sommersitzes in Österreich, in Norwegen, Island oder Irland, wurden gerne als Exzentrik gewertet und als Flucht vor (der) Gesellschaft wahrgenommen. Doch während seiner Zeit an der Universität in Cambridge verbrachte Wittgenstein den Großteil der akademischen Ferien, also fast die Hälfte des Jahres, in Öster-
223 Ambrose, Wittgenstein, 271. 224 Vgl. Moore Nachlass, Universitätsbibliothek, Cambridge.
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reich, in Wien oder auf dem Sommersitz der Familie auf der Hochreit, um an seinem Buch zu arbeiten sowie aus seinen Manuskripten zu diktieren. Er war somit zwischen dem Herkunftsmilieu, das ihm Konstanz und Identität durch soziale und kulturelle Einbindung gewährte, und dem Karrieremilieu hin und her gerissen. Eine Karriere zu wählen bedeutet oft, die soziale und kulturelle Heimat als Defizit zu empfinden und deshalb zu verlassen. Wittgenstein scheint hierin jedoch unentschlossen gewesen zu sein, stets hin und her pendelnd zwischen seinen beiden Existenzen. Trotzdem zeigen ihn Biographen gerne, entsprechend dem Schema vieler Intellektuellenbiographien,225 auf der Flucht vor der Gesellschaft. Unhinterfragt blieb beispielsweise lange die Ansicht, Wittgenstein sei nach Norwegen oder Cornwall an die Peripherien Westeuropas in die Einsamkeit geflüchtet.226 Doch, wie Arbeiten von norwegischen Forschern zeigen, gehörte Skjolden am SogneFjord, dem längsten Fjord der Welt, zu den touristischen Highlights der Jahrhundertwende. Hier urlaubte auch Kaiser Wilhelm II. und enthüllte am Sognefjord im Juli 1913 eine monumentale Statue des Wikingerhelden Fridtjof zur Stärkung des norwegisch-deutschen Bündnisses. Skjolden lebte damals großteils von Durchreisenden. Muss der Besucher heute auch lange nach den Überresten von Wittgensteins Blockhaus suchen, von dem nur mehr das Fundament vorhanden ist, war es damals nicht wegen der Abgeschiedenheit dort gebaut worden: Es lag in exponierter Lage auf einem Felsen über dem See, sodass es weithin sichtbar für Dorfbewohner wie für Durch- und Handelsreisende war, von denen sich Wittgenstein oft gestört fühlte.227 Hier gibt es eine Diskrepanz zwischen Beschreibungen in der Literatur als einsame Einöde par excellence und Wittgensteins Erlebnis der Ausgesetztheit und Belästigung durch andere Menschen vor Ort. Es gibt verschiedene Spekulationen darüber, warum er nach Norwegen wollte: Die verstärkte Rezeption nordischer Autoren wie Strindberg und Ibsen in der Fackel; der Besuch Otto Weiningers 1902 in Norwegen, ein Jahr vor seinem Tod, als ihn sein Problem mit den jüdischen Wurzeln in das „aryan heartland“ geführt habe (Ray Monk); oder das Vorbild seitens des mit der Familie befreundeten amerikanischen Stahlmagnaten W.H. Singer, der Norwegen zu einem seiner Auslandssitze wählte. In jedem Falle bedeutete Norwegen auch soziale Abwechslung in einem besonderen Abseits, darin von den touristischen Neugierden seiner Zeit beeinflusst – und nicht alleine vom Zivilisa-
225 Martin Kohli, Zur Theorie der biographischen Selbst- und Fremdthematisierung, in: Joachim Matthes (Hg.), Lebenswelt und soziale Probleme, Frankfurt/M.New York 1981, zit. n. Kannonier-Finster/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 22. Für Sportler-, Politiker oder Schauspielerbiographien seien hingegen die Erzählungen von der Durchsetzung des Einzelnen gegen gesellschaftliche Widerstände charakteristisch. Vgl. ebenda. 226 Dies spiegelt sich auch in neuen Buchtiteln wieder, wie James C. Klagge’s Wittgenstein in Exile (2010) oder Ivar Oxaal’s On the Trail to Wittgenstein’s Hut (2010). 227 Vgl. Ivar Oxaal, Wittgenstein’s Attraction to Norway: The Cultural Context, in: Johannessen/Larsen/Åmås, Wittgenstein and Norway, 67–82.
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tionsüberdruss und der Suche nach Einfachheit und Ruhe oder der Faszination der Kierkegaard’schen Mystik, wie es passend zum Mythos des depressiven Exzentrikers oft beschrieben wird. Widersprüchlich ist auch Wittgensteins eigene Darstellung der Zeit in Norwegen. Schreibt er an Russell, er habe wenige Leute getroffen und deshalb wenig Fortschritte in der Sprache gemacht, hatte er dort doch einige Freunde, war stets willkommen, wohnte oft im Dorf und hatte regelmäßig Besuch. Auffallend ist dabei der Umstand, dass schriftliche Quellen ihn einen netten Fremden nennen, während mündliche eher erwähnen, wie kompliziert er war.228 Im Rückblick schilderte er die Zeit oft als eine depressive, was bereits von seinem Freund Norman Malcolm als verzerrte Darstellung wahrgenommen, doch mit Wittgensteins langsamen Fortschritten im Schreibprozess erklärt wurde: Etwa neun Seiten schrieb er pro Monat und brauchte somit für den ersten Teil der Philosophischen Untersuchungen, für 75 Seiten, etwa acht Monate.229 Auch die anderen Reisen nach Wales oder Cornwall scheinen nicht alleine von dem Gedanken getragen zu sein, Ruhe zu haben oder sich durch den Ortswechsel inspirieren zu lassen, sondern davon Freunde zu besuchen, jemanden zum Reden zu haben und von der Sehnsucht nach Verständnis. Vor diesem Hintergrund sind Äußerungen, die Wittgenstein als EinsamkeitSuchenden schildern, neu zu überdenken, wenn beispielsweise Klagge mutmaßt: „Though Wittgenstein never managed to live in a setting of which he felt genuinely a part – perhaps he was, indeed, incapable of being anything but apart – and never managed to have more than a friend or two at a time, he offered up himself in his philosophizing.“230 Er brauchte zu jeder Zeit persönliche Zuwendung und Anerkennung seiner Freunde, wie Wittgenstein selbst an Rush Rhees offenherzig schreibt: „Thanks for your kind letter. In answer I only wish to say that, as you often have experienced, I’m more dependent on my friends than anyone I’ve ever known.“ (16.12.1947, IEAB) Wird Wittgensteins Suche nach einsamen Orten zumeist als Suche nach Einsamkeit und als Auseinandersetzung mit seiner Arbeit und infolgedessen auch mit sich selbst genannt, scheint in diesen Zeiten doch gerade eine sogar intensivere Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenüber stattgefunden zu haben. Die Arbeit an sich selbst scheint doch oft auch eine an (und mit) den Anderen gewesen zu sein. Mit diesen Ausführungen sollten gewisse stereotype Bilder von Ludwig Wittgenstein – ob als genialer Exzentriker, selbstverachtend, misogyn, als Einsamkeitssuchender an der bürgerlichen Gesellschaft und an sich selbst leidend – auch als Auto-/Biographiemodelle entlarvt werden, die teilweise dem autobiographischen Schreiben Wittgensteins selbst zugrunde lagen, 228 Vgl. Knut Olav Åmås/Rolf Larsen, Ludwig Wittgenstein in Norway 1913–50, in: Ebenda, 9–66, 26f. 229 Vgl. Theodor Redpath, Ludwig Wittgenstein, A Student’s Memoir, London 1990, 77. 230 Klagge, Editor’s Preface, xiii. Vgl. auch Klagge, Wittgenstein in Exile, 2010.
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teilweise auch die spätere Sicht der Biographen mitformten. Seine Biographie ist somit wechselweise inszeniert. In die autobiographische Selbstdarstellung ebenso wie in die biographische Rezeption fließen die unterschiedlichsten Topoi seiner Zeit sowie gewisse Formen der Künstlerlegende ein. Überspitzt formuliert: Er war „revolutionärer Neuerer“ in der Philosophie, der „universell“ Begabte, zugleich auch der „Einsame“, der wenn auch nicht Verkannte, so doch der an der Gesellschaft leidende Exzentriker, dessen soziales Netz ihm zwar jede Exzentrik oder Askese auf angenehmste Weise gestattete, dem seine Arbeit jedoch wie bei einem Künstler als eine Art Introspektion diente, als ein Erforschen der eigenen Persönlichkeit. In dieser fast zwanghaften autobiographischen Introspektion hat das Image von Wittgenstein als ‚Philosoph der Selbstanklage‘ mit seinen Ursprung. 6.3 Geheimschrift und Beichte – Wahrheitsgesten? Betrachtet man Wittgensteins Thematisierung von Aufrichtigkeit und Subjektivität als lebenslangen aktiven Versuch, Selbsttäuschungen aufzuheben, waren dann seine Verwendung von Geheimschrift und insbesondere seine Beichten radikalisierte Formen dieses Strebens? Geheimschriften als solche dienen dem Schutz des Persönlichen und dem Bewahren von unbedachter Aufrichtigkeit, weil kein zufälliger Leser mitgedacht werden muss, so die allgemeine Interpretation. Doch zu den Gründen und der Bedeutung der Geheimschrift für Wittgenstein gibt es verschiedene Lesarten: Die Verwendung eines Codes deutet auf Privatgebrauch, schließlich hatte Wittgenstein sogar angewiesen, seine Notizbücher zu verbrennen – und einige haben sich im Gmundener Familiensitz nur zufällig erhalten. Andererseits ist der Code leicht zu entziffern und beinhaltet sogar Anweisungen an den Leser, was im Fall eines frühzeitigen Todes mit seinem Nachlass geschehen soll. Ein Blick auf die Manuskripte zeigt: Insgesamt scheint der Code relativ unspezifisch verwendet worden zu sein, weil viel Privates unkodiert bleibt und viel Kodiertes belanglos alltäglich ist, wie Gedanken über Mäusefallen oder Arbeitsunlust und scheint deshalb eher ein ‚privates Sprachspiel‘ zu sein, kein striktes Unterscheidungskriterium im Sinne von offiziell und privat. Die kodierten Passagen umfassen nach Alois Pichler in etwa das, was Wittgenstein im Tractatus als „nonsense“ bezeichnet hat – allgemeine kulturelle, religiöse, ästhetische Bemerkungen – aber auch Zweifel sowie Schuldkomplexe in Bezug auf seine Freunde. Interpretierten es manche lediglich als Chiffre, um Überblick über die verschiedenen Stimmen zu bekommen (Adolf Hübner), was Wittgensteins Methode der ‚übersichtlichen Darstellung‘ entsprechen würde, sieht Alois Pichler den Code als ein Signal dafür, diesen Bemerkungen als eine Art „Autophilologie“ gesonderte Aufmerksamkeit zu widmen: Für Wittgenstein scheinen die Geheimschriftstellen sowohl Tagebuch als auch Teil einer Autobiographie zu sein, nicht zuletzt, wie Pichler schreibt, „um sie später selbst nachlesen
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zu können und auch eine Art Autophilologie zu betreiben“.231 Das könnte man auch ein Kokettieren mit den Genres Tagebuch und Autobiographie nennen und so, dieses Argument weiterführend, könnte die Verwendung des Codes eine Strategie sein, den persönlichen Charakter der Schriften einfach nur zu unterstreichen – ein Sprach- und Schriftbildspiel statt des in der Wiener Moderne üblichen Formen- und Zitatspiels. Dies passt auch zu der Tatsache, dass Wittgenstein die Geheimschrift partiell in Briefen an Familienmitglieder eingesetzt hat und damit eine spezifische Vertrautheit und Adressierung signalisiert. Es kann hier jedoch noch viel genereller argumentiert werden: Er könnte den Code verwendet haben, gerade weil er so skeptisch war in Bezug auf eine Autobiographie an sich, und weiters als Herausforderung für den Leser, diese Bemerkungen in einer besonderen Weise selbst zu kontextualisieren – im Rahmen des Genres Tagebuch oder Autobiographie. Eine andere, konsequentere Form der Aufrichtigkeit verspricht Wittgensteins nicht nur in Forscherkreisen berühmte Beichte. Doch hinter dem bedeutungsstiftenden Singular verbergen sich zahlreiche Geständnisse: In Form von Gedanken sind sie in den Manuskripten insgesamt über den Zeitraum von etwa sechs Jahren in den 1930er Jahren präsent (aber auch in den späten 1940er Jahren), als aktive Handlungspraxis gegenüber einigen Freunden und Familienangehörigen vor allem in den Jahren 1936/37. Hier führte er Sachverhalte aus, die nie explizit ausgesprochen worden waren und ihn deswegen bedrückten; beispielsweise seine jüdische Herkunft oder einfache Unstimmigkeiten in persönlichen Begegnungen. Auch zahllose Stellen in seinem Tagebuch haben einen beichteähnlichen Charakter. Wenn Wittgenstein über „gemeine und schäbige Gefühle“ spricht, deutet das Alois Pichler als fiktives inneres Streitgespräch mit Freunden und Bekannten, wobei er vergangene unbefriedigende Gespräche wiederholte und variierte. Kam es zu aktiven Klärungen in Form von Gesprächen, wurden jene oft Geständnisse genannt. Diese Praxis und sein fester Glaube an das Geständnis als direkte Kommunikationsform widersprechen jedoch seiner Skepsis gegenüber dem autobiographischen Schreiben. Was ihn an der Autobiographie zweifeln lässt, darüber scheint das Geständnis erhaben zu sein. Selbst wenn er die Beichte als „Ritual“ und „Sprachspiel“ reflektiert, wird diese dennoch mit der „Tugend der Aufrichtigkeit“, „Kriterien der Wahrhaftigkeit“ und einem Willen zur Veränderung assoziiert, auch wenn er erkennt, dass erst die Konsequenz das Geständnis zum Geständnis macht: Und die Wichtigkeit des wahrhaften Geständnisses liegt nicht darin, daß es irgendeinen Vorgang mit Sicherheit richtig wiedergibt. Sie liegt vielmehr in den besondern Konsequenzen, die sich aus einem Geständnis ziehen lassen, dessen Wahrhaftigkeit durch die besondern Kriterien der Wahrhaftigkeit verbürgt ist. (17.2.1949, BEE)
231 Pichler, Wittgenstein und das Schreiben, 69.
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Und an anderer Stelle heißt es: Wenn sich auf mein Geständnis meines Motivs nicht die Konsequenzen bauen ließen, die man im allgemeinen drauf bauen kann, dann gäbe es das ganze Sprachspiel nicht. Ein Relativitätsproblem. Ich kann im allgemeinen ein klareres zusammenhängenderes Bild von meinem Leben entwerfen als der Andre. Man könnte die Frage so stellen: Warum zielt man bei einem Verbrecher z.B. im allgemeinen auf ein Geständnis ab? Heißt dies nicht daß das Geständnis verläßlicher ist als jeder andre Bericht? Es muß also hier eine allgemeine Tatsache zu Grunde liegen [...] Es muß etwa so sein daß ich im allgemeinen von meinen Handlungen einen kohärenteren Bericht geben kann als der Andre. In diesem Bericht spielt das Innere die Rolle der Theorie oder Konstruktion die das übrige zu einem verständlichen Ganzen ergänzt. Oder doch: Es gibt für meine Zuverlässigkeit andre Kriterien. Meine Gedanken sind ihm nicht verborgen sondern nur auf eine andre Weise offenbar, als sie's mir sind. Das Sprachspiel ist eben [was|wie] es ist. (1.1.1949, BEE)
Michel Foucault war es, der auf die zentrale Rolle des Geständnisses in der „Ordnung der zivilen und religiösen Mächte“ hinwies als „eines der Hauptrituale der Wahrheitsproduktion“: „[M]it größter Genauigkeit bemüht man sich zu sagen, was zu sagen am schwersten ist, […] man macht sich selbst mit Lust und Schmerz Geständnisse.“ Nicht nur als eine Suche nach dem Wahren, sondern auch als eine Art „Selbstprüfung, die unter so vielen flüchtigen Eindrücken die grundlegenden Gewissheiten des Bewußtseins freilegt“.232 Sowohl Erinnern wie auch Gewissenserforschung haben damit zum Ziel, „durch das Sichbewusstmachen dessen, was einmal war“, zu verändern, was ist.233 Dennoch bewirken nach Jacques Voisine Autobiographie und Geständnis unterschiedliche innere Veränderungen: Diene die Autobiographie der „Bestätigung des eigenen Ichs“, sei „die Beichte die Bestätigung einer Ordnung […], die der Sünder übertreten hat“.234 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, sind Wittgensteins Geständnisse nicht alleine Ausdruck einer Suche nach Aufrichtigkeit und nach Transformation, wie vielfach als eine Art Katharsis interpretiert, sondern auch eine Suche nach Bestätigung von Außen, nach festen Ordnungen, ein Bemühen um das Stabilisieren von Beziehungen zum Gegenüber bzw. zwischen Individuum und Kollektiv. Damit komme ich zurück auf den eigentlichen dialogischen Charakter des Mediums Beichte oder die integrative Funktion von KonversionsAutobiographien, die eine Person in eine neue Gemeinschaft einschließen. Nannten Philippe Lejeune und Gérard Genette die Wahl einer Gattung einen „Adressierungsvertrag“, denn jede Darstellung transformiert die Botschaft, 232 Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 19958, 76f. 233 Sarah Vaness Losego, Überlegungen zur ‚Biographie‘, in: BIOS 1, 2002, 24–46, 32. 234 Jacques Voisine, Vom religiösen Bekenntnis zur Autobiographie und zum intimen Tagebuch zwischen 1760 und 1820, in: Niggl, Die Autobiographie, 392– 414, 399, zit. n. ebenda, 44.
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ist mit Marshall McLuhan für Wittgensteins Beichten sogar zu behaupten: Nicht der Inhalt, „the medium is the message“. Die Geheim-Schrift und die Geständnisse sind zentrale Topoi, wenn in der Literatur Wittgensteins ‚aufrechte‘ Form der Auseinandersetzung mit sich selbst und seine Ernsthaftigkeit als religiöser und ethischer Denker reklamiert werden. Doch weder von den Geheim-Schriftstellen noch von den Geständnissen kann als ‚radikalisierter Form der Aufrichtigkeit‘ gesprochen werden, dazu sind die einen zu unentschieden, den anderen fehlt es an realen Konsequenzen. Die Geheimschrift war von Beginn an nicht zur Geheimhaltung gedacht, da sie unpräzise für alles Mögliche verwendet wurde. Sie wurde geheim gemacht, zuerst durch den Akt des Verschweigens und Negierens durch die Nachlassverwalter, dann emotional aufgeladen durch die Publikation als Geheime Tagebücher, Geheimnisse suggerierend, die als solche nicht zu finden waren. Zu lesen gab es hingegen pubertäre, religiöse und ethisch motivierte Konflikte mit sich selbst, wie es ein Tagebuch auch erwarten lässt, ebenso Ausführungen zu Gefahren eitler Selbstbespiegelungen. Der Titel suggeriert, dass hier Persönliches von Wittgenstein vor einer Öffentlichkeit geheim gehalten werden sollte, und dass eine Geheimhaltung intendiert war. Doch die in Code verfasste Handlungsanleitung für die Nachlassverwalter, wie auch eine Publikationsanweisung in einem Brief an Russell zeigt, dass er mit der Entzifferung rechnete und ihm auch an einer Publikation gelegen war. Was zu der Vermutung führt: Die Titelwahl biedert sich an den geheimnisvollen Persönlichkeitskult rund um Wittgenstein und den Erwartungen der Öffentlichkeit an, die jedoch enttäuscht werden, weil diesen Notizen andere als die erwarteten Definitionskriterien zu Grunde liegen. Denn die Geheimschrift diente demnach nicht als Mittel, um sich selbst näher zu kommen oder dazu, Privates zu verdecken, sondern dazu, die Adressaten, in erster Linie die Familie, direkt anzusprechen oder vom Leser eine besondere Weise der Kontextualisierung – in das Genre Autobiographie und Tagebuch, aber auch in den Kontext Familie – einzufordern. Wittgensteins Geständnisse sind umso mehr von Mythen umwoben, als sie nur mündlich überliefert sind, aber nicht schriftlich vorliegen. Sie werden vor allem assoziiert mit dem Problem Judentum, extremen Schuldgefühlen und einem gewissen Masochismus. Das unterstreicht in der Rezeption das Gefühl des in Schuld verstrickten und mit Selbstvorwürfen sich quälenden Neurotikers, statt das Geständnis als eine spezifische Form von Kommunikation zu betrachten. So berichten seine Freunde Rhees und Pascal, dass sie Wittgenstein nicht als einen solchen – wie er sich selbst in den Geständnissen beschreibt – wahrgenommen hätten. Doch niemand hat sich über den Akt der Geständnisse als solchen verwundert. Wurde es als zu ihm passend empfunden und gesehen, dass es sich hier mehr um eine psychische Realität, als um die objektive Realität eines Ereignisses handeln dürfte? Warum waren ihm die Bekenntnisse so wichtig, wenn er andererseits der An-
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sicht war, nicht Worte, sondern Taten würden das Leben verändern, wie geschehen im Akt des Verzichts bei Erbe und Professur? Geständnis und Geheimschrift scheinen beide spezifische Kommunikationsformen zu sein, die den Adressaten nach Regeln des Genres und einer der Gattungsform gemäßen Rhetorik ansprechen. Dieser war sich Wittgenstein durchaus bewusst, wenn er in seinen zweiseitigen autobiographischen Notizen schreibt: „Halbe Beichten gegen Mining in denen ich doch immer als ausgezeichneter Mensch zu scheinen weiss“.235 Hier spricht er die Beichte direkt als eine gewisse Form der Inszenierung und des Sprachrituals an, was von manchen Familienangehörigen nicht ganz unbeachtet blieb: So störte sie, dass er über die eigenen Fehler lediglich Bericht erstattete statt sie zu korrigieren.236 Seine Schwester Margarete klagt als Antwort sich selbst in ähnlicher Weise an. Das scheint eine charakteristische familiäre Kommunikationsweise zu sein, die zumindest Verständnis signalisiert und das Vorhandensein eines solchermaßen verbindlichen familiären Ordnungsgefüges. Insofern ist das Zeichen für die Außenwelt durch die Identifikation mit einem verbindlichen Symbolsystem einer Gruppe gelungen.237 Doch auch sie hat erkannt: Alleine das Sprechen von „neuem Leben“ bedeutet alleine keine Bekehrung oder Veränderung, sondern lediglich die Dramatisierung eines Sachverhalts. Gerade Wittgensteins obsessives Streben nach Klärungen und die offensive Kritik an der eigenen Eitelkeit haben den Anschein, als wenn etwas zu sehr formuliert wird, statt dass es sich am Leben oder am Werk selber zeigt. Denn, wie Marjorie Grene schreibt, „authenticity is not so much an end of acts as a value which is realized as a by-product of acts. […] The selfconsciousness involved in seeking them makes them impossible to find“.238 Auch wenn der Begriff der Authentizität bei Wittgenstein nie erscheint, beherrscht das Streben danach sein Denken und Tun, einen Grad an Bewusstsein widerspiegelnd und einen Willensakt, die das angestrebte Ziel eher zu verhindern scheinen, als es als Resultat eines aufrichtigen Lebens zu ermöglichen. Eine solche permanent formulierte Selbstkritik gerät fast zu einer „Maske der Scham“ (Alfred Opitz). Zugleich gilt es als Zeichen von Authentizität, mutig Selbstzweifel zuzulassen, denn, so Grene: „the authentic individual faces something which the unauthentic individual is afraid to face.“ Deshalb seien es auch eher ungewöhnliche Menschen, die jenes Konzept der Authentizität lebten, weil es nicht „a concept of adjustment“ ist, sondern „it is truly and deeply a heresy“.239 In diesem Sinne kann Wittgensteins Gewohnheit, vor den Augen Anderer um seine Ideen zu ringen, den Gedanken als Gedanken und den Zweifel als Zweifel zu zeigen, Fragen offen zu lassen statt Sicherheit zu suggerieren und sein Ansinnen, nur Anlei235 236 237 238 239
McGuinness, Wittgenstein, 98f. Ebenda, 109. Vgl. Lejeune, Der autobiographische Pakt, 426. Grene, Authenticity: An Existencial Virtue, 270. Ebenda, 267f.
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tung zum Denken zu geben, wie auch Anleihen und Vorbilder sichtbar zu machen, als ein Zeichen dieses Strebens nach Transparenz betrachtet werden. Dennoch wird er seinem Ideal oft nicht gerecht, wenn er beispielsweise das Dialogische zum Arbeitsprinzip erklärt, jedoch im Alltag oft daran scheitert; wenn er dafür plädiert, dass das Wesentliche (das Ethische) nur gezeigt werden könne, jedoch selbst einen gewissen Zwang zeigt, Ängste beim Namen zu nennen oder sich selbst gewisser Sünden zu bezichtigen; wenn er sich mit Selbstvorwürfen aller Art sich jeglicher Kritik entzieht, indem mögliche Vorwürfe implizit vorweg genommen und im Keim erstickt werden. Wittgensteins Tagebücher vermitteln vielen Lesern „den Eindruck höchster Unmittelbarkeit und Aufrichtigkeit“, bis hin zur Assoziation mit der „Beichte eines Sterbenden“240, und auch seine Geständnisse selbst werden oft mit seinem großen Bedürfnis nach Aufrichtigkeit ähnlich konnotiert. Verhehlt mancher Wittgenstein-Forscher auch nicht den darin liegenden Pathos, werden seine „Lebenswenden“ gerne als Konversion inszeniert, und damit eine Art ‚Heiligenlegende‘ konstruiert – ohne die Stilisierungen des autobiographischen Materials formaler und inhaltlicher Natur mit in Betracht zu ziehen oder die Editionsweise der Nachlassverwalter. Wie es Helmut Lethen formuliert hat, liegt es jeweils im Auge des Betrachters, Dinge für authentisch zu erklären, denn „Dinge werden authentisch gemacht […] [und] solange für authentisch gehalten, wie die Autorität ihrer sozialen Inszenierung als unproblematisch erscheint“.241 Nicht nur im Umgang mit Wittgenstein, auch in seinen autobiographischen Bemerkungen zeigt sich das Problematische des Konzepts von Authentizität in seiner ganzen Ambivalenz. Werden autobiographische Darstellungen als ein Medium der Selbstdarstellung betrachtet, stellt sich die Frage nach dem ‚authentischen‘ bzw. was Authentizität suggeriert und dem ‚inszenierten‘, also in welcher Weise authentisches Verhalten und „Verstellung“ (Ludwig Wittgenstein) sich gegenüber stehen. Was sich gemeinhin ausschließt, kann sich aber auch einschließen, folgt man dem Gedanken des Anthropologen Helmuth Plessner. Authentizität und Rolle werden zumeist als sich gegenseitig ausschließende Phänomene gedacht. Dabei wird das Echte dem Künstlichen, das Private dem Öffentlichen, gegenübergestellt. Plessner hingegen betont, dass der Mensch in der Gesellschaft stets in einer Rolle auftritt: In Gesellschaft bewegt sich der Einzelne nur im Rahmen einer Rolle, die er zu spielen hat [...] An der Rolle hängt der Status des Einzelnen, sie bestimmt seinen Ort, sie bildet zugleich das Funktionselement im gesellschaftlichen Getriebe. Existenz in einer Rolle ist offenbar die Weise, in welcher Menschen überhaupt in einem dauerhaften Kontakt miteinander leben können. Was uns an ihr stört, das Moment des
240 McGuinness, Wittgenstein, 332. 241 Helmut Lethen, Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze, in: Böhme/ Scherpe, Literatur und Kulturwissenschaften, 228.
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Zwangs, den sie auf mein Verhalten ausübt, ist zugleich die Gewähr für jene Ordnung, die ich brauche, um Kontakt mit anderen zu gewinnen und zu halten.242
Nach Plessner findet man Freiheit und Eigentlichkeit nicht nur im Inneren, wie es die Existenzialisten propagierten, sondern auch in der Öffentlichkeit, in seiner jeweiligen sozialen Rolle. Erst in der Rolle entfalten sich die Möglichkeiten einer Person, jene mache gesellschaftliches Leben überhaupt erst möglich, da sie Abstand gewähre und vor Bloßstellungen schütze. Versucht die moralphilosophische Perspektive eine Positivierung des Authentischen, so versucht Plessner eine Positivierung der Künstlichkeit sozialer Rollen, indem er die soziale Rolle, und damit das Prinzip der Repräsentativität, als konstitutiv für die Gesellschaft begreift.243 Auch Wittgenstein hatte den Wunsch, schreibt der Biograph Brian McGuinness, „einer Gemeinschaft, einer Gruppe, ja einem Stand anzugehören; er wollte die Aufgaben, die Konventionen, den Status, die damit einhergehen“. Dabei sei seine Suche nach einem Beruf zum Teil die Suche „nach einer Rolle“ gewesen. Denn er wollte anerkannt und akzeptiert sein und „nicht am Rande der Gesellschaft stehen“.244 Ludwig Wittgenstein hat im Laufe seines Lebens unterschiedlichste Rollen eingenommen: Sohn aus reichem Hause und jüngster Bruder, Ingenieur- und Philosophiestudent, Gärtner, Volksschullehrer, Philosophieprofessor. Er verlässt durch bewusste Verzichte die Rolle des reichen Sohnes und die des Professors, andererseits identifiziert er sich stark mit den aufgegebenen Ordnungssystemen der Universität wie der Familie, und sucht in beiden nach Anerkennung. Schützt die soziale Rolle vor Bloßstellungen, so Plessner, versucht Wittgenstein diesen Schutz mehrmals zu verlassen; aber sucht er nicht gerade in Ritualen wie der Beichte diesen Schutz erneut wieder auf? Die Beichte wird von Plessner als eine Entblößungssituation gesehen, in der „der Mensch nackt da[stehe], ungeschützt von der symbolischen Ordnung, seine Würde ist verletzt, die Person Scham ausgesetzt“.245 Während Michel Foucault und Jacques Voisine geradezu das Ritualhafte der Beichte betont haben, denn sie sei Teil eines sozialen Ordnungsgefüges und man offenbare sich innerhalb einer Regelkonvention. Damit sei die Beichte auch ein Instrument, um sich in eine soziale Ordnung einzufügen oder jene Ordnung zu bestätigen. Es scheint gerade diese Rolle des Selbstanklagenden bzw. des Beichtenden zu sein, die für Wittgenstein die familiäre bzw.
242 Helmuth Plessner, Das Problem der Öffentlichkeit und die Idee der Entfremdung, Göttingen 1960. Rede anlässlich der Übernahme des Rektorats der Universität, 19. 243 Vgl. Jens Hacke, http://www.repraesentationen.de/site/lang__de/4175/default.aspx (1.1.2011). 244 McGuinness, Wittgenstein, 248 u. 249. 245 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Helmuth Plessners Anthropologie des zwanziger Jahre, in: Hartmut Eggert [u.a.] (Hg.), Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne, München 1995, 173–197, 183.
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freundschaftliche Ordnung stabilisiert, er kann sich des Schutzes seitens der Familie und der Freunde rückversichern, denn die Antworten sind Briefe vertiefter Zuneigung und Freundschaftserklärungen. Seine Beichten vermitteln weniger den Eindruck die Konsequenz eines unmittelbaren Leidens zu sein als vielmehr seine Emotionen bewusst zu gestalten, sind sie doch von langer Hand geplant. Diese kontrollierten, geplanten und symbolisch aufgeladenen Gesten, haben nichts von einer ungehemmten Gefühlsäußerung, sondern signalisieren einen Ritualcharakter, der dem Bild von Ludwig Wittgenstein als leidenschaftlichem, impulsivem Denker doch eher widerspricht. Stets präsent ist das imaginierte Gegenüber, vor dem er sich präsentiert in einem Wechselspiel zwischen sich zeigen und sich verhüllen. Insoweit ist seine Beichte auch eine der „sozialen Masken“, die auf der „Bühne der Schamkultur“ (Helmut Lethen) Sicherheit verleiht.246 Stellt man ‚authentisch sein‘ und die ‚soziale Rolle‘, die man einnimmt, gegenüber, scheint das Scheitern dem autobiographischen Schreiben implizit zu sein. Tut man das nicht, finden sich – wie in Wittgensteins Bemerkungen über die Natur des Tagebuchs oder das Sprachspiel Beichte – neue Ansätze für ein Nachdenken über die Irritationen des Auto-/Biographischen. Denn es wurde deutlich, wie bereits dem Begriff des Authentischen, der der Konstruktion inhärent ist: Jede Erfahrung und jede Präsentation von Erfahrung findet bereits in sozial vermittelten Strukturen statt, deshalb ist jede Selbstwahrnehmung und Selbstpräsentation in dieser wechselseitigen Beeinflussung zwischen gesellschaftlicher Erwartung und Erfahrung auch das Resultat einer permanenten Performance, ein Akt der Bedeutungssetzung. 6.4 Zum Einfluss der Auto-/Biographieforschung Was konnte nun die Biographieforschung und ihre Hinwendung zu privaten Quellen, ihre interdisziplinären Fragestellungen und Methoden zur allgemeinen Wittgensteinliteratur beitragen? Ein konkretes Beispiel dafür, wie sich eine interdisziplinäre Annäherung an Werk und Person bewährt hat: So haben der Nachlass von Rudolf Koder sowie der Briefwechsel mit Ludwig Hänsel gezeigt, dass Ludwig Wittgenstein in den 1920er Jahren nie mit dem Philosophieren aufgehört hat. Die Veröffentlichung der Tagebücher hat gewisse Kontinuitäten in seinem Denken offenbart und zugleich hat der ethische und der psychologische Aspekt der Tagebücher eine ganz neue Wittgenstein-Deutung initiiert. Denn es gab und gibt in der Philosophie eine immer wiederkehrende Debatte, ob Wittgensteins philosophisches Werk in einen ersten Wittgenstein (des Tractatus) und einen zweiten Wittgenstein (der Philosophischen Untersuchungen) zu unterteilen sei, und es wurde sogar ein dritter Wittgenstein (in seinen letzten Schriften Über Gewissheit)
246 Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, 190, 187.
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entdeckt.247 Nun haben aber editorische, philologische und literaturwissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass es zahllose Kontinuitäten in seinem Werk gibt,248 wie auch eine erstaunliche Kontinuität zwischen den Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg und denen aus den 1930er Jahren, wie beispielsweise in Hinsicht auf sein stetes Interesse an Ethik und Religion. Nach Ilse Somavilla zeigen die Tagebücher eine Kontinuität im Schreibstil und in den Problemen, die ihn über 20 Jahre hinweg beschäftigt haben: „Wittgenstein schreibt in bildhaften Gleichnissen, deutet an, ‚zeigt‘ und demonstriert damit seine Auffassung von den Grenzen des Sagbaren, die er zeitlebens beibehielt. Sein Ringen mit Sprache offenbart sich als ethisch begründet, seine Suche nach philosophischer Klarheit als eine Suche nach Klarheit über sich selbst.“249 Trotz der Kontinuität gäbe es keine Stagnation in der Philosophie, sondern stete „Denkbewegungen“, neue Perspektiven auf ein bekanntes Problem, was sich auch in seinem Schreibstil manifestiere. Es mag sich zwar die Art des Philosophierens verändert haben, aber nicht die außerordentlichen Züge seiner Persönlichkeit. Auch Wittgensteins Bewusstsein für Probleme der Form (‚Buch‘) charakterisiert nicht nur seine späteren Schriften, sondern geht bis auf sein Dissertations-Trauma zurück und findet sich auch wieder in seiner unorthodoxen Art das Wörterbuch für Volksschulen zu verfassen, dessen assoziative Gliederung nach Analogien und Wortfamilien vielen Lehrern ein Problem bereitete. In unterschiedlicher Weise sehen auch manche Philosophen Kontinuitäten in Wittgensteins Werk: Für James Conant ist es die Ablehnung der Konzeption des Unsinns, für Stanley Cavell das Metaphysische, für Peter Kampits die Ethik und Jaakko Hintikka hält eine Legasthenie für den kontinuierlichen Schreibstil verantwortlich.250 Daran ist zu sehen, wie mit Erkenntnissen aus der Literatur- und Editionswissenschaft, aus der Philologie und der Biographieforschung Debatten im Feld der Philosophie bestätigt oder korrigiert, doch auf jeden Fall bereichert werden. Aber auch die Biographieforschung wurde durch Diskussionen in der Philosophie beeinflusst: Manche der vorgestellten biographischen Interpretationen waren von der Debatte über die Werkunterteilung in den ‚frühen‘ und ‚späten‘ Wittgenstein beeinflusst, ein Interpretationskanon der 1980er Jahre, entwicklungstheoretisch ein verführerischer, doch mittlerweile widerlegter Ansatz. Betrachtet man die Kontinuitäten in Früh- und Spät-Werk sowie in seinen Tagebüchern, wirft das auch einen neuen Blick auf die so genannten Wendepunkte in seinem Leben, welche die Biographen, Editoren oder Philosophen gefunden hatten, um gewisse Entwicklungen Wittgensteins zu erklären.
247 Vgl. Daniele Moyal-Sharrock (Ed.), The Third Wittgenstein: The Post-Investigations Works, 2004. 248 Vgl. Arbeiten u.a. von Alois Pichler, Herbert Hrachovec, Michael Nedo sowie Schmidt-Dengler/Huber/Huter. 249 Somavilla, Einleitung, 8. 250 Vgl. Anja Weiberg, http://philo.at/pipermail/register/2001-October/000023.html (1.1.2011).
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Wenn nun Alfred Nordmann dafür plädiert, die privaten Texte nicht für philosophische Erklärungsversuche heranzuziehen, argumentiert er nicht mit dem vielfach genannten Regelkanon (Tagebuch, Autobiographie etc.), sondern mit dem Widerspruch zwischen Wittgensteins Anspruch kristallklar zu schreiben („hitting the nail on the head“) und seiner vorgeschlagenen Technik der Lektüre („recovering context“) – denn beide Anliegen „move in opposite directions, one undoing the accomplishment of the other“.251 Wenn Wittgenstein auffordere, die Geschichte seines Geistes und seiner Moralbegriffe und seine Lebenslage mitzudenken, so bedeutet das nach Nordmann nicht, auf eine temporale oder kausale Verknüpfung zu schließen, dass ein Sachverhalt in Wittgensteins Leben seine philosophischen Gedanken begründet, sondern, dass sich seine Art zu denken in der Philosophie wie im Leben zeige. Nordmann wendet sich hier gegen das Bedürfnis vieler Leser, Wittgensteins oft rätselhafte Gedanken mit anderen Texten zu erklären. Auch die vorliegende Arbeit unterstützt den quellenkritischen Ansatz, dass es notwendig ist, die Textsorten auseinander zu halten und ihren jeweiligen Erkenntnisgewinn zu eruieren und plädiert dann jedoch dafür, jene Einsichten aufeinander zu beziehen und interdisziplinär zu nützen; insbesondere legitimiert dadurch, dass Wittgenstein selbst genreübergreifendes und situationsbezogenes Lesen und Verstehen propagierte und keine strikte Trennung der Genres vornahm. Der interdisziplinäre Blick hat zudem gezeigt, dass in der Werkrezeption und der Editionsgeschichte ähnliche Stilisierungen zu erkennen sind wie in der Biographierezeption: im Betonen von Linearitäten und Entwicklungen oder von Brüchen und Wendepunkten; auch im Vorhandensein starker biographischer Subtexte – gewisse Bedürfnisse der Rezipienten widerspiegelnd, wie dem nach Struktur (Daten), Zuordnungen (Kategorien) oder Wendepunkten. Dieses Bedürfnis liegt jedoch auch jedem autobiographischen Material per se zu Grunde. Auch der autobiographische Selbstentwurf geschieht nach bestimmten sozialen und kulturellen Mustern und entscheidet, was und wie aufgenommen wird. So bietet der Rückgriff auf autobiographische Materialien nichts ‚Authentisches‘ und die lebensbiographischen Quellen sind auch kein Korrektiv für vom Zeitgeist evozierte Theorien. Denn autobiographisches Material hat in derselben Weise einen konstruktiven Charakter: rhetorische und stilistische Momente, Topoi der Selbstdarstellung oder bedeutungsstiftende Referenzen. Erst ein Blick auf lebensbiographische Umstände und zeitgenössische Umfelder, wie auf theoretische Grundlagen der Autobiographik, machten deutlich, wie Wittgensteins autobiographisches Schreiben und sein Nachdenken über Autobiographie motiviert und geprägt worden sind. Solche Rahmenerzählungen ermöglichen es, die „biographische Illusion“ (Pierre Bourdieu) – jede Gerichtetheit und Sinnstiftung – besser zu sehen.
251 Nordmann, The Sleepy Philosopher, 159f.
III. Autobiographische Skepsis: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Was lässt sich nun über diese Grauzone zwischen Lebensrealität und biographischer Illusion sagen? Wittgenstein gilt als Philosoph des Möglichkeitssinns und der ‚Sprachspiele‘. Dieses reflexive Element seiner Schriften und des Nachdenkens über sich selbst stehen oft im Widerspruch zu Berichten über seine persönliche Art, galt er doch als rechthaberisch, ich-bezogen, intolerant und dominant, seine Meinung als die einzig richtige anerkennend und so lange argumentierend, bis das Gegenüber Einsicht signalisiert oder aufgibt.1 Diese Diskrepanzen zwischen seiner Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung von außen, wie auch zwischen seinen Ansprüchen an sich selbst und seinen Umsetzungen, wurden schon von manchen seiner Freunde registriert, etwa wenn Norman Malcolm in seinen Memoiren schreibt: „The author of the sentences ‚the riddle does not exist‘ and ‚Everything that can be said can be said clearly‘ was himself an enigma, and his sentences have a content that often lies deep beneath the surface of language.“ Wittgenstein habe absichtlich im Dunklen gelebt, um Versuche zu untergraben „to make him into a celebrity or public figure“.2 Damit dürfte er gerade das Interesse an seiner Person unterstützt haben. Bedeutet das nun, die Kohärenz von Werk und Leben in Frage zu stellen, bzw. Wittgensteins Diktum der Philosophie als Arbeit an sich selbst als gescheitert anzusehen? Wie dieses Buch zeigt, findet sich Wittgensteins methodisches Anliegen in der Philosophie nicht nur in seinen autobiographischen Texten und seinem Nachdenken über Autobiographie wieder, sondern scheint geradezu einen Ausdruck in der kritisch distanzierten Haltung gegenüber dem Genre Autobiographie zu finden. Bei beiden Projekten – Manuskripten und Autobiographie – ist seine Skepsis an der Möglichkeit von Wahrheit und Objektivität, am linearen Narrativ, und am Absoluten und Geschlossenen einer
1
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Das erinnert an das Bonmot über Karl Popper, der das Konzept der ‚offenen Gesellschaft‘ auf der Basis von demokratischen und liberalen Grundsätzen formuliert hat, von dem privat jedoch gesagt wurde, er selbst sei der offenen Gesellschaft ihr größter Feind. Malcolm, A Memoir, 34 u. 50.
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Textform zentral sowie sein Glaube an das der ‚Natur-nachgehende‘ Schreiben, der Einsicht folgend, dass jeder Satz situations-, kontext-, rezeptionsabhängig ist. Wittgenstein führt in seinem Plädoyer gegen Denkgewohnheiten philosophische Probleme auf gewisse Lebensbedingungen, also auch Zeitumstände zurück, was eine Form des historischen Denkens ist. Mit den Begriffen ‚Lebensform‘ und ‚Sprachspiel‘ verweist er auch auf die Frage und den Fragenden selbst. Dabei scheint das Gewebe aus Textfragmenten nicht nur das Resultat von Schreibschwierigkeiten, Strukturlosigkeit, von Frustration und Resignation, sondern eine mehr oder weniger bewusst gewählte Textform zu sein, geleitet von genrekritischen Überlegungen, dem Anliegen, Annäherungen sichtbar zu machen, sich nicht auf eine Perspektive zu reduzieren, sondern die Multiperspektivität oder den Dialogcharakter zu gewährleisten. Wittgensteins Skepsis gegenüber dem Genre Autobiographie findet seinen Ausdruck in einer äußerst formlosen Art des Autobiographischen. Wie seine Manuskripte, Tagebücher und verschiedene Gespräche mit Freunden zeigen, hatte er zumindest in den 1920er Jahren eine Autobiographie geplant, während seine späteren kritischen Bemerkungen eher sein eigenes autobiographisches Schreiben kommentieren und hauptsächlich Aspekte von Form, Inhalt und ihr Korrelat betreffen. Wittgensteins Zitate zeigen, dass er der Autobiographie Wert und Bedeutung zumisst, sich jedoch dem Genre als solchem verweigert – und damit auch einer Trennung von Person und Werk. Demnach ist es nicht mehr erstaunlich, dass er nichts explizit Autobiographisches hinterlassen hat. So scheint es Parallelen zu geben zu seinem steten Zögern, seine philosophischen Schriften zu veröffentlichen, und seinen Schwierigkeiten mit der Buchform sowie seiner Skepsis gegenüber dem autobiographischen Projekt als solchem. Diese Skepsis kann man als ein neues Verbindungsglied sehen zwischen seinem philosophischen und autobiographischen Schreiben, zwischen Person und Werk. Hatte Wittgenstein die frühen Tagebücher in die Manuskripte geschrieben bzw. übertragen, was ihnen einen gleichrangigen Stellenwert zuweist und damit in gewisser Weise auch seinen Wunsch nach Veröffentlichung verdeutlicht, wie es auch der Brief an Russell dokumentiert (CamLetters, 58), so scheint es doch konsequent, dass er angesichts seiner (genre-)kritischen Haltung seine späteren Notizbücher vernichtet haben wollte und eventuell vorhandene autobiographische Schriften vernichtet hat, in denen seine privaten Bemerkungen eine explizite Form gefunden haben. Denn wie er schreibt: Ich habe kein Recht, der Öffentlichkeit ein Buch zu geben, worin einfach die Schwierigkeiten, die ich empfinde ausgedrückt und durchgekaut sind. Denn diese Schwierigkeiten sind zwar für mich interessant, der in ihnen steckt, aber nicht notwendigerweise für die Andern. Denn sie sind Eigentümlichkeiten meines Denkens, bedingt durch meinen Werdegang. Sie gehören, sozusagen, in ein Tagebuch, nicht in ein Buch. Und wenn dies Tagebuch auch einmal für jemand interessant sein könnte, so kann ich’s doch nicht veröffentlichen. Nicht meine Magenbeschwerden sind interessant, sondern die Mittel – if any – die ich gegen sie gefunden habe. (24.1.1948, BEE)
A UTOBIOGRAPHISCHE S KEPSIS: ZWISCHEN W UNSCH UND W IRKLICHKEIT
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Dennoch war Wittgenstein in vielerlei Hinsicht inkonsequent: Seine autobiographische Bemerkungen zeigen zwar einen reflexiven Umgang mit Fragen der Selbst- und Fremdzuschreibungen, andererseits finden sich zahllose Stilmittel der Selbstdarstellung, die von Autobiographiemodellen beeinflusst sind, ohne als solche je reflektiert worden zu sein. In der Rede vom ‚Sprachspiel Beichte‘ zeigt sich zwar Wittgensteins Skepsis an der Möglichkeit auto-/biographischer Wahrheit, aber auch ein Bewusstsein für autobiographische Dramatisierungen. Sowohl in seinen autobiographischen Reflexionen als auch in denen über seine philosophische Methode finden sich gewisse Sprachhülsen. So entlarvte er zwar das Anliegen der traditionellen Autobiographie, Konsistenz und Kohärenz, sowie die Entdeckung der ‚wahren Natur‘ als das einer Selbsttäuschung, dennoch bewegte er sich mit seiner Praxis der Beichte oder des Tagebuchs innerhalb ihres jeweiligen Regelwerks (wie Streben nach Erneuerung und Introspektion), und nützte sie nicht als Experiment zur Befreiung aus herkömmlichen Zwängen. Er lehnte zwar das Tagebuch als eitles Genre ab, dennoch verwendete er es. Er erkannte im Tagebuch eine starke Form, die vieles vorschreibt, aber auch gewährt, in deren Kontext bestimmte Bemerkungen wahrhaftig erscheinen und erlaubt sind, weil sie dazugehören (wie eitle Selbstbespiegelung), die er aber dennoch verachtete. Auch sein Fokus auf die Methode, sein Anliegen nur Anleitung zum Denken zu geben bzw. die Bedingtheiten seines Denkens zu hinterfragen, suggeriert zwar eine gewisse Form der wissenschaftlichen Abgeklärtheit, sich selbst nicht in unsinnige Probleme zu vergraben – doch gerade seine Tagebücher zeigen ihn „ständig am Rande des Wahnsinns […] wie die Existenzialisten […] beständig in Seelenqualen“ sich windend.3 Wittgensteins Begrifflichkeiten legen zwar nahe, dass er essentialistische Konzepte abgelehnt hat, trotzdem ist es ihm nicht gelungen, die antisemitischen oder nationalistischen Stereotype seiner Zeit zu überwinden.4 Seine Sprachhülsen werden zwar gern als bewusste Ironisierung derselben interpretiert,5 doch Wittgenstein hatte selbst erkannt, dass er in den Vorurteilen seiner Zeit gefangen war: „If you cannot unravel a tangle, the most sensible thing you can do is to recognize this; and the most decent thing, to admit it. [Antisemitism].“ (4.11.1948, BEE) Dass Wittgensteins Nachdenken über sich selbst durch Denkschablonen der Zeit getrübt wurde, mag sein, ebenso sehr, dass unser heutiger Blick durch die ‚Nach-1945-Perspektive‘ der Frage nach der jüdischen Herkunft generell zu viel Bedeutung zumisst – doch für die autobiographische Selbstwahrnehmung ist es interessant, dass Wittgenstein diesen Deutungshorizont als ‚Brille des Vorurteils‘ formuliert hat, wenn er sich auch resignierend diesem ausgeliefert sah. Trotz, oder vielleicht gerade wegen, dieser Widersprüche ist er in Bezug auf sein Werk oft als Schlüssel-
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K.T. Fann, zit. n. Wuchterl/Hübner, Wittgenstein, 143. Stern, Was Wittgenstein a Jew?, 259 u. 268. Vgl. Wallner, Der Beitrag jüdischer Philosophen zur österreichischen Philosophie, 108–143, 113 u. 134.
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figur der Moderne bezeichnet worden, doch ist er in mancher Hinsicht ein Vorläufer der Postmoderne: Im Nachdenken über sich selbst und über die Genres Autobiographie und Tagebuch; Schreibmotive und Formgebung als Konstruktion im umfassenden Sinne; insbesondere jedoch in seiner Unterscheidung zwischen Selbstbild (wie gebe ich mich), Fremdbild (wie glaube ich, dass ich auf andere wirke) und Wunschbild (wie wäre ich gern), die im Wechselspiel des Blicks von Außen und Innen in seinen autobiographischen Bemerkungen immer wieder eine zentrale Rolle einnimmt. Das Kapitel ‚Ludwig‘ der Familienerinnerungen war der Ausgangspunkt zu dieser Reise durch die auto-/biographischen Fremd- und Selbstzuschreibungen. Im folgenden Teil soll zu den Erinnerungen der ältesten Schwester zurückgekehrt werden, um sie als Fallbeispiel dafür zu analysieren, inwieweit eine spezifische Form des auto-/biographischen Schreibens, wie eine Familienchronik, die Darstellung der Autorin von sich selbst, von ihrem Bruder und von der Familie beeinflusst hat.
Hermine Wittgensteins Familienerinnerungen
Abbildung 4: Photo-Collage von Hermine Wittgenstein (Wittgenstein Archive, Cambridge; Pierre Stonborough)
I. Die Autorin und das Manuskript
Das Familiengedächtnis formt sich über die immer wieder erzählten Erinnerungen an Personen und Ereignisse, unzählige kleine Geschichten, die immer wieder aufs Neue in der einen oder anderen Variante erzählt und über die Generationen weitergegeben werden. Nur ein Teil dieser Erzählungen findet Eingang in eine Familienchronik. Diese Fragmente werden ausgewählt und durch den Autor oder die Autorin gestaltet, und diese offenbaren damit ihre Vorstellungen von Familie und sich selbst. In der Familie Wittgenstein ist es Hermine, die als Autorin die Familienerinnerungen gestaltet, die gemeinsame Erinnerungen festhält, ihre Rolle im Familienspiel festschreibt, und verkündet, wie sie die Familie sieht oder wie sie will, dass die Familie gesehen wird. Welche Themen wählt sie aus und wie werden sie arrangiert? Was wird erinnert, was „vergessen“ und welche Funktion könnte das haben? Wie positioniert sich die Autorin mit ihrer individuellen Lebensbeschreibung im familiären Kollektiv? Hier interessiert vor allem die Bedeutung, die das Verfassen einer Familiengeschichte für die Autorin wie für die ganze Familie hatte, und auch heute noch hat. Wenn nach dem Erinnerungstheoretiker Maurice Halbwachs „jedes individuelle Gedächtnis […] einen ‚Ausblickspunkt‘ auf das kollektive Gedächtnis“ gewährt,1 dann lässt sich nicht nur Hermines Bild von der Familie und sich selbst, sondern zumindest ansatzweise auch die Familie und ihr Selbstbild rekonstruieren, und damit auch das familiäre ‚setting‘ und das Familienbild, in dem Hermine und Ludwig Wittgenstein wahrgenommen werden. Hermine Wittgenstein, benannt nach ihrem Großvater Hermann, wurde am ersten Dezember 1874 in Eichwald bei Teplitz in Böhmen als die Älteste von sechs Geschwistern geboren. Einige Monate später übersiedelte die Familie nach Wien: in die Villa XAIPE in Meidling, vier Jahre später in die 1
Nina Leonhard, Öffentliche versus familiale Geschichtserinnerung? Beobachtungen zur individuellen Deutung des Nationalsozialismus bei drei Generationen, in: Gerald Echterhoff/Martin Saar (Hg.), Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, Konstanz 2002, 203–223, 205.
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Innenstadt, zuerst in die Schwarzenbergstraße, dann an die renommierte Adresse Schwarzenbergplatz 2 und zehn Jahre später, 1891, in die Alleegasse 16 (seit 1921 Argentinierstraße), in die Nähe der Karlskirche. Dort, in einem Stadtpalais im Stil der Neo-Renaissance, wohnte ‚Mining‘, wie sie im Familienkreis nach einer Figur aus Fritz Reuters Roman Das Leben auf dem Lande genannt wurde, unverheiratet geblieben, ihr ganzes Leben lang. Als ihr Bruder Ludwig 1889 geboren wird, ist sie 15 Jahre alt. Sie ist fast 30, als er mit 14 Jahren das Haus verlässt und an die Oberrealschule nach Linz geht. Hermine Wittgenstein ist die rechte Hand ihres Vaters Karl: Sie erstellt gemeinsam mit ihm die Gemäldesammlung der Familie; sie nimmt Malunterricht bei Franz Hohenberger, spielt ausgezeichnet Klavier und organisiert musikalische Veranstaltungen im Familienkreis. 1913 erbt sie nach dem Tod des Vaters neben anderen Liegenschaften auch das von ihm erworbene und ausgebaute Anwesen Hochreit, wird quasi das Familienoberhaupt und Großgrundbesitzerin. Alleine das Gut Hohenberg-Hochreit umfasste ca. 5.500 Hektar, verteilt auf verschiedene Gemeinden in Niederösterreich (u.a. Hohenberg, St. Aegyd, Schwarzau und Rohr im Gebirge). Es war ein überwiegend forstwirtschaftlicher Betrieb, zum Großteil verpachtet und verwaltet von einer familieneigenen Kanzlei. Während des Ersten Weltkrieges arbeitet sie von 1916–1919 in der chirurgischen Ambulanz des Rudolfspitals in Wien. 1919 hospitiert sie bei Baronin Leitner, Vorsteherin eines Vereins von Tagesheimstätten im Umkreis von Wien und wird Mitglied des Vorstandes des ‚Vereins gegen Armut und Bettelei‘. Sie ist äußerst engagiert und diskutiert nicht nur mit Freunden der Familie, wie dem Architekten Paul Engelmann, über soziale und religiöse Fragen.2 Im Jahr 1921 gründet sie ihr eigenes Tagesheim für sozial benachteiligte Knaben in Grinzing auf dem Gelände des aufgelösten Kriegsspitals, und leitet dieses gemeinsam mit einer befreundeten Pädagogin, Fräulein Mildner. Die Kinder erhalten dort Verpflegung, Werkstätten- und Nachhilfeunterricht. Zur Zeit des Ständestaats ermöglicht die Anerkennung seitens der Stadt Wien im Herbst 1936 den Umzug in eine Meidlinger Schule, in der sie sieben Räume für ihre Tagesheimstätte zugewiesen bekam.3 Zwei Jahre später, nach dem Anschluss, wird die Tagesstätte durch die Nationalsozialisten aufgelöst. Die jüdischstämmige, doch assimilierte Familie Wittgenstein erkauft sich die ‚Arisierung‘ und Hermine ist es dadurch möglich, in Wien zu verbleiben. Im Juni 1944 beginnt sie im Alter von 69 Jahren auf der Hochreit, dem Sommersitz der Familie, die Familienerinnerungen zu schreiben, die sie im Oktober 1948 wegen ihrer angegriffenen Gesundheit beendet. Im selben Jahr adoptiert sie aus erbrechtlichen Gründen die fünf Kinder ihrer Schwestern: Marie, Felix und Clara Salzer, John und Thomas Stonborough. Sie stirbt am 11. Februar 1950 in Wien.4 Kurze Zeit 2 3 4
Vgl. IEAB; zum biographischen Abriss vgl. auch: FamEr. Janik/Veigl, Wittgenstein in Wien, 85; vgl. auch Erfahrungsbericht von Willhemine Kubat, eine Beschäftigte an der Kindertagesheimstätte, Ser.n. 37.581 Han, ÖNB. Vgl. Verlassenschaftsabhandlung Hermine Wittgenstein, 17A 113/50–47 (WSt LaAr).
D IE A UTORIN
UND DAS
M ANUSKRIPT
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darauf wurde das elterliche Palais in der Alleegasse, mehrere Jahrzehnte mit seinen musikalischen Abenden ein Zentrum des Wiener Kultur- und Geisteslebens – im Zweiten Weltkrieg von Gerichtsbehörden genützt und durch einen Bombentreffer in Mitleidenschaft gezogen – veräußert und bald darauf abgerissen; was aus der Warte der Familie als das Ende einer Ära gesehen wird und in der Familienchronik verfolgt werden kann. Abbildung 5: Sommersitz Hochreit (Wittgenstein Archive, Cambridge)
Heute gibt es einige Kopien der Familienerinnerungen, die im Familienkreis kursieren. Dabei existieren zwei unterschiedliche Versionen, die im Umlauf sind: Neben der ursprünglichen reinen Textfassung gibt es eine bebilderte Version von Hermines Nichte Clara Sjögren, bei welcher jedoch zwei der untergeordneten Kapitel, jene über das Hausmädchen Rosalie und die Nichte Marie Stockert, fehlen. Alle anderen Abschriften sind identisch. Der Text, der den meisten Biographen zugänglich war, wurde noch nie in seiner Gesamtheit analysiert und rekontextualisiert, doch abgesehen vom Kapitel
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Ludwig5 wurden auch einzelne Zitate aus dem Werk bereits häufig in der biographischen Literatur zu Ludwig Wittgenstein publiziert. Diese Zurückhaltung gegenüber der Chronik als Gesamttext ist genauso erklärungsbedürftig wie der Wert des Dokuments aus heutiger Perspektive. Wie in der Einleitung bereits angesprochen, gab es über lange Zeit Vorbehalte gegenüber der Wittgenstein’schen Familienchronik, seitens der Wissenschaft und der Familie. Sie galt als ein zu privater und zu subjektiver Text, dem ein Erkenntniswert abgesprochen wurde. Zudem war man lange Zeit nur an Ludwig interessiert; die Geschwister und das familiäre Gefüge interessierten nur partiell. So war auch Hermine nur als älteste Schwester von Ludwig interessant, nicht in ihrer Position als Familienchronistin. Jüngste Forschungen zum Familiengedächtnis6 interessiert gerade diese subjektive Autorposition, der Konstitutionsprozess von Erinnerung und die Konstruktionsmechanismen autobiographischen Schreibens, weil sie mehr über den Text verraten als er selbst: Sie erlauben über Intention und Funktion des Textes nachzudenken. Eine zentrale Rolle für die Interpretation spielt dabei die Textsorte an sich, denn die Kriterien der ‚Wahrheit‘ hängen stets eng mit der literarischen Gattung zusammen: So erlaubt die Literaturgattung Familienchronik nur gewisse Erzählstrukturen und Themen, sie ist ein „mentales Modell“ (Carol Feldman)7, das den Inhalt durch charakteristische Themen und eine spezifische formale Struktur formt. Vor diesem Hintergrund allgemeiner Kriterien zeigen sich erst die Besonderheiten der Wittgenstein’schen Chronik. Aber es wird nicht nur text-intern, sondern auch text-extern definiert, was ihre Wirkung und Glaubwürdigkeit bestimmt.8 Auch gesellschaftliche Umstände beeinflussen das Vertrauen oder Misstrauen gegenüber Memoirenliteratur. Zunächst folgt deshalb ein geschichtlicher Rückblick auf die literarische Form der Familienchronik, der die Funktion des Genres in Gesellschaft und Geschichte, den Status als historisches Dokument und die Aussagekraft als historische Quelle beleuchtet.
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Vgl. u.a.: Wittgenstein, Mein Bruder Ludwig, in: Rhees (Hg.), Porträts und Gespräche, 21–35; Auszüge der Familienchronik in: Leitner, Die Architektur von Ludwig Wittgenstein, 17–32. Vgl. u.a.: Miriam Gebhardt, Familiengedächtnis; Claudia Vorst, Familie als Erzählkosmos; Josette Coenen-Huther, Das Familiengedächtnis; Anne Muxel, Individu et mémoire familiale. Carol Feldman, Genres as Mental Models, in: Massimo Ammaniti/Daniel N. Stern (Hg.), Psychonalysis and Development. Representations and Narratives, New York 1994, 111–121, zit n. Bruner, Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, 67. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, 257. Vgl. zur Problematik von ‚Text‘ u.a.: Fuchs/Berg (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text, 1995; Doris Bachmann-Medick, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kultur als Text. Die anthropologische Wende der Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1996, 7–64.
II. Das Genre der Familienchronik: Ein kulturwissenschaftliches Untersuchungsfeld
Familienerinnerungen gehören wie Autobiographie, Tagebuch oder Brief zu den individuellen Erinnerungsformen. Vorläufer der Familienerinnerungen gab es bereits seit dem Spätmittelalter in Form von Ahnentafeln, Familienchroniken und Hausbüchern. Nachfolgend wird auf die historischen Vorformen eingegangen, um die Entwicklung des Genres aufzuzeigen, und im Vergleich mit der Autobiographie die Besonderheit von Familienerinnerung als Memoirenliteratur vorzustellen. Diese Hintergrundinformationen helfen, die Wittgenstein’schen Familienerinnerungen als Teil einer Genreliteratur besser einordnen zu können.
1. Z WISCHEN G ENEALOGIE UND F AMILIENSINN , M EMOIREN UND AUTOBIOGRAPHIE Die Familienchronik stand als Genre nach 1945 unter ideologischem Verdacht. Der Nationalsozialismus und dessen Sippenforschung diskreditierte die deutschsprachige Familienforschung bis in die 1970er Jahre, denn die nationalsozialistische Sippenforschung hatte versucht, sich durch die Vernetzung von historischer Familienforschung und Genealogie der Chronik „zu bemächtigen“ und sie für den Schulunterricht und für die Verbreitung rassisch-völkischen Gedankenguts „nutzbar zu machen“. Die biologische Erblichkeit wurde im Kontext der Rassenhygiene im Dritten Reich völlig neu bewertet, nachdem ihre Entdeckung im 19. Jahrhundert dazu geführt hatte, dass die Genealogie nicht nur eine selbstständige Disziplin der Geschichtsforschung wurde, sondern „alles Lebende auf Stammbäume und auf seine Verwandtschaft hin“ untersucht wurde.1 Die Genealogie ist das zentra-
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Vgl. zum historischen Abriss der Genealogie: Vorst, Familie als Erzählkosmos, 279–289, hier: 22, 35.
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le Element einer Familienchronik. Vom Mittelalter an war die Ahnenprobe ein populärer Nachweis für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, nicht zuletzt um ebenbürtige Ehen zu gewährleisten. Diente die Chronik zunächst der Festigung von adeliger Herrschaft, wurde sie später zum Ausdruck eines bürgerlichen Selbstbewusstseins. Die Familienchronik als Genre hatte ihren Ursprung zwar bereits in dem im Mittelalter entstandenen Familiensinn,2 doch die Familie als identitätsstiftende Bewusstseinsform bekam vor allem in bürgerlichen Kreisen seit dem 19. Jahrhundert zunehmend Bedeutung zugesprochen. Im Zuge des Biedermeier war eine neue Kultur der Häuslichkeit entstanden, die dazu führte, dass das Privatleben wie das Familienleben in einem ganz neuen Ausmaß kultiviert wurde. Die Familie, so eine Studie von Miriam Gebhardt, wurde neben der öffentlichkeitswirksamen Konzeption des Nationalstaats3 eine bewusst eingesetzte Strategie für ein Identifikationskonzept im Privaten, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Kontinuitäten zunehmend verloren gingen: „Im Gefolge der Aufklärung wurde die Familie als die primäre Sozialisationsinstanz und als Eckpfeiler der Gesellschaft neu bewertet. Moderne Wissenschaften […] formierten sich um das Thema Familie und Kindheit. Disziplinierung und Heranziehung der künftigen nützlichen Staatsbürger in Familie und Schule waren Postulate der bürgerlichen Gesellschaft. Die Familie wurde umgedeutet von einem Ort der Produktion und materiellen Absicherung zu einem Ort der Intimität und Selbstverwirklichung.“4 Bei diesem Prozess der Verbürgerlichung und Individualisierung werden Familienerinnerungen zu einem Instrument für die „Verinnerlichung des bürgerlichen Wertekanons“, aber auch zu einem Mittel um sich von der Arbeiterschaft abzugrenzen. Obwohl in der Zeit um 1900 das kollektive Gedächtnis bzw. die nationale Erinnerungskultur ein zentrales Schlagwort im Erinnerungsdiskurs bildet, gilt die Individualisierung der Erinnerung auch als ein Phänomen der Modernisierung, da kollektive Denk- und Verhaltensmuster dem Einzelnen in einer pluralisierten, komplexen Lebenswelt immer weniger Orientierung boten.5 Wissenschaft und Lebenswelt drehten sich zu jener Zeit um dieses Spannungsverhältnis, das eine neue Form des Bewusstseins geweckt hatte. Das zeigt sich am philosophischen Konzept eines Ernst Mach, an den sub-
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Vgl. Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001, 99f, 218. Auch Holdenried, Autobiographie, 103f., 108. Benedict Anderson spricht von der Nation als einer neuen ‚imagined community‘. Ders., Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/M. 1988. Miriam Gebhardt, „Vom Ghetto zur Villa“ – familiale Erinnerungsstrategien im emanzipierten Judentum, in: Clemens Wischermann (Hg.), Die Legitimität der Erinnerung und der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, 175–188, 175. Katja Patzel, „Alle Erinnerung ist Gegenwart.“ Zur Selbstverortung des Individuums im Prozeß der Modernisierung, in: Wischermann, Die Legitimität der Erinnerung und der Geschichtswissenschaft, 189–214, 189 u. 192.
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jektiven Erinnerungsmodellen von Sigmund Freud, Henry Bergson oder Wilhelm Dilthey sowie an der großen Anzahl von zwischen 1880 und 1930 verfassten Autobiographien. Bekannt und epochenprägend waren jene von Ernst M. Arndt (1840), Wilhelm v. Kügelgen (1870) und Otto v. Bismarck (1898) oder die Memoirenautobiographie eines Felix Dahn (1895) oder Paul Heyse (1900). Dabei kam es oftmals zu Überschneidungen zwischen der Memoirenliteratur und dem Genre der Autobiographie: zwischen der eher regellosen Zusammenstellung von Dokumenten mit einem gewissen passiven und distanzierten Blick auf Ereignisse, und der Autobiographie, die sich aktiv um Sinngebung bemüht, um das individuelle Innen und das gesellschaftliche Außen ins Verhältnis zu setzen (Georg Misch).6 Diese veröffentlichte Literatur hatte wiederum Rückwirkungen auf die Leser: „Es entsteht nicht nur der Briefroman, der Roman in Tagebuchform, sondern die Romane prägen wieder den Stil, in dem Briefe und Tagebücher, gegebenenfalls Lebenserinnerungen verfaßt werden.“7 Diese Hochblüte des literarischen Genres Autobiographie im 19. Jahrhundert wurde gemeinsam mit der massiv anwachsenden Memoiren-Literatur als die „Geschichte des bürgerlichen Selbstbewusstseins“ (Georg Misch) gelesen, denn erst am Übergang zum 20. Jahrhundert begann die Verbreitung des autobiographischen Erzählens in Richtung Mittelstand, Arbeiterschaft und Landbevölkerung, mit einem Höhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg in der ‚Biographie des kleinen Mannes‘; verbunden mit anderen Erzähltraditionen, wie Beichte oder Seelsorge, oder neuen Erzählformen, wie die von Ämtern veranlassten Kurzbiographien (Berufs-, Bildungs- und Krankengeschichte). War es die Intention einer mittelalterlichen Biographie zumeist, vorbildliche Lebensläufe darzustellen, haben im 19. und 20. Jahrhundert verschiedene ideologische Systeme (Nationalismus, Sozialismus etc.) mit ihren Vorstellungen von einer ‚richtigen‘ Biographie das autobiographische Schreiben wesentlich beeinflusst. Diente die Autobiographie vor dem Ersten Weltkrieg noch primär dazu alte ideologische Werte zu restaurieren und zu stabilisieren, verloren solche kollektive Erinnerungspraktiken zunehmend an Legitimität und das individuelle Erinnern wurde zu einem zentralen Element der Selbstkonstitution und Selbstpositionierung. Es waren Zeiten, in denen man sich der Gefahr des Vergessens besonders bewusst war – eine Angst, die monumentalisiert wurde in Museumsgründungen und Denkmälern, sowie ritualisiert in Kaisergeburtstagen und Festen. Der Erinnerungstrend ist somit nicht nur ein Reflex auf die Individualisierung, sondern auch mitkonstituierendes Prinzip: „An die Stelle von Ständen treten nicht mehr soziale Klassen, an die Stelle von sozialen Klassenbindungen tritt nicht mehr der stabile Bezugsrahmen
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Einen Überblick gibt Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 52–55, 54. Hans Paul Bahrdt, Identität und biographisches Bewußtsein. Soziologische Überlegungen zur Funktion des Erzählens aus dem eigenen Leben für die Gewinnung und Reproduktion von Identität, in: Rolf W. Brednich [u.a.] (Hg.), Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der Volkskundlichen Forschung, Freiburg/Br. 1982, 18–45, 38.
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der Familie. Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen.“8 Diese gesellschaftlichen Veränderungen bedeuten auch einen Wandel des Familiengedächtnisses. Im Gegensatz zum traditionellen Erinnern, dem passiven Einfügen in eine Familiengenealogie, weist das moderne Erinnern dem Ich aktiv einen Platz innerhalb der Familie zu. Dem Einzelnen wird ein „kreatives Erinnerungspotenzial“ zugesprochen,9 die Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und Zuordnungen innerhalb seiner gesellschaftlichen Lebenswelt zu wählen. In diesem Balanceakt zwischen individueller und Gruppenidentität wird das Familiengedächtnis wichtig. Nach Gebhardt kann die familiäre Erinnerungskultur als historisches Phänomen betrachtet werden, „das seine größte Bedeutung in der Übergangszeit zwischen dem traditionellen kollektiven Erinnern und dem modernen individuellen Erinnern hatte“.10 Diese Spannungen zwischen kollektiven und individuellen Identitätsstrategien initiierten einen regelrechten Erinnerungsboom am Ende des 19. Jahrhunderts. Damals bildeten sich Theorien und neue Organisationsformen der individuellen Erinnerung heraus, im Bruch mit „einer sich kollektiv verstehenden Gedächtnisgesellschaft“.11 Dabei wird die Erinnerung zunehmend wichtig bei der Positionierung einer individuellen Persönlichkeit gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen. Auch führt der ‚moderne‘ Blick nach Innen zur Wahrnehmung eines fragmentierten Ichs, was die bisher meist unhinterfragte Identität infrage stellt durch die Erfahrung von Vereinheitlichung (Kategorien wie Geschlecht, Rasse, Nationalität und Sexualität) und zugleich von Fragmentierung: Es sei eine „delicate and difficult balance“ schreibt Maureen Whitebrook zwischen „internal and external coordinates or criteria, between personal identity as individual differentiation and personal identity as constituted by belonging to one or more groups“.12 In dieser Balance wird narrative Identität zunehmend als Vermittler wichtig und dem Familiengedächtnis eine zentrale Rolle zugewiesen. Die Familienerinnerungen der Wittgensteins stehen somit in einer Tradition der Geschichtsschreibung, die eine Wandlung von der Ereignisge-
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Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, 209. 9 Patzel, „Alle Erinnerung ist Gegenwart“, 194. 10 Gebhardt, „Vom Ghetto zur Villa“, 188. Dabei hebt Gebhardt das Besondere im deutsch-jüdischen Milieu hervor: Hier sei der Modernisierungsprozess „schneller und nachhaltiger“ abgelaufen, habe doch das kollektive Erinnern eine zentralere Funktion eingenommen und die verstärkte familiale Erinnerung die deutschen Juden bei der Modernisierung unterstützt. Andere Forschungen u.a. von Peter Gay und Shulamit Volkov zeigen hingegen, dass diese „avantgardistische Position“ von Juden im Kaiserreich für die Kultur gar nicht so gewiss ist. 11 Patzel, „Alle Erinnerung ist Gegenwart“, 196f. Das erinnert an die Renaissance des Begriffs ‚Erinnerung‘ und das Interesse an autobiographischen Texten im Kontext des Jahres 1989, das Aufbrechen solcher Polaritäten in der Gesellschaft dokumentierend. 12 Maureen Whitebrook, Identity, Narrative and Politics, New York 2001, 138.
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schichte zum Psychologischen, vom Gesamtgesellschaftlichen zum Individuellen durchlebt hat. Familienerinnerungen waren somit nicht nur ein wichtiges Instrument den bürgerlichen Wertekanon zu verinnerlichen, sondern repräsentieren auch eine Schnittstelle zwischen individuellem und kollektivem Erinnern. Familienerinnerungen sind historisch gesehen ein Genre, das zu Ende des 19. Jahrhunderts eine Antwort war auf Kontinuitätsverlust und Delegitimierung. Könnte das Genre in der Mitte des 20. Jahrhunderts, nach den Umwälzungen des Zweiten Weltkrieges, nicht eine ähnliche Funktion gehabt haben? Diesem Gedanken folgend werden die Wittgenstein’schen Familienerinnerungen als Beispiel für Erinnerungs- und Identifikationsstrategien im Wiener Großbürgertum in den 1940er Jahren in Wien untersucht.
2. D IE F AMILIENCHRONIK : M ENTALES M ODELL UND SPEZIFISCHES N ARRATIV Familienerinnerungen niederzuschreiben bedeutet, sich zu repräsentieren – das ist ein sehr persönlicher Akt, der jedoch auch regelhaft konstituiert ist. Die Familienchronik ist ein literarisches Genre, was bedeutet, dass es allgemeine Prinzipien gibt, die das auto-/biographische Schreiben und damit den Zugriff auf die Erinnerung und die Formulierung der Geschichte (und der Familienidentität) prägen. Carol Feldman nennt das Genre sogar ein „mentales Modell“,13 das die Rezeption, aber auch die Produktion formt. Die Zugehörigkeit zu einem Genre zu berücksichtigen, bedeutet folglich, den Rahmen einer Interpretation besser zu kennen. Damit pointiert Feldman nochmals eine Erkenntnis, die der linguistic turn in den 1970er Jahren zu seinem Credo erklärt hatte: die alleinige Priorität des Inhalts wurde bezweifelt und der Form ebenfalls besondere Bedeutung zugewiesen. Die Struktur der Erzählung, den Schreibstil, das Sortiment literarischer und rhetorischer Kunstgriffe wie erzählerischer Traditionen zu erkennen, gilt nun als die Voraussetzung dafür, um die Grenzen und Möglichkeiten zu kennen, ‚die Wahrheit‘ zu berichten. Wobei einer Erzählung viele Grenzen gesetzt sind: durch Selektion, Exklusion und Inklusion, wird das Material zuerst sortiert. Unbewusster formen dann kulturelle und soziale Faktoren die Erinnerung und deren erzählerische Gestaltung: beeinflusst von literarischen Vorbildern, von Erwartungshaltungen gegenüber dem Genre, vom sozialen Milieu, welches das kulturelle Repertoire an Handlungen, Überzeugungen und Projektionen, und damit die Darstellung und den Stil besonders prägen.14 Eine wichtige Voraussetzung für die Rezeption der Wittgenstein’schen Familienerinnerungen ist somit das Verstehen solcher sozialen und kulturel-
13 Feldman, Genres as Mental Models, in: Ammaniti/Stern, Psychonalysis and Development, 111–121. 14 Vgl. Margaret Somers, The Narrative Construction of Identity: a Relational and Network Approach, in: Theory and Society 23, 1994, 605–649, 614.
