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German Pages 498 Year 2014
Csongor Lo˝rincz (Hg.) Ereignis Literatur
Lettre
Csongor Lo˝rincz (Hg.)
Ereignis Literatur Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung
Csongor Lőrincz | 7
KULTUR , ANTHROPOLOGIE, WISSENSCHAFT Der erste Anfang als »Ereignis« Entstehung der Kultur zwischen Sprachgeschehen und kulturellem Materialismus
Ernő Kulcsár Szabó | 33 Lascaux und die Institution der Kunst
Helmut Pfeiffer | 57 Die Humboldt-Universität Spannung von Idee und Institution
István M. Fehér | 85
I NSTITUTIONELLE CODES UND TECHNIKEN
UM
1800
Das »unsichtbare Institut« Über Herders Freimaurerschriften
Endre Hárs | 127 Das Netzwerk der Libertinage Infamie und Tausch bei D.A.F. de Sade
Achim Geisenhanslüke | 155 Im Netz der Schwüre Ereignis, Versprechen und Vertrag in Kleist Die Marquise von O…
Csongor Lőrincz | 173
LITERATUR UND JURIDISCH- POLITISCHE DISPOSITIVE Das Gesetz in Sophokles’ Antigone
Attila Simon | 237
Politik der reinen Mittel: Walter Benjamin
Zoltán Kulcsár-Szabó | 261 Wort und Tat Sergej Tret’jakovs juridischer Pakt mit der Literatur
Susanne Strätling | 307 Die Falle der Erinnerung: das »Treblinka-Lied« in Claude Lanzmanns Shoah
Zoltán Kékesi | 331
LITERARISCHE INSTITUTIONEN UND POETISCHE F UNKTION Gesetz zwischen Code und Rauschen Binäre Systeme vs. Chiasmen bei Saussure und Jakobson
Hajnalka Halász | 351 Auktoriale Godgames Die transgressive Selbst-Institutionalisierung literarischer Autorschaft in William Shakespeares Measure for Measure und Ben Jonsons Volpone
Wolfram R. Keller | 379 Die Unruhe des Gastes Zu einem Roman Wilhelm Raabes zwischen Institution und Ereignis
Evi Fountoulakis | 409 Science/Fiction: Institutions of Knowledge in Thomas Pynchon’s Mason & Dixon
Gábor Tamás Molnár | 437 Zeugenschaft, Performanz und Öffentlichkeit in Rechnitz (Der Würgeengel)
Beatrix Kricsfalusi | 467 Autorinnen und Autoren | 489
Einleitung C SONGOR L ŐRINCZ
I. Warum hat es Platon für nötig erachtet, die Dichter aus seinem Staat auszuweisen? Eine eindeutige Antwort wird darauf wohl schwer zu finden sein. Einen vermeintlichen Konservatismus Platons zu beklagen oder auf die Konkurrenz zwischen Dichtung und Philosophie in seiner Epoche hinzuweisen, dürfte das Problem bestenfalls nur partiell aufklären. Eher scheint es so, dass Platon das nicht-substantielle Wesen des Literarischen sehr wohl erkannt hat: dass ihm keine gegenständliche Essenz eignet (die institutionell regulierbar wäre) und es somit von einem Fehlen gekennzeichnet ist, zugleich aber vor allem auf der Rezeptionsebene sehr wohl performative Effekte zeitigen, eine handlungshervortreibende Kraft entwickeln kann. Diese Gegenwendigkeit von Fehlen und performativer Kraft ist in dieser grundsätzlichen Weise vielleicht nur in der Literatur bestimmend – und paradox genug, um Literatur mal dem gänzlich Apolitischen zuzuschreiben, mal sie als die wichtigste politische Instanz einzusetzen. Man könnte also sagen, dass die (Selbst)institutionalisierung der Literatur, die Simulation der Institutionalität in Lesen und Schreiben, auf vielfältige Weise im Dienste der Erzeugung wie Funktionalisierung und Lesbarmachung der performativen Effekte der Sprache steht, um das Fehlen einer Spezifität auszufüllen, diesem Fehlen entgegenzuwirken (da den literarischen Gegenstand, eine Essenz der Literatur zu identifizieren unmöglich ist), ferner: unscheinbare performative Effekte zu identifizieren oder zu regulieren – weil diese Performativität immer mehr als nur Sprache verändert,1 da sie möglicherweise einen Wahrheitsanspruch hat (beispielsweise im Sinne einer Gerechtigkeit jenseits des Rechts).
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Vgl. J. Derrida: This Strange Institution, S. 55.
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Eine Leitfrage könnte hier lauten: Wie antworten oder reagieren institutionelle Metaphern, Rahmen, Strategien und Codes sowohl der Texte wie der Lektüren auf diese Kreuzung oder Gegenwendigkeit, die die erwähnte Kraft als eine »schwache«, d.h. nicht restlos institutionalisierbare, nicht einmal phänomenalisierbare oder in der Operativität (einer Aktion) aufgehende Kraft kennzeichnet? Der Problemkomplex »Institutionalisierung der Literatur« greift denkbar vielfältige Bezüge des Literarischen auf – angefangen bei seiner heute mehr denn je rätselhaften Bestimmung. Nicht zufällig kam diese Fragestellung nach der Problematisierung formalistisch-strukturalistischer Modelle der Literarizität in den 70er und 80er Jahren auf (zeitgleich mit der Relativierung des Vertrauens in die reine theoretische Sprache, in ihre konstative Funktion, wie in die metasprachliche Verfasstheit der Interpretation). Dass die institutionellen Bezüge der Literatur wichtig werden, steht also allgemein verstanden mit den Ambivalenzen des Status, der dem Literarischen zugeschrieben wird, in engstem Zusammenhang. Diese institutionelle Dimension lässt sich jeweils nach ihren referentiellen, kulturtechnischen und performativen Aspekten auffächern, die in Komplexen der Archivierung, des Bewahrens, Wiederholens und Reproduzierens von Literatur und ihrer Interpretation ins Spiel gebracht werden. Dabei ist vor allem der Vorschlag zu bedenken, der in der Dekonstruktion gemacht wurde (Derrida, Samuel Weber, Peggy Kamuf), dass man die Institutionalität aus ihrer Rolle als »Außen« befreien sollte, die dem »Innen«, genannt Literatur, gegenüberstehen oder als deren Rahmen fungieren würde. »Kunst als Institution« (Bürger), aber auch die Theorie des »literarischen Feldes« (Bourdieu) zeichnen gewissermaßen die selbstinstitutionalisierenden Züge ihres Gegenstandes nach oder verbleiben letztendlich in einer Sichtung der – selbstverständlich immer schon institutionalisierten – Einstellungsformen und Dispositive der ästhetischen Produktion und Rezeption. Dies wird aber möglich, da sie die Dimension der Interpretation ausklammern oder depotenzieren, die jedoch im Zuge der Herausforderung des Textes institutionelle Rahmenbedingungen zu überborden in der Lage sein kann und nicht nur als Kompetenzbereich oder als Pragmatik von vorgängigen ästhetischen Konstruktionsparadigmen gilt. Die konstativen Modi der Begegnung mit der Problematik – z.B. Kanontheorien, das Konzept der »Interpretationsgemeinschaften«, aber auch diskursiver Machtpraktiken –, überhaupt die Denkfigur der Institution als Konvention oder Pragmatik2 sollten von dem performativen
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Zu einer solchen Herangehensweise s. beispielsweise den Vorschlag von F. Jameson, etwa Gattungen als Institutionen aufzufassen: »Gattungen sind im wesentlichen literarische Institutionen oder Gesellschaftsverträge zwischen einem Schriftsteller und einer
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Transgressionspotential des Literarischen, seiner Singularität, von seinem nichtinstitutionalisierbaren Überschuss oder Fehlen (einer ihm zugehörigen Substanz und der Fähigkeit der Selbstbeglaubigung) her neu verortet werden. Davon, dass die Literatur sich selbst in ihrer Sprachbewegung instituiert und diese Etablierung zugleich überschreitet, zeugen die vielfältigen Metaphern und Motive, die von den Texten als ihre Selbstpräsentationsfiguren eingesetzt werden (von der Turmgesellschaft bei Goethe bis zur Bibliothek von Babel von Borges). Um eine Archäologie der literarischen Kommunikation zu umreißen, vor allem aber systematisch mit der Selbstinstitutionalisierung der Literatur in Lektüre, Interpretation, Kulturtechnik und performativen Gründungsprozessen Ernst zu machen, genügt es freilich auch nicht, Metaphorologie zu betreiben. Vielmehr müssen die (selbst)institutionalisierenden Dispositive und Effekte der Texte in ihren performativen, medialen und interpretativen Praktiken und Beständen aufgesucht und inszeniert werden. Die (de)institutionalisierende Kraft der Textualität gilt es im Zusammenspiel ihrer kommunikativen wie »nichthermeneutischen« Momente zu erschließen. »This strange institution called literature« (Derrida) kann von der sich selbst spaltenden, nicht-identischen, von Differenzen markierten Singularität im/des Literarischen nicht getrennt werden. Die (Selbst)institutionalisierung tritt somit in eine spannungsvolle Korrelation mit der Dynamik der Singularisierung der Texte. Der Text selbst als Institution wäre dann eine Art Archiv des Ereignisses – sowohl seine Spur als auch seine Institution, in einem unzerlegbaren Chiasmus vor bzw. nach dem Ereignis als Chance des Nicht-Institutionalisierbaren. Das »Werk« ist laut Derrida »Spur« bzw. »Institution des Ereignisses«.3 Demnach ist der Text selbst eine institutionalisierende Entität bzw. deren Produkt (nicht einfach durch pragmatische, kanonische, konventionelle Akte profiliert), Instituierung des Ereignisses. Ein Archiv des Ereignisses – als Spur, zugleich Gründung – kann das nur bezwecken, wenn es sich von jeglichem »Wirken« (opération) getrennt, dieses überlebt hat. Ein unentwirrbares Verhältnis von Vor- und Nachzeitigkeit, von Vor und Nach der »opération«: Institution als testamentarisches Strukturmoment eines textuellen Überlebens, zugleich dessen Ermöglichung. »Text« ist in dieser Kreuzung als eine Institution aufzufassen: als Spur oder Erbe des Ereignisses, resp. als Institution desselben Ereignisses oder anders
Öffentlichkeit, deren Funktion es ist, den rechten Gebrauch eines bestimmten kulturellen Artefaktes zu spezifizieren.« Das politische Unbewußte, S. 105. 3
Vgl. J. Derrida: Das Schreibmaschinenband, S. 107.
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gewendet: als Instituierung des Ereignisses, die zugleich bzw. nur dessen Erbe (nicht das Ereignis selbst) »verwaltet« bzw. liest (um der paradoxen zeitlichen Verschränkung auf diese Weise vielleicht Rechnung zu tragen).4 Der Text überlebt das Ereignis, zumindest seine vermeintliche lebendige Gegenwart (als dessen Testament), zugleich instituiert er das Ereignis auch, aber im Modus einer Iterabilität, deren performativer Aspekt als »Gewalt« gewissermaßen am Ereignis partizipiert, dadurch sich aber auch sowohl gegen das Ereignishafte als auch gegen das Institutionelle kehren kann. Die Konsequenz davon ist folgende: ereignishafte und institutionelle (etwa rechtsetzende oder rechtserhaltende) Gewalt lassen sich nicht sauber voneinander trennen (ebenso wenig wie beispielsweise Zeuge und Bote, eigentlicher und falscher Zeuge), man wird nie mit letzter Sicherheit wissen, welche Art von Gewalt denn da gewirkt und ob sie überhaupt gewirkt hat. Gerade in der Instituierung ist also eine selbstzerstörerische Kraft angelegt, die über jene hinausschreitet (eine Art rechtsvernichtende Gewalt, s. den Beitrag zu Benjamin), und die also dem Ereignishaften – der Selbstzerstörung (oder Schwächung) der Instituierung als Ereignis – entspringen kann. Dieser Exzess als Überleben kann also nicht außerhalb der institutionellen Machtdispositive verortet werden, er gibt von sich nur in deren virtueller Suspension Kunde. Hier tritt hervor, dass die institutionelle Dimension die Schauplätze und Dispositive der Vermittlung und Reproduktion von Interpretationen, ihrer Systeme und Techniken darstellt. Dem Lesen als Interpretieren geht immer schon eine institutionelle Form voraus als seine Voraussetzung und umgekehrt, das Lesen produziert oder schlägt institutionelle Modelle vor, die die Interpretation als Bewahrung, Übersetzen, Vererben und Nachleben des Textes determinieren.5
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»Text« ist damit als eine arbiträre Entität charakterisiert, die durch ihre selbstinstitutionalisierenden Strategien und ihre Simulation auf die eigene Fragilität reagiert, die sich gerade am vom Text programmierten oder durchgeführten Lesen des Erbes vom Ereignis zeigt, einfacher gesagt: (der Text) von diesem auch gelesen wird.
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»Nehmen wir zum Beispiel […] die Interpretation eines Theorems, eines Poems, eines Philosophems oder eines Theologems: man schlägt gleichzeitig ein institutionelles Modell vor, man schlägt vor, das existierende Modell, das die Interpretation erst ermöglicht, zu konsolidieren, oder ein neues Modell zu schaffen, das sich mit besagter Interpretation im Einklang befindet […] Jeder Text, jedes Element eines Korpus reproduziert oder vererbt auf präskriptive oder normative Weise einen oder mehrere Befehle: Versammelt euch gemäß diesen bestimmten Regeln, dieser bestimmten Szenographie oder Topographie von Seelen und Körpern, bildet diesen bestimmten Typus von Institution, um mich zu lesen und zu schreiben, organisiert diesen be-
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Die Interpretation schreibt also an dem Nachleben des Textes, zugleich schreibt sie sich in dieses hinein. Man könnte ferner sagen, jedes Lesen mobilisiere ein Versprechen, nicht nur für das Lesen des aktuellen Textes, vielmehr schreibe es in diesen das interpretative Verhalten als eine Struktur der Verantwortung ein.6 Diese scheinbar zwei Aspekte werden etwa in der Zeugenschaft eng geführt, die den Text immer schon seinem Nachleben zueignet (das ursprüngliche Sehen, die Augenzeugenschaft, ihre referentielle Dominanz wird ja von der strukturellen Iterabilität des Zeugnisses ausgestrichen bzw. eingeklammert), dies aber erst von einer virtuellen Zukunft her vollzieht, will sie sich nicht einfach auf eine vergangene Gegenwart (von der es prinzipiell Beweise geben könnte), sondern auf eine von der Zukunft her kommende, dennoch vom bezeugten Ereignis hinterlassene Spur, auf eine Reserve des Nicht-Sagbaren beziehen. Wenn Texte ihre Relation zum Ereignis nicht selber beglaubigen und sich dabei lesbar machen können, so bleiben sie auf andere Texte angewiesen, »geschrieben oder nicht«, die diese Relation beglaubigen oder wiederherstellen.7 Solche Texte sind der philologische Kommentar, verschiedene Apparate, Simulationen von anderen virtuellen Texten, überhaupt Interpretationen, sie weben ein gleichsam institutionelles Netz um den Text und ihn hinein. Der Ruf der Texte nach einem anderen, sie beglaubigenden (und unweigerlich institutionalisierenden, da autorisierenden etc.) Text korreliert also mit ihrem immanenten Fehlen und daher rührt möglicherweise auch die oben genannte Unentscheidbarkeit zwischen Spur und Instituierung. Diese Fragen und Probleme ziehen womöglich, wenn auch oft unterschwellig, in die folgenden thematischen Komplexe ein: ÖFFENTLICHKEIT – Die Problematik des Wissens bzw. des Nicht-Wissens, der Konflikt Öffentlichkeit vs. Geheimnis, Transparenz vs. Verborgenheit,
stimmten Typus von Austausch und Hierarchie, um mich zu interpretieren, zu bewerten, zu bewahren, zu übersetzen, zu erben, um mich überleben oder fortleben zu lassen (überleben oder fortleben in dem Sinne, den Walter Benjamin diesen Wörtern […] gibt). Oder umgekehrt: Wenn ihr mich interpretiert […], werdet ihr diese oder jene institutionelle Form übernehmen müssen.« J. Derrida: Mochlos, S. 40-41. 6
Dieses Moment zielt also nicht nur auf die Vermehrung von Wissen, sondern meint vielmehr (auch) einen »Glauben« (vgl. dazu die Ausführungen von Derrida über die Verpflichtung, das Gelübde usw. in Die unbedingte Universität), der über den einzelnen Text als Gegenstand auch hinausgeht und etwa die Lehrbarkeit als nachträglichen Effekt hervorruft.
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Vgl. Z. Kulcsár-Szabó: Philologie vor der Literatur?, S. 219.
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demokratische vs. geheime Gesellschaft und ihrer medialen Präsentation. Das Phänomen der ästhetischen Exemplarität und der Mitteilbarkeit (Kant), wo das Teilnahmegefühl (und die mit ihm verbundene Geselligkeit) in Bezug auf das Einzigartige in Partizipation, Partialität und Mitteilung aufgefächert wird. RECHTLICHKEIT – Die quasi-juridischen Tendenzen und Bezugnahmen der Texte auf Autoritäten, wie das Gesetz, das (kanonische wie kanonisierende) Recht und vergleichbare Normen; die ihnen zuzuordnende Verantwortung und deren Verhältnis. PERFORMATIVITÄT – Momente der Stiftung oder Einrichtung quasi-institutioneller Größen, Akteure oder Rahmen; Eidleistung und Institutionalisierung (Schwur, Vertrauen, Meineid, Zeugnis, Gegenzeichnung); Ritual als Installierung und Vollzugsinstanz bestimmter Gemeinschaften und diskursiver Wissensund Machtdispositive; Performanz als Ausübung vorgängiger Kompetenzen in Spannung mit der unpersönlichen, kontingenten, gar maschinenartigen textuellen Performativität. TEMPORALITÄT – Genealogien der textuellen Produktivität; Prozesse der (Selbst)institutionalisierung der Texte in ihrer Durchkreuzung von materiellen Inskriptionen der Geschichte her; das Verhältnis von Institution und Ereignis. INSTITUTION »UNIVERSITÄT« – Archäologie bestimmter universitätsbedingter Bildungskonzepte bzw. -ideen und ihrer Beziehung zu den Humanwissenschaften; die Universität als Ort der »Theorie« und der Status der Literatur(wissenschaft) in diesem institutionellen Feld.
II. Die Frage nach den institutionellen Aspekten in der literarischen Kommunikation scheint sich wiederzubeleben. Dieses Interesse steht zweifelsohne in engem Zusammenhang mit der Transformation der Geistes- in Kulturwissenschaften, mit einer Ausrichtung auf verschiedene kulturelle Dispositive und Techniken bzw. ihrer wechselseitigen Kontamination mit dem Literarischen. Stand aber etwa bei einem Peter Bürger8 die Frage nach der Institutionalität im Kontext des Gesellschaftlichen als eines Systems von Wertzuschreibungen und Ideologien, oder auch bei einem Pierre Bourdieu9 oder Niklas Luhmann10 in Bezug auf das literarische Feld und seiner Autonomiebestrebungen und Kanonisierungs-
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P. Bürger: Theorie der Avantgarde.
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P. Bourdieu: Regeln der Kunst.