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len Codes. Damit lässt sich auch zeigen, wie Kulturelles, aber auch Soziales (das sich vielfach über Kultur formuliert) für Erinnerungen und Identitätsstrategien konstitutiv ist, ebenso wie kulturelles Kapital verwendet wird, um soziale Positionen zu sichern. So wird der Kampf um Orientierung, Identitätssuche und Selbstbehauptung oft dort am sichtbarsten, wo der Autor/die Autorin die Vermittlung und Einübung von Verhaltensnormen, Überzeugungen und moralischen Werten darstellt. Ist jeder einzelne Text stets in psychologisierender und interpretierender Weise wertend und subjektbezogen, können dennoch Textstrukturen und Schreibmotivationen, abseits von spezifischen Inhalten, exemplarisch erforscht werden. Beide lassen sich zu einem gewissen Maße systematisieren und daraus gewisse Erkenntnisse ableiten: Ein Großteil der Familienchronik gehört zur „Archäologie“,15 Ahnenund Namensforschung, Spurensuche nach Namen und Lebensläufen, an die es keine persönliche Erinnerung gibt. Es wird eine Genealogie erstellt, nach dem Prinzip von Inklusion und Exklusion, nach räumlichen wie verwandtschaftlichen Dimensionen der „Beheimatung“ und der Vernetzung in größere Kollektive durch u.a. kollektive Zäsuren, Hörensagen, Zeitzeugenschaft. Die Struktur der Chronik, wie auch von Familienerinnerungen, entspricht klarerweise nicht einer Abbildung von Lebensrealität, sondern es müssen eine Auswahl und Betonungen vorgenommen werden, um die Ereignisse für den Leser logisch zu strukturieren. Nach Jerome Bruner ist die „Erzählung vor allem ein kognitiver Vorgang, der dem Verstehen dient, indem er Ereignisse und Geschehnisse in ‚Bedeutungsrahmen‘ platziert“. Aus dieser Perspektive sind historische Repräsentationen „acts of meaning“, bedeutungsstiftende Handlungen.16 Ereignisse werden zu einer Geschichte durch die Zeitspanne und die Dynamik der Erzählung, Auswahl und Bedeutungsgebung einzelner Ereignisse. Welche Erzählungen verwendet werden, ist sowohl kulturell bestimmt als durch die Bereitstellung der Begriffe und Plots auch sozial vermittelt. Chroniken beginnen nach Claudia Vorst in der Regel mit der ersten Erwähnung des Namens oder des Hauses, einem etymologischen Exkurs über den Familiennamen und der geographischen Herkunft; aber in „allen Fällen steht ein […] pars pro toto für das heterogene Kollektiv, welches in seiner Gesamtheit erfasst werden soll“.17 Die Struktur ist eher listenartig und betont nicht Krisen, Wende- oder Höhepunkte, Stammbäume sind beigefügt und die Nachkommen in Vor- und Nachwort erwähnt, auch die Kapitelunterteilung folgt einer genealogischen Struktur oder einer „spröden Ansamm-
15 Vgl. Vorst, Familie als Erzählkosmos 1995. Vorst beschreibt die Chronik als Gegenstand zwischen Geschichtswissenschaft und Erzählforschung und richtet den Blick auf die Chronik als Erzählung. Sie bietet dazu einen Querschnitt an und einen Überblick über die literaturwissenschaftliche Literatur. 16 Bruner, Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, 17; Vgl. Ders., Acts of Meaning. 17 Vorst, Familie als Erzählkosmos, 128.
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lung von Einzelporträts“, oft mit Bildern, Fotos, Urkundenmaterial, chronologisch oder thematisch geordnet, die „den Rahmen abstecken, der sie mit anderen Kollektiven in Berührung bringt“. Die kurzen Lebensbeschreibungen, mit Lebensdaten und Besitzständen sowie Verwandtschaftsgraden, sind oft dem Andenken an Verstorbene gewidmet oder handeln in Form von unpersönlicher Urkundendokumentierung „traditionserhaltend-patriarchal vom Familiengewerbe“, was häufig in der „Schaffung eines Wappens“ gipfelt, wobei aufwändiger Druck oder auch ein ‚Ghostwriter‘ auf ein Interesse verweisen, Familienhistorie zur Firmenchronik zu modellieren.18 Erzählanlässe sind vor allem Erbschaft, die Vernetzung von Handwerks- und Stadtgeschichte oder heimatkundliche Perspektiven für Lokal- und Heimatgeschichte. Die Chronik nutzt Nachbardiskurse wie Genealogie oder Heimatgeschichte, die sie adaptiert oder zitiert. In Bezug auf die Erzählstruktur ist sie zumeist mit dem Blick auf das Kollektiv geschrieben, das individuelle Moment eher aussparend. Charakterisierend ist nach Vorst eine episodische Textur: „[…] der innere Zusammenhang der Anekdoten, Episoden, Bilder und Berichte ergäbe sich nicht aus der Logik einer Handlung, sondern aus der Zughörigkeit zum familiären Kollektiv“.19 Die Sinnbildung resultiert in der Schaffung von Symbolisierungen. Die Chronik ist deskriptiv und wiederholt Geschehenes, ohne nach dem Warum oder nach Alternativen zu fragen, ohne kritischen Impetus, verlässt sich auf die Fähigkeit des Rezipienten, zu ergänzen und zu deuten. Dabei wird nur das aufgeschrieben, was im kollektiven Alltagsgedächtnis erinnert wird: „Aktualisiert, und dadurch tradiert, wird nur, was von der Gemeinschaft approbiert ist […] Die Überlieferung wird den jeweiligen Erfordernissen angepasst, Diskrepanzen und Inkonsistenzen werden in ständiger Neuformulierung durch eine kollektiv gelenkte Präventiv-Zensur […] harmonisiert, widersprüchliche Ereignisse in einer Art struktureller Amnesie […] aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht“.20 Aleida Assmann sieht die Chronik als „Kompilationsliteratur“ der Folklore zugehörig, im Gegensatz zur Literatur nicht durch die „Geste des Widerspruchs“, sondern durch die Geste „der Wiederholung“ charakterisiert. Während die Literatur familiäre und historische Topoi überliefere, zugleich aber auch den Anspruch habe, Vertrautheiten oder Klischees zu irritieren, wiederhole die Chronik jene lediglich. Inwieweit diese GenreSpezifika die Darstellung der Wittgenstein’schen Familiengeschichte geprägt haben, wird noch deutlich werden. Hinsichtlich Aufbau und Struktur zeigen sich bei den Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein jedenfalls gewisse Besonderheiten und auch Abweichungen von den allgemeinen Kriterien einer Familienchronik.
18 Ebenda, 78, 98f. 19 Ebenda, 101, 331. 20 Aleida Assmann, Schriftliche Folklore. Zur Entstehung und Funktion eines Überlieferungstyps, in: Jan und Aleida Assmann/Christoph Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München 19983, 175–193, 177, 181.
III. Die Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein
Um über einen Text zu sprechen, ist es notwendig, zuerst den Text selbst zu kennen. Ein chronologischer und deskriptiver Überblick über die Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein gibt deshalb anschließend einen Einblick in den Aufbau der Chronik und die inhaltlichen Themen. Dabei werden charakteristische Stellen zitiert und mit zusammenfassenden Überleitungen zu einem Gesamttext montiert, um einen Eindruck des gesamten Textes zu vermitteln. Wörtliche Zitate in wissenschaftlichen Texten sind Sprachregelungen, die dem Leser Wirklichkeitsnähe vermitteln. Für die einen gelten sie als ‚Wahrheitsinsignien‘, für andere als ledigliche ‚Wirklichkeitseffekte‘.1 Die folgende Zusammenfassung vertraut in einem gewissen Sinne auf diese Wirklichkeitseffekte, auch wenn es ein Ziel dieses Buches ist, eine Skepsis gegenüber Zitaten als authentischer Zeitzeugenschaft zu wecken.
1. F AMILIENGESCHICHTE : E INE S KIZZE Das Typoskript der Familienerinnerungen hat 250 Seiten und ist in sieben Kapitel unterteilt. Diese sind nummeriert, nur das Kapitel „Die Ereignisse der Jahre 1938 und 1939“ sowie das Unterkapitel „Aus den autobiographischen Notizen meines Vaters“ tragen eine Überschrift. Auf so genannten, zwischen manche Kapitel eingeschobenen „Zwischenblättern“ werden die jeweilige Gegenwart des Krieges und des Schreibens sowie die verschiedenen Ortswechsel verzeichnet. Hermine Wittgenstein beginnt die Familienerinnerungen mit den 1830er Jahren, und zwar der Großmutter väterlicherseits aus der jüdischen Wiener Familie Figdor. Am Anfang des zweiten Kapitels (Seite 21–35) schildert sie die Übersiedelung des Großvaters Hermann Christian Wittgenstein aus
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Richard J. Evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt/M.-New York 1998, 96.
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Sachsen nach Wien, gefolgt vom umfangreichen Kapitel über den Vater Karl Wittgenstein (36–85). Dieses ist gegliedert in Auszüge aus seinen autobiographischen Notizen, das Kennenlernen seiner späteren Ehefrau Leopoldine Kallmus, seine Karriere, das Verhältnis zu seinen Arbeitern und seiner Umgebung, sein Mäzenatentum, sein Bezug zur Kunst, zur Musik und der Erwerb des Sommersitzes Hochreit in Niederösterreich. Das Kapitel vier umfasst die Beschreibung der Mutter, ihrer Familie und die Erziehung der Kinder, vor allem der älteren Brüder Hans, Kurt und Rudolf (87–104). Darauf folgt das Kapitel über den Bruder Ludwig (106–120) und über die Schwester Margarete (122–133) sowie die Selbstdarstellung der Autorin (134–152). Diese wird abgeschlossen durch die Beschreibung der Ereignisse in den Jahren 1938/39 (154–179), die eine Charakterisierung ihrer Geschwister Paul und Helene inkludiert. Dem anschließenden Rückblick auf die Geschwister des Vaters (181–230) folgen zwei Textanhänge, ein Nachruf auf das Hausmädchen Rosalie Herrmann (231–241) und auf die Nichte Marie Stockert (242–250), mit deren Tod 1948 die Chronik endet. Die Familienerinnerungen beginnen mit der Beschreibung der Großmutter Fanny Figdor, und ihrer „freundlichen“ Erwähnung in Grillparzers Tagebuch. Sie ist die Tochter eines in Wien ansässigen, doch international agierenden und angesehenen Großhändlers mit Zweigstellen in Paris und London, und wie die Autorin betont: Wilhelm Figdor und sein Sohn Gustav, […] ein vom Fürsten Metternich eigenhändig unterzeichnetes Empfehlungsschreiben für Wilhelm F. spricht für dessen Angesehenheit […] Sie waren Juden, fühlten sich aber, wie man das damals konnte, als Österreicher und wurden auch von Anderen als solche betrachtet. (FamEr, 3)
Wilhelm Figdor war ein Finanzberater der Gemeinde Wien. Hermine zitiert aus einem lobenden Nachruf und verweist auf ein existierendes Porträt des Alt-Wiener Malers Eybl. Es folgen Schilderungen der Großmutter Fanny und ihre Bekanntschaft mit ihrem späteren Mann, Hermann Wittgenstein, Wollgroßhändler aus Korbach im deutschen Fürstentum Waldeck/Westfalen. Nach ihrer Heirat 1839 zog sie mit ihm nach Gohlis bei Leipzig, 1859 übersiedelte das Ehepaar nach Wien. Sie zeigt die Großmutter als „kantige Persönlichkeit“, „energisch und eher scharf“ und zitiert sie folgendermaßen: „Das Zimmer der Hausfrau muß ein strategischer Punkt sein.“ (FamEr, 10) Sie beschreibt das Leben der Großeltern in Leipzig anhand zahlreicher Zitate aus Briefwechseln. Die Großeltern führten ein für Musiker und Künstler stets offenes Haus. Neben den zehn eigenen Kindern wurde der mit Fanny Figdor weitläufig verwandte Joseph Joachim aufgenommen, um ihn bei Felix Mendelssohn-Bartholdy erfolgreich Geige studieren zu lassen, wie es ein in voller Länge zitierter Brief Mendelssohns beweist. Hermine selbst habe, wie sie schreibt, von beiden Großeltern, charakterisiert durch ihren „großen Ernst“, wenig gewusst. Der Großvater sei vom Augsburger Bekenntnis zum
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Helvetischen übergetreten, ein Beweis dafür, „daß er, wie alles andere, auch Religionsfragen sehr ernst nahm“. (FamEr, 16) Auch zur Großmutter habe sie ein „stark betonte[s] Respektsverhältnis“ gepflegt, was diese in eine „besonders unnahbare Sphäre“ rückte. (FamEr, 17) Hermine betont, dass es aus ihrem Nachlass genug Brief gäbe, es also nicht ihrer eigenen Erinnerungen bedurfte, um ein Bild der Großmutter wiederzugeben. Das zweite Kapitel beginnt mit der Übersiedelung der Familie nach Wien. Der Großvater erwarb in der Donaumonarchie neben seinem Kaufmannsgewerbe umfangreiche Ländereien. Es wurde später sein Hauptberuf, heruntergewirtschaftete Güter aufzukaufen, wieder instand zu setzen und zu verpachten. Hermine zählt seine elf Kinder und deren Ehepartner auf, konzentriert sich aber auf ihren Vater Karl und dessen Schwester Josephine, die Tante Fine, die ihr „eine Menge kleiner Episoden“ erzählt habe. (FamEr, 22) Es folgen Erinnerungen an die Kindheit ihres Vaters auf Schloss Vösendorf in der Nähe Wiens, seine strengen Eltern sowie eine Fehlinvestition des Großvaters, einen Gutskauf in Kroatien. Die Erziehung durch die Großeltern beschreibt sie als eine unpädagogische, als eine „summarische, nicht auf die Persönlichkeit eingehende“: „Die Aufgabe, elf so verschiedenartige Kinder zu erziehen, war aber wohl eine so große, daß sie die Fähigkeiten der Eltern, so gewißenhaft diese waren, übersteigen mußte.“ (FamEr, 32) Wie Hermine schreibt, fand die Familie bei ihrer Übersiedlung nach Wien 1859 Anschluss an einen interessanten Kreis von „bedeutenden Leuten“. Sie vermutet, dass dabei die Anziehung, die das reichsdeutsche Element auf Hermann Wittgenstein ausübte, eine Rolle spielte. Gerade in jener Zeit lebten und wirkten viele Reichsdeutsche in Wien, fühlten sich dort sehr wohl und wurden dort sehr geschätzt. Hermann W. war nicht gesellig, liebte aber ernste Unterhaltung und gehörte dem Freundeskreis des Dichters Hebbel an, der merkwürdigerweise hauptsächlich Männer der Wissenschaft umfaßte, so den Physiologen Ernst von Brücke, den Astronomen Littrow, den Philologen und Reorganisator der österreichischen Mittelschulen Bonitz, um nur einige zu nennen, berühmte Leute von vielseitigstem Interesse. Mit allen diesen, einschließlich ihrer Familien, wurden Wittgensteins eng befreundet, und mit der Familie Brücke wurde das Band später noch enger, als die Tochter Milly sich mit Brückes Sohn, dem Richter Theodor von Brücke, verheiratete. (FamEr, 32)
Sie beschreibt weiters die diversen künstlerischen Lehrer der Geschwister ihres Vaters, u.a. den Klavierpädagogen Wieck, den Komponisten Brahms, den Maler Laufberger und den Operkomponisten Goldmark. Das dritte Kapitel gilt dem Vater Karl Wittgenstein (1847–1913), Großindustrieller und Begründer eines österreichischen Stahlimperiums, und stützt sich auf dessen autobiographische Notizen, die er ihr kurz vor seinem Tod diktiert hatte, und welche die Familie posthum veröffentlichte. Diese beschreiben zum großen Teil seine abenteuerliche Flucht als Jugendlicher nach Amerika, seine vielseitigen Begabungen, die ihm halfen, sich dort durchzubringen, die Rückkehr und die anschließenden Stationen seiner Kar-
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riere in diversen Betrieben. Klingen seine eigenen Schilderungen auch erfolgreich und Amerika-euphorisch, zeigen Briefe an seine Geschwister, dass sein jugendliches Ausreißen nach Amerika nicht nur von Erfolg gekrönt, sondern teuer erkauft war. Die Tochter zieht ein erstes Resümee: Jetzt wo das Leben meines Vaters vor mir ausgebreitet liegt, jetzt ist es mir klar, daß zu einer so außergewöhnlichen Persönlichkeit auch ein außergewöhnlicher Werdegang gehörte. Mein Vater hat auch sehr gut gewußt, was er der harten Schule Amerikas und der frühen Bekanntschaft mit dem Ernst des Lebens, ja auch seinem Autodidaktentum auf verschiedenen Gebieten verdankte, und er hätte diese Vorteile gerne seinen Söhnen und anderen jungen Leuten zugewendet. Er hat aber nicht gewußt oder nicht bedacht, daß es etwas anderes ist, ob Jemand, der eigenen Persönlichkeit gehorchend, einen abenteuerlichen Werdegang aufsucht, oder ob der Wille des Vaters das alleinige treibende Moment ist, und so hat er viele Enttäuschungen erlebt, die ich aber erst in einem späteren Zusammenhang besprechen werde. (FamEr, 42)
Bevor sie mit der Schilderung der Karriere des Vaters in allen Details fortsetzt, erzählt Hermine Wittgenstein von der ersten Begegnung ihrer Eltern und gibt einen Eindruck von ihren unterschiedlichen Lebenswelten wieder. Über die Mutter Leopoldine geb. Kallmus, genannt Poldy (1850–1926), schreibt sie: […] ihr Klavierspiel brachte sie mit Carl zusammen, der mit Freude und Temperament die Geige spielte. Als meine Mutter in nähere Berührung mit der Familie Wittgenstein kam, war die Zeit der großen Sparsamkeit lange vorüber; mein Großvater hielt jetzt darauf, daß die Töchter im Seidenkleid zum Mittagessen kamen, und er selbst führte eine von ihnen zu Tisch, wo es ziemlich feierlich zuging. Da wundert es mich nicht, wenn meine Mutter, der dieses Zeremoniell fast unheimlich war, nach der ersten Einladung erklärte, nicht zehn Pferde brächten sie mehr in dieses Haus! Wie erwähnt gelang das aber der Musik auf weniger gewaltsame Weise. – Meine Mutter kam ja aus wesentlich einfacheren Verhältnissen als Wittgensteins, die fast alle einen Zug ins Große hatten, vermutlich hervorgerufen durch das Leben auf den großen Gütern. Die Freude meines Vaters z.B. an übergroßen und überhohen Zimmern führe ich auf seine frühen Schloßeindrücke zurück. In späterer Zeit erzählte mir meine Mutter oft, wie wunderschön die Wittgensteinschen Töchter waren und wie unbeschreiblich elegant sie ihr vorkamen, wenn sie Sonntags über den großen Platz in den Park gingen. Dagegen bewunderten Carls Schwestern Poldys Charakter, ihre Selbstlosigkeit, ihre große musikalische Begabung, und man kann wirklich sagen, daß sie ihr Hochachtung entgegenbrachten. (FamEr, 47)
Auf Zwischenblättern schildert sie in zeitlichen Abständen die aktuellen Kriegsereignisse und ihre Ortswechsel. An dieser Stelle schiebt sie ein, dass sie die Familienerinnerungen nun im August 1944 auf der Hochreit fortsetzt, weil Wien bombardiert wird:
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[…] und ich schreibe diese Worte bei dem trotz der Entfernung höchst unheimlichen Geräusch von hunderten von Bombenflugzeugen, wie sie täglich in geschloßenen Formationen hoch, hoch über uns hinwegfliegen, in der Richtung auf Wiener Neustadt und Wien. Ich weiß, daß sie dazu bestimmt sind, Entsetzliches anzurichten, und doch ist es mir ganz unmöglich, zu einer wirklichen Vorstellung davon zu gelangen oder gar zu einer wirklichen Empfindung. […] Jeder klammert sich an die Hoffnung, daß die eigentliche Stadt, die Wohnviertel, verschont bleiben werden! Ich kann, so egoistisch das ist, nicht weiter denken als diese Arbeit reicht; ich trachte zusammenzutragen, was ich kann und vorläufig wenigstens das begonnene Kapitel über meinen Vater zu vollenden. (FamEr, 75)
Es folgen detaillierte Zitate vom beruflichen Werdegang und Erfolg des Vaters aus seinen autobiographischen Notizen, mit Erläuterungen über seinen Lebenslauf, seine technischen Innovationen und sein kaufmännisches Geschick. Die Tochter spricht von der „hervorragenden Menschenkenntnis“ Karl Wittgensteins, seiner Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft, seinem Mäzenatentum für junge Künstler: Sehr viel hat mein Vater auch für junge bildende Künstler getan, er schickte sie auf Reisen, kaufte ihre Werke oder erteilte ihnen Aufträge. Zur Zeit meiner Jugend verkehrten viele junge Maler bei uns, sie erzählten uns begeistert von künstlerisch Interessantem, das anderswo geschaffen wurde, und klagten bitter über das stagnierende Kunstleben Wiens. […] In Wien gaben nur die alten Künstler von Ruf den Ton an, ließen in den Ausstellungen keine neue Kunstrichtung zu Wort kommen, und die Jungen, darüber erbittert, schloßen sich endlich zu einer selbständigen Künstlervereinigung, der ‚Secession‘, zusammen, die vorzüglich das Neue pflegen wollte. Die junge Vereinigung suchte Gönner und fand in meinem Vater, der ihr als Stifter beitrat, den Mann nach ihrem Herzen. (FamEr, 76)
Es folgen Ausführungen über den Vater, nun aber auch in Bezug auf sie selbst: Mein Vater hatte große Freude an Bildern, eine Freude, die sich mit der Zeit verstärkte und verfeinerte, und er hat sich nach und nach, – mit meiner Hilfe, das muß ich gestehen, – eine kleine, aber schöne und vor allem einheitliche Sammlung von Bildern aus der Zeit von 1870 bis 1910 angelegt. Den Anfang machte ‚Die Quelle des Übels‘ von Segantini, und ich erinnere mich genau, wie sehr ihm die Erwerbung dieses Bildes, das die Secession in ihrer ersten, Aufsehen erregenden internationalen Ausstellung zeigte, am Herzen lag. Wenn er mir auch meistens freie Hand beim Kaufen von Bildern ließ, – er nannte mich im Scherz seinen Kunstdirektor – so war doch sein Geschmack auch maßgebend. Ein sehr schönes Goya-Porträt z.B., das mich entzückte, hat er abgelehnt, und zwar ganz mit Recht, es wäre aus der Sammlung ‚herausgefallen‘, wie man zu sagen pflegt. Diese Bildersammlung, die jetzt in der Familie zerstreut, zum Teil sogar verkauft ist, war durch Plastiken von Max Klinger, Rodin, Mestrovic schön ergänzt, und es war mein Bestreben und meine Beglückung,
198 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS jedes einzelne der Kunstwerke möglichst schön zur Geltung zu bringen. […] Ich möchte die ganze Reihe der Sammlung, an der ein Stück meines Herzens hing, im Anhang aufzählen; ein magerer Genuß, eine wehmütige Freude; es ist aber möglich, daß die Aufzählung einmal einem kunstverständigen Menschen einen kleinen Begriff vom Geist des einstigen Besitzers geben wird. (FamEr, 77f.)
Die Autorin spricht ehrerbietig von ihren Eltern, „[…] die Rücksicht und der feine Takt meiner Mutter, das gerade, kraftvolle Wesen meines Vaters […]“. (FamEr, 81) Dieses „kraftvolle Wesen“ des Vaters beschreibt sie zugleich am Beispiel des Erwerbs des Sommersitzes Hochreit 1894 und dessen rasanter Umgestaltung: Als sie gekauft wurde, war sie unendlich abwechslungsreich und malerisch, ein Begriff, der der heutigen Generation kaum mehr etwas sagt; ich konnte sie nicht malen, aber ich sah sie mit Maleraugen […] Mein Vater sah nicht mit Maleraugen, er war ein energischer, praktisch denkender Mann, dem diese ganze Verwahrlosung ein Greuel sein mußte. (FamEr, 83)
Hier erwähnt Hermine erstmals ihre Malerei und kritisiert den Vater für seine Art des Umbaus, doch habe diese seinem Charakter entsprochen. Als sie 1913 die Hochreit erbt, führt sie sogleich eine aufwändige Renaturierung durch: Schon zu Lebzeiten meines Vaters hatte ich versucht, gegen die wüste Hochreit anzukämpfen, nun tat ich es innerhalb und außerhalb der Häuser in verstärktem Maße, und zum Schluß stellte sich wirklich eine neue Art der Schönheit ein, eine praktische Schönheit, der ich ein wenig ästhetische beimischte, so weit es eben in meiner Macht lag. (FamEr, 84)
Erneut folgt ein historischer Einschub, ein Reflektieren über die eigene Gegenwart. Im Februar 1945 heißt es aus Gmunden: Seit ich die vorhergehenden Abschnitte dieser Erinnerungen in Wien und auf der Hochreit schrieb, ist die Zeit noch unendlich viel ernster geworden, und zwar ging das erschreckend rasch vor sich. Ich habe im Oktober 1944, kaum einen Monat nachdem wir von der Hochreit fortfuhren, Wien verlassen, weil die Russen immer näher rückten und weil Wien engstes Kriegsgebiet zu werden drohte. Meine Familie hat mich nach Gmunden mitgenommen, wo wir auf dem Besitz meiner Schwester Gretl Zuflucht gefunden haben. Trotz allem Entsetzlichen, das wir von den Bombenabwürfen über Wien hören, und trotz allem, was wir auch hier durch das Näherrücken des Kriegsschauplatzes fürchten müssen, schreibe ich an dieser Arbeit weiter. Sie schreitet nach keinem Plan fort, sondern es zweigt da oder dort ein Weg ab, je nachdem es mich drängt, einer Erinnerungsspur nachzugehen, und jetzt führt der Weg naturgemäß zur Familie meiner Mutter weiter. (FamEr, 86)
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Die Beschreibung der Familie der Mutter im Kapitel vier beginnt wenig euphorisch: Ich möchte nun auch gerne über meine Vorfahren mütterlicherseits berichten, aber leider steht mir da weit weniger Material zur Verfügung als bei der Wittgensteinschen Familie. Dort gaben doch charakteristische Briefe und Dokumente Aufschluss über die Persönlichkeiten zweier Generationen, hier aber, in der Familie Kalmus [sic], fehlt die Gabe, die eigene Persönlichkeit mitzuteilen vollkommen. (FamEr, 87f.)
So würden die Briefe „alle nicht über die Versicherungen der herzlichen Teilnahme, Beteuerung der Sehnsucht nach dem Abwesenden, Fragen nach dem Befinden usw. hinaus“ gehen. In diesen Kommunikationsschwierigkeiten sieht die Tochter durchaus Parallelen zu sich selbst, hatte sie es doch selbst verabsäumt, die Mutter über ihre Jugend oder ihren musikalischen Unterricht zu befragen. Sie nennt es die „Eigentümlichkeiten zweier Menschen“: […] ihr war es nicht gegeben, sich auch im mündlichen Verkehr leicht mitzuteilen, und mir selbst fehlte es viel zu sehr an menschlichem Interesse überhaupt: ich war von Kind auf und fast bis ins Alter gänzlich unfragend und unbeobachtend. (FamEr, 87f.)
Deshalb wüsste sie auch nicht viel von ihrer Mutter oder ihren Urgroßeltern, Landkaufleute aus der Steiermark, die trotz ihres Berufs eine „elegante“ und „vornehme“ Erscheinung hatten, und einen Sommersitz auf der Hohen Warte bei Wien. Die Mutter wird als hoch begabtes und äußerst musikalisches Lieblingskind (von drei Töchtern) beschrieben und die gemeinsam praktizierte Kammermusik als das zusammenhaltende Element der Familie, welches auch die Eltern verbunden hatte. Ihre „Selbstlosigkeit“ und „Bescheidenheit“ hatten der Mutter Verehrung von vielen Seiten eingebracht, andererseits erschwerten ihre geringen Fähigkeiten, über sich selbst zu sprechen einen Zugang zu ihr, was erhebliche Auswirkungen auf ihre Erziehung hatte. Auch wenn Hermine später die Einsicht äußert, „wie unmöglich es war, neben meinem Vater eigene Meinung und Willen zu bewahren“, so war das Verhältnis der Mutter nach Ansicht Hermines zu ihren Kindern doch von einer gegenseitigen grundsätzlichen Verständnislosigkeit geprägt. (FamEr, 94f.) Sie war, wie Hermine betont „keine Pädagogin“ und beschäftigte durch einundzwanzig Jahre eine gänzlich unfähige, alte grantige Kinderfrau im Hause, die uns Kinder […] weder beschäftigte noch erzog, ja nicht einmal körperlich gut pflegte. Wir hatten aber auch Lehrer, bei denen man nichts lernte, so wie meine Mutter später ‚Stützen der Hausfrau!‘ hatte, die höchstens sich selbst stützten. (FamEr, 96)
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Diese Defizite hätte, wie Hermine meint, ein ganz normaler Schulbesuch korrigieren können. Damit beginnt sie die Eigentümlichkeiten der Geschwister und ihre eigenen zu beschreiben: Mich hätte das z.B. aus meinem verträumten Egoismus, der mich förmlich hermetisch gegen meine Umwelt abschloß, herausgerissen. Meinem sehr schwer zu behandelnden Bruder Hans hätte es Disziplin beigebracht und so fort – und auf jeden Fall hätten wir ‚das Lernen‘ gelernt und eine Zeiteinteilung bekommen. Bei einigen meiner jüngeren Geschwister hätte es vielleicht aufgedeckt, was sie lernen und nicht lernen konnten […]. (FamEr, 96)
Dann beschreibt sie den Bruder Hans, an dem die Erziehungsfehler der Eltern deutlich sichtbar wurden. Es hätte eines Vermittlers bedurft zwischen dem Vater und dem Sohn, und die Mutter sei „zu fügsam und viel zu unsicher“ gewesen. Doch sei es nicht sicher, dass Hans in der Musik glücklich geworden wäre. Die Schwester sieht einen „verkrampften“ Zug in seinem Spielen und meint hier „ein Fehlen des gesunden jugendlichen Lebensgefühls“ festzustellen. (FamEr, 101f.) Und pointiert das ganze Dilemma: Während ich dies schreibe kommt mir zum Bewußtsein, daß mich dieser Abschnitt an einen Punkt geführt hat, der die große Tragik unseres Elternhauses enthüllt, und ich möchte am liebsten nicht weiter schreiben. Es war tragisch, daß unsere Eltern, trotz ihres großen sittlichen Ernstes und ihres Pflichtgefühls, mit ihren Kindern keine Einheit zu bilden vermochten, tragisch, daß mein Vater Söhne bekommen hat, die von ihm selbst so verschieden waren, als hätte er sie aus dem Findelhaus angenommen! Es muß ihm eine bittere Enttäuschung gewesen sein, daß keiner von ihnen in seine Fußtapfen treten und an seinem Lebenswerk weiter arbeiten wollte. [...] Mein Vater mußte schließlich einsehen lernen, daß das, was für ihn selbst gut gewesen war, für seine Söhne verhängnisvoll sein konnte, und die beiden jüngsten Söhne, Paul und Ludwig, wurden plötzlich ins Gymnasium geschickt. Mit diesem Schritt meines Vaters, der einer Kapitulation, einer Verleugnung seiner Überzeugung gleichkam und der ihm schwer gefallen sein mag, geschah doch bestimmt das einzig Richtige. Den Tod seines zweiten Sohnes, meines Bruders Kurt, der sich in den letzten Tagen des ersten Weltkrieges ohne ersichtlichen Grund auf einem Rückzug in Italien erschoß, hat er nicht mehr erlebt. (FamEr, 102f.)
Anschließend schildert sie den Tod der Mutter und ihre Freundin, die Sängerin Marie Fillunger, die sie in den letzten Jahren begleitet hatte: Ich weiß, wie unsere Gesichter sich entspannten, wenn die Fillu an unserem Tisch saß, wir konnten gar nicht genug bekommen von ihrem scheinbar brummigen Wesen, das so erheiternd wirkte in seiner Originalität. (FamEr, 193)
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Ein erneuter historischer Einschub skizziert die Situation in Wien am 3. April 1945. Die Russen haben Wien und Niederösterreich besetzt und stoßen nach Oberösterreich vor. Hermine ist mit der Familie in Gmunden und dadurch von allen unseren Freunden und unseren Angestellten, die wir ja auch zu unseren Freunden zählen – sowohl in Wien als auch auf der Hochreit – abgeschnitten […] Dabei geht aber unglaublicherweise das Leben hier fast ungestört weiter; ich wundere mich und entsetze mich darüber und lebe doch selbst, als ob sich nichts ereignete, ja, ich vertiefe und verbohre mich nur immer mehr und mehr in diese Erinnerungen, je näher eine Kriegsentscheidung zu kommen droht. (FamEr, 195)
Es folgen kurze Episoden aus der Kindheit der beiden jüngeren Brüder Paul und Ludwig, in denen sie ihre gegensätzlichen Interessen gegenüberstellt: Paul, den „Natur mit Blumen, Tieren, Landschaften übermächtig anzog“, und Ludwigs „großes technisches Interesse“. (FamEr, 106) Diese Jugendanekdoten werden von Schilderungen des Ersten Weltkrieges abgelöst. Es wird berichtet, dass Ludwig als Freiwilliger einrückt, stets um eine Versetzung an die Front ansuchte und einige Ehrungen erhielt; Paul, obwohl kriegsversehrt, rückte als Einarmiger wiederum ein und Kurt hatte eine Position als Offizier inne. Nennt sie auch bei Ludwig das patriotische Engagement gewissermaßen ein vielversprechendes Heilmittel für seine persönlichen Befindlichkeiten, hält sie doch Ludwigs Spende einer großen Geldsumme für die Entwicklung eines Mörsers für absurd: Wenn ich jetzt an den Zweck dieser Spende denke, so kommt sie mir gänzlich weltfremd ausgedacht vor, sie erinnert mich beinahe an den Witz von dem jüdischen Soldaten, der sagt: ‚ich kaufe mir eine Kanone und mache mich selbständig!‘ Man kann nämlich nicht quasi einen Mörser bestellen, wie man etwas anderes bestellt, wie z.B. mein Bruder Paul den Stoff für Tausende von Militärmänteln bestellte, die er dann nähen ließ. Wenn der Staat einen Mörser bauen will, so wird er dazu keinen Ludwig Wittgenstein brauchen. Die Spende ist denn auch einfach ungenützt geblieben, wurde schließlich in einen ‚Kaiser Karl-Wohltätigkeits-Fond‘ umgewandelt und zerfloß in nichts durch die Inflation. (FamEr, 112)
Daneben nennt sie noch eine Reihe anderer Geldverschwendungen in der Familie und kritisiert das unreflektierte Spenden und damit auch das lockere Verhältnis ihrer Generation zum Geld. Beschreibt sie anfangs mit der freiwilligen Meldung der Brüder Ludwig und Paul noch die anfängliche Kriegseuphorie der Familie, kritisierte sie kurz darauf das gedankenlose Spenden, auch für den Krieg, und stellt damit zumindest ansatzweise das Kriegsengagement in Frage. Nachdem Hermine Wittgenstein das unglückliche Schicksal ihrer älteren Brüder beschrieben hat, kommt sie im fünften Kapitel zu den jüngeren Brüdern, zu Paul und Ludwig, beginnt mit einer Gegenüberstellung, um dann lediglich Ludwig genauer zu skizzieren. Während sie Ludwig ein ausführli-
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ches Kapitel widmet, auch Margarete und sich selbst, werden Paul und Helene (‚Lenka‘) nur im Zusammenhang mit dem Jahr 1938 erwähnt. Ein historischer Einschub erläutert, dass die Wohnung in der Alleegasse von einer Bombe getroffen wurde und die Kunstgüter nun auf der Hochreit lagern. Da dieses Gut bald zum engsten Frontgebiet gehörte und das deutsche Generalkommando dort einen Sitz hatte, wird jedoch mit seiner Zerstörung gerechnet. Einige Seiten weiter erwähnt die Autorin am 5. Mai 1945, dass nun mit Ende des Krieges amerikanische Soldaten in Gmunden eingezogen sind, damit die russische Gefahr abgewendet und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Margarete gegeben sei. Aus Erleichterung darüber widmet sie das folgende Kapitel ihrer Schwester. Margarete ist die Jüngste der Schwestern und eine, wie Hermine schreibt, ihr „so unendlich nahestehende und von mir so unendlich verschiedene Schwester“. (FamEr, 122) Die Beschreibung des Hauses in der Kundmanngasse, welches Ludwig zusammen mit dem Architekten Paul Engelmann für seine Schwester Margarete – unter ihrer Mitarbeit – in den Jahren 1926 bis 1928 entworfen hatte, dient Hermine zugleich als Beschreibung der Schwester, wenn sie die herrschaftliche Gestalt des Hauses mit dem Charakter der Schwester vergleicht. Hermine betont ihre Schönheit und Verachtung jeder Konvention und beschreibt sie als vielseitig begabt und kreativ, optimistisch und selbstbewusst sowie als „fanatisch aktiv“ in Seelendingen: Die Erziehung, Besserung, Hebung des Einzelnen, das Aufklären und Aufdecken von gut und böse, recht und unrecht war ihr Hauptberuf geworden, und sie selbst wurde für eine Menge Menschen der leuchtende Mittelpunkt, ja wirklich eine Art Leuchtturm und Wegweiser. (FamEr, 124)
Hermine selbst fühlt sich, wie sie schreibt, „nur von dem vagen Wunsch geleitet“ nichts „Unrechtes zu tun“, während Margarete zielorientiert „einen bestimmten Weg auf der Suche nach dem Rechten“ verfolge. (FamEr, 127) Hermine betont die Vielseitigkeit ihrer Schwester, ihre Ausbildung in Chemie und ihre Arbeit in einem chemischen Laboratorium in Zürich sowie ihre mathematischen Studien. Heterogen wird auch ihr Freundes- und Bekanntenkreis beschrieben, von Richard Seyß-Inquart, der das erste moderne Jugendgefängnis initiiert hatte, bis zu Sigmund Freud. Lebt der Rest der Familie eher zurückgezogen, steht Margarete im Licht der Öffentlichkeit, weniger als Mäzenin, Förderin der Akademie der Wissenschaften, der Universität Wien oder zahlreicher karitativer Einrichtungen, sondern vor allem als Mitarbeiterin der Hoover-Kinderhilfsorganisation während des Ersten Weltkrieges im Schweizer Exil oder danach als „Österreich-Botschafterin“ Vorträge in den Vereinigten Staaten haltend, in Kirchen, Tempeln und Konzertsälen, über die Nöte ihrer Heimat. Gerade anfangs wurde der Schwester gesellschaftliche Ablehnung entgegengebracht, unter der insbesondere auch ihr Mann Jerome als Deutsch-Amerikaner litt, der über eine labile Natur verfügte. Er konnte jedoch durch den allmählichen Erfolg Margaretes und
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seine finanziellen Subventionen für die Akademie der Wissenschaften in Wien beim österreichischen Wiederaufbau helfen. Aus dieser Zeit weiß die Autorin keine Einzelheiten zu berichten, wie sie schreibt, und erklärt es damit, dass sie damals sehr mit sich selber beschäftigt war. Damit beginnt die Selbstbeschreibung der Autorin. Hermine Wittgenstein erzählt, wie sie während des Ersten Weltkrieges Beschäftigung in einem Spital gefunden hatte und anschließend mit einem „Gefühl der Öde“ konfrontiert wurde, aus dem heraus sie plötzlich das Bedürfnis hatte, ihr Leben zu ändern: […] die erschreckende Klarheit, daß sich mein Leben, das vor dem Krieg mit Malerei und allerlei kleinen Pflichten ausgefüllt war, von Grund auf ändern müsse. Ich fühlte, daß mir jetzt eine praktische Beschäftigung von nöten sei, und zwar eine, die mich in Berührung mit Menschen bringen müßte, aber worin sollte diese Beschäftigung bestehen? Ich hatte ja nichts Brauchbares gelernt und ich war dreiundvierzig Jahre alt. (FamEr, 134f.)
Sie hatte zwar die Malerei als „eine Art gesunden Handwerks“ beim Künstler Franz Hohenberger gelernt, aber das Malen war mir das, als den Egoismus und die Eigenbrötelei fördernd, verleidet. Ich wußte absolut nicht, wo einen neuen Haken einzuschlagen, denn ich suchte eigentlich eine Beschäftigung gegen meine natürlichen Anlagen, und diese Verkeilung von Wunsch und Gegenwunsch machte mich beinahe melancholisch. (FamEr, 135)
Nach langer Zeit mühsamen Suchens „nach der mir gemäßen Tätigkeit wurde ich endlich an eine äußerst tüchtige und energische Frau, die Baronin Leitner, gewiesen; sie hatte, als Vorsteherin eines Vereins eine Anzahl Tagesheimstätten zu überwachen, in denen Kinder, deren Väter im Krieg gefallen waren und deren Mütter in Arbeit standen, nach der Schule betreut wurden.“ Dort wurde ihr Fräulein Mildner vorgestellt: „Fräulein Mildner und ich schnappten sozusagen auf einander ein: ich hospitierte eine Zeit lang in ihrer Gruppe und sie vertraute mir bald die Buben an ihren dienstfreien Tagen an.“ (FamEr, 136) Später half sie ihrer Freundin Helene Lecher (geb. von Rosthorn 1865–1929) in deren Erholungsstätte für tuberkulosegefährdete Kinder in Grinzing zu betreuen und die anfänglichen Zweifel schwanden: Dabei lernte ich doch auch allerlei und ich weiß jetzt zurückschauend, daß jeder dieser Schritte nötig war, um schließlich den Gedanken in mir entstehen zu lassen, selbst eine kleine Tagesheimstätte für arme Buben zu gründen und zu leiten. (FamEr, 137)
Sie beschreibt die verschiedenen Schritte der Gründung und betont anschließend:
204 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS […] und stürzte mich in die mir ganz neue Aufgabe mit größter Angst, aber wissend, daß es sich um eine für mich lebenswichtige Sache handelte, mit der ich fertig werden mußte. (FamEr, 138)
Sie schildert die große Aufgabe, für die sie eigentlich viel zu unerfahren war und nur aus Glück vor einem Unglücksfall bewahrt wurde, denn es war eine „improvisierte Tagesheimstätte“, geleitet von einer „unpraktischen Person in einer unruhigen Zeit“. Sie stellte Frau Mildner ein, die ihre eigenen Defizite, wie mangelnde Aufmerksamkeit und Autorität, ausglich und überließ ihr alles, wozu große Disziplin notwendig war: […] ich hatte die Schulaufgabenhilfe, das Singen, Zeichnen, verschiedene Beschäftigungen und die Spaziergänge mit den Buben als meinen besonderen Arbeitskreis vorbehalten und ich muß gestehen, daß ich den Buben, außer in den wirklichen Spielstunden, wenig Ruhe ließ. Es mußte immer etwas geschehen und sonderbar, gerade diese ersten Buben, an denen ich meinen ganzen Energieüberschuß nicht ohne Kämpfe ausgelassen habe, gerade diese sind die allertreuesten geblieben, und wenn wir später zusammenkamen, so war des Erinnerns an alle Situationen und Geschehnisse aus der Anfangszeit kein Ende. (FamEr, 142)
Sie schildert auch ihren Lernprozess, dass es naiv war, „gefährdete Knaben aus schlechten häuslichen Verhältnissen“ in die Anstalt aufzunehmen, weil diese keine Disziplin kannten und auch von zu Hause nicht dazu angehalten wurden und beschränkte sich in der Folge daher auf Knaben aus „armen, aber ordentlichen Familien“. Da es ihr an natürlicher Autorität fehlte, kostete sie ihre Tätigkeit viel Energie: „Ich war fast immer grenzenlos unzufrieden mit mir, aber im Ganzen ging die Sache ja doch gut weiter.“ (FamEr, 143) Sie führte die Tagesstätte über 17 Jahre. Doch zu Ende des Jahres 1937 zeichnet sich bereits ein Wandel ab: Das Gefühl einer drohenden politischen Krise lag in diesem Jahr schon deutlich in der Luft und ich wußte genau, daß meiner Tätigkeit durch ein Siegen des Nationalsozialismus ein jähes Ende gesetzt sein könnte, aber gerade zu Weihnachten ging mir dieses Gefühl verloren, ja, alles schien mir unter einem schönen Stern zu stehen […]. (FamEr, 147)
Sie beschreibt noch in aller Ausführlichkeit das Weihnachtsfest im Jahr 1937. Doch bald darauf setzten die politischen Veränderungen ein, und Hermine schildert, wie unbegreiflich es war, nicht erkannt zu haben, das „unaufhaltsam das Rad ins Rollen gekommen war, das uns hinweg schleudern sollte“: Die Unterredung von Bundeskanzler Schuschnigg mit Hitler auf dem Obersalzberg, die „praktisch genommen […] einer Doppelregierung gleichkam“, entledigte die österreichischen Nationalsozialisten „aller Fesseln“ und „schon im März darauf war blitzschnell die Besetzung durch deutsche Truppen vollzogen“.
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Daß ich in diesem Fall meiner jüdischen Abstammung wegen die Beschäftigungsanstalt nicht würde weiterführen können, das war mir von vornherein klar gewesen, nur konnte ich mir nicht vorstellen, wie das Ende sich abspielen werde, […] da erschienen plötzlich einige Männer mit dem Abzeichen der nationalsozialistischen Partei und erklärten uns kurz und bündig, wir hätten um vier Uhr nachmittags das Haus, welches wir damals innehatten, vollständig geräumt der Hitlerjugend zu übergeben. […] die ganze Knabenbeschäftigungsanstalt [zerfiel] sang- und klanglos ins Nichts, denn ihr Inhalt und ihr Zweck, die Kinder, waren ja schon von einer anderen Organisation einfach weggesaugt worden. (FamEr, 149)
Um aber doch nicht „mit diesen traurigen Worten die Beschreibung einer mir wichtigen Lebensperiode abschließen zu müssen“, hält sie noch „ein paar hübsche Augenblicke“ fest. (FamEr, 149) Es folgt seitenlang die Beschreibung, wie sie es selbst nennt, „harmloser Szenen“ aus dieser Zeit der Beschäftigungsanstalt, bevor sie die Ereignisse von 1938 beschreibt, mit einer höchst eindringlichen Einleitung beginnend: Nun sollen andere, sehr ernste drankommen, nämlich die Ereignisse der Jahre 1938 und 1939, so wie sie sich auf unsere engste Familie auswirkten, und zu ihnen gehört auch ein Fehler, den meine Schwester Gretl, mein Neffe Arvid Sjögren und ich im Jahre 1938 begangen haben. Es liegt mir im höchsten Ernst daran, daß dieser Fehler, der uns in Untersuchungshaft und auf die Anklagebank gebracht hat, in völlig authentischer Form auf meine Neffen und Nichten und ihre Kinder gelange […]. (FamEr, 152)
Das Kapitel sieben beginnt mit den Ereignissen der Jahre 1938/39: Halb Wien täuschte sich damals geflissentlich, und es wurde gesagt und geglaubt, daß in Wien die Nürnberger Gesetze einfach nicht durchgeführt werden könnten, weil die ganze Bevölkerung Wiens viel zu sehr mit Juden untermischt sei. Ein verhängnisvoller Irrtum und Trugschluß, denn erstens wirkte gerade die große Ansammlung von Juden und jüdisch Versippten aufreizend und nichts weniger als hindernd, zweitens konnte unter dem Nationalsozialistischen Regime alles durchgeführt werden […] Unsere engste Familie hatte sich nie für Juden gehalten, weil unsere drei nicht arischen Grosselternteile alle getauft waren (im Falle Kalmus auch die Urgrossmutter), und so verblendet waren wir, dass sich niemand von uns die Mühe nahm, die Nürnberger Gesetze überhaupt anzusehen. (FamEr, 154f.)
Hermine nennt es „Verblendung“, Möglichkeiten, die es im Jahr 1934 noch gegeben hätte, wie die Liechtensteiner Staatsbürgerschaft anzunehmen, von der Hand gewiesen zu haben. Sie schildert die damaligen Gründe: Ich erinnere mich, wie Paul mir eines Morgens nach dem ‚Umbruch‘ (dies der offizielle Name für die Einnahme Österreichs) mit bleichem Entsetzen mitteilte, wir gälten als Juden. Ich selbst, in meiner Weltfremdheit, konnte mir nichts anderes dabei vorstellen, als dass mich vielleicht einige Leute nicht mehr grüßen würden, und mein
206 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Leben, das sich beinahe nur in meinen vier Wänden abspielte, wäre vielleicht wirklich zuerst kaum berührt worden, mit Ausnahme des Verlustes meiner Tagesheimstätte […]. (FamEr, 156)
Ihrem Bruder Paul hingegen, Professor für Klavier am Neuen Konservatorium in Wien, der sich „trotz seiner Verstümmelung einen Namen als Konzertspieler und Lehrer gemacht“ hatte, vermittelte seine Tätigkeit „große Befriedigung“, doch: „Als Jude durfte er sie aber nach dem Umbruch nicht mehr ausüben, und niemand kann sich vorstellen, was das für ihn bedeutete.“ Damit gemeint ist die im Juni 1938 durchgeführte Beamtenreform mit einem Gesetz zur Erneuerung des „ostmärkischen“ Beamtentums, bei der nach nationalsozialistischer Manier ‚gesäubert‘ wurde, und diejenigen zu gehen hatten, die rassisch gesehen unpassend waren. Paul hatte damals zuerst den Gedanken, wie sie schreibt, in Österreich eine ‚arische Gleichbehandlung‘ zu erwirken: Paul kam nun zuerst auf den Gedanken, hier in Österreich für unsere Familie auf Grund ihres Rufes und ihrer sozialen und patriotischen Leistungen eine ‚arische Behandlung‘ zu erwirken; eine Zusicherung dieser Art konnte er zwar nicht erreichen, doch wurde uns auf irgendeine Weise zugetragen, daß wir wohl bereits einen unterirdischen Schutz genießen mochten, was sich später auch entschieden bewahrheitete. (FamEr, 156f.)
Doch der Ernst der Lage wurde allmählich realisiert. Als nächster Schritt wurde von Hermine, „im Auftrag von Gretl“, eine Zusammenstellung aller besonderen Leistungen der Familienmitglieder vorgenommen, um diese in Berlin vorzulegen und zu zeigen, dass der Großvater, wie die übrige Familie „nichts Jüdisches an sich trage“: Das war ja bei meinem Großvater Hermann Wittgenstein ganz besonders auffallend, und ein Zweig der Familie war so fest überzeugt davon, daß Hermann Wittgenstein nicht jüdischer Rasse, sondern vielleicht ein angenommenes Kind gewesen sei, daß ein Sippenforscher nach Korbach, seinem Geburtsort, geschickt wurde, um irgendeine positive Bestätigung dieser Vermutung zu erbringen. Was er brachte war nur eine Bestätigung, daß er den Namen Hermann Wittgenstein in den Matrikeln nicht aufgefunden habe, also kein Beweis, aber immerhin soviel, dass Einige die Rassezugehörigkeit vorläufig als nicht völlig erwiesen hinstellen konnten. Um die ‚arische Behandlung‘ womöglich doch zu erlangen, fuhren Gretl und Paul, versehen mit meiner schönen übersichtlichen Darstellung, nach Berlin und drangen bis zu hoher Stelle vor, aber vergebens, ‚ein zweiter arischer Großelternteil sei nötig‘, hieß es. (FamEr, 157)
Auf diesen Ablehnungsbescheid hin war die Einschätzung der Situation zwischen den Geschwistern eine unterschiedliche:
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Paul verglich sie mit einem brennenden Haus und sagte, sie rechtfertige den Sprung aus dem Fenster, nämlich die Flucht aus Österreich unter Zahlung der Reichsfluchtsteuer; ich konnte und wollte aber diese Auffassung nicht teilen, da sie mich vor große seelische Verluste und vor Probleme gestellt hätte, die ich mich nicht zu meistern traute. (FamEr, 158)
Daraufhin engagierte sich die Schwester Margarete, die „als Amerikanerin viel durchsetzen konnte und die mit einer Menge hoher Funktionäre in Österreich bekannt war, für ihn zu erwirken, daß er befristet, d.h. mit ehrenwörtlicher Zusage der Rückkehr, ins Ausland reisen könne.“ (FamEr, 159) Paul hingegen versuchte die Schwestern zu überreden, die Reichsfluchtsteuer zu zahlen und ihm nachzufolgen und bot an, dann sein Vermögen mit ihnen zu teilen. Doch Hermine hatte Bedenken: Dieser Plan war mehr oder weniger eine egoistische Angelegenheit und egoistisch war auch meine Reaktion, denn so wie Paul durch ein Auswandern nur gewinnen konnte, konnte ich nur verlieren: meine Freunde und Schützlinge, meine übrige Familie und meinen kleinen Wirkungskreis in der Familie, mein Gut Hochreit, alles, alles hätte ich hergeben müssen, noch dazu ohne die unbedingte Notwendigkeit einzusehen. Die Sorge um meine vielen Schützlinge und Angestellten quälte mich auch und ich wußte überdies, daß Lenka und ihr Mann bei einer Auswanderung, die sie von ihren Kindern und Enkeln trennen mußte, ihren ganzen Lebensinhalt und ihr Lebensglück verlieren würden. Ich weigerte mich also, den Plan zu unterstützen und litt dabei schwer unter dem Zweifel, wo meine Pflicht liege und von welcher Seite die Sache angeschaut und angegangen werden müsse. Eine große Angst und Hilflosigkeit begann sich in mir aufzutürmen. (FamEr, 159)
Als es deutlich wurde, dass es Krieg geben werde, rieten Paul und Margarete, so die Darstellung von Hermine, die jugoslawische Staatsbürgerschaft zu kaufen, um mit diesen Pässen im äußersten Notfall ins Ausland flüchten zu können: Sie sagte, man wisse im Ausland, daß ein Krieg Deutschland fast unmittelbar bevorstehe, man wisse auch, daß dann gegen die Juden vorgegangen würde, daß sie in Lager gesteckt, ungenügend genährt, schlecht behandelt würden. Alles dieses könne Lenka unmöglich ertragen, und es sei daher unbedingt nötig, sie aus ÖsterreichDeutschland herauszubringen. Auf dem gewöhnlichen Weg sei das ganz unmöglich, aber es gebe einen Ausweg: man könne um Geld die jugoslawische Staatsbürgerschaft kaufen, dann bekomme man einen fremden, keinen falschen Pass, mit dem man aus- und einreisen könne […] auch für Paul sei es unbedingt nötig, daß unsere Ausreise zustande komme, da er über sein Geld im Ausland verfügen wolle und das nicht könne, so lange er uns als Juden gefährdet in Österreich wisse. Gretl sagte, Paul könnte mir später den Vorwurf machen, ich habe ihn um sein Vermögen gebracht, es sei also meine Pflicht, Lenka die Sache zu erklären und ihre Einwilligung zu erlangen. (FamEr, 161)
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Hermine schildert ihre Gefühle, nun einem „unentrinnbaren Zwang verfallen“ zu sein und keine Handlungsfreiheit mehr zu haben. Rieten auch andere Freunde und Familienmitglieder von dem Plan ab, Hermine bemühte sich dennoch um die Pässe. Sie schildert das Misslingen der Aktion, die Verhaftung der drei Geschwister und ihres Neffen Arvid Sjögrens und die darauf folgende, weitgehend geheim gehaltene, Gerichtsverhandlung, sowie ihren Freispruch. Bedrohlich wurde es wieder, als der Staatsanwalt Berufung einlegte: In unserem Fall konnte das geradezu unsere Vernichtung bedeuten, denn die Sache wäre dann an eine höhere Instanz nach Berlin gegangen, dort hätten wir nicht als die Damen Stonborough und Wittgenstein gegolten, die einem Schwindler geglaubt hatten, sondern als zwei alte Jüdinnen, die mit falschen Pässen jonglierten. […] Gretl und gute Freunde fanden aber doch wieder Mittel und Wege, um ihn abzuwehren. (FamEr, 174f.)
Bestehen blieb die Sorge um das Vermögen. Tatsächlich war es zu diesem Zeitpunkt etwas sehr Ungewöhnliches, dass eine jüdischstämmige Familie noch über ihren gesamten Auslandsbesitz verfügte. Hermine selbst merkt in den Familienerinnerungen an: Bei dieser Besprechung erwähnte Dr. Schöne [Vertreter der Reichbank] so beiläufig, daß jemand in Berlin, anläßlich eines Gesprächs über unsere Familie, die noch im Besitz ihres ausländischen Vermögens sei, gefragt habe: ‚Und die laufen noch alle frei herum?‘ Wahrlich eine bezeichnende Äußerung für die damalige Zeit! (FamEr, 176)
Es folgt die Beschreibung der langwierigen Verhandlungen mit der Reichsbank in Berlin, aber auch mit ihrem Bruder Paul in New York, bei welchen auch Ludwig gemeinsam mit dem Vermögensverwalter Groller mitwirkte. Man beabsichtigte, gegen Abgabe eines Großteils der im Ausland befindlichen Devisen für Paul eine Ein- und Ausreisegenehmigung zu erhalten sowie den anderen Familienmitgliedern einen ungestörten Aufenthalt in Österreich zu garantieren. Hermine beschreibt, wie sich Paul dem Vergleich mit der Reichsbank widersetzte. Doch die Verhandlungen wurden zu einem positiven Abschluss geführt: Der Großvater wird zum „Arier“ erklärt und die Geschwister als Mischlinge ersten Grades eingestuft. Tatsächlich kam der Vergleich zwischen Paul und der Reichsbank erst am 21. August, kaum zwei Wochen vor Ausbruch des Krieges zur Unterzeichnung, und am 30. August 1939, wahrlich in allerletzter Stunde, hielten wir endlich die Zuteilung der Mischlingseigenschaft in Händen. Wieder muß ich über meine unbegreifliche Blindheit erstaunen, die bewirkte, daß ich die Gefahr damals einfach nicht sah. Der Krieg schien mir immer noch abwendbar und von der Judenverfolgung, die bestimmt vor uns nicht halt gemacht hätte, ahnte ich trotz aller Anzeichen nichts. Ich war daher
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nicht annähernd dankbar und beseligt genug über diese Lösung, und erst jetzt, insbesondere seit dieser schriftlichen Niederlegung des ganzen Sachverhaltes ahne ich, was damals knapp an uns vorbeigegangen ist und heiße Dankbarkeit überströmt mich! (FamEr, 180)
Das folgende Kapitel widmet sie den zahlreichen Geschwistern des Vaters, weil sie es deren Einfluss zuschreibt, dass ihnen die ‚Mischlingseigenschaft‘ gewährt wurde: So leuchtete es mir plötzlich ein, daß bei der Zuteilung unserer Mischlingseigenschaft nicht allein der Einfluß meiner Schwester Gretl oder das Geld, welches die Reichsbank erlangen wollte, eine Rolle spielten, sondern daß zu den helfenden Faktoren vornehmlich der Ruf gehörte, den die Familie Wittgenstein seit fast hundert Jahren in Österreich genoß, und da gedachte ich in ernster Dankbarkeit der Geschwister meines Vaters, denen ein Großteil des Verdienstes an dem Ruf zufällt. (FamEr, 182)
Sie alle hatten in die Wiener Oberschicht eingeheiratet. Sie beginnt mit der ältesten Schwester Anna (Franz) und erwähnt die Erhebung der Familie aufgrund ihrer Verdienste in den Baronstand. Bei Tante Marie (Pott) wird ihre „seelische Energie“ beschrieben, bei Onkel Paul seine künstlerische Veranlagung und die Unterstützung für ihren Bruder Ludwig in den frühen Jahren seiner philosophischen Studien. Tante Bertha wird als energische und impulsive Unternehmerin beschrieben, ihr Mann Karl Kupelwieser als derjenige, der seine Geschäftsinteressen mit jenen ihres Vaters erfolgreich verknüpfte und der in weiterer Folge vor allem in der Wissenschaft als Mäzen (u.a. des Instituts für Radiumforschung in Wien) agierte: Karl Kupelwieser und seine Frau waren unter den Ersten, die das Schicksal ihres Vermögens mit der Tätigkeit und der immer aufstrebender sich zeigenden Begabung meines Vaters verknüpften. Das kam ihnen und in zweiter Linie der Allgemeinheit sehr zu gute […]. Karl Kupelwieser schreibt darüber einmal, er habe nicht nur die Verpflichtung gefühlt, von seinem Überfluß für gemeinnützige Zwecke zu geben, sondern es auch für eine Gewißenssache gehalten, durch sorgfältige Auswahl für die zweckmäßige Verwendung seiner verfügbaren Mittel zu sorgen. (FamEr, 193)
Ihrem tatkräftigen Vater Karl wird nicht nur sein künstlerischer Bruder Paul gegenüber gestellt, sondern auch sein etwas zu gutgläubiger jedoch auch voraussehender Bruder Louis, der das Vermögen der Familie nach dem Ersten Weltkrieg vor der Inflation gerettet hatte, weil er es im Ausland verankert hatte. Bei den Tanten Fine (Oser), Lydia (Siebert) und Milly (Brücke) verliert sie sich in detaillierte Charakterschilderungen. So betont sie beispielsweise bei der Tante Clara ihre unauffällige Vornehmheit und Herzlichkeit und die „Selbstzucht“, ebenso ihren Willen zur Erziehung der sie umgebenden Menschen und beschreibt einen typischen Aufenthalt bei ihr in Laxenburg, den Spaziergang durch Felder und Wiesen, „unterbrochen von
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sehr erfreulichen Mahlzeiten – das Vierhändigspielen, das Lesen einer schönen Buchstelle, das Besichtigen des prächtig gepflegten Gemüsegartens“. Die Tante war sehr beliebt: Es freut mich aber auch erzählen zu können, daß viele Jahre später und in einer bösen Zeit, in der der Name Wittgenstein nichts mehr galt, der nationalsozialistische Bürgermeister von Laxenburg die Gefahr auf sich nahm, ihr als der Wohltäterin des ganzen Orts Blumen und einen dankbaren Nachruf aufs Grab zu legen. Das war mehr als ein Denkmal! Die ‚Kaiserin von Laxenburg‘ nannte sie eine ihrer Schwestern im Scherz nach so einem Parkspaziergang, und irgendwie stimmt das mit einem Wort zusammen, das mir Direktor Groller, der treue Ratgeber unserer Familie […] versicherte mir oft, erst mit dem Tod dieser Frau sei für ihn die alte Zeit, das alte Österreich, die Monarchie für immer versunken. (FamEr, 228f.)
Es folgen „Erinnerungen an Rosalie“, die Haushälterin und Gesellschafterin der Großmutter Kallmus, die Hermine und ihren Geschwistern „viel bedeutete“ und die selbst dann bis zu ihrem Tod von Hermines Mutter gepflegt wurde. In den Familienerinnerungen sind an diversen Stellen die großzügigen Hinterlassenschaften für langjährige, oft lebenslange, Hausangestellte zu deren Absicherung angeführt. Dazu kommt auch die Sprache auf das Erbe, von den verschiedenen Anlageformen, die je nach gesellschaftlicher Situation (Erster Weltkrieg) richtig oder eben falsch gewählt wurden. Betont wird auch die immer wieder aufgetretene Solidarität des gleichmäßigen Teilens innerhalb der Familie, auch wenn es ein Testament anders vorsah. Als edel gilt in der Familie das übliche verborgene Schenken, dennoch listet sie hier vieles auf, was so zumindest im Nachhinein eine gewisse Urheberschaft bekommt. Im Oktober 1948 entsteht das letzte Kapitel der Familienchronik, mit dem Nachruf für die Lieblingsnichte Marie, die Tochter ihrer Schwester Helene. Ich habe mir vor nicht langer Zeit auf diesen Blättern die Frage gestellt, in welche Richtung mich diese Erinnerungen wohl führen werden und wie sich einmal das Abschlußkapitel gestalten werde. Damals ahnte ich nicht, woran ich mit dieser Frage rührte, aber das Schicksal selbst hat mir seither durch ein schweres Familienunglück den ernsten Gedankenweg unabweichbar vorgezeichnet und dieses letzte Kapitel muß ein Nachruf werden für eine geliebte Tote. (FamEr, 242)
Dieses Kapitel ist besonders persönlich formuliert, hatte Marie doch von Kindheit an ein besonderes Verhältnis zu Hermine und zum Familiengut Hochreit, welches 1939 in Maries Mitbesitz überging. Am Beispiel der Nichte beschreibt Hermine die Auswirkungen der nationalsozialistischen Zeit auf den Alltag und wie sehr die gläubige katholische Familie Stockert unter der NS-Herrschaft litt. Denn Marie Stockert hatte als Mutter von sieben Kindern „keine Möglichkeiten“, ihre Kinder dem „Zwang der national-
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sozialistischen Erziehungs- und Anschauungsweise zu entziehen“. (FamEr, 245) So wurde beispielsweise ihr ältester Sohn Ludwig aufgrund des unbegründeten Verdachts, einer geheimen katholischen Organisation anzugehören, mehrere Tage von der Gestapo langen Verhören unterzogen. Die Angst um ihre beiden Söhne, die zum Heer eingezogen worden waren, hatte, wie Hermine schreibt, nicht zuletzt die vorhandene Religiosität wesentlich verstärkt und „ein lebendiges Verhältnis zum katholischen Glauben“ evoziert, der Glück und Halt gab. (FamEr, 247) Die Familienerinnerungen enden: […] es bleibt mir jetzt nur noch übrig, von diesen Familienerinnerungen wehmütig Abschied zu nehmen. Durch fast fünf Jahre haben sie mir eine beglückende Beschäftigung gegeben, sie haben mir eine längst versunkene schöne Zeit zurückgezaubert und geliebte Verstorbene zu neuem Leben erweckt. Sie haben, was fast das Schönste ist, mich mit meiner Familie, für die ich ja schreibe, besonders verbunden. Wie oft kam Mariechen noch in diesem Sommer mit der Frage in mein Hochreiter Zimmer: ‚Hast Du wieder etwas neues geschrieben?‘ um dann das Neue voll Interesse anzuhören und durch Beistimmung oder Kritik gleichermaßen anzuregen. Ach, viele habe ich schon durch den Tod verloren, denen ich gerne die ersten Teile vorlas und jetzt lege ich den Übrigen das Ganze in die Hände und denke wieder dabei: ‚Möchte es ihnen Freude bereiten.‘ (FamEr, 250)
Ein kurzer Nachtrag am 8. April 1949 deutet an, dass das letzte Kapitel unvollendet geblieben war, wegen zunehmender geistiger und körperlicher Schwäche der Autorin, die neun Monate später am 11. Februar 1950 starb. Ihre letzte Ruhestätte fand sie in der Familiengruft am Wiener Zentralfriedhof.
2. „E LABORIERTE G ESCHICHTEN “: E IN PROBLEMORIENTIERTER B LICK In den Familienerinnerungen finden sich mehrere Geschichten mit einer besonderen „autobiographischen Aufladung“. Reinhard Sieder nennt diese emotional besetzten Erinnerungen „elaborierte Geschichten“, weil jene ausführlich eingeleitet sowie mit einem Höhepunkt und oft einem kommentierenden Schluss versehen sind, auch wenn sie in den Textfluss des Gesamttextes eingefügt sind.2 Hier wird auf diese einzelnen Kapitel, die entweder durch ihren Inhalt oder den Stil als solche elaborierte Geschichten auffallen näher eingegangen; aber auch auf die Brüche im Text und auf so genannte ‚Leerstellen‘, wo die Erzählung selbst, das Genre oder andere Quellen eine genauere oder eine andere Erzählung gefordert hätten. Die Textanalyse, in-
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Reinhard Sieder, Gesellschaft und Person: Geschichte und Biographie. Nachschrift, in: Ders. (Hg.), Brüchiges Leben. Biographien in sozialen Systemen, Wien 1999, 234–264, 250.
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spiriert von autobiographietheoretischen und literaturwissenschaftlichen Überlegungen, beleuchtet nachfolgend die Struktur der Familienchronik und stellt themenbezogene und problemorientierte Fragen. 2.1 Text und Kontext: Schreibsituation und Schreibmotive Als Schlüsselstellen für eine Textinterpretation gelten gemeinhin der Beginn und das Ende von auto-/biographischen Texten, denn sie verraten zumeist etwas über die Schreibmotivation und Schreibsituation des Autors oder der Autorin. Auch bestimmt der Bezug zum Selbst am Anfang oft den ganzen Text, gibt ihm Form und Bedeutung, schreibt Edward Said: „[...] a beginning authorizes, it constitutes an authorization for what follows from it.“3 Im Vorwort der Familienerinnerungen wird als Schreibanlass die verunsicherte Gegenwart des Zweiten Weltkrieges genannt: In dieser ernsten Zeit [1944], in der Menschen und Dinge gleichermaßen vom Untergang bedroht erscheinen, beginne ich noch rasch einige Familienerinnerungen festzuhalten, zum Teil um mich selbst daran zu erfreuen, zum Teil um den jüngeren Mitgliedern der Familie ihre Vorfahren näher zu bringen. Es kann sich dabei nur um eine anspruchslose Aneinanderreihung von Einzelzügen und Einzeltatsachen handeln, um Strohhalme, die, wie das englische Sprichwort sagt, zeigen von welcher Seite der Wind weht. […] ‚Straw shows how the wind blows!‘ (FamEr, 1)
Die Familienerinnerungen entstehen unter dem Eindruck der Fliegerangriffe auf Österreich seit 1944, der Flucht auf den Sommersitz Hochreit und dann weiter nach Gmunden, der Trennung der Geschwister – der Ludwig ist in England, Paul und Margarete sind in Amerika – und einer erschwerten Kommunikation durch die Zensur. Hermine meint dahingehend, lediglich „Strohhalme“ bzw. ein „Mosaik“ abbilden zu können, formuliert in der einleitenden Widmung aber eine Verpflichtung gegenüber den Nachkommen. Erst im letzten Drittel des Textes erwähnt sie, dass die Idee zur Familienchronik ursprünglich von ihrer Schwester Helene gekommen war. In einem Einschub beschreibt sie ein familiäres Beisammensein auf der Hochreit im Juni 1944. Damals sei in einem Gespräch über vergangene Ereignisse und Personen von Helene der Gedanke gekommen, die Familienereignisse zusammenzuschreiben: Plötzlich sagt meine Schwester zu mir: ‚Du hast die Pflicht dies alles schriftlich festzuhalten, denn mit uns Beiden wird die Erinnerung an das Meiste, was jetzt erzählt wurde, unwiderruflich zu Grabe gehen!‘ Ich sah das wohl ein, hätte mich aber nie an diese Aufgabe gewagt, wenn mich nicht am nächsten Tag eine Erkrankung gezwungen hätte, nach Wien zu fahren und dort einige Wochen ganz still und einsam zu verbringen. Dort suchte ich mir die ersten Strohhalme zusammen, die anderen flogen
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Edward Said, Beginnings. Intention & Method, New York 1975, 34.
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mir zu und jetzt bin ich neugierig, wann und wo ich die letzten anfügen werde und wie sie beschaffen sein werden? (FamEr, 181)
An dieser späten Stelle, im Kapitel über die Jahre 1938/39, wird das eigentliche Zustandekommen der Chronik reflektiert. Darin liegt möglicherweise eine weitere Erklärung für die Entstehungszusammenhänge der Familienerinnerungen, wenn es auf der darauf folgenden Seite heißt: Im letzten Abschnitt habe ich mich bemüht, eine trockene Darstellung der Ereignisse zu geben, die in den Jahren 1938 und 39 die engste Familie erschütterten, und ich habe dabei empfunden, daß es gut ist, solche Ereignisse schriftlich festzuhalten, man wird gezwungen, mit Ernst zurückzublicken und sich vieles klar zu machen. (FamEr, 182)
War die familiäre Auseinandersetzung im Zuge des Anschlusses auch ein Grund für Hermine Wittgenstein die Familienerinnerungen zu schreiben? Erwähnt sind als Schreibanlass lediglich der Krieg, die Zerstörung und die Verzweiflung, die auf den historischen Zwischenblättern stets präsent sind, wie auch eine Krankheit, die die Autorin ans Haus fesselte. In der Folge sind die Gesundheitszustände einzelner Familienmitglieder immer wieder Thema. Dies charakterisiert generell Textzeugnisse, die unter dem Eindruck von Krankheit und Alter verfasst wurden, und trifft auch für Ludwig Wittgenstein zu, deutlich sichtbar in seinen emotionalen Briefen im letzten Lebensjahr an seinen Freund Ben Richards. Betont Hermine im Vorwort ihr Anliegen, den Nichten und Neffen die Familie nahe bringen zu wollen, ist ihr Schreiben nicht nur ein Instrument um gemeinsames Erbe zu überliefern, sondern auch, um Gemeinsamkeiten zu stiften, also sich selbst der Familie wieder näher zu bringen, wenn es im letzten Absatz heißt: „Sie haben, was fast das Schönste ist, mich mit meiner Familie, für die ich ja schreibe, besonders verbunden.‘“ (FamEr, 250) Ungenannt bleiben etwaige Vorbilder für die Familienerinnerungen – auf einige mögliche soll hier verwiesen werden, denn es gibt im unmittelbaren Familienumfeld Texte, welche die Autorin motiviert haben könnten. Hermine erwähnt Ludwig gegenüber in einem Brief vom Januar 1929 die autobiographischen Erinnerungen einer Freundin, die sie sehr beeindrucken: Ich komme gerade von Lydia Oser der ich Erinnerungen von Helene Lecher vorlese. Sie sind ganz kurz u. zum Teil ungeschickt (ich hatte selbst diesen Sommer mit H. L. ausgemacht, dass wir zusammen kleine Fehler ausmerzen wollten) aber sie sind doch lebendig u. geben etwas von ihrer Persönlichkeit und es macht mir grosse Freude sie Lydia Oser vorlesen zu können, da diese es offenbar sehr geniesst. (FamBr, 109f.)
Helene Lecher, Leiterin einer Kindertagesstätte in Grinzing, ist zwar als ihr persönliches Vorbild in den Familienerinnerungen erwähnt und beschrieben, aber nicht ihre niedergeschriebenen Erinnerungen. Ebenso unerwähnt bleiben Erinnerungen der verwandten Familie Oser, Berta Nohl und ihren
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Eltern Johann und Josephine Oser, die 1939 gedruckt wurden und in denen bereits Hermine Wittgensteins Sammeln von Erinnerungen beschrieben wird.4 Sie kommentieren die Tatsache, dass sie einige Erzählungen der gemeinsamen Großmutter Josefine Oser,5 der Schwester von Karl Wittgenstein, in Kalksburg, aufgeschrieben hat: „Die junge Generation stand stets im Schatten dieser fast sagenhaften, königlichen elf Geschwister, die bei aller nervösen Zartheit doch eine Vitalität hatten“, bis zumeist ins höchste Lebensalter. (Oser, 54) Hermine Wittgenstein wird hier etliche Jahre vor dem eigentlichen Schreibbeginn ihrer Familienerinnerungen als Chronistin in der erweiterten Familie wahrgenommen. Dass sie schon früher gelegentlich familiäre Aufzeichnungen machte, zeigen die Erinnerungen an das Hausmädchen Rosalie und die Hochreit, die sie bereits 1923 niedergeschrieben hat. Aus diesem Interesse heraus ist anzunehmen, dass sie die Erinnerungen der Familie Oser gekannt hat – auch aufgrund einiger Details, die ihrer Chronik ähnlich klingen wie in der Oser-Chronik, sei es aufgrund einer Vorbildwirkung oder weil in der stark vernetzten Wittgensteinfamilie ähnliche Bezugspunkte für die Familienzweige bedeutungsstiftend waren oder aufgrund des selben Genres. Aufgrund des hier dokumentierten Interesses Hermines für die Familiengeschichte erstaunt, dass sie jede Verantwortung für die Familienerinnerungen relativiert, indem sie die Idee und die Ermunterungen dazu ihrer Schwester Helene zuschreibt und sich selbst als lediglich Ausführende darstellt – obwohl sie bereits früher eigenständige familienbiographische Notizen verfasst hatte und diese Vermittlerrolle eigentlich ganz ihrer Position als Älteste der Geschwister entsprach. Diese Verweise, wie auch der, dass die Schwester und deren Tochter Marie den Schreibprozess aufmerksam durch die Zwischenlektüre der entstehenden Teile begleiten und korrigieren, relativieren die Bedeutung des eigenen Schreibens, ebenso wie die zahlreiche Verwendung von Konjunktiven. Zeigt sich hier ein Bescheidenheitsgestus vergangener Tage? Aus historischer Perspektive gesprochen, bedurfte das Schreiben über sich selbst nämlich lange Zeit einer Begründung, insbesondere für Frauen. Oder war es mehr die Unsicherheit angesichts der Darstellung der Kriegsereignisse, die Hermine zu diesen Relativierungen veranlasste?