10 N. Luhmann: Das Kunstwerk.
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strategien, ferner auf die Autopoiesis des literarischen Systems – so scheint gegenwärtig vielmehr die kommunikative Dimension von Institutionalität in den Vordergrund zu rücken. So will Albrecht Koschorke mit der »Figur des Dritten« ein »neues Paradigma der Kulturwissenschaften« ausrufen,11 sich dabei freilich auf das nun mehr als 100 Jahre alte grandiose Werk von Simmel12 stützend. Institutionen erscheinen hier nicht einfach als operative Gebilde im Sinne von festgelegten Regeln und Rahmenbedingungen, um etwa die ästhetische Autonomie und ihre axiologischen Korrelate zu ermöglichen bzw. ideologisch aufzuladen, vielmehr werden die Genese und der Prozess der Institutionalisierung von ihren performativen und kommunikativen Ausgangsbedingungen her in den Blick genommen. Einer ähnlichen Fragestellung weiß sich auch der vorliegende Band verpflichtet,13 auch hier wird den kommunikativen Aspekten, Vermittlungsfiguren und Effekten der Institutionalität, die vom Dritten impliziert wird, eine grundlegende Geltung eingeräumt (entlang der Problematik der Öffentlichkeit etwa). Damit einhergehend werden jedoch auch andere Momente ins Spiel gebracht, die zur Reflexion der quasi-institutionellen Dimension der literarischen Kommunikation unerlässlich scheinen, so die breit gefächerte Performativität (von der stiftenden Gewalt bis zur singulären Gegenzeichnung von prekären sprachlichen Akten, deren erwünschter Handlungswert damit jedoch nicht unbedingt wiederhergestellt oder restituiert wird) und Probleme der Ereignishaftigkeit und des Geschichtlichen (des historischen Verstehens und seines Anspruchs auf Gerechtigkeit).14 Vor allem in diesem letzten Punkt dürfte der vorliegende Band
11 Vgl. A. Koschorke: Institutionentheorie, ferner seine Einleitung zum selben Band. 12 Soziologie. Funktionen und Formen der Vergesellschaftung, 1908. 13 Die meisten Beiträge wurden auf der Tagung Literatur und Institution an der Humboldt-Universität zu Berlin im Juni 2010 vorgetragen. 14 Koschorke teilt die Paradigmen der Sozialwissenschaften und der Kulturwissenschaften zwischen Institution und Irritation, Ordnungswissen und Unordnungskompetenz, Integration und Desintegration auf (Institutionentheorie, S. 49-50). Die Frage liegt indessen nahe, ob mit dieser oppositionsgerichteten Zuschreibung nicht doch wesentliche Aspekte der »Kulturwissenschaften« außer Acht gelassen werden: beispielsweise Fragen des Exemplarischen im Sinne von Ethik, Wahrheit oder Gerechtigkeit, Fragen der Politik, die einer (wie auch immer verschobenen) Entscheidung harren, Probleme der Ereignishaftigkeit und der Zeugenschaft – und ihrer interpretationsbedingten Seinsweise. – Wenn der Zeuge als Überlebender immer zugleich auch der Dritte ist (vgl. die oft herangezogene Etymologie von »testis« und »terstis«), so oszilliert sein Zeugnis zwischen dem bezeugten Ereignis und dem Rufen nach den virtuellen Zeugen, die sein Zeugnis gegenzeichnen mögen. Genau diese Oszillierung
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in der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion neue Akzente setzen bzw. Angebote formulieren für eine umsichtigere Verortung der institutionalisierenden Zusammenhänge und ihrer zugleich deinstitutionalisierenden Aspekte bzw. Gegenspieler. Das Profil des Bandes umfasst dementsprechend literaturwissenschaftliche, anthropologische, philosophische, wissenschaftstheoretische und kulturwissenschaftliche Studien, die freilich diese Zugänge auch oft im Einzelfall selbst miteinander engführen und die gleichen Problemkomplexe in komplementärer Weise beleuchten. Die Frage nach den institutionellen Aspekten auch in der literarischen Kommunikation steht mit der Problematisierung der performativen Funktion der Sprache in engem Zusammenhang. Institutionalität und ihre Effekte kreisen bzw. grenzen die Wirkungen dieser Funktion ein, wo man damit zu rechnen hat, dass »es das Performative nicht gibt, es gibt Performative und antagonistische oder parasitäre Versuche, das performative Vermögen der Sprache zu interpretieren, es gleichsam zur Rede zu stellen und zu gebrauchen, es zu investieren.«15 Heute ist man vielleicht mehr denn je mit den öffentlichen Wirkungen sowohl solcher Performativa als auch deren Interpretationen konfrontiert, wo klar wird, dass sie nicht als eine wie auch immer eingegrenzte Privatsprache gelten können, aber auch keinem universellen Code untergeordnet sind. Es sind die Spannung zwischen performativer und konstativer Sprache, ferner ihre temporalen Folgen – die so entstehende Ambivalenz –, die der Literatur ihre quasi-institutionelle Dimension zuspielen. Der »Ort« des Literarischen besteht folglich in einem Aufschub zwischen Gründung und (suspendiertem) Inkrafttreten des Gesetzes, in der Differenz und Spannung zwischen instituierendem und instituiertem, »primärem« und beglaubigtem Text. Die mediale Ermöglichung, z.B. die Archivierung solcher Performativa und ihrer Interpretationen steht ebenso zur Debatte wie die von ihnen ins Spiel gebrachten, vorgeschlagenen, multiplizierten und amplifizierten strategischen und politischen Modelle (beispielsweise von Gemeinschaften, Öffentlichkeiten und kollektiven Gedächtnissen). Institution meint also nicht nur symbolisches Netz und Handlungsstrategie, sondern vor allem auch Archivierung: Aufzeichnungsund Reproduktionstechniken, deren kulturelle wie politische Relevanz mit zu bedenken gilt. Unter solchen Bedingungen verschärft sich die Frage nach der Institutionalität womöglich noch mehr, als dies in den 1980er Jahren der Fall war. Bereits
treibt Vermittlungen hervor, die institutionelle Aspekte annehmen können (vom Recht über Gemeinschaftspraktiken bis zu Modellen von Öffentlichkeit). 15 J. Derrida: Mochlos, S. 39.
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damals stand als Erfahrung im Hintergrund dieser Fragestellung die Erosion der (vermeintlich) konstativen resp. metasprachlichen Funktion der interpretativen und theoretischen Sprache und die Aufmerksamkeit auf ihre quasi-performativen Effekte drängte sich in den Vordergrund. So ist auch die Rede vom »Ende der Theorie« aufgekommen, dabei geht es um eine, traditionell freilich tragende Funktion des Theoretisierens, an die übrigens auch nicht alle immer schon geglaubt hatten. Unter den konstativ-theoretischen Funktionen der interpretierenden wie systematischen Sprache stellt sicherlich die der Unterscheidung von Text und Handeln, Wort und Tat oder Signifikat und Referenz eine der wichtigsten operativen Eigenschaften jener Diskurse und ihrer vermeintlichen Souveränität dar. Die Annahme dieser kritischen Fähigkeit auch des dekonstruktiven Lesens sorgt sogar bei einem Paul de Man hie und da für Irritation oder Ratlosigkeit (wenn es in seinem Kleist-Aufsatz um die brüchige Unterscheidung zwischen der »Gewalt auf der Bühne« und der »Gewalt auf der Straße« geht).16 Die Verunsicherung dieser kritischen, letztlich konstativ zu fundierenden Fähigkeit der Unterscheidung (und der Entscheidung) führt in Komplikationen hinein bezüglich der Erwartung, die kritische Leistung des Lesens einschätzen zu können.17 Letztlich kann dieses Lesen jene historischen Kräfte nicht wahrnehmen oder lokalisieren, die zu solchen Unentscheidbarkeiten in der performativen Verflechtung von Texten und ihren Referenzen führen.18 Im Zuge dieses Fehllesens der materialen Kräfte, der Materialität der wirklichen Geschichte (wie de Man zu sagen pflegte) beispielsweise als eines stummen Rauschens des Geschehens werden die politisch-institutionellen Einsätze des Lesens, der testimonialen wie hermeneutischen Zuwendung meist auf unübersichtliche Weise überdeterminiert. Dies bezeugt die Konjunktur von Begriffen wie Insistenz des Realen, Zeugenschaft, Archiv, Spur, Codierung von Gewalt u.a. Hier bewirkte die Thematisierung der gründenden Gewalt von Institutionen – anlässlich vor allem der Debatten um Benjamins Zur Kritik der Gewalt Anfang der 1990er Jahre – eine kardinale Verschiebung in der Betrachtung der Problematik: die Begrifflichkeit der institutionellen Kraft (als unvordenkliches Strukturmoment der Gründung
16 Zu diesem Punkt vgl. Z. Kulcsár-Szabó: Tetten érhetetlen szavak, S. 255. 17 Der paradoxe Sachverhalt springt ins Auge: die Entdeckung der latenten performativen Effekte der angeblich theoretischen und systematisierenden Sprache geht einher mit der Erschütterung ihres souveränen Vermögens der metasprachlichen Klassifizierung, der Unterscheidung und der theoretischen Konstatierung. 18 Ebd., S. 281. Kulcsár-Szabó sieht darin einen Grund zur »Beunruhigung in Anbetracht der Illusionen in Bezug auf die politische Operativität des Lesens«.
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jeglicher institutionellen Autorität)19 bestimmte die Diskussion auf weiten Strecken. Die institutionellen Aspekte dieser Phänomene und Dispositive kommen wohl ferner deshalb stark zum Tragen, da sie von vornherein politische Dimensionen aufweisen bzw. codieren. Immer wieder müssen die Verträge zwischen »der Institution und den dominierenden Kräften der Gesellschaft«20 neu geschrieben und zur Unterzeichnung vorgeschlagen werden. Man könnte hinzufügen: und den Kräften der Geschichte, wobei dies freilich eine Katachrese ist, erfährt man von diesen Kräften nur ihre Spuren oder die von ihnen hinterlassenen Reste, die auf die noch so unmögliche Interpretation (als Zeugenschaft) angewiesen bleiben. Die Archivierung dieser Reste nimmt verschiedene Akteure, Dispositive, Strategien und Metaphern in Anspruch, vom überlebenden Zeugen bis zum Spurenlesen.21 Die Archivierung der Zeugnisse schreibt diesen die politisch-rechtlich-institutionelle Dimension ein bzw. lässt diese in ihnen stärker zum Vorschein kommen. Die entsprechenden Codierungen, Pakte und Signierungen dieser Spuren, Reste und Zeugnisse – bereits in ihrer Erschließung, Archivierung resp. ihrem Vollzug – leisten natürlich auch einen erheblichen, oft auch unbewussten Widerstand gegen die tatsächliche Herausforderung des Geschehens, dem sie ihre Entstehung oder Insistenz, aber auch Selbstvernichtung (etwa im Zuge einer unscheinbaren »göttlichen« Gewalt) verdanken. Die Benjaminsche Frage nach einer Gewalt, die kein Mittel zu einem Zweck ist, dürfte ihre Auflösung, zumindest aber ihre Insistenz von einem solchen materiellen wie immateriellen Geschehen her aufschlüsseln können, das als Manifestation in der institutionellen Kraft oder Gewalt selbst – diese zersetzend – wirkt (s. den Beitrag zu Benjamin).
III. Institutionalität und institutionelle Dispositive werden hier in einer Reihe von Beiträgen in ihrem Zusammenhang mit dem Ereignis, mit der Ereignishaftigkeit diskutiert, mit einer temporalen wie diskursiven (medialen, rechtlichen) Oszillierung des Ereignisses, die Geschichtsräume eröffnet bzw. diese (zugleich auch)
19 Vgl. dazu J. Derrida: Mochlos, S. 54. 20 Ebd., S. 41. 21 Die Auslotung der institutionellen Bezüge in den Kulturwissenschaften lief ja parallel zur erstarkenden Memoriaforschung in den 1980er Jahren (wenn auch mit sparsamen wechselseitigen Berührungen zwischen diesen Paradigmen).
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subvertiert. Es stellt sich so im Beitrag von Ernő Kulcsár Szabó u.a. heraus, dass der Kulturalität des Menschen überhaupt die Entzweiung seiner natürlichen wie kulturellen Konstitution vorausgeht, welche Entzweiung erst infolge eines Ereignisses bzw. als Geschehen sich vollzieht. Die von diesem Geschehen in Gang gesetzte Medialisierung des Anthropologicums (das Erkennen der eigenen Nacktheit – als einer Botschaft des Mediums, wo beide sich im selben Zuge konstituieren – und die daraus resultierende Scham) eröffnet zugleich – wie man hinzuzufügen geneigt ist – die Dimension des Dritten (und zwar sowohl im Du als auch im Ich selbst, aber gerade von anderen virtuellen Dritten her). Das ist das grundlegende kommunikative und vermittelnde Moment, das sich jüngst in den Kulturwissenschaften mit Rückgriff auf Simmel wieder einmal als die kardinale Ermöglichung (aber auch Ambiguität) von Institutionalität erweist. Nun wird im vorliegenden Band die kommunikativ-mediale agency des Dritten als eine Öffnung verstanden, die auf Geschehen zurückverweist, diese gleichsam mitproduziert, sie freilich auch zu verdecken imstande ist. Das Kosellecksche Diktum, dem zufolge der Geschichte in der »Sattelzeit« als Handlungs- wie als Wissensraum zugleich zu einem Kollektivsingular wird, setzt der Geschichtlichkeit füglich auch die Dimension des Medialen hinzu (was bei Koselleck nicht thematisiert werden konnte), mit all seinen Implikationen von Einschreibung, Vermittlung, Zeugenschaft und Öffentlichkeit, der Kontamination von »tatsächlichen« und »gemachten« Ereignissen. Literatur heißt das Medium, in dem Geschehen, Medialisierung und ihre kommunikativen Bezüge wie der Widerstand des Geschehens gegenüber jenen Bezugsrahmen vielleicht am intensivsten artikuliert oder bezeugt werden. Die genannte Entzweiung, für die der biblische Sündenfall ein besonders dichtes emblematisches Muster bereitstellt, könnte sicherlich auch auf weitere historische Schwellen wie epochale Einschnitte ausgeweitet werden – geht es doch um ein paradigmatisches Grundmuster, das historische Verschiebungen zwischen der natürlichen und kulturellen Konstitution des Anthropologicums gerade am Leitfaden des Medialen auszubuchstabieren helfen könnte (entsprechende Fallstudien legen Endre Hárs gerade über Herder und Csongor Lőrincz über Kleist vor). Bevor man das Menschliche und seine Kulturalität etwas vorschnell von technischen Standards (die übrigens ständig überholt werden, wie man es jeden Tag erfährt) abhängen lassen wollte, täte man gut daran, das wichtigste Medium des Anthropologicums – eben die Sprache – und seine kulturbildende Leistung doch auf fundamentale(re) Weise zu reflektieren. In der anthropologischen Institutionentheorie Gehlens, wie Helmut Pfeiffer sie bei seinen Überlegungen bezüglich der anthropologischen Dimension der Institution Kunst berücksichtigt, kommt es auf die ästhetische Erfahrung als eine
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Praxis an, losgelöst von exklusiv-ästhetizistischen Modellen und auf eine Kontinuität oder Dauer hin angelegt, die sich denkbar anti-avantgardistisch versteht. In einem dialektischen Bild zwischen der Moderne und der Prähistorie – als einer möglicherweise historisch-ereignishaft induzierten Konstellation – zeigen sich am Beispiel von Lascaux und seinen Interpretationen (Bataille und Gehlen) Transgressionen und Institutionalisierungen anthropologischer Virtualität, die diesseits einer »ästhetischen Unterscheidung« (Gadamer) zu lokalisieren sind (und mitsamt ihren Wiederholungen in der Rezeption der erwähnten Geschichtsdynamik nicht weniger als der anthropologischen Dimension zu verdanken wären?).22 Es geht im Beitrag vornehmlich um Darstellung als Institution, d.h. um Schematisierung, dauerhafte Fixierung und Zeichengebrauch. Die Institution Kunst wird hier auf habituelle Praxen (z.B. Ritus) zurückreflektiert, die sich aus nicht-kognitiven Erfahrungen speisen und deren Fiktionalitätsindex mit der anthropologischen Virtualität oder Plastizität in Verbindung steht, also nicht einfach auf die Ausdifferenzierung verschiedener sozialer Subsysteme zurückzuführen ist. In der Darstellung und Befragung des modernen Universitätsgedankens zeigt István M. Fehér dessen anthropologische Fundierung bei Humboldt auf, ineins mit dem Vermittlungsglied »Bildung« zwischen jenem Fundament und der Wissenschaft. Diese als Lebensform verstanden lässt indes die Frage zurück, wie sie mit der Wissenschaft resp. ihren Überlieferungsdispositiven und -prozessen denn zu vermitteln ist (vgl. das Ende des III. Kapitels im Beitrag). Hier dürfte Humboldt die romantische Diskrepanz zwischen dem innerlichen Individuellen und dem als Objektivität verstandenen Allgemeinen an einer funktionelleren Vermittlung der beiden hindern. Gleichwohl ist Wissenschaft bei Humboldt Pendant der »Bildung« und nur so wird jene zu einer »Kraft« (»Kraft« ist auch in der Geschichts- und Sprachtheorie von Humboldt bekanntlich ein zentraler Begriff). Es wird ferner beleuchtet, wie die Auffassung des Staats und die gesell-
22 Wenn Pfeiffer feststellt: »Batailles Beschreibungen operieren [...] am Indifferenzpunkt von Gegenstand und Darstellung. Sie provozieren den imaginären Kollaps einer Differenz, deren konstitutive Bedeutung sie herausarbeiten« (S. 67), so denkt man unweigerlich an Gadamer, der das selbe Verhältnis in Bezug auf die Sprache, auf das Zusammenfallen von Materie und Medium in dieser formulierte: »Zur-Sprache-kommen heißt nicht, ein zweites Dasein bekommen. Als was sich etwas darstellt, gehört vielmehr zu seinem eigenen Sein. Es handelt sich also bei all solchem, was Sprache ist, um eine spekulative Einheit, eine Unterscheidung in sich, zu sein und sich darzustellen, eine Unterscheidung, die doch gerade keine Unterscheidung sein soll.« H.G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 450.
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schaftliche Rolle der Universität zusammenhängen, bzw. wie die Universität in sich die Spannung von ihrer Sendung und Empirie, aber auch der nicht restlos institutionalisierbaren Wissenspraxis (die aus der genannten Kraft hervorgeht) und den institutionellen Strukturen auszutragen hat. Höchst interessant wäre es hier, die Parallelen zwischen der Instituierung der modernen Literaturkritik und den Leitideen der Universität um 1800 aufzuzeigen.23 Die Literatur ist ja bereits bei Schlegel (Das Studium der griechischen Poesie, 1795) eine universelle Kunst (vgl. »universitas«) und diese ihre Einschätzung ändert sich bis Hegel auch nicht. Ähnlich, wie die Poesie sich gegenüber den anderen Künsten verhält (denn »ihr Organ, die Phantasie ist schon ungleich näher mit der Freiheit verwandt, und unabhängiger von äußerm Einfluß«), wird auch die Philosophie etwa bei Kant gegenüber den anderen Wissenschaften situiert. Überhaupt spielt der Begriff der »ästhetischen Bildung« bei Schlegel bekanntlich eine zentrale Rolle, gerade die Poesie sei »unendlich perfektibler« (als die plastischen Künste).24 Die »Theorie« könne sich ferner »[n]ur durch Objektivität« – durch die »allgemeingültige Wahrheit« (das Bedürfnis nach ihr sei »Charakter des Zeitalters«) – »zu einer wirklich öffentlichen Macht erheben« etc.25 Diese Objektivität soll in der Kunst aber nicht nur durch Begriffe, sondern durch eine »ästhetische Revolution« vollzogen werden.26 Wenn die Zeugenschaft des Lesers als eines Dritten von modernen Dispositiven der literarischen Kommunikation immer intensiver und nuancierter in Anspruch genommen wird, so ist die Epochenschwelle um 1800 ein äußerst signifikantes Ereignis (vgl. die Beiträge von Endre Hárs, Achim Geisenhanslüke und Csongor Lőrincz). Die institutionellen Möglichkeitsbedingungen, Bezugsrahmen und Konstellationen (nicht nur) der literarischen Kommunikation erfahren hier eine Öffnung und eine Vervielfältigung im Zuge des Strukturwandels der Öffentlichkeit (von der Familie bis zur Politik), auch dank der medialen Autonomisierung bestimmter literarischer Kommunikationsformen und Gattungen. Etwa die gleichzeitige Etablierung und Problematisierung der Grenzen von privat und öffentlich gewinnt da an kultureller wie epistemologischer und politischer Kraft. Hier beginnt ferner der Prozess, den Luhmann als die Inklusion des Publikums in das Kunstsystem gekennzeichnet hat.27 Davon zeugen im vorliegenden Kontext
23 Auf diese Parallele weist kurz hin Derrida: This Strange Institution, S. 53. 24 F. Schlegel: Über das Studium, S. 265. 25 Ebd., S. 273. 26 Ebd., S. 269. 27 Vgl. N. Luhmann: Das Kunstwerk.