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Berta Nohl und ihren Eltern Johann und Josephine Oser. Erinnerungen für ihre Kinder, Manuskript, gedruckt 1939. 54 Seiten Text, mit Photos von Berta Nohl, ihren Eltern sowie Porträts von Karl Wittgenstein und seinen elf Geschwistern. Als Quellen genannt sind ein 6-bändiges Konvolut von eigenen Briefen, wie die Erinnerungen von Paul Kupelwieser und die der Familie Gomperz-Wertheimstein. Autor ist der Ehemann von Berta Oser (1878–1936), der Reformpädagoge Herman (1879–1960), er bleibt jedoch auf der Titelseite ungenannt. Die Familie Nohl hat in Deutschland (Berlin, Jena, Göttingen) gelebt. Josephine Oser (1848–1933) wurde von Hermine und ihren Geschwistern Tante Fine genannt. Ihr Mann Johann Nepomuk (Muck) Oser (1833–1912) war Professor für Chemie an der k.k. Technischen Hochschule. Die Oser-Kinder hatten dieselbe Klavierlehrerin wie die Wittgenstein-Kinder, Marie Baumayer.
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Für die autobiographische Auseinandersetzung von Hermine Wittgenstein prägend war sicherlich die häufige Lektüre von Autobiographien und Biographien in der Familie: ob die Biographie von Clara Schumann oder Tolstoi, Sören Kierkegaards Das Tagebuch des Verführers, welches sie für den Bruder Ludwig besorgt hatte (FamBr, 48), oder die Gespräche mit ihm über die Memoiren von Dostojewski oder Tolstois Tagebuch, wenn sie ihm schreibt: Hast Du Tolstoi’s Tagebuch gelesen, ich noch nicht. Wenn es wirklich nur für ihn und gar nicht für die Öffentlichkeit geschrieben war, ist es eigentlich schrecklich dass das jetzt so in alle Hände kommt aber dann muss es ein grossartiges Document humain sein das man lesen sollte! (9.11.1917, IEAB)
Vorbildfunktion könnten im weitesten Sinne auch die Erinnerungen eines alten Mannes vom Wilhelm v. Kügelgen (1870) gehabt haben, die damals in jeder bürgerlichen Bibliothek zu finden waren und die in der Familie sehr verehrt wurden. Ein Familienhausbuch, welches charakteristisch ist für das 19. Jahrhundert: Die Suche nach Einheit und dem Zusammenhang des Lebens ist auf die Darstellung der Kindheitsidylle konzentriert und die anekdotenhaft, chronologisch geordneten Erinnerungen sind vom Bildungsgedanken Goethes geprägt.6 Ludwig Wittgenstein ließ sich das Buch von seinem Freund Rudolf Koder schenken (KoderBr, 61f.) und im Briefwechsel finden sich Verweise auf die Lektüre dieses Werkes in der Familie. Die gesamte Familie war von einer großen Hingabe an Bücher gekennzeichnet, ihre Moral und ihre Lehren, so wurden ihre Inhalte häufig in den Briefwechseln und Tagebuchaufzeichnungen detailreich ausgeführt und diskutiert.7 Einen besonderen Einfluss dürften darüber hinaus die autobiographischen Notizen gehabt haben, die der Vater Hermine in jungen Jahren diktiert hatte. Sie werden in den Familienerinnerungen ausführlichst zitiert und haben somit zum Inhalt der Familienchronik erheblich beigetragen. Um den authentischen Charakter ihrer Memoiren zu unterstreichen, verweist Hermine Wittgenstein wiederholt auf eine Materialsammlung verwendeter Archivalien, die sie im Anhang beifügen wollte, sowie auf eine Auflistung der Gemäldesammlung als objektivierte Kollektion von familiärer Tradition und Werten. Zugleich betont sie, sich bei den Beschreibungen der Familienmitglieder auf Briefe und andere Selbstzeugnisse gestützt zu haben. Das alles zeigt ihren Willen, angelehnt an die Kriterien einer Familienchronik, Historie zu schreiben. Doch mit den individuellen Porträts und den psychologischen Ausleuchtungen und Bewertungen mancher Situationen geht sie weit darüber hinaus. Viele der verwendeten Quellen werden in den Familienerinnerungen oft indirekt genannt, doch ein diesbezüglicher
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Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 175f. Vgl. zur Bedeutung der Lektüre und ihrer kulturellen Konnotationen: McGuinness, Wittgenstein, 71f.
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Anhang fehlt, auch wenn im Text selbst mehrmals darauf verwiesen wird. Die Autorin konnte ihn scheinbar vor ihrem Tod nicht mehr vollenden – oder er ging verloren. Doch alleine ihr Verzicht, die verwendeten Materialien im Text anzuführen (wie es beispielsweise die Erinnerungen der Familie Oser tun), demonstriert einen Gestus, in welchem die subjektive Ebene wichtiger ist als ein nachvollziehbares und objektivierbares QuellenSammelsurium. Trotzdem bringt die Autorin ein starkes Bewusstsein für den Charakter von Quellen zum Ausdruck, wenn sie betont, dass diese von väterlicher Seite wesentlich ergiebiger waren, reflektierter und selbstbewusster als das Material von der mütterlichen Seite, der es dafür an Aufmerksamkeit fehle. Dieser Mangel ist eine Eigenschaft, die sie ihrer Mutter immer wieder zuschreibt und die auf die ganze mütterliche Seite projiziert wird. Im Gegensatz dazu schildert sie ihr Verhältnis zum Vater, wie auch zum Bruder Ludwig, als ein vertrautes. Hier kommt eine klare Polarisierung zum Ausdruck. Dennoch ist die Struktur der Familienerinnerungen, abgesehen vom umfassenden Kapitel zum Vater, geschlechtsspezifisch ausgewogen. Die männlichen Erben stehen nicht dermaßen im Vordergrund, wie es in Form von Kapitelüberschriften oft in Genealogien und Chroniken jener Zeit praktiziert wurde. Hier zeigt sich vielmehr ein Spezifikum der Wittgenstein’schen Familiengeschichte: eine starke Dominanz der Frauen. Hermines Verweis auf das Vorhandensein eines lückenlosen Archivs auf Seiten des Vaters könnte von der Sippenforschung der Nationalsozialisten und ihrem Interesse an Genealogie beeinflusst gewesen sein. Eine Ironie am Rande: Die jüdische Herkunft der Familie konnte gerade nicht bewiesen werden, wegen Lücken im Archiv in Korbach, wo die väterliche Linie hätte verzeichnet sein sollen.8 Dementsprechend wird stärker als der Herkunftsort die deutsche Wesensart betont, und ungeklärte Abstammungs-Verhältnisse bleiben unklar: So fehlt auch ein Anhang mit dem Familienstammbaum, der die Familie eindeutiger verortet. Trotzdem – oder gerade deshalb – scheint die Frage nach der Herkunft ein zentrales und gestaltendes Motiv für die Familienchronik zu sein. Ein Blick auf den Text in Bezug auf Aufbau, Struktur und Auslassungen gibt diesbezügliche Einblicke.
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Über diese Lücken im Archiv gibt es seitens Michael Nedo verschiedene Spekulationen, insbesondere angesichts des Umstandes, dass das Archiv in Korbach ansonsten fast vollständig erhalten war und der Fürst von Waldeck als überzeugter Nazi bekannt war: War die Familie jüdisch, machte das Fehlen der Dokumente zur Abstammung der Familie ihre Arisierung überhaupt erst möglich, war sie nicht-jüdisch, konnte sie mit den fehlenden Beweisen von den Nazis erpresst werden.
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2.2 Stilisierungen und Leerstellen – ein Schlüssel zur Chronik? Alles was erzählt wird, hat sich wirklich ereignet nichts hat sich so ereignet, wie es erzählt wird. (Edgar Reitz, Heimat)
Worüber gesprochen und geschrieben wurde, ist manchmal weniger aufschlussreich als das, worüber hartnäckig geschwiegen wurde. In diesem Sinne interessieren nicht nur die verschiedenen Topoi, die besonders „elaborierten Geschichten“ und die Stilisierungen, die Hermine Wittgenstein in ihren Familienerinnerungen vornimmt, sondern auch die Leerstellen im Text. Jene werden sichtbar durch das allgemeine Wissen um die Familienbiographie und aus dem übrigen Quellenbestand: dem zum Teil unveröffentlichten Briefwechsel zwischen den Geschwistern sowie den Familienchroniken aus dem familiären Umfeld, die Erinnerungen von Paul Kupelwieser (1918), der Familie Nohl-Oser (1939), von Marguerite Respinger (1985) und Joan Ripley (1987). Diese reflektieren die Wahrnehmung der Familie Wittgenstein von außen, insbesondere in den 1920er, 1940er und 1980er Jahren. Einen neuen Blick von innen gewähren das veröffentlichte Tagebuch von Hermine Wittgenstein vor allem aus den 1920/30er Jahren (1916–ca. 1939) sowie das Tagebuch ihrer Schwester Margarete Stonborough-Wittgenstein. Mit diesen (Kon)Texten kann gefragt werden, ob die Darstellung der Familiengeschichte und die Repräsentation der Autorin im Tagebuch oder den Briefen eine andere ist als in den Familienerinnerungen, inwieweit die Rhetorik des jeweiligen Genres hineinspielt und wie sich die Narrative gegenseitig unterscheiden, stützen, widersprechen oder einfach nur ergänzen. Aus diesem neu gewonnenen Wissen heraus lässt sich Hermine Wittgenstein, wie auch ihr Verhältnis zum Bruder Ludwig konkreter und in neuer Weise beschreiben. Das Typoskript trägt den einfachen, neutralen Titel Familienerinnerungen, ohne spezifische Zeitrahmung, das bezieht die ganze Familie mit ein und impliziert Geschlossenheit. Familienerinnerungen als solche tituliert haben die Familie erwartungsgemäß im Zentrum – was jedoch nicht bedeuten muss, dass sie ausschließlich im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Familienerinnerungen sind auch ein autobiographischer Text, der vieles über die Autorin verrät. Es gibt ein kurzes Vorwort, das eher einer Widmung gleicht und einen abschließenden Nachsatz, doch es fehlt eine Gliederung, die Hinweise auf die Struktur des Textes liefert. Ebenso fehlen Fußnoten oder ein Anhang mit den verwendeten Quellen. Kapitelbezogene Überschriften sind im Textkonvolut die Ausnahme, die daher auch Bedeutung generieren: Sie unterstreichen das Kapitel über den Vater und das über die Jahre 1938/39, zwei Kapitel mit existenziellem Charakter, denn einerseits wird der Gründer des Familienimperiums beschrieben, andererseits die Bedrohung dieses Familienkomplexes im Zuge der Ereignisse von 1938. Erstaunlicherweise beginnen die Familienerinnerungen nicht mit dem Namen und der Herkunft der Familie – und widersetzen sich damit einem
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klassischen Strukturprinzip des Genres Familienchronik. Am Beginn steht eine Beschreibung der Großmutter nach einem Tagebucheintrag Franz Grillparzers und deutet damit mehr das kulturelle Netzwerk der Familie als ihre topographische Verortung an. Damit wird ein weiteres Organisationsprinzip vieler Chroniken unterlaufen, nämlich eine lineare, den Erfolg betonende Dichotomie ‚vom Gestern zum Heute‘ zu beschreiben. Zu dieser Erzählstrategie gehört die Beschreibung einer symbolhaften Gründerfigur, in der sich die erfolgreiche Dynamik der nachfolgenden Generationen bereits abzeichnet. Darauf ist dann die ganze Dramaturgie des Erinnerns abgestimmt: „Die stereotype Erinnerungsfigur wird aufgeladen mit den Tugenden Fleiß, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Bildungshunger, Keuschheit und so zum Musterfall bürgerlicher Sittlichkeit.“9 Die Familienerinnerungen der Wittgensteins folgen nicht diesem linearen Muster einer Erfolgsgeschichte. Die einfachere Herkunft der Mutter wird zwar in wenigen Sätzen beschrieben, aber nicht als Hintergrundfolie für die Aufstiegserzählung einer Familie verwendet. Bereits im ersten Kapitel beginnt Hermine Wittgenstein mit der Schilderung von persönlichen Kontakten der Großeltern zu den großen Persönlichkeiten ihrer Zeit und beschreibt mit diesen Bezügen zu Literaten und Musikern das soziale und kulturelle Kapital der Familie Wittgenstein, und erst nachgeordnet beschreibt sie den Großvater Hermann und den Vater Karl Wittgenstein als symbolische, mit Tugenden geschmückte, Gründerfiguren. Neben der Hochreit ist der Ort Wien mit seinen topographischen Beschreibungen von Alleegasse, Kundmanngasse, Kalksburg oder Laxenburg emotional besetzt, wie etwa durch soziale und kulturelle Rituale, z.B. hochrangig besetze Musikabende im elterlichen Haus oder ausgedehnte Spaziergänge auf den familiären Anwesen. Doch wichtiger als Ereignisse sind der Autorin die Charaktere einzelner weniger Personen als Kontaktpunkte in einem bedeutungsstiftenden sozialen Netz. Wird der Name Wittgenstein auch nicht am Anfang hergeleitet, so wird er doch am Ende der Chronik wichtig für die Betonung, dass nach dieser „bösen Zeit, in der der Name Wittgenstein nichts mehr galt“ (FamEr, 228), ein ursprünglicher sozialer Status wieder erreicht wurde – der auch mit dem Namen selbst assoziiert wird. Damit ist der Spannungsbogen des Textes skizziert. Herkunft und Namen Die Familienerinnerungen beginnen, im Unterschied zur paradigmatischen Einleitung vieler anderer Chroniken, weder mit einer Namenserklärung aus dem Hausnamen noch der Herkunft, obwohl sich das angesichts häufiger Spekulationen über verwandtschaftliche Beziehungen zum hessischen Fürstenhaus Sayn-Wittgenstein bzw. zum Fürstentum Waldeck angeboten hätte. Noch heute kursiert in der Familie eine gern erzählte Anekdote: Auf die Nachfrage, ob es eine solche Verbindung zum Fürstenhaus Sayn-Wittgen-
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Beispielhaft sind die Erinnerungen Hermann Epsteins auf dem Weg vom „Ghetto zur Villa“. Vgl. Gebhardt, Familiengedächtnis, 184.
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stein gegeben habe, soll Karl Wittgenstein lakonisch geantwortet haben: „Es gibt die Wittgensteins Sey[i]n und Haben.“10 In den Familienerinnerungen heißt es erst auf Seite neun: Der Name Wittgenstein ist ein angenommener, die Familie hieß ursprünglich Mayer und war in ihrem Wohnort Korbach im Fürstentum Waldeck sehr angesehen wegen ihrer Wohltätigkeit; ein Altersheim z.B., das ein Mitglied der Familie gegründet hatte, trug den Namen ‚Mayer’sches Altersheim‘. Wann und von welchem Vorfahren der Name geändert wurde, weiß ich nicht. (FamEr, 9)
Im Jahre 1808 hatte Napoleon ein Dekret erlassen, welches den Juden vorschrieb, einen Nachnamen (weder den eines Ortes noch einen alttestamentarischen) anzunehmen. Damals lebte die Familie bereits im Fürstentum Waldeck, dennoch hat sie den Namen ihres Herkunftslandes angenommen. Die Fragen nach Herkunft und Namen gehören zu den charakteristischen Elementen des Genres Familienerinnerungen. Der Rückgriff auf den Geburtsort zeigt sich als besonders wichtig bei Individuen oder Gruppen in einer „angefochtenen gesellschaftlichen Lage“, wie beim jüdischen Bürgertum in Deutschland in den 1930er Jahren.11 Familiales Erinnern diente hier oft dem Erhalt des Familiensystems und die Familienchronik legitimierte und verankerte im Staat. Es bliebe zu fragen, warum beide, Herkunft und Name, in der Familienchronik der Wittgensteins nicht gleich am Beginn und auch später nur fragmenthaft dargestellt wurden, gerade in einer Zeit, als jene Informationen gefragt waren. Herrschte Unklarheit aus einem Mangel an Quellen, wie in den Familienerinnerungen behauptet, oder war es ein bewusstes Ausblenden einer anderen Herkunftserzählung, wie sie beispielsweise in der Familie Oser kursierte? Hermine schildert lediglich in einem unklaren Verweis, dass ein anderer Zweig der Familie davon überzeugt war, dass Hermann Wittgenstein „nicht jüdischer Rasse, sondern vielleicht ein angenommenes Kind gewesen sei“. So sei „ein Sippenforscher nach Korbach, seinem Geburtsort geschickt [worden], um irgendeine positive Bestätigung dieser Vermutung zu erbringen“, doch der Name des Großvaters Hermann Wittgenstein fehlte in den Matrikeln des Ortsarchivs, und damit auch der entscheidende Beweis für die Adoption wie für die ‚Rassenzugehörigkeit‘. (FamEr, 178) Die Erinnerungen der Familie Oser aus dem Jahr 1939 erläutern diesen Verweis wesentlich genauer, wenn es über die vielfach spekulierte Herkunft der Wittgensteins heißt: Der Familientradition nach war ihr Vater Hermann Christian Wittgenstein ein unehelicher Sohn des Fürsten von Waldeck. Er hatte jedenfalls etwas fürstliches in seinem Wesen, und alle seine elf Kinder besaßen etwas davon, nicht bloß in der Erscheinung, sondern auch in Haltung und Art, eine Mischung von regierender Willenskraft, Nob-
10 Gespräch mit Pierre Stonborough am 1.5.2000 in Wien. 11 Vgl. Gebhardt, „Vom Ghetto zur Villa“, 182.
220 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS lesse und Takt, die sich auch in ihrem Verkehr untereinander äußerte. Johannes Brahms meinte einmal, sie gingen miteinander um wie bei Hofe. (Oser, 36)12
Demnach wurde Hermann Wittgenstein im Hause des jüdischen Hoffaktors Moses Meier Laasphe, der vom Fürsten den Namen Wittgenstein bekommen hatte, lediglich aufgezogen.13 Diese Version wurde von den Nachkommen von Karl Wittgensteins Schwester, Tante Milly, propagiert, die im Jahr 1938 einen entsprechend argumentierenden Antrag für Arisierung an die ‚Reichsstelle für Sippenforschung‘ stellten.14 Dieses Ansuchen, obwohl dieser Familienzweig eigentlich nicht unmittelbar gefährdet war, entsprach möglicherweise einerseits dem simplen Wunsch nach nichtjüdischen Vorfahren im politischen Kontext der NS-Herrschaft, andererseits war es möglicherweise auch mit dem Anliegen verknüpft, um mit Georg Gaugusch zu spekulieren, durch „Mystifizierung ihrer Herkunft zur unerreichbaren ‚ersten‘ Gesellschaft aufschließen“ zu können.15 Dieses Gerücht einer angeblichen adeligen Abstammung hätte auch Hermine Wittgenstein und ihren Geschwistern einen Ausweg geboten. Doch für sie und ihre Geschwister war der Großvater nicht der uneheliche Sohn des Fürsten – dies war unvereinbar mit den Werten Karl Wittgensteins und seiner Familie –, sondern der Sohn von Moses Meier, selbst wenn sie das zu Juden machte.16 Sie bevorzugten es, sich nicht auf diese Familien-Legende und die fehlende Aktenlage zu berufen, sondern ihren Anspruch auf eine privilegierte Behandlung vor der Reichskammer in Berlin mit den großen Leistungen der Familie, ihrem Ruf und ihren „sozialen und patriotischen Leistungen“ (FamEr, 157) zu begründen wie auch mit dem Charakter des Großvaters:
12 Im Kapitel zu Josephine Oser wird das starke Herkunftsbewusstsein der Großmutter, einer geborenen Wittgenstein, betont: „Sie war eine ‚Wittgenstein‘, nicht nur für die anderen, sondern auch für sich selbst und hatte gewiß in jedem Augenblick ihres Lebens das starke und stolze Bewußtsein ihrer Familie. In den Kinderjahren suchte sie mit den Geschwistern das große W am Himmel, das Sternbild der Cassiopeia, und war überzeugt, daß es Wittgenstein bedeute. Als man sie als ältere Frau einmal frug, ob sie mit dem Fürsten Wittgenstein verwandt sei, antwortete sie zu unserer großen Unterhaltung: ‚Nicht daß ich wüßte.‘“ Oser, 36. 13 Der Name Moses (das abgelegte Kind) wurde, laut Michael Nedo, oft Bastarden aus reichen Familien gegeben, was ein Hinweis dafür sein könnte, dass er wegen seiner nicht-standesgemässen Herkunft, bei jüdischen Zieheltern aufwuchs. 14 Im Antrag (29.9.1939) wurde betont, dass sich Hermann den zweiten Namen Christian selbst zugelegt habe und als Antisemit galt, der die jüdische Gemeinde mied und seinen Kindern verbot, Juden zu heiraten. Die Quelle bleibt unklar. Vgl. Monk, Wittgenstein, 420f. 15 Vgl. Georg Gaugusch, Die Familie Wittgenstein und Salzer und ihr genealogisches Umfeld, in: Adler, Zeitschrift für Genealogie und Heraldik 4, 2001, 120– 145, 121. 16 Das widerspricht der Deutung von Brian McGuinness, der schreibt, beeinflusst vom Antisemitismus und der Denkrichtung des jüdischen Selbsthasses (Kraus, Weininger) wollten sie sich von der jüdischen Herkunft bewusst distanzieren. McGuinness, Wittgenstein, 15–17.
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Abbildung 6: Ahnentafel der Familie Wittgenstein, 1938 (Österreichische Nationalbibliothek)
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Abbildung 7: Abstammungsnachweis (Österreichische Nationalbibliothek)
Ich verfertigte damals im Auftrag von Gretl eine Zusammenstellung aller besonderen Leistungen der Familienmitglieder und wies insbesondere darauf hin, dass die übrige Familie in ihrem ganzen Typus und ihrer ganzen Einstellung so gar nichts Jüdisches an sich trage. Das war ja bei meinem Grossvater Hermann Wittgenstein ganz besonders auffallend […]. (FamEr, 157)
Das Verhalten erinnert an das Ansuchen des anderen Familienzweiges, der dem Antrag um Arisierung eine Reihe von Familienphotos beigelegt hatte. Jedoch konzentriert sich das Ansuchen von Hermine und ihren Geschwistern auf die staatsbürgerlichen Treuedienste und die ehrenvollen Charaktere der Familie und setzte damit dem Privileg der Geburt typisch bürgerliche Tugenden wie Bildung und Leistung entgegen – ein Geist, in dem auch die Familienerinnerungen verfasst sind. Das scheint verlässlicher als jeder Ursprungsmythos, dem schon Michel Foucault mit Bezug auf Friedrich Nietzsche als „Suche nach dem genau abgegrenzten Wesen der Sache“ misstrau-
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te: „Am historischen Anfang der Dinge findet man nicht die immer noch bewahrende Identität ihres Ursprungs, sondern die Unstimmigkeit des Anderen. So lehrt uns die Historie, über die Feierlichkeiten des Ursprungs zu lachen.“17 Angesichts der Situation der 1940er Jahre in Wien, nach dem Anschluss an Hitlerdeutschland, als Familie mit jüdischen Wurzeln, war jene Frage nach dem Ursprung und dem Familien-Stammbaum jedoch eine schicksalhafte. Inwieweit dies nur eine von außen forcierte Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft war oder doch eine verinnerlichte Komponente hatte, dem ist nun nachzugehen. Die Wittgensteins gelten aus vielfacher Perspektive als völlig assimilierte Familie. Hier ist es aufschlussreich, neben den genealogischen Fakten gewisse Deutungsmuster innerhalb der Familie zu zeigen, um auf die Problematik eines jüdischen Bewusstseins in einer solchen Familie einzugehen, mit der Frage, inwieweit jener Aspekt für die Identität einer Familie des Großbürgertums im Wien vor und nach 1938 bedeutsam war.18 Großvater und Vater „reichsdeutsch“ – in Wien „Außenseiter“ Fanny Figdor, die Großmutter väterlicherseits, war die Tochter eines in Wien ansässigen jüdischen Großhändlers, doch wie die Autorin zugleich betont: „Sie waren Juden, fühlten sich aber, wie man das damals konnte, als Österreicher und wurden auch von Anderen als solche betrachtet.“ (FamEr, 3) Auch wenn sie später zum Jahr 1938 schreiben wird, dass sie selbst keine Ahnung gehabt habe, dass die Familie nach den Nürnberger Gesetzen als jüdisch galt, scheint doch genau jener Umstand der jüdischen Herkunft, der einleitend so prominent erwähnt wird, ein zentraler Ausgangspunkt für die Aufzeichnung der Familiengeschichte gewesen zu sein. Gestützt wird diese Hypothese durch die Schilderung des Lebens ihrer Großeltern, die gleichzeitig die Beschreibung eines Assimilierungsprozesses ist, ohne ihn als solchen zu benennen. Nach der Leipziger Zeit beschreibt Hermine Wittgenstein die Übersiedlung der Großeltern nach Wien im Jahr 1859, und ihren Anschluss an einen „reichsdeutschen“ Kreis von einflussreichen Personen (von Brücke, Hebbel, Littrow u.a.). Sie vermutet, dass „dabei die Anziehung, die das reichsdeutsche Element auf Hermann Wittgenstein ausübte, eine Rolle spielte“. (FamEr, 32) Ganz andere Kreise und kulturelle Bedeutungsgeflechte werden hingegen sichtbar in der gemeinsamen Unterzeichnung einer Todesanzeige im Jahr 1879 mit den damals noch nicht konvertierten Familien Gomperz, Wertheimstein, Todesco und Ephrussi für den Privatier Eduard Wessel.19
17 Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Ders., Von der Subversion des Wissens, München 1974, 83–109, 85f. 18 Im Jahr 1933 lebten 300.000 Juden in Wien, 1938 nur mehr 170.000, bei Kriegsausbruch 60.000 und im Jahr 1945 nur mehr 6.000. Vgl. Ernst Hanisch/ Theodor Faulhaber (Hg.), Mentalität und wirtschaftliches Handeln in Österreich, Wien 1997, 17. 19 Vgl. Gaugusch, Die Familie, 120.
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Wird in den Familienerinnerungen einerseits eine gewisse Integration beschrieben, betont sie andererseits die „Andersartigkeit“ der Familie und ihre Außenseiter-Position in Wien. Wie der Großvater Hermann Christian wird auch sein Sohn Karl Wittgenstein als kein typischer Vertreter der alten Habsburg-Ordnung charakterisiert: Die überenergische Art und Weise meines Vaters hatte etwas sehr Unösterreichisches an sich. Er selbst empfand es schmerzlich, dass er im bureaukratischen Österreich mehr angefeindet als anerkannt wurde und sagte oft, dass hier jeder Unternehmer hauptsächlich als Geldgewinner angesehen wurde und dass die geistige Arbeit, die Energieleistung, das Aufsichnehmen eines grossen Risikos, die von einem Unternehmer verlangt werden, hier geflissentlich unbeachtet bleiben; in Amerika sei das anders! (FamEr, 64)
Hier zeigt sie den Vater als einen, der es in der Wiener Gesellschaft nicht leicht hatte, wegen seiner Identifizierung mit einem geradezu amerikanischen Arbeitsethos: Denn die Donaumonarchie war im kulturellen Sinne zwar modern, aber ohne zugleich wirtschaftliche und soziale Konsequenzen daraus zu ziehen. So litt die Montanindustrie im späten 19. Jahrhundert noch an rückständigen Strukturen durch den Mangel an Konzentration und Rationalisierung. An dieser Stelle werden zwar die Schwierigkeiten Karl Wittgensteins wiedergegeben, doch Hermine führt diese auf den „unösterreichischen“ Charakter des Vaters zurück, seine Art zu arbeiten, die des amerikanischen Unternehmertums, aber nicht auf Ablehnung aufgrund seiner Zugehörigkeit zum jüdischen Großbürgertum. Karl Kraus reihte jedoch in der Fackel die Wittgensteins neben die Gutmanns und Rothschilds und nannte Karl Wittgenstein einen deutschen Großkapitalisten mitsamt seinen „auchdeutschen Kumpanen“20. Und die Arbeiterzeitung nennt ihn einen „Amerikaner“, seines angeblich aggressiven und rücksichtslosen Unternehmertums
20 „Ja, hat man bisher die Schädlichkeit der Sippe, gegen die die Kohlenarbeiter jetzt kämpfen, nicht gekannt? Oder hat man geglaubt, die Rothschild, Gutmann, Wittgenstein würden plötzlich aus der Art schlagen und Menschenwohl über Capitalsprofit stellen? Wenn Herr Rothschild ein wohlthätiges Institut mit ein paar tausend Gulden unterstützt, wenn Frau Gutmann als Patronesse in den Ballsaal einzieht, in dem zu wohlthätigem Zweck getanzt wird, dann ist es an der Zeit, davon zu sprechen, daß die verbrecherische Ausbeutung von hunderttausend Menschen diesen Leuten die Mittel bietet, mit deren tausendstem Theil sie hundert Menschen zu Hilfe kommen. Wenn Herr Wittgenstein die Eintrittskarte zum Deutschen Schulvereinsfest mit tausend Kronen bezahlt, dann hat man der Öffentlichkeit zu sagen, daß der Herr, der da mit einem Lumpengeld dem Deutschthum helfen will, samt seinen auch-deutschen Kumpanen durch Hungerlöhne, von denen der höher cultivierte deutsche Arbeiter nicht leben kann, die deutsche Arbeiterschaft aus angestammten Gebieten treibt, die Slavisierung Österreichs wirksamer fördert, als zehn Sprachenverordnungen vermöchten.“ Karl Kraus, Die Fackel 31, 1900, 3. Vgl. dazu: Josef Schiffer, Karl Wittgenstein und die Fackel. Eine Kontroverse zwischen literarischer Moderne und ökonomischer Modernisierung, in: Feichtinger/Stachel, Das Gewebe der Kultur, 269–288.
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wegen,21 eine Zuschreibung, die auch in späteren Beschreibungen der Familie wieder aufgegriffen wird, wenn ihn Ray Monk als „metaphysically materialistic, politically liberal and aggressively capitalistic enterpreneur“ beschreibt.22 Dieser Vorwurf ‚Kapitalist‘ zu sein, wurde um die Jahrhundertwende oft mit Vorurteilen gegenüber ‚dem Juden‘ verbunden. Das ist politisch begründet: Die Depression von 1873 förderte die Krise des Liberalismus in Österreich, der sich zwischen 1860 und 1880 lediglich schwach ausgebildet hatte, und löste eine antikapitalistische Grundströmung in allen drei großen politischen Lagern in Österreich, bei Deutschnationalen, Sozialdemokraten und Christlichsozialen, aus. Der Kapitalist wurde in diesem Kontext zum Synonym für die Juden, denn diese galten als wirtschaftlich erfolgreich aufgrund ihrer Arbeitshaltung, ihrer Arbeitsweise oder ihren Bemühungen, als Minderheit durch Leistung zu überzeugen.23 Die kritischen Stimmen in der Wiener Öffentlichkeit werden in den Familienerinnerungen angedeutet, ebenso die Assoziationen mit einem „Amerikaner“, nicht jedoch die mit den jüdischen Kapitalisten. Von Hermine und Ludwig Wittgensteins Eltern hatten drei der Großelternteile jüdische Vorfahren. Der Urgroßvater Moses Meier arbeitete als Gutsverwalter (Meier) für das Fürstentum Sayn-Wittgenstein in Westfalen, zog später nach Korbach im Fürstentum Waldeck und wurde ein selbstständiger und erfolgreicher Unternehmer, der nach Hermine Wittgenstein „sehr angesehen [war] wegen ihrer Wohltätigkeit“. (FamEr, 9) Die beiden Großeltern väterlicherseits wurden noch jüdisch geboren, konvertierten jedoch vor ihrer Heirat zum Protestantismus. Der Sohn von Moses Meier, Herz (Hermann Christian) Wittgenstein (1802–1878) – der Großvater, der nach Nazirecht als Bezugsgröße für die jüdische Abstammung wichtig wurde – war als Ankömmling in Wien zuerst noch als Israelit in der Leopoldstadt registriert, der die Israelitin Fanny Figdor heiratete. Er strebte nach Assimilierung, das zeigt sich nicht nur an den in den Familienerinnerungen beschriebenen Kontakten und Kreisen, sondern auch am gemeinsamen Übertritt zum Christentum bei der Heirat (1839), die sie im selben Jahr nach evangelischem Ritual in Leipzig wiederholen.24 Die im Trauungsprotokoll verzeichneten Namen Hermann Christian und Fanny Christiane sind nachfolgend Programm. Ob der zuvor schon geführte Name Hermann darauf hindeutet, dass der Großvater im Zeitgeist der jüdischen Emanzipation nicht mehr jüdisch erzogen wurde, muss offen bleiben. Ihre zehn Kinder – außer Karl, dem Vater von Hermine und Ludwig Wittgenstein – heirateten alle in den nichtjüdischen Teil der Wiener Gesellschaft ein und setzten damit den Assimilierungsprozess fort. Dazu gibt es den in der Familie lediglich mündlich überlieferten Willen des Großvaters, der seinen Söhnen verboten hätte, 21 Arbeiterzeitung, 26.1.1899. 22 Ray Monk, The Laboratory for Self-Destruction, in: Flowers, Portraits 1, 78–98, 84. 23 Vgl. Friedrich Wallner, Der Beitrag jüdischer Philosophen zur österreichischen Philosophie, in: Österreichisch-jüdisches Geistes- und Kulturleben, Wien 19882, 78. 24 Vgl. Gaugusch, Die Familie, 123.
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eine Jüdin zu heiraten. Nur Karl Wittgenstein widersetzte sich, was ein besonderes Bewusstsein für Herkunft geschaffen haben könnte, aber auch erklären würde, warum die Familie das Ansuchen von Tante Milly um Arisierung, wo jener antisemitisch konnotierte Wunsch des Großvaters schriftlich bekundet wurde, nicht anerkennen wollte. Das Verbot des Großvaters kann auch im Zusammenhang mit dem Problem jüdischer Identitätsfindung und der Epoche der jüdischen Emanzipation – zwischen dem Wiener Kongress und der Revolution 1848 – gelesen werden, als Juden nicht als gleichrangig akzeptiert wurden.25 Wurden sie weitgehend toleriert, solange sie separiert lebten, entstand im Moment ihrer versuchten Assimilierung und dem Streben nach Integration der Antisemitismus als Abwehrhaltung einer Gesellschaft, die sich bedroht fühlte. Das Phänomen der Assimilation ist somit ein zentrales Moment in Bezug auf Hierarchie- und Hegemonialverhältnisse in einer Gesellschaft, aber auch für das individuelle Streben, Teil eines Ganzen zu sein; ein konstitutives Element von vielen Familiengeschichten. Die in der Familie überlieferten unterschiedlichen Legenden bekunden – ob wahr oder unwahr – zumindest eine intensive Auseinandersetzung mit der Herkunft sowie einen ausgeprägten Willen der Familie zur Integration. Unterstützten Mitglieder der Familie Wittgenstein in Korbach und später in Leipzig noch „needy and vagrant Jews arrived from the East“, widmeten sie sich später in Wien anderen sozialen Anliegen. Nun hatten sie Umgang mit vielen Deutschen, aber auch mit der jüdischen Wiener BankiersFamilie Figdor, welche lange den Hof, später die Stadt Wien finanzierte und deshalb erst spät konvertierte, weil ihre unabhängige Stellung und ihre Zugehörigkeit zu einer „supranational community“ viele Vorteile brachte.26 Während Ludwig Wittgensteins Großmutter väterlicherseits aus einer hochkulturellen jüdischen Wiener Familie kam, stammte die Großmutter mütterlicherseits, Marie Stallner, aus einer Landbesitzerfamilie in der Untersteiermark, als einzige nicht-jüdische Vorfahrin. Der Vater von Leopoldine Wittgenstein, Jakob Kallmus, als Jude in Prag geboren, konvertierte und heiratete die römisch-katholisch getaufte Marie Stallner. Doch die Familien Stallner und Kallmus sind in der Familiengeschichte der Wittgensteins nicht so präsent wie die Familie Figdor, zur deren „gleicher Welt“ sie nun gehörten.27 Auf den ersten zwanzig Seiten wird der enge Bezug der Figdors zur Literatur (Franz Grillparzer), zur Musik (Joseph Joachim) und zur Kunst beschrieben, wenn auch Fannys Bruder Albert Figdor nur kurz als Kurator genannt wird, nicht aber in seiner Funktion als großer Kunstsammler und Kunstberater von Margarete Stonborough. Insgesamt imponieren Hermine
25 Die Toleranzpatente waren stets mehr Nicht-Diskriminierungsakte als Gesten der Gleichstellung. Vgl. Peter Pulzer, Emancipation and its Discontents: The German-Jewish Dilemma, http://www.sussex.ac.uk/Units/cgjs/publications/pulzer. html (1.1.2011). 26 Vgl. McGuinness, Wittgenstein and the Idea of Jewishness, 223. 27 McGuinness, Wittgenstein, 49f. Stallner war der Familienzweig, aus dem Friedrich Hayek stammte.
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hier die „geistigen Interessen“. Sie waren das Vorbild und auch das Bindeglied der Wittgensteins zu den besten Kreisen der Wiener Gesellschaft. Im geschilderten gezielten Streben der Großeltern nach Assimilation zeigen die Familienerinnerungen ein jüdisches Sonderbewusstsein der Wittgensteins, ein Bewusstsein, das durch die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse und die Wiener Stadtpolitik befördert wurde: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zogen, wie die Wittgensteins, viele deutschstämmige Kaufleute und Unternehmer nach Wien, weil das Zentrum des österreichischen Kaiserreiches viel versprechende Vorteile bot. War in den Ländern des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bereits seit der Französischen Revolution ein gewisses Zerfallsgefühl vorherrschend, wanderten viele in die österreichische Monarchie aus, da sie einerseits die Idee der Einheit im Kaiser verwirklicht sahen, andererseits die liberale Ära nutzen konnten. Auch wenn es schon vorher tolerierte jüdische Familien gab, wurde erst 1848 der offizielle Bann gegen Juden in Wien aufgehoben, was den Zuzug forcierte. Zudem erlaubte ihnen die Stadt ab 1867 die Ansiedlung in der Innenstadt sowie das Recht auf Grunderwerb, was auch bedeutete, in der Stadt „sichtbar“ zu werden. Infolgedessen wurden heftige Diskussionen darüber geführt, einen eigenen Repräsentationsstil zu finden, in denen sich die Frage nach Identifikation öffentlichkeitswirksam manifestierte.28 Die Zeit des Historismus bot nicht nur für die Bürgerschicht, sondern auch für das Judentum eine freie Wahl der Identifikation an. Es konnte der orientalische Ursprung oder die europäische Tradition betont, oder aber ein eigener Stil kreiert werden. Die jeweils gewählte Stilrichtung war bedeutsam für die Selbstpositionierung in der Wiener Gesellschaft, insbesondere ab dem Zeitpunkt, als sie zunehmend Probleme hatten, gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Die Mehrheit des jüdischen Besitzbürgertums, wie des Bürgertums im Allgemeinen, agierte konservativ und es wagten nur wenige Vertreter des progressiven und assimilierten Judentums sich zu exponieren und die Moderne – wie die Architekten Josef Hoffmann und Adolf Loos oder den Bau der Secession – zu unterstützen. Karl Wittgenstein gehörte zu den Progressiven, als er Hoffmann, Klimt oder die Secession förderte. Im beschriebenen Umfeld hat ein solches Engagement nicht unbedingt nur eine künstlerische, sondern auch eine politische Dimension. Wenn Hermine Wittgenstein den Vater als großzügigen Mäzen, mit einem besonderen Engagement für die jungen Secessionisten, darstellt, dann genauso als Außenseiter, als Korrektiv zum Kollektiv, als Widerpart der Gesellschaft. Es war somit keine Unterstützung aus künstlerischer Vorliebe, sondern eine Stellungnahme gegen die Tradition, wie die Nachkommin Cecilia Sjögren differenziert. Karl Wittgenstein sei es dort um Erneuerung und Aufbruch ge-
28 Vgl. Elana Shapira, Assimilating with style, Jewish assimilation and modern architecture and design in Vienna – the case of ‘The Outfitters’ Leopold Goldman and Adolf Loos and the making of the Goldman & Salatsch Building (1909–1911), Diss. Univ. Wien 2004.
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gangen, während seine Auftragswerke an die Secessionisten, wie beispielsweise an Friedrich König, relativ konservativ ausgefallen sind. So zeigen die Fotos diverser Wittgenstein’scher Salons akademische Genre- und Historienmalereien, die zur „üppig“ gestalteten Inneneinrichtung passten.29 Auch in Bezug auf den Bruder des Vaters, Onkel Paul, der selbst malte, schildert Hermine seine Vorlieben für die Secessionisten und den Architekten Josef Hoffmann. Trotzdem bleibt die Beschreibung der Vorliebe für die Moderne in den Familienerinnerungen reichlich blass, verglichen mit den Briefwechseln einzelner Künstler mit Hermine Wittgenstein, die zeigen, wie sehr sie selbst sich für die Künstler und ihre Arbeiten interessierte.30 Wenn sie in der Familienchronik mit einem gewissen Stolz Bezug nimmt auf Gustav Klimt und das Porträt, das er von ihrer Schwester Margarete gemalt hatte, „wie alle Porträts dieses Künstlers höchst raffiniert und elegant, ja mondän zu nennen“ (FamEr, 118), dient die Erwähnung des Klimt-Bildes hier weniger als Unterstützungs- oder Liebeserklärung an die künstlerische Avantgarde, sondern vielmehr als Symbol für die Zugehörigkeit zu einem gewissen Milieu. Denn mondän war auch der Lebensstil der Wittgensteins zu nennen, das dokumentieren nicht nur die Beschreibungen der musikalischen Festivitäten im Elternhaus. Im Wien der Jahrhundertwende spielte die Frage des Jüdischen in den unterschiedlichsten Bereichen eine Rolle, in der Architektur ebenso wie in der Kunst und in der Politik. Das Judentum musste deshalb auf vielfältige Weise die Familiengeschichte immer wieder berührt haben. In den Familienerinnerungen ist dieses Element auf eine Darstellung der Ereignisse im Jahr 1938 verkürzt. Doch es gibt Beispiele dafür, dass das Bewusstsein ‚Jüdisch-zu-sein‘ in der Familie stärker vorhanden war, als es die Familienchronik suggeriert. So bleiben antisemitische Vorkommnisse innerhalb der Familie ausgeblendet: Als Margaretes Ziehsohn Wedigo von Zastrow, der in rechtsextremen Kreisen in Deutschland verkehrt, gegen den Familienfreund Oskar Wollheim pöbelt, schaltet Margarete den Bruder Ludwig als Vermittler ein, weil jener ein gutes Verhältnis zu seinem Neffen hatte. Wie aus dem Briefwechsel hervorgeht, sieht er im Verhalten des Neffen ein Erziehungsproblem und kritisiert die Schwester für ihre mangelnde Geduld. Sie hingegen sieht im Antisemitismus weniger ein persönliches Problem als vielmehr ein zunehmendes gesellschaftliches Phänomen.31 Auch aus Tagebuchaufzeichnungen von Hermine und Margarete geht hervor, dass es schon vor den 1930er Jahren Diskussionen innerhalb der Familie über die jüdische Herkunft und die Bedeutung des Jüdischen gab, die sicher auch vom zunehmenden Antisemitismus in Wien beeinflusst waren. Doch genannt werden private Anlässe, wie die enge Freundschaft zum jüdischen Architekten Paul
29 Cecilia Sjögren, Die Familie, in: Wittgenstein, Ausstellungskatalog der Secession 1, Wien 1989, 98–118, 108–110. 30 Sjögren, Die Familie, 110. 31 Vgl. Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 207f.
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Engelmann, der 1938 nach Israel auswanderte. Welchen Einfluss Engelmann auf die Diskussionen innerhalb der Familie hatte, zeigt ein Tagebucheintrag von Hermine Wittgenstein um das Jahr 1926, der unterschiedlichste Stellungnahmen zum Jüdischen zusammenfasst: Paul verficht mit größter Heftigkeit, dass auf dem Grund jedes Juden die Unehrlichkeit liegt. Ludwig macht mich darauf aufmerksam, dass die Juden durch das Leben in fremden Staaten unter fremden Gesetzen u. Lebensbedingungen und Zwängen unnatürliche Wesen geworden sind. Vielleicht hängt Beides zusammen. Ich glaube dass die arische und die jüdische Rasse in Vorzügen und Mängeln diametral entgegengesetzt sind zum Mindesten in der europäischen Gemeinschaft und sich offen oder versteckt bekämpfen müssen. Antisemitismus. Ich glaube auch dass es für die Juden, wenn sie selbst so hoch und tief blickend sind wie Engelmann, sehr schwer sein muß klar zu sehen. Kann man Österreicher und Jude sein oder nur eines wirklich? E[ngelmann] nennt sich Jude gibt die fremde Nationalität zu. Paul sagt, die Juden haben als erste die soziale Fürsorge aufgestellt. Vom Recht der Witwen und Waisen 32 war früher bei keinem Volk die Rede. (TB-HW, 97f.)
Ein anderer Anlass für die Auseinandersetzung mit dem Jüdischen ist für Margarete Stonborough im Mai 1918 die Lektüre von Gustav Freytags Roman Soll und Haben. Der Roman gilt als „Paradefall“ antijüdischer Stereotypen in der bürgerlichen Literatur des 19. Jahrhunderts.33 Liest sie das Buch auch nicht unter jüdischen Aspekten, sondern als Entwicklungsroman, initiiert er dennoch Gedanken über den eigenen jüdischen Ursprung und das Fremdartige dieser Religion sowie die Lektüre jüdischer Geschichten. In ihrem Tagebuch schreibt sie: Die jüdischen Geschichten, obwohl sie an sich gar nicht so gut sind, beschäftigen mich noch immer. Allein der Gedanke, dass ich aus einem derartigen Milieu stammen kann, das mir so fern und seltsam scheint! Dabei zieht es mich in der Theorie an; ob, weil es so ausgefallen ist oder wegen der Blutsverwandtschaft, das kann ich nicht entscheiden. Und welch eine merkwürdige Religion! Eine, die man nicht nebenbei betreiben kann, wie die anderen die ich kenne, sondern eine die wirklich in fast alle Handlungen des täglichen Lebens eingreift und sie färbt. Sie muß deswegen viel schwerer abzuschütteln sein. (3.5.1918, TB-MST)
32 Zit. n. „Ludwig sagt …“. Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein, hg. v. Mathias Iven, Berlin 2006. 33 Hans Otto Horch, Rezension zu Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1990, in: Aschkenas, Zeitschrift für die Geschichte und Kultur der Juden 2, Wien-Köln-Weimar 2000, 549 u. 552. Die Rezeptionszeugnisse jüdischer Freytag-Leser zeigen, dass „literarischer Antisemitismus […] nicht ein primär im Text ein für allemal kodifiziertes Phänomen, sondern ein in erster Linie rezeptionsbestimmtes“ ist: der Leser mache das Buch zu einem antisemitischen, deshalb sei nach epochaler Rezeptionsphase und jeweiliger Leserschicht zu differenzieren.
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Die Unterhaltungsliteratur ist für die Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses nicht zu unterschätzen, als Ausdruck allgemeiner Vorstellungen von Lebenswelt, als „Panorama der in einer Gesellschaft zirkulierenden Diskurse“ mit Wirkungspotenzial. So können nach Aleida Assmann auch literarisch rezipierte Texte bei der Rekonstruktion von Vergangenheit helfen, indem sie „soziale Interaktion, Wahrnehmung und Gedächtnisbildung narrativ inszenieren“.34 Die Kommentierung von Freytags Werk zeigt bei Margarete Stonborough ein gewisse Wirkung des Textes und dass ihr die Thematik nicht neu ist. Während Margarete und Hermine in ihren Tagebüchern ihr Befremden über das Jüdische äußern und eine distanzierende Außenperspektive einnehmen, formuliert Ludwig in seinen Manuskripten mehrmals einen deutlichen Selbstbezug. Auch wenn ein Freund von Clara Wittgenstein, der Ökonom Karl Menger, in seinen Erinnerungen die Wittgensteins zum unjüdischen Teil der Wiener Familien rechnet,35 die Frage des Jüdischen ist nicht nur eine Frage der Zuordnung, sondern auch die einer Auseinandersetzung mit sich selbst und der Herkunft der Familie. Die unterschiedlichen Versionen der Herkunftserzählung und der verschiedenartige Umgang mit dem Thema Vergangenheit zeigen, dass die Frage nach dem Jüdischen in selbstbezüglicher und vielfältiger Weise für die Familie ein Thema war; lange vor dem Jahr 1938. Abbildung 8: Hermine Wittgenstein und ihre Eltern auf der Hochreit, 1909 (Wittgenstein Archive, Cambridge)
34 Astrid Erll, „Mit Dickens spazieren gehen“. Kollektives Gedächtnis und Fiktion, in: Echterhoff/Saar, Kontexte und Kulturen des Erinnerns, 253–265, 259, 263f. 35 Vgl. Karl Menger, Reminiscences of the Wittgenstein Family, in: Flowers, Portraits 1, 111–116.
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Der Vater: sozialer Unternehmer, fürsorglicher Patriarch, integrierter Außenseiter Dem Kapitel der Übersiedelung der Familie nach Wien folgt das mehrfach untergliederte, fast 50-seitige Kapitel über Karl Wittgenstein. Hermine schildert ihren Vater als sozialen und kreativen Unternehmer. Sie beschreibt seitenlang von ihm initiierte technische Innovationen und zitiert viel aus seinen autobiographischen Aufzeichnungen, publizierten Artikeln und Vorträgen, die seinen Glauben an die Privatwirtschaft und den freien Markt widerspiegeln und damit zugleich die Verhältnisse in Amerika idealisieren und jene in Österreich kritisieren. Es ist diese Figur eines ‚Revoluzzers‘, kombiniert mit einem mustergültigen Sozialengagement für seine Angestellten, das der Tochter gefällt. Dieses detailreich gezeichnete Bild eines mustergültigen sozialen Unternehmers findet seine Entsprechung auch in den Erinnerungen des Geschäftspartners und Freundes Paul Kupelwieser, dem Direktor u.a. des Teplitzer Eisenwerkes, der einen verherrlichenden Nachruf auf Karl Wittgenstein (dem jüngeren Bruder der Frau seines Bruders Karl) in der Neuen Freien Presse schrieb und den er später in seinen Memoiren wiedergibt: [...] größte Ehrlichkeit und Fleiß, möglichste Rücksicht auf den Nebenmenschen [...] dies waren immer und jederzeit die einzigen Mittel seiner Erfolge. Eine Reihe kleiner Industrien, zu welchen ihn seine Lust, Nützliches zu schaffen, drängte, haben ihm und seinen Freunden häufig mehr Verlust als Gewinn gebracht. (21.1.1913)36
Doch Karl Wittgenstein schätzte nicht nur den spekulativen Geist, sondern war auch auf die Absicherung des Unternehmers durch Kartellbildungen bedacht.37 Andere Beschreibungen, wie die von dem Josef HoffmannBiographen Eduard Sekler, streichen seine unglaublich aufwändige Lebensart hervor und betonen die Ambivalenz, dass Karl Wittgenstein aus Stolz auf seine bodenständige Karriere „zwar ablehnt, sich nobilitieren zu lassen, aber dafür umso aristokratischer lebte, wozu die regelmäßige Veranstaltung von Jagdgesellschaften gehörte“, oder beschreiben die luxuriöse Ausgestaltung des Jagdhauses auf der Hochreit durch die Wiener Werkstätte.38 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Josef Hoffmann, der künstlerische Leiter der Wiener Werkstätte, der über zwanzig Jahre der Hausarchitekt der Wittgensteins war, in den Familienerinnerungen in dieser Funktion ungenannt bleibt. Hermine zeigt die Vorliebe des Vaters für große Häuser, fast schon Schlösser, führt diese Leidenschaft aber liebevoll auf seine auf großen Gütern verbrachte Kindheit zurück. Karl Wittgenstein war stets auf Repräsentation bedacht, auch bei seinem zentral gelegenen, aufwändig adaptierten
36 Paul Kupelwieser, Aus den Erinnerungen eines alten Österreichers, Wien 1918, 59f., 65. 37 Jorn K. Bramann, Karl Wittgenstein – Ein Amerikaner in Wien, in: Zeitgeschichte 1974, 2, 29–30, 30. 38 Zit. n. Sjögren, Die Familie, 112.
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Palais, entsprechend seinem Status als Industriebaron und damit Mitglied der ‚Zweiten Wiener Gesellschaft‘, die als ‚Neureiche‘ gerne von der etablierten Elite verspottet wurden. Die Verweigerung gegenüber dem gesellschaftlichen Kanon – beispielsweise durch Ablehnung der Nobilitierung und damit auch einer gewissen Form der Integration – ist regelrecht ein Stilelement der Familienerinnerungen. Doch es war auch gerade die Verweigerung einer normalen Schulerziehung für seine Söhne, Ausdruck seiner Vorbehalte gegenüber dem österreichischen Schulsystem, die Hermine als verhängnisvoll beschreibt. Die „unverständige“ Erziehung Damit kritisiert die Tochter erstmalig die übermächtige Vaterfigur, die die gesamte Familie allzu sehr bestimmt hatte, zeigt ihn als liebenden, doch zu dominanten Ehemann sowie als in der Erziehung versagenden Vater, der die Neigungen seiner Söhne negiert hatte. Beispielhaft für die „unverständige“ Erziehung im Hause Wittgenstein ist das Schicksal des ältesten Sohnes Hans, der seit seiner frühesten Kindheit „nichts als Musik im Kopf“ (FamEr, 97) hatte und vom Vater nur Unverständnis erntete, denn: […] der einzige Beruf, der meinem Vater erstrebenswert schien, war der Doppelberuf des Technikers und Kaufmanns, daher sollte natürlich sein ältester Sohn diesen Beruf ergreifen, und da mein Vater selbst früh vom Elternhaus davongelaufen war und sich die Vorbildung für Leben und Beruf durch Umtun in der Fremde und in den verschiedenartigsten Betrieben angeeignet hatte, so sollte auch der ganz anders geartete Hans ähnliche Vorteile geniessen. Ja, wenn ein grosser Mensch sich in eine Idee verrennt und Fehler begeht, dann gehen auch diese ins Grosse! (FamEr, 100)
War auch der Erfolg seines Stahl-Imperiums wesentlich durch seine Menschenkenntnis begründet, so zumindest prominent festgehalten im Nachruf der Neuen Österreichischen Biographie,39 war diese Sensibilität gegenüber der Familie nur bedingt gegeben. Hermine sieht sich nun in ihrer Erzählung „an einen Punkt“ gelangt, „der die große Tragik unseres Elternhauses enthüllt“ hat: das Bewusstsein für die extremen Erziehungsmethoden des Vaters war wachgerüttelt worden. (FamEr, 102f.) Zumindest zwei der älteren Söhne scheinen jeweils am Konflikt zwischen ihren persönlichen Neigungen und den Erwartungen des Vaters gescheitert zu sein. Der älteste Sohn, Hans, verschwand 1902 auf einer Amerika-Reise von einer Segelyacht und Rudolf beging 1904 in einer Bar in Berlin Selbstmord, verzweifelt über den Verlust eines Freundes wie auch über seine homosexuelle Veranlagung. Der zweitälteste Sohn Kurt hatte sich in den letzten Tagen des ersten Weltkrieges auf dem Rückzug in Italien erschossen, „ohne ersichtlichen Grund“, wie Hermine schreibt:
39 Karl Wittgenstein, Nachruf von Georg Günther (Präs. der österr. Bundesbahnen), in: Neue Österreichische Biographie 1815–1918 IV, 11.5.1927, 156–163.
234 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Gerade dieser Bruder schien uns so wenig verkrampft, so harmlos heiter veranlagt! Sogar aus seiner besonders natürlich-reizenden Musikalität glaubten wir das herauszulesen, und doch muß ich denken, daß auch er den Keim des Ekels vor dem Leben in sich trug. So stehe ich vor der traurigen, für mich unlösbaren Frage: ist er nicht schließlich doch – der typische wohlhabende Junggeselle ohne ernste Pflichten – an dem Mangel des ‚harten Muß‘ gestorben, das mein Vater seinen Söhnen so gerne gegeben hätte und das sich nicht künstlich erzeugen läßt? Oder war es einfach ein Mangel an Ertragungskraft, der ihn in irgend einem Augenblick und gewiß nicht dem schwersten des Krieges überwältigte? (FamEr, 102f.)
Die Ursachen sind nach wie vor unklar. Aus heutiger Perspektive hat er für die einen, wie viele andere Offiziere der österreichischen Armee, die drohende Gefangennahme durch die Italiener nicht verkraftet.40 Andere meinen, er habe sich erschossen, weil ihm die von ihm befehligte Einheit auf dem Heimweg auseinander galoppiert war.41 Wieder andere sprechen davon, er habe seine Soldaten nach Hause geschickt, statt sie wenige Tage vor Kriegsende in eine letzte vergebliche Schlacht über den Piave zu schicken und somit den Italienern auszuliefern. Eine solche Dienstverweigerung hätte eine Verurteilung erwarten lassen, deshalb habe er sich umgebracht, um seine Ehre und die der Familie zu wahren.42 Was die einen als Selbstmord aus Schwäche sehen, zeigen andere als Heldentod. Die ‚Selbstmorde‘ von drei von Hermines Brüder sind ein wesentliches Element der Familiengeschichte – und in der Wahrnehmung der Familie Wittgenstein bis heute. Hermine führt die Selbstmorde auf die Uneinsichtigkeit des Vaters und das ungesunde Familienklima zurück, wenn sie die unpassende Erziehung beschreibt, die alle Kinder bekommen haben, aber auch auf die Charaktereigenschaften der Brüder: Bei dem Bruder Rudolf nennt sie lediglich die Tatsache seines Todes, ohne auf die näheren Umstände einzugehen, alleine die Bemerkung einer Lehrerin wiedergebend, die gesagt hatte, er sei ein nervöses Kind, auf das man Acht geben müsse. Hans beschreibt sie als außerordentliche musikalische Begabung, doch zugleich als eigenartig. Sie sieht eine „Beimischung von Gewaltsamkeit und Verkrampftheit“, die sein ganzes Wesen schon in der Jugend ergriffen hatte, und glaubt darin zumindest eine Erklärung für seinen Selbstmord finden zu können. Hingegen beschreibt sie Kurt als „wenig verkrampft, so harmlos heiter veranlagt“ und seinen Freitod als unverständlich. Doch, so hält sie verallgemeinernd fest: „Das „tragischste“ sei „der Mangel an Lebenskraft und Lebenswillen“ ihrer älteren Brüder in ihrer Jugend gewesen, unterstützt durch eine „unnormale Erziehung“. Ein Schicksal, dem nach ihrer Darstellung, die jüngeren Brüder nur knapp entgangen sind:
40 Vgl. Sjögren, Die Familie, 103. 41 Ferry Radax, ‚Wittgenstein? – Nein Danke!‘ Geständnisse eines Filmemachers, in: Immler, ‚The making of ...‘, 115–132, 125. 42 Ripley, 52f.
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Zwei Söhne, Hans und Rudi, sind noch zu seinen [Karl Wittgensteins] Lebzeiten freiwillig aus der Welt gegangen, und zwei andere, Paul und Ludwig, waren so nahe daran, daßelbe zu tun, daß es vielleicht nur einem Zufall zu danken ist, wenn sie in dieser Welt geblieben und später mit dem Leben fertig geworden sind. (FamEr 193)
Hier beschreibt Hermine eine latente Selbstmordgefährdung aller ihrer Brüder, eine Sichtweise, die später oft unhinterfragt in die Biographien ihrer Brüder und in die Familienbiographie hineinprojiziert wurde. Wenn Hermine ihren Brüdern eine innere Schwäche zuschreibt und Lebensüberdruss gepaart mit Weltekel, so hatte sie damit eine eindeutige Lesart der Ereignisse vorgegeben. Von Ludwig Wittgenstein, der beim Tod seines ältesten Bruders gerade 13 Jahre alt ist, sind Gedanken an Selbstmord überliefert, in seinen Manuskripten, aber auch in Dialogen mit seinen Freunden. Jene haben diese Gedanken manchmal als pathetisch empfunden und den Stimmungen des Wiener Fin de Siècle zugeschrieben.43 Die Nachkommen von Paul Wittgenstein verwehren sich gegen den Gedanken, dass „the flirting with suicide“ eine Zuschreibung ist, die auf ihn passe.44 Wie die jüngeren Brüder selbst dazu auch gestanden haben mögen, die Wahrnehmung ist festgeschrieben, als der so genannte schlimme Fluch des Hauses Wittgenstein, wie eine Rezension zu einer Biographie über Paul Wittgenstein, titelt.45 Ein ‚Fluch‘, der nicht zuletzt in dieser Selbstmordserie begründet liegt, sozusagen als psychologisches Setting für die Biographie des Einzelnen. Doch hilft diese Zuspitzung – all die vielfältigen und auch spielerischen Beziehungen der Familienmitglieder ausblendend – dem Verständnis der Familie und ihrer einzelnen Mitglieder? Bis heute sind nicht alle einzelnen Umstände bekannt, das lässt viel Raum für Deutungen. Nur bei einem der Söhne, Rudi, sind die Umstände des Selbstmords und das Motiv deutlich, bei den beiden anderen bleiben sie bis heute weitgehend ungeklärt: Bei Kurt dürfte die Tat auch im Kontext des Krieges und der Fragen eines rigiden Ehrenkodex zu erklären sein, und nicht alleine mit der Familienatmosphäre oder seinem Charakter. Beim ältesten Bruder Hans, der in Amerika verschwunden ist, muss zumindest offen bleiben, ob es nicht nur ein Unfall war, oder viel spekulativer, ob es ein bewusstes Entschwinden aus der familiären Wahrnehmung war, oder wenn es doch Selbstmord war, welche Gründe dafür vorlagen. Kurt Wuchterl und Adolf Hübner schreiben in ihrer Biographie im Jahr 1979: „Es entstand bald die Version vom Selbstmord des sich dem ehrgeizigen, rücksichtslosen Vater und seinen Ansprüchen entziehenden Sohnes. Dem widerspricht nicht nur die reife Toleranz des verständnisvollen Vaters, der die Versuchungen der
43 Pinsent, A Portrait of Wittgenstein as a Young Man, 77. 44 Gespräch mit Joan Ripley am 18. und 26.2.2009. 45 Ulrich Weinzierl, Rezension von Alexander Waugh, The House of Wittgenstein: A Family at War, London 2008, in: Welt online am 26.11.2008, http://www.welt.de/kultur/article2784399/Der-schlimme-Fluch-des-Hauses-Witt genstein.html (1.1.2011).
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ausbrechenden Jugend am eigenen Leib verspürt hatte, sondern ebenso der Inhalt und der Ton zahlreicher Briefe“. Sie spekulieren, dass möglicherweise auch eine homosexuelle Veranlagung der Grund gewesen sein könnte, oder „die Überzeugung der Familie, dass Hans Selbstmord begangen hatte, eine ansteckende Wirkung auf Rudolf ausgeübt und ihn zu einer ähnlichen Kurzschlußhandlung verleitet“ habe.46 Was von außen als „schwere Schicksalsschläge“ gedeutet wurde, so der Wortlaut im Nachruf auf den Vater,47 wird intern der Familie angelastet: In der Familienchronik werden die „unnormalen“ Erziehungsmaßnahmen gegenüber seinen älteren Söhnen dem Vater als erzieherisches Unverständnis und als fehlende Sensibilität angelastet, darüber hinaus aber auch ein zu Grunde liegendes generationsspezifisches und gesellschaftliches Dilemma angedeutet. Die Tochter zeigt den unerbittlichen Glauben des Vaters an die Werte des anbrechenden 20. Jahrhunderts, von Ingenieurskunst, Technik und Fortschritt – wenn sie seine autobiographischen Notizen ausführlich wiedergibt, in denen er über die neuen Technologien berichtet, die er in der Stahlindustrie zum Einsatz brachte und die ihm zum Erfolg verhalfen. Andererseits zeigt sie, wie in kultureller Hinsicht die Familie weitgehend vom 19. Jahrhundert geprägt war, mit seinem Mäzenatentum, den privaten Musikzirkeln, Leseabenden und Theateraufführungen. Diese Traditionslastigkeit, zu der auch ein gewisser Geniekult gehörte, ein Charakteristikum Wiens um die Jahrhundertwende,48 hat ihren Einfluss auf die Familie ausgeübt, sichtbar in ihren Auffassungen vom Menschen und seinen Leistungen und auch in ihrem Kunstverständnis. In dieser polarisierenden Gegenüberstellung zweier Welten wird Karl Wittgenstein als einer gezeigt, der dem Glauben an die Wertesysteme beider Zeitalter bedingungslos verhaftet war. Wenn er dem Sohn Hans die Karriere des Ingenieurs aufoktroyierte, und ihn damit veranlasste, den Idealen des neuen Zeitalters zu gehorchen, dann vielleicht auch deshalb, weil er andererseits auch vom Anspruchsdenken des Geniekults des 19. Jahrhunderts beeinflusst, das musikalische Talent von Hans als ungenügend betrachtete.49 Damit formuliert Hermine Wittgenstein indirekt eine Ambiguität, die durchaus charakteristisch war für die bildungsbürgerliche Trägerschicht des Fin de Siècle. Es war eine Generation, die durch ihre ökonomischen Leistungen zur wirtschaftlichen Führungsschicht gehörte und in kulturellen und sozialen Bereichen durch Mäzenatentum und Wohltätigkeit hervorzutreten versuchte. Doch während diese Generation oft damit zufrieden war, Kultur zu sammeln, wollten ihre Kinder häufig zur Kultur aktiv und publik beitragen, nicht nur in den familiären Hausmusikzirkeln. Dieser Generationenkonflikt beruhte aber auch auf allgemeinen Spannungen in der Wiener Gesell46 Wuchterl/ Hübner, Wittgenstein, 26f. 47 Karl Wittgenstein, Nachruf von Georg Günther, 163. 48 Vgl. Jacques Le Rider, Das Ende der Illusion – Zur Kritik der Moderne, Wien 1990, 35; Zilsel, Die Geniereligion, 59–61. 49 Diese Anregungen zum Thema verdanke ich Michael Nedo.
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schaft: der schnelle soziale Wandel mit seinem Verlust an traditionellen Werten löste vielfach das Bedürfnis nach neuen Orientierungen – und damit auch zahllose Konflikte – aus. Karl Wittgenstein kann als eine Schlüsselfigur dieser Spannungen betrachtet werden, wenn er mehrmals diese Diskrepanz in der Gesellschaft formulierte, zwischen dem Willen zu einer modernen, radikal neuen Sicht auf die Welt und dem Unwillen, diese neue Sicht praktisch anzuwenden. Diese Diskrepanz wurde in der Literatur oft euphemistisch als „kreative Spannung“ gedeutet,50 doch nicht nur innerhalb der Familie Wittgenstein bedeutet diese übersteigerte Polarisierung auch Unglück und Spaltung. Doch wie Hermine Wittgenstein in ihrer Chronik betont: Die jüngere Hälfte der acht Geschwister, Margarete, Helene, Paul und Ludwig, fand leichtere Bedingungen vor. Denn, wie sie zeigt, hatte der Vater nach dem Verschwinden seines ältesten Sohnes Hans und dem Selbstmord von Rudolf scheinbar mehr Verständnis und Geduld für die jüngeren Söhne aufgebracht – Paul und Ludwig durften öffentliche Schulen besuchen und ihren eigenen Interessen nachgehen. Ein Blick auf die Jahreszahlen zeigt, dass der Vater schon kurze Zeit nach dem Verschwinden von Hans reagierte und die jüngeren Brüder im Jahr darauf in die öffentliche Schule schickte, noch bevor der Selbstmord des Bruders Rudolf sich ereignet hatte. Das lässt den Vater sensibler und flexibler als die Darstellungen der Tochter erscheinen. Auch seine Briefe zeigen mehr Verständnis für die Kinder als ihm in der Chronik, und auch später in der Literatur, zugeschrieben wurde; wenn er dort als Despot bezeichnet wird, der sich vom Selbstmord seiner Söhne wenig gerührt zeigte und von dem behauptet wird: „Er wollte seinen Söhnen bei der Entscheidung über ihre Berufswahl noch weniger Freiheiten lassen als ihm selbst seinerzeit der eigene Vater.“51 Andererseits zeugt gerade das in der Familie überlieferte Schweigegebot (nicht über die verlorenen Söhne zu reden) auch von einer vehementen Externalisierung des Konflikts; die nach Stephan Stockert heute noch in der Familie zu spüren ist: „Wir haben das auch spät gehört, dass sich vielleicht nicht nur einer, sondern auch der zweite und dritte umgebracht haben; der dritte, das war mir neu. Über den Kurt hab ich nichts gewusst. Ich kann mir vorstellen, die Dinge, die nicht sein sollten, wurden bei uns nicht ausgebreitet [...] Das galt im Übrigen auch für das Thema Homosexualität.“52 Vielleicht gibt es deshalb nun seitens der ältesten Tochter Hermine diese späte Abrechnung mit dem Vater in der Familienchronik, wo Externalisiertes endlich internalisiert und formuliert werden darf; gespeist aus einem latenten Schuldgefühl, nämlich als älteste Schwester versagt zu haben.
50 Brix/Werner, Wiener Moderne, 10. Vgl. die Arbeiten von E. Brix, C. Schorske, A. Janik und St. Toulmin. 51 Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, 205. 52 Gespräch mit Stephan Stockert am 7.10.2009 in Wien.
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Zugleich ist dieser am Beispiel des Bruders Hans geschilderte Generationenkonflikt auch nicht nur eine Konfliktgeschichte. Durch die dialektische Erzählweise – die Gegenüberstellung der Fehler der Eltern mit den Bedürfnissen der Kinder – wird die eigene (Kinder-)Generation geeint durch das gemeinsame Leiden an der schlechten Erziehung. Eine solche Schilderung von Erziehungsfragen kann als retrospektiver Homogenisierungsversuch dienen. Die Familienerinnerungen zeigen zwar deutlich die charakterlichen Unterschiede der Geschwister, negieren jedoch das schwierige Verhältnis der Geschwister untereinander sowie die zahllosen Konflikte innerhalb der Familie, die durch die Briefwechsel dokumentiert sind. Äußerst deutlich heißt es in Margaretes Tagebuch: „[…] und vor allem dauerhafte Friedenszustände […] derlei gab es bei uns nicht“. (TB-MST) Auch ihre Briefe zeigen sie selbst immer wieder als Vermittlerin zwischen den Geschwistern sowie ihre Versuche, um Verständnis zu werben für die jeweiligen Wesenszüge und Charakterstärken. Ein Brief von Ludwig an Hermine ist besonders charakteristisch für das Verhältnis der Geschwister zueinander, wenn er ihr im November 1929 vorschlägt, zum Weihnachtsfest doch auch ein paar Freunde einzuladen: Du weißt gewiß, daß es [das Weihnachtsfest], seit Mama tot ist, nicht mehr so ganz und gar befriedigend war und ich glaube, das ist sehr selbstverständlich [...] Nun der Grund ist der, dass nicht einmal wir 5 Geschwister (aber noch weniger wir und unserer Neffen und Nichten) so geartet sind daß wir alle zusammen und ohne die Sauce der Freunde eine gute Gesellschaft geben: Du kannst mit mir oder der Gretl ein Gespräch haben, aber schon schwer wir alle drei zusammen. Paul und Gretl noch viel weniger. Die Helene geht mit jedem von uns gut zusammen, aber es würde uns doch nie einfallen zu dritt Du Helene und ich zusammenzukommen. Wir sind eben alle ziemlich harte und scharfkantige Brocken, die sich darum schwer aneinander schmiegen können. Dagegen geht es herrlich, wenn Freunde dabei sind, die einen leichteren Ton und noch anderes was uns fehlt in unsere Gesellschaft bringen [...] zu vielen ist es nur gemütlich unter uns, wenn wir durch Freunde verdünnt sind. [...] Unter uns taugen wir zum Gespräch d.h. zur Geselligkeit zu zweit – aber nicht eigentlich zu Spielen u. dergleichen. Und wenn man beisammensitzt, muß man Etwas tun. Es ist ein Unding gemütlich beisammen sein zu wollen ohne dass alle etwas verbindet. (und die Gemütlichkeit ist an sich keine Tätigkeit). [...] Noch einmal: Es ist nicht einzusehen wie wir das, was wir das ganze Jahr hindurch nicht können und nicht wollen, nämlich ohne Gesellschaft von Freunden alle Fünf beisammen zu sein, warum wir das an diesem einen Abend mit gutem Erfolg zusammenbringen sollten. (FamBr, 118f.)
Familie: Konfliktherd und Ritual In der Familienchronik wird hingegen das Weihnachtsfest als beispielhaftes Idyll des Familienlebens präsentiert. Dementsprechend verklärt ist die Schilderung des letzten gemeinsamen Weihnachtsfestes 1937 in ihrem Tagesheim:
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Unser allerletztes […] Weihnachtsfest im Jahre 1937 ist mir wie das erste als besonders zum Gemüt sprechend ins Herz gegraben […] Als wir unter den Einzugsliedern auch die österreichische Volkshymne sangen, – zwar mit dem vorgeschriebenen Kernstock’schen Text, aber doch sehr feierlich sangen, – fielen meine Geschwister und nach und nach meine Gäste in die Melodie ein; das war ein Bekenntnis für Österreich und klang ergreifend in dieser gewitterschwangeren Zeit. (FamEr, 147)
Für Hermine war es stets wichtig, dass ihre Familie bei dem Weihnachtsfest teilnahm: Of all the family members who attended, it was Paul who loved these celebrations the most and he would contribute to the spirit of the evening by bringing the boys heaps of extra presents all on his own. Nothing made Hermine happier than to have her family take part in these activities. (Ripley, 79)
Weihnachten war stets ein Anlass, der die Familie zusammenführte und es auch erlaubte, Gefühle zu zeigen. Von einer ganz anderen Stimmungslage zu Weihnachten 1937 berichten die Erinnerungen von Marguerite Respinger. Die Familienfreundin, und Freundin von Ludwig Wittgenstein zu Anfang der 1930er Jahre, schildert in ihren Erinnerungen Granny (1978), wie sehr der politische Stimmungswechsel die Familie beeinträchtigt hatte. Sie beschreibt den Einmarsch der Nationalsozialisten in Wien und den Aufmarsch der deutschen Armee auf der Ringstraße als einschneidendes Ereignis und bezeichnet sich selbst als „Augenzeuge des Dramas“: „Ich sah den Enthusiasmus, den die österr. Jugend dem Anrücken ihrer Eroberer, die sie als Erlöser betrachteten, entgegenbrachte.“53 Diese Eindrücke beeinflussen rückwirkend ihre Darstellung des vorhergehenden letzten Familientreffens der Wittgensteins an den oben beschriebenen Weihnachten im Jahr 1937: Wien lachte nicht mehr. Jeder war mit der politischen Situation beschäftigt. Der Nationalsozialismus fraß dieses Land wie ein Krebs, der sich in einem schwachen Körper ausbreitet. Ich sah meine Freunde, die mit der Angst lebten, vor allem die, die erwartet hatten zu erfahren, daß sie zum Teil Juden waren.54
Hermines Darstellung des Weihnachtsfestes und ihre Beschwörung traditioneller Rituale dürfte demnach mehr ihrem Wunschbild entsprochen haben, ihre Familie in Harmonie wieder um sich versammelt zu sehen. Diese Sehnsucht nach familiärer Harmonie zeigt sich auch in der Charakterisierung der
53 Marguerite Respinger, Granny, 1978, 154. Das Typoskript wurde für die Enkel, Freunde und Verwandte nach dem Tod des zweiten Mannes 1978 privat gedruckt. Auszüge in: Josef G. F Rothhaupt/Aidan Seery, Ludwig Wittgenstein war ein ‚Stern‘ in meinem Leben – Interview mit Marguerite de Chambrier, in: Wilhelm Lütterfelds [u.a.] (Hg.), Wittgenstein-Jahrbuch, Frankfurt/M.-BerlinWien 2000, 113–143, 119. 54 Respinger, Granny, 152f., zit. n. ebenda, 142.
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übrigen Mitglieder der Familie, wenn beispielsweise Tante Josefine als „Seele des Hauses“ beschrieben wird, die „alle Verschiedenheiten in Harmonie“ brachte, oder ihr Mann als „unkompliziert naturgewachsenes Wesen“. (FamEr, 210f.) Brahms soll diese Atmosphäre im Oser’schen Haus sehr geschätzt haben, weil er, wie Hermine schreibt, bekannt war als „berüchtigte[r] Verabscheuer jeder Übersteigertheit“. (FamEr, 211) Hier klingen nicht nur Parallelen an zu den Oser’schen Erinnerungen, in denen ebenfalls die Autobiographie von Brahms und seine Wertschätzung für die ‚harmonischen Osers‘ genannt sind, sondern auch Hermines explizite Wertschätzung dieser Eigenschaften. Dies ist wohl ein indirekter Verweis auf den eigenen streitbaren Haushalt. Und wenn einzelne Personen als besondere ‚kantige‘ Persönlichkeiten beschrieben werden, so doch als Charaktere, die sich in ein Gesamtbild fügen: wie die Sängerin Marie Fillunger, eine Freundin der Mutter, die in die Ecken und Kanten unserer eigenen engsten Familie so genau hinein paßte, wie der richtig passende ‚Puzzlestein‘, der ja auch die vereinzelten Steine zu einer Einheit verschmilzt, und das erzeugte eine Behaglichkeit, wie wir sie kaum je gekannt hatten. (FamEr, 103)
Die Mutter Für diese fehlende Behaglichkeit zieht Hermine Wittgenstein vor allem ihre Mutter zur Verantwortung. Sie wird zwar als die „personifizierte Güte und Selbstlosigkeit“ beschrieben,55 und die Musik als „schönstes Bindeglied“ zwischen den Eltern und auch zu den Kindern und den Enkeln ausführlich gewürdigt, in ihrer Vermittlerrolle zwischen den Söhnen und dem Vater sowie als Pädagogin habe sie jedoch versagt.56 Hier schildert die Tochter ein individuelles Versagen, einen Mangel an Durchsetzungsvermögen, indirekt jedoch ein milieuspezifisches Problem. In einem großbürgerlichen Haushalt, in dem 22 Privatlehrer die acht Wittgenstein-Kinder unterrichteten, spielten die Kinder nur eine untergeordnete Rolle. Lehrer und Ammen schufen schon früh ein distanziertes Verhältnis zu den Eltern. Im Tagebuch von Margarete wird die mangelhafte Erziehung noch viel deutlicher. Sie schreibt über fehlende „Zärtlichkeit, Wärme und Gemütlichkeit“, eine schlechte, lieblose Erziehung, ohne Förderung der Begabungen. Dieser Mangel an elterlicher Zuneigung wurde von anderen Personen zum Teil kompensiert, wie von Tante Clara, der Großmutter Kallmus und deren Gesellschafterin Rosalie – die alle drei in den Familienerinnerungen äußerst herzliche Beschreibungen erhalten.
55 Sjögren, Die Familie, 102. 56 Eine glücklichere Mittlerrolle (nämlich als Briefbewahrerin oder Informantin) nahm die Mutter hingegen in den Jahren des Ersten Weltkrieges für manche Freundschaften von Ludwig Wittgenstein ein, wie zu William Eccles und Ludwig Ficker.
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Verstörend dürfte auch gerade die Güte und Selbstlosigkeit der Mutter gewirkt haben, die in einem solchen Gegensatz zur Willensstärke des Vaters stand. Diese Konstellation – „a woman made to suffer and a man made to act energetically“ – führte nicht nur zu häufigen familiären Spannungen, sondern machte es schwierig für die Söhne und die Töchter, sich mit den Eltern zu identifizieren, schreibt Joan Ripley, eine Nichte Hermine Wittgensteins, 40 Jahre später: An unrealistic standard was set, for the sons found it nearly impossible to match Karl’s worldly achievements, nor could the daughters attain their mother’s degree of altruism. Finding one’s own identity, a difficult enough task in normal circumstances, must have been nearly impossible in a situation of this kind where extremes were the norm. (Ripley, 23)
Es waren nicht nur die Söhne, die Schwierigkeiten hatten mit dem Vorbild des Vaters, auch die Töchter mussten ihre eigene Rolle finden. Dabei war nicht nur der dominante Vater eine Herausforderung, der sich Hermine zu stellen hatte. Ihr fiel es sichtbar schwer, die Selbstlosigkeit ihrer Mutter zu akzeptieren. Dennoch war sie lebenslang eine wichtige Bezugsperson. Als die Mutter im Streben liegt, schreibt Hermine ihrem Neffen Thomas Thommy: Ich denke „viel an meine Zukunft denn wenn man nicht mehr bei der Mutter lebt, ist alles ganz ganz anders, es kommt einem vor als ob man sich auch in der Liebe der Anderen erst ein neues Haus bauen müsste. Hoffentlich gelingt es mir!“57 Die jüngeren Geschwister Es entspricht nicht nur dem Wunschbild Familie, sondern auch der Dialektik des generativen Erzählens, wenn Konflikte wenig, geschwisterliche Bewunderung jedoch geräumigen Platz einnehmen. Hermine bewundert ihre jüngeren Geschwister Margarete und Ludwig sehr, das zeigt sich in den Familienerinnerungen insbesondere in der Beschreibung des Hauses in der Kundmanngasse als „Haus für Götter“, eine Bezeichnung, die sich auf die Schwester (als Bauherrin) wie den Bruder (als Co-Architekten) gleichermaßen beziehend. Es schien mir ja viel eher eine Wohnung für Götter zu sein, als für eine sehr kleine Sterbliche, wie ich es bin […] Zu meiner Schwester Gretl aber passte das Haus wie der Handschuh auf die Hand […] Das Haus war einfach eine Erweiterung ihrer Persönlichkeit, eine Ausstrahlung ihrer selbst, denn neuartig und gross musste ja schon seit ihrer Jugend alles sein, was sie umgab. (FamEr, 122)
Wird der Hausbau auch ausführlich beschrieben, ausgespart bleibt das spezifische Verhältnis Margaretes zu Ludwig, die gemeinsame Leidenschaft für
57 Am 31.5.1926, Konvolut Hermine Wittgenstein 1925-29, ÖNB 1292/58-3.
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Karl Kraus und die Fackel, insbesondere Margaretes Mittlerrolle zum Wiener Kreis. Sie knüpfte den für den Ludwig wichtigen Kontakt zu Moritz Schlick, Philosophieprofessor an der Universität Wien. Ebenso findet das Attentat auf Schlick vom 22. Juni 1936 in der Wiener Universität nur in den Briefen betroffene Erwähnung. Margarete Wittgenstein, innerhalb der Familie auch „die Wilde“ (Heinz von Förster) genannt,58 ist eine, wie Hermine schreibt, ihr „so unendlich nahestehende und von mir so unendlich verschiedene Schwester“. (FamEr, 122) Hermine betont ihre Schönheit und Verachtung jeder Konvention. Sie beschreibt die Schwester als vielseitig begabt und kreativ, mit einem heterogenen Freundeskreis, optimistisch und selbstvertrauend, interessiert an der Lehre Freuds, als Förderin der Wissenschaften und als sozial engagierte Österreich-Botschafterin, die nach dem Ersten Weltkrieg in den Vereinigten Staaten Vorträge über die Nöte in ihrer Heimat hält. Auch die Briefe haben einen ähnlich bewundernden Ton. Deshalb liegt es nahe, dass Margaretes Probleme eher klein geschrieben wurden und nur ihre Leistungen oder gemeisterten Schwierigkeiten Eingang in das Familiengedächtnis finden. In Bezug auf berufliche und private Details sind die Familienerinnerungen außergewöhnlich unvollständig, von der Autorin erklärt mit Skrupeln angesichts der noch lebenden Beteiligten. Beispielsweise bleiben die näheren Umstände der Ehe Margaretes mit dem „Deutsch-Amerikaner“, dessen Name, Jerome Stonborough, nie fällt, unerwähnt. Er ist lediglich als „Ehemann“ präsent. Seine Selbstmordgefährdung aufgrund psychischer Labilität wird zwar genannt, nicht aber sein Selbstmord im Juni 1938. Aus den Briefwechseln lässt sich vermuten, dass dieser Negation wohl eine gewisse Antipathie zu Grunde lag und jene auch ein Zugeständnis an die Schwester Margarete war, die selbst stets versucht hatte, diese Probleme zu überspielen. Auch beim Bruder Paul bleibt Privates ausgeblendet. Man erfährt von seiner anfänglichen Begeisterung im Ersten Weltkrieg, seiner Heimkehr als Einarmiger, der es dennoch schafft, sich als Konzertspieler und Lehrer für Klavier am Neuen Konservatorium in Wien einen Namen zu machen. Im Zuge der im Juni 1938 von den Nazis durchgeführten Beamtenreform verlor er seine Stelle, ebenso machte ihm der antisemitische Alltag zu schaffen, schreibt die Schwester: Auch litt er auf seinen täglichen ausgedehnten Spaziergängen und Wanderungen unsäglich unter den abscheulichen Judenverboten, die auf Schritt und Tritt in krassester Weise drohten, und seine Selbstachtung verwundeten. Er ging herum wie einer, dem man die Grundlagen seines Lebens zerstört hat, und sprach nur immer davon, daß er nicht in Österreich bleiben könne. (FamEr, 156)
58 Heinz von Förster, Der Wiener Kreis: Parabel für einen Denkstil, in: Friedrich Stadler (Hg.), Wissenschaft als Kultur. Österreichs Beitrag zur Moderne, WienNew York, 29–47, 31.
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Erstaunlich wenig berichtet sie von ihrer privaten Beziehung zueinander, hatten die beiden Geschwister doch bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam im elterlichen Palais in der Alleegasse gelebt. Ungenannt bleibt seine Freundin Bassia Moscovici, die 1932 an Krebs starb und von Margarete in der Kundmanngasse gepflegt wurde, und seine lange verheimlichte Ehe mit der Wienerin Hilde Schanya, einer ehemaligen Klavierschülerin von ihm. Mit ihr führte er nicht nur ein heimliches Doppelleben, sondern hatte zum Zeitpunkt des Anschlusses auch zwei Töchter. Aus einem Manuskript seiner Tochter Joan Ripley erfahren wir mehr über das Leben des Vaters: He didn’t dare tell his sisters for they were stern and old-fashioned and he was sure they would never approve of Hilde [a streetcar conductor’s daughter from the suburbs of Vienna [and] twenty-eight year difference in age]. But Paul was determined; he would not bow to their wishes nor risk an open confrontation. In order to have his own way, he carefully guarded his privacy and the final step was a secret marriage which remained unrevealed for years. Paul led two lives – one at the splendid family residence on the Alleegasse, and the other, with Hilde, in a private apartment on the outskirts of Vienna.59
Wie sie schreibt, haben neben der politischen Situation auch diese privaten Umstände ihren Vater in seiner Entscheidung nach Amerika zu emigrieren mit beeinflusst. Dort hatte er 1934 seine ersten Konzerte gespielt und gewissermaßen einen Durchbruch mit Ravels Konzert für die linke Hand. Als Paul Wittgenstein in New York ankam, einem Ort „as close to Europe as one could get while still being in America“ (Ripley, 133), arbeitete er als Klavierlehrer und seine Familie kam über lange Umwege über die Schweiz, Italien und Kuba nach. Diese Kulmination an Entfremdung beschreibt Brian McGuinness: „Die Familie fühlte sich nicht nur im Stich gelassen, sondern plötzlich taucht auch eine verborgen gebliebene Ehefrau auf.“60 Paul Wittgenstein wiederum war nicht nur darüber verbittert, in seiner Heimat nicht genug anerkannt zu werden, wie die Schwester Hermine schreibt, sondern ihm scheint gerade auch die Anerkennung seiner Musik (und wie wichtig es für ihn war, jene auszuüben) wie seines Privatlebens seitens der Familie zu fehlen. Von Ludwig Wittgenstein ist bekannt, dass es generelle Spannungen mit dem Bruder gab, so schreibt er in den Manuskripten: Wenn in einem Haushalt alles in Ordnung ist, so sitzen die Familienmitglieder alle zugleich beim Frühstück, haben ähnliche Gepflogenheiten etc. Herrscht aber eine furchtbare Krankheit im Haus, dann denkt jeder auf einen andern Ausweg um Hilfe
59 Ripley, Empty Sleeve, 115f. Joan Ripley beschreibt das Leben ihres Vaters, eingebettet in eine Schilderung der österreichischen Gesellschaft und ihrer politischen Entwicklungen. Paul wird charakterisiert in Bezug auf seinen Vater Karl und seinen jüngeren Bruder Ludwig. 60 McGuinness, Wittgenstein, 64f.
244 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS zu schaffen und es zeigen sich leicht ganz entgegengesetzte Bestrebungen. Paul und ich. (BEE, 4.6.1934)
Zwischen den Brüdern gab es keine große Nähe.61 Das wurde öfters auch durch ihr gegensätzliches äußeres Erscheinungsbild beschrieben: Ludwigs „casual appearance“ und Pauls „three piece suit formality and military bearing“. (Ripley, 159) Mit Hermine scheinen es jedoch vor allem Unstimmigkeiten ethisch-moralischer Natur zu sein. Es sind Konflikte, die mit dem Jahr 1938 und der Entscheidung ‚Exil oder nicht‘ eskalieren. Es ist deshalb bezeichnend, dass sich die Beschreibungen von Paul innerhalb des Kapitels über die Ereignisse von 1938/39 befinden, welches Hermine mit einer höchst eindringlichen Einleitung beginnt: Ich will die Ereignisse […] chronologisch und etwas zurückgreifend niederschreiben; dabei bin ich mir freilich bewußt, daß ich mit meiner gewohnten Darstellungsweise hier nicht das Auslangen finden werde, ja daß ich zum Teil die Genauigkeit von Aktenstücken anstreben muß. (FamEr, 152)
Das Jahr 1938 Die Rückschau auf das Jahr 1938 erfolgt detailliert und chronologisch exakt, besonders dort, wo geschildert wird, wie die Familie vom Anschluss und seinen Auswirkungen überrascht wird. Es ist offensichtlich, dass Hermine um Authentizität und Exaktheit ringt, im Versuch Geschichte objektiv darzulegen. Hier wird offensichtlich, was Guy Miron das Schreiben mit einem „double consciousness“ nennt: das Miteinander von „the point of view of the author, and the imagined point of view of the ‚other‘ to whom the memoirs are addressed“.62 Mit den detaillierten Schilderungen der Ereignisse im Jahr 1938 will sie sich gegenüber den Nachkommen rechtfertigen, auch wenn sie ihre Ignoranz gegenüber ihren jüdischen Wurzeln mit der „Weltfremdheit“ einer großbürgerlichen Schicht erklärt, die sich aufgrund ihrer Sozialisation und der Abgeschlossenheit ihrer Kreise vor allem über ihre soziale Identität definiere: […] niemand in meiner Umgebung [hatte] rechtzeitig die ganze Bedrohlichkeit des von Deutschland herannahenden Hitlertums erkannt […] Unsere engste Familie hatte sich nie für Juden gehalten […] und so verblendet waren wir, dass sich niemand von uns die Mühe nahm, die Nürnberger Gesetze überhaupt anzusehen. (FamEr, 153f.)
61 Ludwig Wittgenstein zeigte sich zwar beeindruckt vom musikalischen Wissen seines Bruders über Komponisten, ihre Epochen und ihre Werke, jedoch seine musikalischen Interpretationen schätzte er nicht besonders. Er selbst erzählte die Anekdote, dass Paul zu ihm einmal gesagt habe: „Ich kann einfach nicht spielen, wenn Du im Haus bist. Ich spüre, wie Deine Skepsis unter der Tür hereinsickert.“ Maurice O’C. Drury, Gespräche mit Wittgenstein, in: Rhees, Porträts, 142–234, 190. 62 Miron, Autobiography, 255.
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Nach den Nürnberger Gesetzen galt als Jude „wer von mindestens drei der Rasse nach jüdischen Großeltern abstammt“. Nachdem Jakob Kallmus, Hermann Wittgenstein und Fanny Figdor als Juden geboren waren, galten die Wittgenstein-Geschwister als Juden, obwohl bereits die Großeltern zum römisch-katholischen bzw. evangelischen Glauben konvertiert waren und die direkten Nachkommen von Karl und Leopoldine Wittgenstein ausnahmslos getauft waren. Hermine Wittgenstein rekonstruiert die damaligen Gründe, warum sie Möglichkeiten, die es im Jahr 1934 noch gegeben hätte, wie etwa die Liechtensteiner Staatsbürgerschaft anzunehmen, von der Hand gewiesen hatten. Wie schon erwähnt, hielten wir uns ja nicht für Juden. Auch zeigte sich das Gespenst einer wirklichen Lebensgefahr für Juden erst im Zusammenhang mit dem Gespenst des drohenden Kriegsausbruches im Herbst 1938, denn erst dieser schien die Ausschaltung oder Austilgung der zu Feinden gemachten Juden zu gebieten. (FamEr, 154)
Zudem schildert sie die Bindungen an die Staatsbürgerschaft als eine emotionale: […] und da ich mich erinnere, wie Paul und ich seinerzeit von Leuten dachten, die aus rein materiellen Gründen ihre Staatsbürgerschaft ändern, so verstehe ich, dass er, der mit Leib und Seele Österreicher und österreichischer Reserveoffizier war, den Rat rundweg ablehnte. […] Man hätte vielleicht einen Teil des Jahres im Ausland verbringen müssen und die Möglichkeit, zu jeder Zeit und Jagdperiode auf die Hochreit zu fahren, wäre in Frage gestellt gewesen; mein Schwager war österreichischer Staatspensionist und auch das hätte Komplikationen ergeben können. (FamEr, 154f.)
So fehlte, wie sie schreibt, lange das Vorstellungsvermögen dafür, was die Auswirkungen des Anschlusses auf die Familie sein konnten: Ich erinnere mich, wie Paul mir eines Morgens nach dem ‚Umbruch‘ mit bleichem Entsetzen mitteilte, wir gälten als Juden. (FamEr, 156)
Dieser Satz weist ein stark fiktionalisiertes und dramatisiertes Moment auf, denn er suggeriert ein neues Bewusstsein der Autorin für die jüdische Herkunft der Familie, die eigentlich schon lange vor 1938 in der Familie immer wieder Thema gewesen war, jedoch in einer psychologischen Differenzierung zwischen den Ostjuden und den assimilierten Juden, welche die Nürnberger Gesetze aufhoben. Hermine beschreibt die hektischen Initiativen, die folgten: die Zusammenstellung aller besonderen Leistungen der Familienmitglieder zuerst für zuständige Stellen in Österreich, dann für die Reichsstiftungskammer in Berlin; nach deren ablehnenden Bescheid der Erwerb von jugoslawischen Pässen; nach dem Auffliegen dieser Aktion die kurzfristige Verhaftung der Geschwister, beendet durch einen richterlichen Frei-
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spruch. Im Winter 1938/39 begann die Reichsbank in Berlin zunehmend auf die Auslieferung der Devisen zu drängen, die in einer Kommanditeinlage bis 1947 fest in der Schweiz fest verankert waren. „Die Reichsbank verlangte eben, daß unsere Familie dieses Gefüge sprenge und die Devisen gegen Reichsmark abliefere.“ (FamEr, 175) Hermine beschreibt dann, wie „hartnäckig“ sich Paul diesem Vergleich mit der Reichsbank, der favorisierten Lösung seiner Geschwister, widersetzte. Denn Hermine wollte anders als Paul unter keinen Umständen ins Ausland flüchten, sondern lieber als „Ausnahmsjude“, so die Zuschreibung eines Berliner Beamten mit der sie sich durchaus identifizieren konnte, im Land bleiben: Ich wollte weiter in der gewohnten Atmosphäre leben, wenn auch eventuell in viel einfacheren Verhältnissen, nur nicht auswandern! (FamEr, 178)
Es folgte eine lange und komplizierte Debatte über den Preis, den die Reichsbank den Geschwistern für die vorzeitige Auflösung der Kommanditgesellschaft in der Schweiz (Wistag A.G. & Cie.), in welcher ihre Auslandsdevisen gebunden waren, zugestehen wollte: Endlich blieb es bei einer mir ziemlich hoch scheinende Devisensumme für Paul, und für ihn war auch die Erlaubnis der freien Ein- und Ausreise nach und aus Oesterreich vorgesehen, ein Zugeständnis, von dem ich mir viel versprach. Für uns Schwestern wurde eine nicht sehr große Devisensumme für den Fall unserer Auswanderung bewilligt; wollten wir dagegen im Land bleiben, so mußten wir selbstverständlich alle Devisen gegen Reichsmark abliefern. [...] Die Konstruktion der Aktiengesellschaft brachte es mit sich, daß Gretls Sohn ohne weiteres zustimmte. Anders, ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte, war die Sache mit Paul. Die Erlaubnis der Ein- und Ausreise lockte ihn nicht, da er dem Reich, das sie ausstellte, mit Recht mißtraute und sich überhaupt ganz auf definitive Auswanderung eingestellt hatte. Diese Einstellung wieder brachte es mit sich, daß er selbst eigentlich gar kein Interesse an einem Vergleich mit der Reichsbank hatte und diesen nur im Hinblick auf seine in der Heimat bleibenden Schwestern als geboten erachten mußte. Er hatte seinen Schwestern überdies sein ganzes verfügbares inländisches Vermögen geschenkt, sie waren freiwillig im Inland geblieben, es schien ihm also nicht nötig, den Fall geradezu nur mit ihren Augen zu sehen. Uns in Oesterreich war der Vergleich mit der Reichsbank, durch welchen Paul eine gewiße Menge Devisen bewilligt wurde, als etwas Günstiges erschienen, er aber sah nur, daß ihm eine große Menge genommen werden sollte, und war umso empörter, als die Reichsbank selbst ihren ursprünglichen Vorschlag bezüglich der zu behaltenden Summe bloß als Ausgangspunkt für Besprechungen darstellte und die Summe heruntersetzte. Paul hatte gleich von Anfang an eine Größere Menge von Devisen verlangt und er weigerte sich daher hartnäckig, einem Vergleich zuzustimmen, ehe ihm die Reichsbank diese Menge bewilligte. Seine Ratgeber in dieser Sache waren ausnahmslos Juden, denen es unerträglich sein mußte, ein so großes Vermögen in die Hände ihres ärgsten Feindes fallen zu sehen, und sie nährten noch seinen Widerstand gegen seine
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Schwestern, die in dem verbrecherischen Staat bleiben wollten. Sie bagatellisierten auch jegliche Gefahr, die uns drohte, und es gelang weder Gretl noch ihrem Sohn, Pauls Widerstand rasch zu überwinden. [...] Die Verhandlungen zogen sich durch mehrere Monate in die Länge, ja sie schienen mehrmals sogar scheitern zu wollen, und das bedeutete eine Größere Gefahr für uns Schwestern als wir ahnten und gab Grund zu großen Aufregungen für Gretl in Amerika. Sie hatte nämlich die Zuteilung der Mischlingseigenschaft für uns Schwestern geradezu als Preis für ihre erfolgreichen Bemühungen um die Freimachung der Devisen von der Reichsbank verlangt, und von Seite der Reichsbank war die entsprechende Zusicherung für den Fall der Unterzeichnung des Vergleiches gegeben worden. Nun drohte aber der Krieg immer unabwendbarer zu werden und es bestand die Gefahr, daß er uns als Geltungs-Jüdinnen in Oesterreich-Deutschland überraschen werde, ehe eine Einigung mit Paul erzielt wurde. (FamEr, 178–180)
Die Verhandlungen mit der Reichsbank dauerten mehrere Monate und fanden in Berlin, New York und Zürich statt und wurden im Sommer 1939, kurz vor Ausbruch des Krieges, beendigt. Dass der Großvater schließlich doch als ‚Arier‘ und die Geschwister als Mischlinge ersten Grades eingestuft wurden, verdankten die Geschwister wohl weniger ihrem Verhandlungsgeschick oder dem großen Einfluss der übrigen Familienmitglieder, wie es die Familienerinnerungen suggerieren, sondern vor allem ihrem großen Vermögen. So hat die ‚Arisierung‘ die Familie einen Großteil ihres Auslandvermögens gekostet. Dieses Bild der Ereignisse soll durch die Beschreibungen von Paul Wittgensteins Tochter Joan Ripley ergänzt werden: Auch sie schildert die Geschehnisse im Detail, denn diese hatten aus ihrer Perspektive die Familie doch zeitlebens auseinander gerissen. Nach ihren Schilderungen war es nicht alleine die Emigration ihres Vaters, die den Konflikt verursachte, sondern auch die Art seiner Ausreise und später auch die Höhe des Betrages, die Paul Wittgenstein bereit war, an die Nationalsozialisten abzutreten. Was geschah 1938? Nach dem Anschluss war die Ausreise ohne eine Sondergenehmigung der Nazis nicht mehr möglich. Deshalb ließ sich Paul Wittgenstein über seine Schwester Margarete und ihre guten Kontakte zu führenden Nationalsozialisten einen Persilschein ausstellen, um den Bruder Ludwig in England zu besuchen, mit dem Versprechen zurückzukehren. Er kehrte zurück, emigrierte aber vier Tage später in die USA. Das führte zu einem tiefen Bruch zwischen den Geschwistern. Margarete was furious with her brother. True, he had obeyed the letter of the law and had complied with his promise to return to Austria, but it seemed to her merely a technical compliance and put her in an embarrassing position with her Nazi friends who considered Paul’s actions to be made in bad faith. As disputes between Paul and the Nazi government, and between the various family members and their opposite ideas intensified, it became necessary to resort to the law. (Ripley, 119)
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Paul Wittgenstein wandte sich an ein Rechtsanwaltbüro in New York, das österreichischen Emigranten half. Dieses unterstützte ihn, auch in seiner Argumentation gegen die Schwester, es sei doch „pure madness“ jetzt nach Europa zurückzukehren, um dann noch weiter ausgeraubt zu werden. Es kam zu zahllosen Briefwechseln mit den Rechtsanwälten der Schwester, die bis heute in Form von Memoranden dokumentiert sind. Jene hatte Paul Wittgenstein selbst veranlasst, da, wie er schreibt „die Rettung meiner Ehre in späterer Zeit davon abhängig sein wird“.63 Dort wird auch der Standpunkt der Schwester Margarete wiedergeben: Another accusation which Margarete leveled against her brother was that he took too ‚antagonistic‘ a stand towards the Nazis, thereby endangering the future of his two sisters who still remained in Nazi-occupied Vienna. At first Paul had begged them to leave Vienna [...] but they refused to go [...] Terrible court battles followed [...] The Nazis wanted as much of the Wittgenstein fortune as they could get and threatened that if Paul did not ‚behave‘, his sisters would be considered as Jewesses and treated accordingly. Paul made substantial payments to the Nazis to see that Hermine and Helene were classified as ‚Mischlinge‘ [...] It was the actual amount of money Paul was willing to surrender to the Nazis that caused the arguments [...] [Margarete] inexplicably and irrationally demanded that Paul give up substantially everything in fact, give the Nazis more than they originally asked for in order to show good will. (Ripley, 121f.)
Joan Ripley verweist mehrmals auf die Archiv-Dokumente als rückversicherndes Moment und Legitimierung für die eigene Darstellung, aber auch als Aufforderung an den Leser, die Quellen selbst einer Beurteilung zu unterziehen: Various legal papers dealing with the quarrel are privileged material and are kept in the family’s private possession and in the files of the Wachtell, Manheim and Grouf law firm in New York City. (Ripley, 192)
Welche Auskunft geben diese Akten? Die verschiedenen Memoranden64 dokumentieren die Verhandlungen zwischen der Reichsbank, der Familie (Paul Wittgenstein, Margarete und ihrem Sohn John Stonborough) und ihren Rechtsvertretern, und zeigen die unterschiedlichen Handlungspositionen. Als sich Paul Wittgenstein veranlasst sieht, einen eigenen Anwalt zur Wah-
63 Paul Wittgenstein in einem Brief an den Anwalt Dr. Konrad Bloch, am 26.6.1939 (P. St.). 64 Sie wurden auf die Bitte von Paul Wittgenstein hin von seiner Rechtsanwaltskanzlei Wachtell, Manheim & Grouf verfasst, um die Geschehnisse genau zu dokumentieren. Es liegen mehrere Abkommen zwischen Juni und August 1939 und eines im Nachhinein im Februar 1944 vor. Es gibt mehrere Abschriften sowie deutsche Übersetzungen. Die Akten stammen aus der Nachfolgekanzlei der ehemaligen Verhandler. Vgl. Aktenkonvolut (P.St.).
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rung seiner Interessen zu nehmen, zeigt das bereits die großen Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten zwischen den Geschwistern: Paul wollte möglichst viel Geld ‚retten‘, für sich, aber auch um im Falle ihrer Emigration seine Schwestern mit unterstützen zu können, und verweigerte deshalb finanzielle Zugeständnisse an die Reichsbank. Die Schwestern wollten hingegen um jeden Preis in Österreich bleiben und den ‚Mischlingsstatus‘ erhalten. Paul willigte schließlich ein, um die in Österreich verbliebenen Schwestern nicht zu gefährden, und bekam seinen Gesellschaftsanteil an der Wistag zum Großteil ausgezahlt. Aus den Memoranden und Vereinbarungen gehen folgende Zahlen hervor: Das Gesamtvermögen der Wistag umfasste etwa 7,8 Millionen Schweizer Franken (Sfr).65 Paul verzichtet in einer Vereinbarung mit John Stonborough auf die gesamte Summe seines Gesellschaftsanteiles und reduziert die Forderung auf 1,8 Millionen Schweizer Franken, wenn jener die finanzielle Versorgung der Schwestern im Falle einer Emigration übernehme. In einem dritten Memorandum sind die Konditionen mit der Reichsbank genau festgelegt: Paul bekommt den geforderten Anteil angewiesen, sowie 500.000 Sfr von John Stonborough dafür, dass er ihm seine Aktien an der Wistag AG überträgt, 300.000 Sfr werden für die Rechtsanwälte reserviert, der Rest wird an die Reichsbank in Berlin übertragen, die den Gegenwert in Reichsmark auf die Konten der übrigen Berechtigten überweisen soll; neben den Schwestern Hermine und Helene Wittgenstein sind das Lydia Oser-Wittgenstein, Franziska Siebert, Johanna Salzer und Hedwig Pauli. Welcher Betrag schließlich an die Reichsbank floss, ist nicht bekannt, auch nicht wie viel auf die Konten der übrigen Beteiligten gegangen ist. Margarete resümiert die abgeschlossenen Verhandlungen, vermutlich Ende August 1939, in einem Brief an den Bruder Ludwig folgendermaßen: W. [Samuel Wachtell, Pauls Rechtsanwalt] sagte P. [Paul Wittgenstein] verlange 2.3, plus 0.3 für die lawyer. Also 2.6. (Das war natürlich mehr als er in N.Y. gesagt hatte.) Wenn er das nicht bekomme, würde W. abreisen, denn ihm wäre es ja nur recht, wenn die Sache nicht zustande komme. Wir riefen den Sch. [Hans Schöne, Vertreter der Reichsbank] in B. [Berlin] an & frugen ob Sophie [die Reichsbank] in deren Hand die Sache nicht mehr lag die lawyer fees tragen würde, wenn wir uns auf 1.8 einigten. Er sagte das nach längerer Zeit zu. Wir beschlossen darauf hin die fehlende 0.5 aus der J. [John Stonborough] Summe zu nehmen (die jetzt beinahe 1.2 beträgt) & sie zu den 1.8 die freigeworden sind dazu zu schlagen. Es bliebe dann 0.7 für den J. übrig –. W. weigerte sich zuerst & bestand darauf, dass die Sophie den ganzen von ihm verlangten Betrag freigeben müsse. Aber I. [Alfred Indra] gelang es endlich ihn davon abzubringen. Ich bat I. den W. zu fragen, ob P. die Org. aus seinem heimatlichen Vermögen kompensieren würde. W. sagte P. verzichte auf sein ganzes Vermö-
65 Ein Dokument der Reichsbank spricht von 9,6 Mio. Schweizer Franken. Die Unterlagen zu diesem Vermögenstransfer sind nicht vollständig vorhanden. Auch lässt sich aus den Dokumenten nicht eruieren, zu welchen Teilen die anderen Familienmitglieder beteiligt waren, lediglich 31,8 % Anteil für Paul sind genannt. Vgl. Aktenkonvolut (P.St.)
250 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS gen in seiner Heimat. D.h. auf alles, was nach Abzug der R.F.S. [Reichsfluchtsteuer] zurückbleibt. Dabei blieb es. (IEAB)
So gab es neben dem Geldtransfer auch noch eine weitere Vereinbarung mit den Schwestern. Im Gegenzug für die Auszahlungen seines Wistag-Anteils hatte sich Paul dazu verpflichtet, alle seine Reichsmarkbestände sowie seine Liegenschaften an seine Schwestern abzutreten. Er überschrieb ihnen im Spätherbst 1939 seine Wiener Liegenschaften (Kohlmarktgasse 5, Plankengasse 1, Struwerstrasse 17, Mariahilferstrasse 58), seine Hälfte des Elternhauses in der Argentinierstrasse sowie sein Drittel am Familiensitz in Neuwaldegg.66 Diese Liegenschaften sind auch nach Kriegsende im Eigentum der Schwestern verblieben und später an ihre Erben übertragen worden. Ob sonstige Vermögenswerte übertragen wurden, ist unbekannt.67 Obwohl im Oktober 1939 die Wistag liquidiert worden war, kam es noch zu einem Nachspiel. John Stonborough wurde im Mai 1940 aufgefordert, von seinem Anteil noch eine Nachzahlung von 92.000 Sfr an die Reichsbank zu leisten, was Paul Wittgenstein heftig kritisiert, und dies zum Anlass nimmt, um sich vor seinem Neffen Felix Salzer für seine kompromisslose Haltung in einem Brief zu rechtfertigen: Der einzige, der wenigstens einen Teil seines ausländischen Vermögens retten konnte, war ich [...] (Auf mein gesamtes Deutsches und Österreichisches Vermögen und einen Teil meines Ausländischen musste ich allerdings verzichten.) Der nach der Auszahlung meines Vermögens noch übrige Teil der ‚Wistag‘, der offiziell dem Ji [John Stonborough] gehört, den musste dieser sich verpflichten als Notpfennig für Deine Mutter und Tante Mining unangetastet zu verwahren; nämlich für den Fall, dass trotz all dem irgendeinmal die beiden Frauen zur Auswanderung gezwungen werden.68
66 Der Sachverhalt ist genau dokumentiert in der anonymisierten Entscheidung 206/2006 der Schiedsinstanz für Naturalrestitution am Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus in Wien: www.de.nationalfonds. org/docs/Schiedsinstanz/entscheidung_206_2006.pdf bzw. vgl. zur Kurzfassung die Pressemitteilung: http://de.nationalfonds.org/sites/dynamic.pl?id=news200609 18144622005&temp (1.1.2011). Dass es sich dabei um Mitglieder der Familie Wittgenstein handelt, darauf hat Georg Graf hingewiesen: Vgl. Ders., Arme Amalie! – Kritische Anmerkungen zum Schiedsspruch in Sachen Amalie Zuckerkandl, in: Österreichische Notariatszeitung 3/2007, 65–79, 73. An dieser Stelle sei Peter Stadlbauer vom Entschädigungsfonds für seine Unterstützung gedankt. 67 Ein Indiz für weitere Übertragungen könnte eine Amtsbestätigung sein, aus der hervorgeht, dass eine Polizze von Paul Wittgenstein (Versicherung für den Ablebensfall) im Nachlass seiner Schwester Hermine aufgeführt wird und auf ihren Erben Felix Salzer übergeht. Vgl. Verlassenschaftsabhandlung Hermine Wittgenstein, 17A 113/50 –47 (WStLaAr); vgl. Ser.n. 37.581, 37.582, 37.669 Han, ÖNB. 68 Brief von Paul Wittgenstein vom 30.5.1940 an seinen Neffen Felix Salzer, Sohn von Helene Wittgenstein, der sich 1940 auch in New York aufhielt. (P.St.)
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Abbildung 9: Auszüge aus den unterschiedlichen Memoranden, 1939 (Pierre Stonborough)
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Paul Wittgenstein, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Exilorganisation Austrian Action engagierte, die zum Ziel hatte „dem österreichischen Volk das Recht der freien Entscheidung über seine Zukunft wieder zu erkämpfen“,69 bestärkt in dem Brief nochmals seine Position gegenüber den Nationalsozialisten, dass den erneuten nachträglichen finanziellen Forderungen seitens der Reichsbank nicht nachzukommen sei, denn es würde die Rücklagen für die Schwester schmälern wie auch künftigen Erpressungsversuchen den Weg ebnen. Ob den Forderungen nachgekommen wurde, lässt sich aus den Akten nicht erschließen. Der Geld- und Liegenschaftstransfer, wie er hier rekonstruiert wurde, ist in den Familienerinnerungen lediglich in einem Nebensatz erwähnt, das erklärt auch, warum das Wissen darum heute im Familiengedächtnis nicht mehr vorhanden ist. Diese verkürzte Darstellung geschah wahrscheinlich nicht nur wegen der Komplexität des Verfahrens und weil generell, wie es von Familienseite her heißt, in der Familie „nie von Geld gesprochen“ wurde, sondern wohl auch, weil der gesamte ‚deal‘ in der Folge zu schweren familiären Zerwürfnissen mit Paul führte. Wie gespannt das Verhältnis war, zeigt ein vermutlich 1940 geschriebener Brief Margarete Stonboroughs, die die Kriegsjahre ebenfalls in New York verbrachte, an ihren Bruder Ludwig: „Paul sehe ich natürlich nicht.“ (IEAB) Paul selbst war aufs Äußerste gekränkt von diesem Verhalten und den Vorwürfen seiner Schwester. Seine Tochter beschreibt, wie unversöhnlich der Vater war, aber auch wie schwer es ihm gefallen ist, mit diesem Streit zu leben: Paul took his moral duties seriously and was deeply hurt by what he deemed Margarete’s unjust criticism and [...] at no time could he be accused of putting selfish interests ahead of his responsibilities to others [...] In his heart of iron, he found it impossible to forgive his sister Margarete. (Ripley, 122, 146)
Auch nach dem Krieg vermied Paul Wittgenstein die Familie zu sehen und war auch nicht auf dem Begräbnis seiner ältesten Schwester Hermine: [...] he refused to visit Hermine, even as she lay dying, for she had not come to his defense during the quarrel with Margarete and he found that beyond his power to forgive. Thus, however tempting it may have seemed, Vienna was out of the question. (Ripley, 146)
Er fuhr nicht mehr nach Wien, aber doch regelmäßig zu Verwandten (den Brückes) nach Zell am See; und auch seine Tochter genießt es, gelegentlich in Österreich zu sein: „Returning to Austria every few years was food for the soul [...] It was a way of touching base, of coming home.“ (Ripley, 180)
69 Er vertrat in der ‚Cultural Section‘ die Musikabteilung. Vgl. Doew (Hg.), Österreicher im Exil. USA 1938–1945. Eine Dokumentation Bd. 2, Wien 1992, 262, 291.
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Hier wird Österreich als ‚verlorene Heimat‘ verklärt, was wohl auch der Logik einer solchen Konfliktgeschichte entspricht. Ihr Vater wollte solche Nostalgien nicht aufkommen lassen und hat auch Jahre später nicht über diese Vergangenheit geredet: [H]e could not so easily put the family quarrel behind him. It had spread like a cloud of poisonous gas killing old memories and associations as well as future relationships. Long ago the Wittgensteins had been a close-knit family, exchanging confidences, enjoying each others’ company and presenting a united front against an often confusing world. After the quarrel Paul became an exile, not only from his native land, but from his own family. He maintained a bitter silence about his past. Any conversation that came too close to his personal feelings or experiences was immediately steered in another direction. (Ripley, 145)
Wie schwierig die Situation auch für Hermine war, zeigt ein Brief des Bruders Ludwig an den Familienfreund Rudolf Koder: Es ist mir nicht unverständlich, daß Mining viel an Paul denkt. Ich glaube, sie will gleichsam von ihrer Seite Friede machen und in sich alle Bitterkeit, die doch existiert haben muß, auslöschen. (23.8.1949, KoderBr, 78f.)
Doch es blieb ein lebenslang ungelöster Konflikt, der nach dem Tod von Hermine auch Einfluss nahm auf die Ordnung ihres Nachlasses: In einem Brief schickte Ludwig Rudolf Koder als Geschenk Hermines „beste“ Zeichnung, ein Porträt des in der Familie beliebten Komponisten Josef Labor: Ich schenke Dir nun dies Original und bitte Dich diesen Brief als Schenkungsurkunde wohl aufzubewahren. Ferners bitte ich Dich die Zeichnung, wenn es möglich ist, in Deiner Wohnung aufzuhängen oder aufzustellen und sie nicht in einen Schrank zu legen; auch, sie testamentarisch nach Deinem Tod einem Mitglied meiner Familie zu vermachen. [...] Solange Du lebst, bist Du dazu der nächste; als mein Freund, ein Freund der Mining, und in gewisser Beziehung auch ein Freund des Labor. (KoderBr, 87f.)
Für das Ernennen eines nachfolgenden Erben gibt Wittgenstein Folgendes zu bedenken: Paul wäre offenbar der richtige Erbe, aber er hatte mit Mining gänzlich gebrochen und man kann ihm daher die Zeichnung nur als Erinnerung an den Labor und nicht als Erinnerung an Mining geben, was sie doch sein sollte. Es schiene mir ungerecht gegen die Schwestern, das Beste, was die Mining je gemacht hat, einem zu geben für den es keinen Wert als Erinnerung an die Mining haben könnte. Ja, es kommt mir sogar vor, daß Paul, wenn ihm die Zeichnung angeboten würde, sie anständigerweise nicht annehmen dürfte. […] Noch eines will ich sagen. Du könntest vielleicht einwenden, daß Paul das Andenken der Mining jetzt vielleicht hoch hält. Aber erstens ist
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kein Grund zu dieser Annahme, und zweitens müßte ihm das Andenken der Mining in diesem Falle sehr schmerzlich sein, da er grundlos mit ihr gebrochen hat. (30.3.1951, KoderBr, 88f.)
Dieser Briefwechsel zeigt deutlich, wie unversöhnlich die Kluft auch zwischen den Geschwistern Hermine und Paul war, und wie sehr beide unter diesem Umstand gelitten hatten, beide jedoch zeitlebens nicht mehr in der Lage waren, aufeinander zuzugehen. Das Netzwerk Familie In den Familienerinnerungen steht von dieser Nachhaltigkeit des Konflikts nichts. Statt der Logik einer Chronologie zu folgen, die Zeit nach 1945 zu beschreiben, geht Hermine auf der Zeitleiste zurück und beginnt die Geschwister des Vaters und das familiäre Netzwerk zu beschreiben, deren Einfluss es zu verdanken sei, wie sie schreibt, dass die Familie unbehelligt geblieben war. Explizit behandelt werden jene Brüder des Vaters, die seine Mitgesellschafter waren und mit ihrem Kapital seinen Aufstieg erst ermöglicht hatten. Auch deren Ehefrauen sind genannt, zu denen es ein herzliches Verhältnis gab. Die zwei ungeliebten Schwestern der Mutter bleiben unerwähnt. Es ist ein erneuter Rückblick auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert, auf die unterschiedlichsten beruflichen Karrieren und sozialen Initiativen, die wiederum die engen Netze untereinander und den erfolgreichen und zugleich karitativen Charakter der Familie unterstreichen, wie auch die gegenseitige Solidarität beim gleichmäßigen Teilen von Erbe. Insbesondere mit der Beschreibung der Tante Clara und deren Leben in Kalksburg referiert sie erneut auf die Stimmung in der alten Habsburger Ordnung, die sie am Anfang der Erinnerungen bereits beschrieben hat. Hatte die Autorin dort auf die gesellschaftliche Nähe des Großvaters zum Dichter Hebbel verwiesen, stellt sie nun den Schilderungen der Geschwister des Vaters einige Worte von Adalbert Stifter als Motto voran, „weil sie mich immer lebhaft an einige der zu Beschreibenden erinnert haben“: Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreis, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren, gelassenen Streben halte ich für groß […]. (FamEr, 183)
Damit ist nicht nur ihr eigenes Familienbild deutlich formuliert, sondern auch eine Anleitung gegeben, wie die Familie Wittgenstein zu betrachten ist. Die umfassenden Verwandtschaftsnetze sind in den Familienerinnerungen zwar allgegenwärtig, doch die Größe des Familienclans und dessen Präsenz in zentralen Positionen in Industrie, Wirtschaft und Bürokratie wird daraus kaum ersichtlich. Alleine bei den Figdors wurde etwas Einblick in ihre bedeutende Stellung in Wien gewährt, andere Kontakte, wie zu der weitläufigen Verwandtschaft der Salzers und Hochstetters bleiben unerwähnt. Die Oser’schen Erinnerungen hingegen zeigen viel präziser das Indi-
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viduum aufs engste eingewoben in das machtvolle Netz der Familie: Sie berichten, dass die Familie in „jedem Zweig des Lebens“ einen führenden Vertreter hatte, „im Heer, in der Kirche, in der Industrie, in der Landwirtschaft, an den Hochschulen, in der Verwaltung – auch in der Diplomatie“: Als ich 1905 in diese Familie kam, stand sie wohl in gewisser Weise auf ihrer Höhe, wenn auch die Männer in jener Zeit fast alle schon ihre Ämter niedergelegt hatten oder gerade niederlegten […] So lebte die Familie damals und bis zum Krieg im Gefühl stolzer Tätigkeit und dauernden Aufstiegs – ‚sehr exklusiv‘, wie man von außen meinte, in Wahrheit doch gewissermaßen gesättigt durch die Größe der Familie, die durch vieles Ineinanderheiraten der Familie vermehrt und zugleich in eigener Weise innerlich verbunden war. (Oser, 48)
Es gab zahllose Querverbindungen, dennoch lebte jeder Zweig für sich und nach innen gerichtet: Jedes der Geschwister lebte in seinem privaten Schaffen und dem Genuß seiner Wirksamkeit, die anderen bewunderten und respektierten es darin, hüteten sich aber auf das strengste, seine Kreise zu berühren – wirklich wie Souveräne untereinander. (Oser, 50.)
Jeder Besuch wird beschrieben als „eine Staatsaktion, die vorsichtig angemeldet wurde und immer nur höchstens eine halbe Stunde dauerte“. Damit geben die Oser’schen Erinnerungen einen Eindruck von den aristokratischen Attitüden zwischen Karl Wittgenstein und seinen Geschwistern. Sie erklären mit diesen familiären Attitüden aber auch den selektiven Blick Hermines auf den engsten Kreis ihrer eigenen Familie, die Teil eines nebulösen großen Ganzen bleibt. Zugleich wird aus dieser Außenperspektive deutlich: In der Generation des Vaters Karl Wittgenstein lebten dessen zahlreiche Brüder und Schwestern ihr jeweils eigenes Leben, ohne direkte Abhängigkeitsverhältnisse, während Hermine und ihre Geschwister sich nie richtig von der Familie emanzipiert hatten. Hermine und Paul lebten eng an das Elternhaus gebunden, während Margarete und Ludwig regelmäßig nach Hause zurückkehrten. In der Wittgenstein’schen Chronik wird zwar ein weiter Familienbegriff demonstriert, Angestellte und Musiker mit einbeziehend, dennoch bleibt das enge Verhältnis zu zahllosen Familienfreunden, wie Ludwig Hänsel oder Rudolf Koder, die als erweiterte Familie betrachtet wurden, unerwähnt, und es wird ähnlich den Oser’schen Erinnerungen eine in sich geschlossene Familie beschrieben, die sehr mit sich selbst beschäftigt ist: „Die Schicksale und Erlebnisse dieser großen Familie […] ließen nur wenig Raum mehr für andere Menschen.“ (Oser, 52) Beide Erinnerungen überschneiden sich in der Darstellung der Familie Wittgenstein, im Hinblick auf ihr soziales Prestige und auch in einer gewissen Dichotomisierung des Charakters der Familie zwischen ‚deutscher‘ Herkunft und ‚österreichischem‘ Wesen. So betont Hermine das „unöster-
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reichische“ Wesen des Vaters, zugleich bekräftigt sie jedoch mehrmals, dass sich die Familie als Teil der Monarchie verstand. Das Familienpalais in der Alleestraße war Ort eines kulturellen, musikalischen Zirkels um Clara Schumann, Johannes Brahms, Josef Labor und Gustav Mahler. Mit den Werken von Rudolf von Alt aus der Gemäldesammlung identifizierte sich Hermine in besonderem Maße, wenn sie schreibt: „[…] prächtige Werke […] die mir als Österreicherin ganz besonders zu Herzen sprechen“. Wenn sie mit der Aufzählung der Werke in einem geplanten Anhang intendiert, „einem kunstverständigen Menschen einen kleinen Begriff vom Geist der einstigen Besitzer“ (FamEr, 77) zu geben, vermittelt ihre Darstellung des einstigen Österreich noch viel mehr von diesem ‚Geist‘: Das Weltreich Österreich war buchstäblich zerfallen, und was jetzt Österreich hiess, bestand nur mehr aus Wien und einigen mehr oder minder gebirgigen Kronländern. Dem Durchschnittsösterreicher kam das vielleicht nicht einmal so ganz zum Bewusstsein, denn er hatte meist nur diesen Teil des Reiches kennen gelernt; wer kannte denn die ungarische Puszta, das einförmige Galizien, das halbtürkische Bosnien, den Karst und so fort? Nur das Militär und der Militärdienst hatten eine gewisse Beziehung zu den entfernt gelegenen Kronländern vermittelt. Jetzt war das Militär geächtet, das Kaiserhaus abgesetzt, seine Güter als Staatseigentum erklärt, und das verstümmelte Land war ein Land vom Gnaden der Feinde geworden […]. (FamEr, 130)
Auch die Oser’schen Erinnerungen betonen die charakteristisch österreichischen Elemente der Familie Wittgenstein, wie die Verbindung zu ihrer eigenen Familie und zu den Kupelwiesers, sie verweisen aber auch auf die an Sprache und Wesensart durchaus noch wahrnehmbare deutsche Herkunft: Kinder eines aus dem Reich gekommenen Vaters und selbst zum Teil noch in Deutschland geboren, das auch in der Sprache nie ganz verleugnend […] (Großmutter ‚Wittchenstein‘) […] eigentlich auch unösterreichisch mit ihrer schnellen, fast hastigen und verstandesklaren Art, waren sie doch ganz Österreicher geworden und fanden ihre vertrautesten Verwandten gerade in so echt österreichischen Familien wie den Osers und Kupelwiesers. Aber es war in der Zeit vor 1870, und so waren sie im Grunde Wiener, ziemlich unbekümmert um das größere Österreich, von dem man ja nur das Alpenland kannte und liebte, rein patriarchalisch denkende Menschen ohne politischen Willen, liberale Bürger des 19. Jahrhunderts. (Oser, 52)
Diese beiden Beschreibungen ähneln sich sehr in ihrer Dichotomisierung des deutschen und österreichischen Charakters. Diese ist nicht nur eine familienspezifische, sondern auch eine zeitspezifische Gegenüberstellung, die in Österreich nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, im Ringen um eine eigene österreichische Identität, durchaus präsent war. Wurde bei den Osers noch viel freimütiger über das österreichische und das deutsche Wesen nachgedacht als bei den Wittgensteins, bekommt diese Gegenüberstellung in den späten 1940er Jahren noch eine besondere politische Konnotation: Dem
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deutschen Nationalismus wurde zunehmend ein österreichischer Patriotismus entgegengesetzt. Damit leistete die Erinnerung an eine österreichische Identität zugleich eine Art von ‚Entnazifizierung‘. In der ‚Moskauer Deklaration‘ (1943) wurde Österreich noch im Krieg das „erste Opfer Hitlerdeutschlands“ genannt. In einer Radio-Rede im Jahr 1948, anlässlich des zehn Jahre zurückliegenden Anschlusses, griff Bundeskanzler Leopold Figl die Rede vom Opfer eines von außen kommenden deutschen Nationalsozialismus wieder auf, ein Geschichtsbild, das sich in der Diskussion um den Staatsvertrag verfestigte und Ende der 1950er Jahre mit dem Bewusstsein von Eigenstaatlichkeit verknüpft wurde.70 Damit lösten sich die individuellen Opfergeschichten in einer kollektiven Opfergeschichte auf. Die Wittgenstein’sche Chronik selbst vermittelt jedoch durchwegs einen unpolitischen Eindruck, wie auch die Oser-Chronik. Es liegt nahe, darin eine charakteristische Perspektive der 1940er Jahre zu sehen, wenn die „geistige Art und Leistung aller dieser Männer“, insbesondere aber ihre Politikferne betont wird: „Ohne im geringsten Politik zu machen, beherrschten sie gleichsam privat ein großes Stück von dem, was man damals Österreich nannte und im Grunde Wien war.“ (Oser, 51) Doch bereits in Paul Kupelwiesers Erinnerungen eines alten Österreichers (1918) werden die familiären Beziehungsgeflechte als völlig unpolitisch beschrieben: „Die Organisation eines Staatengebildes erinnert in meinen Augen doch sehr an die Organisation einer gut geleiteten Fabrikanlage.“ (Kupelwieser, 182) Statt Politik spielten in diesen Familienclans, welche die wirtschaftliche Entwicklung in Wien oder Prag bestimmten, geschickte Heiratswahl und platzierte Vereinsmitgliedschaften eine wichtige Rolle.71 Hermine Wittgenstein konzentriert sich an dieser Stelle in den Familienerinnerungen auf das Netzwerk Familie. Sie signalisiert, dass sie selbst nach den Umwälzungen von 1938 die Familie nach wie vor fest in Österreich verankert sieht. Kam zuerst der kulturell konnotierte Österreichpatriotismus eines Großbürgertums zum Ausdruck, dann die Assoziation Österreichs mit einem System der Bürokratie und einem Lebensstil, konzentriert sie sich nun vornehmlich auf den Familiennamen, der der Familie angeblich Schutz gewährt hatte. Ihr Verweis auf diesen „unterirdischen“ familiären Schutz bleibt jedoch sehr vage und es bleibt unerklärt, wer tatsächlich geholfen hat. Eine vielleicht auch bewusst gewählte Ungenauigkeit, hatte Margarete doch gute Kontakte zu führenden Nationalsozialisten, wobei es unklar bleibt, inwieweit diese Kontakte hilfreich gewesen sind. In jedem Fall ist die Erzählung vom „unterirdischen Schutz“ eine „glaubwürdige Unwahrheit“ im Sinne von David Lowenthal, der schreibt: Lebensgeschichten erhalten „erst Kohärenz und Glaubwürdigkeit durch freie Erfindung, oftmals unter Miss70 Vgl. Kanonnier-Finster/Ziegler, Österreichisches Gedächtnis, 62, 66 u. 235f. 71 Vgl. Zoltán Tóth, ‚Arme‘ reiche Frauen in Pest. Großbürgerliche Existenzen gegen Ende des 19. Jahrhunderts – drei Fallstudien, in: Margret Friedrich, Von Bürgern und ihren Frauen, Wien-Köln-Weimar 1996, 209–222. Ein Beispiel ist Klára Figdor, 210f.
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achtung bekannter Tatsachen“ bzw. der Verwendung „glaubwürdiger Unwahrheiten“.72 Schließlich sind es solcherart literarische Elemente der Fiktion, die den einzelnen Fakten erst eine Argumentation und das narrative Beiwerk für eine „dauerhafte Form“ verleihen, und sich zugleich gegenüber Korrekturen verschließen sobald sie erst einmal schriftlich fixiert sind und damit die Erinnerung zu „formelhafter Wiederholung“ verurteile.73 So war die Familie zwar reich und gut vernetzt, sodass diese Formulierung vom Schutz immerhin glaubhaft erscheint, andererseits war sie politisch nicht einflussreich und gegen die Nationalsozialisten machtlos. Es half nur das Opfern von materiellem Besitz, um sich dem Zugriff zu entziehen. Auch andere Erzählelemente enthalten einen fiktiven Charakter: Beschreibt Hermine Wittgenstein das Verhältnis zur Staatsbürgerschaft als ein emotionales – Paul, der „mit Leib und Seele Österreicher und österreichischer Reserveoffizier war“ (FamEr, 154) – zeigt sich in diesem Rückblick ein Wunschtraum der Autorin, war doch die Realität in Anbetracht der äußeren Zwänge eine andere: Ludwig hatte bereits 1938 die englische Staatsbürgerschaft angenommen, Paul ließ sich 1938 in New York nieder und nahm 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft an, während Margarete bereits seit 1905 durch Heirat Amerikanerin war. War in Folge dessen Hermines betonte Identifizierung der Familie mit Österreich der Versuch, die klaffenden Gegensätze innerhalb der Familie, wie jene zur Außenwelt, zu harmonisieren? Eine gemeinsame Basis bildet auch ein bestimmtes gesellschaftliches Selbstverständnis, wenn immer wieder der Heimvorteil der „Damen Stonborough und Wittgenstein“ erwähnten wird, die stets „gute Freunde“ hatten, um „wieder Mittel und Wege“ zu finden. (FamEr, 174f.) Daran wird das Selbstbild der Schwestern deutlich und wie sehr sie sich ihrer guten Beziehungen bewusst waren. Zugleich untermauert die Darstellung, dass Hermine und Helene außerhalb ihres Wiener Milieus keinerlei Verankerung hatten, ja sogar in ihrer Existenz bedroht waren. Margarete wird als eine Frau geschildert, die „ihr Lebtag lang in der Fremde an Heimweh litt“ und die viel für ihre Heimat geleistet hat, aber auch dafür, dass die Familie in der Heimat bleiben konnte. (FamEr, 127) Paul hingegen, beschrieben als einer, der wegen seines Ruhmes in Amerika leicht leben könne, wird zum Außenseiter stilisiert, weil er als einziger auswandern wollte. Paul war jedoch nicht der einzige der Familie, der emigrieren musste, um seinen Beruf weiterverfolgen zu können. Genaue Daten darüber, wer tatsächlich emigriert ist, wie der Cousin Ernst von Brücke, Helene Wittgen-
72 David Lowenthal, ‚History‘ und ‚Heritage‘. Widerstreitende und konvergente Formen der Vergangenheitsbetrachtung, in: Rosmarie Beier (Hg.), Geschichtskultur in der Zweiten Moderne, Frankfurt-New York 2000, 71–94, 90, 87. Lowenthal unterscheidet zwischen dem wissenschaftlichen Bemühen die Geschichte aus ihren Bedingungen heraus zu verstehen (History) und dem Bemühen die Vergangenheit aus dem Interesse der Gegenwart heraus zu verstehen (Heritage). Vgl. 75, 87f. 73 Lowenthal, ‚History‘ und ‚Heritage‘, 91, 89.
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steins Sohn Felix Salzer, Margaretes Ziehsohn Jochen von Zastrow (der dann in der amerikanischen Armee diente) oder der Familienfreund Oscar Wollheim, mussten anderen Quellen (wie den Familienbriefen) entnommen werden. Diese Auflösung der Familie dokumentiert die Familienchronik nicht. Während die Jahre 1938/39 in den Familienerinnerungen ausführlich beschrieben sind, beschränkt sich die Beschreibung der weiteren historischen Ereignisse auf einzelne Zwischenbemerkungen: die Flucht aus dem unmittelbaren Kriegsgebiet, zuerst auf die Hochreit, dann nach Gmunden in Oberösterreich, wie auch der sukzessive Verlust ihrer Besitzungen, die Besetzung der Hochreit durch ein deutsches Armeekommando, die Eroberung Wiens durch die Russen, die Beschädigung des Palais in der Alleegasse durch eine Fliegerbombe, schließlich der Einzug der Amerikaner in Gmunden. Diese kurzen Bezugnahmen auf die Gegenwart des Krieges schildern zwar die Ohnmacht gegenüber den politischen Mächten, dennoch zeigt Hermine die Familie als Gestalter ihres Schicksals. In diesem Sinne konzentriert sie sich nur auf die Familie in Österreich und geht auf Geschehnisse außerhalb – Teile der Familie sind in den USA/Kanada (Stonboroughs) oder in Schweden (Sjögrens) – nicht ein. An konkreten Ereignissen werden nur solche erwähnt, die erfolgreich gemeistert wurden und den Zusammenhalt der Familie stärkten, andere Realitäten sind ausgeblendet. Der Leser bekommt den Eindruck einer zutiefst österreichischen Familie, ohne ihre internationale Vernetzung oder Auflösung sehen zu können. Die Familienerinnerungen enden mit einem Nachruf auf Hermines Lieblingsnichte Marie Stockert, die 1948 verstarb. Es war die Tochter ihrer Schwester Helene und ihres Mannes Max Salzer (der Sektionschef im Finanzministerium war), die Hermine an der Hochreit beteiligt hatte, wie sie dem Bruder Ludwig im April 1917 schreibt: „[…] das Interesse und die Liebe die z.B. Mariechen für die Hochreit hat, verlängern förmlich mein Leben und mein Interesse dafür um eine Generation“. (FamBr, 35) Auch ihr Bruder hält dies im Sinne des ‚Familiengeistes‘ für richtig und antwortet: „Ja, ich glaube daß wenn Salzers nicht mehr auf die Hochreit können, die ganze Hochreit nichts mehr als eine traurige Erinnerung an vergangene hübsche Zeiten wäre.“ (FamBr, 38) Er selbst hatte einen regen Briefwechsel mit der Schwester Helene und teilt mit ihr die Liebe zur Musik, schätzt ihre verwandte Art von Humor und Wesensart, doch insbesondere ihre „harmlose Fröhlichkeit“ und den „Sinn für gesellschaftliche Gemütlichkeit“. In der Familienchronik werden Helene und Marie auch als diejenigen beschrieben, die sich an der Familienchronik am meisten interessiert zeigen. So schreibt Hermine die Idee zu den Familienerinnerungen ihrer Schwester zu und schildert die Nichte als diejenige, die den Schreibprozess aktiv mitverfolgte. Warum es gerade Helenes Idee gewesen sein sollte, kann vielleicht mit ihrem spezifischen Leiden an den politischen Ereignissen erklärt werden. Rudolf Koder schreibt im Dezember 1938 an seinen Freund Lud-
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wig Wittgenstein, wie die politischen Umstände sie bedrücken: „Am wenigsten gut geht es jetzt Deiner Schwester Helene. Sie ist riesig reizbar u. meist nur erfüllt von Gedanken um die Schwierigkeiten.“ (KoderBr, 60) In der Chronik unterstreicht Hermine noch einmal die Belastung, die das nationalsozialistische Regime für Helene und ihre Tochter Marie war, insbesondere nach dem Tod des als ‚arisch‘ eingestuften Ehemannes im Jahr 1941 – was die Frage aufwirft, ob es nicht besser gewesen wäre, sich den Kriegsstrapazen zu entziehen und auszuwandern. Die Schilderungen lassen zumindest an der früheren Argumentation Hermines, das es auch im Sinne Helenes gewesen sei, nicht auszuwandern, Zweifel aufkommen. Marie Stockert war eine der fünf Nichten und Neffen (neben Felix Salzer, Clara Sjögren, Thomas Stonborough und John Jerome Stonborough), die Hermine Wittgenstein wegen ihrer eigenen Kinderlosigkeit aus erbrechtlichen Gründen im Jahr 1947 adoptierte. Können die Familienerinnerungen in gewisser Weise als Hermine Wittgensteins Nachlass gelesen werden, erstaunt, dass sie die Adoptionen, welcher zur selben Zeit mit dem Verfassen der letzten Seiten der Erinnerungen vollzogen wurden, unerwähnt lässt. Dennoch thematisiert der Nachruf auf Marie Stockert nicht nur ihren besonderen Bezug zur Hochreit, ihrem materiellen Erbe Hermines, sondern auch ihr Verhältnis zu den Familienerinnerungen, Hermines immateriellem Erbe. Damit bleibt die Autorin selbst als Akteurin im Hintergrund, doch die Familienchronik wird als ‚geheimer‘ Nachlass deponiert, als informelles Erbe.
3. H ERMINE W ITTGENSTEIN Wie präsentiert sich nun die Autorin selbst in ihrer Familienchronik? Hermine Wittgenstein war die Älteste der Geschwister. Sie hatte den Vater auf seinen Reisen begleitet und seinen Aufstieg direkt miterlebt – was aus den Familienerinnerungen nicht herauszulesen ist. Dort verweist sie lediglich auf die vielen habsburgischen Kronländer, die dem durchschnittlichen Österreicher gar nichts sagen und damit indirekt darauf, dass ihr diese Weitläufigkeit der Monarchie durchaus vertraut war. Gemeinsam mit dem Vater hatte sie auch die Gemäldesammlung der Familie aufgebaut. Wenn sie als heimlicher „Kunstdirektor“ des Vaters, wie er sie manchmal nennt, einen erheblichen Einfluss hat, ist von ihrer Tätigkeit nichts zu lesen – außer einer Episode, die beschreibt, wie der Vater ein von ihr ausgewähltes Bild von Goya nicht genehmigt, weil es nicht in die Sammlung hineinpasse. In der Beschreibung seiner Unterstützung für die Wiener Secessionisten, die sich „endlich“ zu einer selbstständigen Künstlervereinigung zusammenschlossen, zeigt sich, in Übereinstimmung mit dem Vater, ihre Positionierung zugunsten der jungen Künstler. Ihre tiefe Verehrung für Gustav Klimt sei es gewesen, welche den Vater zu einer hohen Geldspende für den Bau der Secession veranlasst habe, schreiben Allan Janik und Stephen Toulmin in Wittgen-
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steins Wien.74 In den Familienerinnerungen erwähnt sie Gustav Klimt und sein Gemälde von ihrer Schwester Margarete lediglich in einer Anekdote, die ihr Bruder im Krieg erlebt hat, bei seiner ersten Begegnung mit dem Bildhauer Michael Drobil. Dennoch ist ihre Kritik an der Wiener Kulturszene für ihre Rückständigkeit und Traditionslastigkeit eine klare Parteinahme für die Secessionisten. Hier zeigt sie sich als modern und weltgewandt, mit den Entwicklungen in der Kunst durchaus vertraut. Um so mehr erstaunt die nur sporadische Erwähnung von Klimt oder anderen Vertretern der Moderne (Ferdinand Hodler, Giovanni Segantini), mit denen die Familie Kontakt hatte. Dies ist mit der Beobachtung von Hermines Großnichte Cecilia Sjögren zu erklären, dass der Stellenwert von Musik in der Familie immer ein deutlich höherer war. Sichtbar werde das auch daran, dass auf Familienphotos die Musiker stets mit Vornamen oder mit vollem Namen, die Maler hingegen (wie auch Bedienstete oder Förster) lediglich mit Familiennamen bezeichnet wurden.75 Viele Aufträge an die Wiener Werkstätte wurden im Namen Hermine Wittgensteins durchgeführt. Diese Kontakte und Aufgaben widersprechen deutlich ihrer wiederholten Selbstbeschreibung als „weltfremd“, was nicht nur in den Familienerinnerungen in synonymen Formulierungen („verträumten Egoismus“) wiederholt wird, sondern sich in früheren wie späteren Briefen wiederfindet. So schreibt sie 1917 an den Bruder Ludwig: Mama würde sehr viel verlieren wenn sie nicht mehr für Paul sorgen könnte […] Auch sonst kommt durch Paul ab und zu Jemand in’s Haus während es doch, wenn nur ich zu Hause wäre, recht tot wäre. (FamBr, 32)
Den Ersten Weltkrieg beschreibt sie als Wendepunkt in ihrem Leben, wenn sie ihre Malerei als egoistische Beschäftigung disqualifiziert, von der sie sich abwenden möchte, weil sie ihren natürlichen Hang zu Einsamkeit und Rückzug verstärke. Diese Zäsur – oder besser gesagt, Sehnsucht nach einer Zäsur – unterstreicht eine Episode aus dem Jahr 1917. Damals zerriss sie nach langer Arbeit ein Bild von Margaretes Salon in der Krugerstrasse, welches eigentlich als Abschiedsgeschenk gedacht war. Ursula Prokop sieht darin nicht nur Zweifel von Hermine an ihrem Talent, sondern die viel tiefer liegende Tragödie einer Frau über 40, ohne eigenes Familienleben und voll Angst vor zukünftiger Einsamkeit.76 Das zeige sich darin, wie Gretl die ältere Schwester tröstet und zum Weitermalen ermuntert und zugleich zu ihrer Beraterin wird, manifestiert im Wechsel der Briefanrede von „Herzensalte“ (so wurde die Mutter liebevoll vom Vater genannt) zu „Herzenskind“:
74 Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, 203f. 75 Vgl. Sjögren, Die Familie, 116. 76 Vgl. Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 88.
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Ich kann an einer angeborenen Einsamkeit nichts wehmütiges finden. Du wärst einsam, selbst wenn Du von einem lebendigen sich ausbreitenden Haufen von Mann und Kindern umgeben wärst, genauso, wie die Mama eigentlich einsam war, auch als der Papa lebte und wir alle zu Hause waren. Die Lenka ist von Natur aus gesellig, für sie wäre Dein Leben und Deine Zukunft eine erzwungene Einsamkeit und sie hätte dann auch ein Recht das wehmütig zu finden. Ich kann gar nicht verstehen, wie Du überhaupt auf so einen Gedanken kommen kannst. […] Erstens bist Du einsam, weil Du es so willst. Zweitens ist ein Mensch, der so viel geliebt wird wie Du, nicht einsam und Drittens sind alle Menschen einsam. (18.5.1917, P.ST.)
Hermines Problem, sich einsam zu fühlen, findet sich des Öfteren in ihren Erinnerungen formuliert. Nicht zu wissen, wie sie sich in die Gesellschaft sinnvoll einbringen kann, war jedoch nicht nur ein persönliches Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen im beginnenden 20. Jahrhundert. Viele der gebildeten Töchter aus gutem Hause fühlten sich – wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten und des auf Ehe und Familie beschränkten „Glücks“ – unterfordert oder überflüssig, was häufig zu psychischen Krisen führte. Dieses Dilemma wird in den Erinnerungen der Familie Oser ausführlich beschrieben. Vor diesem Hintergrund entstand auch der Verein gegen Armut und Bettelei, der Mitgliedern der Familie zum Teil bezahlte karitative Arbeit verschaffte. Hermine wurde in den Vorstand aufgenommen. So fand sie eine Tätigkeit, die in ihren Kreisen selbstverständlich war, ein Engagement, das in der Schwesternarbeit während des Ersten Weltkriegs oder später in der Arbeit in ihrer Kindertagesheimstätte eine aktive Fortsetzung fand. Ihr Bedürfnis nach Veränderung war wohl auch zentral beeinflusst vom Tod des Vaters im Jahr 1913. In der Literatur, bei Musil, gilt der Tod des Vaters oft als Symbol für die Auflösung der alten Welt. Auch für Hermine ist es ein großer Einschnitt in ihrem Leben. In den Familienerinnerungen beschreibt sie, wie sie unmittelbar nach dem Tod des Vaters mit der Umgestaltung der Hochreit nach ihren Vorstellungen begann. In ihren Briefen wird dieser emanzipatorische Akt noch viel sichtbarer, auch dass die Umbauten der beiden Stadtwohnungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Emanzipationsgeste gegen ihr Elternhaus gesetzt waren, als sie auf Rat des Bruders Ludwig den Architekten Paul Engelmann auswählte und damit mit der Familientradition – der Förderung der Wiener Werkstätten (insbesondere Josef Hoffmanns) – brach und sich bewusst vom Ästhetizismus der Jahrhundertwende, der Ästhetik des Vaters, löste. Dass sie den Vater als „Übervater“ wahrgenommen hatte und die Ohnmacht der Mutter als Konsequenz dessen sah, zeigt ein Brief vom Sommer 1917 an den Bruder Ludwig: Interessant wäre es zu wissen, was aus Mama geworden wäre, wenn sie jemand anderen geheiratet hätte, denn tatsächlich ist sie doch wie eine, nicht verkümmerte, aber beengte Pflanze, die erst nachdem der große Baum fort ist, noch ein bisschen austreibt. Sogar die Wohnung in Neuwaldegg wird, wenn es uns gelingt sie so einzurich-
264 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS ten wie wir wollen, ein Loslösen von Papa zu Gunsten der von Mama im alten Haus eingeschlagenen Richtung sein. ([25.7.1917], IEAB)
Hier zeigt sie Verständnis für die Mutter, und die Suche nach einem eigenen Stil scheint eine zweifache Emanzipationsgeste zu sein, für sich und ihre Mutter. Auch aus der Beschreibung ihrer verzweifelten Berufssuche wird klar, dass nun nach dem Wegfall der Wertvorstellungen des Vaters neue Wege zu beschreiten waren. Eine erste Idee hat sie, als sie krank im Bett liegend dem Bruder Ludwig schreibt: Das einzige Gute ist dabei, dass es mir eine Ruhe beschert wie ich sie in meinem Leben noch nicht hatte [...] so kann ich allerlei Gedanken nachhängen. Da habe ich mir z.B. für mich etwas ausgedacht von dem ich mir Freude verspreche, wenn ich überhaupt im Stande bin so etwas zu führen: eine Beschäftigungsanstalt für 10-15 Buben, die nach der Schule hinkommen um ihre Aufgaben unter Anleitung zu machen und mit denen man sich vernünftig beschäftigt. Es müsste in den Grinzinger Baracken sein, das Essen für die Kinder würde mir die Lecher beistellen und ich würde auch ihre Action noch leiten wie bisher. Ich hätte dann eine kleine Anzahl Kinder für mich, deren Wohl mir anvertraut wäre und denen ich es so gut machen könnte als ich nämlich könnte d.h. so weit mein Kopf und Herz reicht. Was draus werden wird weiss ich noch nicht, aber versucht muss es jedenfalls werden. (4.10.1920, IEAB)
Wenige Tage später schildert sie ihm die Verwirklichung ihrer Tagesstätte als bewusst gesuchte Aufgabe und Herausforderung: […] ich hätte so gerne meinen Plan der Beschäftigungsanstalt verwirklicht; fast weniger um die Freude zu haben, als um endlich zu sehen welche Schwierigkeiten die Sache hat und wie ich im Stande bin sie zu überwinden. Ich bin ja entsetzlich unpraktisch geboren und erzogen und ganz weltfremd, da graut es mir schon ein wenig vor der ganzen Sache. Und doch ist es für mich eine Lebensfrage, irgendwie muss ich zu Rande kommen! (19.10.1920, IEAB)
Es folgen in den Familienerinnerungen langatmige Beschreibungen der, wie sie es nennt, „öden“ Zwischenkriegsjahre, wenn sie ihre Tätigkeit im Heim detailliert und unaufgeregt über Seiten hinweg schildert, diese jedoch mit Selbstironie kommentiert: Jetzt „hab ich mir die Erinnerungen an meine kleine Beschäftigungsanstalt von der Seele geschrieben und mich vielleicht zu lange von diesen harmlosen Szenen nicht trennen können“. (FamEr, 152) So „klein“ war ihre Tagesheimstätte aber gar nicht: Wilhelmine Kubat, die ab 1929 neun Jahre lang für Hermine Wittgenstein gearbeitet hat, beschreibt in einem Erfahrungsbericht die Routine und den ‚Geist‘ des Tagesheims, in welchem sie 30-35 Jungen zu beaufsichtigen hatte:
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Abbildung 10: Hermine Wittgenstein vor ihrem Kindertagesheim in Grinzing (Wittgenstein Archive, Cambridge)
Die Buben kommen mit ihren Schulsachen aus der Schule gleich ins Heim. Zwischenstationen waren verboten. [...] Beim Mittagessen und im Lauf des Tages hatten die Buben kleine Pflichten zu erfüllen. Nach meiner Erfahrung ist es sehr wichtig, die Kinder durch Arbeit im u. für das Heim, für die Gemeinschaft zu erziehen. Es schafft die Arbeit, sei es die Pflege des Heimes, oder eine Verschönerung [...], Spielzeug für die Kleineren u.s.w. ein festes Band u. die Kinder empfinden bei allem, was sie selbst leisten, ‚das ist für unser Heim‘ u. schonen auch die Heimsachen dementsprechend. Ich finde, man muß in den jungen Menschen das Gefühl wecken, in irgendeiner Form selbst auch gerne zu geben. Auf diesem Grundgedanken war die Heimarbeit aufgebaut. [...] Nachmittag, bis ½ 4 war Lernstunde, der Erfolg der regelmäßig gearbeiteten Schulaufgaben blieb nicht aus [...] Die Schulleiter schickten uns deshalb vor allem ihre Sorgenkinder. [...] Eine sogenannte Schülerbesprechung war im Heim eine große Sache u. die Frau Leiterin brachte die Jungen so weit, dass es keinem gleichgültig war, was man zu ihm sagte. Regelmäßig wurde auch gesungen. Die Heimleiterin, selbst äußerst musikalisch, erreichte da schöne Erfolge. [...] Man kann den Kindern ein gutes Elternhaus wohl nicht ersetzen, doch ist das Heimleben für alle die vielen jungen Menschen, die kein gutes Zuhause haben, ein großes Glück. Hier können sie sich frei u. gesund entwickeln u. die große Gefahr des schlechten Beispieles fällt weg. [...] Eine gute Einteilung u. die Heranziehung der Kinder zu gemeinsamer Arbeit.77
Auch wenn dieser Bericht 1941 entstanden ist, und nationalsozialistisches Gedankengut diese Zeilen mit eingefärbt hat, gibt er doch Einblick in die
77 Wilhelmine Kubat, Erinnerungen an Meidling, vom 29.8.1941, Ser.n. 37581 Han, ÖNB.
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Heimarbeit und wie die Heimleiterin wahrgenommen wurde. Die Beschreibungen von Hermine Wittgenstein selbst sind ambivalent, einerseits zwar auch überaus beschaulich konzipiert, andrerseits schildert sie dort ihren Selbstfindungsprozess, eine Unruhe und Unzufriedenheit sowie eine gesellschaftliche Polarisierung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, die Ausdruck findet in banaler Alltäglichkeit. Widersprüchlich ist auch die Bewertung dieser Aufgabe: Schildert sie jene zu Beginn noch als absolut „lebensnotwendig“, wie auch in Briefen aus jenen Jahren, heißt es im Kontext des Jahres 1938, dass ihr Leben vom Anschluss nicht sofort berührt worden wäre, wegen ihrer „Weltabgeschiedenheit“, „mit Ausnahme des Verlustes meiner Tagesheimstätte, die mir ja nicht so unbedingt ans Herz gewachsen war“. (FamEr, 156) Dieser Satz erstaunt – ist doch diese das zentrale Projekt der letzten zwei Jahrzehnte gewesen und als solches in den Erinnerungen auch mit zahllosen liebevollen Details beschrieben worden. Hier hatte sie ihre ‚eigene‘ Familie gefunden, was die innige Beziehung zu einzelnen der betreuten Kinder zeigt. Eine Formulierung aus Selbstschutz, um die Enttäuschung zu verbergen, oder eine Art Resignation angesichts der äußeren Umstände, oder ging es ihr von Beginn an weniger um Selbstverwirklichung als einer Rollenerwartung ihres sozialen Milieus oder der Familie nachzukommen? Die Frauen hatten in der Familie Wittgenstein eine starke Position inne. Die Großmütter, die Tanten und die Schwester Margarete schildert sie in den Familienerinnerungen als starke Persönlichkeiten, abgesehen von der Mutter, der Schwester Helene und ihr selbst. Auch die Erinnerungen der Familie Oser betonen die ‚Frauenpower‘ und die zunehmend ‚verweiblichte‘Familie Wittgenstein im Zuge des Machtverlusts ab 1905 und durch den tragischen Tod einiger Söhne:78 [...] immer weiblicher, zumal auch in der älteren Generation die Frauen in der Überzahl waren und bei allem Respekt, den sie ihren Männern mit Recht widmeten, doch die Führung hatten. Das weibliche Selbstbewusstsein war darum in der Familie besonders stark und wurde in der jüngeren Generation noch genährt durch das Vorbild ihrer Tante Betty, die ja sogar auf die englische Suffragettenbewegung gewirkt hat. (Oser, 8)
Trotzdem scheint die Vorbildwirkung von Bertha Kupelwieser begrenzt zu sein. Einerseits wird die jüngere Schwester von Karl Wittgenstein bewundert dafür, dass sie ihren Töchtern vorgeschrieben habe, ihre Erbe selbst zu verwalten, andererseits wird sie in den Stereotypen ihrer Zeit beschrieben: sie habe die Autorität des Mannes nach außen hin geachtet, war sparsam mit dem Wort ‚Ich‘, lebte im engen Bezug zu ihrer Familie, die ihr die meisten Anregungen gab, summiert im Grimm’schen Dichterwort: „Hausfrau selbst
78 Zwei bzw. drei Söhne (je nach Interpretation) von Karl Wittgenstein hatten sich das Leben genommen, ebenso einer von Bertha Kupelwieser, und drei Söhne der Familie Pott (deutscher Familienzweig) waren durch Unfälle, im Krieg und durch Krankheit umgekommen.