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die literarischen Bemühungen eines Herder, die geheime Gesellschaft der Freimaurer mit einer aufgeklärten Öffentlichkeit und historischen Schlüsselsituationen auf anthropologischer und geschichtsphilosophischer Basis zu vermitteln, die Eskapaden des Begehrens bei einem de Sade in der Transgression institutioneller Schranken oder die komplexen Thematisierungen und Inszenierungen der Institutionalität und ihrer medialen Hintergründe bzw. der diese durchkreuzenden akulturellen und traumatischen Geschehnisse bei Kleist. Es scheint so, dass diese Transgressionsmomente sich mit dem systemtheoretischen Ansatz nicht hinreichend erfassen lassen, ist dieser doch an der Selbstreproduktion und der diesbezüglichen Operativität und Unterscheidungsfähigkeit der Systeme interessiert. Derrida hält demgegenüber fest, dass Literatur immer auch mehr verändere, als nur Sprache28 (die literarische Iterabilität besitzt also auch referentielle Momente – s. etwa die starke Präsenz der Zeugenschaftsfrage im Band –, sie ist nicht nur beispielsweise auf den »Stil« einzuschränken). Daher erscheint uns die Koppelung der Institutionalität mit der Ereignishaftigkeit und einem auf diese fokussierten Lesen fruchtbarer als institutionelle Dispositive in den Dienst der Selbstreproduktion oder Stabilisierung des literarischen »Subsystems« zu stellen. Auch das markante Zusammenfallen der techné des Schreibens mit der techné der Gesellschaft bei Herder kann nur von einem »äußerlichen« Dritten (Profane und Frau) her (de)autorisiert werden. Neben dem Geheimnis sind vorzüglich Infamie, Exzess, Opfer, Gabe hier die Themen, die die transgressive und fiktionalisierende Leistung der »merkwürdigen Institution Literatur« exemplifizieren, um die von ihr ausgehende Problematisierung sozialer Konventionen und juristischer Codes zu lesen. Vorinstitutionelle Praktiken – z.B. Ritus, gemeinschaftsstiftende Strategien – werden in ihrer Verknüpfung etwa mit moralischen Vorstellungen reflektiert, um die Öffnung der literarischen Kommunikation auf nicht-kommunikative oder nicht-hermeneutische Erfahrungen oder Widerfahrnisse besser verstehen zu können (»nicht-hermeneutisch« und »verstehen« werden hier bewusst miteinander verknüpft). Spätestens an diesem Punkt tritt die Eigenschaft der Literatur in den Vordergrund, nicht nur eine »instituted fiction«, sondern auch eine »fictive institution« zu sein, »which in principle allows one to say everything«.29 Diesen Chiasmus umkreisen auch die Beiträge des vierten Blocks. Diese Potenz der Literatur – die zugleich eine Schwäche ist, kann sie doch als bloße Fiktion oder gar Unverantwortlichkeit abgetan werden – geht mit der Fiktionalisierung oder Überschreitung konventioneller Normen einher, meint aber streng genommen keine Fähig-
28 J. Derrida: This Strange Institution, S. 55. 29 Ebd., S. 36.
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keit (der Repräsentation oder der Bezeichnung etwa), sondern vielmehr eine Manifestation, die das Institutionelle selbst überbordet. Denn dieses Alles-Sagen nimmt die Literatur nicht vor Autoritäten vor (vgl. die Motivik der »Unschuld« und der »Unverantwortlichkeit«). Im Ausnahmezustand des Alles-sagenkönnens geht es folgerichtig nicht um Aussagen, würden diese doch als solche immer nur aufgrund von bestimmten (sprachlichen, repräsentationslogischen, juridischen usw.) Normen identifizierbar sein, sondern auch um ein Schweigen, um Akte des Schweigens, die von jeder authentischen Zeugenschaft vollzogen werden. Diese testimoniale Eigenschaft steht aber nicht im Gegensatz zur Verpflichtung des Zeugnisses, alles zu sagen, sondern meint eben: »ein Geheimnis zu wahren«30 (vor Machtzugriffen etwa), dieses als Ereignis zu bezeugen, d.h. im Kommen bleiben zu lassen. Die Fiktionalisierung bewirkt eben das Wahren eines Geheimnisses, zugleich kann sie dieses auch verraten. So nähern sich das Alles-sagen-können im Zeichen der fiktiven Institution Literatur und die Zeugenschaft des Ereignisses bzw. als Ereignis an. Zwar bindet diese Potenz der Literatur sie an die »modern idea of democracy«, wie Derrida feststellt,31 doch lässt sich die Literatur auch nicht ganz eindeutig mit der Institution der modernen Demokratie parallelisieren, vielmehr übt sie Kritik an verschiedenen mediengebundenen Aspekten der aufklärerischen bzw. demokratischen Öffentlichkeit (von Kleist über Nietzsche bis Carl Schmitt und Benjamin). Das Wahren eines Geheimnisses im Zeichen der fiktiven Institution – welches Geheimnis das Ereignis selbst meint, wie es im Kommen bleibt – verhilft dieser aber nicht unbedingt zu einer Immunität (der institutionalisierten Fiktion), vielmehr bedeutet es grundsätzlicher gedacht eine Autoimmunität oder -immunisierung des literarischen Systems, der literarischen Institution (die sehr wohl textuelle Folgen haben kann). Die Selbstreproduktion oder Autopoiesis der Literatur mobilisiert also auch diese Wendung gegen sich selbst (welcher Zug für die Systemtheorie nicht mehr denkbar sein dürfte). Institutionalität ist im vorliegenden Kontext kein bloßer Rahmen, sondern ein Prozess der Institutionalisierung selber, die zugleich auch in Konflikt gerät mit dem singulären Anspruch der Gerechtigkeit (oder dem Anspruch der Singularität auf Gerechtigkeit), der u.a. gerade die (durch Konventionen autorisierte und
30 J. Derrida: Die unbedingte Universität, S. 15. 31 J. Derrida: This Strange Institution, S. 37. Derridas Nachtrag: »Not that it [the institution of literature in the West] depends on a democracy in place, but it seems inseparable to me from what calls forth a democracy, in the most open (and doubtless itself to come) sense of democracy.«
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öffentlich etablierte) Zeit der institutionellen Dispositive subvertiert. Diese Spannung legt das Politische frei, dessen Ermöglichungsgrund oder gerade Erzwingung die Divergenz von Wissen und Handeln, Recht und Gerechtigkeit darstellt. In diesem Raum bewegt sich die inventiöse Antigone-Lektüre von Attila Simon, die Kreons Machtbemühungen als eine Politik des virtuellen Ereignisses auslegt (der unvorhersehbaren performativen Wirkung von Sprechakten der Gewalt). Die genannte Divergenz ist aber grundlegend als eine différance aufzufassen, die zur Chance der Gerechtigkeit, jedoch auch zu deren Unmöglichkeit werden kann. Somit erscheint die »différance« als eine aktive temporale Dimension (des Ereignisses), als eine performative Zwischen-Zeit – und so wird nebenbei auch der ursprünglichen Intention Derridas Genüge geleistet, die keineswegs mit einer schlechten Unendlichkeit der Verweisung der Zeichen auf Zeichen zu verrechnen ist (das könnte als eine Neuigkeit für viele selbsternannte Derrida-Kritiker dienen). Der différance von Gewalt als einem Exzess, der über das juridisch-politische Dispositiv hinausgeht, sich gegen dieses wendet, geht der Beitrag von Zoltán Kulcsár-Szabó über Benjamin nach. Die famose rechtsvernichtende, »göttliche« Gewalt Benjamins (die wohl schwierigste Frage des Essays und seiner Rezeptionsgeschichte) erweist sich in der umsichtigen wie scharfsinnigen Analyse – gegenüber der rechtsetzenden und -erhaltenden Gewalt – wiederum als ein Ereignis, dessen Stattfinden weder antizipiert noch im Nachhinein identifiziert werden kann. Es geht um die Gewalt, die beim Ursprung jeglicher Institution und politisch-juridischer Macht wirksam ist, sich aber in einer selbstzerstörerischen Wiederholung des eigenen unscheinbaren Überflusses auch gegen sich selbst als instituierte wie instituierende Gewalt wenden kann. Dabei bleibt sie aber von der instrumentalen Gewalt nicht auf ausweisbare Weise getrennt – institutionsgebundene Gewalt und reine Gewalt lassen sich nicht mithilfe von phänomenalen und juridischen Kriterien unterscheiden, ihre Differenz lässt sich nur im Überfluss der Gewalt hypostasieren. Diese Unentscheidbarkeit ist hier aber wieder einmal keine dekonstruktivistische Spitzfindigkeit im schlechten Sinne, sondern meint vornehmlich die Chance der Geschichte, sich überhaupt – aber nicht unbedingt als bzw. in der Gegenwart – ereignen zu können. Sehr eng mit dem Zusammenhang von Geschichte, Ereignis und Gewalt geht die Problematik der Zeugenschaft als deren sprachliche und mediale Korrelation mit performativem Index einher (s. etwa die Beiträge von Kékesi, Kricsfalusi, Lőrincz, Simon und Strätling). Zugleich stellt dies eine weitere Variation der Iterabilität dar: Übergänge zwischen Singularität und Allgemeinem (die Institution des ersteren im letzteren, zugleich die Einzigartigkeit des Ereignisses und
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seiner Signatur), die die Manifestationen und vorgängigen Begriffe der beiden zu verschieben imstande sind. Hier steht wohl das Exemplarische im Mittelpunkt, an der Schnittstelle von Singulärem und Allgemeinem – als eine Art »martyrisierte Existenz«.32 Im Hinblick auf Antigone lässt sich das besonders prägnant aufweisen: Antigone als autonomos wird zu einer Singularität, die zur gleichen Zeit vom göttlichen Gesetz (gewissermaßen als Antipode des menschlichen Gesetzes) markiert und in dieser Kreuzung bzw. Spaltung zum Exemplarischen wird, d.h. in einen Chiasmus von Singularität und Allgemeinheit eintritt, was aber nicht zu einer Verschmelzung führt, vielmehr die eine Komponente gefährdet, hier das Leben von Antigone. Das Exemplarisch-Werden wird also von einer Kraft veranlasst, vielleicht von einer Performativität einer »passage« selbst vom Kognitiven zum Performativen33 – was aber auch ein »reversal«, gar einen »relapse« bedeuten kann, ist das zum Allgemeinen gewordene Singuläre doch: das Kanonische.34 Diese Dynamik bildet zugleich auch das Verhältnis von (singularisierender) Referenz und (allgemeinem) Gesetz ab und wird zu einem eminenten rechtlich-politischen Problem. So könnte ein Licht fallen auf die Kanonisierungsvorgänge in der literarischen Produktion und Rezeption, auf ihren stark textuellen Aspekt, entlang eben der Frage, warum denn das Kanonische nicht einfach eine gesellschaftliche, sondern eine textuelle Institution und Politik darstellt (vgl. die Beiträge von Wolfram R. Keller und Susanne Strätling). Das Exemplarische in der testimonialen Kreuzung bzw. Spannung von Singularität und Allgemeinheit ist von der juridischen Verallgemeinerung strukturell oft schwer zu trennen, gar von einer »archivalen Macht« und ihren Praktiken, die Biopolitik institutionalisieren und vollziehen. Die archivalische Macht und ihre
32 Vgl. J. Derrida: Einsprachigkeit, S. 23. 33 Vgl. hierzu die Definition des Performativen als eines geschichtlichen wie textuellen Ereignisses bei P. de Man: Kant and Schiller, S. 132-133. »… the model of the passage from trope, which is a cognitive model, to the performative […] Not the performative itself […] but the transition, the passage from a conception of language as a system, perhaps a closed system, of tropes […] and the fact that you pass from that conception of language to another conception of language in which language is no longer cognitive but in which language is performative […] it doesn’t mean that the performative function of language will then as such be accepted and admitted. It will always be reinscribed within a cognitive system […] it will relapse […] in a tropological system again. That relapse, hoewever, is not the same as a reversal. Because this is in its trun open to a critical discourse similar to the one that has taken one from the notion of trope to that of performative.« 34 Hierzu s. D. Martyn: Die Autorität des Unlesbaren.
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Effekte bzw. ihre Verschränkung mit der Zeugenschaft tragen ihrerseits auch die oben genannten Aporien von instrumenteller und nicht-instrumenteller Gewalt aus. In der Shoah-Analyse von Zoltán Kékesi wird dieser Komplex bereits auf der Ebene der quasi-philologischen Textpolitik deutlich, die die kanonischen Textstrategien in ihren institutionalisierenden Bezügen von der »Geschichte« her zu autorisieren und legitimieren sucht. Das Lesen des Archivs und des Zeugnisses stellt eine Kraft dar, um Geschichte zwischen Signifikation und Sinnlosigkeit (dem Trauma) zu erfahren.35 Die textuellen Konditionen der Zeugenschaft erweisen sich aber dahingehend als ambivalent, dass sie in ihren unvorhersehbaren Wirkungen gerade die Macht des archivalischen Codes zu brechen oder zu schwächen vermögen. Dem performativen Aspekt der Sprache eignen folgerichtig politisch-juridische Dimensionen von Macht und Gewalt, so im Medium der forensischen Rede, wie ihrem Zusammenhang im Beitrag von Susanne Strätling nachgegangen wird. Am höchst lehrreichen Beispiel Sergej M. Tret’jakovs werden die Verflechtungen zwischen der avantgardistischen Materialisierung der Sprache (die sich dichtungsgeschichtlich von der ästhetizistischen Exklusivität loslösen will) verstanden als Operationalisierung, also die Konjunktion von Wort und Tat und bestimmten politisch-juridischen Interventionen nachgezeichnet. Die Politisierung des Literarischen und die Ästhetisierung der Politik, Gewalt auf der Bühne und im Gerichtssaal antizipierte referentielle Gewalt gleiten nach dem Chiasmus institutionalisierte Fiktion/fiktive Institution ineinander über. Solche Übergänge sind ideologischer Art und stützen sich auf Pakte des Lesens, auf die Regulierung der performativen Potenz des Wortes (wo es beinahe unentscheidbar bleibt, ob sich diese Kanalisation auf die vorgängige performative Funktion bezieht oder diese vielmehr erst hervorruft). Denn Autorisierungen der operativen Sprache sind selber gewaltsamer Natur und wenden sich fast mit einer Notwendigkeit zurück auf ihren Urheber, wo sie jedoch ambivalent wirken, insofern sie sowohl eine Ungerechtigkeit dem Autor gegenüber bedeuten als auch erst recht seine Wahrheit darstellen (vgl. den zweischneidigen Fall der »Selbstanklage«, die Unterwerfung wie Souveränität gleichermaßen konnotiert, jedoch jeweils von einem vorausgesetzten Rechtsdispositiv oder -konzept her). In einem solchen diskursiven wie ideologischen Kontext ist jegliche versuchte Trennung von Text und Tat, Trope und Referenz im Begriff, etwa als eine falsche Entschuldigung, d.h. wiederum als Tat angeklagt werden zu können. Hier wird es besonders deutlich, dass quasi-institutionalisierende Maßnahmen sich vornehmlich auf den
35 Zur Korrelation von Zeugenschaft, Trauma, Geschichte und Rechtlichkeit vgl. Sh. Felman: The Juridical Unconscious.
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unscheinbaren wie abgründigen Bezug zwischen Wort und Tat richten und damit ineins Kommunikation an die Dritten selber performativ instrumentieren (so kommt man bei den Schauprozessen an). Es könnte sein, dass der Avantgardist gerade diese kommunikative wie performative Potenz des Wortes, an der er gleichwohl interessiert war, unterschätzt hatte (und zwar aus strukturellen Gründen). Institutionen leisten laut Castoriadis auf grundlegende Weise die Regelung der Relation von Signifikant und Signifikat.36 In der Literatur stellt aber bereits der phänomenale Aspekt des Signifikanten das Terrain institutionalisierender Operationen dar. Die kulturtechnische Feststellung oder Vergegenständlichung des textuellen Signifikanten – die Etablierung der kanonischen Form des Textes, sein »Einlesen« – durch die Philologie37 nimmt auf latente Weise institutionelle Manöver in Anspruch, sie betreibt eine Institutionalisierung. Hier wird man Zusammenhänge gewahr, wie denn Institutionen in Kulturtechniken gründen, in solchen des Speicherns, Adressierens und Übertragens (bzw. Einlesens) von Zeichen und Daten. Man könnte sagen, solche Operationen stellen Strukturmerkmale der Iterabilität dar, nehmen deren Effekte in Anspruch. Die Iterabilität wird von institutionellen Praktiken miterzeugt, befohlen, vorgeschrieben, zugleich werden solche Wiederholungsprozesse auch reguliert, referentiell identifiziert. Nicht nur die Etablierung der semiotischen Relation steht im Visier, sondern vor allem das Ziel wie die Nötigung, die Iterabilität des sprachlichen Zeichens mithilfe von symbolischen Praktiken zu konstellieren, die Reproduktion gewisser semantischer Inhalte und Codierungen kulturtechnisch zu sichern. Zugleich meint aber Iterabilität, die Wiederholbarkeit der Zeichen auch eine Kraft oder Gewalt,38 die sowohl – das Singuläre im Allgemeinen – instituierende wie auch deinstitutionalisierende Wirkungen haben kann. Diese verlaufen entlang der differentiellen Spaltung der Singularität, der Spur, festigen diese Differenz, verschieben sie aber zugleich auch und laufen konträr zur Generalisierung im Zeichen der Institution. In der literarischen Ereignishaftigkeit wird es zu einer besonders intensiven Erfahrung, dass das, was wiederholt wird, vor dieser Wiederholung so nicht
36 Vgl. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. 37 Vgl. hierzu Z. Kulcsár-Szabó: Philologie vor der Literatur? und andere Beiträge im Band Kulturtechnik Philologie, zu welchem Band die vorliegende Publikation sich in diesem Punkt als eine Ergänzung versteht. 38 Vgl. J. Derrida: This Strange Institution, S. 42-43, 62, 64-69. Vgl. noch S. Weber: Institution and Interpretation, S. 141-142.
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da war, vielmehr erst durch diese geschaffen und zugleich einer Zukunft der nicht beherrschbaren Iterabilität geöffnet wird und somit im Kommen bleibt (auch als Vergangenes). Das wäre womöglich eine Tieferlegung der Frage nach der Institutionalität der literarischen Textualität, die auch im vorliegenden Band vorgenommen wird, vor allem in Bezug auf sprachtheoretische Operationen. Der Beitrag von Hajnalka Halász, der strukturalistische, semiotische, medientheoretische und hermeneutische Diskurse miteinander verzahnt, zeigt am Beispiel der Jakobsonschen Weiterführung bestimmter Themen und Terminologien von Saussure, welcher iterativer Codes es bedarf, aus der Differenz eine Opposition zu konstruieren.39 Zwischen Differenz und Opposition vermittelt die Wiederholung, die indes als Code instituierenden Charakter besitzt und mit einer Kodifizierung gleichzusetzen ist, die in ihren figuralen Vollzugseffekten das Medium oder das Mediale (in diesem das Rauschen) zu beherrschen sich anschickt. Die Sprache ist ja laut Saussure »keine Nomenklatur« (nicht in diesem Sinne arbiträr), sondern ein Vermittlungsmedium zwischen dem Denken und dem Laut, so heißt dies, dass jegliche wissenschaftliche, also metasprachliche Systematisierung von Elementen der Sprache ohne eine gewisse figurative Umformung und Iteration ebendieser Sprache selbst nicht auskommt. In diesem Zusammenhang zeichnen sich verwickelte Verhältnisse zwischen Fragen der Signifikation, der Differenzialität und der Wiederholung bzw. bestimmten ästhetischen Figuren, ferner zwischen der nachrichttheoretischen Transformation sprachlicher Zeichensysteme ab, wo die Unterschiede zwischen den auf numerischen Codes basierenden Medientheorien und der strukturalistischen Herangehensweise von Jakobson sich teilweise als relativ erweisen. Dass der »Leere der Differenz« in der Darstellung von Halász auch gegenwärtige medientheoretische und performanzorientierte Diskurse etwas ratlos gegenüberstehen, verrät viel über die Virulenz des Saussureschen Problems. Die übrigen Beiträge fokussieren auf verschiedene Kulturtechniken und performative Praktiken, die institutionelle Aspekte bzw. Funktionen besitzen und entfalten können, in denen sich das Literarische simuliert. – Eine wichtige literarische Institution, die Autorschaft, und zwar auf der Schwelle ihrer Herausbildung in der frühen Neuzeit, wird von Wolfram R. Keller am Beispiel von Jonson und Shakespeare diskutiert. Grob gesagt geht es hier darum, wie eine vor allem mit theatralischen Mitteln, durch intertextuelle, emblematische und mythologische Effekte inszenierte und institutionell gestützte Autorschaft (von Shakes-
39 Vgl. die Bemerkungen Webers zur »institution linguistique« von Saussure ebd., S. 610, 146, 161-179.
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peare) ihre Konkurrenz in einer »philologischen« Institutionalisierung und Autorisierung (Jonson) findet (von metadramatischen Wendungen bis zu paratextuellen Apparaten). Also am Übergang von einer vom theatralischen Dispositiv dominierten zu einer mehr von Möglichkeiten des Buchdrucks bestimmten Öffentlichkeit. Zugleich wird sichtbar, wie eine solche Quasi-Philologisierung auf das temporale Bedeutungs- und Transgressionspotential der Texte reagiert. Das gleichsam metafiktionale Genre des »Godgame« – in dem rollengebundenes Maskenspiel und Selbstinstitutionalisierung des Autors nicht auseinanderzuhalten sind – erweist sich in der Tat als eine Inszenierung, die noch denkbar weit entfernt ist von der Vorstellung der Schaubühne als einer moralischen Anstalt. Nicht umsonst hat sich etwa Carl Schmitt auf Shakespeare (Hamlet) beziehen können, da bei ihm Geschichte »im Spiel« selbst anwesend ist und nicht als Stoff »gespiegelt« wird. So wird vielleicht auch verständlich, warum die postmoderne Intertextualität mit Vorliebe ähnliche Strukturen aufgreift und entwickelt, die die metatextuelle Perspektive hinter sich lassen. Die Problematik der Gastlichkeit als kulturwissenschaftlicher wie philosophischer Komplex – das Thema des Beitrags über Raabe von Evi Fountoulakis – braucht nicht eigens unterstrichen zu werden, verdichten sich doch in ihm wesentliche Herausforderungen für das kulturelle Selbstverständnis wie für die philosophische Begrifflichkeit. In dieser Motivik kann Literatur besonders intensiv sich selbst als Institution und zugleich ihre Überschreitung simulieren bzw. inszenieren. Der/die/das Andere des Gastes als eine Figur des Dritten dynamisiert kulturelle Praktiken und Institutionen, beispielsweise deren Zeitvorstellungen und -strategien, kontaminiert ihre Immunität und macht ihre referentiellen Grundlegungen unsicher. In diesem Ereignis als Überschreitung – als Bruch im »Säkulum« – verdichten sich mehrere Zeiten kultureller, diskursiver wie mythologischer Art. Zugleich ist der Gast in die Alternative von Irritation bzw. Institution nicht unbedingt einzuschreiben, kommt ihm doch die Rolle einer Gegenzeichnung zu, die singulärer Art ist, dabei freilich auch ambivalent bleibt. Die metafiktionale Simulierung des »mapping« bei Pynchon wird im Beitrag von Gábor Tamás Molnár zum Anlass genommen, um über Parallelen zwischen der literarischen Welterzeugung und der wissenschaftlichen Epistemologie nachzudenken. Hierbei wird nach der historischen Gleichzeitigkeit von der Institutionalisierung der literarischen Kommunikation im Zeichen des modernen Romans und der kulturellen Dominanz der modernen Naturwissenschaften Ausschau gehalten, die ihren Ursprung in der Aufklärung haben. Die Gattung des modernen Romans wird sowohl in ihrer medialen Dimension (gekoppelt mit Lektürestrategien!) als auch in bestimmten Modi ihrer quasi-wissenschaftlichen Selbstpräsentationscodes reflektiert. Dadurch wird die fiktionalisierende Leistung der
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Literatur (hier auf den Ebenen der Narration und der Metafiktion) gerade in ihrer Institutionalisierung stark gemacht – also nicht nur die Institutionalisierung der Fiktion, sondern mindestens im selben Maße die Fiktionalisierung der Institution als double bind in »This Strange Institution Called Literature«. Die Potenz der Literatur, »alles sagen zu können«, wird da in ihrer abgründigen Ambivalenz dargestellt. Die erwähnte Fiktionalisierung meint hier jedoch keine Neutralisierung, vielmehr einen Ruf der Verantwortung im Sinne des Versprechens, eines »endless promise« des Alles-sagen-könnens (im doppelten Genitiv).40 In ihrem Beitrag über Elfriede Jelineks umstrittenes Werk zielt Beatrix Kricsfalusi auf die ambivalente Interdependenz von Bote und Zeuge, die möglicherweise auch in jüngeren Publikationen zum Thema nicht genügend komplex dargestellt wurde. Die Spannung zwischen Botenbericht und Zeugenschaft bleibt zwar unauflösbar, dennoch ist sie konstitutiv in der literarischen Inszenierung und zwar meint sie nicht nur eine referentielle Unentscheidbarkeit der Authentizität. Vielmehr behält Derrida auch hier Recht: die Iterabilität des Zeugnisses kann dieses in eine Art Diktat bis zur Fernbestimmtheit des zum Boten mutierenden Zeugen umwandeln (und diesen ideologisch-autoritativ aufladen bzw. in Dienst nehmen) – welches Diktat aber dennoch (quasi-autobiographisches) Sprechen des Zeugen bleibt, will man die testimoniale Geltung seines Diskurses beibehalten. Nun wird das Zeugnis erst vom Leser her zu einem Testimonium, durch seine Positionierung als Zeuge, der für das Zeugnis, das hinterlassene Testament zeugen soll. Wie Kricsfalusi zeigt, wird literarische Kommunikation erst über binäre Oppositionen (wie die von Opfer und Täter), die referentielle Zuschreibungen ermöglichen und festsetzen, hinaus produktiv oder performativ (ohne aber – gerade deswegen – vor dem Meineid gefeit zu sein), wo die Rolle des Dritten durch die Iterabilität des Zeugnisses immer schon Institutionalisierung induziert (nicht umsonst geht es in diesem Beitrag nicht nur um Literatur, sondern auch um die Institution bzw. Medium des Theaters). Zugleich ist nicht zu vergessen, dass die so vermittelte literarische Kommunikation in letzter Instanz doch vor allem als Lesen (nicht einfach als »Wissensübertragung« u.dgl.) genuin literarisch und (dadurch) wirksam wird – als Lesen des transgressiven Zusammenspiels und der unmöglichen Unterscheidung von Bote und Zeuge, Signifikat und Referenz. So schließt sich – horrible dictu – der hermeneutische Zirkel, der im Beitrag von Hajnalka Halász geöffnet wurde: Binarismen von Oppositionen41 werden
40 S. J. Derrida: This Strange Institution, S. 38. 41 Diese geistern ja auch in den Medientheorien herum, z.B. in Unterscheidungen von Medium und seinem weißen Hintergrund, von Archiv und Chaos.
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von der Iterabilität im Zeichen des Zeugnisses kommunikativ und performativ unterwandert – so erhält die Rolle des Dritten ihre gegenwärtig besonders insistierende Referenz auch in wissenschaftshistorischer und diskursgeschichtlicher Hinsicht.
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Kultur, Anthropologie, Wissenschaft
Der erste Anfang als »Ereignis« Entstehung der Kultur zwischen Sprachgeschehen und kulturellem Materialismus E RNŐ K ULCSÁR S ZABÓ
Vicos epochal bedeutender Gedanke, dass die wirklich sich ereignende Geschichte kein göttliches, sondern Menschenwerk sei, löste einen Umbruch in der Deutung des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit aus, der – wenngleich die Aufklärung der Scienza Nuova auch nur wenig Beachtung schenkte – in der Geschichte des neuzeitlichen Denkens weitreichende Folgen zeitigte. Hier muss vor allem hervorgehoben werden, dass sich die im evangelischen Endpunkt verankerte Ordnung des von Gott herrührenden ordo temporum nun auch aus der entgegengesetzten Perspektive als auslegbar erwies. Vicos Werk nämlich machte die Begründung eben der Frage einsichtig, auf welche Weise sich die geschichtliche (= kulturelle) Welt des Menschen darstelle und durch welche Lenkung sie funktioniere, wenn ihre Zeitlichkeit nicht in einem eschatologischen heilsgeschichtlichen Horizont, sondern vom hypothetischen ersten Anfang her in den Blick genommen wird. Das Problem der in die Vorzeit sich verlierenden Auffindbarkeit des Ursprungs führt indessen notwendigerweise in diskursive Bereiche, mit denen die Aufklärung selbst am vehementesten abzurechnen trachtete. Es ist also alles andere als selbstverständlich, dass sich das wissenschaftliche Interesse gerade in einer Epoche belebte, die ein denkbar feindliches Verhältnis zur Welt der Mythen hatte. Zwischenzeitlich freilich entstand eine Reihe überzeugender Erklärungen in Hinsicht darauf, wie im Verlauf der »Entzauberung« der Welt (Max Weber) dort dennoch in aller »Entmythologisierung [des Wissens]« (Bultmann) das geheime Verlangen der Aufklärung nach Welterklärungen im Range von Mythen fortlebte, ja sogar ihr zumeist verschwiegener Drang, mit den Mythen einen Bund
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einzugehen. Auf dem Weg vom Mythos zum Logos verspricht die Aufklärung nämlich die Entlastung der menschlichen Geschichte durch Vernunft in Utopien, die ebenso sehr in tiefer struktureller Verwandtschaft mit den Mythen stehen. »Denn hinsichtlich der die menschliche Geschichte umspannenden Anstrengung«, schreibt hierzu Blumenberg, »die Angst gegenüber dem Unbekannten oder gar noch Unbenannten zu überwinden, stehen Mythos und Aufklärung in einem zwar leicht einsehbaren, aber ungern eingestandenen Bündnis«.1 Für Mythos und Utopie liegt diese offenkundige Symmetrie wohl in gänzlich unterschiedlichen Zeitlichkeiten begründet, jedoch von zwei Seiten her, genauer: Durch Wechselseitigkeit in beiden Richtungen verstärkt sie die Erfahrung, dass beide ihren Ursprung in der Faktizität des menschlichen In-Der-Welt-Seins haben. So gesehen ist der Mythos denn eine Art »conditio humana«, weil »[d]er eigentliche Sinn des Mythos [...] nicht der [ist], ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus, wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropologisch – besser: existential interpretiert werden«.2 (Per analogiam – zumindest soweit ich es beurteilen kann – hat sich bis heute ein ähnlicher Zustand im Diskurs der Theologie herausgebildet.3) Dies nun – die theologische Anthropologie hier verlassend – gründet vermutlich darin, dass für den Kulturmenschen, der eben mittels der Sprache aus der umfassenden Herrschaft der Natur heraustrat, die Angst vor dem Unbekannten ursprünglich, archaisch und nicht ablegbar ist. Die uranfängliche menschliche Einrichtung in der Welt nahm aus eben diesem Grunde mit der Namengebung, mit dem Einbruch des Namens in das unbekannte, bedrohliche Chaos der Umgebung ihren Anfang. Die Veränderung der Welt hin zum Bekannten – Vertraut-Heimischen und Eigenen – ist jedoch eindeutig nicht einem Akt der Vernunft oder der Transformation von Sinneswahrnehmungen zu verdanken: »Alles Weltvertrauen fängt an mit den Namen, zu denen sich Geschichten erzählen lassen. Dieser Sachverhalt steckt in der biblischen Frühgeschichte von der paradiesischen Namengebung.«4
1
H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 180.
2
R. Bultmann: Neues Testament und Mythologie, S. 22.
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»Die christliche Lehre von der Erbsünde erzählt eine Geschichte, die nicht eingebettet ist in den Kosmos, so wie wir ihn kennen, sondern umgekehrt eine Geschichte, die die Verfassung dieses Kosmos selbst erst erklärt. Eine solche Geschichte kann man einen Mythos nennen, weil die Geschichten, die wir sonst erzählen, ihre Plausibilität gewinnen im Rahmen einer uns bekannten Wirklichkeit.« R. Spaemann: Transformationen, S. 17.
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H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 41.
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Die Konstruktion des vom Mythos hin zum Logos und von den Vorurteilen zur Autorität der Vernunft führenden Weges hängt demnach auch nicht mit dem Wirkungsverlust der Mythen in der Aufklärung zusammen. Wenn auch die Aufklärung selbst an der Erhellung der profanen Anfänge der menschlichen Geschichte interessiert war, so konnten die auf sie sich beziehenden Hypothesen sich genauso wenig auf die sogenannte »Zuverlässigkeit« der Schriftlichkeit verlassen, wie die Schöpfungs- und andere Ursprungsmythen auf materialisierbare »Beweise«. Wie different die Anlässe für die Verwendung des mythologischen Erbes möglicherweise auch waren, »[galt] die Kenntnis der Mythen [...] nach wie vor als Bedingung der Lesbarkeit der kulturellen Welt, als unersetzbares Repertoire aller Künste und als Medium festlicher Repräsentation«.5 Die Gleichwertigkeit der sakralen und der profanen Ursprungsgeschichten erwies sich zudem noch von den Kriterien der erfahrungslogischen Regeln der wissenschaftlichen Beweisführung her als belegbar. Dies gilt wenigstens, wenn »[d]er Satz, alles sei aus dem Wasser geworden, [...] zwar anders [ist], aber darum noch nicht besser als der, alles sei auf dem Okeanos«.6 Offensichtlich sieht es gerade nicht so aus, dass die Wirkungsgeschichte bisher über die »Leistung der Vernunft für die Selbsterhaltung des Menschen«7 und die Priorität der wissenschaftlichen Logik bei der Welterkenntnis entschieden habe. Der größte Denker der Aufklärung formulierte dies in jener Zeit folgendermaßen: »Denn obgleich eine Erkenntnis der logischen Form völlig gemäß sein möchte, d.i. sich selbst nicht widerspräche, so kann sie doch noch immer dem Gegenstande widersprechen.«8 Dies nun ist möglich, weil »Vernunfteinheit [...] also nicht Einheit einer möglichen Erfahrung [ist], sondern von dieser als der Verstandeseinheit wesentlich unterschieden«.9 In den sich voll entfaltenden epistemologischen Raum der von der Allmacht der Vernunft geblendeten Aufklärung – aus dem der Mensch im Großen und Ganzen so verdrängt wurde wie die Natur aus dem der kritisierten Theologie – konnte der neue Impuls früherer »kultureller« Fragestellungen andererseits deshalb ohne jegliche Schwierigkeit eindringen, weil sich die in der errichteten (= der kulturellen) Welt selbst erscheinende Zugehörigkeit des Menschen zur Sprache und der Sprache zum Menschen in diesem Horizont als unumgängliche Frage herausstellte. Alles weist darauf, dass im Gegensatz zu Jauß’ Beobachtung
5
H.R. Jauß: Studien, S. 24.
6
H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 188.
7
Ebd.
8
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft 1, S. 103.
9
I. Kant: Kritik der reinen Vernunft 2, S. 317.
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»die Entfaltung dieser neuen Mythen« nicht den »Hintergrund« bildete für »[die] Debatte über den Ursprung der Sprache [...], die von Vico, Fleury und Warburton über Condillac und Rousseau bis zu Hamann und Herder das Jahrhundert durchzieht«,10 sondern dass gerade das Erkennen beider substantiellen Zusammengehörigkeit den bisherigen Fragen des Kulturverständnisses eine neue Richtung gegeben hat. Die (große, mythische) Erzählung der Geschichte des kulturellen Ursprungs ist daher nicht die kulturhistorische Dekoration der Sprachentstehung. »An der Spitze aller Kultur«, schreibt Burckhardt dazu beinahe ein Jahrhundert später, »steht ein geistiges Wunder: die Sprachen«.11 Das Geschehen dieses »Wunders« erschafft denn ein – die Wechselseitigkeit nicht entbehrendes – Verhältnis zwischen Entstehung der Sprache und Kulturalität, das auch im Verständnis Stierles zugleich »Fundierungs-«, »hermeneutische« und »Dekodierungsrelation«12 genannt werden kann. In Abwandlung von Stierles Schema ließe sich sagen, dass das Geschehen die Geschichte, die Geschichte jedoch die Erzählung fundiert, und dass die Erzählung die Geschichte und die Geschichte das Geschehen deutet, während die Erzählung die Geschichte und die Geschichte aber das Ereignis sichtbar macht. Die obigen engen Zusammenhänge zwischen Sprachlichkeit und Kulturalität sind in erster Linie daher bedeutsam, dass, während auf die Frage nach der Entstehung der menschlichen (kulturellen) Welt hin nur die neue Vico’sche Deutung der Geschichte eine Perspektive überhaupt eröffnen konnte, die Geschichte selbst sehr bald aus dem Kreis des kulturwissenschaftlichen Interesses herausgedrängt wurde. (Im Allgemeinen geschieht am Ende des 20. Jahrhunderts etwas Ähnliches auch mit der Gesellschaft, wenn die mediale und die systemtheoretische Kulturforschung auf der Grundlage der »Technologie« der Organisation, der von der sozialen abweichenden Integration der kulturellen Subjekte und der andersartigen Vermittlung ihrer Verhältnisse zueinander letztlich betont zwischen Kultur- und Sozialwissenschaften unterscheidet.13) Denn tatsächlich
10 H.R. Jauß: Studien, S. 29. 11 J. Burckhardt: Betrachtungen, S. 58. 12 K. Stierle: Text als Handlung, S. 50. 13 »Name und Sache der Kulturwissenschaft scheinen in ausdrücklicher Absetzung oder Polemik gegen einen universal angesetzten Gesellschaftsbegriff entstanden zu sein, wofür schon Nietzsches lebenslange Attacken auf den Sozialismus ein illustres Beispiel geben. Man wird also immerzu die Frage im Auge behalten müssen, warum die Kulturwissenschaft gegen soziologische Einverleibungen von Anfang an gekämpft hat. Daß das Wort Gesellschaft im folgenden nicht fällt, ist Methode.« F. Kittler: Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 16.
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beziehen sich auf den Ursprung der Kultur abzielende Untersuchungen schon im Laufe des 18. Jahrhunderts am engsten auf Hypothesen, die die Entstehung der Sprache betreffen. In dem in erster Linie von Vico, Rousseau und Herder geschaffenen diskursiven Raum gerät die Phänomenologie dieses Verhältnisses nicht in artikulierte geschichtliche Zusammenhänge, sondern wird deutlich in mythologischer, ritueller, institutioneller14 und kulturtechnischer15 Dimensionierung erkennbar. »Da wurde Alles Menschlich, zu Weib und Mann personificiert; überall Götter, Göttinnen, handelnde, bösartige oder gute Wesen! Der brausende Sturm, und der süße Zephyr, die klare Wasserquelle und der mächtige Ocean – ihre ganze Mythologie liegt in den Fundgruben, den Verbis und Nominibus der alten Sprachen und das älteste Wörterbuch war so ein tönendes Pantheon, ein Versammlungssaal beider Geschlechter, als den Sinnen des ersten Erfinders die Natur. Hier ist die Sprache einer alten, wilden Nation ein Studium in den Irrgängen Menschlicher Phantasie und Leidenschaften, wie ihre Mythologie.«16
14 »[Es] gab [...] Familien, doch gehörten sie nicht zu einem bestimmten Volk; es gab familieneigene, aber keine einen Volksstamm verbindende Sprachen; es gab Ehen, aber keine Liebe. Jede Familie war sich selbst genug und pflanzte sich in ihrem eigenen Blute fort. Die von den gleichen Eltern stammenden Kinder wuchsen gemeinsam auf und fanden nach und nach Mittel, sich untereinander verständlich zu machen [...].[...] In den milden Klimazonen und fruchtbaren Gebieten bedurfte es schon der ganzen Lebhaftigkeit sehr angenehmer Leidenschaften, um die Bewohner zum Sprechen zu bringen. Die ersten Sprachen [waren] Töchter des Vergnügens und nicht des Bedürfnisses [...].« J.-J. Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, hier S. 133-134. 15 »Allgemein herrschte Kriegszustand, aber die ganze Welt lag in Frieden. Die ersten Menschen waren Jäger oder Schäfer und nicht Bauern. Die ersten Besitztümer waren Herden, nicht Felder. Bevor der Besitz an Grund und Boden aufgeteilt wurde, dachte niemand daran, ihn zu kultivieren. Ackerbau ist eine Arbeit, die Geräte verlangt, Säen, um zu ernten, setzt eine Vorsorge voraus, die ihrerseits Vorausschau erfordert. Der in Gemeinschaft lebende Mensch trachtet danach, sich auszubreiten, der isolierte Mensch beschränkt sich. Außerhalb des Bereichs, den sein Auge übersehen oder sein Arm erreichen kann, gibt es nichts für ihn, weder Recht noch Besitz. Wenn der Zyklop den Stein vor den Eingang seiner Hütte gewälzt hat, sind er und seine Herden sicher. Wer aber würde die Ernte desjenigen schützen, über den keine Gesetze wachen?« Ebd., S. 122-123. 16 J.G. Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 291.
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Noch in diesen etwas komplizierten Erläuterungen Herders ist gut die grundlegende Doppelsinnigkeit der seine Welt eben kulturell ausgestaltenden »Einrichtung« des Menschen zu beobachten sowie die gleichzeitige Notwendigkeit der in äußerer und innerer Welt begründeten Orientierung. Wichtiger hingegen ist, dass diese Position primär sprachlich bedingt ist bzw. im Wesentlichen ein auf zwei Arten wirksames – eine »äußere« (die mythologische Behauptung der Welt) und eine »innere« (die »Irrgänge der Vorstellung und Leidenschaften«) Welt erschaffende – Ergebnis der Leistung der Sprachlichkeit. Sofern zudem nicht vergessen wird, dass dieses (kulturell unentbehrliche, orientative) Medium der zweifachen Konstituierung bei Herder ursprünglich zum Menschen gehört, so ist leicht einzusehen, aus welchem Grund die Fragen der Entstehung von Kultur und Sprache nicht voneinander zu trennen sind. Gegenüber den »gekünstelten« Überlegungen Condillacs und Rousseaus unterstreicht Herder17 eben, indem er sich auf die obige Untrennbarkeit stützt, dass die Sprache weder von kindlichem (tierischem) noch göttlichem Ursprung sein kann. Das Ereignis der Sprachentstehung nämlich ist, sofern logisch verfahren wird, zuerst in der Vermittlung zwischen dem Menschen und seiner nächsten Umgebung zu suchen und liegt in der – die dauerhafte Verbindung von Ding und Vorstellung auslösenden – wiederholten Erfahrung derselben Umgebung begründet. Zumal diese unmittelbare Umgebung die Welt der Natur und ihrer Lebewesen ist, sammelt sich in den Situationen der wiederholten Begegnung mit ihr das gesamte Potential der menschlich beeinflussten Entstehung der Sprache an. Herder jedoch – und das ist es, worüber der Blick jener Erforscher der Entstehung der Sprache in den 1980er Jahren meist hinweggleitet18 – versteht die
17 »Condillac und Rousseau mußten über den Sprachursprung irren, [...] da jener* die Tiere zu Menschen und dieser** die Menschen zu Tieren machte. (* Traité des animaux, ** Sur l’origine de l’inégalité etc.)« Ebd., S. 192-193. 18 Der mögliche Grund hierfür ist, dass eine der letzten repräsentativen Sammlungen von dieser Frage gewidmeten Aufsätzen eher eine wissenschaftsgeschichtliche Abrechnung ist und unter der Ägide des Anreizes zu interdisziplinärer Forschung entstand, vgl.: J. Gessinger: Theorien. Das divergente Interesse der Fragestellung illustriert wohl auch die Tatsache, dass das Unternehmen aus der Nicht-Lösbarkeit der »ewigen Frage« die neuerliche Aktualität des Problems herleitet: »[D]ie Persistenz der Debatte [um die Sprachursprungsfrage] [muß] ihre Gründe haben [...] Es könnte sein, daß die Sprachgenese unerklärbar ist, solange sie als Ursprungsfrage gedacht wird, daß aber gerade das Sprachursprungsdenken die Menschen immer wieder auch deswegen fasziniert, weil es die Hintergehbarkeit von Sprache in Aussicht stellt.« Ebd., S. 39.