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so schlicht und leise.“ (Oser, 5 u. 18) Auch in der Wittgenstein-Chronik wird Bertha Kupelwieser erwähnt. Ihr frauenemanzipatorisches Engagement wird jedoch anonymisiert und sie als eine „Freundin“ kritisiert, welche die Tante Clara „zu einer kritiklosen Sympathie“ für die „gesetzwidrig“ agierenden Suffragetten, die das Wahlrecht der Frauen erzwingen wollten, verleitet habe. Für Hermine eine „Art von mißleitetem Idealismus“. (FamEr, 227) Mehr geschätzt war Tante Bettys Engagement als Leiterin eines Chores, in dem Hermine mitsang und der von ihrer Schwester Helene später übernommen wurde. Hermine behandelt die Problematik ihres Frau-Seins nicht gesellschaftsbezogen, sondern zu ihren Ungunsten personalisiert, zeigt ihre Probleme als individuelles Unvermögen, statt auf das Umfeld und die Rahmenbedingungen näher einzugehen. Bezugsrahmen für sie ist weniger die Gesellschaft als ihre Geschwister. Margaretes vielfältiges, doch stringentes Leben bildet den Hintergrund, vor welchem die älteste Schwester ihren eigenen ungerichteten Lebenslauf ausbreitet: ihre Abwendung von der Malerei, das Suchen nach einer neuen Beschäftigung, das Mitarbeiten in einer Kindertagesstätte und die Gründung ihrer eigenen. Diese Form der Selbstdarstellung, die Schwester als Kontrastfolie für das eigene Leben, ist nicht nur ein Stilmittel in den Familienerinnerungen, sondern auch in den Briefen. Über die Schwester heißt es gegenüber Ludwig in einem Brief: „Mir gefällt sie so sehr gut, und ich muss es gestehen, sie imponiert mir auch sehr.“ Über sich selbst schreibt sie: Sehr neugierig bin ich auf mein eigenes Leben in der nächsten Zeit, ob ich irgend einen Weg zu einem befriedigenden Leben finden werde. Ich lebe immer so in den Tag hinein, bis ich in einer Sackgasse drin stecke und dann sehr mühsam wieder aus dem Tag heraus leben muss. Doch habe ich so vieles was mir Freude macht […]. (FamBr, 73)
Wird die Schwester als emanzipiert, modern und zielorientiert beschrieben, präsentiert sie sich selbst als zweiflerische, orientierungslose, passive Person; wird jene als aktiv und fordernd wahrgenommen, wird sie selbst von einem Cousin das „Schäfchen der Familie“ genannt. Dagegen protestiert die Autorin zwar, indem sie dieses Attribut als „Vorurteil“ (FamEr, 123) bezeichnet, hätte es aber wohl nicht zitiert, wäre ihr diese Zuschreibung allzu fremd gewesen. Es unterstreicht – falls keine Pose – ihr geringes Selbstbewusstsein und ebenso die Kritik an ihrer „sonderbar einschichtigen Jugendzeit“ (FamEr, 212), in der sie außer der Malerei nichts gelernt habe. Selbst die Präsentation als Familienchronistin ist keine autonome. Indem sie die Idee ihrer Schwester Helene zuschreibt, entzieht sie sich der Verantwortung für die Angemessenheit und das Gelingen des Projekts, obgleich die Zuweisung dieser Aufgabe von außen natürlich auch eine Form der Anerkennung und der Ehre bedeutet. Sie selbst diskreditiert ihre Erinnerungen als „Gefüge harmloser Aufzeichnungen“, wenn sie jene den „Äußerungen eines großen Geschäftsmannes“, den Aufzeichnungen ihres Vaters, gegenüberstellt (FamEr, 60). Doch waren die Familienerinnerungen und die Autorin wirklich so
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harmlos? Die Episode der Selbstfindung in den 1920er Jahren und der Emanzipierung vom Vater durch die grundlegende Umgestaltung der Hochreit und des Elternhauses in der Alleegasse sowie des Sommerhauses in Neuwaldegg zeigen einen emanzipatorischen Willen der Autorin – doch ihre Form der Selbstdarstellung erstickt diesen Eindruck fast gänzlich. Sie beschreibt sich mehrmals als „weltfremd“, eine Zuschreibung, die auch den 1940er Jahren geschuldet sein kann. Doch Hermine war gewiss nicht weniger als andere Zeitgenossen über die politischen Geschehnisse informiert, diese wurden nur aufgrund der eigenen sozialen Stellung nicht so ernst genommen, eine Fehleinschätzung, die auch die Geschwister Margarete und Ludwig teilten. Hermine schreibt in dieser spannungsgeladenen Zeit, im Oktober 1938, an Ludwig: Jetzt sind ernste Zeiten für die Familie, ein grosses Abrechnen und Prüfen aller Verhältnisse, abgesehen von den äußeren Gefahren. Manchmal seh ich alles deutlich vor mir und denke mir: Kein Stein wird auf dem anderen bleiben. Dann wieder ist mir alles verhüllt und ich komme mir vor wie ein grosses Kind, das zu allem lachen kann. Es geht eben über mein Fassungsvermögen was jetzt vorgeht. (FamBr, 162f.)
Aber, so ließe sich fragen, kann jemand, der siebzehn Jahre lang eine Kinderlehranstalt führt, während des Ständestaats in ein größeres Gebäude umzieht, welches dann aus politischen Gründen von den Nationalsozialisten geschlossen wird, wirklich so weltfremd sein? Mit dem Börsenkrach von 1929, als viele bürgerliche Familien ihr Vermögen verloren hatten, mussten auch die Wittgensteins erhebliche Sparmaßnahmen in Kauf nehmen, und Hermine Wittgenstein schreibt: „Hier wird jetzt nur mehr vom Sparen geredet und ich bilde mich jetzt zur ‚Hausfrau modèle‘ aus“. ([1931], FamBr, 131f.) Wie ein Brief an Ludwig zeigt, kam sie über die Tagesstätte auch mit dem Bürgerkrieg im Jahr 1934 direkt in Berührung: Wir waren an dem bösen Montag alle ahnungslos, während meine Meidlinger Buben schon mit den Worten in’s Heim kamen: heute wird die Regierung gestürzt und der Dollfuss gehängt! [...] Es ist eine furchtbar traurige Angelegenheit und ich wundere mich wie rasch man so etwas vergisst, wenn man nicht direct dabei war! (FamBr, 145f.)
Ein Brief an ihren Neffen Thomas zeigt, dass sie der gesellschaftliche Wandel im neu errichteten autoritären, christlichen Ständestaat stört, und sie zumindest theoretisch über Alternativen nachdenkt: Sie [Margaret] hat mir neulich so zugeredet doch nach Amerika zu fahren, da mich wirklich alles ungeheuer interessiert was ich von dieser, der österreichischen so diametral entgegen gesetzten Welt höre. Und wenn man bloß theoretisch darüber spricht, so wäre es ja tatsächlich vernünftig sich einmal ganz andere Möglichkeiten des Lebens und der Bestätigung anzusehen, als in dieser Meidlinger Sache zu verhar-
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ren, die sich immer mehr zu einer großen Enttäuschung ausbildet, je Katholischer das Haus wird und es wird ständig katholischer!79
In der Familienchronik, bei der Beschreibung des Weihnachtsfestes im Jahr 1937, betont sie, dass sie sich beim Festprogramm der Weihnachtsfeiern in der Tagesstätte jedes Jahr den jeweiligen politischen Verhältnissen angepasst habe, um eine „neutrale Haltung“ bemüht: Sonderbarerweise färbte die Politik ein wenig auf das Programm der Lieder und Vorführungen ab, denn wir machten in den siebzehn Jahren große politische Wandlungen mit, und da ich zu den Festen auch wohl einen Schuldirektor, einen Bezirksvorsteher und ähnliche Amtspersonen einladen wollte, mußte ich eine neutrale Haltung einnehmen. Trotzdem schien es den Leuten einmal zu militärisch, ein anderes Mal zu religiös, oder auch wieder nicht religiös genug, aber unsere Gemütlichkeit und Herzlichkeit siegte über alles, diesem Eindruck konnte sich niemand entziehen. (FamEr, 146)
Hier wird doch deutlich: Das Private dem Öffentliche gegenüberzustellen verkürzt hier nur das politische Verstehen.80 Nichts war unpolitisch, auch nicht das Weihnachtsfest in einer Tagesstätte für Kinder. Kinderhortleiterin ist eine offizielle Position, die verlangt sich zu positionieren. Wie auch sozial motiviertes Engagement in einem Verein einen öffentlichen Wirkungsgrad hat. Erst recht bedurfte die Doppelrolle Tagesheimleiterin und Gutsherrin einer bewussten Haltung. Aber auch in jungen Jahren war sie nicht nur Malerin, sondern engagierte Kunstsammlerin für ihren Vater. Auch das erforderte rege Kontakte mit offiziellen Stellen und Künstlern. Demnach war Hermine Wittgenstein viel aktiver und politisch aufgeklärter als sie sich selbst präsentiert. In den Familienerinnerungen gewährt sich die Autorin selbst nur einen bescheidenen Raum, doch bei näherer Betrachtung zeigt sich doch ein mehr oder weniger bewusst gestalteter Nachlass. Eine Erzählstrategie bedeutet schließlich auch, eine Handlungsstrategie zu haben:81 Sie erzählt und ist damit aktives und gestaltendes Familienmitglied. Deshalb soll hier noch ein genauerer Blick auf ihre Erzählweise gerichtet werden, was ihr Erzählstil selbst, unabhängig vom präsentierten Inhalt, verrät. Denn es gibt auffallende Leerstellen in der Chronik. Bieten diese einen Schlüssel zum besseren Verständnis der Chronik? Deutlich ist der sehr selektive Zugriff auf die Familienmitglieder. Nur wenige (der Vater, und die Geschwister Ludwig und Margarete) werden eingehender beschrieben, und nur jene werden erwähnt, die das harmonische Gefüge nicht stören – abgesehen vom Bruder Paul, der damit zu einer zentralen Figur der Erinnerungen wird. Auffällig sind die ausufernden Beschreibungen harmloser familiärer Alltäglichkeiten, und dagegen die relative Abwesenheit des Kriegsalltages,
79 Undatiert, Ser.n. 1292/59-4 Han, ÖNB. 80 Whitebrook, Identity, Narrative and Politics, 77f. 81 Keupp, Das Patchwork der Identitäten, 215.
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wie er die einzelnen Familienmitglieder konkret berührt hat. Völlig ausgeblendet bleibt die Nachkriegszeit, obwohl Hermine gerade in diesen Jahren die Erinnerungen schreibt. Hier bleibt zu fragen: Was unterliegt der Selbstzensur, um andere oder gewisse Normen nicht zu verletzen? Werden manche Erfahrungen spontaner in Tagebüchern oder Briefen abgehandelt und entziehen sich dadurch dem Genre Familienchronik? Sind es bewusste Strategien des Vergessens, Erinnerungslücken oder Unachtsamkeit, welche jene Leerstellen erzeugen, oder lediglich die Notwendigkeit zu Reduktion und Auswahl?
IV. Vergessen: Eine Strategie oder Zufall?
Erinnern und Vergessen liegen sehr nahe beieinander, in gewisser Weise gründet sich das Erinnern auch auf das Vergessen: „Memory is founded on forgetting“.1 Diverse Faktoren beeinflussen das Erinnerungsvermögen des Einzelnen erheblich, wie die Art des gewählten autobiographischen Genres oder das Schreibumfeld, mit seinen gegenwärtigen Anforderungen an die Vergangenheit. Das literarische Genre wie auch der gesellschaftspolitische Kontext, beide geben gewisse Erzählmuster und damit Inhalte und Leerstellen vor. So zeigt beispielsweise eine Analyse des deutschen jüdischbürgerlichen Familiengedächtnisses, dass in den Autobiographien und Familienerinnerungen vor 1933 „bemerkenswert wenig von der allgemeinen antisemitischen Stimmung seit den späten 1870er Jahren die Rede“ ist, und wenn, so nur in „räumlich oder zeitlich […] weit entfernte[n] Sphäre[n]“2 – während Tagebücher reale Konfrontation und Benachteiligung schildern. Diese unterschiedliche Repräsentation von anti-jüdischen Ressentiments erklärt Miriam Gebhardt mit dem Grad an Öffentlichkeit des jeweiligen Genres. Während im persönlichen, intimen Schreiben Verfolgungen und Missstände benannt werden, werden sie in Familienerinnerungen oder Autobiographien oft nicht erwähnt. Diese Diskrepanz zwischen privater und öffentlicher Repräsentation offenbart eine explizite Strategie des Vergessens. Ist Erinnerung in ihrer Anlage eher harmonisierend, selektiv gerichtet auf das, was der Integration zuträglich war, nennt Gebhardt dieses Vergessen der Momente des Scheiterns doch „strategisch“, weil es der Stimmung und Hoffnung auf Integration unter den deutschen Juden dieser Zeit entsprach: Der Glaube galt als Privatsache und als zweitrangig in der Selbstdefinition als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Bei Gebhardts Untersuchung zeigen selbst für den Familienbereich gedachte Erinnerungen diese Formen des „strategischen Vergessens“, also eine intendierte Öffentlichkeit, während das Tagebuch keine Beeinflussung dieser Art reflektiert.
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2
Gisela Brinker-Gabler/Sidonie Smith (Ed.), Writing New Identities. Gender, Nation, and Immigration in Contemporary Europe, Minnesota-London 1997, Introduction, 17. Gebhardt, „Vom Ghetto zur Villa“, 186.
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Ähnliche Diskrepanzen gibt es beispielsweise zwischen den Genres Roman und Tagebuch: Während Stefan Zweig mit der Welt von Gestern als der Vertreter des Habsburg-Mythos gilt, zeigt sein Tagebuch Kriegsbegeisterung, eine deutschnationale Haltung und eine Gleichsetzung der Habsburgermonarchie mit „Unentschlossenheit, schlechter Organisation, in den östlichen Provinzen sogar mit Unehrenhaftigkeit und Betrug“.3 Das zeigt, wie wichtig es ist, das jeweilige Genre und das intendierte Lesepublikum in die Reflexion mit einzubeziehen. Im Wittgenstein’schen Quellenkorpus zeigt sich ein ähnlich deutlicher genrespezifischer Umgang mit Inhalten. So werden in der Familienchronik manche schmerzhafte Erfahrungen ausgeblendet, welche in Bezug auf das Familiengedächtnis durchaus relevant wären und in Briefen und Tagebüchern dokumentiert sind: Dazu zählen die Begegnung mit Antisemitismus seitens der Familie und die erzwungene Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte sowie die zahlreichen Konflikte innerhalb der Familie.
1. G ENRETYPISCHES V ERGESSEN : C HARAKTERISTIKA DER F AMILIENCHRONIK Eine generalisierende Erklärung für diese abwehrende Erinnerung bietet der Soziologe Maurice Halbwachs. Er hat in den 1920er Jahren als Erster nicht nur vom kollektiven Familiengedächtnis gesprochen, sondern auch dessen Selektivität prominent in den Vordergrund gestellt. Jede soziale Gruppe habe ihre Form der Erinnerung, eine die „unter dem Gesichtspunkt der als notwendig erachteten sozialen Ordnung und des sozialen Ausgleichs deformiert“ werde. So neige jede Gesellschaft dazu, „aus ihrem Gedächtnis alles auszuschalten, was die Einzelnen voneinander trennen, die Gruppen voneinander entfernen könnte, und darum manipuliert sie ihre Erinnerung in jeder Epoche, um sich mit den veränderlichen Bedingungen ihres Gleichgewichts in Übereinstimmung zu bringen“.4 Das erklärt, warum ganz zentrale Ereignisse – wie die Rezession 1929, der Bürgerkrieg in Österreich 1934, die zunehmende antisemitische Stimmung in Wien und die Ermordung Moritz Schlicks, den Ludwig Wittgenstein gut gekannt hatte, oder der Einmarsch Hitlers –, die in der unmittelbaren Umgebung stattfanden, im Gegensatz zu den Briefen und Tagebüchern in den Familienerinnerungen nicht erwähnt werden. Andere, wie das Treffen des österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg mit Adolf Hitler auf dem Obersalzberg oder die Verhandlungen der Geschwister mit der Reichstiftungskammer in Berlin, werden mit Distanz beschrieben und damit auch in Distanz gehalten. Detaillierter, weil emotio-
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Hingegen ist Zweigs Haltung zu Galizien im Tagebuch wiederum viel differenzierter, als es seine publizierten Artikel mit den üblichen Klischees über Galizien signalisieren. Vgl. Le Rider, Kein Tag ohne Schreiben, 232, 242. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 382.
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nal besetzt, ist die Beschreibung der Auflösung der Tagesstätte, des Berufsverbots für den Bruder Paul und der Schikane, unter denen die Nichte Marie Stockert und die Schwester Helene zu leiden hatten. Diese sind klassische Opfergeschichten, werden jedoch konterkariert von der Behauptung der Autorin, die Familie habe einen besonderen Schutz genossen. Mehrere Erzählhaltungen – distanzierte Dokumentation, Opfer- und Heldengeschichten sowie familiäre Machtphantasien – stehen sich hier gegenüber. Gefühle werden zurückgehalten, Opfer verklärt, Helden ernannt und familiäre Macht festgeschrieben: eigentlich eine Geschichte des Verlusts, in der gerade jener weitgehend ausgespart ist. Halbwachs charakterisiert das Familiengedächtnis gerade durch dessen Selektivität. Indem sich Familienerinnerungen auszugsweise auf bestimmte Ereignisse konzentrieren, seien sie „symbolhaft“ und variabel in der Definition der sozialen Gruppe, mit der sich der Einzelne über seine Erinnerung identifiziert.5 Das bedeutet: Es wird keine historische Realität abgebildet, sondern unter dem Blickwinkel der Gegenwart das Erinnerte jeweils neu gebildet. Wie die Denkweise der Gegenwart die Erzählungen des Vergangenen formt, so werde auch im Dienste dieser Gegenwart erinnert. Damit soll nicht die Aussagekraft des Genres als historische Quelle in Frage gestellt, sondern der Blick auf die erzählerische Darstellung gerichtet werden: die Auslassungen, Betonungen und Brüche in der Erzählung, welche sozusagen die ‚echte‘ Geschichte erzählen. Dabei ist Auswahl grundlegend notwendig und noch nicht bedeutungsvoll an sich, wohl aber die Betonungen und Begründungen, die vorgenommen werden. Mit Halbwachs ist davon auszugehen, dass jeder Gesellschaft nur die Vergangenheit bleibt, die mit ihrem jeweiligen gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruiert werden kann und nur das verhaftet bleibt, was ständig rezipiert wird. Dabei lasse das Gedächtnis die Vergangenheit nicht wieder aufleben, sondern rekonstruiere sie als Akt mit eigener Zeit- und Bedeutungsstruktur.6 Halbwachs folgend sagen die Familienerinnerungen der Wittgensteins somit weniger über die Familiengeschichte aus als viel mehr über die Erzählsituation, die Jahre nationalsozialistischer Besatzung im Milieu des Wiener Großbürgertums. Diese unverlässliche Zeitzeugenschaft liegt nach Halbwachs in der Natur familiären Erzählens, welche vorwiegend in unbewegten Zeiten stattfinde, in denen die Familie in sich ruhe und sich ein kollektives Gedächtnis ausbilde. Gebe es hingegen eine Bedrohung von außen, entstehe eine andere Gruppe mit einem eigenen Kollektivgedächtnis, das mit der eigenen Vergangenheit möglicherweise nicht viel zu tun habe: „Die Geschichte […] übergeht jene Zeitabschnitte, während derer sich scheinbar nichts ereignet […] Aber die Gruppe […] strebt danach, die Gefühle und Bilder, die die
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Ebenda, 239. Ebenda, 8. Das Konzept der Rekonstruktivität kritisiert implizit die Freud’sche Auffassung des Gedächtnisses als totale Rekonstruktion und seinen Terminus der „Verdrängung“, der den Prozess des Vergessens völlig ausschließt.
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Substanz ihres Denkens bilden, zu verewigen. So nimmt die Zeit, die verstrichen ist, ohne daß irgendetwas die Gruppe tiefgreifend verändert hat, den größten Rahmen in ihrem Gedächtnis ein.“7 Wenn Halbwachs davon spricht, dass sich das kollektive Gedächtnis vor allem in ruhigen Zeiten ausbildet, ist es folglich geradezu die Charakteristik der Familienchronik, das zu betonen, was das Selbstverständnis geprägt hat und Sicherheit gibt. In der Wittgenstein-Chronik spiegelt sich viel von diesem Selbstverständnis wider, in den Beschreibungen der Familienharmonie in der Habsburger Zeit oder der harmlosen Szenen der Zwischenkriegszeit, Beschreibungen ohne nachvollziehbare Relevanz, die aber den größten Raum einnehmen. Die Familienerinnerungen sind zwar in den bewegten Kriegs- und Nachkriegsjahren niedergeschrieben worden, doch das familiäre kollektive Gedächtnis hat sich schon vorher, in den Jahren ohne große Veränderungen in der Gruppe, ausgebildet. Auf diese Beständigkeiten und Kontinuitäten wird in der unsicheren Zeit zurückgegriffen. Auch wenn der Schreibanlass der Krieg ist, soll nicht die Gegenwart reflektiert, sondern die Familiengeschichte für die Nachkommen verfasst werden. Zum Zeitpunkt des Schreibens wird nicht ein Gedächtnis ausgebildet, sondern auf Bestehendes zurückgegriffen. Das erklärt in vieler Hinsicht die Themen und die Art des Schreibens. Beispielhaft zeigt sich im Falle der Wittgensteins auch, wie bewegte Zeiten durch äußere Dringlichkeiten das kollektive Familiengedächtnis, welches sich in ruhigen Zeiten herausgebildet hatte, verformen; wie unter der Einwirkung von außen, beispielsweise von Gefahr, sich ein anderes als das eigentliche Kollektivgedächtnis ausprägt, das heißt, andere Referenzen geschaffen werden als die, die für einen selbst oder die Familie gelten. Das lässt nach diesen „äußeren Anstößen der Verschriftlichung“ fragen. Was war der konkrete Schreibanlass? Nach Jan Assmann verweisen Verschriftlichungsschübe stets auf Traditionsbrüche, denn dort, wo eine Tradition nicht mehr gelebt wird, muss sie festgehalten und erneut gelernt werden: „Der natürliche Weg der Tradition führt nicht zur Schrift, sondern zur Gewohnheit, nicht zur Explikation, sondern zum Implizit-Werden, zur Habitualisierung und Unbewusstmachung.“8 Die detaillierte Beschreibung der Auswirkungen des Jahres 1938 auf die Familie zeigt inhaltlich und formal, wie das Ereignis als Bruch des bisherigen identitätsstiftenden ‚bürgerlichen Rahmens‘ empfunden wurde. Damit wird die Beschreibung der jüdischen Herkunft, wie etwa die Frage nach Arisierung, ein Leitmotiv der Chronik – aus äußerem und nicht innerem Anlass. Hier bleibt zu fragen, ob ein Familiengedächtnis, welches unter so spezifischen Umständen verfasst wird, etwas mit der ‚eigentlichen‘ Familiengeschichte zu tun hat (wenn die Fremdzuschreibung durch die Nationalsozialisten die Selbstbeschreibung erheblich beeinflusst hat), bzw. ob hier weniger eine ‚reale‘ Familienchronik als eine Legitimationsschrift der 1940er
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Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 74f. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 82.
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Jahre vorliegt? In diesem Zusammenhang sei auf die These des Kunsthistorikers Ernst Gombrich verwiesen, „that the notion of Jewish Culture was, and is, an invention of Hitler and his fore-runners and after-runners“.9 Gombrichs These ist ein berechtigtes Argument im Hinblick auf die Wittgensteins und viele andere assimilierte jüdische Familien in Wien, erklärte sie der rassische Diskurs doch zu ethnischen Juden. Es sind Diskurse, die Wahrnehmungen und damit Wahrheiten schaffen. Auch Gedächtnistraditionen sind eine Form von Diskurs und sind zu unterschiedlichen Zeiten, durch Krisen oder andere Zwänge motiviert, hegemonial, marginal oder erst im Entstehen begriffen. Entscheidend ist die Frage, inwieweit eine Gedächtnistradition als die eigene akzeptiert wird oder nicht. Hier ist es hilfreich, auf Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen einem Speichergedächtnis und einem Funktionsgedächtnis zu verweisen.10 Sie unterscheidet die Lebenswelt, das Flüssige als das unbewusst Alltägliche, Vergängliche und Zufällige, das dem Festen, dem Monument als Zeichen einer gesellschaftlichen Selbstreflexion, mit Bedeutung, Intention und Funktion gegenübersteht.11 Durch Symbolisierungen, wie dem Schreiben von Familienerinnerungen, wird das Diffuse zum Konkreten und Zugehörigkeiten werden deutlich formuliert. So werde das familiäre Speichergedächtnis aktiviert, jedoch um spezifische Bedürfnisse der aktuellen Lebenswelt zu erfüllen. Diese Unterscheidung Speicher-/Funktionsgedächtnis verweist auf einen spannungsreichen Zwiespalt im Genre Familienchronik, das den Anspruch hat Erinnerungen umfassend zu bewahren, jedoch der Zweckmäßigkeit und der Funktionalisierung der Gegenwart unterliegt. So kommt es zwar in der Familienchronik von Hermine Wittgenstein über eine solch Kristallisation von Gefühlen zu Symbolisierungen, Konkretisierungen und Identifizierungen; jene schreiben jedoch nicht die Vergangenheit fest um der Vergangenheit willen, sondern auch um der Gegenwart willen. Jede Gegenwart ermöglicht und erlaubt aber nur bestimmte Erzählungen.
2. K ONTEXTSPEZIFISCHES V ERGESSEN : AUTOBIOGRAPHISCHES S CHREIBEN NACH 1945 Das unmittelbare gesellschaftliche Umfeld für das Verfassen der Familienerinnerungen waren die Kriegszeit und die Nachkriegsjahre. Umbruchszeiten gelten geradezu als Höhepunkte für auto-/biographisches Schreiben.
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Gombrich, The Visual Arts in Vienna circa 1900 – Reflections on the Jewish Catastrophe, 5. 10 Vgl. Aleida Assmann, Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis, in: Dies., Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 133–142. 11 Aleida Assmann, Fest und flüssig. Anmerkungen zu einer Denkfigur, in: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/M. 1991, 181–199, 184f.
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Paul Connerton betont in How societies remember das wichtige Element von Gedächtnis und Erinnerung nach Systembrüchen, Systemwechseln und zu Zeitpunkten eines Neubeginns. Dabei spielen Geschichtsbücher und Geschichtsschreibung, aber auch individuelle Formen der Erinnerung, wie Autobiographien und Memoiren, eine maßgebliche Rolle. Ein summarischer Blick auf markante Bruchlinien des letzten Jahrhunderts zeigt gerade in Umbruchszeiten ein vermehrtes Interesse an lebensgeschichtlichen Darstellungen. Wie der Philosoph Peter Sloterdijk es für die 1920er Jahren in Deutschland festgestellt hat, wurden die Störerfahrungen des Ersten Weltkrieges in erster Linie lebensgeschichtlich und erst nachgeordnet literarisch erfasst.12 Siegfried Kracauer hat das Aufleben von Biographien nach dem Ersten Weltkrieg als Versuch der Rückgewinnung der Individualität angesichts der Übermacht historischer und sozialer Kräfte beschrieben. Dabei sei die „Entstehung der Biographie […] mit der Einrichtung von Bildersälen vergleichbar, in denen sich die bürgerliche Erinnerung in der Pflege der Persönlichkeit ergehen könne“.13 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Renaissance konservativer Erzählstrategien konstatiert, wie die des Goethe’schen Modells, in welchem die Genese der Persönlichkeitsbildung in der Tradition des Bildungsromans nachvollzogen wird. Darin wurde ein versicherndes Moment in unsicheren Zeiten gesehen. Die Flut an autobiographischer Literatur nach 1945 wurde deshalb auch lange als „apologetische Rechtfertigungsliteratur“ disqualifiziert. Nach den Erfahrungen der totalitären Erfassung aller Lebensbereiche im Dritten Reich und des Reeducation-Programms der Besatzungsmächte mit ihren Fragebogenerhebungen herrschte eine Krise „des Ichs“ und ein „Zweifel an der Biographie, die verwaltete Existenz“.14 Ein berechtigter Zweifel: Die Nationalsozialisten setzten nicht nur Feldpostbriefe im Schulunterricht als propagandistisches Lehrmittel ein, sondern propagierten das Tagebuch als regelrechte Zweckform einer „heroisierenden Geschichtsschreibung“, nicht zur Selbstaufklärung, sondern zur Selbststabilisierung. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es zum Mittel der Selbstrechtfertigung, statt „Trauerarbeit“ im Sinne des Autorenpaars Mitscherlich zu leisten.15 Diese gesamte Epoche wurde nach Margarethe Mitscherlich durch eine Unfähigkeit zu erzählen charakterisiert, die einherging mit der „Unfähigkeit zu trauern“. So spielte auf kollektiver Ebene das Vergessen eine wesentliche Rolle, Vergessen auch in dem Sinne, dass gewisse Erinnerungsformen und Formulierungen keine Öffentlichkeit fanden, obwohl sie kollektiv verankert waren. Die Unbewusstheit des Autors war deshalb oft nicht individuell intendiert, sondern
12 Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. 13 Siegfried Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, in: Ders., Das Ornament der Masse: Essays, Frankfurt/M. 1977, 75–80, zit. n. KannonierFinster/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 138. 14 Friedrich, Deformierte Lebensbilder, 392. Vgl. auch Arbeiten von Jürgen Schläger und Michaela Holdenried. 15 Holdenried, Autobiographie, 75.
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kulturell festgeschrieben, da eine Thematisierung in Texten oft ebenso ausgeschlossen war wie in der Interpretationsgemeinschaft, weil sich gewisse Erfahrungen jeglicher Versprachlichung entzogen. Das zeigt sich in der öffentlichen Historiographie, ebenso wie in privaten Erinnerungen, wenn in Zeiten des Umbruchs zumeist Kontinuitäten betont werden, um die Gegenwart zu erleichtern, während in stabilen Zeiten auch Unsicherheiten gezeigt werden können. Es gibt also „kulturelle Rahmenbedingungen, die diese Formen einer abwehrenden Erinnerung möglich machen oder fördern“.16 Gerade in konformistischen Zeiten, wie den frühen 1950er Jahren, ist zu beobachten, dass dissonanten Informationen oft aus dem Weg gegangen wird, folglich keine Alternativen oder kritische Vergleiche gesucht werden, sondern viel Energie darauf verwendet wird, Enttäuschungen nicht zu realisieren oder umzudeuten, im Wissen darum, dass ein Eingestehen zu einem schmerzhaften Präferenz- und Interessenwandel führen könnte oder müsste. Dabei ist die Selbsttäuschung also keineswegs individuell, sondern oft generationsspezifisch und kann sogar eine ganze Kultur prägen, indem Unverarbeitetes und Verdrängtes einfach tradiert wird. Die Selbsttäuschung ist somit nicht individuell, sondern von sozialer Lage und Prägung abhängig. Es genügt deshalb nicht, die Abwesenheit von Selbsterkenntnis zu konstatieren, sondern es ist nach den institutionellen Vorgängen bei der Rekonstruktion von Vergangenheit zu fragen, das heißt, wie eine für die Gegenwart erträgliche Wahrheit gefunden wird. Das ‚Umerzählen‘ dient nicht nur der Sinngebung von Wirklichkeit, sondern auch dazu Umstände ertragbar zu machen, indem die Geschichten dazu herhalten „um diese Wahrheiten in unsere Lebenswelt hereinzuerzählen oder um sie in unserer Lebenswelt in jener Distanz zu erzählen, in der wir es mit ihnen aushalten“.17 So gibt es Ereignisse, die sich einer Beschreibung entziehen, weil sie als zu bedrohlich empfunden werden. Solche „mächtige[n] Erfahrungen“, wie sie Heinz Bude nennt, sind oft nicht erzählbar, weil sie keine „schöne Geschichte“ ergeben, „Bilder, Wünsche, ‚Deckerinnerungen‘ (Sigmund Freud), die sich übereinander schieben“.18 Oft werden solche Erfahrungen oft nur sehr verkürzt auf ein Schlagwort mitgeteilt. In der Wittgenstein’schen Chronik ist vom ‚Umbruch‘ die Rede als Synonym für die negativen Erfahrungen rund um den Anschluss. Dieser Begriff wird jedoch zugleich von einem positiv konnotierten, bedeutungsbeladenen Begriff überlagert, der Rahmen, der das Bedürfnis nach Harmonie zum Ausdruck bringt – zugleich aber doch ein starkes Bewusstsein für den Bruch und das unwiederbringlich Verlorene reflektiert und auf ein starkes Bindungsbedürfnis der Autorin verweist. Ihre illusi-
16 Kanonnier-Finster/Ziegler, Österreichisches Gedächtnis, 23. 17 Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, 95, zit. n. KanonnierFinster/Ziegler, Österreichisches Gedächtnis, 212. 18 Heinz Bude, Der Sozialforscher als Narrationsanimateur. Kritische Anmerkungen zu einer erzähltheoretischen Fundierung der interpretativen Sozialforschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 37, 327–336, 334, Zit. n. ebenda, 202.
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onistische ‚Familienmalerei‘ lässt an eine solche therapeutische Form des Schreibens denken – die nicht nur für einen Großteil der nach 1945 unüberschaubar zunehmenden autobiographischen Schriften zutrifft, sondern auch aus ihrer persönlichen Lebenssituation heraus erklärbar ist. Denn ein Erzähler im hohen Lebensalter richtet seine Energien zumeist auf lebensgeschichtliche Konstruktionen, „mit denen er leben und sterben kann und die ihm retrospektiv Sinn stiften“.19 Wird diese Sinnfindung durch äußere Einflüsse bedroht und gestört, kann es zu einem Trauma kommen. Das traumatische Erlebnis gilt als das Erleben einer bedrohlichen Situation, ohne die Möglichkeit diese zu bewältigen, was ein Gefühl der Hilflosigkeit auslöst sowie eine grundsätzliche Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses.20 Schreiben kann ein Hilfsmittel sein, um ein solches Trauma zu bewältigen bzw. der mit einer traumatischen Erfahrung einhergehenden radikalen Einsamkeit zu entkommen und zur Sprache zu bringen. Dabei hilft der Bezug auf gemeinsame Symbole oder Rituale, die den Rahmen abstecken und auch mit Leben füllen, als Sinnstiftung. Nach Mario Erdheim helfen solche Rituale sowie die Beschreibung solcher Rituale als soziale Mechanismen bei der Bewältigung von Konflikten – zugleich ersetzen sie aber auch selbstreflexives Denken und Handeln, überdecken Sinnlosigkeit und sind damit konservierendes Element gegen gesellschaftlichen Wandel.21 Werden die Familienerinnerungen als ein Instrument der Konfliktbewältigung betrachtet, ist ihnen damit das konservierende und unreflexive Moment inhärent. Aus dem Zeitkontext und dem personellen Umfeld heraus ist es nur nahe liegend, dass sich Hermine nicht kritisch mit dieser Zeit und den aufbrechenden Konflikten in der Familie auseinandersetzt, sondern affirmativ. Das ‚Vergessen‘ ist, wie gezeigt wurde, zu einem gewissen Maße genreund kontextspezifisch beeinflusst. Es ist ein Charakteristikum der Familienchronik, sich auf harmonische und ruhige Erinnerungen zu konzentrieren, statt im Chaos das Chaos zu dokumentieren, oder gar den Zerfall einer Familie. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, ein Bewusstsein für die Gruppe als Einheit zu schaffen, ein diffuses Gefühl schriftlich zu konkretisieren und damit eine Symbolisierungsleistung zu vollziehen statt Zeitzeugenschaft zu leisten. Die gesellschaftspolitische Situation nach 1945 verstärkt diese harmoniebedürftige Ausrichtung nach innen, die nostalgische Rückwendung ins 19. Jahrhundert, aber auch die Themenwahl: Die Rede von ‚Familie als Heimat‘ in der Wittgenstein-Chronik entspricht charakteristischen Topoi der österreichischen Nachkriegsliteratur. Das Vergessen ist eine Erinnerungsstrategie
19 Sieder, Gesellschaft und Person, 258. 20 Vgl. Gesine Grossmann, „Das bedeutet, daß wir in Wirklichkeit niemals allein sind.“ Anmerkungen zur Bedeutung des inneren Gesprächspartners in den gedächtnistheoretischen Überlegungen von Maurice Halbwachs, in: Echterhoff/Saar, Kontexte und Kulturen des Erinnerns, 103–121, 114. 21 Mario Erdheim, Sinngebung und Kulturwandel, in: Ethnopsychoanalyse 1. Glauben, Magie, Religion, Frankfurt/M. 1990, 9–31, 18f., zit. N. KanonnierFinster/Ziegler, Österreichisches Gedächtnis, 215f.
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ex negativo, insofern die Bedürfnisse der Gegenwart die Erinnerungen und die Verdrängungen diktieren. Damit ist das Vergessen nicht nur ein willkürlicher oder subjektiv gesteuerter Akt des Autors, sondern auch die Typik des Genres und der gesellschaftspolitische Entstehungskontext geben gewisse Erzählmuster vor, die Inhalte und Leerstellen formen. Die Verwendung eines bestimmten Genres bedeutet daher auch, einem Erzählmodell zu folgen. Wie narrative Muster manche Erzählungen befördern und andere unterdrücken, kann eine literaturwissenschaftliche Betrachtung des Textes zeigen.
V. Erzählen: Der Schreibstil ein Denkstil?
Autobiographische Texte können als eine Erzählung im literarischen Sinne betrachtet werden, da jede Form von Geschichte in Form von Geschichten dargestellt wird. Wie die Kulturwissenschaftlerin Ute Daniel betont: „Erzählen ist per se ebenso wenig fiktiv wie eine Statistik per se objektiv, korrekt oder gar wahr ist; es kommt immer darauf an, was und wie erzählt, was und wie gezählt wird und welche Schlüsse jeweils aus dem einen oder dem anderen gezogen werden.“1 Jedes Rekapitulieren der Lebensgeschichte stellt eine wichtige Form der Selbstvergewisserung dar durch die Selbstdarstellung und die Formulierung von Zugehörigkeiten. Dafür zentral ist das Konzept der narrativen Identität, die Frage nach der Konstitution personaler Identität aus der Lebensgeschichte.2 Geht man mit Paul Ricœur, dem Doyen der Erzählforschung, von der These aus, dass nur innerhalb einer Erzählung sinnvoll von der Identität einer Person gesprochen werden kann, ist die Erzählung selbst genau zu betrachten, insbesondere die Person, welche die Handlung der Erzählung vollzieht. Ein Narrativ synthetisiert nämlich das Heterogene, führt Widersprüche zusammen, „konstruiert die Identität der Figur […], indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt“.3 Ricœur geht dabei von einer Strukturgleichheit von fiktionalen und realen Geschichten aus: Menschen sind in Geschichten verstrickte Wesen und es ist zu fragen, als „Teil welcher Geschichte oder welcher Geschichten sehe ich mich?“, was wiederum die „Einheit des Selbst in der Einheit der Erzählung begründet“. Demnach hat jede Lebensgeschichte ihre spezifische narrative Ordnung, folgt nicht einer Chronologie oder willkürlichen Assoziationen, sondern einer ästhetischen Komposition, und wird „unaufhörlich refiguriert
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Daniel, Kulturgeschichte, 438. Das Konzept der narrativen Identität grenzt sich ab von dem der personalen Identität, das von vielen Skeptikern nur mehr als Fiktion betrachtet wird. Vgl. Paul Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 182; zit. n. Ruth Spiertz, Erinnerte Zeit und Zeit der Erinnerung. Zur Konstitution der personalen Identität aus Lebensgeschichten, in: Kanzian/Quitterer/Runggaldier (Hg.), Personen. Ein interdisziplinärer Dialog, 25. Int. Wittgenstein Symposium, Kirchberg 2002, 241–243, 242.
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durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt“.4 Auch die narrative Psychologie, wie sie in den letzten 20 Jahren unter anderem von David Polkinghorn entwickelt wurde, vertritt die Ansicht „daß die Erzählung das primäre strukturierende Schema ist, durch das Personen ihr Verhältnis zu sich selbst, zu anderen und zur physischen Umwelt organisieren und als sinnhaft auslegen“.5 So sei das Geschichtsbewusstsein völlig von solchen narrativen Konstruktionen bestimmt. Auch die soziale Identität des Menschen konstituiere sich durch die Narration, schreibt Margaret S. Somers, denn die Erzählstrukturen beeinflussen den Zugriff auf Erinnerung und die Formulierung von Identität: „[…] that all of us come to be who we are […] by being located or locating ourselves (usually unconsciously) in social narratives rarely of our own making“.6 Wie sich der Autor oder die Autorin in sozialen Kontexten platziert, es stellt sich stets die Frage ist, warum wird gerade diese Geschichte und in dieser Weise erzählt: „To talk of narrative identity entails attention to how the story is told, the mode of construction, structures and techniques, and why the story – ‚this story‘ – is being told, and whether it is convincing.“7 Welche Erzählstrukturen wählt Hermine Wittgenstein für die Darstellung der Familiengeschichte, wie für die Präsentation des Selbst? Beim Lesen der Familienerinnerungen ist der charakteristische „Kompilationscharakter“ des Genres zu spüren, denn vieles erscheint lose zusammengestellt, ohne einer deutlichen Struktur oder Kausalität zu folgen. Besonders auffällig an der Familienchronik ist jedoch ein struktureller Aspekt des Textes: die besondere Retrospektive, die nach dem Anschluss Österreichs 1938 eingenommen wird und die sich in einer veränderten Art des Schreibens zeigt. Die Autorin reflektiert selbst die damit einhergehende wechselnde Erzählweise. Deshalb lohnt es sich den Schreibstil auch als einen „Denkstil“ zu betrachten, eine Übereinstimmung, die Ludwig Wittgenstein in seinem Schreiben stets ein Anliegen war.
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Ricoeur, Die erzählte Zeit, 3 (Ders., Zeit und Erzählung, 3 Bde, München 1988– 91), München 1991, 396 u. 251, zit. n. ebenda, 243. D.E. Polkinghorne, Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven, in: Straub, Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, 12–45, 15. Auf die Gedächtnisforschung in der Neurologie und Psychologie gehe ich nicht näher ein. Vgl. dazu u.a. die Arbeiten von Daniel L. Schacter. Margaret S. Somers, The Narrative Constitution of Identity: A Relational and Network Approach, in: Theory and Society 23, 1994, 605–649, 606. Whitebrook, Identity, Narrative and Politics, 3f.
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1. E RZÄHLEN
ALS SOZIALE
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P RAXIS
Die Wittgenstein’sche Familienchronik steht in einer Tradition des bürgerlichen auto-/biographischen Schreibens, welches zumeist an die Familie gerichtet war, nicht publiziert wurde, und wenn, nur im Privatdruck in einer kleinen Anzahl hergestellt wurde. Auch für diese gilt, was der Kulturhistoriker Peter Gay im Hinblick auf das Tagebuch einen „bourgeois style of thinking“ nennt.8 Wie äußert sich der bürgerliche Denkstil in den Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein? Die Diskussion über schichtspezifische Charakteristika einer Erzählung ist symptomatisch für das klasseninspirierte Denken der 1980er Jahre, als die Bürgertumsforschung einen Höhepunkt erreichte und mit ihr die Entdeckung der Arbeiterkultur, in der Suche nach Unterschieden und Abgrenzungen. Das Genre Autobiographie wurde lange nur als bürgerliches Genre gelesen und die demokratisierende Ausbreitung in Mittelstand, Arbeiterschaft und Landbevölkerung geflissentlich ignoriert. Die Annahme, dass Vertreter unterer Schichten sich kaum individuell äußerten bzw. sich eher als Kollektiv verstanden, ist als bürgerliche Attitüde längst widerlegt.9 Dennoch gibt es unterschiedliche Formen des Selbstbezugs, Spezifika in Erzähl- und Schreibkultur, basierend auf sozialen und kulturellen Faktoren. Einige sollen hier genannt werden, um den Blick auf Erzählmuster und Schreibstrategien zu fokussieren. Obwohl Hermine Wittgenstein im Vorwort formuliert, dass sie nur „Strohhalme“ abbilden könne, zeigen ihre konservative Darstellung und das Bemühen um Linearität ein bürgerliches Verlangen nach Kontinuität. Dazu gehören die Darstellung eines dichten Netzes von kulturellen und sozialen Aktivitäten, die beschaulichen Beschreibungen der Besuche bei der Großmutter oder bei Tante Clara in Kalksburg, der Aufenthalte auf dem Landsitz auf der Hochreit, von Weihnachten und anderen Festen, und insbesondere das Schildern der Erfahrungen in Kindheit und Jugend im prozessualen Herausbilden der Charaktere. Für die Autorin ist die psychische und intellektuelle Verfassung wichtig, ein typisch bürgerlicher Zug, der die historischen Ereignisse in Zusammenhang mit den Auswirkungen auf ihre Gefühlswelt beschreibt und nicht alleine für die tatsächliche physische und soziale Existenz. Wie es bei der Beschreibung des Vaters und der Brüder sehr deutlich wird, sieht sie in deren Kindheit Schlüsselerlebnisse für ihr Erwachsenenleben. Dieses ‚Schon-Damals-Schema‘ (Peter Sloterdijk) gilt als eine klassisch bürgerliche Erzählmethode.10 Dient in kleinbürgerlichen Autobiographien der Einstieg mit einem prestigeträchtigen Zitat oft dazu, auf die Vertrautheit mit dem Kulturgut zu verweisen, sind es in diesen (groß-)bürger8
Peter Gay, The Bourgeoise Experience. Victoria to Freud I: Education of the Senses, New York 1984, 447, 451. 9 Vgl. Bernd Warneken, Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster, in: Andreas Gestrich [u.a.] (Hg.), Biographie – sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge, Göttingen 1988, 141–162. 10 Vgl. Warneken, Zur Schichtspezifik autobiographischer Darstellungsmuster, 149.
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lichen Familienerinnerungen die persönlichen Kontakte und Zitate aus Briefen, welche die gesellschaftliche Selbstverortung signalisieren. Insofern beschreibt Hermine Wittgenstein weniger einzelne Ereignisse als die Kontakte zu verschiedenen Personen (Franz Grillparzer, Friedrich Hebbel, Rudolf v. Alt u.a.) als Bezugspunkte in einem bedeutungsstiftenden sozialen Netz. Diese produzieren Relevanz, ebenso wie gewisse Symbolsysteme: Verweise auf das Stilempfinden bei der Betrachtung von Möbeln, Kunst oder Natur, ebenso wie Hinweise auf das Ethische, manifestieren die soziokulturelle Selbstverortung. Was in den Familienerinnerungen fehlt, ist die von bürgerlichen Autoren typisch formulierte Absicht der Erfahrungsvermittlung, die Aussage, dass man selbst etwas erlebt hat und diese Erfahrung oder die Lehre daraus weitergeben, oder die Außerordentlichkeit der eigenen Erfahrungen herausstreichen will. Hermine hingegen beschreibt ihr Leben als ein abgesondertes in den eigenen vier Wänden, und sich selbst als unwissend bezüglich äußerer Geschehnisse. Das deutet ein streng getrenntes Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatem an, eine deutliche Positionierung des Selbst im Privaten, konnotiert mit Abgeschiedenheit und Unwissenheit – eine sehr verlockende Haltung in Zeiten, als nationalsozialistische Propaganda und gesellschaftliche Ausschreitungen gegen Juden und Außenseiter an der Tagesordnung waren. Auch in der Widmung an die Nachkommen wird die private Natur der Familienerinnerungen betont, dennoch sind Merkmale intendierter Öffentlichkeit gegeben: In der Beschreibung der Ereignisse des Jahres 1938, respektive des Versuches gefälschte Pässe zu erwerben, zeigt sich das Bemühen um Rechtfertigung, Richtigstellung und familiäres Sendungsbewusstsein. Auch in der Betonung ihrer politisch neutralen Haltung, dass sie sich in der Tagesstätte bei der Auswahl der Lieder stets den politischen Verhältnissen angepasst habe, spricht sie den Leser direkt an und wirbt um Verständnis. Solche Adressierungen an den Leser sowie die Vergabe von ‚Leseanweisungen‘ sind zentrale Elemente von narrativen Präsentationsstrategien. Die Darstellungen von Tugenden und sozialem Engagement sind dabei einem Stil verhaftet, der mehr auf das kulturelle Erbe des 19. Jahrhunderts verweist, als auf die Kriegs- und Nachkriegszeit in Wien. Man fühlt den Willen zur Harmonie in jeder Zeile, wie die ‚Melodie der Monarchie‘ die Basis eines gemeinsamen kulturellen Selbstverständnisses bildet – symbolisiert in den Beschreibungen der musikalischen Abendgesellschaften im Familienpalais wie in der Hochschätzung des Malers Rudolf von Alt, dem Ehrenpräsidenten der Secession, der die um 1900 erfolgte Hinwendung zum Biedermeier vertrat.11 Hier fungieren das „kulturelle Kapital“ (Pierre Bourdieu) und der Besitzstand sowie der bildungsbürgerliche Wertekanon der ‚richtigen‘ Gesinnung oder einer sinnvollen Tätigkeit als Bezugsgrößen und
11 Vgl. George Strong, The Final Transformation: The Impact of Bourgeois Kunst and Kapital on the Austrian Idea, in: Ders., Seedtime for Fascism: The Disintegration of Austrian Political Culture, 1867–1918, New York 1998, 107–130, 113.
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Rückhalt. Gelten in Orientierungskrisen generell die sozialen Netzwerke als Rückhalt, kann jedoch das „kulturelle Kapital“ jene bei Verlust ersetzen und, so Bourdieu, zum „vertrauten Gegenüber“ werden.12 Von diesem „kulturellen Kapital“ ist in den Familienerinnerungen viel zu hören und zu spüren; beispielhaft personifiziert in der Hochreit, dem Ort, an dem die Familienchronik (neben Wien und Gmunden) auch verfasst wurde. Über diesen Ort schreibt Desmond Lee, den Ludwig Wittgenstein dorthin eingeladen hatte, im Jahr 1930: „My main impression was of great kindness shown to me and of a certain comfort and security which were more of the nineteenth century than the twentieth.“13 Auch ein halbes Jahrhundert später ist die Hochreit nach wie vor ein Symbol für die Lebensweise in Österreich vor den zwei Weltkriegen, wie auch für eine „family that moved in superlatives“. (Ripley, ii) Wie zentral diese Symbolik für Familienmitglieder heute immer noch ist, wird deutlich wenn Joan Ripley die biographische Skizze ihres Vaters Paul Wittgenstein mit einer Schilderung der Hochreit um 1900 beginnt und mit dem Verweis auf die noch stets gepflegten Sommeraufenthalte dort, fast ein Jahrhundert später, beendet. Sie schließt ihr Manuskript höchst metaphorisch, mit einem imaginierten Weihnachtsfest auf der Hochreit, zu dem vom Urgroßvater Hermann Wittgenstein über Karl und seine Kinder bis zur ihrer Mutter Hilde Schanya (die die Hochreit zeitlebens nie betreten hat) alle anwesend sind. Musikalisch untermalt werden Nettigkeiten ausgetauscht rund um einen leuchtenden Christbaum. Hier artikuliert sich ein deutlicher Wunsch der nachkommenden Generation nach Versöhnung und Aussöhnung. Die Hochreit und das Weihnachtsfest, beide fungieren hier als Metaphern für die ‚heile Familie‘, aber auch für das „kulturelle Kapital“ der Familie. Jenes prägt auch den Schreibstil der Familienerinnerungen. Die Familienchronik der Wittgensteins ist deshalb – auf den ersten Blick – unpolitisch, langatmig deskriptiv und ein Beispiel für die geübte ‚Nabelschau‘ einer sozialen Klasse. Sie präsentiert einen höchst individualistischen Zugang zur Geschichte, ohne viele unmittelbare Kontexte zu berücksichtigen und weicht damit vom bürgerlichen Genre der „contemporary history in miniature“14 erheblich ab. Die Zuordnung der eigenen Person zu historischen Ereignissen, die Präsentation eigener Erfahrung als Weltgeschichte im Kleinen, ist häufiges Stilmittel für die Erhöhung des Selbst zum Zeitzeugen; zugleich verweist eine Parallelisierung von zeitgeschichtlichen und lebensgeschichtlichen Brüchen auf eine Form des reflexiven Erinnerns. Bei der Schilderung von Karl Wittgensteins Errungenschaften als Großindustrieller kommt es
12 Zit. n. Keupp, Das Patchwork der Identitäten, 204. Bourdieu beschreibt, wie die unterschiedlichen Ressourcen des Einzelnen (soziales, kulturelles, ökonomisches Kapital) für die Identitätsbildung eingesetzt werden. 13 Desmond Lee, Wittgenstein 1929–1931, in: Flowers, Portraits 2, 188–197, 191. 14 Vgl. Bernd J. Warneken, Social Differences in the Autobiographic Representation of the Self, in: Christa Hämmerle (Hg.), Plurality and Individuality. Autobiographical Culture in Europe, Wien 1995, 7–14, 11.
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ansatzweise zu einer Angleichung der biographischen und historischen Zeitschienen, um zumindest zu verdeutlichen, dass der Vater die österreichische Geschichte nicht nur miterlebt, sondern auch mitgestaltet hatte. Einen Einblick in die unmittelbare Zeitgeschichte gewähren die detaillierten Schilderungen der Jahre 1938/39 und der Kriegsereignisse auf den Zwischenblättern; hier parallelisiert die Autorin die Geschehnisse in der Familie und die äußeren Umstände des Krieges. Dadurch bekommen die Familienerinnerungen einen Schwerpunkt in der Gegenwart, weil eine unmittelbare Betroffenheit zum Ausdruck kommt. Gemeinsam mit den Kriegsereignissen wird partiell auch das Schicksal des Familienbesitzes beschrieben: Das Elternhaus in der Alleegasse wurde zum Teil von Gerichtsbehörden bezogen und durch einen Bombentreffer so in Mitleidenschaft gezogen, dass die Kunstwerke auf die Hochreit evakuiert wurden, wo bereits ein Großteil des Kunstbesitzes der Familie untergebracht war, wie auch ein Teil von Ludwig Wittgensteins Schriften; das Haus in der Kundmanngasse diente bis zur Übernahme durch die Russen als Lazarett; die Hochreithäuser waren gegen Kriegsende der Sitz eines Generalstabs der deutschen Wehrmacht.15 So gesehen wird eine charakteristische ‚Opfergeschichte‘ der 1940er Jahre beschrieben, doch die aktive Erzählhaltung zeigt, wie sich die Familie durch ihre kulturellen, sozialen und ökonomischen Mittel der Verfolgung entziehen konnte. So folgt auch auf die Schilderung der 1940er Jahre in der Erzählung ein Rückgriff auf die Geschwister des Vaters, und damit wird die Beschreibung des familiären Netzwerks, der verschiedenen Machtträger, wieder aufgenommen. Trotz der Zeitsprünge ist es ein Narrativ, das die einzelnen Ereignisse um das Jahr 1938 herum in einen Begründungszusammenhang stellt. Die Familienerinnerungen sind zwar nicht ignorant gegenüber gesellschaftlichen und politischen Problemen und Brüchen, doch die wiederkehrenden Beschreibungen karitativen Engagements und die Beschwörung der Familie gehören zu Hermines offensichtlichem Bemühen, einen stabilisierenden Rahmen zu bilden.
2. E INE T YPOLOGIE
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Dieses Ringen um Stabilität, welches die Familienerinnerungen beherrscht, gilt als charakteristisch für eine gewisse Typologie des Schreibens. Kenneth J. Gergen nennt es die „Stabilitätserzählung“, die versichert zu sein, was man zu sein scheint, und die Stabilität von Charakteren oder Situationen betont. Gergen unterscheidet solche Geschichten, in denen das Leben als immer gleich scheint, von denen, die Veränderung betonen und auf einen
15 Es blieben im Krieg alle Besitzungen, bis auf die Beschädigung des Palais in der Alleegasse durch einen Bombentreffer, erhalten. Vgl. allg.: Janik/Veigl, Wittgenstein in Wien; Edgar Haider, Verlorenes Wien. Adelspaläste vergangener Tage, Wien 1984.
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Höhepunkt zusteuern (progressive Erzählung) oder kontinuierlich abfallen (regressive Erzählung).16 Insbesondere der Endpunkt einer Erzählung verrate viel über den Wertekanon des Autors, denn es erfolge eine Auswahl von Ereignissen, die für den Endpunkt relevant seien. Dabei verweist Gergen darauf, dass die autobiographischen Erzählungen von Frauen oft nicht so stringent wie bei Männern auf einen, sondern eher auf mehrere Endpunkte hin ausgerichtet sind und oft auch argumentationsfremdes Material mit einbeziehen.17 Wenn das Leben so, wie in der Wittgenstein’schen Familienchronik, gerade gegen Ende hin so geschildert wird, als wenn das Leben „einfach so“ weitergeht, scheint doch eine Form der „Stabilitätserzählung“ vorzuliegen, die lieber die eigene Existenz rückversichert und Beziehungsgeflechte bestätigt, statt Nachkriegs-Familienwirren aufzuzeigen. Ansätze aus der feministischen Literaturwissenschaft zeigen, dass die Kategorie Gender den Schreibstil beeinflussen und sich in unterschiedlichen Selbstdarstellungen von Frauen und Männern äußern kann. Birgt die Rede von Gender als Differenz-Konzept immer die Gefahr, Kategorien zu bilden statt jene aufzulösen, lassen sich doch verschiedene Tendenzen im Schreibstil erkennen, Unterschiede, die nicht wesensmäßig, sondern sozial und kulturell bedingt sind. In diesem Sinne können manche Elemente der Familienerinnerungen als tendenziell charakteristisch für eine ‚weibliche‘ Form des Schreibens bezeichnet werden, wie sie Estelle C. Jelinek formuliert hat: Die ungegliederte, nicht-lineare episodische Struktur, die sich einem linearen Narrativ widersetzt und somit in beschreibender, eher beobachtender Weise Höhen und Tiefen nebeneinander setzt – statt eine kohärente, handlungsaktive und erfolgsorientierte Entwicklung zu schildern, wie sie eher für eine Form des männlichen Schreibens charakteristisch ist; eine lineare und intentionsbestimmte Erzählung, welche die Veränderung betont, die Zukunft erfolgversprechend zeichnet, zumeist mit dem Anspruch versehen, Spiegel der Zeit, repräsentativ oder Vorbild sein zu wollen.18 Dieses Erzählmuster – oft weniger die Absicht des Verfassers als vielmehr das Ergebnis traditioneller biographischer Darstellungsmuster – orientiert sich idealtypisch an der Textsorte des Lebenslaufs und beschreibt weniger Krisen und persönliche
16 Kenneth J. Gergen, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. Eine sozialkonstruktionistische Darstellung, in: Straub, Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein,170–225, 178f. 17 Kenneth J. Gergen bezieht sich hier auf eine Studie von Mary M. Gergen, Life Stories: Pieces of a Dream, in: George C. Rosenwald/R. Ochberg (Hg.), Telling Lives, New Haven 1992, 182. 18 Vgl. Estelle C. Jelinek, Women’s Autobiography, 7 u. 17. Sieht sie in einer gewissen Idealisiserung und einem heldenhaft-nostalgischen Ton eher „a male literary tradition“, sei das Selbstbild, das Frauenautobiographien transportieren, häufig eher das eines Understatements: „What their life stories reveal is a selfconsciousness and a need to sift through their lives for explanation and understanding. The autobiographical intention is often powered by the motive to convince readers of their self-worth, to clarify, to affirm, and to authenticate their self-image.“ (15).
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Interessen als äußere biographische Wendepunkte und tendiert zu einer distanzierten, gefühlsvermeidenden Ausdrucksweise.19 Dieses „architektonische“ oder lineare20 Schreiben rückt die Form in den Vordergrund. Strenge Werk- oder Kapitelunterteilungen schaffen Konturen, in denen die Schicksalhaftigkeit des Daseins gebannt wird. Solche Textelemente finden sich beispielsweise in den autobiographischen Notizen von Karl Wittgenstein. Seine 24-seitigen Lebenserinnerungen beginnen mit seiner Geburt in Gohlis bei Leipzig, wo der Vater ein Gut gepachtet hatte.21 Nach einer kurzen Episode aus dem Gymnasium wird gleich auf der ersten Seite sein Ausreißen von zu Hause geschildert, doch ohne jemals die genauen Ursachen dafür zu nennen. Der Vater wird als gebildet und liberal geschildert, in der Erziehung nur an Mathematik und Latein interessiert, denn das Übrige lehre das Leben und das Lesen – eine Auffassung, die Karl Wittgenstein auch seinen Söhnen predigte. Nach Ausführungen über seine diversen Erfahrungen in Amerika beschreibt er die Rückkehr nach zwei Jahren auf die väterlichen Güter, das Studium der Technik in Wien, die Arbeit bei der Staatsbahn und anschließend im Eisenwerk in Ternitz, die Ernennung zum Direktor der Prager Eisenindustriegesellschaft und seinen Rückzug aus dem Geschäftsleben mit 52 Jahren im Jahr 1898 sowie eine anschließende dreimonatige Weltreise. Die Lebenserinnerungen enden mit dem Verkauf seiner Aktien und der Übergabe des Direktorpostens an Wilhelm Kestranek. Trotz der gewährten Einblicke in das persönliche Netzwerk, beispielsweise, welche Empfehlungen ihm zu welcher Anstellung verholfen hatten, und wenn er seine beruflichen Kontakte auch als persönliche Beziehungen beschreibt, handelt es sich um eine linear erzählte, ich-bezogene Erfolgsgeschichte, die sich privat im Kauf der verschiedenen Anwesen widerspiegelt, der Villa Neuwaldegg, der Alleegasse und der Hochreit. An diesen autobiographischen Notizen, die er ihr kurz vor seinem Tod diktiert hatte, orientiert sich Hermine in der Darstellung ihres Vaters. Sie sieht die väterliche Selbstdarstellung, insbesondere seine Schilderungen einer triumphierenden Rückkehr aus Amerika mit Geld und ‚neuen Kleidern‘, durchaus kritisch, wenn sie parallel dazu Erinnerungen seiner Schwester Josephine zitiert, dass er bei seiner Rückkehr abgerissen und niedergeschlagen gewirkt habe und noch eine Zeitlang als missratener Sohn galt, bevor er sich rehabilitierte. (FamEr, 38, 43) Die Selbstbeschreibung des Vaters erinnert an das Schema eines sozialen Aufsteigers, wie es Miriam Gebhardt in ihrer
19 Vgl. Michael von Engelhardt, Geschlechtsspezifische Muster des mündlichen autobiographischen Erzählens im 20. Jahrhundert, in: Magdalena Hauer (Hg.), Autobiographien von Frauen, Tübingen 1996, 368–392, 374. 20 Diese Dichotomisierung soll um eine Bemerkung ergänzt werden, die hier auf das Phänomen der ‚Linearität‘ bezogen ist, aber allgemein für diese Frage des ‚typischen‘ zu bedenken ist: „Wir wollen Zyklizität und Linearität nicht als Kategorien der Individuierung, sondern als Kategorien der Vergesellschaftung einer Person verstehen.“ Kannonier/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 23. 21 Karl Wittgenstein, Lebenserinnerungen, Typoskript (P. St.).
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Studie über das deutsch-jüdische Bürgertum formuliert hat: „Der Familiengründer als klassischer selfmade man, der sich am eigenen Schopf packt und wirtschaftlich und kulturell ‚verbessert‘“, eine bürgerliche Selbstlegitimation, die „in idealtypischer Weise den Ethos der jungen industriellen Leistungsgesellschaft“ beschreibt.22 Auch wenn Karl Wittgenstein mehr auf die Kindheit, sein Ausreißen von Zuhause und die Erfahrungen in Amerika als auf das Geschäftsleben eingeht, skizziert er damit doch den Weg hin zum führenden Stahlmagnaten der Habsburger Monarchie. Hermine schildert die Karriere des Vaters im Telegrammstil, nicht nur weil seine autobiographischen Notizen so verfasst waren, sondern weil dieser auch, wie sie schreibt, seinem „lakonischen“ Charakter entspreche: Ihr Stil [der autobiographischen Notizen] ist größtenteils dadurch bedingt, daß mein Vater durch seine schwere Krankheit sehr am Sprechen gehindert war; da die lakonische Kürze aber auch sonst zu ihm paßt, will ich an der Ausdrucksweise nichts ändern. (FamEr, 36)
Die Erfolge der Schwester Margarete in Amerika werden ähnlich aufgelistet, schlaglichterartig gebündelt in einer Parallelisierung von Erzählzeit und Erzähltem, von der Autorin begründet mit der schnellen Aufeinanderfolge der Ereignisse. Während die nachfolgenden Verzögerungen und Schwierigkeiten rund um das Jahr 1938 einen dementsprechend anderen Schreibstil herausfordern würden: Ich habe das alles in einen Satz hineingepreßt, um die Geschwindigkeit anzudeuten, mit der sich der Anfang abspielte, aber ich werde viele Sätze brauchen, um den Fortgang zu schildern, der durch schwere Hindernisse nicht nur verlangsamt, sondern beinahe zum Stillstand gebracht wurde. (FamEr, 131)
Sie schildert es auch als bewusste Entscheidung, für die Beschreibung der Ereignisse von 1938/39 den Stil einer minutiösen Chronik gewählt zu haben: Die Geschehnisse bestimmen selbst den Stil, und wenn das Kapitel, das von den Jahren 1938 und 39 handelt, notgedrungen aus dem Rahmen dieser Familienerinnerungen fällt, so liegt das daran, dass die Ereignisse selbst aus dem freundlichen bürgerlichen Rahmen herausfielen, der bisher unsere Familie umgeben hatte. (FamEr, 152)
Damit reflektiert sie diesen Einschnitt in die Familiengeschichte mit einer besonderen Art der Retrospektive. Hermine Wittgenstein präsentiert das Erzählen über das Jahr 1938 als einen Stil- und Erzählbruch und verbindet dadurch indirekt die bürgerliche Familientradition mit einer identitätsstiftenden narrativen Form. Und wenn sie in der Einleitung formuliert, nur „Stroh-
22 Gebhardt, „Vom Ghetto zur Villa“, 184.
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halme“ und ein „Mosaik“ präsentieren zu können, reflektiert sie damit den selektiven Zugriff auf einzelne Familienmitglieder, während sie Charakterbeschreibungen jedoch mit ausführlichen Briefzitaten unterlegt. Diese Verweise auf ihr Nachdenken über den eigenen Schreibstil zeigen, dass sie ihre Erinnerungen in sprachlicher Hinsicht sehr bewusst gestaltet hat. Sie reflektiert nicht nur ihren eigenen Schreibstil, sondern versucht auch, dem jeweiligen Inhalt eine entsprechende Form zu geben. Das erinnert an die Bemerkungen ihres Bruders Ludwig über die gesuchte Kohärenz von Schreibform und Gesagtem – eine Wunschformel, die in den Briefwechseln der Geschwister öfters geäußert wird. Charakteristisch an der Erzählweise der Familienchronik ist ein starker Wir-Bezug. Damit beschreibt sich Hermine indirekt als Repräsentantin einer sozialen Schicht und ihr Schicksal als das einer sozialen Klasse. So ist ihre Selbstbezeichnung „Weltfremdheit“ nicht nur die Beschreibung ihres Naturells, sondern schafft eine soziale Zuordnung, ebenso die Formulierung vom „bürgerlichen Rahmen“. Diese Definition über soziale Kriterien konkurrierte in der ersten Hälfte des Jahrhunderts durchaus mit nationalen Kategorien, doch waren diese in den meisten Fällen alles andere als unvereinbar. So spricht Hermine in unterschiedlichen Zusammenhängen über die deutsche Herkunft und Wesensart der Familie oder die k.u.k. Monarchie als Bewusstseinsform. Durch diesen ausgeprägten Wir-Bezug ist die Erzählung weniger chronologisch aufgebaut als horizontal dicht verknüpft, reflektiert damit ihre soziale Rolle und ihr Verhältnis zur Umwelt, und ist eher dialogisch verfasst, nämlich an einen Adressaten gerichtet als Teil einer „Wir-Geschichte“.23 Das entspricht einer Form des Schreibens, die gerade für Frauen häufiger konstatiert wird, nämlich weniger ein selbstreferentielles als ein beziehungsdefiniertes Schreiben zu sein, welches zum objektivierenden Erklären neigt und zum Understatement in Form von „Bescheidenheitstopoi“ (Michaela Holdenried): Der Selbstbezug bedurfte, historisch gesehen, bei Frauen stets der besonderen Rechtfertigung: So waren Frauen zwar als Verfasserinnen von familiären Hausbüchern und als Brief-Schreiberinnen akzeptiert, doch bedeutete eine um 1800 von einer Frau geschriebene Autobiographie immer noch eine Provokation, und erst um 1900, in Folge der Frauenbewegung und den zunehmenden Möglichkeiten im Bildungs- und Erziehungswesen,24 entstanden die ersten von Frauen verfassten Autobiographien, doch insbesondere in Wechselwirkung mit der massiv anwachsenden Memoiren-Literatur, in der tendenziell weniger die Ereignisgeschichte als die subjektive Lebenserzählung im Vordergrund stand; doch kaum die Erzählerinnen selbst: Es wurde und wird häufig das eigene Dasein, die eigene Identität in Bezug auf
23 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 93f. Vgl. auch: Jelinek, Women’s Autobiography, 17; Ortrun Niethammer, Identity, Linearity and Biography. Concepts of the Theory of Autobiography?, in: Hämmerle, Plurality and Individuality, 33–41, 41. 24 Vgl. Jelinek, Woman’s autobiography, 5f. Vgl. Holdenried, Autobiographie, 187–191.
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Andere, für Andere und durch Andere definiert25 – während sich das männliche Selbstbewusstsein häufig eher über Distanzierung und Abgrenzung konstituiert. Das zeigt sich beispielsweise daran, wenn Personen, die in den Lebensgeschichten von Männern eine eigentlich wichtige Rolle spielen, dennoch „meist ohne eine eigene Geschichte und allenfalls als Auslöser einer biographischen Wende in das Erzählen eingebracht“ werden.26 In dieser Hinsicht erscheinen die häufigen Wir-Bezüge in der Wittgenstein-Chronik – die Familie, der gesellschaftliche und kulturelle Rahmen, die Bewunderung für den Vater, den Bruder Ludwig oder die Schwestern Margarete und Helene – als eine spezifische Form des Understatement. Dennoch liegt es auch in der Natur des Genres, dass die Familie regelrecht beschworen wird, in der Erinnerung an Familienrituale oder durch die Beschreibung der Gemäldesammlung als personifiziertem Familiengeist. Michel Foucault verweist auf den Konstruktionscharakter von historischen Legitimitäten, auf Begriffe wie Entwicklung, Einfluss, Mentalität, Geist, die eine Sinngemeinschaft oder einen Gruppengeist suggerieren; oder auf den der Tradition, „mittels derer historische Kontinuitäten durch die historische Betrachtungsweise selbst gestiftet werden“, und die gestatten, „die Streuung der Geschichte in der Form des Gleichen erneut zu denken“.27 Dadurch bekommen Wiederholungsphänomene den Anschein von Kausalität. Hier konstituieren Sprache und Praktiken einen Gegenstand, die Familie. Diese Sprache der Gemeinschaft prägt die Wittgenstein’sche Chronik in außerordentlichem Maße. Statt die Entwicklung des Selbst in den Vordergrund zu stellen oder zumindest fragmentarisch als Erzählfaden immer wieder aufzunehmen, bleibt die Autorin im Hintergrund. Diese Form der Darstellung wird durch andere Erzählmodelle noch unterstützt.
3. E RZÄHLMODELLE Um Gruppen zu erhalten, bedarf es einer gesonderten Aufmerksamkeit. Mit dieser Bemerkung nimmt Pierre Bourdieu den Gruppen ihre Selbstverständlichkeit und erklärt sie „zu Phänomene[n], die gemacht werden, unter Aufbietung fortwährender Arbeit der Wartung und des Erhalts […] Die Zusammengehörigkeit wird gestiftet, ausgehandelt, um sie wird gespielt“.28 25 Vgl. Michaela Holdenried, Autobiographien von Frauen – eine eigene Geschichte?, in: Dies., Autobiographie, 62–84, 67. Hier verweist sie auf Nancy Chodorows Begriff „mothering“, der betont, dass gerade bei einer starken Mutterbindung oft eine ausgeprägte beziehungsdefinierte Identitätsentwicklung vorliege, während bei einer starken Vaterbindung stärkere selbstreferentielle Aspekte im Schreiben der Töchter zu finden seien. 26 Engelhardt, Geschlechtsspezifische Muster des mündlichen autobiographischen Erzählens im 20. Jahrhundert, 380f. Ein gutes Beispiel dafür ist u.a. die Autobiographie von Karl Popper. 27 Foucault, Archäologie des Wissens, 33f. 28 Bourdieu, Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1972, 97.