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primordiale Welterfahrung als ein nicht direktes Verhältnis. Den Vorgängern gegenüber enthält seine Deutung einen deutlich größeren Ertrag, weil er die Begegnung zwischen dem Menschen und seiner Umgebung immer als vermitteltes, mediales Verhältnis beschreibt. Bei Herder ist die Begegnung somit keine direkte Berührung unter den Bewohnern der Natur, sondern eine Begegnung ihrer Zeichen und Bezeichnungen19: »ein übermannendes Gefühl von Rache, Verzweiflung, Wut, Schrecken, Grausen usw. alle kündigen sich an, und jede nach ihrer Art verschieden an«.20 Diese Umgebung ist bereits insoweit potentiell die anfängliche Welt der Kultur21, als der Mensch über die Natur durch deren Sprachen bzw. durch mediale Vermittlung Kenntnis erlangt. Die mediale Leistung der in dem bekannten Märchen vom Lamm thematisierten »aufhorchenden« Gesten schließlich ermöglicht es, dass mit der Reflexion »des [abgesonderten] Merkmal[s] der Besinnung«22 die erste Ansprache (»du bist das Blökende«) die ersten Bestandteile der (nun bedeutsamen) menschlichen Welt erschafft. Herder fasst dies folgendermaßen: »beim ersten [erfassten, verstandenen – E.K.Sz.] Merkmal ward Sprache«.23 Dies bedeutet im Grunde genommen, dass die lautliche Äußerung als Sprache Funktion erhalten kann, weil das Wort auf diesem Wege nicht irgendeine konkrete Sache »bedeutet« und – gleichsam dem Ding anhaftend – auch keinen Teil der Natur »bezeichnet«, sondern dessen Medium (»Blöken«) nennt. D.h. es nennt etwas, das nicht die Sache selbst ist. Das Erkennungsmerkmal bezeichnet ja, obwohl es metonymisch als Merkmal des konkreten Tieres genommen wird, nicht allein als Zeichen etwas, sondern löst sich davon auch insofern, als es über sich hinausweist. Deshalb kann es »sich verselbständigen« und auch weitere Exemplare der Art bezeichnen. Aus Sicht der gegenwärtigen Kulturwissenschaft jedoch hat nicht diese berühmte Aussage epochale Bedeutung. Vielmehr denn gilt, dass Herder die für die kulturellen Anfänge wie zur Entstehung nötige mediale Vermittlung sehr
19 Anm. d. Übers.: Der Originaltext nutzt an dieser Stelle im Ungarischen die (morphologische) Tatsache aus, dass ›jel‹ [Zeichen] und ›jelzés‹ [Bezeichnung] jeweils durch Hinzufügen bzw. Fortlassen einer Endung auseinander bildbar sind. 20 J.G. Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 254-255. 21 Die Wiederholung der Nähe konditioniert bereits die anfängliche Form des Verständnisses zwischen Mensch und Tier: »Es ist natürlich, daß der Araber, der mit seinem Pferde nur Ein Stück ausmacht, es mehr versteht, als der, der zum Erstenmal ein Pferd beschreitet; fast so gut, als Hektor in der Iliade mit den Seinigen sprechen konnte.« Ebd., S. 255. 22 Ebd., S. 277. 23 Ebd., S. 287.
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konsequent von den Formen der in der Natur möglichen Vermittlung unterscheidet. Wenn nämlich die Kultur (gegenüber der nicht-erschaffenen Natur) eine ursprünglich medial vermittelte Welt ist, in der der Mensch auch zu sich selbst immer vermittelt ist, so ergibt sich dies daraus – und dies erkannte Herder lange vor seinen Zeitgenossen –, dass in ihm die Erfahrung der und das Wissen um die Vermitteltheit einen eigenen konstruierten (»künstlichen«, »antinatürlichen«) Raum erzeugt, der nicht mehr der Ort24 der natürlichen Unmittelbarkeit ist. Der Mensch, schreibt Herder, hat demnach »kein Einziges Werk, bei dem er also auch unverbesserlich handle [...] Jeder Gedanke ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur, aber eben damit kanns sein eigen Werk werden. [...] Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung«.25 Der zum Medium der Sprache gehörige Gedanke als eigenes Werk ist hier daher die Verkörperung der Mittelbarkeit par excellence, da er selbst auch – als die Erfahrung der Mittelbarkeit wie der Vermitteltheit26 einzig ermöglichendes Medium – zugleich Vermittlung und Abgrenzung realisiert. Denn während er – nicht jedoch als ursprünglich aus der Natur – die Kontinuität der Zugehörigkeit zur Natur erfahrbar macht, enthebt er den Menschen der Natur und gibt ihm die Möglichkeit eine (kulturelle) Welt nach eigenem Maße zu errichten. Indem dieser Gedanke noch die paradoxe Struktur der Schlussfolgerung bestätigt, hat der Gedanke (auch bei Hegel) eigentlich die Funktion eines Mediums, das den Übertritt in die »künstliche«, erschaffene Welt zur Bedingung dafür macht, dass der Mensch – gegenüber dem Tier, das hierüber kein Wissen hat – überhaupt Erkenntnis über seine eigene natürliche Konstitution erlangen kann. Dies nun kann er als einer, der die Natur verlassen muss, um eben als endliches (Kultur)Wesen die daraus herstammende umfassende Unmöglichkeit der Emanzipierung von der Natur erkennen zu können. Von hier aus betrachtet ist es sicher kein Zufall, dass gerade Herder jene geistigen operativen Gefilde hinter sich lässt, in denen seine Vorgänger und seine Zeitgenossen versuchten die Frage der Kulturalität zu etablieren. Aus dem Diskursraum von Über den Ursprung der Sprache nämlich werden nicht nur die polytheistischen (Platon: Protagoras) und die heilsgeschichtlichen (Genesis)
24 Dieser ist freilich dadurch anders, dass er als Unmittelbares bzw. als nicht durch das mediale Eingreifen der techne erzeugte Sache zum Gegenstand der vermittelten Erfahrung wird. 25 J.G. Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 271. 26 Anm. d. Übers.: Im ungarischen Original steht hier lediglich ›közvet(ít)ettség‹. Im Ungarischen lässt sich ›közvetítettség‹ [Vermitteltheit] durch das Einfügen von ›-ít‹ bilden. ›közvetettség‹ bedeutet ›Mittelbarkeit‹.
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Deutungen des Ursprungs der Kultur ausgeschlossen, sondern darin fehlt auch – trotz der detaillierten sprachwissenschaftlichen Reflexionen – der linguistische Systematisierungsanspruch. Außerdem, und darauf wurde bereits oben hingewiesen, verliert demgegenüber auffälligerweise die den Raum der kulturwissenschaftlichen Handlungsweise einmal eröffnende Frage nach Zugehörigkeit der Geschichte ihre Rolle. Neben all dem jedoch – insbesondere gegenüber dem mythologischen und vornehmlich dem theologischen Erbe – war die diskursive Neusituierung der Sprache, d.h. der Sprachfähigkeit und der sprachlichen Beschaffenheit des Menschen, die Schlüsselfrage der Herder’schen Wendung. Den mythologischen und theologischen Lesarten der Entstehung der Sprache zufolge sei nämlich die Sprachfähigkeit – oder zumindest die der Namengebung – gleichzeitig die Frage nach der göttlichen Abbildhaftigkeit des Menschen, weshalb gerade ihr Bezug zur Stellung des Menschen in der Welt nicht zu vernachlässigen sei. Die präsumptive, hypothetische Wahrscheinlichkeit der Ursprungsgeschichten hinterlässt vor allem in dem Sinne Spuren in der Herkunftsbeschreibung der menschlichen Sprachlichkeit, wie ursprünglich auch Herder sich dies vorstellte: mit der Hypothese der Gleichzeitigkeit von Sprache und Kultur. »[W]o Sprache ist und wo Menschen sind«, schreibt auch Gadamer, »[ist] die [...] Umweltfreiheit [...] auch Freiheit gegenüber den Namen, die wir den Dingen geben, wie der tiefsinnige Bericht der Genesis sagt, demzufolge Adam die namengebende Vollmacht von Gott empfing«.27 Gadamer formuliert hier demgegenüber mit außerordentlicher Genauigkeit,28 dass der erste Mensch bereits vor dem Sündenfall zunächst Gottes und dann die Worte der Schlange versteht, ja, dass Eva ihr gar antwortet. Denn er sagt ja nicht, dass Adam vom Schöpfer die Sprache erhalten habe, sondern allein »die namengebende Vollmacht«.29 Die Sprachlichkeit nämlich, jedenfalls in ihrer vollen Funktionalität, wird lebendig, wenn sie als Medium der Kulturalität »Umweltfreiheit« als Freiheit gegenüber der umgebenden Welt gewährt. D.h., wenn sie zu mehr als zum bloßen Signalaustausch imstande ist und auf diese Weise nicht einfach ein Organ der im Zustand der unreflektierten Zugehörigkeit zur Umgebung möglichen eingeschränkten Selbstäußerung.
27 H.G. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 448. 28 Dies gilt z.B. auch im Vergleich zu Kant, der den biblischen Adam ohnehin als mit Sprache ausgestattet sieht. 29 In diesem Zusammenhang dürfte auch von Bedeutung sein, dass Gershom Scholem die gesamte Thora mit Gottes Namen gleichsetzt, woraus zudem folgt, dass Gottes als »Sprache aller Sprachen« verstandene Sprache keine Grammatik besitzt. Vgl.: G. Scholem: Grundbegriffe, S. 107.
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Denn wirklich – wie dies zudem der vorsichtigen kantischen Deutung dieser Stelle der Genesis gut zu entnehmen ist – lässt sich im Falle des Menschenpaares, das bis zum Sündenfall nicht über das Wissen um das Gute und das Böse verfügt, nur von einer weniger funktionsfähigen Form der Sprache sprechen. (Daher denn ist es auch kein Zufall, dass Gott den Menschen erst nach dem Sündenfall als ihm ähnlich bezeichnet.) Kant beschreibt den ersten Menschen als ein Wesen, das gleichzeitig »also stehen und gehen [konnte]; er konnte sprechen [...] ja reden, d.i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen [...], mithin denken«.30 Obwohl seine nicht vollends genaue Lesart dem Menschen vor dem Sündenfall all diese Fähigkeiten zuschreibt, schränkt er die Leistungsfähigkeit der allerersten sprachlichen Äußerung doch zugleich durch eine dem Begriff »sprechen« beigegebene Fußnote ein.31 Auf diese Weise wird definiert, was noch allein die Sprache des Instinktes der Selbstäußerung ist bzw. nach obigem Verständnis keine Funktionsfähigkeit besitzt. Als solches also ist die erste sprachliche Äußerung bei Kant – im Gegensatz zu Herder – eine Art einseitige, kindliche, nicht gedanken- und dialoggeleitete Geste bzw. bestimmt noch kein Reden in der Sprache der Kultur. Aus der Perspektive der Sprache und des kulturellen Ursprungs hat besondere Bedeutung, dass Gott in der Genesis über das Menschenpaar nach dem Sündenfall sagte: »Siehe, Adam ist worden als unser einer und weiß was gut und böse ist«.32 Dennoch erheben im Weiteren die Evangelien trotz der Menschwerdung Jesu den – mit Sprache und Wissen um Gut und Böse ausgestatteten – Menschen nicht in die Nähe Gottes. Der Diskurs der Heilsgeschichte aber
30 I. Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 86-87. 31 »Der Trieb, sich mitzuteilen, muß den Menschen, der noch allein ist, gegen lebende Wesen außer ihm, vornehmlich diejenigen, die einen Laut geben, welchen er nachahmen und der nachher zum Namen dienen kann, zuerst zur Kundmachung seiner Existenz bewogen habe« – lautet die übrigens teilweise gar mit Herders parallelisierbare Begründung. Ebd., S. 87. Es lohnt sich jedoch darauf hinzuweisen, dass es bei Herder erst die Rede (= die tönende Sprache) – die in den Ideen […] übrigens auch »göttliches Geschenk« genannt wird – ist, die die Vernunft aktiviert bzw. eine »kooperative« Zusammenarbeit der Sinnesorgane überhaupt ermöglicht: »Nur durch die Rede wird die schlummernde Vernunft erweckt oder vielmehr die nackte Fähigkeit, die durch sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die Sprache lebendige Kraft und Wirkung. Nur durch die Rede wird Auge und Ohr, ja das Gefühl aller Sinne eins und vereinigt sich durch sie zum schaffenden Gedanken, dem das Kunstwerk der Hände und anderer Glieder nur gehorchet«. J.G. Herder: Ideen, S. 128. 32 1 Moses 3,22.
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behandelt die ungleiche Symmetrie zwischen Gott und dem Menschen auf widersprüchliche Weise. Denn das nach Gottes »eigenem Bilde erschaffene« Wesen ist ja einerseits bloß der Schattenriss des Schöpfers, hat andererseits aber nicht nur durch das Wissen (Unterscheidung von Gut und Böse), sondern auch mittels der Befähigung zur sprachlichen Weltgestaltung teil an göttlichen Fähigkeiten: »Auch das weitere Anthropinon, daß nur der Mensch Sprache hat, wird zwar von der Genesis nicht ausdrücklich als Vergleichsmoment zwischen ihm und Gott hervorgehoben, und doch ist es ein solches, denn sprechend hat Gott die Welt hervorgebracht. Doch hat der Mensch die Sprache nicht, wie spätere Philosophie dann oft lehrt, von Gott zum Geschenk erhalten, sondern er selbst ›gibt Namen‹. Er gibt sie insbesondere ›allem Vieh und allen Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes‹: damit soll wohl eigens hervorgehoben werden, daß er sich auch durch diese Fähigkeit über sie hinaushebt. (Ähnlich nennen die Griechen die Tiere Aloga, d.h. die [Vernunft- und] Sprachelosen.)«33
Für die Geschichten der Genesis ist also eine Interpretation möglich, die weitgehend mit Herders Ausgangshypothese in Einklang steht, der zufolge in dem Augenblick, da der Mensch zum ersten Mal spricht, jene kulturelle Welt entsteht, die er nicht mehr mit den übrigen Mitgeschöpfen teilt. Es ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass Herders Deutung vom Weg der Tradition des Evangeliums abweicht und durch die These von der ursprünglichen Sprachlichkeit des Menschen im Grunde auch die Gefilde der theologischen Anthropologie verlässt. Inwieweit er sich über die Bedeutung dieser Wendung im Klaren war, lässt sich vor allem dadurch untermauern, dass er die Entstehung der Sprachlichkeit, die die Vernunft in der bereits erwähnten Weise34 in sich birgt, ebenso wie den kulturellen (sprachlich-geistigen) Zustand, der das Reich der Sinne ablöst, eine zweite (oder geistige) Genesis nennt: »Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Leben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Kultur oder vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen, so steht uns der Name frei.«35 Dies ließe sich auch so ausdrücken, dass in der Deutung Herders »der erste Freigelassene der Schöpfung«36 von der selbst vorgegebenen heilsgeschichtlichen Bahn – wo er als Sünder der Erlösung bedarf – in den Raum diesseitiger Deutung des Menschen hinübergelangt. Zumindest lässt sich
33 M. Landmann: Anthropologie, S. 56-57. 34 Vgl. Fußnote 15. 35 J.G. Herder: Ideen, S. 309. 36 Ebd., S. 135.
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dies insofern sagen, als die an die Stelle der Schöpfung tretende und daher als singulare tantum erscheinende erschaffene Welt als ein neuer, diskursiver Raum kultureller Anthropologie betrachtet werden kann. Die These von der ursprünglichen Sprachlichkeit des Menschen meint so auch, dass infolge der Untrennbarkeit der als Akt der Sprache erzeugten Kultur und der als Akt der Kultur erzeugten Sprache sich der Mensch so konstituiert, dass das Medium seines Selbstverständnisses durch dasselbe Geschehen hervorgebracht wird, dem er gleichermaßen seine eigene geschaffene Welt verdankt. Weil aber der Mensch nur an letzterem die zweifache Konstitution seiner selbst erkennen kann, entsteht mit zwingender Notwendigkeit das Paradoxon, dass für ihn, sobald er in die Kulturalität hinübertritt, eben wegen der medialen Mittelbarkeit der Kulturalität in ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit die ontische Natürlichkeit der (nie aufhebbaren) Zugehörigkeit zur Natur nicht sichtbar ist. Das Bewusstsein von der »natürlichen« Zugehörigkeit zur Natur als Ursprung oder die Tatsache, dass diese Natürlichkeit im Nachhinein sich weder als wiederherstellbar noch als erfahrbar erwies – seit Rousseau und dem Sentimentalismus – versah die Deutung der Kultur mit widersprüchlichen Wertigkeiten. Der Anspruch, zum Natürlichen zurückzukehren, fand seine Erklärung logisch in der ambivalenten Leistung der Kulturalität, kam jedoch nur sehr selten zu der Erkenntnis, dass der Grund der Dinge nicht in ihrem gegenwärtigen »kritischen« Zustand liegt, sondern in der medialen Unmöglichkeit, zum Ursprung zurückzukehren. Dieser Anspruch, die Zugehörigkeit zur Natur als natürlich einzuordnen oder die (noch völlig natürliche) Verfassung des Menschen vor Kultur und Sprache in ihrer natürlichen Positivität zur Instanz zu erheben, steht im 18. Jahrhundert wohl im Spannungsfeld zwischen Rousseau und Kant, doch die Ursprünglichkeit37 des »Naturzustands« bestritt selbst Kant nicht, der nicht primär der Sprache, sondern der Vernunft die Entwicklung der kulturellen (zivilisierten und moralischen) Welt zuschrieb. (Was selbstverständlich nicht gleichbedeutend mit der »Abwertung« der Natur war. Das zur Freiheit »führende« Menschenwerk nämlich, aus dem es zu jeder Zeit einen Rückfall in den »Rohzustand« geben kann, ist bei Kant nicht vollkommener als die Natur
37 »Ich setze dieses Paar in einen wider den Anfall der Raubtiere gesicherten und mit allen Mitteln der Nahrung von der Natur reichlich versehenen Platz, also gleichsam in einen Garten, unter einem jederzeit milden Himmelstriche. Und was noch mehr ist, ich betrachte es nur, nachdem es schon einen mächtigen Schritt in der Geschicklichkeit getan hat, sich seiner Kräfte zu bedienen, und fange also nicht von der gänzlichen Rohigkeit seiner Natur an.« I. Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, S. 86.
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[göttlichen Ursprungs]: »Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.«38) Streng genommen jedoch erhält die abweichende erfahrungsmäßige Bedingtheit, was die Natur aus dem Menschen macht oder was der Mensch in seiner eigenen Welt aus sich selbst macht, nur in den Deutungen Herders und Hegels tatsächlich eine Funktion. Denn obwohl wahr ist, dass der verlorene Ursprung in seiner sprachelosen »Unschuld« auch bei Rousseau nicht erfahrbar bleibt (so lange der Mensch unmittelbar zur Natur gehört, ist auch keine Sprache nötig), ist das kulturelle Ursprungsgeschehen bei ihm auch als doppeldeutig anzusehen: »Die Sprache [...]«, unterstreicht Jauß, »ist indes wiedergefundene Natur und beginnende Trennung zugleich.«39 Und zwar ist sie dies nicht nur im Jauß’schen Sinne einer »Trennung in die Verschiedenheit vieler Sprachen«,40 sondern auch der Natur selbst, insofern die(se) Sprache des Mit(einander)seins nicht mehr die unvollkommene gestische (also: nur signalisierende) Sprache der rohen Bedürfnisse ist. Der Anfang ist demnach nur insoweit »zurückholbar«, wie es möglich ist, in der Sprache von musikalischer und metaphorischer Entstehung die Stimme der
38 Ebd., S. 93. Nietzsche zeigt die Unvollkommenheit des Menschenwerkes dann nochmals dadurch eindringlicher, dass der kulturelle Ursprung im Wesen der beiden großen mythischen Geschichten dasselbe organische Leiden bekräftigt. Die beiden Geschichten sind demnach – »Bruder und Schwester« – Geschwister, weil beide die Kultur in der Sünde verankern. Der Unterschied besteht insgesamt darin, dass die Genesis in deren passiver (semitischer), der Protagoras hingegen in deren aktiver (arischer) Form die Entstehung der Kultur begründet: »Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit teilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen – müssen: ein herber Gedanke, der durch die Würde, die er dem Frevel ertheilt, seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der activen Sünde als der eigentlich prometheischen Tugend.« F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 69. 39 H.R. Jauß: Studien, S. 31. 40 Ebd.
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überzeitlichen Natur zu erhören. Rousseaus Vorstellung ähnelt insofern eher der Herders, als bei letzterem auch das der tönenden Natur Zuhören die Bedingung für die Entstehung der Sprache war. Bei dem Unterschied zwischen beiden ist auch nicht das Entscheidende, dass Rousseau (wenigstens bei der Entstehung der südlichen Sprachen) das Geschehen des kulturellen Anfangs mit den Lauten der Äußerungen von Leidenschaften und Freude, Herder hingegen mit der wiedererkennenden – und Erkennungsmerkmale so festlegenden – Wiederholung des Gehörten in Zusammenhang bringt. Der eigentliche Unterschied aber zeigt sich darin, dass, während in Rousseaus Beschreibung in der Berührung mit der Welt und den Gefährten die Vermittlung keinen besonderen Akzent erhält, bei Herder die – schon kulturelle, in kommunikativer Hinsicht also dauerhaft bezügliche – Erfahrung des Anderen als Etwas ausschließlich durch die Leistung des Mediums möglich ist. Anders ausgedrückt hieße dies, was wir über den Anderen wissen oder was wir von ihm erkennen, ist nicht mit ihm selbst identisch, sondern das es vermittelnde mediale Erkennungsmerkmal. Dafür, in welchem Maße dies zutrifft, ist ex negativo der deutlichste Nachweis, dass der Mensch in Herders Märchen vom Lamm eben aus dem obigen Grund das dort konkret vorkommende Tier verkennt. Die nicht vom Geschlecht abhängige Verwechslung von Lamm und weiblichem Schaf (d.h. nicht »das Schaf«,41 wie dies in Herders Text steht, sondern eigentlich die Zippe/»die Schäfin«) nämlich ruft die Austauschbarkeit ihrer medialen Erkennungsmerkmale auf.42 Weil aber die fixierende Wahrnehmung des Menschen – auf der Grundlage von Blöken und Aussehen (»weiß, sanft, wollicht«43) – »die Schäfin gerade nicht erkennt«, fügt Kittler geistreich hinzu, »erkennt oder verkennt er sie als ›Lamm‹. Weder Sodomie noch Freßsucht, weder der Egoismus von Wollwebern noch der von Metzern hindern die Schäfin daran, weiterzuleben oder (methodisch strenger formuliert) dem Menschen ein zweitesmal begegnen zu
41 Im Original deutsch. 42 Zugleich stützt dies auch die Berechtigung jener Bemerkung von Nietzsche, deren kritische Implikationen in erster Linie auf die Sprachauffassung der Aufklärung zu beziehen sind, die eine logische Erklärung für den profanen Ursprung suchte: »Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. [...] Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu.« F. Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge, S. 879. 43 J.G. Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 277.