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Die Familienerinnerungen von Hermine Wittgenstein können als ein solches gruppen-konstituierendes Instrumentarium betrachtet werden. Denn sie sind nicht nur die Konsequenz eines bestimmten Familienbewusstseins und einer gewissen Sozialisation, sondern ermöglichen jene Sozialisation auch. Wie es Jan Assmann betont hat, ist die Sozialisation „nicht nur eine Grundlage, sondern auch eine Funktion des Gedächtnisses“: „Die Sozialisation ermöglicht uns nicht nur, uns zu erinnern, sondern unsere Erinnerungen ermöglichen uns auch umgekehrt, uns zu sozialisieren.“29 Auch in dieser Sozialisierungsfunktion liegt die Bedeutung einer Familienchronik. Neben dieser kollektiven gibt es aber auch eine individuelle Bedeutungsstiftung: ‚Gelebte Vita‘ In der Beschreibung ihres eigenen Lebens verdeutlicht Hermine Wittgenstein durch die Stilisierung des Ersten Weltkriegs zu einem biographischen ‚turningpoint‘ ihr bisheriges Leben und markiert einen Bruch. Als Krankenschwester in einem Kriegshospiz führte sie ein Leben, das mit ihrem bisherigen Dasein unvereinbar war. Darüber schreibt sie dem Bruder Ludwig: […] ich bin in meinem kleinen Wirkungskreis unerhört glücklich und dankbar dafür dass ich in dieser grossen Zeit doch auch an der Arbeit teilnehmen darf. Ich geniesse auch fast zum ersten Mal in meinem Leben das Glück nur einer Sache mich ganz hingeben zu dürfen, während ich sonst zwischen Malerin, Gutsbesitzerin, Vereinsdame etc. etc. herumgeworfen wurde (es war eben keines davon wert Alles Andere zu verdrängen). (28.12.1914, IEAB)
Hermines Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges war kein Einzelfall. Vielen Frauen hatte der Krieg erlaubt, sich vom festgeschriebenen Rollenmodell, von Familie, Herkunft und Normen zu emanzipieren und bot damit eine Chance zur Selbstverwirklichung.30 Unterstützt wurde diese Erfahrung Hermines noch durch den Tod des Vaters 1913 und den Antritt des Erbes. Wendepunkte sieht sie auch im Leben der Geschwister: Der Erste Weltkrieg hatte bei Margarete ein außerordentliches soziales Engagement ausgelöst, das eine lebenslange Fortsetzung finden sollte, bei ihrem Bruder Ludwig die Aufgabe der Philosophie und die Berufung zum Volksschullehrer mit initiiert. Die Veränderungen im Leben der Geschwister können als gemeinsame Generationserfahrung parallelisiert werden: Sie alle drei flüchteten sich – aus dem beschaulichen und wohlhabenden Leben der Großeltern- und Elterngeneration, das die Autorin seitenlang beschrieben hat – in ein sozial anerkanntes, engagiertes Leben. Nennt sie ihre bisherigen sozialen Rollen
29 Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 15, auch 37–44. 30 Vgl. Kanonnier-Finster/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 23f. Eine oft vernachlässigte Erkenntnis in der Exilgeschichte, denn es ‚gehört‘ sich nicht, über die Vertreibung als Chance zu berichten, bedeutete sie doch für viele Millionen andere Massenelend und Verzweiflung.
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„Malerin, Gutsbesitzerin, Vereinsdame“, beschreibt sie damit ein Selbstverständnis einer spezifischen sozialen Klasse. Durch die Erfahrungen des Krieges und den Tod des Vaters wurden diese alten Lebensmuster zerstört, nun galt es diese durch neue sinnstiftende Lebensmodelle abzulösen. Ihre neue Rolle, zuerst als Krankenpflegerin im Krieg, später als Kinderheimleiterin, ist zwar nach wie vor weniger ein Beruf als eine soziale Verpflichtung, befreit sie aber dennoch von ihrer Rolle als Tochter bzw. älteste Schwester, indem die bisher Ledige und Kinderlose eine quasi eigene Familie gründet. Eine Familie, die 1938 gewaltsam aufgelöst wird, als auch die Familie Wittgenstein sich aufzulösen droht. An den Familienerinnerungen wird deutlich: Formeln, Konventionen, Muster in den Lebensbeschreibungen werden vor allem dann sichtbar, wenn Personen aus jenen vorgeschriebenen Mustern, freiwillig oder unfreiwillig, ausbrechen, wenn Muster zerstört werden, aus denen sich zuvor das anerkannte Leben konstituierte. Es wird auch sichtbar, wie sehr Memoiren stets „unlösbar an das Tragen sozialer Rollen geknüpft“ sind und wie individuelle Erzählungen der eigenen Biographie bis zu einem gewissen Maße von vornherein gesellschaftlich strukturiert sind.31 Berichten Autobiographien von Kindheit und Jugend, sind Memoirenschreiber eher Träger einer sozialen Rolle: Memoiren setzten erst mit dem Erreichen der Identität, mit der Übernahme einer sozialen Rolle ein, genau dort, wo die Autobiographie zumeist endet. Im Wechselspiel Individuum-Gesellschaft ist der Begriff der Rolle zentral, welcher gesellschaftliche Erwartungen in Form von Verhaltensstandards formuliert, und damit „das Verhalten eines Menschen nicht nur von außen organisier[t], sondern auch von innen“.32 Die Geschlechter- oder Berufsrollen sind verinnerlichte Zuschreibungen und zugleich generationsspezifische Erfahrungen. Somit ist die Darstellung des Selbst dabei stets von Erziehungsmodellen und Strukturen geprägt, indem sich individuelle und kollektive Konzepte überlappen: „Das individuelle Leben modelliert sich so unmerklich nach der Struktur eines sozial anerkennungsfähigen Lebens. In Zeiten persönlicher Irritation werden wir dieser unterhalb der Ebene bewußter Intentionen liegenden Strukturalisierung unseres Lebens inne […] Die Kohärenzregeln unseres Lebens sind nicht mehr mächtig, unseren Erfahrungs- und Handlungsraum zu strukturieren. Eine schwierige Dekonstruktions- und Rekonstruktionsarbeit setzt ein, an deren Ende eine veränderte Lebenskonstruktion steht, die ein verändertes Leben regiert.“33 Durch die Erlebnisse von 1938 und den Zweiten Weltkrieg setzt primär eine Rekonstruktion des eigenen Lebenslaufes ein, markiert aber auch die Suche nach einer neuen Rolle. Der Wunsch, einer Rolle zu entsagen, einer Rolle zu entsprechen oder sich in eine solche hineinzuschreiben, charakterisiert lebensge31 Bernd Neumann, Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt/M. 1970, zit. n. Holdenried, Autobiographie, 30, 54 32 Kanonnier-Finster/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 16. 33 Heinz Bude zit. n. Martin Kohli/Günter Robert (Hg.) Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984, 12.
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schichtliche Darstellungen an sich. Ernst Kris spricht vom Prinzip der gelebten Vita. Er verweist darauf, dass nicht erst der Biograph jene Muster erkennt, sondern bereits der Biographisierte selbst sein Leben in vorgeprägten Mustern lebt, dass nicht erst die Beschreibung, sondern bereits das Erleben als solches von Formeln, Konventionen und Mustern geprägt sei. „Viele von uns leben auch heute einen biographischen Typus, das Schicksal eines Standes, einer Klasse, eines Berufes […] die Freiheit in der Lebensgestaltung des Menschen ist offenbar enge mit jener Bindung zu verknüpfen, die wir als ‚Gelebte Vita‘ bezeichnen.“34 Wenn Hermine Wittgenstein in den Familienerinnerungen ihren Weg zur Selbstbestimmung beschreibt, so bleibt sie doch innerhalb eines biographischen Typus, des Schicksals eines sozialen Standes. Jerome Bruner unterstreicht diese Bedingtheiten noch, wenn er davon ausgeht, dass das eigene Leben das Ergebnis von den jeweiligen Fähigkeiten ist, dieses zu erzählen. Die Autobiographie sei somit „life construction through text construction“.35 Der Psychotherapeut Dietrich Ritschl sieht darin sogar ein psychoanalytisches Gesetz: „Wir sind die Geschichten, die wir von uns erzählen können.“36 Erzählen auch im erweiterten Sinne: Denn auch Traumata, die oft ein innerer Narrativ bleiben, sind prägende Realität für die Person und ihre Selbstdarstellung. Pointiert gesagt, würde das bedeuten: Ob Emanzipation, Erfolg oder Niederlage, erlebt wird nur das, was auch erzählt werden kann. Die ‚Chronistin‘ Ist das Schreiben der Familienchronik, begonnen kurz vor Kriegsende, der Versuch, sich in eine neue Rolle, als Chronistin, hineinzuschreiben, aus der sich ein gewisser Selbst- und Mehrwert schöpfen lässt, aus dem Bewusstsein heraus, dass bisherige Identifikationen unwiederbringlich verloren waren? Hermine hatte als inoffizielles Familienhaupt und Herrin der Hochreit, später als Hilfsschwester und Kinderheimleiterin Anerkennung gefunden. Nach 1944 scheint – angesichts des Verlusts der Tagesstätte, einer besetzten Hochreit und eines zerstörten Elternhauses – die Idee nahe liegend, als Familienchronistin bisherige Funktionen weiterzuführen. Paul Parin spricht von einem „narzisstischen Gewinn“ in der Identifikation mit einer Rolle, auch wenn es sich um erzwungene Anpassung handelt: Denn die Identifikation mit einer Rolle bringe Entlastung und Erleichterung für das Ich.37 Insbesondere nach 1945 scheint für Hermine die Identifikation als Chronistin
34 Ernst Kris, Zur Psychologie älterer Biographik, in: Imago 22, 1936, 257–274, zit. n. Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 188f. 35 Jerome Bruner, The Autobiographical Process, in: Robert Folkenflik (Ed.), The Culture of Autobiography. Constructions of Self-Representation, Stanford 1993, 39–56, 41 u. 55, zit. n. Gebhardt, Familiengedächtnis, 22. 36 Dietrich Ritschl, zit. n. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 135. 37 Paul Parin, Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien, Frankfurt/M. 1978, 78–111, 103.
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und damit die Re-Etablierung als Familienhaupt eine gewisse Entlastung zu sein, eine Rechfertigung für vergangenen Streit, Strapazen und Entscheidungen, die sie nicht nur als Individuum, sondern auch in ihrer Rolle als Familienoberhaupt getroffen hat. Auch wenn die Familienerinnerungen kaum sie selbst zum Thema haben, können sie als Identitätsstrategie jedoch insofern gelten, als die Autorin alleine mit dem Akt des Chronistin-Seins ihre Position als Wiener Familienzentrum fortschreibt und dies auch gegenüber der Nachwelt dokumentiert. Was Peter Sloterdijk über die Natur der Familienchronik schreibt, charakterisiert zugleich die Position von Hermine Wittgenstein im Familiengefüge: Der Chronist ist nicht der „Held“, der am Rande steht und durch seine Ausgesetztheit ein „psychologischer Pionier“ ist, sondern tief verankert in der Familie, „jemand, der sich in der Geborgenheit des Familienschoßes verkriecht, um von dort aus Familiennamen und -werte zu verkünden“.38 Er ist „Augen-, Ohren-, Zeitzeuge“, emotional unbeteiligt, beschreibend und erzählend, ohne in der Tiefe zu schürfen; auch nicht in Zeiten der Psychoanalyse oder des modernen Romans. Das kennzeichnet auch die Position von Hermine, die versucht, in einer bedrohlichen Zeit die Familie zusammenzuhalten. Ist die Chronistin auch nicht unbedingt der „Held“ der Familie (dieser Platz ist für den Vater Karl und den Bruder Ludwig reserviert), so bedeutet es doch eine große Ehre und Verantwortung, die Familiengeschichte für die Nachwelt aufzuschreiben. Deshalb bliebe zu fragen: Beschreibt Sloterdijk die Position des Chronisten nicht als zu passiv und reaktiv? Denn eine Familienchronik beschreibt nicht nur, sondern gestaltet auch. In den Familienerinnerungen schildert Hermine Wittgenstein nicht nur ihre Suche nach einem anerkannten Leben, sondern die gesamte Familienchronik scheint ein solche Suche nach Anerkennung. Die ‚Generation‘ Ein anderes bedeutsames Erzählmuster ist das der ‚Generation‘. In den Familienerinnerungen zeigen sich typische Charakteristika eines Generationengedächtnisses, nicht weil der Begriff der Generation besonders häufig verwendet wurde (sieben Mal), sondern durch die Herausbildung einer charakteristischen Bedeutungseinheit, für oder gegen etwas zu sein.39 Was die Autorin in Erziehungsfragen das „Unverständnis der Eltern“ nennt, scheint eine allgemeine Generationenkluft zu sein, die Diskrepanz zwischen den eigenen Bedürfnissen und den als abstrakt wahrgenommenen Verhaltensnormen der Älteren. Doch eine Familienchronik und ihre Struktur als Generationengedächtnis schreibt eine Art dialektisches Erzählen vor, die Formu-
38 Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, 1993, zit. n. Vorst, Familie als Erzählkosmos, 329, 146. 39 Andreas Schulz, Individuum und Generation – Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 7/8, 2001, 103f.
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lierung des Eigenen vor dem Hintergrund der Erfahrungen der ElternGeneration. Schon deshalb ist die harsche Kritik von Hermine an ihren Eltern, ihr richtender Ton, der in diesen ansonsten sehr harmonisch anmutenden Erinnerungen überrascht, auch als notwendiges Erzählmuster zu sehen, als eine Form der Abgrenzung zur eigenen Positionierung. Dieses eigene ‚Ich‘ wird bei Hermine deutlich innerhalb des familiären Rahmens platziert. Dass der familiäre Rückblick (Urgroßeltern-, Großeltern-, Eltern- und Kindergeneration) kein linearer, sondern ein integrativer und die Generationen übergreifender ist, zeigt auch der Textaufbau. Nach der Beschreibung der eigenen Generation und der Ereignisse der Gegenwart kommt sie noch einmal auf die Geschwister des Vaters zurück. Das vermittelt eine starke Identifikation mit der Familie und ihrem sozialen und kulturellen Status. Ob die geschilderte Generationen übergreifende Erfahrung nun eine reale Erfahrung oder lediglich eine fiktive Bedeutung für die Autorin hat, sie ist in jedem Fall ein Vorgang der Selbstreflexion und der Historisierung des eigenen Lebens und sagt deshalb einiges über Hermines Selbstwahrnehmung aus. Dieses Denken in Generationszusammenhängen gilt aber auch als eine charakteristische Reaktion auf Umbruchserfahrungen. So gab es nach 1945 ein besonderes Bedürfnis „das desaströse Ende einer Gesellschaftsordnung auch als Übergang – statt nur als Bruch – zu sehen“.40 Auch in den Familienerinnerungen zeigt sich dieses Bedürfnis nach einer generationenübergreifenden Stabilisierung des ‚Ich‘. Damit sind Generationserinnerungen erzählend und deutend in einem: Sie generieren einen sinnstiftenden politischen Kontinuitätsrahmen für das Individuelle und das Persönliche erhält historische Bedeutung, wenn es als Generationserlebnis gedeutet wird. Der ‚Rahmen‘ Dieser Kontinuitätsrahmen wird noch unterstützt, indem die beschaulichen Schilderungen der harmonischen Zeiten einen Großteil der Erinnerungen einnehmen, obwohl die Familienerinnerungen unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der Zerstörung von Hermines Lebenswelt entstehen. Halbwachs hat dies erklärt mit dem Charakteristikum des Familiengedächtnisses, sich auf die konstitutiven Phasen von Familie zu konzentrieren. Dieser Logik scheint es auch zu entsprechen, wenn dann Ereignisse, wie die von 1938, als „herausfallende“ Episoden bewertet werden und kurz darauf
40 Daniel, Kulturgeschichte, 333, mit Bezug auf: Jürgen Reulecke, Probleme einer Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Nachkriegszeit, in: Geschichte im Westen 2, 1987, 7–25. Das Generationengedächtnis fühlt sich nämlich gerade dann bedroht, wenn große politische, wirtschaftliche oder soziale Veränderungen innerhalb von drei Generationen erfolgen, vom Großvater zum Enkel, sodass die Erfahrung von Kontinuität zurückgedrängt und die von Bruch stärker erlebt wird. Vgl. Kosselleck, ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1989, 349–375, 367.
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„der freundliche Rahmen bald in schöner Weise wieder sichtbar wurde, als hätte er nie gefehlt“. (FamEr, 153) Die Rede von Kontinuitäten symbolisiert sich bei Hermine Wittgenstein im wiederholten Verweis auf einen ‚Rahmen‘, den nicht nur jede Bildersammlung haben sollte, sondern auch jede Familie, eine klare Vorstellung von dem, was hineingehört und was hinausfällt. Mit dieser Metapher des Rahmens wird zugleich das Eigene wie das externe Andere homogenisiert.41 Der ‚Rahmen‘ bedeutet hier auch eine spezifische soziale Verortung. Wie Pierre Bourdieu betont, hat jede biographische Präsentation ihren soziale Ort und deshalb können gewisse Elemente der Selbstpräsentation auf die „Logik des sozialen Ortes“ zurückgeführt werden: nämlich auf die soziale Herkunft, die einen gewissen „Habitus“ prägt, und auch eine Strategie darstellt, zur Behauptung im Feld der sozialen Differenzierung.42 Bourdieu grenzt sich mit diesem Fokus gegen biographie-analytische und psychologische Ansätze in der Biographieforschung ab, welche beispielsweise in Familienkonstellationen die Erklärung für die spätere Entwicklungen sehen, und betont mehr die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als maßgeblichen Faktor für die autobiographische Selbstbeschreibung. Das veranlasst ihn auch von der biographischen Illusion zu sprechen, die jeder biographischen Erzählung zu Grunde liegt.43 Er benennt damit seinen Zweifel an der Gerichtetheit und Sinnstiftung jedes Lebenslaufs, denn außer den Geburts- und Namensdaten sieht er alles subjektiv verformt. Er fordert dazu auf, nicht die Chronologie (welche das Ergebnis einer Ideologisierung des eigenen Lebens sei), sondern die Gleichzeitigkeit, das Leben in den verschiedenen Lebensfeldern als eine Verschiebung im Raum, nicht in der Zeit zu betrachten. So können über das soziale Milieu und das Netzwerk an Bezügen in einem „Feld“, in welchem Identität ausgebildet werde, treffendere Aussagen zu einer Person getroffen werden. Doch kann nicht ebenso der Beschreibung des Milieus ein fiktives Element innewohnen? Angesichts der familiären Auflösungen in Kriegs- und Nachkriegszeit ist Misstrauen gegenüber einem als selbstverständlich präsentierten gesellschaftlichen Umfeld ebenso angebracht, wie gegenüber beschworenen Kontinuitäten.
41 Reinhard Sieder, Gesellschaft und Person, 239. 42 Pierre Bourdieu, Soziologische Fragen. Vgl. Kap.: Über die Eigenschaften von Feldern, 107f.; Ders., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt/M. 2001. 43 Bourdieu, Die biographische Illusion, in: BIOS 1, 1990, 75–81.
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Der ‚Umbruch‘ Andererseits ist es in der Wittgenstein’schen Familienchronik gerade die Rede vom Erzählbruch oder „Umbruch“, die nicht nur biographische und historische Lebenseinschnitte markiert, sondern auch versucht, erneute Kohärenz zu stiften. Erzählbrüche weisen nach Reinhard Sieder „auf noch nicht abgeschlossene Umwertungen eines Geschehens, auf problematisch Gewordenes, auf die Spaltung von Denken und Wissen […], auf die Externalisierung oder Verdrängung unangenehmer oder belastender Teile eines Zusammenhangs […] hin, Vorgänge, die das Geschehen selbst nicht mehr ändern, aber die Erinnerung perspektivisch verändern“.44 Ein Bruch wird geglättet oder besonders markiert, um „lebensgeschichtliche Verläufe plausibel zu machen“. Brüche werden als Krisen gezeigt, die den Einzelnen nötigen, seinen Weg zu ändern und einer fremden, keiner eigenen Entscheidung zu folgen. Nach diesem Muster erfolgt auch die Beschreibung des Jahres 1938 als einen historischen Einschnitt in das Familienleben der Wittgensteins: Wird in den Familienerinnerungen zuvor ein vor allem privates Bild gezeichnet, in dem das Gesellschaftliche alleine in Form von sozialem Engagement sichtbar ist, spielt nun die Politik unmittelbar in die Familie herein. Damit muss das Jahr 1938 zu einem ungewöhnlichen Selbsterkennungsprozess führen. Mit dem Herausfallen aus dem bisherigen Rahmen zeigt sich zugleich dieser erst deutlich im Verlust der zugrunde liegenden Selbstverständlichkeiten. Zweifellos, historisch gesehen bedeutete das Jahr 1938 in vielen Familiengeschichten in Österreich einen Einschnitt. Dennoch, der Erfahrung und Formulierung von Brüchen ist stets auch ein stilisierender Charakter immanent: „Die dramatische Qualität eines Ereignisses ist keine Qualität des Ereignisses selbst, sondern abhängig von seiner Position innerhalb einer Narration“, schreibt Heiner Keupp.45 Was schicksalhaft, klein oder groß, wichtig oder unbedeutend ist, wird in jedem Fall subjektiv gestaltet. Es ist die Art der Erzählung, welche die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit konstituiert. Bei der Darstellung des Jahres 1938 muss gefragt werden: Inwieweit hatte der Anschluss als solcher tatsächlich einen Bruch in der Familiengeschichte und damit einen „Schreibstilbruch“ in den Familienerinnerungen evoziert – oder diente der Zeitpunkt als ein von der Autorin gesetzter Referenzpunkt für das Auseinanderfallen der Familie bzw. von dem Bruder Paul und ihr, parallelisiert mit dem Zerfall der politischen Ordnung, obwohl es vielleicht schon viel früher zu einer Distanzierung kam? Denn die Kritik an seiner Emigration überspielt ein ebenso vorhandenes moralisches Dilemma; ihre Unfähigkeit, seine unstandesgemäße Heirat und das heimliche Doppelleben zuvor, zu akzeptieren. Dies mag auch eine Rolle gespielt haben, den Konflikt nicht beenden zu können. Rhetorische Figuren, wie die Rede vom
44 Sieder, Gesellschaft und Person, 256f. 45 Keupp, Das Patchwork der Identitäten, 213.
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‚Bruch‘, helfen das Gewesene zu manifestieren, wie die Rede von der ‚Wiederkehr des freundlichen Rahmens‘ dazu beiträgt, ihre Lebensbeschreibung in eine abgeschlossene symbolische Form zu bringen; andererseits aber dadurch gerade diesen Bruch verleugnet. Zugleich ist es genau dieser immer wieder evozierte gesellschaftliche und familiäre Rahmen, der auch die Erinnerungen formt. Wenn Maurice Halbwachs von dem Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen spricht, zeigt er, dass nur solche Erinnerungen möglich sind, für welche die Gesellschaft oder die Familie ‚Bezugsrahmen‘ zur Verfügung stellt.46 Und wenn Hermine Wittgenstein vom Rahmen des Gewohnten, das heißt eines Lebensstils und Erfahrungsraumes spricht, sind damit gewisse Bedingungen vorgegeben. Denn nur innerhalb dieses Erwartungshorizontes wird erinnert, alles andere als nicht dazu gehörig definiert oder vergessen. Bedeutsam sind in diesem Erinnerungsprozess deshalb nicht nur die Autorin, sondern auch die Personen, die das Erinnern als gedankliche Interaktionspartner begleiten. Denn jede individuelle Erinnerung ist insofern kollektiv, als wir „stets eine Anzahl unverwechselbarer Personen mit und in uns“ tragen und sich somit jede Identität und das soziale Gedächtnis einer Gruppe wechselweise bedingen.47 Es ist die Erinnerung, die Menschen verbindet und die eine einigende Kraft hat. Deshalb ist es wichtig, dass das Interesse der Schwestern und der Nichte an den Familienerinnerungen betont wird, dass die Erzählung eine an die Enkel adressierte und eine im Text dialogisch um Verständnis ringende ist. Indem ein grundsätzlich einverständiges Familiengefüge beschrieben wird, suggeriert diese Übereinkunft indirekt auch die eigene Erzählung als anerkannte. Um verstanden zu werden und soziale Anerkennung zu erfahren, sind gewisse Erzählkonventionen einzuhalten, wie sinnstiftender Endpunkt, Reduktion auf relevante Ereignisse, narrative Ordnung der Ereignisse, kausale Verknüpfung und Grenzzeichen. Das heißt, es sind Regeln für ‚richtige‘ oder ‚wahre‘ Geschichten zu befolgen und die Erzählstruktur muss die Anerkennung durch die Umgebung haben. Wie Heiner Keupp betont: Die jeweilige Präsentation gelingt nur, wenn die Außenwelt diese Narration stützt. Jede Erzählung ist von der Anerkennung durch die Umgebung abhängig, insofern ist es ein Prozess des Aushandelns, des Dialogs, des Reflexes von Alterität auf die Formulierung von Identität – insbesondere dort, wo man glaubt, falsch gehandelt zu haben. Das Gelingen von Identität liegt somit nicht nur in der Macht des Einzelnen, ist kein privates Projekt, sondern „letztlich ein gesellschaftlich vermittelter Prozeß“ und damit Teil eines sozialen Gefüges.48 Was passiert nun, wenn ein gesellschaftlicher Umbruch stattfindet, wenn das identitätsstiftende sozi-
46 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. 47 Maurice Halbwachs, zit. n. Grossmann, „Das bedeutet, daß wir in Wirklichkeit niemals allein sind“, 111. 48 Vgl. Keupp, Selbsterzählung als Aushandlungsprozeß, 103ff., 104, 286.
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ale Umfeld zerstört wird? Wie reagiert eine autobiographische Erzählung auf solche Veränderungen? Der Drang Erinnerungen niederzuschreiben entsteht oft aus dem Wunsch, sich als Teil einer Gemeinschaft zu begreifen. In diesem Sinne schreibt Hermine Wittgenstein sich und die Familie in die österreichische Kulturtradition ein. Selbst widersprüchliche Assoziationen mit dem Staat, die k.u.k. Monarchie, das Beamtentum, die Kunst und die Musik, werden zur (geistigen) Heimat verklärt. Ihr idealisierter Kulturkonservativismus kann mit Richard Sennett als Testament der Kohärenz, die man im Leben vermisst, gelesen werden, als ein Versuch, den Konflikt durch Erzählungen zu formen. Solche Geschichten werden zumeist um einen kritischen Moment herum gestaltet: „Die Konvention des kritischen Moments ist eine Art, Veränderung lesbar zu machen, ihr das Chaotische, Blinde oder einfach Spontane zu nehmen. […] Die Konvention des definierenden, klärenden Moments hilft […] Sinn in ihre Lebensläufe zu bringen“: Auch wenn die Erzählungen immer andere sind, strebe eine Erzählung nach Zusammenhang und auktorialem Ich, als Widerstand, Bewältigung oder Selbstheilung, denn das „Narrativ heilt traditionell durch Struktur, nicht durch die Vermittlung direkter Ratschläge“.49 Auch in den Familienerinnerungen entsteht der Eindruck eines heilenden Narrativs durch die erzählerische Darstellungsweise, wenn es dort heißt: „[…] sie haben mir eine längst versunkene schöne Zeit zurückgezaubert […] Sie haben […] mich mit meiner Familie, für die ich ja schreibe, besonders verbunden“. (FamEr 250) Hier wird in nostalgischer Färbung gegen einen Verlust angeschrieben und mit dem Genre der Familienchronik ein deutliches Symbol gesetzt. Statt die Störerfahrungen zum Anlass zu nehmen, um Widersprüche aufzulösen oder eigene Wertmaßstäbe und Ordnungsschemata zu hinterfragen, wird die Wahrnehmung oft „rigide“ organisiert, das Erfahrungsmaterial durch zielgerichtete Verdrängung selektiv präsentiert und eine gewisse Übersichtlichkeit produziert.50 Diese Strategie des „übersichtschaffenden Übersehens“ hält Peter Sloterdijk in der bürgerlichen Gesellschaft für besonders entwickelt. Sloterdijk bezeichnete es als die „Festungsmetapher“ des bürgerlichen Subjekts, sich über die Identifikation mit dem familiären Ordnungsverband „gegen immanente Störerfahrungen“ zu behaupten. Indem die schwarzen Schafe als „systemimmanenter Widerspruch“ regelmäßig mitproduziert werden – in diesem Fall der Bruder Paul – werden die Störer dieser Ordnung als Außenseiter marginalisiert oder lediglich als Unterbrechung eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses gesehen. Potenziert wird dieses Störgefühl möglicherweise noch durch das Wissen oder das Gefühl, dass es historisch gesehen gerade diese bürgerliche Le49 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, 179, 184. 50 Sloterdijk, Exkurs: Über Selbstreflexion in der Lebensgeschichte und StörErfahrungen, in: Ders., Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, 112– 116, 114, 115, 292.
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bensweise war, die den verschiedenen Subgruppen der Habsburger Monarchie, ethnischen Minderheiten wie auch den Juden, es ermöglichte, sich zu verwirklichen und sich zu Hause zu fühlen: „[…] the bourgeoise framework served as a home for those from all walks of life, and from diverse ethnic backgrounds, who wished to (and could) leave their past behind them and start, as it were, anew in the secular social culture of industry and capitalism“.51 Auch die Familie Wittgenstein ist in diesem assimilierten Milieu zu verorten. Die von Hermine beschriebene falsche Einschätzung der Ereignisse rund um den Anschluss entspricht der charakteristischen Wahrnehmung in diesem Milieu. Ihr autobiographisches Nachdenken war gerade die Konsequenz dieser Störerfahrung und sie kompensiert die erlebten Brüche, Ängste und Unsicherheiten mit einem konservativen Narrativ, als Heilmittel sozusagen. Hier bleibt mit Michaela Holdenried zu fragen, ob mit diesen Memoiren den gesellschaftlichen Erschütterungen und Nachwehen des Krieges beizukommen war. Sie bezweifelt, dass die konservative Darstellungsform, wie beispielsweise das Festhalten am Goethe’schen Erzählmodell eines Entwicklungsromans, der modernen Erfahrung gerecht werden könne.52 Jürgen Schläger hingegen behauptet, dass gerade dieses konservative Schreiben das beste Mittel sei, Sicherheiten zurückzugewinnen und argumentiert mit dem Biographie-Trend der Postmoderne, der Ausdruck gesellschaftlicher Konservativität und Suche nach Sicherheit sei.53 Ist der harmonische Stil der Familienchronik eine Negation der gesellschaftlichen Zerrüttungen und darin eine selbstheilende Antwort auf die furchtbaren Erfahrungen – oder scheitert Hermine Wittgenstein in ihrer anachronistischen Darstellungsweise und wird deshalb in der Familie so ambivalent rezipiert? Einerseits wirkt ihr Schreibstil wie als Heilmittel für sie selbst konzipiert; andererseits funktioniert die Chronik als verbindliches und verbindendes Narrativ für die Familie nur bedingt – wie es der spätere Verlauf der Familiengeschichte und Gespräche mit Familienmitgliedern (siehe Epilog) zeigen. Es bliebe zu spekulieren, ob die Brüche, wenn sie stärker thematisiert und verhandelt worden wären, mehr zum familiären Frieden beitragen hätten können. So jedoch scheint die Familienchronik weniger den Zusammenhalt der Familie als vielmehr ihr Scheitern zu dokumentieren – oder noch etwas überspitzter gesagt – ihr Scheitern möglicherweise sogar mit befördert oder zumindest befestigt zu haben.
51 Karl Eder, Der Liberalismus in Altösterreich, München 1965, zit. n. George Strong, The Final Transformation, 129. 52 Holdenried, Autobiographie, 247. 53 Vgl. Jürgen Schläger, Biography: Cult as Culture, in: J. Batchelor (Ed.), The Art of Literary Biography, Oxford 1995, 57–72.
VI. Die Familienerinnerungen – eine Legende? Zu Strategien einer Chronik
Everything in biography and about biography is interpretation of individuals. (Jürgen Schläger, Biography: Cult as Culture, 58)
Das Familiengedächtnis ist nicht nur eine Geschichte, durch die der Einzelne seine Vergangenheit mobilisiert und ihr Bedeutung gibt, sondern auch ein Erinnerungsraum, in dem das Verhältnis zur eigenen Geschichte und das Verhältnis zu anderen, als „an antechamber of otherness“ (Anne Muxel), gestaltet wird.1 Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedeutet stets ein besonderes Verhältnis zur Gegenwart zu haben. Oder, um es frei nach Goethe zu sagen: Erinnerungen schreibt nur der, dem die Gegenwart wichtig ist; denn Erinnerung ist auch etwas, um mit der Gegenwart zurechtzukommen. Die Phase von Hermine Wittgensteins Chronistendasein sind die Jahre unter nationalsozialistischer Herrschaft in Wien und das Ende des Zweiten Weltkrieges. Was bedeutete es in dieser Gegenwart eine Familienchronik zu schreiben? Die Familienerinnerungen von Hermine bieten mehr als eine bourgeoise Nabelschau, wie der erste Blick auf das Typoskript zunächst vermuten ließ und wie es auch die Nachlässigkeit der Forschung gegenüber diesen Erinnerungen nahe legte. Weil es in den zeitgenössischen Quellen mit Ausnahme der Oser’schen Erinnerungen keine Referenz auf die Familienerinnerungen als solche und den Schreibprozess gibt, musste über die persönlichen Schreibmotive der Autorin auf der Basis von Textstruktur und historischsozialen Umständen spekuliert werden. Es wurde den Familienerinnerungen zwar ein Vorwort vorangestellt, in welchem die Chronik unter dem Eindruck der Zerstörungen des Krieges und der Vergänglichkeit den Enkeln gewidmet wird, dennoch finden sich neben dieser kollektiven Verunsicherung noch weitere Motive: Die Familienchronik verdankt sich auch dem
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Vgl. Anne Muxel, Family Memory, a Sociology of Intimacy, http://www.cnrs.fr/ cw/en/pres/compress/memoire/muxel.htm (1.1.2011).
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Zwang zu einer Herkunftserzählung im Jahr 1938, Hermines persönliche Verunsicherung durch den Streit mit dem Bruder Paul über die Notwendigkeit der Emigration und durch die generelle Tendenz des Familiengefüges auseinander zu fallen. Aufgrund der Tatsache, dass insbesondere nach dem Anschluss im Jahr 1938 der Text eine besondere Retrospektive einnimmt, verknüpft mit einer veränderten, nämlich dokumentarischen, Erzählweise, wird das Jahr 1938 und die jüdische Herkunft der Familie zu einem zentralen Textelement erhoben. Den Stellenwert des Jüdischen unterstreicht auch die Tatsache, dass es bereits von Beginn an, in der Beschreibung der Familie zu Anfang des 19. Jahrhunderts, zu einer bewussten Distanzierung von den jüdischen Wurzeln kommt. So beginnt sie mit den Großeltern mütterlicherseits, den Figdors, einer Wiener Großhändlerfamilie, die jüdisch war, aber wie sie schreibt, deren Mitglieder sich als Österreicher fühlten und auch von anderen als solche betrachtet wurden. Ähnlich betont sie die Integration des Großvaters Hermann Wittgenstein aus Westfalen in die große „reichsdeutsche Gemeinde“ in Wien. Die Negation des Jüdischen kann somit für die Entstehung der Chronik eine zentrale Rolle gespielt haben und äußert sich auch in einem gewissen Assimilations-Narrativ, welches für die Generation von Karl Wittgenstein durchaus präsent war. Was jedoch nicht heißt, dass die Frage der Assimilation für die Familie selbst tatsächlich von solcher Bedeutung war. In diesem Zusammenhang kann noch einmal auf Ernst Gombrich verwiesen werden, der das Jüdische als eine Zuweisung von außen betrachtet, welche, auch wenn sie nicht den eigenen Definitionskriterien entspricht, in diesen Jahren dennoch zur Definitionsmacht wird.2 Das in der Familienchronik deutliche Sehnen nach Selbstverortung scheint eine Antwort auf die nationalsozialistische Gegenwart und deren von außen aufgezwungene Zuweisung zu sein. Damit spielte der Aspekt des Jüdischen für autobiographisches Schreiben und den Konstruktionscharakter von Identität in den 1940er Jahren eine maßgebliche Rolle. Gerade eine solche Bedrohung von außen stärkt zerfallende Entitäten und mobilisiert Kräfte. So wird alles genannt, was die kollektive Identität stärkt: Name, Herkunft, Feste, Rituale, aber auch die Wertschätzung einzelner Familienmitglieder durch Personen des öffentlichen Lebens, denn auch diese konstituieren gesellschaftliche Identität. Damit scheinen die Erinnerungen die Absicht zu verfolgen, die Familie Wittgenstein durch ein bewusstes Einschreiben in die österreichische Kultur der Habsburger Monarchie des 19. Jahrhunderts nicht nur als sozial bedeutsam und österreichisch zu legitimieren, sondern sie konzentrieren sich auch auf die staatsbürgerlichen Treuedienste und die ehrenvollen Charaktere der väterlichen Linie – und sind somit in einem ähnlichen Geiste verfasst wie das Ansuchen um Arisierung in Berlin. Auch in den Familienerinnerungen will die Familie durch Leistung überzeugen und
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Gombrich, The Visual Arts in Vienna circa 1900 – Reflections on the Jewish Catastrophe, 5.
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stellte die Herkunft hintan. Denn gerade die Frage nach der Herkunft war das verunsichernde Moment jener Zeit: „Die Erforschung der Herkunft liefert kein Fundament: sie beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; sie zerteilt, was man für kohärent hielt.“ Was Michel Foucault für Erbschaft im Allgemeinen formulierte, galt für die 1940er Jahre ganz besonders: „Erbschaft ist kein erworbener Besitz, der immer größer und sicherer wird; sie besteht aus Spalten und Ritzen und heterogenen Schichten, sie ist schwankend und brüchig und bedroht von innen und von unten auch den Erben.“3 Bei den Wittgensteins wurde in diesen Jahren nicht nur an dem Selbstverständnis der Familie, sondern auch an ihren wirtschaftlichen Grundfesten gerüttelt: Der hohe Preis für die arische Gleichbehandlung, die Besetzung ihrer Besitzungen sowie die teilweise Zerstörung des Elternhauses in der Alleegasse beeinträchtigten ein Identitätsgefühl, das stets auch im (Immobilien-)Besitz verkörpert war. Dieses Moment der Bedrohung wirkt identitätsstiftend: In den Familienerinnerungen kommt es zu einer kulturellen Selbstzuordnung zur k.u.k. Monarchie lange nach deren Auflösung und zum Bekenntnis zur österreichischen Staatsbürgerschaft im Moment ihrer Abschaffung. Auch der Fokus auf die Erfahrungen im Jahr 1938 erklärt die eher exzeptionelle Familiengeschichte zum Teil der kollektiven österreichischen Geschichte, und der von anderen jüdischstämmigen Familien. Die Autorin verfolgt mit den Familienerinnerungen somit eine geteilte Strategie der Erinnerung nach außen (Definition als Gruppe) – als auch nach innen (Stärkung der Position der Autorin). Die Memoiren sind somit nicht alleine auf das Familienkollektiv ausgerichtet, sondern zugleich höchst individuell motiviert. Sie stiften Legitimation nicht nur in Zeiten der gesellschaftlichen, sondern auch der persönlichen Krise. Selbstdarstellung einer Autorin Aufbau und Struktur des Textes, noch vielmehr die Brüche und Ausblendungen, legen nahe, dass die Familienerinnerungen auch für die Autorin selbst geschrieben wurden, zur Ausbildung, Stärkung und Versicherung ihrer Identität – auch wenn ihre zurückhaltende Art und ein Gestus der Bescheidenheit das gesamte Werk durchziehen. So beschreibt sie im Text zwar nicht nur ihre häusliche Rolle, aber doch ihre Fremdheit gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit, beschreibt die Unterlegenheit gegenüber ihren Geschwistern, untertreibt ihre Talente und ihren Einfluss. Was auch von Familienseite her so gesehen wird:
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Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Christoph Conrad/ Martina Kessel (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, 43–71, 50.
306 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Hermine and her assistant were too modest to realize that the secret of the school’s success was the winning combination of dedication, discipline and love on the part of its directors. (Ripley, 79)
Auch das äußere Erscheinungsbild der Familienchronik erweckt den Eindruck eines gewissen Understatements. Erstaunlich ist die unspezifische Aufmachung, der lapidare Titel Familienerinnerungen; die fehlende Gliederung lässt den Inhalt unbekannt, auch fehlen Fotos, Stammbaum und ein Anhang, der die Besonderheit der Familie in rein formaler Hinsicht herausstreichen würde. Ist dies eine Geste der Bescheidenheit oder lediglich ein unfertiges Typoskript, welches durch die zunehmende Krankheit und den Tod der Autorin beendet wurde? Doch der lapidare Titel ist Statement genug, ein Plädoyer für den Erhalt einer Familie. Auch ist die Suche nach Herkunft, verkörpert in der Idee des Stammbaums, alleine bereits eine nach Hierarchien und Unterschieden.4 Beginnen die Familienerinnerungen mit dem Krieg, der Zerstörung und der Verzweiflung, enden sie in der Erleichterung darüber, was nach Kriegsende noch Bestand hat. Im Nachhinein rechtfertigen gerade diese ‚Überreste‘ des Familienbesitzes Hermine Wittgensteins Beharren darauf, in Österreich zu verbleiben. Die Familienerinnerungen vermitteln den Eindruck, eine schriftliche Legitimation zu sein für ihre Entscheidung, 1938 in Wien zu bleiben und nicht nach Amerika auszuwandern, wie es ihr Bruder Paul erwartet und auch gefordert hatte. Im Zuge dessen kommt es zur Reduzierung ihrer Person auf eine unselbstständige ‚Hausfrau‘, die ausschließlich in den Rahmen der Familie und sozialer Verpflichtungen integriert ist, was einen Neuanfang im Exil ziemlich erschwert hätte; sowie zu einer Idyllisierung der Familie und des familiären Zusammenhalts in Zeiten des Auseinanderfallens. Dabei könnte das Verfassen der Familienchronik den geschwisterlichen Konflikt noch verstärkt haben durch die Rückbesinnung von Hermine auf die familiäre Herkunft und Tradition, während Paul sich in Amerika zu integrieren versuchte, seine Wurzeln aufgeben musste, um neue zu finden. Deshalb können die Familienerinnerungen auch als ein emanzipatorischer Akt gesehen werden, wenn Hermine Wittgenstein damit ihre Entscheidung, in Österreich zu verbleiben, legitimiert und mit einer österreichischen Familiengeschichte, mit Wurzeln in Deutschland, untermauert. Erzählen ist an sich bereits eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Alleine sich zu erinnern und die Macht über das Vergessen zu haben, ist ein emanzipierender, weil befreiender und „glättender“, Akt. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Familienerinnerungen gezielt als eine solche Verwurzelungsstrategie oder Legitimationsschrift verfasst worden sind,
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Vgl. Werner Sollors, Beyond Ethnicity: Consent and Descent in American Culture, New York 1986. Die Idee vom Stammbaum widerspricht eigentlich der Idee von der Gleichheit der Bürger. Eine zunehmende Familienforschung verweist nach Sollors auf partikulare Tendenzen in einer Gemeinschaft.
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scheinen diese unbewussten Motive durchaus zentrale Elemente des Textes zu sein. Hermine zeichnet zwar auf den ersten Blick idyllische Sphären des Rückzugs und verwendet die Familienerinnerungen vor allem als ein Instrument für die „Verinnerlichung des bürgerlichen Wertekanons“ – doch subkutan zeigen sich gerade in den Erzählmodellen soziale und kulturelle Strategien der Positionierung und Selbstbehauptung. Zugleich sind die Familienerinnerungen auch das Resultat eines gesellschaftlichen Umfeldes, denn „es ist die soziale Gruppe, das Kollektiv, das die Erinnerung der ihm zugehörenden Mitglieder formt und verfestigt“.5 Inhaltlich und formal, durch die Sprache und Rhetorik eines spezifischen Genres geformt, spiegeln die Familienerinnerungen der Wittgensteins ihre soziale bürgerliche und ihre kulturelle Verortung im 19. Jahrhundert wider. Damit reflektieren sie die damaligen Vorstellungen von Familie, als man begann, Familienbriefe und -fotos, Souvenirs und Erinnerungen zu sammeln und aufzubewahren. Nicht nur bei den Wittgensteins wurden zahllose Briefe geschrieben, gemeinsam Bücher gelesen und diskutiert, selbst verfasste Theaterstücke aufgeführt, aufwändige Feste organisiert und vieles fotographisch dokumentiert. Das Zeitalter der Familie war zugleich das der Archivierung. Damit werden aber nicht nur Spuren hinterlassen, sondern auch neue geschaffen: Das Schreiben einer Familienchronik ist auch die Konsequenz eines solchen Familienverständnisses. Zugleich sind die Wittgenstein’schen Familienerinnerungen aber auch charakteristisch für die autobiographische Literatur der Nachkriegszeit: Sie reflektieren zwar die Erfahrung von Brüchen durch den Krieg, versuchen jedoch diese Brüche zu harmonisieren: Im Konflikt der Familie mit den Nationalsozialisten wird die Homogenisierungsarbeit am individuellen Gedächtnis faktisch kaschiert und die innerfamiliären Konflikte scheinen damit größtenteils eliminiert. Dem dient gewissermaßen auch die Kritik an der Elterngeneration, wenn durch die dialektische Erzählweise die eigene Generation homogenisiert wird. Diese Harmoniesucht entspricht nicht nur dem Wehmut über vergangenen Glanz, sondern auch der gesellschaftlichen Stimmung in der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem konservativen Tenor der Rechtfertigungsliteratur – es war nicht die Zeit, um ein Zeugnis verschärfter Selbstreflexion abzulegen. Die Familienerinnerungen sind polarisierend, sie zeigen ausufernde Nostalgie gegenüber der Vergangenheit und erzählen eine Opfergeschichte in der unmittelbaren Gegenwart: man hatte viel Geld verloren, die Grenzen der eigenen Macht und die Abhängigkeit von einem politischen Regime gespürt. Mit der Beschreibung der schwierigen 1940er Jahre rückt zugleich jene Zeit in den Mittelpunkt, in der sich die Bedeutung einer verfassten Familienchronik unmittelbar zeigt: Als die Familie nicht nur über die Welt verstreut lebt, sondern auch über die Auswanderungsfrage tief zerstritten war, wird die Familiengeschichte zum zentralen Gegenstand von Aushandlungen und die Autorin zu einer der zentralen Akteurinnen in diesem Feld.
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Kannonier/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 27.
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Trotz der Opferrhetorik, ist es dennoch eine Erfolgsgeschichte des Familiensinns. Insgesamt hinterlassen die Familienerinnerungen einen konservativeren und betulicheren Eindruck der Familie, als es andere Textzeugnisse vermuten lassen. Das hat nicht nur mit dem präsentierten Bild von Familie zu tun, sondern auch mit dem Genre und dessen Rhetorik und mit dem harmoniebedürftigen Schreibumfeld, welches den Inhalt und die Darstellungsweise maßgeblich formte. Die (Familien-)Traditionen des 19. Jahrhunderts dominieren den Text, auch wenn die Fortschrittsgläubigkeit in der Familie äußerst präsent ist: in den Schilderungen des Vaters, der mit seiner Karriere regelrecht den Fortschritt symbolisiert, in seiner Kritik an Österreich für dessen Rückständigkeit in Bereichen der Wirtschaft und der Kunst, in der finanziellen Unterstützung für die Secession oder die Wissenschaft. Der Schreibstil und die Sprache überformen jedoch diese inhaltlich progressiven Verweise, wie auch die traumatischen Hinweise auf die Kriegsereignisse. Erst die Rekontextualisierung zeigt, wie sehr der politische Zeitgeist der 1940er Jahre hereingewirkt und die Erinnerungen diktiert hat. Können die Familienerinnerungen als eine Identitätsstrategie von Hermine Wittgenstein gelesen werden? Betrachtet man die historische Korrelation von auto-/biographischen Zeugnissen und Zeiten von Unsicherheit, haben Familienchroniken und Autobiographien in Zeiten, in denen öffentliche Legitimierungen versagten, häufig als private Identitätsstrategie gedient: in der Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts bedeutete es dem öffentlichen Identifikationstrend zum Nationalstaat einen privaten folgen zu lassen, ähnliches passierte als Folge der Verunsicherungen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ohne die Klischees von aufstrebenden Bürgern und zerfallenden Monarchien verwenden zu wollen, erklärt sich die Hinwendung zum Familien-Genre doch aus einem Gefühl der Verunsicherung. Auch die Familienchronik der Wittgensteins entstand zu einem Zeitpunkt, als die Grenzen familiärer und individueller Macht bewusst wurden, ebenso wie ein Spannungsverhältnis zwischen kollektiven Verhaltensmustern und individuellen Wünschen. In dieser Zeit könnten die Familienerinnerungen ein Versuch der Kompensation für den Kontrollverlust nach 1938 gewesen sein, wie auch eine Strategie der Selbstvergewisserung, der Familie Legitimität und Identität (zurück) zu geben. Indem mit den Familienerinnerungen eine offizielle Form festgehalten wurde, bleiben alle anderen Variationen im Verborgenen. Damit werden die Chronik und ihre Erinnerungsfiguren auch zu einem Machtinstrument. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat auf die Gefahren eines solchen niedergeschriebenen Familiengedächtnisses hingewiesen. Weil jede Verschriftlichung eine Hierarchisierung der Erinnerungen bedeutet, wird das Familiengedächtnis instabil, sobald es zu einer Diskrepanz zwischen mündlicher Tradierung und schriftlichem Zeugnis kommt. Welzer zeigt, dass der Prozess der Tradierung von Vergangenheit immer auf einer aktiven Aneignung der erzählten Geschichte basiert, indem sich die tradierten Erzählungen durch die gedanklichen Verknüpfungen der Zuhörer zu einer „relativ
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autonomen Ergänzungserzählung“ entwickeln. Dabei fußt das Familiengedächtnis auf fiktiver Einheitlichkeit: „Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte“.6 Diese Einheitlichkeit sei bedroht, wenn ein Dokument auftaucht, das dem bisherigen Familienkonsens widerspricht. Denn eine fixierte Erinnerung ist nicht mehr verhandelbar und macht es schwierig, zu einer gemeinsamen Erinnerung zurückzukehren. Damit bekommen die unterschiedlichen Perspektiven ein Konfliktpotenzial, wenn das nun schriftlich fixierte Wissen ein Bewusstsein für die Unterschiede schafft. Hermine Wittgenstein ist somit als Chronistin nicht nur Traditionsbewahrerin und Fortschreiberin von ihr zum Kanon erhobener Texte, sondern ihr Text wird selbst zum Kanon, zum Maßstab einer Charakterisierung von Zeit- und Familiengeschichte. Werden die subjektiven Verzerrungen zu groß, kann der Chronist jedoch, wie Botho Strauss es nennt, durch „ungemäße Beurteilungen zum ‚militanten Anachronisten‘“ werden.7 Als solcher wird Hermine von manchen der Nachkommen wahrgenommen, beispielsweise vom Neffen Thomas Stonborough, der von den Familienerinnerungen als der „Legende“ der Tante spricht. Gemeinhin gilt das Erinnern, Erzählen und Schreiben als ein integrativer Prozess, als ein aktiver Aneignungsprozess, der durch den Schreibprozess ein dialogisches Vergegenwärtigen der Familiengeschichte evoziert, und somit Gelegenheit bietet, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu stiften. Doch die Existenz einer Familiengeschichte kann auch abweichende Vorstellungen konkretisieren und damit ‚militarisieren‘. Leider sind im Nachlass zwar Hinweise auf den Schreibprozess, aber nicht auf die unmittelbare Wahrnehmung der Familienerinnerungen innerhalb der Familie zu finden. Zugänglich sind nur heutige Erinnerungen von Familienmitgliedern an den Umgang mit der Chronik in der Familie. Dazu gibt es im anschliessenden Epilog Auszüge aus einigen Interviews, die folgenden Schluss zulassen: Die heutige Rezeption der Familienchronik in der Familie Wittgenstein legt nahe, dass es teilweise zu einem Auseinanderfallen von Intention und Resultat kam: Was eine Identitätsstrategie für eine Einzelne sein kann, muss es nicht auch für eine Gruppe sein. Neben dem identititätsstiftenden Charakter bergen die Familienerinnerungen auch ein Konfliktpotenzial für die Zukunft in sich, als eine Reibefläche künftiger Generationen an einem heiklen Kapitel Familiengeschichte.
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Harald Welzer, Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch, in: Ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, 160–178, 164. Vgl. auch: Angela Keppler, Soziale Formen individuellen Erinnerns, in: Ebenda, 137–159. Das schreibt Botho Strauß in Die Fehler des Kopisten über die literarische Chronik. Zit. n. Pethes/Ruchatz, Gedächtnis und Erinnerung, 100.
VII. Epilog: Die Familie im Gespräch über die Familienerinnerungen
Die Familienerinnerungen funktionieren innerhalb der Familie Wittgenstein, aber auch innerhalb der Forschungsgemeinschaft, als eine Art ‚kollektiver Text‘: Sie stabilisieren eine spezifische Version der Vergangenheit, sie recyceln existierende Erinnerungen oder werden selbst wieder Gegenstand von Erinnerungen und werden von den nachfolgenden Generationen stets wieder entdeckt und auf eine neue Art gelesen. Welches Verhältnis haben die heutigen Nachkommen der Familie Wittgenstein – die Stonboroughs, Sjögrens, Stockerts und Ripleys – zur Familienchronik? Welchen Stellenwert hat die Chronik für sie und wie wichtig ist ihnen Erinnerung? Was halten sie von ihrer Veröffentlichung1, mehr als 60 Jahre nachdem sie verfasst wurde? Für den Großneffen von Hermine Wittgenstein, Andreas Sjögren (*1937), ist die Familienchronik „a source of pride satisfying a normal curiosity one has of one’s family“.2 Einer Publikation steht er ganz offen gegenüber, denn: „I own a copy of the book but not the text, if you see what I mean.“ Für Stephan Stockert (*1962), Urenkel von Hermines Schwester Helene, sind die Familienerinnerungen hingegen etwas sehr Privates: „Sie sind auch so was wie ein Familienschatz. Da gab es immer wieder Konflikte, inwieweit lassen wir Fremde jene lesen. Ich reich sie auch nicht heraus. Am Ende sagen wir, das gehört uns, das ist unsre Privatsphäre. Aber nachdem sie viele haben, ist es halt so [...] Es wurde schon so viel ediert und herausgegeben; so lange man uns nicht zu nahe tritt, nehme ich es hin. Denn; wie viele Rechte hat unsre Generation wirklich?“3 Pierre Stonborough (*1932), Enkel von Hermines Schwester Margarete, findet die Chronik interessant und hat gegen eine Veröffentlichung nichts einzuwenden: Nun, nachdem alle Betei-
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Editionsprojekt von Ilse Somavilla am Brenner-Archiv der Universität Innsbruck, das im Frühjahr 2012 veröffentlicht wird (Haymon Verlag). Andreas Sjögren in einer Email an die Autorin, November 2004. Gespräch mit Stephan Stockert am 7.10.2009 in Wien.
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ligten verstorben sind, ist „nichts mehr privat, alles gehört der Geschichte“.4 Er verbindet mit einer Veröffentlichung sogar die Hoffnung, die disparaten Familienzweige mit einem Verweis auf die vorangegangene Generation einander anzunähern. Denn dies sei auch mittels der Biographie über die gemeinsame Großmutter Margarete Stonborough bzw. Tante Gretl gelungen.5 Durch das Buch scheint eine neue gegenseitige Wahrnehmung stattgefunden zu haben. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird die Veröffentlichung der Familienchronik als dem Familien-Geist zuträglich erachtet. Doch beherbergt eine schriftlich fixierte Familiengeschichte nicht nur einen gemeinsamen Bezugspunkt, sondern auch genügend Stoff für Konflikte. Deutlich wird das, wenn sich zwei Vertreter der Nachkommengeneration von der Familienchronik bewusst distanzieren, sozusagen als einem emanzipatorischen Akt. Cecilia Sjögren (1950–2007), Großnichte von Hermine Wittgenstein und Enkeltochter ihrer Schwester Helene, hält die Familienerinnerungen an sich, als Familienbiographie, nicht für veröffentlichungswert, es sei denn im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit: „Es wäre zu viel an Publizität für Erinnerungen, die nur deshalb für Außenstehende interessant sind, weil Hermine die Schwester von Ludwig Wittgenstein war, oder die Tochter von Karl Wittgenstein.“6 Zudem sei der Ton, in welchem die Familienchronik verfasst ist, für sie als Angehörige dieser Familie „kaum auszuhalten“. Sie ärgern die Selbstbezichtigungen ihrer Großtante und ihre unreflexive Selbstdarstellung. In der Verherrlichung der anderen beiden Schwestern, wie auch des Bruders, komme ihr eigenes mangelndes Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Damit kann und will sich Cecilia Sjögren nicht identifizieren. Ganz anders schildert sie die Haltung ihrer Mutter Clara Sjögren (1913– 1978), die Tochter von Helene Wittgenstein. In deren Generation hatte die Familienchronik eine große Rolle gespielt, dementsprechend hat es auch ihre eigene Kindheit beeinflusst: „Die Familienerinnerungen wurden uns als Kinder abends vorgelesen. Sie waren bei uns sehr präsent, nicht als Tatsachenbericht oder Legende, sondern es war der Mutter ein Anliegen ihre Welt, in der sie aufgewachsen war, uns nahe zu bringen. Sie war sehr stolz auf dieses Umfeld und hatte keineswegs den pseudobescheidenen Umgang damit wie die Erinnerungen selbst.“ Die Tochter erinnert sich so vor allem an eine „bewundernde Haltung“ insbesondere dort, wo es um „Selbstdisziplin, Bescheidenheit oder Namen wie Joachim [der berühmte Geiger Joseph Joachim] ging“. Diese große Wertschätzung zeigt sich auch darin, dass die Mutter den Text reich bebildert und für jedes Kind kopiert und gebunden hat. Hatte man sich in der Kindheit noch durchaus damit identifizieren können, hat die Tochter dazu heute ein gespaltenes Verhältnis: „Ich habe, als ich größer war, die Familienerinnerungen selbst noch einmal gelesen: bei
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Gespräche mit Pierre Stonborough von Mai 2000 bis Februar 2005 in Wien. Vgl. Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein. Gespräch mit Cecilia Sjögren am 3.5.2000 und am 26.6.2003 in Wien.
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DIE
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mir mischte sich ein Gefühl der Wichtigkeit mit enormer Kritik bezüglich der unkritischen Haltung von Mining ihrem Vater gegenüber und bezüglich des andauernden Tones der Bescheidenheit, die ich nicht ganz akzeptieren oder glauben kann.“ Auch ihr Bruder Andreas empfindet die Schattenseiten von Karl Wittgensteins Erfolgen sowie die Selbstmorde dreier seiner Söhne zu wenig beleuchtet. Von amerikanischer Familienseite hingegen wird das Familienoberhaupt als erfolgreicher und sozialer Unternehmer beschrieben, mit einer bewundernswerten Kombination aus Geschäftssinn, technischem Know-how, protestantischer Arbeitsethik und verantwortungsbewusstem Handeln der Gesellschaft gegenüber: „In America, Karl Wittgenstein would surely have been the stuff of legends“, schreibt Joan Ripley, und kritisiert damit seine häufige Darstellung als „almost a cartoon figure of a capitalist“.7 Das Bild von Karl Wittgenstein in der Familie ist ein ambivalentes; auch die Auffassung vom Wert einer Familienchronik. Cecilia Sjögren: „Jetzt ist es nichts mehr, auf das man stolz ist, eher im Gegenteil, man schämt sich eher für diesen Ton der Erinnerungen.“ Sie ist nicht die einzige, die sich von der Familienchronik distanziert. Auch die verstorbenen Söhne von Margarete Stonborough, Thomas (1906– 1986) und John Stonborough (1912–2002), haben sie ein Legende („family fairy tale“) genannt, so sei die Darstellung der Kriegsereignisse doch „full of errors“, auch sei alles geschönt, statt zu zeigen, dass sich die Familienmitglieder untereinander nicht verstanden haben.8 So gab es permanente Verständigungsschwierigkeiten zwischen den Geschwistern, auch wenn sie sich immer Briefe geschrieben haben. Cecilia Sjögren interpretiert diese Zuschreibung „Legende“ als Ausdruck dafür, sich von der Familie distanzieren und auch lösen zu wollen, und resümiert: „Vielleicht ist das bei mir auch so“. Die Ablehnung der Familienchronik scheint somit ein Zeichen von Emanzipation zu sein – doch sie signalisiert zugleich eine emotionale Involviertheit, die wiederum geradezu charakteristisch ist für Familienmitglieder, die „im Schatten der Familie“ oder mit „schlechtem Gewissen“ vom Familienerbe leb(t)en, meint Pierre Stonborough. Insbesondere für seinen Vater Thomas, welcher dafür bekannt war, große Teile des Familienerbes veräußert zu haben, musste die Familienchronik alleine durch ihre Existenz das schlechte Gewissen einer Erbengeneration verkörpern, die vom unermesslichen Vermögen Karl Wittgensteins gelebt hat. So hatte er beispielsweise das Klimt-Porträt von seiner Mutter Margarete Stonborough nach ihrem Tod an die Münchner Pinakothek verkauft. Die Legende, dass das Porträt in der Familie nicht geschätzt war und stets mit dem Gesicht zur Wand stehen musste, hatte er möglicherweise selbst im Nachhinein in Umlauf ge-
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Ripley, Emty Sleeve, 18, und Gespräch mit der Autorin am 18. und 26.2.2009. Fax von John Stonborough an Pierre Stonborough, am 29. Nov. 1998 (P. St). Vgl. auch Gespräch der Autorin mit Allan Janik im Juli 2003 in Innsbruck.
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bracht, denn eine tradierte familiäre Ablehnung des Bildes legitimierte zumindest seinen Verkauf.9 Damit ist eine für die Familie charakteristische Art des „Schuldgefühls“ angesprochen, das sich nach Cecilia Sjögren auch in der Familienchronik beispielhaft zeige. So sei von den Männern der Familie wenig bekannt, sie hatten sich stets in die Familie integriert und bleiben so auch in den Familienerinnerungen unauffällig. Das permanent geschilderte Sozialhelfertum der Familie scheint eine Art ‚Abarbeitung‘ dieses schlechten Gewissens: „Man sprach nicht über Geld, gab Feste, aber trotzdem führte man ein sehr strenges Leben.“ Dieses Schuldgefühl war in der Familie über die Generationen hinweg präsent, denn Kinder- und Enkelgeneration waren fast ausschließlich eine Erbengeneration. Das verdeutlicht auch ein Brief des Adoptivsohns Jochen an die Mutter Margarete Stonborough: „The fates may wipe us out but we will still be the winners and if they spare us we will surely reach a new peak much higher than those of the old days, wonderful though they were, because we all will have earned a bit of what we have.“ (15.2.1943, P.ST.) Somit war das Erbe auch eine Hypothek, nicht nur für Ludwig Wittgenstein. Trotz der zahllosen Briefe und der Tagebücher, die sich im Familienarchiv befinden, ist nicht bekannt, wie die Familienerinnerungen zu Lebzeiten der Autorin von den verschiedenen Familienmitgliedern wahrgenommen wurden. Waren sie so selbstverständlich oder so ungeliebt, dass sie weder in Briefen noch in Tagebüchern erwähnt wurden? Cecilia Sjögren, sieht das Fehlen jeglicher Korrespondenz über die Familienerinnerungen, die ein Nachdenken über den Schreibprozess als solchen reflektieren würde, als symptomatisch für ihre Familie, in der Reflexivität „keine Stärke war“ – was sich auch am Schreibstil der Chronik zeige. Das Fehlen jeglicher Dokumentation über das Schreiben oder die Wahrnehmung der Familienerinnerungen wundert auch Pierre Stonborough nicht, doch aus anderen Gründen: In den Nachkriegsjahren habe man andere, vor allem materielle, Sorgen gehabt. Dennoch erstaunt dieses Versäumnis, schließlich fand jede Art von Lektüre, der Besuch von Musikveranstaltungen, die selbst geschriebenen Theaterstücke und jedes Missverständnis im Familienalltag Widerhall in den zahllosen Briefen. Denn die Familie hatte die Gewohnheit, alles zu intellektualisieren, was Pierre Stonborough als die extreme Ausprägung eines „Familienleidens“ bezeichnete. Doch von den Familienerinnerungen sind keine Spuren zu finden (mit Ausnahme in der Oser’schen Chronik). Selbst wenn sie nur als Zeitvertreib von Hermine Wittgenstein wahrgenommen wurden, erstaunt dieses absolute Fehlen jeglicher Verweise auf ihren Entstehungsprozess und über ihre Rezeption in der Familie – kann die Familienchronik doch in gewissem Sinne ja als Nachlass der Ältesten der Karl Wittgenstein-
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So spekuliert Ursula Prokop in einem Gespräch mit der Autorin. Vgl. zur Geschichte des Bildes auch Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 44.
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Töchter betrachtet werden; ebenso wie ihre Bilder. Ist dieses vermeintliche Desinteresse alleine den ungünstigen Zeitbedingungen zuzuschreiben, als Krieg und Zensur Briefwechsel und damit eine Kommunikation kaum gestatteten, und später die Nachkriegszeit andere Sorgen voranstellte? Oder bildet dieser Text nach 1945 keine Identifikationsbasis mehr für eine Familie, die sich durch den Krieg und die gesellschaftlichen Umwälzungen wesentlich verändert hatte? Gab es Konflikte, die ein Schweigen angebrachter erscheinen ließen, oder war diese Tätigkeit in diesen Kreisen einfach zu selbstverständlich oder zu nebensächlich um kommentiert zu werden? „Hätte es Konflikte bezüglich der Familienerinnerungen gegeben, hätte ich das gehört“, berichtet Cecilia Sjögren. Die Schwestern Hermine, Helene und Margarete (†1950, 1956, 1958) sind vor allem als Einheit wahrgenommen worden: Hermine als die „spezielle und musische“, Gretl die „tolle, schöne, anspruchsvolle“ und Helene als die „stabile und familiäre, die gute Tante“. Die Schwestern verbreiteten eine gewisse Aura des Respekts und des Anspruchs und hatten auf die nachfolgende Generation, wie ihre Mutter Clara Sjögren, großen Einfluss gehabt. Auch Stephan Stockert berichtet davon: „Die Mining, die war wer! Sie war eine Autorität in den Erzählungen der sieben Stockert-Geschwister, weil sie die Hochreit besessen hat und weil sie die Familienerinnerungen geschrieben hat.“ Wie wird nun aus familieninterner Sicht die Darstellung des Jahres 1938 in der Chronik bewertet? Cecilia Sjögren überrascht nicht, dass der Anschluss und die Folgen als ein plötzlicher Einbruch in das Familienleben geschildert werden. Denn „sie waren alle sehr unpolitisch, deshalb ist die Fehleinschätzung der Lage sicher so gewesen.“ Selbst viel politischere Menschen hatten sich damals geirrt. Auch Pierre Stonborough betont die „Weltfremdheit“ einer großbürgerlichen Schicht aufgrund ihrer Sozialisation und der Abgeschlossenheit ihrer Kreise. Diese eigene Abgeschiedenheit und Fehleinschätzung der Lage hätte man erst erkannt, als das mögliche Schicksal von Deportation nach 1945 mit Horror realisiert wurde. Deshalb werde dies in den Familienerinnerungen möglicherweise auch so stark akzentuiert. Trotz ihres sozialen und erzieherischen Engagements seien Hermine und Ludwig Wittgenstein jedoch weltfremd gewesen, betont Pierre Stonborough. Mit sozial vernachlässigten Kindern zu arbeiten, bedeute nämlich noch lange nicht, ins Zeitgeschehen involviert zu sein, wie auch der Bruder als Volksschullehrer trotz seines Engagements den Leuten dort fremd blieb – so wie sie ihm fremd blieben. Eine Abgeschiedenheit, die auch Teilen der Nachfolge-Generation, die nämlich „nicht zum Arbeiten erzogen worden ist“, nicht fremd ist und deshalb als Erklärungsmuster nahe liegend scheint. Und es war gerade dieser außergewöhnliche Reichtum, welcher es der Familie im Jahr 1938 ermöglichte, die ‚Mischlings‘-Lösung zu erhandeln. An diesen Geschehnissen fasziniert Cecilia Sjögren, „daß sie den Deutschen vertraut haben, diese hätten das Geld ja einfach ohne Gegengabe einstecken können. Es war ein ‚Deal‘ mit Verbrechern, deshalb muss es so etwas wie
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ein Schuldgefühl gegeben haben.“ Von „Gewissensbissen“ spricht auch Pierre Stonborough als mögliches Motiv für die Familienerinnerungen, denn: Seiner Meinung nach war die Entscheidung Pauls nach Amerika zu gehen, die einzig vernünftige. Die Fixierung von Hermine auf Österreich sei nicht nachvollziehbar gewesen, hatte sie doch weder eine offizielle Position, die ihren Patriotismus gerechtfertigt hätte, noch blieb ihr soziales Umfeld erhalten. Viele der Freunde und Bekannten sind ins Ausland gegangen, nur Hermine selbst hatte an die Kraft ihres Namens geglaubt. Aus der Sicht Pierre Stonboroughs, einer anglophilen Perspektive, ist es schwer verständlich, warum die Schwestern Hermine und Helene, beide waren damals etwa um die 60 Jahre alt, nicht das Ausland wählten. Stephan Stockert, dessen Urgroßmutter Helene sich damals entschieden hatte, nicht auszuwandern, sieht es anders: „Wir sind letztendlich ein bisschen froh, dass die Familie nicht komplett weggegangen ist. Wir glauben, dass manches das wir heute noch besitzen dürfen, geblieben ist, weil damals dieser schreckliche oder kuriose Kompromiss mit der Wistag, mit diesem Geld in der Schweiz, gelaufen ist. Wenn die Schwestern auch weggegangen wären, weißt man nicht ob etwas geblieben wäre – you don’t know. [...] Die Hochreit und Kalksburg, die existieren heute noch, geschenkt, gegeben – weitertragen, weitergeben.“ Wie sieht Joan Ripley (*1937), die Tochter des emigrierten Pianisten Paul Wittgenstein diese Frage des Exils? Liest man ihre biographischen Notizen über den Vater, scheint Österreich doch etwas wie eine ‚verlorene Heimat‘ zu sein, und auch der Vater wird mit seiner Art der absoluten Selbstbeherrschung dargestellt als „an old-line European, son of an even older-line European“.10 In den Nachkriegsjahrzehnten war sie mehrmals in Österreich, nicht in Wien, sondern bei Freunden des Vaters in Zell am See. Erst über 17 Jahre nach dem Tod ihres Vaters, 1978, war sie das erste und einzige Mal auf dem familiären Sommersitz Hochreit: „My kids were suddenly surrounded by endless cousins, two months ago they would have said, we don’t have family. [...] Because Paul was written out of everybody’s life.“11 Diese Erfahrung war auch mit ein Anlass für sie, Mitte der 1980er Jahre das Leben ihres Vaters zu recherchieren und seine Familiengeschichte aufzuschreiben. Damals hatte sie auch die Familienerinnerungen erstmals gelesen, nachdem sie ihr Bruder übersetzen hatte lassen: „Hermine took me in the house, in the room“, sagt sie: Alle Anekdoten, die Hermine erzählt, sind „very telling and splendid“. Auch wenn über die Geschwister wenig zu erfahren sei: „It is a incomplete story if you want to know all. Hermine is speaking from inside not from outside, from her point of view, therefore it is very sketchy.“ Ihre eigene Familiengeschichte aufzuschreiben hatte für sie mehrere Funktionen: „Educating me, teaching me.“ Aber sie war auch unzufrieden mit den pauschalen Sätzen, mit denen in Gesprächen die Kriegsvergangenheit in der Familie gerne abgetan wurde: „Oh it was the
10 Vgl. Joan Ripley, Empty Sleeve, 147. 11 Gespräch mit Joan Ripley am 18. und 26.2.2009, sowie diverse E-Mails.
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war, we did stupid things, etc.“. Sie wollte es genauer wissen: „Peoples pain became real to me. What they think or feel. I wanted to understand why they acted in this or that way. You need to know what everybody did, because the past is still here. But you have also to move on, it’s for your children sake.“ Sie hatte ihre eigene Lebensgeschichte lange nicht als eine Geschichte der Opfer des Zweiten Weltkrieges wahrgenommen: „‚Victim‘ comes as a foreign concept. A child doesn't make comparisons, has nothing to compare his or her life to, [...] doesn't play the what if or if only game, but deals with everything that happens as a matter of course. [...] And I think about how very very very very lucky we were that my father escaped what so many other, less farsighted people had to endure. Yes, we lost money and property, we lost an extended family and in a sense, we lost a country. But we lived and there was food on the table. We were a different class of victims. We were not among the dead.“ Ihre Beschäftigung mit der Vergangenheit nahm auch ganz konkrete Züge an. In den letzten Jahren war Joan Ripley als Antragstellerin in die jüngsten Restitutions- und Entschädigungsverfahren der Republik Österreich involviert. Seit Mitte der 1990er Jahre hatte Österreich für ehemalige Opfer des Nationalsozialismus und ihre Nachkommen verschiedene Möglichkeiten eingeräumt, um finanzielle Entschädigung bzw. die Rückstellung von entzogenem Eigentum anzusuchen.12 So konnte seit dem Washingtoner Abkommen aus dem Jahr 2001 die Rückgabe von Liegenschaften im öffentlichen Eigentum, die nach 1945 nicht rückgestellt worden waren, von den Geschädigten oder ihren Nachkommen beantragt werden. Joan Ripley hat inzwischen den Liegenschaftsanteil am Familienbesitz in Neuwaldegg, den ihr Vater 1938 besessen hatte, zurückbekommen: Weil dieses Grundstück im Jahr 2001, zum Stichtag des Washingtoner Abkommens, im öffentlichen Eigentum13 war und es nach 1945 nie eine Entschädigung an ihren Vater gegeben hatte. Paul Wittgenstein hatte nämlich, nach den Verhandlungen mit der deutschen Reichsbank, alle Liegenschaften an seine Schwestern Hermine und Helene übertragen, und hatte dafür im Gegenzug seinen Anteil am Devisen- bzw. Auslandsvermögen der Familie ausführen dürfen. Diese
12 Seit 1995 wurden von Bundesregierung und Parlament drei verschiedene Fonds für Opfer des Nationalsozialismus gegründet und sowohl pauschale wie individuelle Auszahlungen vorgenommen, sowie entzogene Liegenschaften, Kunstwerke, Bücher u.a. in natura zurückgegeben: Der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (1995), der Pauschalzahlungen an direkt Betroffene vornahm, der Versöhnungsfonds (2000) für ehemalige Zwangsarbeiter und der Allgemeine Entschädigungsfonds (2001), der materielle Verluste individuell errechnete und entschädigte; auch an die Nachkommen. Vgl. für einen historischen Überblick mit spezif. Blick auf das Familiengedächtnis: Immler, Restitution and the Dynamics of Memory, 2009. 13 Dagegen wurde in Fällen, wo Privateigentum vorlag, finanzielle Entschädigung geleistet. Da der Entschädigungsfonds über 210 Millionen US-Dollar verfügte, war dieser Betrag anteilsmäßig auf alle AntragstellerInnen aufzuteilen, und es konnten dann nur etwa 10–15 % der tatsächlichen Verluste entschädigt werden.
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Übertragung wird aus heutiger Sicht als Entzug bewertet, schließlich wäre es ohne die Verfolgung durch die Nationalsozialisten nicht dazu gekommen.14 Wegen des Ausfuhrverbots nach dem Denkmalschutzgesetz musste Paul Wittgenstein damals auch viele Stücke seiner Sammlungen in Österreich zurücklassen. Einzelne Musikmanuskripte und Autographen wurden von der Reichsbank ‚sichergestellt‘, wie unter anderem auch seine Bibliothek und eine Altwiener Porzellansammlung. Jene konnten erst nach dem Krieg ausgeführt werden. Manche Sammlungsobjekte sind aber auch ‚verloren‘ gegangen. Der Tochter wurde nun jüngst ein anteiliger Entschädigungsbeitrag dafür gewährt, sowie einzelne der beantragten Kunstwerke zugesprochen. Auch wenn die Summen nicht bedeutsam seien, sei es doch „definitely worth doing“, sagt sie, denn es stehe zwar materiell in keinem Verhältnis zu dem verlorenen Vermögen, dennoch bekomme sie auf diesem Weg doch etwas aus der familiären Vergangenheit zurück. In der Einstellung gegenüber dem Thema der Restitution und Entschädigung zeigen sich heute auch die unterschiedlichen Haltungen der verschiedenen Familienzweige gegenüber ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Franz Stockert (*1926), über 35 Jahre lang Forstmeister in der ‚Forstverwaltung Wittgenstein Hohenberg‘, ist gegen ein Ansuchen um Restitution, denn für ihn ist der Handel mit den Nationalsozialisten eine abgeschlossene Sache, denn „abgemacht sei abgemacht“, darüber sei nicht mehr zu diskutieren.15 Er vertritt eine eher inner-österreichische Perspektive, zu der auch gehört, die Vergangenheit ruhen zu lassen und begegnet daher dem Interesse an den alten Familiengeschichten eher befremdet. Eine Haltung, die in der Familie bekannt war: „[...] the grandchildren of Helene Salzer would not dream joining any attempt to get money from the x-enemy“ heißt es in einem Brief zwischen John und Pierre Stonborough, in welchem die Möglichkeiten einer Entschädigungsforderung (‚claim‘) diskutiert werden.16 Die Stonboroughs, welche im Krieg auf amerikanischer und kanadischer Seite gekämpft haben, haben wie die seit dem Exil zum Teil in Schweden beheimateten Sjögrens weniger Berührungsängste mit dem familiären Erbe und involvieren sich mehr in diese Fragen nach der Vergangenheit. Für sie hatte die Veröffentlichung von ehemals jüdischen Schweizer Bankkonten Mitte der 1990er Jahre diese Verlust-Vergangenheit zurück ins Familiengedächtnis gebracht und es stellte sich die Frage, inwieweit es sich lohne, auf das Thema und das Prozedere einzulassen. Denn was konnte das einzelne Familienmitglied schon 14 Vgl. die anonymisierte Entscheidung 206/2006 der Schiedsinstanz für Naturalrestitution am Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus in Wien: www.de.nationalfonds.org/docs/Schiedsinstanz/entscheidung_ 206_2006.pdf bzw. http://de.nationalfonds.org/sites/dynamic.pl?id=news20060918 144622005&temp (Pressemitteilung) (1.1.2011). Dass es sich dabei um Mitglieder der Wittgenstein-Familie handelt, darauf hat Georg Graf hingewiesen. Vgl. Ders., Arme Amalie! – Kritische Anmerkungen zum Schiedsspruch in Sachen Amalie Zuckerkandl, in: Österreichische Notariatszeitung 3/2007, 65–79, 73. 15 Gespräch mit Franz Stockert im Mai 2000 in Wien. 16 Fax von John Stonborough an Pierre Stonborough, am 29. Nov. 1998 (P. St.).
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gewinnen angesichts der zahllosen und verstreut lebenden Nachkommen, und wer würde die hohen Kosten für die Verfahren zahlen, „the enormous expenses of suing and the years of arguing ! would cost horrendous sums“.17 Zudem war man sich unsicher, an wen man sich wenden konnte, denn „who is our enemy or enemies in Germany or Austria and whom we must convince of the justice of the claim“.18 Auch andere Mitglieder der Familie Stockert schlossen sich nun den Recherchen an: „Wir haben versucht diese Wistag-Geschichte aufzurollen, weil wir glauben, dass wir da in irgendeiner Form berechtig sind“, gibt Stephan Stockert Auskunft. „Es ist vor allem das Interesse, wie war es wirklich, das interessiert uns mehr als einen Anspruch anzumelden. Die Neugier, die hätte ich gerne befriedigt.“ Man entschloss sich mit diversen Institutionen Kontakt aufzunehmen, auch dazu einen amerikanischen Anwalt einzuschalten, da der Deal mit der Wistag zwischen der Schweiz und Berlin ausgehandelt worden war und weil der amerikanischen Seite „mehr Kraft“ zugebilligt wurde. Doch sei bisher eigentlich nichts passiert, die Sache „schlafe“. Das ist ein charakteristischer Befund in Sachen Entschädigung: wo nicht regelmäßig nachgefragt und Hartnäckigkeit gezeigt wird, dort werden die Anliegen oft lange verschleppt und damit immer wieder „vergessen“. Deshalb sind Gespräche zum Thema Entschädigung und Restitution oft sehr vage; das hat mit der Komplexität der Materie zu tun, mit sich über Jahre hinziehende Briefwechseln mit diversen Institutionen oder Anwälten, die oft ohne Resultate bleiben; eine Odyssee der Unzuständigkeiten. Aber diese Vagheit ist auch im Allgemeinen charakteristisch für das Thema, denn schließlich fragt man, inwieweit das Materielle von Bedeutung ist. Viel einfacher lässt sich über die Vergangenheit und ihre Symbolkraft reden – wie beispielsweise in Form einer Familienchronik. Die Herkunft selbst ist zwar gerade für die jüngere Generation kein Thema mehr, doch Cecilia Sjögren sieht Textspuren im Sinne von „Übernahme von Familienwerten oder -dogmen bei allen meiner Generation noch vorhanden und mehr oder weniger verarbeitet bzw. bewusst gemacht“. Andererseits ist das Familienerbe auch sehr konkret: „Die Vergangenheit ist deswegen präsent, weil wir zum Teil noch ein gemeinsames Erbe haben“, erklärt Stephan Stockert: „Es gibt noch die Hochreit. Daher sehen wir uns regelmäßig, und daher mögen wir uns auch. Die Wittgenstein-Geschichte ist präsent, aber wir sind auch verhalten, denn wir wollen uns nicht nur über die Familie Wittgenstein definieren oder identifizieren, das war einmal [...] Aber es macht mir Spaß, dass meine Familie damals so kurios, verrückt oder bedeutend war.“ Warum werden die Familienerinnerungen heute von den Nachkommen der Familie Wittgenstein so ambivalent wahrgenommen – des einen Stolz, des
17 Ebenda. 18 Fax von John Stonborough an Stephan Stockert und andere Familienmitglieder, 18. Dez. 1999 (P.St.).
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anderen Pein? Sind die Erinnerungen der Familie zu gewöhnlich (angesichts der zahllosen Bescheidenheitstopoi), zu harmonisch (angesichts der konfliktreichen Familiengeschichte), oder ist der Umgang mit dem Erbe in der Familie generell ein problematischer, weil die Kinder- und Enkelgeneration fast ausschließlich eine Erbengeneration war – eine Art vererbtes schlechtes Gewissen, wie es bereits Ludwig Wittgensteins Erbverzicht gezeigt hatte? Oder besteht der Konflikt lediglich darin, dass eine Familienchronik einer gewissen Flexibilität von Erinnerung entgegensteht, da sie sich dem Überschreiben verwehrt und dadurch droht, in Klischee- und Stereotypenbildung abzugleiten, statt eine Rekonstruktion der Vergangenheit unter der jeweiligen Perspektive der Gegenwart zu ermöglichen? Nennen die Gebrüder Stonborough die Familienerinnerungen die „Legende der Mining“, so wird aus dieser Perspektive die Chronik als individuelle Legendenschreibung disqualifiziert, ohne zu sehen, dass der Text den Entstehungskontext der Kriegs- und Nachkriegszeit reflektiert und in ein literarisches Genre eingeschrieben ist. Die Familienerinnerungen, gestaltet im bildungsbürgerlichen Stil gemäß ihrer sozialen Herkunft, sind auch das Resultat gesellschaftlicher Umbrüche und entsprechen in ihrem harmoniesüchtigen Stil durchaus der autobiographischen Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo die auto-/biographische Darstellungsform oft gewählt wurde, um die Störerfahrungen von Krieg und von dem Zerfall von Familien zu bewältigen. Das Misstrauen gegenüber den Familienerinnerungen richtet sich aber nicht nur gegen die Autorin, sondern scheint auch strukturell begründet: In der heutigen Gesellschaft wird Individualität „nicht mehr durch soziale Inklusion, sondern durch Exklusion bestimmt“.19 Allein aus dieser Perspektive heraus muss die Familienchronik, in der sich die Autorin über ihre soziale Position und nicht über die eigene Individualität definiert, befremdlich wirken. Andererseits ist es gerade die äußerst persönliche Perspektive, durch die vorgenommene Auswahl und die Form der Darstellung, die irritiert. Insbesondere aus heutiger Sicht und mit dem Wissen von heute ist es häufig unverständlich, warum das Auswandern für viele Familien 1938 keine Option darstellte. Auch mag eine Familiengenealogie jenen Familienmitgliedern unangenehm oder unangebracht erscheinen, die zwar mit diesem großbürgerlichen Habitus noch vertraut waren, aber doch in zunehmendem Maß in bescheideneren Verhältnissen leben mussten; auch wenn sie nicht wie viele andere im Krieg alles verloren hatten. Als Margarete Stonborough im Jahr 1958 starb, konnten sich ihre Söhne kaum die Erbschaftssteuer leisten, so verschuldet waren ihre Liegenschaften in Gmunden und Wien.20 Der Krieg, mit den gesellschaftlichen Umwälzungen hatte die Familie verändert, aber es war vor allem das Erbe Karl Wittgensteins, das sukzessive aufgebraucht worden war und es nun für manchen notwendig machte, in der zweiten Le-
19 Friedrich, Deformierte Lebensbilder, 61. 20 Prokop, Margarete Wittgenstein-Stonborough, 269.
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benshälfte arbeiten zu gehen. Was bleibt, sind Erinnerungen. Aber Erinnerung, schreibt Aleida Assmann, gelingt nur in einem ‚milieu de mémoire‘, geht dieses verloren, „verliert die Erinnerung ihren konstruktiven Widerpart und wird zu einem Phantom“.21 In der unmittelbaren Nachkriegszeit hat sich gerade dieser „soziale Rahmen“, der bestimmt, was und wie erinnert wird, verändert: Die Familie war mit der Wiedererlangung und dem Herrichten von Hab und Gut beschäftigt und sah sich vor allem damit konfrontiert, dass ein Großteil des Familien- und Freundeskreises ausgewandert war und sich das intellektuelle Leben in Wien nach 1945 radikal verändert hat. Persönliche Reflexionen über die Ereignisse begannen oft erst viel später. In dieser Hinsicht war das Schreiben einer Familienchronik, was bedeutet den Blick zurückzuwerfen, zur damaligen Zeit ungewöhnlich. Denn gerade in den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde autobiographischen Schilderungen der jüngsten Vergangenheit misstraut, war doch gerade die Familienforschung infolge des Nationalsozialismus erheblich diskreditiert. Aber auch dem Interesse an biographischen Details zu Ludwig Wittgensteins begegnete man in den fünfziger Jahren in der Familie noch mit großer Ablehnung. Erst in den 1970er Jahren, als er sich bereits langsam als öffentliche Person durchgesetzt hatte, wurde seitens der Familie dem Interesse an seiner Biographie zunehmend mit mehr Verständnis begegnet. Dafür mitverantwortlich ist auch der Generationenwechsel. Ist die erste Generation oder Kindergeneration oft kritisch gegenüber Familiennachforschungen eingestellt, zeigt die Enkelgeneration zumeist viel mehr wohlwollendes Interesse gegenüber ihrer Familiengeschichte. Hatte Margarete Stonborough keinerlei Interesse, daran Details über ihren Bruder bekanntzugeben, schätzten ihre Kinder den späteren Wittgenstein-Biographen Brian McGuinness als einen Familienfreund. Hatte die Kindergeneration vor allem das Erbe Karl Wittgensteins verbraucht, zeigt sich die Enkel-Generation oft sehr bemüht um eine Ordnung des Familiennachlasses und darum, einen Zugang zu diesem zu gewähren. In dieser Frage nach dem jeweiligen Umgang mit der Familiengeschichte ist die Problematik des Generationengedächtnisses direkt angesprochen. Für die Weitergabe von Familienerinnerungen und Erfahrungen an die nächste Generation ist das Verhältnis zwischen den Generationen zentral. Wenn Hermine Wittgenstein schreibt, „[…] und erst jetzt, insbesondere seit dieser schriftlichen Niederlegung des ganzen Sachverhaltes ahne ich, was damals knapp an uns vorbeigegangen ist und heiße Dankbarkeit überströmt mich!“ (FamEr, 180), zeigen sich die Familienerinnerungen als Instrument der Bewusstseinsbildung und der Bewältigung. Es sind solche traumatisierenden Erfahrungen, die oft noch die nächsten Generationen prägen. Dies nannte Freud das Phänomen der Nachträglichkeit. Deshalb betonen neue Ansätze in der Sozialpsychologie, wie wichtig es ist, dass alle Familienmitglieder mitbeteiligt sind beim Aushandeln einer geteilten Version der Ver-
21 Assmann, Erinnerungsräume, 164.
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gangenheit. Denn die Herausbildung einer eigenen Identität gelinge nur als Teil eines sozialen Gefüges. Gerade in so großen Familien wie bei den Wittgensteins finden sich jedoch stets Töchter oder Söhne, die ihr jeweiliges Gedächtnis gegeneinander verteidigen. Hier wird deutlich, dass Erinnerung eine Gruppe nicht nur stabilisiert, sondern durchaus auch destabilisierend wirken kann. Durch eine Familienchronik kommt es zu einer Kanonisierung der Familiengeschichte, was einerseits die Gefahr birgt, dass durch Unstimmigkeiten die (imaginierte) Gruppe zerfällt; andererseits ist die Existenz einer geteilten Familiengeschichte wie auch das Ritual des Erinnerns wichtig, um Kontinuitäten zu pflegen. Dabei, so sagen kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Familiengedächtnis,22 seien ritualisierte Akte der Vergegenwärtigung von Familiengeschichte wie bei Familienfeiern oft wichtiger für den Erhalt einer Gruppe als die erinnerten Inhalte selbst; das zeigen auch die Erfahrungen in der Familie Wittgenstein mit dem gemeinsamen Sommersitz Hochreit. Die Gespräche über die Familienchronik zeigen, die Chronik befördert eine Nicht-Identifikation dort, wo es Unstimmigkeiten gibt; und sie stiftet dort Kontinuität, wo die Vergangenheit als identitätsstiftendes Moment bewusst erfahren wird. Auf jeden Fall bieten die Familienerinnerungen noch immer Anlass für Deutungskonflikte. Richtet man den Blick auf diese persönlichen und generationsspezifischen Erfahrungen im Umgang mit Erinnerung, kann das helfen, die Kluft zwischen den Generationsgedächtnissen in der Familie Wittgenstein besser zu verstehen, indem ein Bewusstsein für einzelne Motive und beeinflussende Umfelder geweckt wird: Damit zeigt sich das Familiengedächtnis als eine reiche Erkenntnisquelle, doch auch als ein unabschließbarer Prozess, der stets offen für neue Codierungen der Geschichte(n) ist.
22 Welzer, Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch, 164f.; Keppler, Soziale Formen individuellen Erinnerns, 156.
Re-Reading: Hermine und Ludwig Wittgenstein
Zurück an den Anfang; zu Thomas Bernhard, der mit seinen Theaterstücken Ludwig Wittgenstein und die Familie einem breiteren Publikum bekannt gemacht hat. Die Rollen der Schwestern werden deutlich festgeschrieben: Hermine Wittgenstein und ihre jüngere Schwester Margarete sitzen gemeinsam im Esszimmer und warten auf den Bruder Ludwig. Margarete spricht zu Hermine: Seit zwanzig Jahren schreibst du seine Manuskripte ab ich bin überzeugt dass sie eines Tages gedruckt werden in einem bedeutenden Verlag herauskommen [...] Das ist dein Verdienst unter Mitarbeit meiner Schwester etcetera Ohne dich gäbe es ja gar keine Manuskripte von ihm er denkt es sich aus und du tippst es ab ordnest es auch orthographisch du schreibst es ab ohne dich gäbe es Ludwig gar nicht mehr nichts von ihm das ist dein Verdienst [...] Die Präzisionsmaschine als die er dich bezeichnet bist du seit zwanzig Jahren [...] Ludwig ist für mich alles hast du immer gesagt [...] Mein Lieblingsbruder mein Lieblingsphilosoph hast du immer gesagt
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Ludwig gilt nicht nur für Hermine Wittgenstein als Lieblingsbruder; auch sie gilt als seine Lieblingsschwester. Ist es dieser Status, der verhindert, dass die Schwester ein eigenes Profil bekommt? Bernhard spielt mit vielen der biographischen Assoziationen rund um die Familie Wittgenstein: Ludwigs Genie grenzt an den Wahnsinn, die Geschwister schwanken zwischen obsessiver Zuneigung und gesuchter Distanz, das elterliche Erbe ist ein Mühlstein um den Hals, die Familie eine Irrenanstalt und Hermine glänzt durch ihren mütterlich-dienenden und aufopfernden Charakter. Auch andere Autoren haben diese dramatisierten Szenerien wiederholt,2 jedoch zumeist viel weniger sublim. Die literarische Überzeichnung wird ins Klischee reduziert, versucht man daraus das Psychogramm einer Familie zu basteln. Wie viel haben diese Bilder noch mit Hermine und Ludwig Wittgenstein selbst zu tun? Stellt man die splitterhaft in seinem Werk verteilten autobiographischen Selbstreflexionen von Ludwig Wittgenstein und die offiziöse Geschichtsschreibung über die Familie seitens der Schwester nebeneinander – was erfährt man Neues über Hermine und Ludwig Wittgenstein und über ihr Geschwisterverhältnis?
1. D IE B EZIEHUNG
DER
G ESCHWISTER
[... ] denn nichts ist doch so herrlich als von Jemand verstanden zu werden und blosse Zärtlichkeit kann fürchterlich werden. (Hermine an Ludwig Wittgenstein, [5.1.1921] FamBr)
Hermine gilt Ludwig als die liebste Schwester, weil sie, wie er gegenüber seinem Schüler Rush Rhees formuliert, „bei weitem die tiefste“ unter den Geschwistern sei.3 Wie der, besonders in den frühen Jahren, innige Briefwechsel zeigt,4 hängt Hermine sehr an ihrem jüngsten Bruder, ihrem
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Thomas Bernhard, Ritter, Dene, Voss, in: Ders., Stücke 4, Frankfurt/M. 1988, 137, 139f., 143f. Lea Singer beispielsweise wenn sie in ihrer Biographie zu Paul Wittgenstein schreibt: „Oft war es Paul, als bewohne er die luxuriöseste Irrenanstalt Wiens, wahrscheinlich der Monarchie. [...] Die Choreographie der Familie Wittgenstein war ohnehin kompliziert. Jeder gab vor, die Gemeinschaft zu suchen, und trachtete ihr zu entkommen. Was die Fluchtversuche meist vereitelte, konnte Paul nicht benennen.“ Dies., Konzert für die linke Hand, Hamburg 2008. Rush Rhees, Vorwort, in: Ders., Porträts, 7. Zum Briefbestand: In der Briefdatenbank des Brennerarchivs in Innsbruck (IEAB) finden sich 237 Briefe zwischen Hermine Wittgenstein und ihrem Bruder Ludwig, 205 Briefe von und 32 Briefe an sie, über den Zeitraum von 1908–
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„Herzenslukas“, der von ihr als „der interessanteste und wertvollste der Brüder“ bezeichnet wird (FamEr, 106) und dem sie 1918 schreibt: „Ich wusste es auch immer dass Du der Einzige von den Buben bist, der Einen anhört wenn man ihm was erzählt und der ein menschliches Interesse an Einem nimmt“. (FamBr, 50f.) Gerade deswegen scheint es ihr oft unmöglich, ihm zu schreiben, denn „was in mir vorgeht ist so dünn dass man es gar nicht in Worte fassen kann und was außerhalb geschieht interessiert Dich kaum und ist mit zwei Worten erledigt“. (FamBr, 33) Während Hermine Wittgenstein ihr Leben lang im elterlichen Palais in der Alleegasse wohnt, verlässt Ludwig Wittgenstein mit 14 Jahren das Elternhaus, geht zuerst in die Schule nach Linz, dann zum Studium nach Berlin, später nach England, und distanziert sich schließlich auch innerlich von der Familie durch den Erbverzicht – nicht ohne sie jedoch regelmäßig zu besuchen: Er reiste in den Weihnachtsferien und in den Sommerferien regelmäßig nach Wien oder auf die Hochreit. Dort wohnte er jedoch oft abgeschieden beim Förster, suchte er doch weniger die Natur als die Einsamkeit, um Ruhe zum Schreiben zu haben. Häufig diktierte er Hermine seine Manuskripte, die sie auch aufbewahrt. 1938, im Jahr der Auflösung ihrer Tagesstätte, beauftragte Ludwig die Schwester damit, ihm die Manuskripte, an denen er bei Aufenthalten in Österreich geschrieben hatte, nach Cambridge zu schicken – was nach dem ‚Anschluss‘, der die Geschwister für viele Jahre trennen sollte, nicht mehr gelang. Dieses zentrale Bindeglied zwischen den Geschwistern ist alleine aus den Briefen zu erfahren, in welchen Hermine auch Buch führt über die verwalteten Manuskripte und dazu angefertigte Listen an ihren Bruder mitschickt.5 Auch Wäsche und Bücher schickt sie ihm nach Cambridge und beschreibt ihm oft ihre Nöte mit ihren Schülern. In den Familienerinnerungen werden nahezu ausschließlich Ludwigs Besuche mit seinen Schülern in ihrer Tagesstätte thematisiert, wo er mit ihnen bei Wien-Ausflügen logierte. Hier überschneiden sich nämlich ihre Erfahrungsgebiete und Hermine zeigt sich in ihrer Expertise, wenn sie sein Talent als Lehrer beschreibt, aber auch urteilt, wenn sie ihn als zu ungeduldig beschreibt, mit zu großen Ansprüchen an sich und an die Schüler und ohne Talent, um mit der Umgebung in Kontakt zu treten. Sie zeigt den Bruder als einen, der vielfach auf Unverständnis traf, und sich selbst oft unverstanden fühlte, wie auch als sozialen Außenseiter. Das geschah nicht nur, indem das familiäre Umfeld als äußerst anspruchsvoll und schwierig geschildert wird, sondern auch wie sein Charakter beschrieben wird. So führte Hermine in den Familienerinnerungen mehrmals aus, wie „seelisch ungeheuer empfindlich“ ihr Bruder sei. Erklärend heißt es: „Freilich fügt sich eine Persönlichkeit von solcher Stärke nicht wie ein harmloses, glattes Steinchen in jede Gemeinschaft ein – Ludwig fügte sich sogar besonders schwer ein, da er
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47 verteilt. 26 Briefe von Ludwig an Hermine Wittgenstein finden sich auch in der Handschriftensammlung (Han) der ÖNB unter der Ser.n. 1190/1. Beispielsweise am 7.6.1917, IEAB.
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schon von Kindheit auf fast krankhaft schmerzlich unter jeder ihm unkollegialer Umgebung litt“. (FamEr, 119) Die folgende Anekdote hat sich im Familiengedächtnis und im kollektiven Forscher-Gedächtnis festgesetzt. Die Schwester äußerte ihr Unverständnis dafür, dass der Bruder Lehrer am Lande sein wollte: [...] und da wir Geschwister uns sehr oft durch Vergleiche miteinander verständigen, sagte ich ihm damals anläßlich eines langen Gesprächs: wenn ich mir ihn mit seinem philosophisch geschulten Verstand als Volksschullehrer vorstellte, so schiene es mir, als wollte jemand ein Präzisionsinstrument dazu benützen, um Kisten zu öffnen. Darauf antwortete mir Ludwig mit einem Vergleich, der mich zum Schweigen brachte. Er sagte nämlich: ‚Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus dem geschloßenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält.‘ Da verstand ich, in welcher Verfassung er sich innerlich befand. (FamEr, 110)
Diese Allegorie für seinen Seelenzustand findet sich in späteren Beschreibungen seiner Person oft wieder. Doch beschreibt sich Ludwig Wittgenstein hier wirklich selbst, oder nicht viel mehr die ‚Glashaus-Position‘ der Schwester und das Unverständnis, dem er sich gegenüber sieht? Der sorgenvolle Blick der Schwester erhebt zur Charakterfrage, was auch eine Anekdote sein könnte über die fehlende Toleranz in der Familie für die Entscheidungen einzelner Familienmitglieder. Wenn Hermine anschließend die Suche des Bruders nach der richtigen Berufung schildert und seine Berufswechsel genau auflistet, zeigt sich, wie sie um ein Verstehen ringt und versucht, seinen Lebenswendungen jeweils eine Sinnstiftung zuzuweisen. Sie zeigt seine Hin-und-her-Gerissenheit zwischen der Philosophie und praktischer Tätigkeit, zugleich zeigt sie jede Zwischenstation als Suche nach Einfachheit statt als Orientierungsphase. Jeder Schritt wird als bewusste Entscheidung des Bruders gesehen, nichts als zufällig oder der Umstände halber, und somit nicht nur eine Sinnstiftung unmittelbar mitgeliefert, sondern auch eine gewisse Zwanghaftigkeit seines Charakters unterstrichen. Doch seine Berufssuche spiegelt das familiäre Spannungsfeld geradezu wider. Seine autobiographischen Aufzeichnungen zeigen, dass er als Jüngster – auch wenn er seinen Neigungen nachgehen darf – den Konflikt seiner älteren Brüder mit dem Vater dennoch internalisiert hatte. So, wenn er zunächst den Ingenieurberuf ergriff, dann aber dem inneren Streben folgend sich der Philosophie zuwandte, doch über diese sagte: „My father was a business man, and I am a business man: I want my philosophy to be business-like, to get something done, to get something settled.“6 So wie er sein Erbteil zurückweist, um unabhängig sein zu kön-
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Maurice O’C. Drury, Bemerkungen zu einigen Gesprächen mit Wittgenstein, 125f.
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nen, sieht er die Philosophie als Tätigkeit, von der er erwartet, leben zu können. Diese Äußerungen zeigen, wie sehr Ludwig Wittgenstein diese Haltung des Vaters verinnerlicht hat. Seine unruhige Suche nach einem Beruf ist von den väterlichen Erwartungen und seinem Rat nach Manchester zu gehen beeinflusst, sowie von dem Wissen, dass dieser von den anderen Söhnen enttäuscht worden war. Erst zwei Jahre vor dem Tod des Vaters wendet sich Ludwig Wittgenstein an den Philosophen Bertrand Russell in Cambridge und entscheidet sich endgültig für die Philosophie. Dort besucht ihn Hermine im Sommer des Jahres 1912 und begegnet Bertrand Russell. Dieser schreibt über die Begegnung an seine Geliebte Ottoline Morrell: „Sie ist gar nicht fatal [...] sie ist älter als er, und nicht sonderlich hübsch, angenehm, aber nicht aufregend [...] sie war ziemlich verschüchtert. [...] Sie sagte, er habe sich sehr geändert, seit er in Cambridge ist; er sei viel glücklicher, und sie meint, es sei der richtige Ort für ihn“.7 Auch Hermine beschreibt die Begegnung in den Familienerinnerungen: Im Jahre 1912 besuchte ich Ludwig in Cambridge. Er war mit Russel [sic] befreundet und wir waren Beide bei diesem zum Tee eingeladen, in seinem schönen CollegeZimmer; ich sehe es noch vor mir mit den großen Bücherkästen, die die ganzen Wände einnahmen, und den hohen altertümlichen Fensterkreuzen. Plötzlich sagte Russel zu mir: ‚We expect the next big step in Philosophy to be taken by your brother.‘ Das zu hören war für mich etwas so Unerhörtes, Unglaubliches, daß mir’s einen Augenblick tatsächlich schwarz vor den Augen wurde. Ludwig, der um fünfzehn Jahre jüngere als ich, kam mir trotz seiner dreiundzwanzig Jahre immer noch als ein ganz junger Mensch, als ein Lernender vor. Kein Wunder, daß mir dieser Augenblick unvergeßlich blieb. (FamEr, 108)
Dieses Russell-Zitat kann in gewisser Hinsicht als turningpoint in der Wahrnehmung des Bruders in der Familie gelten, gewissermaßen als Adelssprechung, und lässt vermuten, dass Ludwigs Profession bis dahin keine sehr geschätzte war. Dieselbe Formulierung findet sich nämlich wenige Jahre später in einem Brief Russells an die Mutter Wittgensteins während des Ersten Weltkrieges, in welchem er bittet, ihn von dem Wohlbefinden ihres Sohnes zu unterrichten: „If anything happens to him, would you let me know? [...] Apart from affection it is to him that I look for the next real important advance in philosophy.“8 Diese offizielle Anerkennung ihres Sohnes scheint die Mutter so zu beeindrucken, dass der Brief in einer von ihrer Hand abgeschriebenen Version vorliegt. Auch bei Hermine hatte diese Formulierung einen tiefen Eindruck hinterlassen. Sie nimmt auf dieses Ereignis und ihre Gefühle fast zwanzig Jahre später noch einmal Bezug, anlässlich einer Cambridgepostkarte des Bruders Ludwigs an die Pianistin und Hausfreundin Marie Baumayer, und schreibt ihm:
7 8
Zit. n. McGuinness, Wittgenstein, 214. Zit. n. Wittgenstein, hg. v. Nedo/Ranchetti, 120.
328 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Mich erinnert die Karte an den Tag in Cambridge mit Russell. Es war für mich so etwas ganz besonderes durch das was mir Russell über Dich sagte, das verklärte mir die Gebäude und den Fluss und den ganzen schönen Tag, oder richtiger es machte mir Alles bedeutungsvoll. (14.3.1930, IEAB)
Diese Beschreibung der Begegnung mit Russell zeigt die Autorin als bedeutsame Zeitzeugin für die Karriere ihres Bruders. Die Äußerung Russells über den Genius des Bruders, die er später auch in seiner Autobiographie wiederholen wird, ist eine Anerkennung, die gerade rechtzeitig ausgesprochen wurde, ein Jahr vor dem Tod des Vaters, und war wahrscheinlich höchst willkommen in einem gesellschaftlichen Umfeld, in welchem das Streben nach Größe selbstverständlich war und Maßstäbe setzte. Glaubt man J.C. Nyíri, hatte Ludwig Wittgenstein den intensivsten Kontakt in der Familie zum Vater, hatten sie doch auffallende Gemeinsamkeiten, wie die duale, mathematisch-technische und künstlerisch-musikalische Begabung oder die Idealisierung eines selbst gestalteten Lebens. Doch bedeutend seien auch ihre Gegensätze gewesen: Der Sohn Ludwig fühlte sich in einer „Disharmonie zu jener bürgerlich-großbürgerlichen Welt, die von seinem Vater erobert und in ihren Werten vertreten war“,9 insbesondere wenn „jener Karl Kraus, der in seiner Zeitschrift immer wieder die Glaubwürdigkeit der ‚eisenfressenden Bestie‘ Wittgenstein bezweifelte, für den jungen Ludwig geradezu ein moralisches Beispiel, einen ethischen Wegweiser bedeuten wird“.10 Karl Kraus, der sich in über 20 Fackel-Kommentaren zwischen 1899 und 1908 über Karl Wittgenstein mit beißendem Zynismus lustig machte, beispielsweise über die „glühende Vertheidigung der Kunstideale durch einen Börsianer“, hatte auch die Schwester Margarete begeistert. Darin äußert sich beispielhaft der Generationenkonflikt in der Familie Wittgenstein, der charakteristisch war für die damalige Wiener Gesellschaft: eine Rebellion der Oberschichtkinder gegen ihre Väter und gegen ihre „hypocritical ethics and business mentality“.11 Doch der Konflikt ist in der Familie Wittgenstein nicht nur einer der Generationen, zwischen ästhetisch musikalisch interessierten Söhnen und der Berufswelt des Vaters, sondern auch ein ins Innere verlagerter Konflikt durch das gleichzeitige Faszinosum dieser Geschäftswelt, wenn Ludwig Wittgenstein danach strebte, die Philosophie „businesslike“ zu betreiben, nämlich davon auch leben zu können. Eine Folge dieser inneren Ambivalenzen dürften seine wiederholt formulierten Bemühungen sein, seiner eigenen Natur nachzugehen. Auch von seinen Freunden fordert er immer wieder, ihrer Natur gemäß zu leben und sich
9
J.C. Nyíri, Liberale Ökonomie: Der Vater Wittgenstein, in: Ders., Am Rande Europas. Studien zur Österreichisch-Ungarischen Philosophiegeschichte, WienKöln-Graz 1988, 68–90, 89f. 10 Zit. n. Nyíri, Liberale Ökonomie, 89. 11 Péter Hanák, Problems of Jewish Assimilation in Austria-Hungary in the Nineteenth and Twentieth Centuries, 244.
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Abbildung 11: Tagebuch von Hermine Wittgenstein (1916 – ca. 1939) (Pierre Stonborough)
nicht von äußeren Zwängen leiten zu lassen. Es war gerade dieser spezifische familiäre Hintergrund, so könnte man vermuten, der zeigt, wie wichtig für ihn eine selbst bestimmte Lebensführung und eine Akzeptanz derselben ist. So war (Selbst)Entfremdung eine wiederholte Erfahrung in seinem Leben und wird in seinem Werk, seinen Tagebüchern und Briefen wiederholt thematisiert. Dieses spezifische Verhältnis des Bruders zum Vater thematisiert Hermine in ihrem Tagebuch. Dort beschreibt sie im Sommer 1919 den geradezu dialektischen Gegensatz zwischen Vater und Sohn, zwischen Besitz und Macht und freiwilliger Besitz- und Machtlosigkeit, mit einem metaphorischen Verweis auf Grillparzers Stück Libussa: „Libussa will sich
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nicht von der Natur entfernen fürchtet Schaden der Seele. Sie will freiwillige Besitzlosigkeit, verzichtet auf Macht, legt dem Körper und der Körperwelt keine Bedeutung bei verzichtet auf Praktischkeit“, während Premysl assoziiert wird mit Besitz, Macht, Körper und Körperwelt, Neid und Habgier, Sorgen, Praktischkeit, Verstand, Maschinen, Unglauben, Erwachsenheit und Krieg: „K.W. war ganz Premysl, Ludwig ist fast ganz Libussa. Die Welt ist jetzt ganz auf Premysl eingestellt.“ (HW-TB, 85) Die ablehnende Haltung des Bruders gegenüber Besitz schildert Hermine hier in erster Linie als eine Emanzipation vom Vater, und als Beispiel dafür, wie unzeitgemäß das Wesen des Bruders ist. In den Familienerinnerungen zeigt Hermine den Verzicht des Bruders auf dass elterliche Erbe von seiner intensiven Lektüre von Tolstoi und seinem Evangelium, wie auch von Dostojewski beeinflusst. Eine Erzählung, die sich durchgesetzt hat. So schreibt Hermines Nichte, Joan Ripley, Jahrzehnte später: This caused a terrible furor. The family felt that Ludwig had been influenced by his intensive reading at the front. No one was sure, however, whether he was taking the New Testament at its literal word, or whether he was following the example of Alyusha in ‚The Brothers Karamazov‘ by Dostoyevsky, one of his favourite authors. Alyusha was poor and totally ignorant about money, but would never starve because everyone would gladly share with him and he would not feel guilty about accepting. So it seemed to be with Ludwig. He wanted to have absolutely nothing, so that if he were ever in need, no one would mind helping him out. (Ripley, 72f.)
Hatte der Bruder auch auf das Vermögen verzichtet, Reichtum und Besitz wurden weiterhin mit seinem Namen assoziiert. Er hatte als Lehrer in Trattenbach seinen Namen den Leuten lange verheimlicht. Nachdem sie erfahren hatten, wer er war, hatte er sich sehr darüber geärgert. Hermine bewertet diese Entdeckung als eine unvermeidliche und versucht ihn in einem Brief damit zu trösten, dass sich „das Neue und Unerhörte […] bald in ein Bekanntes verwandeln“ werde und er damit vielleicht weniger Phänomen sein [wird], wenn sie Alles wissen, als wenn sie nur allerlei vermuthen; denn dass Du einer anderen Rasse angehörst, mussten sie doch um Gotteswillen bald herausgefunden haben und damit warst Du ihnen doch gewiss schon ein Rätsel? Gerade das wäre etwas, was mich gar nicht genierte, ich war den Leuten schon oft ein Rätsel und konnte ganz harmlos darüber sprechen, denn es war ja kein Geheimnis dabei. Kaum habe ich das hingeschrieben, sehe ich schon die Unwahrheit, denn ich suche natürlich doch nach Möglichkeit aus meinem Reichtum ein Geheimnis zu machen. Aber das ist doch nur eine Feigheit und Halbheit! Du hast aber doch wahrhaftig nichts zu verbergen, es sei denn etwas Gutes, und brauchst keine Moral zu lehren die Du nicht selbst nach Kräften ausübst. Dass Dich die Leute nicht verstehen werden, ist natürlich nicht zu ändern, sie müssen Dich aber zum Mindesten hochachten, ist Dir das gar nichts? Mir wäre es schon sehr viel, glaube ich. (FamBr, 73)
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Die Realität des familiären Reichtums zeigte sich jedoch bei jedem seiner Aufenthalte in Wien. Auch gab es in der Familie häufig Diskussionen über den Stellenwert von Geld, wie aus Hermines Tagebucheintragungen hervorgeht. Dazu bezieht sie klar Stellung, auch im Sinne einer Selbstbeschreibung, wenn sie schreibt: „Ich denke bürgerlich, Wohlstand erscheint mir erfreulich.“ (HW-TB, 18) Sie sieht Wohlstand als legitim an, wenn er für einen guten Zweck verwendet wird. In diesem Sinne unterscheidet sie bürgerliches Geld, ethisches Geld und nicht vorhandenes Geld: Ich habe nur bürgerliches Geld das kann man nur im bürgerlichen Sinne in vernünftig geordnete Verhältnisse stecken. [...] Der Verein ist ein bürgerliches feines Polizeiorgan er handelt vernünftig. Das ethische Geld wird keine geordneten bürgerlichen Verhältnisse schaffen zu ihm gehören Blindheit und Unvernunft ja Anti-Vernunft. Das ist die ganze Kluft zwischen E. [Paul mann] [...] und mir. Ich sehe aber ein dass nur ein edler Mensch ethisches Geld haben kann. Paul hat Recht dass der edelste Mensch gar kein Geld keinen Besitz haben würde also auch keinen Riss zeigen würde. (HW-TB, 96f.)
Der Erbverzicht des Bruders dürfte eine gewisse Nachdenklichkeit und eine Form des selbstreflexiven, schlechten Gewissens mit befördert haben; wenn nicht selbst sogar mit eine Konsequenz inner-familiärer Diskussionen sein. So belegen zahllose Diskussionen in der Familie, wiedergegeben in Briefen und Tagebüchern, dass der Reichtum auch seitens der Geschwister problematisiert wurde: So schreibt Hermine mehrmals, dass sie sich genieren müsste, wenn ihr als Pflegerin oder Kindergärtnerin jemand drauf kommen würde, dass sie Millionärin sei. Aber sie sieht diese verschiedenen Rollen auch als eine Herausforderung: Man kann eben nicht Millionärin sein und als Kindergärtnerin leben, irgendwie rächt sich das, d.h. irgendwelche Pflichten werden versäumt! Ich will die Hochreit nicht aufgeben und sehe jetzt erst wieviel ich schon versäumt habe durch dieses Doppelleben, ich bin nur neugierig wie ich da noch herauskommen werde aus dieser Zwickmühle! Tatsächlich zwickt mich bald die Hochreit bald Grinzing mit Pflicht und Sorgen. (22.5.1921, IEAB)
Die soziale Herkunft war schwer zu verheimlichen, sowohl für sie als Kindergärtnerin, wie für ihren Bruder als Volksschullehrer. Hier war der Erste Weltkrieg ein deutlicher Wendepunkt für beide Geschwister, hatte er doch ihr beider Leben durch die Flucht in ein aktives soziales Engagement maßgeblich verändert. Hermine selbst markiert den Einschnitt, wenn sie dem Bruder schreibt: Ich erinnere mich noch so gut, dass ich noch kreuzfidel war als ich Dich in Cambridge besuchte und überhaupt in diesem Jahr; es scheint mir jetzt als wäre das beinahe der Wendepunkt gewesen in meinem Leben, oder war es der Krieg? (21.2.1921, IEAB)
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War es die öffentliche Anerkennung des Bruders, die ihr soviel bedeutete, oder der Tod des Vaters ein Jahr später, oder der Krieg, der von ihr eine aktive soziale Fürsorgetätigkeit, wie von anderen Mitgliedern der Gesellschaft, einforderte? Bedeutsamer noch als dieser Verweis auf persönliche Wendepunkte in ihrem Leben, ist der Zeitpunkt, zu dem dieser Brief geschrieben wurde: einem Moment, als es zu gewissen Entfremdungsgefühlen zwischen ihnen gekommen war, und der Brief gemeinsame Erlebnisse und geteilte Erfahrungen evoziert. Sie sucht eine größere Nähe zum Bruder, und möchte ihn an seiner Lehrstelle in Niederösterreich unbedingt besuchen, was er jedoch verwehrt: Nicht um seine soziale Herkunft weiter geheim zu halten, denn inzwischen wüssten, wie er schreibt, die Leute hier ohnedies […] daß meine Schwester keine Unterlehrerin sondern eine Millionärin ist. Aber ich ersehe aus deinem Brief, daß Du unter Umständen unter besonderem Druck, auch gegen meinen Willen mich besuchen würdest. […] In meinen Augen wäre so ein Besuch die denkbar gröbste Mißachtung ein Zeichen von Mangel jeden Respektes den ein Mensch der Freiheit des Anderen schuldig ist. In unserer Familie wäre mir dieser Mangel zwar nichts neues, daher die vielen Fälle in denen einer den Anderen liebevoll tyrannisiert. (16.1.1921, FamBr, 79f.)
Das Verhältnis zueinander war kein ganz einfaches, geprägt von einem permanenten Ringen um Nähe, auch wenn sie die Lieblingsschwester war und sie einander oft, manchmal fast wöchentlich, schrieben. Nur die Mutter schrieb ihm im Ersten Weltkrieg noch öfter und begründet das mit einer für die Familie charakteristischen Manier: Gerne wüßte ich ob meine Karten – ich schreibe durchschnittlich zweimal die Woche – in Deine Hände gelangen. Nicht daß sie ihres Inhalts wegen wertvoll wären, nicht darum frage ich sondern weil es mir schrecklich wäre wenn Du dächtest, ich schreibe nicht. (30.8.1917, IEAB)
Auch die Briefe der Schwester scheinen oft des Schreibens, nicht des Inhalts wegen, geschrieben worden zu sein. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg finden sich in den Briefen des Bruders nur mehr sehr sparsame Äußerungen über seinen Seelenzustand. Immer wieder kam es zu Perioden einer zunehmenden Verständnislosigkeit zwischen den beiden Geschwistern, insbesondere dann, wenn sie sich seltener sahen. Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse hervorzurufen, kann hier durchaus dazu gedient haben, Vertrautheit zu erzeugen. Die Briefe zeigen aber auch Ähnlichkeiten der Geschwister, wenn sie dem Bruder am 17. November 1929 schreibt: Du kannst Dir leider gar keine Freude machen, denn kleine Eitelkeitsbefriedigungen kennst Du nicht und von aussen kommt Dir überhaupt nichts wirklich Erfreuendes, Du lebst nur in Deiner Brust. Könnte man es Dir doch darin etwas freundlicher machen,
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wie gerne stellte ich Dir ein paar Blumenstöcke hinein, und alle deine Freunde – und Du hast derer viele – würden gerne auch etwas beitragen! (FamBr, 72)
Sie kennt das Gefühl des Bruders, sich einsam zu fühlen, obwohl von Freunden umgeben; denn sie fühlt sich oft ähnlich verlassen, obwohl sie im engsten Bezug zu ihren Schwestern und deren Familien lebt. In den Briefen zeigt sich auch ein gemeinsames Problem der Geschwister, ihrer beider Verhältnis zum Namen ‚Wittgenstein‘, der unmittelbar mit Reichtum assoziiert wurde und mit einem gewissen Lebensstandard, der für den Bruder, wenn er in Wien weilte, weiterhin auch Lebensrealität war. Aber auch keine unangenehme, wie Ludwig Wittgenstein selbst schreibt: „Ich möchte z.B. nicht daß meine Leute arm werden, denn ich wünsche ihnen eine gewisse Macht. Freilich auch, daß sie diese Macht recht gebrauchen möchten“. (1.4.1932, VB, 44) Sein Erbverzicht war alleine persönlich und nicht sozial motiviert, denn er verschenkte sein Erbe nicht an Arme, sondern an seine reichen Geschwister – angeblich, weil sie um die Verpflichtungen wussten, die ein solches Erbe mit sich brachte und weil es ihnen moralisch auch nicht mehr schaden konnte. Hier führen die Biographen eine moralische Dimension ein, während die Mutter in ihrem Testament nüchtern schreibt: „Da mein Sohn Ludwig in freiwilliger Armut lebt und ich die Überzeugung habe, dass ihm ein Erbteil [...] nur eine Last wäre, deren er sich möglichst bald zu entledigen streben würde, ist er in meinem Testament übergangen.“ 12 Als Andenken vermacht sie ihm ihre Taschenuhr. Trotz seines Erbverzichts war Ludwig Wittgenstein beim Hausbau für seine Schwester Margarete mit Geldausgaben nicht gerade zimperlich: Dem unscheinbarsten Detail wurde dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet wie den Hauptsachen, denn alles war wichtig, es gab nichts Unwichtiges außer Zeit und Geld. (FamEr, 112)
Den Hausbau dokumentieren die Familienerinnerungen genau und begründen damit zugleich ein Narrativ, auf welches Forschungsarbeiten zu Ludwig Wittgenstein später häufig zurückgriffen: Ihre Beschreibung des Hauses als „Wohnung für Götter“ oder „hausgewordene Logik“. (FamEr, 122) Doch entgegen aller Spekulationen und Interpretationen als eine Übersetzung von Philosophie in Architektur, als „in Stein materialisierter Logik“, betont Bernhard Leitner, Wittgenstein habe das Haus für sich selbst gebaut, um seine eigene Wahrnehmung zu schulen. Er sei ein Denker, der zum Material gegangen ist, dem Satz von Ernst Mach folgend: ‚Das Überprüfen des Geistigen im Tun‘.13 Während manche, wie Terry Eagleton, in ihm einen Avant12 Bezirksgericht Margarethen in Wien, U.V. 157/26. 13 Vgl. Bernhard Leitner, Vortrag auf der Tagung ‚The making of ...‘ Genie: Mozart und Wittgenstein. Biographien, Mythen und wem sie nützen, WittgensteinHaus Wien, 19.–21.10.2006. Vgl. Ders., Das Wittgenstein Haus, Ostfildern-Ruit 2000.
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gardisten sehen, zeigt ihn Leitner als jemanden, der tief in Traditionen verwurzelt und deshalb im Widerspruch zu seiner Zeit und der Suche nach dem stets Neuen steht. Leitner betont, dass das Gebäude nichts mit dieser Moderne, mit der es stets assoziiert wird, zu tun gehabt habe. Vielmehr hätten der Hausbau und die Beschäftigung mit Ästhetik und Kunst einen unbedingten Einfluss auf Wittgensteins Philosophie gehabt. Gehe es im Tractatus noch um ideale Formen, wenn es heißt „Ethik und Ästhetik sind eins“ oder „Was nicht gesagt werden kann muss gezeigt werden“, sei die Hinwendung zum Praktischen nur die konsequente Folge daraus. Denn die Bedeutung liege nun im Gebrauch und in der Funktion. Das vielfach produzierte Klischee vom Haus als materialisierte Logik entstand aufgrund seines äußeren Eindrucks in Loos’scher Manier, doch verliere es seinen statischen rigiden Charakter, sobald man sich darin bewege: durch die verschachtelten Zimmer, die Lichtreflexionen der glänzenden Materialien oder die individuelle, keinem Stil unterworfene Form und Funktion jedes einzeln kreierten Gegenstandes.14 Leitner folgend ist das Haus das „Vorspiel“ für Wittgensteins allmähliche Hinwendung zu einer mehr praxis- und gesellschaftsbezogenen Philosophie ab 1929 – und kein Beispiel für die Sprache der Logik oder der Moderne. Doch hier interessiert nicht die richtige oder falsche Beschreibung der Qualität des Hauses, sondern die Autorin und der Kontext ihrer Bemerkung: Ursula Prokop hat bereits darauf hingewiesen, dass Hermines Beschreibungen zu einer Legendenbildung beigetragen haben, während das Haus, nüchtern betrachtet, doch auch als „eine mühsam [...] erstellte Synthese der divergierenden Vorstellungen aller Beteiligten“ betrachtet werden könnte, ohne eine ungewöhnlich lange Bauzeit.15 Doch Hermines euphorischen Schilderungen scheinen auch weniger eine Beschreibung des Hauses, als vielmehr ein Abbild der geschwisterlichen Verhältnisse zu sein. So reflektiert die Zuschreibung „Haus für Götter“ in erster Linie doch die Bewunderung ihrer Geschwister und ihre persönliche Zurückhaltung, zeigt ihr permanentes Bezugsdenken und die Geschwister als Folie ihrer Selbstdarstellung: Wenn ich nämlich das Haus auch noch so sehr bewunderte, so wußte ich doch immer, daß ich selbst es weder bewohnen wollte noch könnte. Es schien mir ja viel eher eine Wohnung für Götter zu sein, als für eine sehr kleine Sterbliche [N.I.], wie ich es bin, und ich hatte sogar zuerst einen leisen inneren Widerstand gegen diese ‚hausgewordene Logik‘, wie ich es nannte, Vollkommenheit und Größe zu überwinden. (FamEr, 122)
Die Legendenbildung zum ‚Wittgenstein-Haus‘ unterstreicht somit, wie wenig bisher der Inhalt der Familienchronik in Bezug auf die Autorin oder das
14 Vgl. Ebenda. 15 Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 182f.
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Abbildung 12: Wittgenstein-Haus in der Kundmanngasse, 1929 (Wittgenstein Archive, Cambridge)
familiäre Umfeld gelesen wurde, sondern lediglich im Hinblick auf die Person Ludwig Wittgensteins. Als nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Hermine Wittgenstein kurz überlegt, in die Kundmanngasse zu ziehen, schreibt Ludwig am 24. November 1946 an die Schwester Helene: Mir könnte nichts lieber sein – was immer sie an die Wände hängt, und wenn es Vorhänge vor die Fenster sind. Denn alles ist noch besser, als daß dieses Haus, das viel gekostet hat, ganz sinnlos dastehen soll. Und es war doch für die Familie gebaut. Und wenn es auch der Gretl gemäß und Euch, in einem gewissen Sinne, ungemäß ist, so ist das doch eine Familienunähnlichkeit. (FamBr, 188)
Ihm war es ein Anliegen, das Haus nicht leer stehen zu sehen, doch Hermine fand den Ort nach wie vor unpassend für sich selbst. Die Schwester Margarete kehrte jedoch im Herbst 1948 selbst in die Kundmanngasse zurück und wohnte dort bis zu ihrem Tod im Jahre 1958. Die euphorische und detaillierte Beschreibung des Hausbaus in der Familienchronik erinnert an die ausführlichen Schilderungen der technischen Errungenschaften des Vaters. Wie wenig Aufmerksamkeit hingegen wird Ludwigs Blockhaus in Norwegen entgegengebracht, welches er auch selbst geplant und bauen hatte lassen. Die Schwester beschreibt vielmehr ihre Vorstellungen von Norwegen, von der Einsamkeit der Fjorde, als den realen Ort – so lag die Hütte an einem See in Reichweite eines Dorfes, in welchen der Bruder zumindest zeitweise lebte. Hier ist es mehr eine Flucht in die Einsamkeit, die die Schwester zeigt, assoziiert mit einer „ungeheueren geistigen Gesteigertheit und Angespanntheit, die einem krankhaften Zustand sehr nahe kam“ (FamEr, 108), sie dokumentiert nicht sein Engagement mit bauli-
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chen Fragen oder Details seines dortigen Lebens. Überbewertet hingegen scheint der Beitrag des Bruders für die gesamte Konzeption des Hauses in der Kundmanngasse. Die Darstellung in den Familienerinnerungen scheint darin von Paul Engelmanns eigenem Understatement beeinflusst, wenn er am 9. Januar 1932 an Hermine Wittgenstein schreibt: […] befriedigt mich doch der Gedanke mit der Entstehung so schöner Dinge irgend etwas zu tun gehabt zu haben. Leider mehr negativ als positiv. Ich wollte damals etwas anderes, eigenes. Jetzt wo die Arbeit Ihres Bruders hier in endgültiger Form zu sehen ist, ist erst sichtbar um wieviel dieses Eigene hinter diesem, – damals von mir missverstandenem Besseren, zurückgeblieben wäre. (FamBr, 139)
Wenn Engelmann in seiner bescheidenen Art seinen Beitrag im Rückblick minimalisierte und in seiner Selbsteinschätzung der Dominanz Ludwig Wittgensteins wich, ist in der Formensprache des Grundrisses deutlich sein Stil als Loos-Schüler zu erkennen, ebenso der Einfluss Margaretes, anhand von Bauelementen, die sie bereits beim Umbau von Gmunden, wie unregelmäßige Raumanordnung oder hohe Fenster, verwendet hatte.16 Hier führt die Darstellung in der Familienchronik zu deutlichen Verzerrungen der Person Engelmanns, des Bruders und der Autorin selbst. Hermine stellt sich häufig in einer vergleichenden Beziehung zu ihren Geschwistern dar, das zeigt nicht nur diese Anekdote über den Hausbau. Insbesondere ihre Briefe zeigen ihre Zweifel an sich selbst und an ihren künstlerischen Fähigkeiten. In den Briefen an Ludwig sucht sie oft nicht nur eine Auseinandersetzung über ihre Malerei, sondern auch Anerkennung, wenn sie schreibt: Dass Du mir zum Zeichnen zuredest, hat mir sehr wohlgetan, [...] will ich es gewiss wieder versuchen, u. dass es mich mit Dir und Greti zusammenhängt, ist das Schönste an der Sache. In früheren Zeiten hätte ich das nicht gebraucht, aber jetzt würde mir das Malen leicht schal, wenn meine Geschwister sich nicht dafür interessierten, weil das Erreichte so anders ist als das Gewollte und die praktischen Anforderungen rund herum so viel eindringlicher tönen! Könnte ich die praktischen Dinge besser erledigen, d. h. wären sie nicht geradezu eine unglückliche Liebe von mir, dann würden sie mich weniger Zeit kosten und das Zeichnen bekäme leichter die nötige Zeit ohne Gewissensbisse! (21.1.1929, FamBr, 109f.)
Sie skizzierte das Interieur der verschiedenen Besitzungen, malte die Hochreit und schickte dem Bruder Zeichnungen von verschiedenen Denkmälern in Wien (Franz-Joseph-Denkmal, Lessingdenkmal und Kriegerdenkmal) oder andere Ansichten nach England. Auch wenn sie von ihm stets kritisch kommentierende und korrigierende Vorschläge zurückerhielt, schätzte er ihre Arbeiten. Dies zeigen briefliche Ermunterungen zum Weitermalen,
16 Vgl. Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 153–184.
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ebenso wie seine Sorge, nach ihrem Tod einen würdigen Erben für ihre „beste“ Zeichnung zu finden. Viele ihrer Zeichnungen hängen heute noch an den Wohnzimmerwänden der Nachkommen. Hermine Wittgenstein ist der Nachwelt somit als Malerin noch äußerst präsent. Sehen die einen Biographen in ihren Arbeiten lediglich „maidish time-filling activities“,17 konstatieren ihr andere ein „hochentwickeltes technisches Vermögen und ästhetische Sensibilität“.18 Hermine zeigt sich in ihren Briefen einerseits in der Rolle der ‚kleinen Schwester‘, die dem Beistand und der Anerkennung des Bruders bedarf; andererseits nimmt sie die Rolle der ‚ältesten Schwester‘ ein, die sich besorgt um ihren jüngsten Bruder kümmert. Hermine schreibt: „Könnte ich Dir nur eine härtere Haut machen lassen, ich würde mirs gerne etwas kosten lassen! Du bist dieser Welt nicht gewachsen!“ (FamBr, 75) Die Schwester sieht den Bruder in einer latenten Gefährdung – begründet in der Erfahrung bereits drei ihrer Brüder verloren zu haben. Aus dieser Perspektive problematisiert sie das Naturell des Bruders, wenn sie ihm am 18. Juli 1919 schreibt: Dass Du Dich abärgerst und abstrapazierst ein anständiger Mensch zu sein, freut und kränkt mich gleichzeitig: denn ich weiss, dass das bei Dir zur fixen Idee wird, dass nur die Leute mit fixen Ideen etwas außergewöhnliches Zustande bringen, dass aber so ein Mensch mit einer fixen Idee, der er natürlich nie genügen kann, meistens unglücklich und für seine Umgebung – sofern sie nicht in seiner Richtung sich bewegt – verloren ist. Ich sollte nur sagen, ‚ich glaube das alles zu wissen‘ statt ‚ich weiss‘, aber es scheint mir so ungemein deutlich vor meinen Augen zu liegen. (FamBr, 62)
Dieser letzte Satz ist charakteristisch für ihre vorsichtige Art gegenüber dem Bruder. Sie spricht ihm gegenüber von „meine angeborene Schweigsamkeit“ (April 1918, FamBr, 52) und schreibt von den Schwierigkeiten, ihm gegenüber etwas zu formulieren. Eine Behauptung, die sie vielleicht vor der Kritik des Bruders schützen soll, zugleich aber auch eine internalisierte Unterordnung signalisiert. Andererseits beschreibt sie den Gedankenaustausch mit dem Bruder als ihre geistige Lebensader: „Ich freue mich aber schon jetzt darauf bis Du wieder einmal kommst und mir allerlei Gedanken eintrichterst, das sind meine schönsten Stunden!“ (6.10.[1915], IEAB) Die Briefe deuten nur an, wie umfassend die geistige Auseinandersetzung über Lektüre, Ideen und „Weltanschauungen“ und ihr Einfluss auf sie war: Seit Deinem letzten Urlaub habe ich ein Wort in mich aufgenommen das ich früher nicht verstanden habe, nämlich ‚Weltanschauung‘. Seither wittere ich überall eine Weltanschauung und könnte fast fürchten Dir ähnlich zu werden, denn ich glaube das ist der Grund Deiner Art alles ‚tragisch zu nehmen‘ wie ich das früher nannte, oder
17 Alexander Waugh, The House of Wittgenstein: A Family at War, London 2008, 289. 18 Janik/Toulmin, Wittgensteins Wien, 203.
338 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS irre ich mich? Da ich aber selbst keine feste Weltanschauung habe können mich die der Andern noch nicht sehr irritieren. (3.11.1915, FamBr, 25f.)
Sie selbst beschreibt sich nicht nur in intellektueller Hinsicht als „Kompromissnatur“: Ich habe es so gut; dadurch dass ich so eine Compromissnatur bin habe ich von den heterogensten Leuten etwas, von Dir und von Greti, von Mitze u. Mima, Jeder verändert meine innere Gestalt indem er eine Art Spitze aus ihr herauszieht und ihre Oberfläche vergrössert in [Zeichnung] Bezug auf Interesse. (20.3.1917, FamBr, 33f.)
Diese Form der Selbstbeschreibung spiegelt sich in ihrem Tagebuch deutlich wider. Ihr sporadisch von den 1910er bis in die späten 1930er Jahre geführtes Tagebuch ist ein vielstimmiger Dialog zwischen ihren Geschwistern und verschiedenen Freunden. Hermine verzeichnet detailliert verschiedene Argumente, sie selbst bildet nur eine Stimme, die das eine oder andere kommentiert. Durchaus hellsichtig interpretiert sie gewisse Probleme und gibt das geistige Klima zwischen den Geschwistern wieder. Die Fragen von Religion, Christentum, Ethik, Moral oder Gott sind omnipräsent, ob von Nietzsche oder Kierkegaard gesprochen wird, von den Sozialisten oder den Nationalsozialisten. Im Tagebuch wurden zwar vorwiegend Gespräche in der Familie protokolliert, aber es war für die Autorin auch ein Ort, um über sich selbst nachzudenken: über die Einstellung zu Gott, das Misstrauen gegenüber der Kirche, das Verhältnis zu Geld und Besitz, das Diffizile an der Wahrheit. An vielen Gedanken zeigt sich der unmittelbare Einfluss des Bruders. So heißt es im Herbst 1917: Ludwig sagt Religion und Ethik hängen absolut zusammen. […] Nach Ludwigs Meinung muss Jeder der diese Frage oder die Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens stellt, auf Begriffe wie Gott, göttliche etc. kommen.
Im Jahr 1918 heißt es weiter: Ludwig kennt keinen äusseren Gott. In unserem Inneren haben wir unsere Vorschriften, werden wir belohnt und bestraft. Der gewisse Gott von dem ich nicht loskomme der handelt, der die Welt erschaffen hat, der in irgendeinem Himmel wohnt und uns in diesen hineinlässt existiert für ihn nicht.
Und im Jahr 1921 folgt der Zusatz: Seit Frühjahr 1921 kenne ich einen inneren Gott der Forderungen stellt und dem man nicht entgehen kann. Er ist eine furchtbare Macht mit der nicht zu spaßen ist. Ich begreife jetzt dass man nicht den Namen Gottes eitel nennen soll und dass man zu Gott kniend redet. (HW-TB, 76)
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Abbildung 13: Tagebuch von Hermine Wittgenstein (1916 – ca. 1939) (Pierre Stonborough)
Hier wird dem Jahr 1921 eine besondere Bedeutung zugemessen, die später noch einmal wiederholt wird: Ludwig hält gewiss das Lesen lassen des Tagebuchs für schamlos. Ich würde Meines vielleicht lesen lassen wenn ich nicht dächte dass es einen großen Stiefel am Anfang enthält. Ich glaube aber selbst dass wir das Tagebuch nicht lesen liessen wenn wir im eigentlichen Heiligtum wären. 1921 ließe ich es schon nicht mehr lesen. Greti glaubt nicht einmal an die Existenz des Heiligtums, ich hätte auch nie daran geglaubt wenn ich nicht Ludwig hätte. Engelmann und Tolstoi gehören ja der selben Vereinigung an aber sie können mir keinen Eintritt verschaffen. Sie reden und ich höre sie nicht. (HW-TB, 88)
Das Jahr 1921 wird als ein Wendepunkt im Leben der Autorin beschrieben, durch den Eintritt in die Religion und in ein so genanntes „Heiligtum“. Es ist das Jahr, in dem Hermine ihre eigene Kindertagesstätte in Grinzing gegründet hatte. So kann man sagen, dass sich für sie, in ihrem Engagement in der Sozialfürsorge sich die „ethische Bedeutsamkeit des Handelns“ materialisierte – eine sprachliche Wendung, die mehrere Male im Tagebuch zu fin-
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den ist. Auch darin ist der Einfluss des Bruders unverkennbar, doch nicht in passiver und bewundernder, sondern in handlungsleitender Weise. Andererseits wird hier auch ihre Neigung sichtbar, Wendepunkte regelrecht zu markieren. Mitten in den Lauftext fügt sie oft ein exaktes Datum nachträglich ein, wenn es darum geht, eine neue Meinung oder Wahrnehmung zu unterstreichen. Diese zeitlich genaue Zuordnung bedeutet aber auch, die Entwicklung eines Geisteszustandes nachvollziehbar zu machen und deutlich Position zu beziehen. Damit wird das Hervorheben des Augenblickscharakters einer Meinung oder Einstellung zum Stilelement. Ich glaube jetzt, 4. IX 1918 folgendes: Es ist dem Menschen ganz unmöglich die Welt zu erkennen denn er kann aus der Welt nicht heraus [...] Fast alle Menschen gehen in die Welt und wieder heraus ohne sich Gedanken darüber zu machen; Andere machen sich Gedanken aber sie finden nur ein Chaos. Einigen Menschen aber scheint Alles in der Welt wie ein Krystall zusammenzuschiessen; Alles findet seine Stelle und erklärt sich, es gibt oben und unten, wertvoll und wertlos. Alles ordnet sich um einen Kern, der ganz in ihnen begründet ist und der, wie mir jetzt scheint, ihre Weltanschauung ist. Nach diesem Kern bestimmt es sich wie flach oder tief, wie dunkel oder wie hell dieser Krystall ist. [...] Das ist schon sehr viel, dass diese Menschen aus dem Chaos einen Krystall schaffen, aber sie halten ihn dann für das Abbild der Welt und das ist es nicht. Sie können die Welt nicht abbilden, weil sie sie nicht erkennen können. Darum streiten sie so viel weil Jeder seinen Krystall für seine Welt hält, und bei dem Einen dieses, beim Anderen jenes im Mittelpunkt, an der Spitze oder Basis steht. (HW-TB, 73)
Ihr ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass jede Form der Wahrheit äußerst zeitbezogen und gesellschaftlich bedingt ist, zeigt folgende Parabel über das Christentum vom Februar 1917: Ludwig hat mir bei einem Gespräch über das Christentum folgenden Vergleich gesagt. Man könnte sich vorstellen, dass ein Bild von Rembrand [sic] von Alters her in einem Raum hängt. Es wurde von den früheren Besitzern nach Gebühr bewundert und geschätzt, den jetzigen Besitzern ist jedoch jeder Sinn dafür verloren gegangen. Ein Fremder, ebenso Unverständiger fragt die Leute was sie da für ein Ding an der Wand hängen haben und auf ihre Antwort, es solle nach einer Überlieferung etwas unendlich wertvolles und kostbares sein, erbietet er sich das Ding chemisch zu untersuchen. Es ergibt sich dass es sich um gewöhnliche Leinwand handelt, die mit Öl und einigen anderen Stoffen bestrichen wurde, woraus die Leute den Schluss ziehen dass diejenigen in einem großen Irrtum waren die von einem hohen Wert des Gegenstandes gesprochen hatten. In einer späteren Zeit taucht das Verständnis wieder auf und jetzt erscheint es unbegreiflich dass es eine Zeit geben konnte in der man einen Rembrand nach einer chemischen Untersuchung bewerten konnte. Die Unsterblichkeit hängt also von der Nachwelt ab? Es hängt also doch Alles von den Organen ab die zur Verfügung stehen, das Physische wie das Psychische? Wie soll man sich dann
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aber verstehen? Was ist dann wahr? In jeder Phase ist man vollkommen von der Richtigkeit der Anschauung überzeugt. (HW-TB, 69)
Sie kommentiert diesen Gedanken erneut ein paar Monate später im Herbst 1917: Die die eigene Überzeugung haben, halten sie dann für Wahrheit und selbst Nietzsche der hundertmal sagt es gibt keine Wahrheit sondern nur Wahrscheinlichkeit, zeigt durch die Art wie er von Überzeugungen, besonders von anderer Leute Überzeugungen spricht, dass er doch an Gewissheit und an die Wahrheit seiner Überzeugung glaubt [...] Da Nietzsche die Seele leugnete, musste er Alle die die Seele sprechen liessen für Narren, Heuchler oder systematisch Verblendete halten. Er wollte dem Verstand die absolute Herrschaft einräumen auch in Sachen der Seele und glich so dem Mann der einen Rembrand [sic] chemisch untersucht. (HW-TB, 72)
Diese Zitate zeigen, wie die Diskussionen über Jahre hinweg immer wieder um ähnliche Themen kreisen. Eine Konsequenz dessen ist der Schreibstil: Hermine Wittgenstein verwendet beide Schreibseiten getrennt. Sie lässt die rechte Seite oft leer, um das Geschriebene oft Monate oder Jahre später dort kommentieren zu können oder neue Gedanken anzufügen. Ein eindeutiges Schema lässt sich nicht erkennen, doch tendenziell sind links eher verinnerlichte Themen behandelt, wie das Christentum und der Dualismus SeeleKörper, während politische Diskussionen, explizite Meinungen und Stellungnahmen eher rechts thematisiert sind. Dieser Schreibstil erinnert an die Schreibpraxis Ludwig Wittgensteins, an den Wiederholungscharakter seiner Bemerkungen, wenn er immer wieder auf bereits existierende Formulierungen zurückgreift und in neue Zusammenhänge stellt. Auch ihre Anweisung auf der dritten Seite des Tagebuches, „Nach meinem Tode zu verbrennen“, ähnelt den überlieferten Wünschen des Bruders Ludwig bezüglich seiner Tagebücher und wurde ebenso wenig von der Familie noch den Nachlassverwaltern berücksichtigt. Diese ausführlichen Zitate sollten den Schreibstil des Tagebuches – im Vergleich zur Familienchronik – zeigen, in welchem dichtem Beziehungsnetz die Gedanken der Geschwister standen und wie jede neue Lektüre, jeder neue Gedanke im Hinblick auf bereits bestehende Argumentationsmuster geprüft wurde. Es zeigt auch den hohen Stellenwert, den Parabeln und Anekdoten in den Gesprächen der Familie hatten, ähnlich wie in Ludwigs Stil als Lehrer. Die Wertschätzung des Bruders wird im Tagebuch noch um vieles deutlicher als in den Familienerinnerungen und wird nicht nur in der folgenden Assoziationskette bekundet: Es ist gewiss kein Zufall dass Paulus Tolstoi Ludwig die verhältnismäßig spät aber sehr heftig das Erwachen des Gewissens, der Seele, Gottes gespürt haben solche hin und her geworfenen Kämpfer sind. Sie bestehen aus keiner homogenen Masse [...]. (HW-TB, 86)
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Die Religion ist das prägende Thema des Tagebuchs. Im Sommer 1919 beschreibt sie den familiären, gesellschaftlichen und religiösen Hintergrund: Wären wir nur nicht so ganz in dem irreligiösen Zeitalter aufgewachsen das in seiner Verständnislosigkeit alle Bilder und Vergleiche als Dogmen annahm. Diese Dogmen muss der Verstand doch fallen lassen, von etwas Anderem war aber nie die Rede, das Gewissen die Seele wurden nie ausgebildet, oder überhaupt wirklich berührt, wenn sie vielleicht als Wort auch im Katechismus vorkommen. Man konnte beim Religionsunterricht weder etwas denken noch etwas fühlen. (HW-TB, 87f.)
Sie sieht den Niedergang der Religion, konstatiert nüchtern, dass früher die Seele „mehr war“, und schreibt am 2. Oktober 1923 über die europäischen Völker: Wenn die Religion nicht mehr im Vordergrund steht, dann kommen die Nationalitäten dran und wenn dieser Hass einmal abgeflaut sein wird, so wird sich gewiss rechtzeitig eine neue gerechte Sache zeigen, darum ist mir nicht bang! (HW-TB, 91)
Auch in der Auseinandersetzung mit dem Jahr 1939 wird Bezug genommen auf die fehlende Religion. Sie nennt Hitler „Caesar“, und die Zeit eine, „wo Caesar alles verlangt“: Was heisst Weltanschauung? Was im Mittelpunkt steht, was das Wichtigste ist. NS [Nationalsozialisten] stellen den Staat mit all seinen Forderungen, die ‚Welt‘ in die Mitte. Christentum stellt Gott in die Mitte. [...] Christentum ist übernational es richtet sich gegen die Urtriebe. Das Gegenteil von NS. (HW-TB, 99, 101)
Habe früher die Religion gewisses Machtdenken noch relativiert oder Alternativen geboten – im Jahr 1939 nicht mehr: Neuer Glaube an das Volk, Forderungen für die Grösse Deutschlands jahrhundert alte Forderungen Ansprüche auf Grösse und Macht. Früher konnte man auch so denken, es liefen immer noch Hemmungen mit. ‚Recht ist was dem Deutschen Volke nützt‘, war noch nicht die einzige Richtschnur. (HW-TB, 101f.)
Damit endet Hermines Tagebuch. Was hier deutlich wird: Das Tagebuch und die Briefe zeigen Hermine viel intellektueller und interessierter. Sie reflektiert Diskussionen innerhalb der Familie über Ethik, Religion und Ästhetik, beeinflusst von den Gedanken Tolstois und Dostojewskis, von Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard und Weininger, und sie zeichnet minutiös Gedanken ihres Bruders Ludwig nach, die sie in seine Gedankenwelt involvieren und die sie zu einer eigenen „Weltanschauung“ herausfordern. Es sind mitunter auch diese Diskussionen über die „ethische Bedeutsamkeit des Handelns“, die sie zu einem engagierten sozialen Handeln in der Kinderfürsorge führen. In ihren Briefen reflektiert sie über ihr „Doppelleben“ als Mil-
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Abbildung 14: Tagebuch von Hermine Wittgenstein (1916 – ca. 1939) (Pierre Stonborough)
lionärin und Kindergärtnerin, während sie in der Chronik ihre soziale Position als unhinterfragte Selbstverständlichkeit präsentiert. Dieser Fokus auf das Soziale erklärt auch, warum intellektuelle Bezugsfiguren in der Familienchronik ebenso ausgeblendet bleiben, wie zahllose andere zeitgenössische, literarische und philosophische Einflüsse. Aber auch Hermines direkte Konfrontation bei den zahllosen Manuskriptdiktaten mit der philosophischen Gedankenwelt des Bruders bleibt in den Familienerinnerungen ausgespart und damit auch diese spezifische Form ihres persönlichen Verhältnisses. In den Briefen wird Hermines schwesterliche Fürsorglichkeit und das Ringen um Nähe deutlich, im Tagebuch der rege Gedankenaustausch mit dem Bruder vor allem über die Religion. Der Bruder wird als derjenige geschildert, der ihr Eintritt in die Religion verschafft hat. Damit wird ein enges Band geknüpft, konstituiert zugleich durch eine Abgrenzung von der „irreligiösen“ Schwester Margarete: „Greti sagt selbst sie ist ganz irreligiös. Ich
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glaube was sie religiös nennt hat mit Religion gar nichts zu tun. Kann man sich Musik vorstellen und darüber urteilen wenn man zugibt dass man taub ist?“ (HW-TB, 86f.) Hier zeigt sich, wie die unterschiedlichen autobiographischen Textsorten, die Inhalte nicht nur formen, sondern auch mit bestimmen. Nebeneinander gestellt geben sie neue Einsichten in die Funktionsmechanismen von Erzählen und Erinnern; aber auch neue Erkenntnisse über die Autorin Hermine Wittgenstein.