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dürfen«.44 Während also bei Rousseau zur lautlichen Selbstäußerung von Leidenschaft und Freude keine Vermittlung nötig ist (die materielle »Transparenz«
44 F. Kittler: Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 51. Freilich entsteht hier, wie es zuweilen bei Kittler vorkommt, zwischen Esprit und wissenschaftlicher Genauigkeit auch diesmal bemerkenswerte Spannung. Denn, dass Herders Text mal von Lamm mal aber von Schaf (in geschlechtlich unmarkierter Form) spricht, liegt ganz gewiss nicht an Herders »Oberflächlichkeit« oder an seinem vermeintlichen »Irrtum«. Kittlers Kritik setzt an am folgenden Punkt: »Herders Abhandlung Vom Ursprung der Sprache ist ihrem Titel zum Trotz nicht einmal imstande, den Namen des ersten benannten Tieres korrekt anzugeben(!)« Ebd., S. 50. Es ist vielmehr sehr gut möglich, dass hier nicht Herders Unachtsamkeit, sondern das Ereignis der Sprache selbst erkennbar wird. Wenn nämlich aufgrund der Vermitteltheit auch die sprachliche Erfahrung das Ding nicht »erreichen« kann, sondern nur eines der von ihm zeugenden und es identifizierenden »Erkennungsmerkmale«, so tritt mit dieser Tatsache gleichzeitig ein konstitutiver Unterschied menschlicher und tierischer Sprachen zutage. Denn in der menschlichen Sprache – mit einem semiotischen Begriff gesagt – kann sich als Folge der Ungenauigkeit einer solchen Vermittlung offensichtlich die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem nicht stabilisieren. In der »Sprache« der Tiere, die eher Signale / Anweisungen umsetzt, muss genau diese Beziehung unbedingt stabil sein. Es ließe sich auch sagen, dass das Funktionieren der einen die prinzipielle Nicht-Festlegbarkeit der Beziehung, das der anderen deren Stabilität zur semiotischen Bedingung hat. Herder verfehlt also den Akt der Benennung nicht, sondern gibt gerade dafür ein indirektes Beispiel, dass die Entstehung der Sprache kein Ereignis der Natur sein kann oder, anders ausgedrückt, die »Unvollkommenheit« oder »Ungenauigkeit« der Benennung ist der primäre Beweis dafür, dass der Ursprung der Sprache nur als kulturelles Geschehen vorgestellt werden kann. »Die Sprache«, schreibt Humboldt hierüber, »ließe sich nicht erfinden, wenn nicht ihr Typus schon in dem menschlichen Verstande vorhanden wäre. Damit der Mensch nur ein einziges Wort wahrhaft, nicht als blossen sinnlichen Anstoß, sondern als articulirten, einen Begriff bezeichnenden Laut verstehe, muss schon die Sprache ganz, und im Zusammenhange in ihm liegen. [...] So natürlich die Annahme allmähliger Ausbildung der Sprachen ist, so konnte die Erfindung nur mit einem Schlage geschehen. Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn.« W. von Humboldt: Über das vergleichende Sprachstudium, S. 10-11. Im Bezug von Bezeichnen und Vorstellen (bzw.: von Denken und Sprechen) steht Kittlers Vorwurf hingegen im Horizont des sensuellen Materialismus der Jahrhundertwende. Seine Position liegt nämlich gar nicht fern von Machs berühmter Maxime, die
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des Sehsinns entmaterialisiert bei Rousseau offensichtlich die Vermitteltheit45 und löst sie auf), ist die (sich wiederholende) Erscheinung des Anderen bei Herder die nicht hinreichende Bedingung der sprachlichen Erfahrung. Das Wort der Sprache wird nur dann zugleich zum inneren Erkennungsmerkmal und zur nach außen gerichteten Mitteilung, wenn die Wahrnehmung auch auf das materielle Medium des Gehörsinns »trifft«. D.h. der erste Akt der schon sprachlichen Rede beruht nicht auf der Kenntnisnahme der visuellen Form des Anderen, sondern auf jener Fähigkeit, die die lautlichen, medialen Merkmale des Anderen »reproduziert« und diese demnach auch als angeeignet eigene (oder: angeeignete) »sprechen lassen« kann. (Die artikulierte Anordnung der Welt macht natürlich auch aus den nicht-lautlichen Dingen einen Teil der auf den Menschen bezogenen Umgebung, doch eine solche Benennung setzt in Herders Verständnis bereits die Sprache der lautlichen Äußerung voraus.46) Die oben genannten Unterschiede gehen natürlich mit weitreichenden Folgen auch dahingehend einher, was alles das medial verstandene Geschehen des kulturellen Anfangs im Vergleich zu Rekonstruktionen des Ereignisses impliziert, die den medialen Status des Geschehens nicht problematisieren bzw. nicht einmal zur Kenntnis nehmen. Die »immaterielle« Interpretation der sprachlichkommunikativen Begegnung mit der Welt als einem Geschehen bringt deshalb – oftmals ähnlich wie beim kritisierten Rousseau – selbst bei Kant (in der analytischen Physiologie begründete) ästhesiologische Implikationen zum Vorschein, die mögliche Situationen nach der Mechanik der voneinander getrennten Sinne unterscheiden. So unter anderem auch beim Vergleich der vorsprachlichen (nach Kant »nicht mehr ganz rohen«) und der bereits sprachlichen Phase von Kultur:
behauptet: »Was auf einmal vorgestellt wird, erhält eine Bezeichnung, einen Namen.« E. Mach: Analyse, S. 12. 45 Dies ist auch deshalb überraschend, weil das Medium des Sehens schon in der klassischen Antike eine materielle Auslegung erhält, vgl.: R. Jütte: Geschichte der Sinne, S. 49-50, S. 99-102. 46 Mit erstaunlicher Genauigkeit – und kaum unabhängig von Herder (siehe dazu Anm. 31) – beschreibt Humboldt dieses Phänomen an einer wichtigen Stelle in Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues. Im Moment der Auffassung der Dinge »verdrängt dieser (nämlich der Laut – E. K. Sz.) aber keinen der andren Eindrücke, welche die Gegenstände auf den äussern oder innern Sinn hervorzubringen fähig sind, sondern wird ihr Träger und fügt in seiner individuellen, mit der des Gegenstandes und zwar gerade nach der Art, wie ihn die individuelle Empfindungsweise des Sprechenden auffasst, zusammenhängenden Beschaffenheit einen neuen bezeichnenden Eindruck hinzu.« W. von Humboldt: Über die Verschiedenheit, S. 427.
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»So lange der unerfahrene Mensch diesem Rufe der Natur gehorchte, so befand er sich gut dabei. Allein die Vernunft fing bald an, sich zu regen, und suchte durch Vergleichung, […] [ihre] Kenntnis der Nahrungsmittel über die Schranken des Instinkts zu erweitern.«47 Als der Herr also dem – schon zum Sprechen und bei Kant auch zum Denken fähigen – ersten Menschenpaar ein bestimmtes Obst verbot, war dieses noch nicht einmal nachdenkend von der eigentlichen, abwägenden Vernunft geleitet, die dereinst die erste freie Wahl vollziehen sollte, sondern folgte nur tierischen Instinkten. Dieser »Instinkt, diese Stimme Gottes, der alle Tiere gehorchen, mußte den Neuling anfänglich allein leiten«.48 Die analytische Ordnung der Sinne ist hier also der Hintergrund dafür, dass in dem schon am Anfang sprechenden und denkenden Menschen von vornherein gleichsam isoliert einmal nur die Sprache, ein andermal nur die (tierischen) Instinkte, später dann die entscheidungsfähige Vernunft selbst das Kommando übernehmen. Diese immediale Hypothese der ursprünglichen Platzierung des homme naturel und seines Übertritts in die Kultur ist in der Hegelschen, indirekten Lektüre der Genesis nur schwer vorstellbar. Einerseits, weil seine Hermeneutik von einer vermittelten Erfahrung ausgeht, deren von der Tradition weitergegebene Wahrheit zwar nicht »positivierbar« ist, die jedoch unzweifelhaft existiert und weltbildende Kraft besitzt: »Was hierbei das Verlassen der natürlichen Einheit anbetrifft, so ist diese wundervolle Entzweiung des Geistigen in sich von alters her ein Gegenstand des Bewußtseins der Völker gewesen«,49 mit anderen Worten »auch bei anderen Völkern tieferen Bewußtseins finden wir die Vorstellung, daß der erste Zustand des Menschen ein Zustand der Unschuld und der Einigkeit gewesen sei«.50 Aber bei gründlicher Betrachtung fällt auf, dass es in Hegels genauer Lektüre nicht der Rousseau’sche und Kantsche ursprüngliche »natürliche« oder naturelle Zustand ist, der sich – in einem ausgezeichneten Augenblick der stadialen Hinüberentwicklung in die Kultur – von sich selbst entzweit: »In der Natur kommt solche innere Entzweiung nicht vor«, fügt Hegel hinzu, »die natürlichen Dinge tun nichts Böses.«51 Was also die erste und ursprüngliche Entzweiung der Natur und der »Kultur« (= des »geistigen«, »gedanklichen« Werkes) hervorruft, ist entgegen jedem Anschein kein naturales
47 I. Kant: Werke 9, S. 87f. 48 Ebd., S. 87. 49 G.W.F. Hegel: Werke VIII, S. 88. 50 Ebd., S. 88f. 51 Ebd., S. 88.
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Eintreten,52 also kein unmittelbares, immaterielles Geschehen, das – sozusagen autokausal – sich selbst motivieren/begründen könnte, sondern die »Entzweiung des Geistigen«. Also das Geschehen des Geistes. Eigentlich »liegt es im Wesen des Geistes, daß dieser unmittelbare Zustand [hier konkret: der Zustand vor dem Sündenfall] aufgehoben wird, denn das geistige Leben unterscheidet sich dadurch vom natürlichen und näher vom tierischen Leben, daß es nicht in seinem Ansichsein verbleibt, sondern für sich ist«.53 Allerdings konkretisiert Hegel sogleich die Identität dieses Geistigen: »Der Geist ist nicht nur ein Unmittelbares, sondern er enthält wesentlich das Moment der Vermittlung in sich«.54 Wenn wir also den Status des ursprünglichen, unhintergehbaren Geschehens genau fassen wollen, ist es in Hegels Interpretation nichts anderes als das vermittelte – und nur als solches zugängliche – Ereignis par excellence, das zum Wesen des Geistes gehörende mediale Geschehen. Wenn nun das Geschehen des ersten Anfangs im Medium des sich entzweienden Geistes vor sich geht, dann bedeutet das andererseits auch, dass Hegels vermittelte Lektüre diesem Ereignis auch einen nagelneuen Status verleiht. Denn wenn das Geschehen selbst – da es nicht fixierbar ist – einzig nachträglich »sichtbar« wird und nur in dem, was es hervorgerufen hat, so ist einsehbar, dass es auch sein eigenes Vorher nachträglich herstellt und als etwas »zur Erschei-
52 Wie natürlich auch bei Herder nicht: »Bloß unter Tiere gestellet, ist’s also das verwaisetste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet, und was die Summe seines Elendes ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt. Mit einer so zerstreueten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt – und doch so verwaiset und verlassen, daß es selbst nicht mit einer Sprache begabt ist, seine Mängel zu äußern – Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur. Es müssen statt der Instinkte andere verborgene Kräfte in ihm schlafen.« (J.G. Herder: Über den Ursprung der Sprache, S. 269) Aber der Mensch entzweit sich bei Humboldt im Wesentlichen in einer ähnlichen Struktur von der Natur, mit dem Unterschied, dass der Mensch im Augenblick der Entstehung der Sprache sozusagen gleichzeitig diesseits und jenseits der »Trennlinie« ist, die die Kultur von der Natur trennt: »So natürlich die Anahme allmählicher Ausbildung der Sprache ist, so konnte die Erfindung nur mit einem Schlage geschehen. Der Mensch ist Mensch nur durch die Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, mußte er schon Mensch sein.« (W.v. Humboldt: Werke 3, S. 11.) 53 G.W.F. Hegel: Werke 8, S. 88. 54 Ebd., S. 89.
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nung bringt«. Die Struktur des rekonstruktiven Erzählens also, mit dem Kant das betreffende Kapitel der Genesis vorträgt, dient nicht als Grundlage für die Hegelsche Interpretation. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern widmet Hegel daher auch der Beschreibung des vorgestellten ursprünglichen (»naturalen«) Zustands keine langen Absätze. Die natürliche Einheit ist bei anderen ein von vornherein gesetzter Ausgangszustand, in dem dann der Sündenfall eine elementare Veränderung eintreten lässt; bei Hegel ist er nicht als Konditionierer des Geschehens gegeben, sondern entsteht sozusagen nach dem Geschehen. Er wird durch die Veränderung zu dem und zu einem solchen, als der er sich zeigt. Oder, mit anderen Worten: der paradiesische Zustand der Unschuld der natürlichen Einheit erweist sich erst nachträglich als ungestörte Symbiose zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Nach Hegels Formulierung finden wir alles Menschliche zunächst nur in jener Entzweiung vor, deshalb » ist es unrichtig [zu denken], daß die unmittelbare, natürliche Einheit das Rechte sei«.55 Diese Einheit ist nämlich weder unmittelbar noch das Rechte. Zur Betrachtung der nachträglichen, vermittelten, also gerade nicht natürlichen Erschaffung des Natürlichen zitiert Hegel jenes weltbildende Potential, das die Unschuld niemals fertig vorfindet, das sie auch nicht als Unberührtes entdeckt, sondern sie – über komplizierte Vermittlungen und die Nachträglichkeit des »Vorzeitlichen« – immer herstellt: »Die kindliche Unschuld hat allerdings etwas Anziehendes und Rührendes, aber nur insofern sie an dasjenige erinnert, was durch den Geist hervorgebracht werden soll. Jene Einigkeit, die wir in den Kindern anschauen als eine natürliche, soll das Resultat der Arbeit und Bildung des Geistes sein. Christus sagt: ›Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder‹ usf.; damit ist aber nicht gesagt, daß wir Kinder bleiben sollen«.56
Ein weiteres überzeugendes Beispiel dafür, wie wenig zufällig Hegels »mediale« Lektüre ist, ist eine Interpretation des Geschehens, in der jedoch gerade die Verständlichkeit des Ereignisses von der in seiner Folge herausgebildeten Situation abhängt. Diese Struktur der Nachträglichkeit verhilft dem dahinschwindenden Ereignis nämlich zugleich dazu, Identität zu gewinnen. Wir müssen uns hier daran erinnern, dass der Herr bei den Geschehnissen des Sündenfalls nicht anwesend ist. Als das erste Menschenpaar vom Baum – nicht der göttlichen Unsterblichkeit, sondern – der Erkenntnis aß, »da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigen-
55 Ebd. 56 Ebd.
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blätter zusammen und flochten sich Schurze.«57 Als der Herr, der in der Abenddämmerung im Garten spazierenging, fragte: »Wo bist du?« antwortete der Mensch: »Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich, denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.«58 Hier sind wir einerseits wieder Zeugen dessen, dass der erfahrbare Zustand der Natürlichkeit (unter anderem die »Nacktheit«) erst nach seinem Vergehen überhaupt sichtbar ist, mit anderen Worten im Zuge der medialen Vermittlung geschieht. Erst der mediale Blick kann nämlich die Nacktheit zeigen. Die Natürlichkeit ist demnach also nicht nur kein »Produkt« der Natur, sondern sie wird auch als Zustand erst dann sichtbar, wenn sie nicht mehr besteht. (Das Eintreten der Erkenntnis des Guten und des Bösen als Ereignis des Sündenfalls ist nämlich – wir haben hierzu Hegel zitiert – das Werk des medial wirkenden Geistes, jenes Geistes, der die bis dato Gott zugehörige Erkenntnis in diesem Ereignis an das erste Menschenpaar weiterleitet, sie ihm vermittelt. Noch genauer gesagt: er verleiht dem menschlichen Auge einen »medialen« Blick, über den dieses, obgleich es auch bisher nicht blind war, nicht verfügte.) Wesentlicher ist jedoch an dieser Stelle, dass die Geschichte, die das Ereignis interpretiert, erst im Anschluss an die Frage des Herrn: »Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist?« in Erfahrung bringt, dass der Schöpfer aus Adams Antwort auf das folgerte, dessen Augenzeuge er selbst nicht war. Der »natürliche« Zustand konnte nämlich erst in der Vermittlung eines Geschehens offenbar werden, das die göttliche Erkenntnis endgültig mit dem Menschen teilte. Das Offenbare oder gar Öffentliche ist hier also nicht das Gegenteil des Privaten (die Nacktheit hat im Paradies keinen privaten Status), sondern das, was – in seinem natürlichen Sein – für das (bereits menschliche) Bewusstsein unerfahrbar und jenseits der Schwelle des Menschseins unhaltbar ist. Mit anderen Worten: der Zustand der natürlichen Einheit zeigt sich als ein unhaltbarer und unmöglicher. »Insofern der Mensch als Naturwesen ist und sich als solches verhält, so ist dies ein Verhältnis, welches nicht sein soll.«59 Deshalb bekommt das Ereignis des Sündenfalls in Hegels Interpretation gerade aus dieser Nachträglichkeit einen besonderen, doppelten historischen Index. Einerseits, weil der in den Staub gedrückte Mensch – aus seiner tierischen/natürlichen Welt endgültig ausgegrenzt – von nun an zur Schaffung einer eigenen Welt gemäß göttlichen Prinzipien verurteilt ist. Andererseits wird auch deutlich, dass die Zeitlosigkeit des paradiesischen Zustandes die Möglichkeit der kulturellen Artikulation der Welt nicht enthielt. Letztere wird dem Menschen, der göttliche
57 1 Moses 3,7. 58 1 Moses 3,9-10. 59 G.W.F. Hegel: Werke 8, S. 90.
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Erkenntnis erlangt hat, jedoch nur als einem Wesen zuteil, das – da es nicht vom Baum des Lebens gegessen hat – keinen Anteil an der göttlichen Zeitlosigkeit hat und als Sterblicher60 in die uneinsehbare Zeitlichkeit gesetzt ist. Im Gegensatz zu Kant sieht Hegel schließlich auch im Anlegen des Feigenblattes nicht einen auf die Moral hinweisenden herrschaftlichen Akt61 der Vernunft, der die Herrschaft über die Instinkte erlangt, sondern das Ereignis der ersten »kulturellen« Selbstreflexion. Der sündenfällig gewordene und also in den Besitz der Erkenntnis des Guten und Bösen gestoßene Mensch tut also wiederum mit der Bewusstwerdung einer medialen Erfahrung – der als Medium des Mangels an Scham verstandenen Nacktheit62 (die hier wirklich als Medium die Bedeutung selber ist) – den ersten authentischen Schritt auf seine eigene Welt zu. Denn das Medium der verstandenen Nacktheit wird hier tatsächlich zur Bedeutung im Sinne von Mc Luhan, und zwar mit der Botschaft, dass was »natürlich« ist, gerade nicht kulturell ist: »In der Scham nämlich liegt die Scheidung des Menschen von seinem natürlichen und sinnlichen Sein. Die Tiere, welche zu dieser Scheidung nicht vorschreiten, sind deshalb schamlos.«63 Aus dem Ungarischen von Stephan Krause und Christina Kunze
L ITERATUR Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 51990. Bultmann, Rudolf: »Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941)«, in: HansWerner Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos, Bd. 1, Hamburg: Herbert Reich Verlag 41960, S. 15-48. Burckhardt, Jakob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart: Kröner Verlag 1978. Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 1990.
60 »Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.« 1 Moses 3,24. 61 I. Kant: Werke 9, S. 89. 62 Die vor dem Sündenfall nicht Gegenstand des Schämens war: »Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.« 1 Moses 2,24. 63 G.W.F. Hegel: Werke 8, S. 90.
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Gessinger, Joachim/Rahden, Wolfart von (Hg.): Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. 1, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1989. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden (Hg. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Herder, Johann Gottfried: Werke (Hg. Wolfgang Proß), München/Wien: Carl Hanser Verlag 1987ff. — »Über den Ursprung der Sprache«, in: Werke, Bd. II, S. 251-357. — Ideen zur Philosophie der Menschheit, in: Werke, Bd. III/1. Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden (Hg. Andreas Flitner/Klaus Giel), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 92002. — »Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung«, in: Werke, Bd. 3, S. 1-25. — »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues«, in: Werke, Bd. 3, S. 368-756. Jauß, Hans Robert: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21990. Jütte, Robert: Geschichte der Sinne, München: C. H. Beck 2000. Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden (Hg. Wilhelm Weischedel), Frankfurt a.M.: Suhrkamp: 1983. — Kritik der reinen Vernunft. Erster Teil, in: Werke, Bd. III. — Kritik der reinen Vernunft. Zweiter Teil, in: Werke, Bd. IV. — »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte«, in: Werke, Bd. XI, S. 85102. Kittler, Friedrich: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, München: Fink 2 2001. Landmann, Michael: Philosophische Anthropologie, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1982. Mach, Ernst: Die Analyse der Empfindungen. Ernst-Mach-Studienausgabe, Bd. 1, Berlin: Xenomoi Verlag 2008. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (Hg. Giorgio Colli/Mantino Mozzinari), Berlin/New York: Walter de Gruyter 1980. — »Die Geburt der Tragödie«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 11-156. — »Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 875-890. Rousseau, Jean-Jacques: »Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird«, in: ders., Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften (Hg. Peter Gülke), Leipzig: Reclam 1989, S. 99-168.
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Scholem, Gershom: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 82005. Spaemann, Robert: »›Transformationen des Sündenfallmythos‹ und ihre Kritik von Theologen und Philosophen«, in: Willi Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage, München: Fink 1992, S. 15-24. Stierle, Karlheinz: Text als Handlung, München: Fink 1975.