2. M EMOIREN – AUTOBIOGRAPHIE : Z UR (E R -)F INDUNG VON W AHRHEIT Ein überzeichnetes Diktum aus der Erzählforschung lautet: Ob Emanzipation, Erfolg oder Niederlage – erlebt wird nur das, was auch erzählt werden kann. Wie erzählen sich Hermine und Ludwig Wittgenstein? Und wie unterscheiden sich die Bemerkungen von den beiden Geschwistern im Hinblick auf das autobiographische Schreiben? Genretypisch kann man folgende zuspitzende Gegenüberstellung vornehmen: Die Familienchronik ist eine Textform und als solches ein „mentales Modell“ (Carol Feldman) und ein spezifisches Narrativ, welches die Inhalte deutlich formt: Memoiren zu verfassen, bedeutet an einer exakten Rekonstruktion zu arbeiten, die misstrauisch nach historischen Belegen greift, während die Autobiographie solche nicht unbedingt benötigt. Die Wahrheitsbekräftigung in der Familienchronik gilt nicht dem eigenen, wie bei Ludwig Wittgenstein, sondern dem fremden Misstrauen, wenn Hermine Wittgenstein mehrmals auf den dokumentarischen Anhang verweist, auf die Beobachtung des Entstehungsprozesses der Erinnerungen durch ihre Nichte Marie, oder indem sie die Idee zu den Erinnerungen der Schwester Helene zuschreibt. Dass ihre Version der Familiengeschichte auch von anderen Familienmitgliedern begleitet und unterstützt wurde, legitimiert die Familienerinnerungen als Familiengedächtnis. Das autobiographische Erinnern von Ludwig Wittgenstein muss hingegen, wie seine autobiographische Praxis der Beichte, in erster Linie ihm selbst gegenüber bestehen können. Doch beidem, dem Streben nach Aufrichtigkeit wie nach objektiver Berichterstattung, ist, wie gezeigt wurde, die Konstruktion und Illusion bereits inhärent. Anders als die Autobiographie gehen Memoiren über die persönliche Entwicklung des Verfassers hinaus und konzentrieren sich vor allem auf die Auswirkungen politischer und kultureller Ereignisse und die Einbindung in ein größeres soziales Umfeld, eine Eingliederung der Familiengeschichte in das Bezugssystem Geschichte. Dient der Rückblick in der Familienchronik der Verwurzelung und Integration in ein bestimmtes gesellschaftliches Milieu, als Vergewisserung von Kontinuitäten angesichts einer schwierigen Gegenwart, liegt für Ludwig Wittgenstein im Rückblick das Potenzial für Veränderung. Sein Erinnern dient eher der Gewissenserforschung, um durch die Bewusstmachung dessen, was einmal war, das zu verändern, was ist. Seine
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autobiographischen Reflexionen formulieren das Bedürfnis nach Besserung und Wandel, den Wunsch sich selbst oder seine Art zu denken, zu erkennen, doch im Bewusstsein, dass jeder Selbstdarstellung auch eine Selbsttäuschung inhärent ist. Betrachtet man seine autobiographischen Äußerungen inhaltlich und formal, gibt es eine gewisse Skepsis gegenüber dem autobiographischen Projekt: Er misst der Autobiographie Wert und Bedeutung zu, verweigert sich aber weitgehendem dem Genre als solchem. Sichtbar in seinem Argwohn gegenüber jeglicher Form autobiographischer (Selbst)Darstellung, mit Begriffen operierend, die als eine reflexive Annäherung an die Problematik von Zuordnung und Selbstverortung gelesen werden können (Familienähnlichkeiten, Sprachspiel, übersichtliche Darstellung); einem Schreibstil verpflichtet, der seine autobiographischen Gedanken zwischen die philosophischen Bemerkungen streut, statt eines linearen Narrativs die verschiedenen Gedanken oft neu arrangiert, und mit dem Bewusstsein für das Verrückbare und den Perspektivenwechsel den Konstitutionsprozess eines Werkes wie den einer Selbstbeobachtung reflektiert. Damit signalisiert er zwar einen selbstreflexiven Umgang mit den autobiographischen Genres, er bedient sich jedoch trotzdem vielfach ihrer Rhetorik: Der permanente Selbstzweifel, seine ständige Sorge um Aufrichtigkeit oder seine Geißelung von Eitelkeiten erscheint oft mehr als ein Mittel der Stilisierung statt des persönlichen Ausdrucks. So wird die Beichte zwar als ‚Ritual‘ und ‚Sprachspiel‘ reflektiert, und damit auch als performativer Sprechakt angedeutet, dennoch setzt er seine Geständnisse gezielt ein. Deshalb scheinen sie weniger Ausdruck eines um Aufrichtigkeit bemühten Umgangs mit sich selbst zu sein, eines Schuldkomplexes oder eines reinigenden Rituals, als vielmehr ein Verweis auf den Ritualcharakter solcher Selbstdarstellungen, als ein Spiel mit gewissen Erwartungshaltungen und als eine spezifische Form der Kommunikation, nämlich ein Ringen um Nähe und um Dialog. Aus diesem Blickwinkel betrachtet hat auch die Geheimschrift weniger als Mittel gedient, um sich selbst näher zu kommen oder Privates zu verdecken, sondern eher dazu, die Adressaten, in erster Linie die Familie, spezifisch anzusprechen oder vom Leser eine besondere Weise der Kontextualisierung – in das Genre Autobiographie und Tagebuch, aber auch in das Umfeld Familie – einzufordern. Es geht somit weniger um den Inhalt als um die Form; und dessen beziehungskonstituierende Komponente. Für seine Geheimschrift wie für seine Geständnisse dürfte hier die McLuhan’sche Formel gelten: Nicht der Inhalt, das Medium ist die Botschaft. Auch Hermine Wittgenstein setzt durch die Wahl des Genres Familienerinnerungen eine deutliche Botschaft: Der Text kommuniziert das Konzept Familie, vor deren Gesamtheit der Einzelne mit seinen Wünschen und seiner Lebensgeschichte zurückzutreten hat. Hier verdeckt die Rhetorik des Genres die persönlichen Anliegen und Ziele der Autorin. Durch die Form einer Familienchronik kommt es auch zu einer Kanonisierung der Familiengeschichte. Der familiäre ‚Rahmen‘ wird nicht nur wiederholt genannt, sondern die formale Gemeinsamkeit gerade dort beschworen, wo es zu inhaltlichen Dif-
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ferenzen kam. Nicht nur am Beispiel des Konflikts mit Paul zeigt sich, dass die Familienchronik auf Harmonie angelegt ist und Brüche eher zur Beschwörung des Ganzen dienen, während Hermines Briefe vielmehr ein Medium der Konfliktaustragung und Konfliktvermittlung sind. Auch in Hermines Tagebuch werden drängende Fragen nach Herkunft und Judentum, Besitz, Erbe und Erziehung diskutiert. In Summe zeigt sich, dass viele Ereignisse, die im Alltag irritierend gewirkt haben (antisemitische Erfahrungen in allernächster Umgebung, Selbstzweifel, Konflikte zwischen den Geschwistern) ausgeblendet wurden. Auch die Suche nach Selbstverwirklichung zeigt sich in den Familienerinnerungen eher als das Erfüllen einer sozialen Rollenerwartung und weniger als bewusste Emanzipationsgeste, wie sie in den Briefen viel deutlicher demonstriert wird. Glaubt man nämlich der Darstellung in der Chronik, hat ihr dieser berufliche Alltag weniger Orientierung geboten als die vielfach genannten kulturellen Symbole und Traditionen. Jene Referenzen sind aber auch der Situation geschuldet: So kann die Beschwörung von Symbolen helfen die extremen psychischen Belastungen der Kriegszeit auszuhalten, denn das Imaginäre der Kultur ersetzt das „vertraute Gegenüber“ (Pierre Bourdieu). Solche retardierenden Beschreibungen ergänzen die Realität und stiften Wirklichkeit alleine durch die formelhafte Geste der „Wiederholung“, zugleich zensieren sie Widersprüchlichkeiten und wiederholen Vertrautheiten.19 Ob Familienchronik oder Autobiographie, es sind zumeist Krisen oder neue Lebensphasen die Anlass zum Schreiben geben, um den „alltäglichen Horizont zu überschreiten und lebenszeitlich orientierte Absicherungen von Kontinuität und Identität vorzunehmen“.20 Hermine Wittgenstein nennt äußere Umstände wie die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges als Anlass ihrer Familienchronik, doch es waren auch die Erfahrungen einer persönlichen Krise, welche das Schreiben mitmotivierte. Auch bei Ludwig Wittgenstein zeigen sich autobiographische Reflexionen verstärkt nach biographischen Brüchen und in schwierigen Situationen, im Ersten Weltkrieg, nach seinen Übersiedlungen nach Berlin, Cambridge oder Norwegen oder nach dem Anschluss und der Entscheidung für die englische Staatsbürgerschaft. Bei beiden Geschwistern spielt in der Auseinandersetzung mit sich selbst bzw. mit der Familie die Frage des Jüdischen eine Rolle. Doch während sich die Schwester von diesen Wurzeln bewusst distanziert und sich auf die Leistungen der Familie statt auf die Herkunft konzentriert, identifiziert sich Ludwig mit der jüdischen Herkunft insofern, als er über einige, angebliche Charakteristika des Jüdischen nachdenkt und darüber, inwiefern sie ihn oder sein Denken geprägt haben. Über sein Verhältnis zur Familie erfahren wir hingegen aus seinen autobiographischen Notizen kaum etwas. Hermine wird von ihm vor allem im Kontext seiner Gedanken zur Beichte erwähnt, das zeigt sie als eine Instanz des Normativen. Eine Rolle, die der Bruder auch
19 Aleida Assmann, Schriftliche Folklore, 177, 181. 20 Peter Alheit, zit. n. Kanonnier-Finster/Ziegler, Frauen-Leben im Exil, 22.
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für sie einnimmt, wenn es in ihrem Tagebuch oft heißt: ‚Ludwig sagt ...‘ oder ‚Ludwig denkt ...‘. Biographen beschreiben es als ein Verhältnis der Verehrung, sie habe den Bruder lange als einen Heiligen betrachtet;21 doch liegt hier auch eine gewisse Gegenseitigkeit vor, eine Folge der umfassenden Moraldebatten in der Familie. Beherrscht Wittgensteins Schriften der Topos des Suchenden und Unzufriedenen, alles und jedes nach seiner Sinn- und Ernsthaftigkeit hinterfragend, unterwirft sich Hermine in der Familienchronik eher den Gewohnheiten und traditionellen Normen ihrer Schicht. Kennzeichnet die 1940er Jahre gerade ein Zerfall der traditionellen Strukturen und Sicherheiten, scheint das Genre der Familienchronik ihr zu helfen, Irritationen und persönliche Traumata zu formulieren, wenn auch dadurch, jene mehr oder weniger zu kaschieren. Die Erfahrungen von 1938 und des Zweiten Weltkrieges haben innerhalb der Familie zu einer Verunsicherung und gleichzeitigen Neupositionierung des Einzelnen geführt – wie Krisensituationen stets eine „Redefinition und Restrukturierung von Identität“ zur Folge haben.22 Die Familienerinnerungen sind Ausdruck einer solchen Suche nach der Verortung des Selbst und der Familie. Sie zeigen ein regelrechtes Bedürfnis nach eigener Identität (‚die Wittgensteins‘), Zuordnung (deutsche Herkunft, aber ‚wir Österreicher‘) und Verankerung in der ‚Kultur als Lebenswelt‘. Sie sind Ausdruck eines im Sinne des Großbürgertums kulturell konnotierten Österreichpatriotismus – und einer Art von Sesshaftigkeit, die sich nicht nur im Wohnverhalten Hermines zeigt. Als sie davon erfährt, dass Ludwig seine Lehrerstelle wechseln und Puchberg verlassen wird, schreibt sie ihm: Ist es Dir leid oder recht? oder gleichgültig? Mir wäre es schrecklich, mehr als schrecklich, immer wieder von Neuem anfangen zu müssen, mit neuen Leuten und gegen neue Leute, das ist ja aufreibend! ( 3.2.1923, FamBr, 95)
Viele der autobiographischen Bemerkungen von Ludwig Wittgenstein sind hingegen bloße Verweise oder explizite Leerstellen, die eher herausfordern als zuordnen. Es war vielleicht gerade die spannungsgeladene Atmosphäre zu Hause, die ihn zur steten Suche nach der ‚richtigen‘ Umgebung trieb, jedoch nicht im Sinne einer geografischen Verortung. Seine autobiographischen Bemerkungen blicken zwar teilweise zurück, um etwas über seinen Charakter zu sagen, nicht jedoch um eine geografische oder historische Verortung oder etwas Zukunftweisende darin sehen zu wollen. Sie haben keinerlei historische Dimension einer Verwurzelungsstrategie, wie etwa die Familienerinnerungen. So beschreibt Wittgenstein beispielsweise das Österreichische als etwas nur schwer Greifbares und zu Verstehendes, und operiert nicht mit dem kulturell Selbstverständlichen. Er kann sich, wie gezeigt wurde, diesem Spannungsfeld von Fremd- und Selbstverortung teil-
21 McGuinness, Wittgenstein, 204. 22 Friedrich, Deformierte Lebensbilder, 60f.
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weise entziehen, wenn er geografische, intellektuelle und emotionale Zuordnungen in Frage stellt. Ob das biographische oder das philosophische Wandern, es ist mehr als nur eine Metapher, nämlich weniger die Suche nach konkreter Klarheit (weder in der Philosophie noch über sich selber), als lediglich die Beobachtung, Kommentierung und Theoretisierung dieses Bedürfnisses. Sein permanentes sprachliches Ringen um diesbezügliche Klarheit, sichtbar an seinen Begrifflichkeiten, kann auch als ein Verstehen von (Gruppen-)Zugehörigkeiten gedeutet werden. Auch das weniger erkenntnisals viel mehr methodenorientierte Denken fordert nicht nur vom Autor, sondern auch vom Leser mehr Reflexion. Bei Wittgenstein und anderen seiner Generation zeigt das Ringen um Ausdruck, sprachliche Präzision und Authentizität im Lebensstil eine generelle Distanzierung zur Vätergeneration, eine Überwindung des überlieferten Wissens, ein Hinterfragen von Traditionen und ist damit Ausdruck einer Suche nach einer selbst geformten Existenz. Diese Unterschiede in der Selbstverortung beider Geschwister manifestieren sich auch im Schreibstil. Hermine Wittgenstein formuliert zwar zu Beginn der Familienerinnerungen einen bescheidenen Anspruch an das autobiographische Schreiben, lediglich „Strohhalme“ bzw. ein „Mosaik“ zu präsentieren sowie nur einzelne „Erinnerungsspuren“ aufzunehmen, dennoch kennzeichnet die Familienchronik eine auktoriale Erzählweise, die nicht viel Raum lässt für Selbstreflexionen oder alternative Erzählungen – diese sind lediglich angedeutet in der dialogischen Anordnung der unterschiedlichen Meinungen zu den verschiedenen Handlungsmöglichkeiten nach dem Anschluss 1938. Sie präsentiert das soziale Kollektiv der Familie als ihr ausschließliches Objekt der Identifikation. Dabei war zu sehen, wie sehr das Genre Familienchronik den Inhalt vorgibt und individuelle Bedürfnisse und Gedanken, insbesondere intellektueller, religiöser, aber auch emotionaler Natur, in den Hintergrund drängt. Bereits die Wahl des Genres Familienerinnerungen bedeutet, den Text in einem gewissen Sinne zu edieren. Das Format ist geradezu eine Metapher für die Inhalte, und folglich auch für die Leerstellen. Ludwig Wittgenstein versucht hingegen in seinem autobiographischen Schreiben keine Narrative zu entwerfen oder Gedanken unter einem suggestiven Titel zu summieren. Er verweigert sich damit konstituierenden Prinzipien einer Erzählung, und Überlegungen zu einer Autobiographie bleiben Fragment; auch äußert er zentrale Einsichten in die Konstruktion als inhärenten Bestandteil des Autobiographischen. Dennoch zeigen seine autobiographischen Reflexionen ein Festhalten an stereotypen Mustern autobiographischer Selbstpräsentation. Fehlt auch eine klare Dramaturgie mit Anfang und Schluss, sind sehr wohl lineare und dramatisierende Elemente – Leseanweisungen, bedeutungsstiftende Mottos, Benennung von Vorbildern, Betonung von Brüchen oder Beteuerungen der Aufrichtigkeit – zu finden.
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Eine maßgebliche, dramatisierende Leseanweisung von Hermine ist, wenn sie ihre Beschreibung der Ereignisse im Jahr 1938 als einen Stil- und Erzählbruch präsentiert, und damit den bürgerlichen Rahmen der Familientradition mit einer identitätsstiftenden narrativen Form verbindet – einer Form, wie sie betont, die wieder aufgenommen werden kann. Diesen Glauben an die Form assoziiert auch Margarete Stonborough mit der geistigen Verfasstheit ihrer Schwester Hermine. Als es 1942 zu Missverständnissen zwischen den Geschwistern kommt, ersucht sie Ludwig um Verständnis für Hermine und bringt damit die Unterschiede der Geschwister auf den Punkt: Another thing that seems to me very important. Most important. Ji says, that you did not understand Min’s letters. That makes me very unhappy. How is that possible? You above all must know how deep her feelings are for you and what she goes through now and how incapable she is of coping with her situation without you or me helping her to see her way. She could not write a real letter now to save her soul. She sits in her life now, like she used to sit in a taxi, tied in knots. Nobody in her entourage has the key to straighten her out. Surely you know what I mean. […] To come back once more to Min’s letters I want to say that people who are used to writing descriptive letters like she, have a much harder time anyway nowadays than you have [N.I.]. (FamBr, 177)
In ihrer Bemerkung verweist Margarete zugleich auf Ludwig Wittgensteins später so oft beschriebenen abstrahierenden Schreibstil,23 wie auch auf sein Diktum, „daß der Stil das Bild des Menschen sei“24. Die Schwester sieht hier eine Dialektik, die sich auch im Vergleich der autobiographischen Materialien zeigt: Während Hermine Wittgenstein Identität durch die Narration zu gewinnen sucht, präsentiert sich Ludwig Wittgenstein als skeptisch gegenüber jeder Erzählung, was eine Konsequenz hat in seinem unübersichtlichen philosophischen Nachlass wie auch seinen Fragment gebliebenen autobiographischen Notizen. Hermines fester Glaube an die Erzählung und die Form steht seinem konsequenten Zweifel am Autobiographischen und dessen Form gegenüber. Während sie im Narrativen Identität und „a place in one’s culture“ findet,25 verwendet er die Sprache als Mittel, um Vorurteile im Denken zu verorten, um Vertrautes loszuwerden statt wieder zu finden. Dieser ‚Denkstil‘ führt Ludwig Wittgenstein auch zu einem neuen Heimatbegriff, wenn man es überhaupt so nennen will – nicht mehr das Vorurteil (wie der Glaube an die „Kristallreinheit der Logik“), die Zuordnung
23 Wittgensteins skizzenhafte Methode wurde nicht nur als die Konsequenz seines Denkens, sondern auch als „intuitives Verständnis der Zeit, in der er schreibt“ gesehen. Joseph P. Stern, Literarische Aspekte der Schriften Ludwig Wittgensteins, 28. 24 Zit. n. Michael Nedo (Hg.), Ludwig Wittgenstein – Wiener Ausgabe, Wien-New York, Bd. 8, 561. 25 Jerome S. Bruner, The Culture of Education, Cambridge/Mass.-London 1996, x, 121, 42.
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(Staatsbürgerschaft) oder soziologisch gesprochen der „Vater“ bedeutet Heimat,26 sondern die Betrachtung des Gegebenen, der Bezug zu sich selbst ohne Sehnsucht nach einem einheitlichen Gefüge. In den Familienerinnerungen findet sich hingegen ein sowohl sozial geprägter als auch national konnotierter Begriff von Heimat. Doch, ob die Rede ist von der Heimat, von der eigenen Identität oder von der Natur des Selbst, es sind – wie Michael Steinberg es mal nannte – stets Begriffe einer Sehnsucht und weniger einer Realität. Dieses Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist jeder Form autobiographischen Schreibens inhärent.
3. S ELBSTBILDER – F REMDBILDER : „E IN B ILD HIELT UNS GEFANGEN ...“ „Nur darf man aus den Menschen keine Götter oder Modelle bauen [...].“27
Ludwig Wittgenstein schreibt in seinen Manuskripten: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen. (PU, §115) Welche Bilder vom Selbst sind es, die Ludwig und Hermine Wittgenstein – und später die Biographen – gefangen halten? Ist es dann das Selbstbild oder das Wunschbild, auf welches sich der Biograph einlässt in seiner Erzählung? Ist es überhaupt der Biograph, der eine Interpretation festschreibt, oder sind es nicht Hermine und Ludwig selbst, die in ihren autobiographischen Texten diese Interpretationen bereits nahe legen? Damit beginnen die Schwierigkeiten bei einer Annäherung an eine ‚biographische Wahrheit‘ bereits beim autobiographischen Material und darin zwischen den autobiographischen Erzählmustern und den späteren Narrativen der Biographen zu unterscheiden. In der breiteren Öffentlichkeit gilt Wittgenstein heute weniger als der Philosoph der Sprachspiele als der Philosoph der Selbstanklage, „der an Radikalität und zugleich Rätselhaftigkeit unter den Meisterdenkern seinesgleichen nicht hat“, umgeben von einer Aura „eines Genies und Asketen von höchstem moralischen und geistigen Rigorismus, eines intellektuellen Heiligen“, der jedoch auch umgetrieben wurde von „asketischer Selbstkasteiung“, „Selbstbezichtigungen“ und „tiefsitzenden Schuldgefühlen“, so der Tenor einer Biographierezension, hier beispielhaft genannt für viele ähnliche.28 In dieser konstatierten Rätselhaftigkeit von Wittgensteins Leben und 26 „Er hatte eine Art Heimweh nach dem Vater, aber er wußte zugleich, daß sein Vater nicht mehr seine Heimat war.“ Joseph Roth, Radetzkymarsch, Berlin 1932, 371, in: Malachi Hacohen, Dilemmas of Cosmopolitanism: Karl Popper, Jewish Identity, and ‚Central European Culture‘, in: The Journal of Modern History 71, 1999, 105–149, 133. 27 Rudolf Haller in einer E-Mail vom 25.10.2002 an die Autorin. 28 Ludger Lütkehaus, Rezension in der Süddeutschen Zeitung, 8.9.2001.
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Werk scheint sein philosophisches Werk eine Strahlkraft auf sein Leben ausgeübt zu haben. Die Rede von Wittgensteins Leiden an sich selbst und an der Gesellschaft sind klischeehafte Topoi, die immer wiederkehren und nicht von ungefähr mit populären Vorstellungen von einem romantischen Künstlergenie, kein Genie ohne Leiden, korrespondieren. Hätte Wittgenstein nicht die Aura des Rätselhaften und Kryptischen, wären seine Geheimschrift und seine Geständnisse nie so ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerutscht. Wären mehrere seiner Brüder nicht freiwillig aus dem Leben gegangen und hätte er selbst nicht auf ein riesengroßes Erbe verzichtet, hätte das Familienumfeld nie diese Aufmerksamkeit bekommen. Dieser Familienkontext färbte den Blick auf ihn; wie seine ‚Rätselhaftigkeit‘ auch die Wahrnehmung der Familie beeinflusste; in der Suche nach Erklärungen. Wirft man einen Blick auf die biographischen Darstellungen Ludwig Wittgensteins, ist man leicht geneigt zu sagen, unabhängig vom Aufenthaltsort fühlte er sich überall fremd und unverstanden. Diese Typisierung zum sensiblen, der Gesellschaft entfremdeten Außenseiter mit einem schwierigen Charakter, solche Stilisierungen finden sich in den Beschreibungen von Hermine, in den Memoiren der Freunde und später auch in den Biographien über Wittgenstein. Wie Briefwechsel und Besuchsfrequenzen zeigen, stand Wittgenstein jedoch in einem intensiven Austausch mit Freunden (Männern und Frauen) und Familie. Gerade die Schilderung der Beziehung zur Schwester Hermine hilft Wittgensteins Verhältnis zu ihr, wie zu Frauen im Allgemeinen, vielfältiger darzustellen. In der gängigen Lesart ist es jeweils die Differenz zur Umgebung, die betont wird, und der Einzelne steht, gerahmt von Originalität im Vordergrund, während eine kontextualisierende Lesart nicht nur seine gesellschaftliche und intellektuelle Eingebundenheit zeigen würde: So zeigen seine autobiographischen Überlegungen in Inhalt und Form eine Nähe zu Denkern der Wiener Moderne und ihren Tagebüchern, wie auch eine Wahrnehmung moderner Autobiographietheorien im Umfeld von Bloomsbury. Mit einer isolierenden Sichtweise wurde Wittgenstein jedoch oft vom gesellschaftlichen Umfeld entkoppelt, und damit Person und Werk oft unerreichbar und unerklärlich. Wittgensteins offensive Distanzierung von akademischen Ritualen sowie jeder bloße Rückzug zum Arbeiten (ob im Försterhaus der Hochreit in Österreich, in Norwegen, Island oder Irland), wurden gerne seiner Exzentrik zugeschrieben und als Flucht vor der Gesellschaft interpretiert; sein Erbverzicht als frei gewähltes Asketendasein und als Distanzierung zu seiner wohlhabenden Familie gesehen. Seine bizarren Berufswechsel wurden oft als Konsequenz eines inneren Leidens präsentiert, als eine Suche nach Halt oder überhöht als eine Suche nach einer Umsetzung von Theorie in der Praxis, statt sie auch als Folge von lebensbiographischen Zäsuren zu zeigen, wie sie der Erste oder Zweite Weltkrieg mit sich gebracht haben bzw. seine unterschiedlichen Erfahrungen, ob als Kriegsgefangener, Volksschullehrer oder Architekt.
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Wie diese einzelnen biographischen Schritte und Lebensumstände wahrgenommen wurden, hat aber auch mit der Selbstpräsentation Ludwig Wittgensteins zu tun, seinen wiederholten Bemerkungen über sich selbst als Randexistenz, wenn er die Angst formulierte, im Wahnsinn oder im Selbstmord zu enden, und wenn er dort zum Propheten wurde, wo er versuchte das Unsagbare anzudeuten, indem er auf den religiösen Aspekt seiner Arbeit, doch jenseits des verfassten Werkes, verwies. Obwohl im Zentrum großer Verehrung oder umgeben von Freunden, fühlte er sich oft unverstanden und einsam. Auch seine Weigerung zu veröffentlichen (was die Neugier erhöhte und Kritik fast unmöglich machte) und die komplizierte Genese seines philosophischen Werkes, wie auch Wittgensteins gepflegte Aura der Distanz (nur ausgewählte Studenten zu unterrichten oder nur ausgesuchte Mitglieder des Wiener Kreises zu treffen), kann mit Erving Goffmann als eine Art von impression management gelesen werden, das seine soziale Identität (un)bewusst mit gestaltete: Ob sein häufig konstatiertes Leiden an seiner Umgebung, an der zeitgenössischen Kultur, an seiner Isolation, oder sein Verzicht 1947 auf die Professur, um mehr Zeit für sein Werk zu haben. Hier kann mit einer Theaterkritikerin provokant gefragt werden: Inwieweit hat hier „ein Mann ein Bild von sich selbst erschaffen [...] durch das ewige Reden von der genialen Idee und dem großen Werk“?29 Oder wie ‚echt‘ ist er eigentlich und mit welchen Strategien hat er sich in uns eingenistet? Hier wird in der Rezeption deutlich, Ludwig Wittgensteins Biographie ist wechselweise inszeniert: Er selbst hat zu diesen Wahrnehmungsmustern ebenso einen Beitrag geleistet wie Angehörige, Freunde, Biographen oder die Schwester Hermine. Die von ihnen vorgenommene Entkontextualisierung, Psychologisierung und Problematisierung scheint Wittgenstein oft erst zu diesem exotischen Außenseiter gemacht zu haben, als der er sich selbst wahrgenommen hat. Das Kapitel Ludwig in der Familienchronik hat manche dieser Sichtweisen maßgeblich mit initiiert. Zugleich wurde damit aber auch eine gewisse Sicht auf die Autorin festgeschrieben, da sich Hermine Wittgenstein in der Chronik vor allem in Bezug auf ihre Geschwister präsentiert. Man bekommt den Eindruck, dass das bisherige Bild von Hermine in der Wittgenstein-Literatur im Wesentlichen aus einer unkritischen und positivistischen Rezeption der Familienerinnerungen resultiert. Das zeigen ihre Selbstbeschreibungen, die häufig von Biographen einfach übernommen wurden, statt diese auf ihre charakteristischen Stilmittel und den Entstehungskontext hin zu durchleuchten. Der Wittgenstein-Biograph Ray Monk, in dessen ‚philosophical biography‘ die älteste Schwester nur eine sehr kleine Nebenrolle spielt, beschreibt sie in ihrer Naivität und übernimmt damit ihre Selbstsicht als Außensicht: Infolgedessen bezeichnet er beispielsweise ihre Beschreibung des
29 Vgl. Simone Kaempf, Die Kunst des Zehennägellackierens, http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=1974&Itemid=40 (1.1.2011).
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Weihnachtsfestes 1937 als „seltsam heiter“,30 ohne die Funktion dieser Erzählung näher zu hinterfragen. Denn wie es deutlich wurde, geht es Hermine in der Chronik oft weniger um die Beschreibung einzelner Ereignisse, als um deren Symbolcharakter. Das Weihnachtsfest, ebenso wie die Hochreit, sind zwei zentrale und bedeutungsgeladene Metaphern der Chronik. Beide sind Orte bzw. Gelegenheiten, an denen die Familie regelmäßig zusammenkommt und deshalb starke Symbole für eine ‚heile‘ Familie. Auch das Klavierspiel und die Musik werden in den Familienerinnerungen überhöht zu einem die Familie einigenden Moment und dem gemeinsamen Musizieren eine fast mythologische Dimension zugesprochen, wenn die Kammermusik als das zusammenhaltende Element zwischen den Eltern, aber auch zwischen Kindern und Eltern präsentiert wird. Das veranlasste den Biographen Waugh zu schreiben: „One by one, all eight of the Wittgenstein siblings came to realise that the best (perhaps the only) way to communicate with their mother was through music […] Since the Wittgenstein siblings were brought up both to recognise and to idolise classical composers and musical performers, and since their best means of communication with their mother was through the wordless medium of music, it is hardly surprising that each of them should have pursued music with an enthusiasm that, at times, bordered on the pathological.“31 In der übersteigerten Liebe zur Musik einen pathologisierenden Charakter der Familie erkennen zu wollen, basiert mitunter auf dem Familienbild, das Hermine in der Chronik skizziert hat. Auch in der ersten großen Biographie zu Ludwig Wittgenstein wurde betont, welche große Rolle die Musik in seinen Freundschaften wie in seiner Familie als verbindendes Element gespielt hat.32 Der Kontext war eine bildungsbürgerliche Familienbiographie, konzentriert auf die Entwicklung der einzelnen Charaktere, durch ihre Lektüre und den starken Glauben an Bücher, „ihre Moral und ihre Lehre“ zu beschreiben. Dadurch ist ein Familienbild entstanden, das maßgeblich definiert ist über eine „Reihe von Zwängen“,33 wie auch ein ziemlich statisches und traditionelles Bild von einer Familie, die sich eher im 19. Jahrhundert positioniert sieht als im Wiener Fin de Siècle, für welches sie heute oft steht. Obwohl in der Familienchronik Gustav Klimt und Josef Hoffmann erwähnt werden, die Unterstützung der Secessionisten seitens des Vaters, ebenso sein moderner und innovativer Geist in technischen Belangen, die Vorlieben Margaretes für die Moderne und Ludwigs für einen ästhetischen Funktionalismus, die von Hermine für Gustav Klimt und die französischen Impressionisten, ebenso zahllose Reisen und über die Monarchie bzw. die Republik Österreich hinausgehende Netzwerke, entsteht nicht der Eindruck einer beweglichen und progressiven Familie.
30 31 32 33
Monk, Wittgenstein, 409. Waugh, The House of Wittgenstein, 40, 41. McGuinness, Wittgenstein, 48. McGuinness, Wittgenstein, 11, 20, 408.
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Hermine Wittgenstein gilt als Zentrum dieser Familie, nachdem sie das Erbe ihres Vaters 1913 angetreten hatte: „Above all she had been the keeper of the family flame [N.I.]. She had worked hard since her father’s death to maintain his estate, standards and values and to honour his memory.“34 Sie war die engste Vertraute ihres Vaters, dementsprechend prominent ist das Chronik-Kapitel über Karl Wittgenstein. Es umfasst fast 50 Seiten, also in etwa ein Fünftel der Erinnerungen. Das ist zweifellos aussagekräftig im Hinblick auf die Dominanz der Vaterfigur, aber der Vater wird auch als Symbolfigur gezeigt für ein Erbe, das die Tochter gerne bewahren möchte, zu einem Zeitpunkt des Verfalls und der persönlichen Bedrohung. Im Zusammenhang der 1940er Jahre bekommt die Überidentifikation mit dem Vater eine zusätzliche stabilisierende Funktion. Auch wenn ihm große Bewunderung entgegengebracht wird: die Kritik an den Eltern, insbesondere am Vater, ist eine erhebliche, wenn das Schicksal der älteren Brüder und deren Selbstmord im Hinblick auf falsche Erziehungsmethoden beschrieben werden. Damit kann ein von Ursula Prokop kreiertes Bild differenziert werden, jenes von Hermine Wittgenstein als einer kritiklosen, den Vater verehrenden Tochter, die in „nahezu inzestuösen Phantasien […] ihrem Tagebuch ihre Träume und Erlebnisse mit ‚Karl dem Großen‘“ anvertraute, was dazu geführt haben könnte, dass in „ihrem Leben kein anderer Mann jemals mehr Platz finden“ sollte.35 Hermine Wittgenstein scheint sich zwar nie verliebt zu haben, zumindest wird ihr das so in der Familie nachgesagt,36 aber ob hierfür ihre ausgeprägte Vater-Beziehung verantwortlich war, ihre zwiespältige Mutter-Beziehung, ihr introvertiertes Naturell, oder aber ihre Rolle als inoffizielles Familienoberhaupt, muss offen bleiben. In der auf Karl Wittgenstein fokussierten Perspektive wird oft übersehen, dass die Zurückgenommenheit der Mutter für Hermine ebenfalls schwer zu akzeptieren war und die Rolle der Frauen in der Familie eine ansonsten durchaus starke war. Ich denke, das Urteil ‚Vatertöchterchen‘ kann durch einen kulturwissenschaftlichen Blick auf die Familienchronik, Tagebücher und Briefe revidiert werden. Hermine Wittgensteins Werturteile und ihre Selbstdarstellung sind im Detail viel selbstbewusster und emanzipatorischer, als es die Chronik im Gesamteindruck vermittelt. Das hat mit dem Genre und dessen Rhetorik, mit Erzählmodellen, aber auch mit dem harmoniebedürftigen Schreibkontext der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu tun. Insbesondere aber mit der naiven Selbstdarstellung der ältesten Schwester, wenn sie sich als eine höhere Tochter ohne klare Aufgaben und Pflichten
34 Waugh, The House of Wittgenstein, 289. 35 Prokop, Margaret Stonborough-Wittgenstein, 19. 36 Die Familie berichtet, dass Hermine die ihr entgegengebrachten Gefühle sehr ernst nahm. Als ihr vor dem Ersten Weltkrieg der Maler Viktor Krämer seine Liebe gestand, versprach sie ihm eine lebenslange Freundschaft. Ihre Familie finanzierte dem Künstler zur Ablenkung und zum Trost eine Orientreise (dort entstanden die Bilder, durch die er später berühmt wurde) und eine lebenslange Rente. Gespräch mit Pierre Stonborough im November 2004.
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präsentiert. Hermine beschreibt sich als „schweigsame“ und „weltfremde“ Person und bedient verschiedene Bescheidenheitstopoi, die ihrer Position in der Familie und ihrer Person nicht gerecht werden: Ihrer Doppelrolle in jungen Jahren als Malerin und engagierte Kunstsammlerin für ihren Vater, später als wohlhabende Großgrundbesitzerin und Gutsherrin, Eigentümerin von mehreren Liegenschaften in Wien sowie von zahlreichen Wertpapieren und Industriebeteiligungen, Kunstsammlerin und Malerin, und zugleich über siebzehn Jahre lang die Leiterin eines Kinderhorts. Was Hermine als individuelles Unvermögen zeigt, nennen andere ein Familien-Charakteristikum. Periphere familiäre Quellen beschreiben die gesamte Familie Wittgenstein als ‚inward looking‘, und betonen zugleich, welche zentrale Rolle den Frauen in der Familie zukam. Hermine hingegen betont durch den stilisierten Gegensatz zur ‚modernen‘ Schwester Margarete ihren weltabgewandten und häuslichen Charakter; eine Polarisierung, die die Biographen aufgegriffen haben. Gerade durch diese Gegenüberstellung in der Wittgenstein-Literatur ist die älteste Schwester immer noch konservativer und konventioneller gezeichnet worden. Das hat mitunter die Deutung des Verhältnisses zwischen Hermine und Ludwig als Mutter-Sohn-Verhältnis in der Literatur prolongiert und den mütterlich-dienenden und aufopfernden Charakter so in den Vordergrund gerückt. Wenn es beispielsweise in der ersten Biographie über Ludwig Wittgenstein, in der die Schwester nur einmal erwähnt ist, heißt: „Nach dem Tod der beiden Söhne wandte der Vater seine Liebe besonders der ältesten Tochter Hermine zu, die ihrerseits ihre Fürsorge ganz auf die beiden Jüngsten, Paul und Ludwig, konzentrierte. [...] Trotzdem dürfte in der damaligen relativ großen Fürsorge eine Ursache für spätere Konflikte gelegen haben, bei denen sich der junge Philosoph aus der frühen Bemutterung lösen wollte.“37 Hier wird eine zu enge und zu fürsorgliche Geschwisterbeziehung in frühen Jahren als Ursache von späteren Konflikten gesehen. Diese Lesart wurde durch die Familienchronik sicherlich mit initiiert. Hermines kritische Ansichten und ihre emanzipatorischen Handlungen, ihre modernen Ansichten über Kunst, wie ihr vielseitiges Engagement wird vom beschaulichen Stil der Familienchronik vollständig überdeckt, ebenso ihre Machtposition, die sie als Familienchronistin einnimmt. Sie überliefert die Familiengeschichte an die Nachwelt und gibt damit gleichzeitig auch eine Lesart der Ereignisse und der Charaktere vor: Für Ludwig ebenso wie für die Freitode ihrer Brüder wie für das Wesen ihrer Eltern. Hier bliebe zu fragen, ob eine mehrdeutigere Darstellung von Karl Wittgenstein, dem Generationenverhältnis und der Beziehungen der Familienmitglieder untereinander die Spielräume der einzelnen Charaktere mehr zeigen und damit das pathologische und schicksalhafte Element hätte reduzieren können. Indem sie alle ihre Brüder als selbstmordgefährdet präsentiert und die Freitode der Brüder vor allem durch die familiäre Situation erklärt, obwohl sie doch sehr unterschiedlich motiviert waren, wirft dies doch einen reduzierenden und
37 Wuchterl/Hübner, Wittgenstein, 28.
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fast pathologisierenden Blick auf Ludwig wie auf die Familie. Zugleich beschreibt sie mit dem Verlust ihrer älteren Brüder, der sie als Älteste besonders getroffen haben mag, ein persönliches Trauma, andererseits unterstreicht ihre Kritik an der ‚schwachen Natur‘ ihrer Brüder ihr gutes und identifikatorisches Verhältnis zum Vater. Das brachte ihr den Vorwurf ein, die Denkweise des Vaters internalisiert zu haben. Doch inwieweit ist ihre Argumentation nicht auch ein willkommenes Denkmodell, das gewährleistet, sich nicht mit anderen Fragen genauer beschäftigen zu müssen – wie der Homosexualität, dem Geschwisterverhältnis oder der Rolle der Mutter? Sie beschreibt eine Vaterfigur und eine Mutter, die vom Unverständnis für ihre Kinder gekennzeichnet sind, und erklärt gewissermaßen mit einer dialektischen Gegenüberstellung – starker Vater/schwache Söhne; erfolgreicher Unternehmer/künstlerisch Veranlagte – für sich selbst die Freitode ihrer Brüder. Diese Denkfigur eines Generationenkonflikts harmonisiert zugleich die Geschwister untereinander und delegiert eigenes Versagen. Diese Denkfigur reflektiert und reproduziert Stimmungen aus dem Wiener Gesellschaftsdiskurs der Jahrhundertwende, wie auch spätere gängige Diskurse über die Wiener Jahrhundertwende; Kontexte, welche die Biographen später gerne betont haben: So wurde die hohe Selbstmordrate um 1900 oft in Bezug gesehen zu dem Identitätsverlust der Fin de Siècle-Gesellschaft, zu der übersteigerten Polarisierung zwischen den erfolgreichen neuen Unternehmern und den kulturellen Anliegen ihrer Kinder, und bei der Kinder-Generation ein Werte-Vakuum und Orientierungslosigkeit diagnostiziert. Hier ist der prominente Selbstmord von Otto Weiniger ein häufig genannter Bezugspunkt, der die Freitode in der Familie Wittgenstein in ein bestimmtes Licht stellt. Das ‚Echo‘ von Weiningers Tod habe sogar dazu geführt, so Alexander Waugh, dass der älteste Sohn Hans bereits für tot erklärt wurde, obwohl dessen Verschwinden noch ungeklärt war.38 Diese Blicke auf die Wittgensteins liegen, das soll hier betont werden, nicht nur im Material selbst, sondern vor allem im Auge des Betrachters, und sind ‚gemachte‘ Kontexte. Hier ist zu fragen, inwieweit in der Familienchronik selbst bereits eine solche paradigmatische Familienkonstellation, gewissermaßen als Ersatzerzählung, nacherzählt wird, der manche Biographen „slavish in the footsteps“ (Virginia Woolf)39 folgen. Wenn ein solch einzelner Aspekt als dominantes Familien-Prinzip oder sogar als Familien-‚Fluch‘ erzählt wird, finden die vielseitigen, spielerischen und nuancierten Beziehungsformen keinen Darstellungsraum. Der biographie-analytische und psychologisierende Blick sucht die historische Erklärungskraft in einzelnen Motiven und Familienkonstellationen, und erzählt die Familienbiographie in diesem Fall von drei fatalen Ereignissen aus; und sucht dann nach Defiziten und Konflikten, um dieses Ende erklären zu können. Dieses in der Familienchronik so geschilderte familiäre Umfeld hat den sorgenvollen Blick auf Ludwig gewiss mit
38 Alexander Waugh, The House of Wittgenstein, 30. 39 Woolf, The New Biography, 475.
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beeinflusst. Doch diese Perspektive beschreibt auch die Autorin selbst sowie ihre Position als älteste Schwester, die bereits drei ihrer Brüder verloren hat, und nicht nur eine ‚unglückliche Natur‘ des Bruders. Sowohl die Elemente der Sorge und Fürsorglichkeit, als auch jene der Verehrung sagen mehr aus über die Autorin, ihr Frauenbild und ihr Verhältnis zu den Geschwistern und zu den Eltern als über die Bezeichneten selbst. Bezieht sich Hermine Wittgenstein auch zumeist auf die Familie, hat die Analyse des Textes doch gezeigt, dass der Familienchronik maßgeblich auch persönliche Motive zu Grunde liegen: ihre Entscheidung, nach 1938 in Österreich geblieben zu sein, zu legitimieren und ein Familiengedächtnis zu schaffen, das die Auflösungstendenzen der Familie in einen beschworenen Rahmen integriert. Wenn eines der Hauptmotive der Chronik ist, Stabilität zu garantieren und zu generieren, entspricht es einer gewissen Logik des Exzeptionellen und des Gegenentwurfs, wenn Ludwig als personifizierte Instabilität präsentiert wird. Gerade dieses „Sondermodell Ludwig“40 kann eine zentrale und wichtige Rolle gehabt haben bei der sozialen und historischen Neu-Verortung der Familie, die ihren außerordentlichen Status weitgehend verloren hatte. Hatte die Familie nach dem Ersten Weltkrieg ihre Position unter den führenden Industriellenfamilien Österreichs weitgehend eingebüßt, konzentrierte sie sich nun unter ‚gewöhnlich‘ gewordenen Umständen auf den ‚außerordentlichen‘ Bruder. Dieser bekommt somit eine zentrale Rolle bei der sozialen Neupositionierung der Familie. Mit Ludwig konnte der Familienmythos, den sein Vater Karl begründet hatte, verlängert und aktualisiert werden. Auch in dieser Hinsicht sind die Familienerinnerungen nicht nur ein Beitrag zu einer Konservierung von Vergangenheit, sondern auch für die unmittelbaren Bedürfnisse der Gegenwart geschrieben. Das bedrohliche Umfeld der 1940er Jahre und das Genre Familienchronik haben die Darstellung der Familiengeschichte inhaltlich und formal wesentlich mitgeformt. Es wäre zu kurzsichtig, wegen des beschriebenen intentionalen und fiktionalen Charakters die Familienerinnerungen als unzuverlässige Quelle oder autobiographische „Legende“ zu disqualifizieren. In dieser Bewertung folgen manche Biographen den Meinungen mancher Familienmitglieder, ohne jedoch die Kurzschlüsse dieser Interpretation zu sehen. Wenn es bei Alexander Waugh heißt: „Her unpublished memoir [...] portrays the Wittgenstein’s in a fairy-tale aspect and reveals her to have been fonder and prouder of her uncles and aunts than of most of her siblings or even her mother. Only Ludwig and Gretl are honoured in this work. Hans, Rudi, Kurt, Helene and Paul are dismissed with a few words.“41 Es ging der Autorin zwar um ein Familienporträt, aber die Rolle als Familienchronistin konnte auch Entlastung und Erleichterung schaffen, indem die Entscheidung im Jahr 1938 erklärt und gerechtfertigt wird. Damit erklären sich manche der Lücken, auch das Hervorheben eines einflussreichen Familiennetzes, das
40 Ich danke Rudolf Haller für diesen Begriff. 41 Waugh, The House of Wittgenstein, 289.
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Rückhalt gewährte, und es ist bezeichnend, dass sich die Beschreibungen des Bruders Paul, wie auch die von Schwester Helene, die sich mit der Position Hermines solidarisierte, innerhalb des Kapitels über die Ereignisse von 1938 befinden. Wird Paul als jemand beschrieben, der rigide seinen eigenen Interessen nachgeht, so wird Ludwig als der Kommunikator in der Familie dargestellt, der jederzeit hilfsbereit war und der für die Familie im Konflikt von 1938 vermittelt hat; das stellt ihn auf die Seite der Schwester. Andererseits entspricht es dem Charakter des Genres Familienchronik, konfliktbeladene oder bedrohliche Erlebnisse eher auszublenden oder solche Brüche in einem integrativen Rahmen zu präsentieren. Dabei helfen die klassischen Mechanismen von Inklusion und Exklusion Gruppengeist zu schaffen. Die gewählten Erzählmodelle, ob die Stabilitätserzählung einer Wir-Erzählung oder einer Generationen-Erfahrung, beeinflussen die Gestalt des Textes. Auch zeigt sich hier einmal mehr die historische Herkunft und Funktion des Genres; war es doch einst ein wichtiges Instrument gewesen, zur Verinnerlichung eines bürgerlichen Wertekanons und auch zur Herstellung von Kontinuitäten angesichts der gesellschaftlichen Verlust-Erfahrungen Ende des 19. Jahrhunderts. Dies ist auch in der Wittgenstein’schen Chronik zu spüren. Gerade der Blick auf diese diversen Funktionen des Textes ermöglicht es, einen neuen Blick auf Hermine Wittgenstein und die Familienchronik zu werfen, und zu zeigen, wo gewisse dominante Erzählmuster, oder besser gesagt Legenden, über Ludwig Wittgenstein, seine Schwester Hermine und die Familie mit ihren Ursprung nehmen. Solche Legenden sind, wie der quellenkritische Blick gezeigt hat, nicht unbedingt willentlich verfasst, sondern von der Wahl des Genres, von gesellschaftlichen Erwartungen und Umfeldern, sowie von autobiographischen und biographischen Darstellungsmustern mitgeformt, die Selbstreflexion und Selbstdarstellung zugleich sind. Ludwig und Hermine Wittgenstein erlebten und inszenierten sich in ihren autobiographischen Texten nach biographischen Leitmotiven ihrer Zeit. Diese soziale Inszenierung des Autobiographischen wurde verdeutlicht, ebenso inwieweit Biographiemodelle die Konsequenz eines spezifischen Kontextes und Erkenntnisinteresses sind. So hat jede Zeit ihren Ludwig Wittgenstein, sobald sie in seinen Problemen die eigenen entdeckt. Deshalb ist weniger zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Interpretationen zu unterscheiden als deren Entstehungszusammenhänge sichtbar zu machen. Denn Neuinterpretationen von Werk und Person spiegeln stets bis zu einem gewissen Maße den Deutungshorizont einer jeweiligen Epoche wider: Irritierende Aspekte der 1970er Jahre, wie intime Details, sind heute nur mehr Aperçus, der Fokus auf ‚Wien um 1900‘ verliert sich im Zusammenhang zentraleuropäischer Interessen und was in den frühen 1980er Jahren noch im Nachwort erwähnt wurde, Wittgensteins jüdische Herkunft, ist seit den 1990er Jahren so dominant, dass McGuinness in diesem Zusammenhang von zeithistorisch bedingten „attractive readings“ spricht. Die jüngere Lesart einer Kohärenz zwischen Werk und Leben hat einen ethischen und mo-
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ralischen Rigorismus ins Bild gerückt, sowie diverse Authentizitätsdiskurse, und damit auch Spielerisches und Widersprüchliches eher in den Hintergrund gerückt. Während aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gerade die Widersprüche und der Entstehungsprozess von Biographien (‚the making of‘) interessieren, wie Selbstbilder und Fremdbilder entstehen und sich gegenseitig beeinflussen. Ob die Leseanweisung lautet the duty of genius (Ray Monk) oder a family at war (Alexander Waugh), es liegen den jeweiligen Biographien unterschiedliche und ausgeprägte Biographiemodelle und Menschenbilder zu Grunde, mit jeweils anderen Grenzen der Erklärungskraft. Die Konfrontation dieser verschiedenen Ansätze zeigt etwas über die Genese des biographischen Arbeitens. Damit wollte diese Arbeit das Entstehen von verführerischen Lesarten zeigen und alternative Lesweisen anbieten.
Bibliographie
P RIMÄRLITERATUR Zur Zitierweise: Da es mir wichtig ist zu verdeutlichen, wo es sich um Zitate aus Primärquellen (Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, Manuskripte) handelt, sind jene Quellenverweise mit einem Kürzel im Lauftext genannt. Aufgrund unterschiedlichster Editionspraktiken werden keinerlei Hervorhebungen (Unterstreichung, Kursivsetzungen etc.) wiedergegeben, da solche Hervorhebungen vor allem im grösseren Originalzusamenhang sinnvoll sind. Es gibt vielfältige Editionen von Wittgensteins Werk. Da mir für einen chronologischen Überblick der Zeitpunkt der Bemerkungen stets wichtiger ist, als wo sie im nachhinein ediert wurden, sind viele Zitate nach der Bergen Electronic Edition (BEE) zitiert, auch wenn sie bereits an anderer Stelle publiziert wurden. Bemerkungen, die ediert wurden, werden nach der Werkedition bei Suhrkamp oder der Wiener Ausgabe zitiert, solche, die nicht publiziert sind bzw. einem uneinheitlichen eigenen Zitiersystem folgen wie z.B. die ‚Philosophischen Betrachtungen‘, werden auch nach der BEE zitiert. Dabei wird stets Datum und das Manuskript angegeben, um auch in einer anderen Edition die Bemerkung finden zu können. Wittgensteins Nachlass, ebenso wie zahlreiche Briefwechsel und Memoiren sind auch über eine elektronische Datenbank der Firma InteLex abzufragen und an diversen Universitäten und Institutionen zugänglich (u.a. ÖNB, Brenner Archiv, Wittgenstein Archiv Bergen); das Werk selbst ist u.a. als Bergen Text Edition im Internet zugänglich. TR, Wittgenstein, Ludwig: Tractatus-logico-philosophicus, Werkausgabe 1, Frankfurt/M. 1984. PU, Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe 1, Frankfurt/M. 1984. ÜG, Wittgenstein, Ludwig: Über Gewissheit, Werkausgabe 8, Frankfurt/M. 1990. WA, Wittgenstein, Ludwig: Wiener Ausgabe, 1–8, hg. v. Michael Nedo, Wien-New York 1994–2004.
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B IBLIOGRAPHIE
WStLaAr, Wiener Stadt- und Landesarchiv – MA 8 Wittgen-Cam, Wittgenstein Archive Cambridge Wittgen-Bergen, Wittgenstein Archive Bergen
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Bildnachweise
Abbildung 1: Photo-Collage von Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein Archive, Cambridge) Abbildung 2: Text- und Werkgenese bei Wittgenstein, Schema der ‚Wiener Ausgabe‘ (Wittgenstein Archive, Cambridge) Abbildung 3: Autobiographische Skizze von Ludwig Wittgenstein, ca. 1920–1930 (Brian McGuinness) Abbildung 4: Photo-Collage von Hermine Wittgenstein (Wittgenstein Archive, Cambridge; Pierre Stonborough) Abbildung 5: Sommersitz Hochreit (Wittgenstein Archive, Cambridge) Abbildung 6: Ahnentafel der Familie Wittgenstein, 1938 (Österreichische Nationalbibliothek) Abbildung 7: Abstammungsnachweis (Österreichische Nationalbibliothek) Abbildung 8: Hermine Wittgenstein und ihre Eltern auf der Hochreit, 1909 (Wittgenstein Archive, Cambridge) Abbildung 9: Auszüge aus den unterschiedlichen Memoranden, 1939 (Pierre Stonborough) Abbildung 10: Hermine Wittgenstein vor ihrem Kindertagesheim in Grinzing (Wittgenstein Archive, Cambridge) Abbildung 11: Tagebuch von Hermine Wittgenstein (1916 – ca. 1939) (Pierre Stonborough) Abbildung 12: Wittgenstein-Haus in der Kundmanngasse, 1929 (Wittgenstein Archive, Cambridge) Abbildung 13: Tagebuch von Hermine Wittgenstein (1916 – ca. 1939) (Pierre Stonborough) Abbildung 14: Tagebuch von Hermine Wittgenstein (1916 – ca. 1939) (Pierre Stonborough)
30
53 69
180 183 221 223 231 251 265 329 335 339 343
Index
N AMENSREGISTER Alber, Martin 130 Alt, Rudolf von 257, 284 Ambrose, Alice 88, 92, 117, 123f., 161f. Anscombe, Elizabeth 38, 52, 162 Anzengruber, Ludwig 149 Arndt, Ernst M. 187 Assmann, Aleida 19, 191, 231, 275, 320 Assmann, Jan 19, 76, 274, 292 Augustinus 59, 88, 98, 116, 133, 150 Ayer, Alfred J. 123 Bachmann, Ingeborg 10f. Bachtin, Michail 121 Bachtin, Nicholas 121 Bahr, Hermann 97 Baker, Gordon P. 147 Barea, Ilse 46 Bartley, William W III 40, 42–44, 64, 78 Baugh, Bruce 146, 153 Baum, Wilhelm 43, 78f. Baumayer, Marie 214, 327 Beethoven, Ludwig van 129 Bell, Clive 157 Bell, Julian 157 Beller, Steven 46f., 49 Benjamin, Walter 96 Bergson, Henry 187 Bernhard, Thomas 9f., 323f. Bismarck, Otto von 118, 187, 209 Bloomsbury 57, 80, 98f., 101, 157f., 351 Blumenberg, Hans 79 Bohrer, Karl Heinz 138 Boltzmann, Ludwig 145 Bonitz, Hermann 195
Bourdieu, Pierre 26, 145, 150, 174, 284, 291, 297, 346 Bouwsma, Oets Kolk 117f. Brahms, Johannes 150, 195, 220, 240, 257 Braithwaite, Richard 157 Brix, Emil 46, 49 Broch, Hermann 46 Brouwer, Luitzen Egbertus Jan 107, 148 Browning, Elizabeth Barrett 101 Brücke, Ernst von 195, 224, 259 Brücke, Familie 253 Brücke, Theodor von 195 Bruckner, Anton 112 Bruner, Jerome 25, 190, 294 Bude, Heinz 150, 277 Bühler, Charlotte 45 Burke, Peter 19 Cassirer, Ernst 125 Cavell, Stanley 173 Chodorows, Nancy 291 Conant, James 51, 56f., 173 Connerton, Paul 276 Coxeter, H. M. S. 124 Cromwell, Oliver 118 Csáky, Moritz 112 Dahn, Felix 187 Daniel, Ute 281 Darwin, Charles 76 Derrida, Jacques 26, 125, 130, 282 Dilthey, Wilhelm 22, 187 Diner, Dan 23 Dostojewski, Fjodor 33, 37, 74, 117, 118, 121, 215, 330, 342 Draegni, Arne 87
386 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Drobil, Michael 35, 86, 262 Drury, Maurice O’Connor 85, 92, 108, 110, 127 Eagleton, Terry 58, 60, 123, 141, 333 Eccles, William 240 Elisabeth I., Königin von England 98, 100 Eng, Peter 103 Engelmann, Paul 34, 40, 81f., 85–87, 94, 103–105, 111, 114, 182, 202, 230, 263, 331, 336, 339 Ephrussi, Familie 224 Epstein, Hermann 218 Erdheim, Mario 278 Eybl, Franz 194 Feldman, Carol 184, 189, 344 Ferrara, Maurizio 138 Ficker, Ludwig von 40, 74, 83f., 152, 240 Figdor, Albert 227 Figdor, Familie 255 Figdor, Fanny 194, 224–227, 245 Figdor, Gustav 194 Figdor, Wilhelm 194, 304 Fillunger, Marie 200, 240 Fitzgerald, Michael 162 Fleck, Ludwig 130, 153 Foucault, Michel 41, 89, 167, 171, 223, 291, 305 Frazer, James George 82, 125–129 Freadman, Richard 61, 141 Frege, Gottlob 32, 34, 82, 107, 145 Freud, Sigmund 43, 64, 95, 99, 187, 202, 242, 277, 321 Freytag, Gustav 230 Frisby, David 134 Gadamer, Hans-Georg 110, 144 Galton, Francis 125–127 Gaugusch, Georg 220 Gay, Peter 188, 283 Gebhardt, Miriam 186, 188, 271, 288 Geertz, Clifford 128, 139 Gellner, Ernest 47, 113f. Genette, Gérard 145, 167 Gergen, Kenneth J. 286f. Gilman, Sander 47 Glöckel, Otto 45 Goethe, Johann Wolfgang von 110, 215, 276, 301, 303 Goffman, Erving 140, 151, 352 Goldmark, Karl 195 Gombrich, Ernst 49, 275, 304
Gomperz, Familie 224 Goodstein, Reuben Louis 124 Goya, Francisco 261 Graf, Georg 318 Grene, Marjorie 169 Grillparzer, Franz 110, 112, 194, 218, 227, 284, 329 Groller, Anton 36, 208, 210 Hacker, Peter 113 Halbwachs, Maurice 18f., 24, 181, 272–274, 296, 299 Hall, Stuart 23 Haller, Rudolf 44, 47, 112, 350, 357 Hänsel, Ludwig 57, 66, 82, 85–88, 96, 111, 148, 172, 256 Hayek, Friedrich 39, 79, 159 Hebbel, Friedrich 195, 224, 255, 284 Heidegger, Martin 153 Herrmann, Rosalie 183, 194, 210, 214, 240 Hertz, Heinrich 145 Heyse, Paul 187 Hide, Østein 135 Hintikka, Jaakko 173 Hitler, Adolf 49f., 132, 204, 272, 275, 342 Hochstetter, Familie 255 Hoffmann, Josef 228f., 232, 263, 353 Hofmannsthal, Hugo von 95 Hohenberger, Franz 182, 203 Holdenried, Michaela 290, 301 Hrachovec, Herbert 54 Hübner, Adolf 39f., 165, 235 Husserl, Edmund 153 Hutt, Rowland 85 Ibsen, Henrik 163 Indra, Alfred 249 James, William 74, 82 Janik, Allan 45f., 64, 147, 261 Jarman, Derek 43, 58 Jarvis, Simon 16 Jelinek, Estelle C. 287 Jewell, Ralph 52 Joachim, Joseph 194, 227, 312 Johnston, William M. 44, 46 Jolles, Adele 65, 85, 160 Kafka, Franz 95 Kallmus, Jakob 227, 245 Kallmus, Marie 240 Kann, Robert 46
I NDEX
Keller, Gottfried 72, 94, 110, 145 Kestranek, Wilhelm 288 Keupp, Heiner 298f. Keynes, John Maynard 100, 109, 158, 160 Kierkegaard, Sören 59, 79, 150, 164, 215, 338, 342 Klagge, James 11, 164 Klimt, Gustav 35, 228f., 261, 313, 353 Klinger, Max 197 Koder, Rudolf 39, 71, 111, 148, 172, 215, 254, 256, 260 Kracauer, Siegfried 74, 134, 276 Krämer, Sybille 138, 141 Kraus, Karl 95, 97, 102, 145, 152, 154, 225, 242, 328 Kreisel, Georg 111, 136, 152 Kristeva, Julia 125 Kubat, Wilhelmine 182, 264 Kügelgen, Wilhelm v. 187, 215 Kuhn, Thomas 46 Kupelwieser, Bertha 209, 266 Kupelwieser, Familie 257 Kupelwieser, Karl 209 Kupelwieser, Paul 18, 214, 217, 232, 258 Kürnberger, Ferdinand 147 Labor, Josef 112, 254, 257 Landerer, Christoph 129f. Laxenburg 209, 218 Lazerowitz, Morris 162 Le Rider, Jacques 94f. Lecher, Helene 160, 203, 213, 264 Lee, Desmond 285 Leinfellner, Elisabeth 11, 59, 63, 156 Leitner, Baronin 182, 203 Leitner, Bernhard 333f. Lejeune, Philippe 71, 137f., 143f., 167 Lenau, Nikolaus 112 Lethen, Helmuth 170, 172 Lichtenberg, Georg Christoph 97 Liebau, Eckart 17 Littrow, Karl Ludwig von 195, 224 Loos, Adolf 145, 152, 228, 334, 336 Lopokova, Lydia 158, 160 Lowenthal, David 258 Lunardi, Vicenzo 98 Lurie, Yuval 48 Luther, Martin 59 Lyotard, Jean-François 20, 26, 47 Lytton Strachey, Giles 98–101
| 387
Mach, Ernst 127, 130, 186, 333 Macho, Thomas 57, 96f., 128, 143, 150, 154 Mahler, Gustav 142, 150, 257 Malcolm, Norman 40, 108, 111, 132, 146f., 152, 164, 175 Malinowski, Bronislaw 128 Mannheim, Karl 125 Masterman, Margaret 124 McGuinness, Brian 40, 48f., 60, 62, 64, 68f., 95, 103, 107, 141, 147, 153f., 171, 220, 243, 321 McLuhan, Marshall 168, 345 Mead, Margaret 128 Meier, Moses 220, 226 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 194 Menger, Karl 103, 231 Mestrovic, Ivan 197 Methlagl, Walter 152 Metternich, Klemens Wenzel v. 194 Mildner, Frl. 182, 203f. Miron, Guy 17, 244 Misch, Georg 187 Mitscherlich, Margarethe 276 Monk, Ray 40, 43, 48, 55f., 58, 61– 64, 88, 98, 107, 153f., 163, 226, 352 Moore, Dorothy 162 Moore, Georg Edward 80–82, 84f., 87, 106, 118, 123, 157 Moorehead, Caroline 157 Morrell, Ottoline 327 Moscovici, Bassia 243 Mozart, Wolfgang Amadeus 129 Munz, Regine 72–75, 96, 147 Musil, Robert 45, 95–97, 153, 263 Muxel, Anne 303 Nedo, Michael 40, 52, 125, 147, 173, 216, 220 Nestroy, Johann 122, 147 Neto, Norberto Abreu e Silva 89 Neurath, Otto 126 Nieli, Russell 48 Nietzsche, Friedrich 125, 223, 338, 341f. Nohl, Berta 213 Nohl, Hermann 214 Nohl-Oser, Familie 18 Nora, Pierre 20 Nordmann, Alfred 77f., 89, 93, 174 Nyíri, Kristóf János 47, 147, 328 Ogden, Charles Kay 40, 65 Opitz, Alfred 141, 169
388 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Oser, Familie 217, 219, 240, 255– 257, 263, 266, 303 Oser, Johann Nepomuk 214 Oxaal, Ivar 163 Parin, Paul 294 Partridge, Frances 158f. Partridge, Ralph 159 Pascal, Fania 10, 85, 87, 159, 168 Passerini, Luisa 24 Pattison, Gilbert 88 Pauli, Hedwig 249 Pepys, Samuel 72, 94, 145 Phillips, Dewi Zephaniah 55 Pichler, Alois 52, 83f., 89, 121, 124, 165f. Pinsent, David Hume 40, 143 Plato 88 Plessner, Helmuth 141, 170f. Polkinghorn, David 282 Popper, Karl 137, 175 Prokop, Ursula 262, 334, 354 Proust, Marcel 96 Radax, Ferry 40 Ramsey, Frank 109, 119, 123, 148f., 158f. Ramsey, Lettice 159f. Ranchetti, Michele 40 Raulff, Ulrich 99 Ravel, Maurice 243 Rebni, Anna 87, 160 Redpath, Theodore 40 Reitz, Edgar 217 Renan, Ernest 114 Respinger, Marguerite 18, 77, 106, 152, 154–156, 159, 217, 239 Reuter, Fritz 182 Rhees, Rush 38, 43, 48, 85, 87, 89, 102, 114f., 153, 164, 168, 324 Richards, Ben 213 Ricœur, Paul 26, 281 Ripley, Joan 18, 155, 158, 217, 234, 239, 241, 243f., 247f., 253, 285, 306, 311, 313, 316f., 330 Ritschl, Dietrich 294 Robertson, Ritchie 47 Rodin, Auguste 197 Rorty, Richard 26 Rousseau, Jean-Jacques 120 Russell, Bertrand 32, 34, 37, 62, 75f., 79, 81f., 84, 98, 106f., 114, 120, 145, 149, 152, 157, 164, 168, 176, 327, 328
Said, Edward 212 Salzer, Familie 255 Salzer, Felix 182, 250, 260f. Salzer, Johanna 249 Salzer, Max 80, 260 Sartre, Jean Paul 153f. Sass, Louis 162 Schalkwyk, David 134 Schanya, Hilde 158, 243, 285 Schilpp, Arthur 118 Schläger, Jürgen 301 Schlick, Moritz 103, 105, 119, 130, 148, 242, 272 Schöne, Hans 249 Schopenhauer, Arthur 59, 120, 145, 150, 342 Schorske, Carl 43f., 46 Schulte, Joachim 80, 82, 143 Schumann, Clara 215, 257 Schumann, Robert 110, 145 Schuschnigg, Kurt 204, 272 Seekircher, Monika 54, 83–85 Segantini, Giovanni 197, 262 Sekler, Eduard 232 Sennett, Richard 43, 138f., 300 Seyß-Inquart, Richard 202 Shusterman, Richard 56, 141 Siebert, Franziska 249 Sieder, Reinhard 211, 298 Simmel, Georg 96, 107, 125, 134 Singer, Lea 324 Singer, William Henry 163 Sjögren, Andreas 311 Sjögren, Arvid 161, 205, 208, 245 Sjögren, Cecilia 228, 262, 312–315, 319 Sjögren, Clara 182f., 261, 312 Sjögren, Familie 311, 318 Sjögren, Talla 156 Skinner, Francis 85, 124 Sloterdijk, Peter 74, 276, 283, 295, 300 Sokrates 88 Somavilla, Ilse 12, 77, 80, 173 Somers, Margaret S. 282 Spengler, Oswald 111, 126f., 130, 145 Sraffa, Piero 107, 145, 148 Stallner, Marie 227 Stephen, Leslie 99 Stephen, Vanessa 157 Stern, David 49f., 62, 141, 147, 154 Stifter, Adalbert 255 Stockert, Familie 311, 319 Stockert, Franz 318
I NDEX
Stockert, Marie 182f., 194, 210, 214, 260f., 273, 344 Stockert, Stephan 237, 311, 315f., 319 Stonborough, Jerome 202, 242 Stonborough, John 43, 182, 248–250, 261, 313, 318, 320 Stonborough, Pierre 18, 311, 313– 316, 318 Stonborough, Thomas 39, 156, 182, 261, 309, 313, 320 Stonborough-Wittgenstein, Margarethe 18, 34f., 37, 39, 43, 67, 72, 87, 103f., 156, 159, 169, 194, 198, 202, 205–207, 212, 217, 223, 227, 229, 230f., 237f., 240– 243, 247–249, 253, 256, 258–260, 262, 266–269, 289, 291f., 311, 313–315, 320f., 323, 328, 333, 335, 343, 349, 353, 355 Strindberg, August 163 Szabados, Béla 48, 55, 115f., 131– 133, 136, 153 Taylor, Charles 26, 131, 138 Timms, Edward 47 Todesco, Familie 224 Tolstoi, Leo 33, 37, 59, 74–76, 79f., 88, 121, 146, 150, 215, 330, 339, 341f. Toulmin, Stephen 45f., 64, 96, 147, 261 Trakl, Georg 45, 152 Trilling, Lionel 138 Viktoria, Königin von England 98, 100 Voisine, Jacques 167, 171 Volkov, Shulamit 188 Vorst, Claudia 190f. Vossenkuhl, Wilhelm 56, 125 Waismann, Friedrich 92, 105f. Waldheim, Kurt 47 Wassermann, Gerhard 48 Waugh, Alexander 235, 337, 353f., 356f., 359 Weiberg, Anja 129 Weininger, Otto 48, 61, 79, 102, 104f., 114–116, 145, 150, 154– 157, 162f., 342, 356 Welsch, Wolfgang 47, 122, 128 Welzer, Harald 19, 308 Wertheimstein, Familie 224 Wessel, Eduard 224
| 389
White, Hayden 26 Whitebrook, Maureen 188 Wieck, Friedrich 195 Wiggershaus, Rolf 56 Wilhelm II., deutscher Kaiser 163 Wilson, Colin 42 Windholz, Sascha 63 Wistrich, Robert S. 47 Wittgenstein, Anna 209 Wittgenstein, Clara 103, 209, 231, 240, 255, 267, 283 Wittgenstein, Hans 194, 200, 233– 238, 356f. Wittgenstein, Helene, verh. Salzer 36, 59, 80, 82, 142, 158, 194, 202, 210, 212, 214, 237, 248f., 259– 261, 266f., 273, 291, 311f., 315– 318, 335, 344, 357 Wittgenstein, Hermann Christian 181, 193–195, 206, 218f., 223– 226, 245, 285, 304 Wittgenstein, Josephine, verh. Oser 195, 214, 220, 240, 288 Wittgenstein, Karl 10, 158, 182, 194f., 197, 214, 218–220, 225f., 228, 232, 235f., 245, 256, 266, 285, 288f., 295, 304, 312–314, 320f., 328, 354f., 357 Wittgenstein, Kurt 194, 200f., 233– 235, 237, 357 Wittgenstein, Leopoldine 194, 196, 210, 227, 245 Wittgenstein, Ludwig (Wittgensteins Neffe) 10 Wittgenstein, Lydia, verh. Oser 213, 249 Wittgenstein, Milly 195, 220, 227 Wittgenstein, Paul 18, 31, 34, 65, 67, 103, 155, 158, 194, 200f., 205– 208, 212, 235, 237, 239, 242–250, 253–256, 259, 269, 273, 285, 298, 300, 304, 306, 315–317, 346, 355, 357 Wittgenstein, Paul (Neffe von Ludwig) 10 Wittgenstein, Paul (Onkel von Ludwig) 209, 229 Wittgenstein, Rudolf 67, 156, 194, 233–237, 357 Wollheim, Oskar 103, 229, 260 Woolf, Virginia 98–101, 157, 356 Wright, Georg Henrik v. 38, 40, 48, 52, 55, 57f., 110f., 147 Wuchterl, Kurt 39f., 235 Wünsche, Konrad 46
390 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Zastrow, Jochen 103, 260 Zastrow, Wedigo von 229 Zilsel, Edgar 150
Zweig, Fritz 103 Zweig, Max 103 Zweig, Stefan 272
S ACHREGISTER Alleegasse 87, 182f., 202, 218, 243, 260, 268, 286, 288, 305, 325 Allgemeiner Entschädigungsfonds 250, 317 Amerika, Vereinigte Staaten von 162, 195f., 202, 207, 212, 225, 232f., 235, 243, 247, 259, 268, 288f., 306, 315 Anschluss, der (Österreichs an das Deutsche Reich) 36, 101, 106, 109, 120, 152, 182, 205, 213, 220, 224, 243–247, 258, 266, 274, 277, 282, 289, 298, 301, 304, 315, 325, 346, 348, 357 Antisemitismus 48, 55, 95, 103, 105, 111, 154, 177, 220, 227, 229f., 242, 271, 272 Apostles 57, 98, 157 Arisierung 67, 102–104, 106, 154, 182, 205f., 216, 220, 223, 227, 247, 274, 304f. Aristotelian Society 106 Assimilation 50, 103f., 182, 224, 226–228, 245, 275, 301, 304 Authentizität 54, 62, 91, 102, 114, 120, 136, 138–142, 146, 153, 169f., 172, 244, 348 Autobiographische Pakt 137, 143f., 146 Beichte/Geständnis 16, 25, 38, 59, 68f., 75, 85–90, 93, 101, 114–116, 133, 143, 149, 165–172, 177, 344– 346, 351 Berlin 12, 22f., 32, 36, 68, 71f., 85, 105, 139, 155f., 160, 206, 208, 214, 220, 230, 233, 239, 245, 247, 249, 272, 300, 304, 319, 325, 346, 350 Brown Book 52, 128, 162 Cambridge 10f., 14, 32f., 36, 39, 41f., 45, 50, 57, 77, 88f., 93, 100, 105, 107–109, 111, 113, 115, 119–124, 131, 137, 145, 149, 152, 156f., 159, 162, 325, 327f., 331, 346, 349 Christentum 338, 340f.
Emigration 95, 103, 202, 244, 247, 249, 253f., 298, 304, 306, 316, 318 Entschädigung/Restitution 23, 250, 317–319 Erster Weltkrieg 32, 34, 38, 40, 71– 74, 81, 93, 99, 101, 105, 119, 147, 182, 187, 200–202, 210, 233, 242, 262f., 276, 292, 327, 331f., 346, 351, 357 Ethik 42, 45, 61, 74, 80, 84, 95, 106, 126, 157, 173, 334, 338, 342 Familienähnlichkeiten 57, 95, 125– 130, 133, 145, 158, 345, 366 Fin de Siècle/Wiener Moderne 20, 43–47, 49, 64, 94f., 101, 145, 147, 152–155, 166, 178, 229, 235f., 263, 351, 353, 356 Gedächtnis 10, 13, 18–20, 23f., 45, 73, 102, 115–117, 149, 181, 184, 186, 188, 191, 231, 253, 271–276, 292, 295f., 299, 303, 307f., 318, 321f., 326, 344 Geheimschrift 16, 38, 43f., 78–80, 82, 85, 93, 135, 165–169, 345, 351 Gender 26, 154, 158, 161, 199, 263, 266–269, 286–291, 305f., 312, 346, 355 Genealogie 185, 188, 190f., 216, 220, 224, 305f., 320 Genie 10, 41, 57, 61, 84, 101, 149– 155, 236, 324, 350f. Gmunden 165, 198, 201f., 212, 260, 285, 320, 336 Gohlis 194, 288 Habitus 59, 71, 136, 150, 297, 320 Habsburger Monarchie 10, 289, 301, 304 Heimat 45, 107f., 111, 114, 163, 191, 202, 217, 242f., 246, 250, 254, 259, 278, 300, 316, 350 Heretics 106, 126 Herkunft (Familien-) 17, 41, 65, 101, 218–220, 224, 227, 231, 245,
I NDEX
256f., 274, 290, 304–306, 319, 331, 346f. Hochreit 86, 162f., 182f., 194, 196, 198, 201f., 207, 210, 212, 214, 218, 232, 245, 260f., 263, 268, 283, 285f., 288, 294, 315f., 319, 322, 325, 331, 336, 351, 353 Homosexualität 41–43, 79, 99, 154, 156f., 233, 236f., 356 Identität 15, 20, 22f., 25, 44–50, 73f., 92–95, 107, 112–114, 144f., 150f., 163, 187f., 224, 244, 257, 281f., 287, 290, 293, 295, 297, 299, 304– 308, 321, 346f., 349f., 352 Italien 33, 35, 200, 233, 243 Judentum 15, 47–50, 101–106, 114, 129, 153–155, 157, 163, 166, 168, 177, 186, 193, 201, 206, 208, 219f., 223–231, 244f., 271, 274, 289, 304f., 346 Jugoslawien 195, 207, 245 Kindertagesheim, Grinzing 182, 203– 205, 213, 263, 264, 267–269, 273, 284, 294, 325, 339 Kuba 243 Lebensform 31, 57f., 122, 129, 138, 176 Linz 31, 49, 68, 182, 325 London 194 Manchester 107, Misogynie 41, 55, 154–164 327 Moral 39, 43, 48, 61, 65, 73, 79f., 83, 86, 93–95, 99, 105, 138f., 141, 152, 159, 174, 215, 244, 253, 298, 328, 330, 333, 338, 347, 350, 353 Moral Science Club 137 Mythen 10–16, 26f., 63, 143, 149f., 153, 159, 164f., 168, 170, 218, 220, 227, 230, 313, 320, 324, 330, 334, 350f., 357f. Nachlass 16, 38f., 43f., 52, 66f., 71, 77f., 84, 97, 105, 134, 148, 160, 162, 165, 168, 172, 195, 250, 261, 269, 309, 314, 341, 349 Narration 16, 20–25, 61, 74, 121, 133, 136f., 139, 140, 144, 149, 175, 188–190, 211, 217f., 231, 258, 269, 276, 279, 281–305, 307,
| 391
309, 333, 344f., 348–350, 353, 358 Nationalsozialismus 20, 22, 24f., 181, 185, 204, 211, 216, 239, 242, 247f., 250, 258, 272, 286, 317, 321 Neues Wiener Konservatorium 206, 242 Neuwaldegg 250, 263, 268, 288, 317 New York 20, 23f., 36, 40, 41, 47, 55, 61, 117, 120, 163, 184, 188, 193, 208, 212, 242f., 247f., 250, 253, 259, 283f., 306, 349, 372 Norwegen 9, 32, 37, 77, 84, 87f., 106, 143, 154, 160, 162f., 335, 346, 351 Nürnberger Gesetze 50, 205, 224, 244f. Otterthal 33, 94, 109 Performanz 64, 84, 136, 139f., 141– 143, 151, 166f., 169–172, 239, 278, 322, 345, 351f. Philosophischen Untersuchungen 44, 52, 57f., 88f., 92, 106, 110, 113, 120–124, 133, 135, 147f., 164, 172 Prag 227, 258, 288 Reichsbank, Deutsche 249 Reichsfluchtsteuer 207, 250 Reichsstelle für Sippenforschung 185, 220 Religion 48, 50, 57, 59–61, 68, 74, 76, 81, 85, 94, 105, 111, 126f., 149f., 159, 161, 173, 195, 210f., 226, 230, 269, 271, 338f., 342f. Rolle(nspiel) 27, 62, 112, 153, 159, 170–172, 181, 214, 240f., 266, 269, 290, 292–294, 305, 323, 331, 337, 346, 352, 354f., 357 Russland 111, 114, 121, 159, 202 Schweiz 202, 243, 246, 316, 318f. Secession 40, 125, 197, 228f., 261, 284, 308 Selbstmord 68, 79, 103, 156, 233– 237, 242, 313, 352, 354–356 Sprachspiel 47, 57f., 113, 122, 126– 130, 133, 147, 165–167, 172, 175– 177, 345, 350 Staatsbürgerschaft 37, 101, 106, 109, 205, 207, 245, 259, 305, 346, 350
392 | D AS F AMILIENGEDÄCHTNIS DER W ITTGENSTEINS Tractatus logico-philosophicus 11, 34, 38, 42–44, 52, 65, 72, 74f., 77f., 80, 83, 105, 109, 119, 122, 124, 134f., 147f., 151, 165, 172, 334 Trattenbach 33, 330 Trinity College 108, 120, 152 Über Gewissheit 172 Übersichtliche Darstellung 125–130, 345 Universität Wien 202, 242 Vergessen 17, 181, 187, 271–279, 299, 306, 319
Wiener Kreis 57, 79, 103, 105, 119, 151f., 242, 352 Wiener Werkstätte 232, 262f. Wistag 246, 249f., 316, 319 Wittgenstein-Haus 37, 45, 202, 218, 241, 243, 286, 334–336 Wörterbuch für Volksschulen 135, 173 Zeitzeuge 23, 63, 137–139, 158, 190, 193, 239, 273, 278, 285, 295 Zweiter Weltkrieg 17, 23, 106, 110, 183, 196, 207f., 212, 243, 245, 257, 276, 293, 296, 303, 308, 316, 318, 346f., 351
Familien-Stammbaum
Der Stammbaum der psychologischen Phänomene: Nicht Exaktheit strebe ich an, sondern Übersichtlichkeit. Was das Bündel der ‚Sinneseindrücke‘ zusammenhält, sind ihre Relationen zu einander. (Ludwig Wittgenstein, 1.1.1947, MS 245, 286)
Edition Kulturwissenschaft Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited 2010, 466 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme April 2011, 160 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
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Edition Kulturwissenschaft Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie Februar 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften September 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Juni 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
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