Lascaux und die Institution der Kunst H ELMUT P FEIFFER
1. AUTHENTIZITÄT
UND ANTHROPOLOGISCHE
S UBSTANZ
Im letzten Teil seiner Antimémoires berichtet André Malraux von der feierlichen Überführung der Asche Jean Moulins, des von den Nationalsozialisten 1943 gefolterten und ermordeten Résistanceführers, ins Panthéon. Die Zeremonie findet am 19.12.1964 in Anwesenheit des Staatspräsidenten Charles de Gaulle statt, Malraux, der vormalige Colonel Berger der Résistance und aktuelle Kultusminister, hält eine pathetische Gedenkrede, aus der er in den Antimémoires ausführlich zitiert. Mit Moulin, so heißt es dort, »la préhistoire de la Résistance avait pris fin.«1 Die Résistance ist mittlerweile selbst Geschichte geworden, aber sie besitzt auch eine eigene Vorgeschichte. Das temporale Schema, das Malraux ins Spiel bringt, erlaubt ihm, eine andere Vorgeschichte aufzurufen, zu der die Résistance zugleich in einer anderen, sowohl ereignis- wie raumhaften Beziehung steht – die préhistoire in Gestalt der Höhlenmalereien von Lascaux. Die Vorgeschichte der Résistance trifft auf die Vorgeschichte des geschichtlichen Menschen. Ein aktueller Anlass trägt dazu bei: Es war der Kultusminister Malraux, der ein Jahr zuvor wegen der durch die Besuchermassen verursachten Schäden, vor allem angesichts des Pilzbefalls an den Wänden, die Schließung der Höhle für die Öffentlichkeit veranlasst hatte. Den Besuchern von Lascaux wird mittlerweile eine Replik geboten. Auch die Gefährdung der prähistorischen Kunst wird in den Antimémoires thematisiert, wenn Malraux einen Höhlenbesuch im Jahr 1967 erinnert – einer der die Höhle einst entdeckenden gosses fungiert nun als Führer durch deren labyrinthische Unterwelt – und dabei die Paradoxie beschwört, die Höhlenmale-
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A. Malraux: Œuvres complètes, Bd. III, S. 454.
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reien hätten zwanzigtausend Jahre ohne den Menschen, der sie doch geschaffen hat, überlebt, aber fünfzehn Jahre der Zugänglichkeit für den Blick der Menschen seien ausreichend gewesen, um den Prozess ihrer Zerstörung auszulösen: »Lascaux est sauvé, à la condition que les hommes cessent d’y venir à leur guise.«2 Der Mensch rettet die Zeugnisse seiner Vorgeschichte, indem er sich deren Anblick verbietet. Die frühesten Dokumente seiner Selbstvergegenständlichung im Bild bleiben nur in Reproduktionsmedien verfügbar. Aber die Dramaturgie von Vorgeschichte und Geschichte, die Malraux’ autobiographische Szene durchzieht, erschöpft sich nicht in elegischen Paradoxien. Ihr durchgehend hoher Ton und der Kairos einer momenthaften Konstellation der ›Vorgeschichten‹ brauchen die Verstärkung durch die Fiktion, genauer: die uneingestandene, scheinbar referenzgesättigte Fiktion. Der späte Blick auf die frühe Kunst ruft das Pathos einer rezenten Vergangenheit auf, die es so nie gegeben hat.3 Malraux berichtet, er habe 1944 die Waffenverstecke der Résistance in den Höhlen Südwestfrankreichs inspiziert. Die größte dieser Grotten ist unterirdisch verzweigt, die Waffen tief im Inneren der Erde verborgen. Erst das Ende der Geschichte enthüllt den Namen des Ortes, von dem die Résistants so wenig wissen wie von seiner kunst-, ja menschheitsgeschichtlichen Bedeutung: »C’était Lascaux.«4 Was der Autor nicht sagt: Die Résistance hat zwar verschiedene Höhlen, nicht allerdings die im Herbst 1940 entdeckte von Lascaux, als Waffenversteck verwendet,5 die autobiographische Szene hat so durchaus nicht stattgefunden. Nichts behindert insofern das fiktionale Schema einer allegorischen Epiphanie im Zeichen des Eingedenkens einer erhabenen Konstellation. Die Isotopie des Todes verbindet die chthonische Welt der Höhle, in der die
2 3
Ebd., S. 483. Vgl. beispielsweise ebd.: »Le personnage au masque d’oiseau ne veille plus sur des armes. Des ventilateurs à quatre pales tournent lentement, reliés à des appareils, et semblent apporter aux bisons leur insolite prestation, comme autrefois nos mitrailleuses dressées en chien de garde.«
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A. Malraux: Ebd., S. 456.
5
Vgl. G. Penaud: André Malraux et la Résistance, S. 68f. – Die Fiktionalität der Szene findet eine indirekte Spiegelung im Lichtarrangement der Szene, so wenn Malraux die Lichtkegel evoziert, welche die Schatten der Résistancekämpfer ins Riesenhafte steigern – so wie es prähistorisch im Fackellicht den Schatten der Bisonjäger ergehen musste.
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Menschen des Paläolithikums ihrer Sterblichkeit inne wurden6, mit den Folterkellern, in denen den Helden der Résistance ihre Geheimnisse entrissen werden sollen. Menschwerdung im Zeichen des Bewusstseins der Sterblichkeit und versuchte Vernichtung der Substanz des Menschlichen in der Folter treten in eine Korrespondenz über Jahrtausende. Aber die Höhle ist zugleich, metaphorisch ohne weiteres naheliegend, ein Ort des Lebens, Leben schützende Hülle und mythische Lebendigkeit des Anorganischen, damit ineins geschichtliches Zeichen und Emblem transhistorischer Dauer, in der das enchevêtrement de bisons7 {Abb.1} der prähistorischen Malerei und die Maschinengewehre der Résistance zum Emblem der unvordenklichen Identität eines anthropologischen Kerns werden. Als Colonel Berger und Inspektor der militärischen Ressourcen des Maquis geht Malraux mit puissantes torches électriques auf Erkundung der unterirdischen Verstecke – aber gerade im technisch-künstlichen Licht der ›Aufklärung‹ verwandelt sich die Höhle im Blick des Beobachters in eine Leibhaftigkeit des Organischen, die Höhlenwände erscheinen Malraux »non comme des rochers mais comme des organes.«8 Das Chthonische der Höhle verwandelt sich für den spätzeitlichen Blick in eine Gestalt des bergenden, organischen Leibs der Erde, der entrailles de la terre.9 Und die Höhlenmalereien der Vorgeschichte, welche auch die Eingeweide der großen Tiere zeigen, sind das Siegel (sceau) dieser organischen Unterwelt, Zeugenschaft wie Instanz der Bewahrung. So offenbart sich dem Blick auf die dargestellten Tiere eine fuite d’emblèmes.10 Das Bild des Bisons verleiht der leibhaftig gewordenen Höhle eine âme énigmatique. Zugleich wird die im Fokus künstlichen Lichts aufscheinende Fragilität der prähistorischen Kunst durch die Gewehre der Résistance verteidigt, ein incompréhensible lien lässt eine rätselhafte Einheit von Vergangenheit und Zukunft im Bild aufscheinen, die phantasmagorischen Metamorphosen der Höhle lassen die anorganische Technizität der Maschinengewehre sowohl als ägyptische Sphinxgestalten, des chats égyptiens sur leurs pattes de devant, wie als Tiergestalten der Zukunft, animaux d’une ère future, erscheinen.11
6
A. Malraux: Œuvres complètes, Bd. III, S. 456: »Est-ce qu’au sortir d’un tel lieu, sous un firmament semblable, qu’une sorte de gorille, chasseur comme les fauves et peintre comme les hommes, comprit pour la première fois qu’il devait mourir?«
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Ebd., S. 454.
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Ebd.
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10 Ebd., S. 455. 11 Ebd.
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Es versteht sich, dass Malraux’ drastische Engführung, im Zeichen Lascaux’, von Geschichte und Anthropologie, von archaischer Kunst, ethischer Selbstbehauptung und Horizont der Zukunft, nicht voraussetzungslos funktionieren kann. Hinter ihr steht, nach der Entdeckung der Höhle, eine zweite, erstaunliche Entdeckungsgeschichte. Die Höhle von Lascaux wurde am 12. September 1940 in der Gegend von Montignac in Südwestfrankreich von vier jungen Männern im Alter von 15 bis 18 Jahren entdeckt, ihre Neugier führte sie schnell auf Spuren von Höhlenmalereien. Angesichts der Fülle der Darstellungen und trotz der Situation von Krieg und Besatzung wurde bereits wenige Tage später die Koryphäe der Disziplin, der seit der Jahrhundertwende als Prähistoriker ausgewiesene und mittlerweile am Collège de France lehrende Abbé Breuil, informiert. Er trieb die Erforschung der Höhle voran, sein 1952 erschienenes Werk Quatre cents siècles d’art patiétal. Les cavernes ornées de l’Age de Renne, in dem Lascaux einen prominenten Platz einnimmt, wird zum Standardwerk über die prähistorische Kunst. Insbesondere: Breuils Buch etabliert die Grundlage eines Paradigmas der anthropologischen Forschung, weil es jene naheliegende Hermeneutik des Verdachts, es könne sich bei den Höhlenmalereien um Fälschungen und Mystifikationen handeln, durch die schiere Fülle des Materials und mehr oder weniger plausible Logiken seiner Evolution zum Schweigen bringt, ein Verdacht, der die prähistorische Höhlenkunst seit der Entdeckung Altamiras in Nordspanien im Jahre 1879 permanent begleitet hatte. Ein letzter, spektakulärer Reflex dieser skeptischen Hermeneutik findet sich ausgerechnet bei einem ausgewiesenen Virtuosen antiskeptischer Avantgarde. Im Juli 1952, im Erscheinungsjahr von Breuils Buch, besucht André Breton, dessen Enthusiasmusbereitschaft im Hinblick auf sogenannte primitive oder exotische Kunst bekanntlich hochentwickelt war, die Höhle von Pech-Merle in der Nähe von Cabrerets, nachdem er ein Jahr vorher bereits Lascaux und andere Orte prähistorischer Malerei gesehen hatte. Nun aber wechselt er unvermittelt in die Rolle des ungläubigen Thomas, der nicht nur sehen, sondern auch berühren will, um zu glauben. Sein skandalöses Verhalten wird die Justiz und die Öffentlichkeit beschäftigen. Die Zeitung Combat berichtet am 4. August unter dem Titel »Nouveau ›crime‹ surréaliste. André Breton attente à la ›conservation‹ d’un mammouth« über das Ereignis, welches Wellen schlägt, weil sich tonangebende Intellektuelle wie Malraux und Camus auf Bretons Seite schlagen, während der Abbé Breuil das Verhalten des Surrealistenpapsts als irrecevable qualifiziert. Bretons déposition gegenüber der Justiz verhindert nicht, dass er im anschließenden Prozess zu einer Geldstrafe verurteilt wird, von der ihn erst eine Amnestie des Präsidenten befreit. Sein eigener Bericht hält fest, wie er in einer größeren Gruppe mit Frau und Freunden an einer Höhlenführung teilnimmt. In der
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sogenannten Kapelle der Mammuts allerdings berührt der surrealistische Tourist mit dem Finger die Rüsselzeichnung des Tieres, »dans l’intention d’apprécier l’épaisseur de la couche calcaire qui pouvait la recouvrir.«12 Die Berührung bleibt nicht ohne Folgen, drei Zentimeter Farbe lösen sich ab, die Authentizitätszweifel des Besuchers verstärkend, der Führer, Abel Pessac, ein Garagenbesitzer und Lokalpolitiker, schlägt heftig und ohne Vorwarnung auf die indiskrete Hand des Dichters. Es folgt eine heftige Auseinandersetzung, der ehemalige Emigrant Breton glaubt, sieben Jahre nach dem Ende des Krieges, nazistische Sitten zu erkennen, das Eintrittsgeld wird zurückverlangt, die wiederholte Qualifikation, er sei ein lâche, quittiert Breton mit einer Faustkampfeinlage, der – wie er Combat wissen lässt – einzig möglichen Antwort eines homme digne de ce nom.13 Man mag bedauern, dass mit dem Werk des Abbé Breuil die Wahrscheinlichkeit solcher komisch-heroischen Konflikte zur Echtheit der Ursprungszeugnisse abgenommen hat. Aber die Bilanz von Breuils Untersuchung ist eindeutig positiv. Man hat endlich, wie der Titel des programmatischen Kapitels in Breuils Buch lautet, den Ursprung der Kunst (origine de l’art) gefunden. Die Höhlenmalerei dokumentiert eine anthropologische Schwelle. Und deren Überschreitung ist nicht die Tat des einzelnen Genies, mit oder ohne göttliche Inspiration, vielmehr handelt es sich, wie Breuil in durkheimscher Terminologie formuliert, um einen fait social, der eine Institution voraussetzt: »Ceci n’est plus un fait individuel mais un fait social, collectif, témoignant d’une veritable unité spirituelle, j’allais dire d’une même orthodoxie, supposant l’existence d’une sorte d’institution […]«14 Der Ursprung der Kunst als ihre Instituierung im Rahmen einer Institution, die über die Kunst hinausgeht – dieses Thema ist natürlich weit entfernt von dem, was man seit einiger Zeit als die Institution Kunst oder die Institution Literatur (Bourdieu, Bürger, etc.) im Zeichen der Autonomie oder der Ausdifferenzierung sozialer Systeme zu beschreiben pflegt. Die Geschichte der prähistorischen Kunst, in dem sowohl chthonischen wie mütterlichen Raum der Kalkhöhle konzentriert, ist eine Geschichte ohne Namen, über Jahrtausende sich erstreckend, die für den modernen Betrachter zur imaginären Simultaneität wird. Daran ändert auch die Insistenz der Versuche nichts, über stilistische, ästhetische Kriterien eine chronologische Ordnung zu rekonstruieren, welche die Institution der prähistorischen Kunst durch Zeiten und Räume verfolgt. Aber der von Breuil formulierte Befund, mit prägnanten Abbildungen und Zeichnungen angereichert,
12 A. Breton: Œuvres complètes, Bd. III, S. 1075. 13 Ebd., S. 1074. 14 Abbé H. Breuil: Quatre cents siècles d’art pariétal, S. 22.
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hat eine erstaunliche konzeptuelle Produktivität ausgelöst, die allerdings ohne den ständigen Bezug auf die (spät-)moderne Situation so kaum möglich gewesen wäre. Es sind vor allem die Tristes tropiques Claude Lévi-Strauss’ gewesen, die 1955 den elegischen Kontrast von archaischer und spätmoderner Kultur wirkungsvoll in Szene setzten. Im Blick auf Lascaux aber waren es Georges Bataille und Arnold Gehlen, die 1956, ohne den mindesten Bezug aufeinander, sich am Paradigma der prähistorischen Darstellung im Blick auf die späte Moderne, abarbeiten, Bataille in den zwei Büchern, welche die Titel Lascaux ou la naissance de l’art und Manet tragen, Gehlen in dem kulturanthropologischen Kontrastprogramm von Urmensch und Spätkultur. André Leroi-Gourhans monumentale Préhistoire de l’art occidental von 1965 wird dann den Versuch unternehmen, die Vielfalt des Materials, die Unsicherheiten der Chronologie und die spekulativen Spielräume der Interpretation mit unerhörtem statistischen Aufwand in eine vorsichtige Synthese zu bringen. Sein erstes Kapitel trägt gleichwohl den bezeichnenden Titel Découverte de l’art. Leroi-Gourhan liefert die strukturalistische Lektüre der prähistorischen Kunst und er kann das nur tun, weil die Techniken der Reproduktion mittlerweile die Einrichtung einer Art imaginären Museums der prähistorischen Kunst ermöglichen. Die Künstler des Paläolithikums sind für Leroi-Gourhan durchgehend so etwas wie ideale Schüler von Claude Lévi-Strauss: In der Darstellung der Tiere gibt es eine Opposition von männlichen und weiblichen Arten, welche sich in den selteneren, aber zugeordneten Menschendarstellungen wiederholt, um noch einmal auf der Ebene abstrakter Symbole abgebildet zu werden. Und schließlich bildet sich der sprachlose Ordnungswille auch in der Ausnutzung der natürlichen räumlichen Gegebenheiten der Höhlen ab.15 Die Vorgaben einer ursprungsorientierten anthropologischen Spekulation werden in den strukturalistischen Oppositionen gewissermaßen virtualisiert.
15 Vgl. A. Leroi-Gourhan: Préhistoire de l’art occidental, S. 99: »[…] dans l’ensemble, la repartition des figures humaines répondait à la separation des domains centraux et latéraux, mais ce qui a été dit plus haut des associations d’animaux peut faire prévoir deux articulations possibles de ces figures: figures féminines et figures masculines complémentaires des compositions centrales et figures humaines en association avec les animaux.«
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Die rhetorische Inszenierung, mit der Georges Bataille seine Beschreibung der Höhle von Lascaux, der ›sixtinischen Kapelle der Vorgeschichte‹16 eröffnet, fällt eindrucksvoll aus. Der Eintritt in die Höhle hat für Bataille initiatorische Qualität, er besitzt die Ereignisqualität des Wunderbaren, einer merveille, und zwar nicht nur für die Menschen der Vorgeschichte, wie sie eine retrospektive Imagination vergegenwärtigt, sondern vor allem auch für den modernen Betrachter, der, heraustretend aus den villes ouvrières de son temps, mit jenem Ort konfrontiert wird, an dem er emphatisch mit dem Szenario seiner Geburt, dem lieu de notre naissance, konfrontiert wird. Für Bataille wird die Höhle daher zum Schauplatz einer Selbstkonfrontation, die er nicht zufällig in eine Analogie zur Proustschen recherche du temps perdu rückt. Die Höhle löst ein Begehren des Wiedererlebens aus, das ebenso unstillbar wie vergeblich ist: »[…] jamais rien ne nous permettra de revivre authentiquement ce passé qui se perd dans la nuit […] Peu nous importerait ce que ces morts nous ont laissé, si nous n’espérions les faire, un insaisissable instant, revivre en nous.«17 Batailles kulturtheoretische Schriften sind von unbekümmerter Großräumigkeit und spekulativer Kühnheit. Mit Lascaux geht es demnach um die Bedeutung der Kunst, des œuvre d’art, für den Menschen, die humanité, schlechthin. Die Geburt der Kunst markiert eine anthropologische Zäsur. Batailles Erörterungen kreisen um die Frage: Was bedeutet es, wenn der Mensch Kunst hervorbringt, nicht in der Okkasionalität von Hervorbringungen, die man retrospektiv als Kunst betrachten mag, sondern als verstetigte, institutionalisierte Darstellung selektiver Weltaspekte, die ein geradezu obligatorisches Verhalten programmiert? Die Geburt der Kunst ist für Bataille ein Wunder der menschlichen Natur, bis vor wenigen zehntausend Jahren scheint sie nicht zu ihrem Programm zu gehören. Nachdem man jahrhundertelang über das Wunder der griechischen Kunst nachgedacht hat, ist es nun – mit der Entdeckung der prähistorischen Höhlen – möglich, weit in der Zeit zurückzugehen, zum miracle de Lascaux. Das Thema heißt Anthropogenese, es geht, wie Bataille suggeriert, um die éclosion miraculeuse de l’être humain,18
16 Bataille zitiert diesen vor Lascaux bereits auf die Malereien von Altamira gemünzten Topos, um ihn noch einmal zu überbieten: »[…] à mes yeux, la Sixtine, dont sans doute les figures sont plus dramatiques, offre un arrangement plus conventionnel: le charme, l’imprévu sont à Lascaux.« (G. Bataille: Œuvres complètes, Bd. IX, S. 44) 17 Ebd., S. 43. 18 Ebd., S. 9.
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prosaischer formuliert: Es geht um die Emergenz und die Institutionalisierung anthropologischer Virtualität. Allerdings: Was wir als prähistorische Kunst wahrnehmen, bedeutet keineswegs die Geburt des ästhetischen Menschen. Die Kunst als valeur suprême mit allen institutionellen, psychischen und sozialen Korrelaten ist ein spätes Produkt der Moderne – ihre radikale Antidiskursivität und Autonomie, ihr ›Schweigen‹ macht Bataille am Werk Edouard Manets fest, sein Manet-Buch erscheint nicht zufällig im gleichen Jahr wie die LascauxStudie. Für den Ursprung, und das heißt für die Höhlenmalerei, gilt, dass sich mit der Emergenz der Kunst zugleich die Anthropogenese der Religion (der religiösen ›Einstellung‹) vollzieht: »[…] l’attitude religieuse, qui presque toujours s’associe à l’art, en fut plus que jamais solidaire à ses origines.«19 Es geht also um eine anthropologische Konstellation. Die Höhlenmalereien sind für Bataille das erste sichtbare Zeichen einer doppelten Identität von homo sapiens und homo ludens, »premier signe sensible […] de l’homme et de l’art.«20 Ihr unvergleichlicher Appell gründet in der Kommunikation der Innenseite des Lebens, der vie intérieure. Das heißt nicht unbedingt, dass das, was sich der Wahrnehmung als Zeichen eines Verborgenen aufdrängt, unmittelbar verständlich wäre. Aber es impliziert, dass die Sphäre elementaren Werkzeuggebrauchs, die activité utilitaire des prähistorischen homo faber, der sich nicht in der Darstellung entwirft und objektiviert, unwiderruflich überschritten ist. Erst der homme de Lascaux ist notre semblable, weil er sich in der Sphäre der communication des esprits bewegt. Das Medium dieser Kommunikation ist die bildhafte Darstellung, nicht die Sprache. An ihrer Funktionalität ändert auch die stupende Fremdheit oder Befremdung, die étrangeté inhumaine, nichts, die – zumindest für den modernen Beobachter – von der Dominanz der Tierdarstellung und der Marginalität der Selbstrepräsentation des Menschen ausgehen. Denn es handelt sich um kommunizierte Fremdheit im Rahmen der instituierten und nunmehr kontinuierenden Kunst. Ihre Zeichen bewegen, ja verwirren und verwandeln uns (égarer/transfigurer). Sie ist das erste Beispiel einer figuration inutile – eine Darstellung, die ein Appell ist, aus der Emotion geboren und an sie appellierend. Fossile Reste und Werkzeuge sind Spuren fremden Lebens – die Kunst, und das heißt hier die Malerei, ist Mitteilung, gerade auch in der Indirektheit der Darstellung des überwältigend Fremden und Anderen der großen Tiere, aus ihr erwächst jenes sentiment de présence – de claire et brûlante présence,21 das aller großen Kunst eigne. Präsenz, so könnte man Bataille verstehen, ist die Dringlichkeit
19 Ebd., S. 10. 20 Ebd., S. 11. 21 Ebd., S. 13.
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einer Mitteilungszumutung, deren Informationsgehalt unzugänglich bleibt. Die gegenwärtige antihermeneutische Karriere des Präsenzbegriffs ist bekannt. Bataille ist einer ihrer frühen Protagonisten. »Ces peintures«, so heißt es kategorisch, »nous communiquent une émotion forte et intime. Mais elles sont d’autant plus inintelligible.«22 Kein geringerer als René Char hatte bereits 1952 in seinen Lascaux-Gedichten die erstaunliche Präsenz der prähistorischen Höhlenmalereien thematisiert. In dem Gedicht Les Cerfs noirs heißt es beispielsweise in konziser Apodiktik: »Cerfs, vous avez franchi l’espace millénaire, / Des ténèbres du roc aux caresses de l’air.«23 {Abb.2} Und André Malraux, der von Lascaux nicht loskommt, weder als Autor noch als Kulturpolitiker, formuliert im letzten Teil seiner Métamorphose des Dieux, der den bezeichnenden Titel L’intemporel trägt und seine Theorie des imaginären Museums abschließt: »Que les bisons de Lascaux ou d’Altamira […] soient présents pour nous, d’une présence toute différente de celles des silex taillés, chacun l’éprouve. Les œuvres sont ›vivantes‹, non les objets.«24 Die Darstellungen besitzen ihre eigene Dichte und projizieren einen kohärenten Verweiszusammenhang. Mit dem Werkaspekt ist bereits eine liminale Institutionalität der Kunst gegeben. Malraux steht in der Kontinuität dessen, was Georges Bataille vorgegeben hatte. Unablässig variiert dieser die antihermeneutische Präsenz der ombres insaisissables der Höhlenbilder: Sie sind eine réalité inexplicable, aber sie beanspruchen unsere attention totale; sie besitzen den Charakter der Evidenz, der évidence de la vérité sogar, aber diese Evidenz ist nicht die der Anschauung oder des Verstehens, sondern der Überwältigung: »Cette extraordinaire caverne ne peut cesser de renverser qui la découvre.«25 Die Beispiele ließen sich vermehren, stets geht es um die Trias von sprachloser Evidenz, umfassender Appellqualität und gewaltförmiger Wirkung. Die Relation zwischen Darstellung und Betrachter, welche Batailles Variationen umkreisen, ist nun allerdings eine Wiederholung dessen, was sich ursprünglich in der Relation von Gegenstand und Darstellung vollzieht. Eben deshalb kann der prähistorische Künstler ja notre semblable sein, weil wir seine Reaktion zu wiederholen vermögen. Die Transfiguration angesichts der Figuration – diese
22 Ebd., S. 14. 23 R. Char: Dans l’atelier du poète, S. 671. 24 A. Malraux: Œuvres complètes, S. 772. Malraux kondensiert seine Reflexionen zur énigme de l’art in der konzisen Formel: »L’Intemporel est né quand la résurrection est devenue énigme.« (Ebd., S. 775). 25 G. Bataille: Œuvres complètes, Bd. IX, S. 15.
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Struktur verdoppelt sich zwischen Prähistorie und Moderne, die Ausgangskonstellation generiert ihr Reentry in der Rezeption. Der art aurignacien entspringt einer anthropologischen Dynamik der Selbstüberschreitung, deren Medium die Darstellung ist, und die prähistorischen Figurationen stellen sie zum ersten Mal auf Dauer, eben in der Institution der Kunst. Das Überwältigende ist daher zugleich das Unverhoffte, das Nicht zu Erhoffende, c’est l’inespéré, c’est l’inespérable.26 Das Begehren des Unverfügbaren konstituiert die Struktur der Transgression, mit der der Mensch von Lascaux die Immanenz der bloßen (Selbst-)Reproduktion aufbricht. Sie ist Selbstermächtigung zur Selbstentmächtigung, anthropologische Paradoxie des pouvoir […] d’atteindre l’inespéré. Indem er das Schreckliche, Überwältigende, aber zugleich Unabweisbare und Unverzichtbare im Bild auf Dauer stellt, vermag der homo ludens als homo pictor sich dazu zu verhalten. Er verwandelt den Schrecken in Darstellung. Darin gründen die Möglichkeit und der Spielraum der Religion. Zugleich impliziert die Instituierung der Kunst, dass der homme de Lascaux, insofern er in ein Verhältnis zu den Grenzen seines Verhaltens tritt, die Fähigkeit des Lachens besitzt.27 Und mit der Operationalisierung von Unbestimmtheit, mit der über das Lachen hinausgehenden Reaktion auf die »unausgleichbare Mehrsinnigkeit der Anknüpfungspunkte« (Plessner) erschließt sich der prähistorische Mensch offene Zeithorizonte, er ist »lourd de l’avenir le plus incertain et le plus complexe«28. Batailles Beschreibung der Grotte folgt der Ordnung der Räume, wie sie sich dem Besucher in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboten hat. Ihre Benennung hat sich seit dem Abbé Breuil eingebürgert: grande salle des taureaux, diverticule axial, la nef, le cabinet des félins, l’abside et le puits. Dabei geht es bei Bataille durchaus auch um technische und historische Fragen, der Autor fragt nach dem Alter der Malereien, er diskutiert Übermalungen und Variationen, er imaginiert Szenarien der Versammlung, des Ritus und der Beobachtung angesichts der Größe und Lage der einzelnen Höhlenabschnitte. Auch die klassischen, bereits bei dem Abbé Breuil durchgespielten Themen wie das Verhältnis figurativer und abstrakter Darstellungen und Zeichen oder die berühmte perspective tordue, also die charakteristische Kombination von Frontal- und Seitenansicht der Tiere, werden aufgegriffen. Aber die für die prähistorische Forschung typische Verbindung von prähistorischem Wahrscheinlichkeitswissen und ästhetischem Geschmacksurteil ist bei Bataille nicht das
26 Ebd., S. 16. 27 Zum Verhältnis von Lachen, Grenze und Exzentrizität vgl. H. Plessner: Lachen und Weinen, S. 11-171, v.a. S. 155ff. 28 G. Bataille: Œuvres complètes, Bd. IX, S. 27.
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letzte Wort. Ihm geht es um den anthropologischen Indexwert der Institution Kunst. Welche elementare Lebensdringlichkeit spricht aus der immense activité29 der prähistorischen Künstler und was hat sie mit dem ›heiligen‹ Terror der Höhle zu tun? Batailles Beschreibungen zielen daher immer wieder auf den auf Dauer gestellten Zusammenhang von Gewalt und Darstellung. So heißt es über die aveugle plénitude, die den Saal der Stiere auszeichnet, in ihr sei eine ›wilde‹ Existenz gegenwärtig, deren Unverständlichkeit und Fremdheit den Eindruck des Göttlichen provoziere. Oder: Von der licorne, jenem Einhorn, das die Darstellungsüblichkeiten der prähistorischen Kunst zu irritieren scheint, es sei Teil des »peuple solennel qui anime […] violemment la salle«, und die den Besucher in einen état de saisissement 30 versetze. {Abb. 3} Auch der schwarze Stier im Divertikel sei eine Gestalt voller plénitude, dessen sentiment de présence aus seiner ungebrochenen animalité robuste – impersonelle et inconsciente31 erwachse.{Abb. 4} Batailles Beschreibungen operieren, wie man sieht, am Indifferenzpunkt von Gegenstand und Darstellung. Sie provozieren den imaginären Kollaps einer Differenz, deren konstitutive Bedeutung sie herausarbeiten. Am deutlichsten wird das in der Evokation der ithyphallischen Bisons im Schiff der Höhle, denn deren Darstellung ist für Bataille schlechterdings die image la plus tumultueuse de l’Age du renne. In ihr kehrt die animalische Gewalt (violence) des Tieres in der unübertrefflichen Gewalt (puissance) der Darstellung wieder.32 Aber noch in der diskriminationslosen Wiederholung der Wirkung zeigt die kategoriale Differenz der Beschreibung den Hiatus an, der durch die Kunst in Szene gesetzt wird. Natürlich diskutiert Bataille auch die gängige magische Interpretation der Höhlenmalereien, steht sie doch im stärksten Gegensatz zu seiner Grundthese einer figuration inutile. Sie ist gewissermaßen die natürliche Lesart der prähistorischen Kunst aus dem Blickwinkel der Rationalisierung, die sie in die Sphäre des Instrumentellen und seiner Protorationalität zurückholt. Und tatsächlich mag es okkasionelle oder sekundäre Rationalisierungen gegeben haben, die Interpolation eines calcul intéressé, einer simplicité calculatrice33 der Magie treffen aber den Kern nicht, weil sie den anthropologischen Schwellencharakter der
29 Ebd., S. 60. 30 Ebd., S. 48. 31 Ebd., S. 52. 32 Ebd., S. 57, vgl. ebd.: »Ces fourrures hérissées, ces têtes hirsutes, ce mouvement ramassé et déconcertant, expriment avec une puissance jamais dépassée une violence animale angoissée, érotique et aveugle.« 33 Ebd., S. 36f.
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Kunst nicht sehen. Um ihn geht es, und ihn vermag keine retrospektive Rationalisierungsprojektion einzuholen. Ihn vermag man nur zu erkennen, wenn man die Grunddifferenz in Rechnung stellt, die mit der poietisch-ästhetischen Transgression auf Dauer gestellt und zum institutionalisierten Appell wird. In ihr wird im Bild hereingeholt, was der Ausgrenzung, dem Verbot und dem Tabu anheimfallen musste, die animalische Sexualität, das Ende und der Tod, die Erfahrungen der Grenze und des Unverfügbaren. Es sind angstbesetzte Realitäten, deren Wiederkehr nur in der Differenz möglich wird, in der Kunst, dem Spiel, dem Fest, Modalitäten, in denen die Angst und der Terror aufgehoben sind, durchaus in einem Hegelschen Sinne.34 Der ekstatische Charakter der ›authentischen‹ Transgression gründet darin, dass sie die unverfügbare Gegenstandslosigkeit des Menschen exteriorisiert, ins Bild stellt, Dauer und Wiederholung instituiert, Selbsttranszendenz (und damit auch Religion) ermöglicht. Die Transgression negiert, was Bataille die Welt der Arbeit nennt.35 Negation heißt aber nicht Löschung oder Vernichtung, vielmehr impliziert das Konzept der Transgression die Affirmation des Verbots und des momentan Überschrittenen,36 und damit ein Gleichgewicht von Arbeit und Spiel, Profanem und Heiligem, Arbeit und Fest. Man sieht, dass Batailles Begriff des Religiösen, als der Unterscheidung des Profanen und des Heiligen, sich eng an die Grunddifferenz anlehnt, die Emile Durkheim als die formes élémentaires de la vie religieuse beschrieben hat.37 Aber diese Differenz wird für Bataille zur Form nur im Medium der Kunst. Der fond de la religion, eben das Vermögen der asymmetrischen Differenz des Profanen und des Heiligen, wird Realität nur in der Authentizität des Ausdrucks, im instituierten Kreislauf von Darstellung als sich anreichernder Produktion und ritueller Wiederholung, in den formes prodigieuses, welche das Formlose der Sexualität und des Todes, der Gewalt und des Endes in die Anschauung bannen. »[…] l’art exprime ce moment de transgression religieuse«38, Ausdruck, Ausgang und Ausweg (issue) in einem. Die Kunst ist also eine anthropogenetische Institution, sie hat eine intention générale, die sich in aller Ausdifferenzierung einer intention pratique particu-
34 Vgl. ebd., S. 40: »L’angoisse est profonde dans la transgression authentique, mais, dans la fête, l’excitation la dépasse et la lève.« 35 Vgl. dazu insgesamt M. Foucault: Préface à la transgression, außerdem: A. Hahn: Transgression und Innovation. 36 Vgl. G. Bataille: Œuvres complètes, Bd. IX, S. 41: »[…] la transgression contribue à l’affirmation de l’interdit.« 37 Vgl. É. Durkheim: Les formes élémentaires, v.a. S. 65ff. 38 G. Bataille: Œuvres complètes, Bd. IX, S. 41.
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lière des Werks durchhält. Batailles Formulierungen tendieren wiederum zu großräumiger und apodiktischer Allgemeinheit: »Ces conditions«, so heißt es etwa über die Emergenzbedingungen der prähistorischen Kunst, »sont restées celles de notre vie, c’est par elles que la vie humaine est définie […]« (S. 42)39 Aber es ist klar, dass damit noch nichts über jene Spezifik gesagt ist, durch die die prähistorische Kunst ihre charakteristische Ambivalenz von Präsenz und Fremdheit gewinnt. Warum gibt es das auffällige »effacement de l’homme devant l’animal«40, warum tragen die dargestellten Menschen häufig die Maske eines Tieres? Warum sind die Tierdarstellungen von jenem überwältigenden Realismus, ja Naturalismus, während die Darstellungen der Menschen durch Schematisierung und Abstraktion gekennzeichnet sind, wie in der Szene mit dem homme du puits? Warum insistieren die Frauendarstellungen der Vénus stéatopyges41 so auffällig auf den Zeichen der Sexualität und der Mutterschaft? Warum die Tendenz zu den acéphales, Figuren, deren Gesicht eine undifferenzierte Fläche, ohne Augen und Mund darstellt? {Abb.5} Der Übergang vom Tier zum Menschen erfordert offenbar die Verleugnung (reniement) der tierischen Natur. Das Tier in uns ist ein objet d’horreur, Gegenstand des Verbots, Objekt der Tabuisierung. Gerade dieses wird im Moment der Darstellung transgressiv überschritten. In den mächtigen Tieren der Malerei ruft der homo ludens ein élément divin et impersonnel wieder auf, das er hinter sich gelassen hat, weil es ihn mit Angst und Schrecken erfüllt, und das er sich im Bild wieder vor Augen stellt, weil er zu ihm Distanz gewinnt, sich aber gleichwohl zu ihm verhalten muss. Mit der Tierdarstellung anerkennt der Mensch der Höhlen une puissance qui l’excède, qui est souveraine.42 Im Naturalismus der Darstellung aber gibt er sich diese unverfügbare Souveränität als Objekt eines variationsfähigen Verhaltens. Damit ist die anthropogenetische Leistung der instituierten Kunst bezeichnet.
39 Ebd., S. 42. Natürlich hat jedes Werk zudem einen eigenen Sinn, »un sens indépendant du désir de prodige qui lui est commun avec toutes les autres.« (Ebd.) Aber es muss mittelmäßig bleiben, wenn es nicht von einer Grundintention durchdrungen ist. 40 Ebd., S. 63. 41 Stéatopygie: Développement énorme du tissu adipeux sous-cutané dans la région sacro-fessière, constituant un caractère racial chez les Hottentots et les Bochimans. (Grand Larousse de la langue française) 42 Ebd., S. 78.
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3. ARNOLD G EHLEN : D ARSTELLUNG
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Dass den Mitbegründer des Collège de Sociologie und den späten Repräsentanten der Tradition philosophischer Anthropologie systematische Affinitäten im Blick auf die Kunst als Institution verbinden könnten, dürfte auf den ersten Blick angesichts der Heterogenität der Voraussetzungen wie der intellektuellen Temperamente unwahrscheinlich scheinen. Und die Thesen, die Bataille und Gehlen gleichzeitig zum Thema des Ursprungs der Kunst in der prähistorischen Malerei vortragen, sind offenbar ohne wechselseitige Kenntnisnahme entstanden. Und doch ist unverkennbar, dass auch bei Bataille der Ritus, von dem Gehlens anthropologische Konstruktion des ›Urmenschen‹ ausgeht, von zentraler Bedeutung ist. Der originäre Ort der Höhlenmalerei ist für Bataille der Ritus, das heißt eine darstellende, im Weiteren religiös und magisch aufgeladene Operation als momenthafter, auf Wiederholung angelegter Vollzug. Der enchevêtrement des figures,43 das heißt die Übermalung der Figuren und Fortschreibung der Zeichen sprechen dafür, dass die Intention jedenfalls nicht dekorative Dauer, sondern der tracé d’une image nouvelle darstellt. Das Einzelbild wird überschrieben, gelöscht, die Kunst kontinuiert in der Praxis des Palimpsests. Aber ihr Antrieb ist keine leere Spontaneität, sondern das signe d’un monde divin, an der sie Halt findet und sich anreichert, die Souveränität des Tieres als Zeichen des Göttlichen.44 Im Außen (dehors) entwirft sie eine Darstellung, die sie rückwirkend als Verpflichtung erlebt. Die Höhlenmalereien »créaient le monde qu’elles figuraient«45, aber diese Erfindung gründet in der anthropologischen Differenz von Arbeit und Spiel. Durch sie findet der Mensch den Außenhalt, »l’accord de l’être avec le monde«46, den er durch Darstellung erzeugt und als Verpflichtung erlebt. Arnold Gehlens Urmensch und Spätkultur will eine Philosophie der Institutionen liefern47 – genauer: eine ›empirische‹ Philosophie, welche Ergebnisse von
43 Ebd., S. 79. 44 Bataille formuliert den Sachverhalt auch in der traditionellen poetologischen Sprache: »la règle de l’Art du renne était moins donnée par la tradition que par la nature (par la fidèle imitation de la nature).« (S. 80) 45 Ebd., S. 80. 46 Ebd., S. 81. 47 A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Vgl. z.B. S. 8: »Sie (die Institutionen, H.P.) haben angesichts der unwahrscheinlichen Plastizität, Formbarkeit und Versehrbarkeit eines Wesens, das jeder Impuls außerhalb der Bindungen sehr leicht deformiert, eine geradezu fundamentale Bedeutung […] Dass der Mensch ein geschichtliches Wesen
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Kulturanthropologie, Ethnologie, Soziologie, etc. aufgreift, um sie in ›Kategorien‹ zu übersetzen, worunter Gehlen die »nicht weiter zurückführbaren Wesenseigenschaften des Menschen«48 in kultureller, gesellschaftlicher und historischer Hinsicht versteht. Gemeint sind also nicht so sehr transhistorische Konstanten als vielmehr Strukturbegriffe, die gerade die Transformationspotentiale der menschlichen Natur, ihre Plastizität, Rousseau hätte von perfectibilité gesprochen, begreiflich machen sollen. Gegenüber dem fundamental am Handlungsbegriff orientierten Ansatz, den Gehlen in Der Mensch vorgetragen hatte, ist damit eine Verschiebung des Theoriedesigns in Richtung einer Sozial- oder Kulturanthropologie signalisiert. Institutionen sind »ausschlaggebende Stabilisierungsgefüge«, durch sie wird das Handeln »auf Dauer gestellt, normierbar, quasi-automatisch und vorhersehbar.«49 Sie sind die kulturelle Form der Lebensprinzipien, ihrerseits nicht zu verstehen ohne ein Konzept des zwecklosen, aber obligatorischen Handelns, denn in diesem wird der Inhalt des Handelns zugleich seine Form, als darstellendes Verhalten. Institutionen entlasten von subjektiven Motivationen, sie bieten ein Gerüst von »Hintergrundserfüllungen«, die das Handeln für komplexere und anspruchsvollere Vollzüge freisetzt. Für die Umstellung vom Handlungs- auf den Institutionenbegriff gibt es mindestens zwei dringliche Gründe. Zum einen jenen Prozess der Moderne, den Gehlen als subjektivistische Aushöhlung50 säkularer, Halt gebender Institutionen begreift, eine Dynamik der Zerstörung des Außenhalts des Handelns, damit ein Orientierungsverlust, der die Individuen zunehmend auf sich selbst zurückwirft und ihre Antriebe in sich kreisen lässt. Gehlen hat diese kulturkritische Perspektive verschiedentlich formuliert, in populärer Form etwa in dem einst viel gelesenen, 1957 erschienenen Buch Die Seele im technischen Zeitalter. Das muss hier nicht interessieren. Der zweite Anlass aber betrifft direkt die Institution Kunst, die Kunst als Institution. Im zweiten Teil von Urmensch und Spätkultur entfaltet Gehlen eine anthropologische Theorie der Darstellung und ihres institutionellen Potentials. Es geht dem Autor sowohl um die Gründung der Institution in der und durch die Darstellung als auch um Darstellung als Institution. Es handelt sich durchgängig um einen theoretischen Entwurf mit hohem Generalisierungsgrad, und doch wäre er nicht denkbar gewesen – was Gehlens Exposition nicht durchgängig deutlich macht –
ist, hat umgekehrt die Folge, dass er sich von den historisch gewachsenen Wirklichkeiten konsumieren lassen muss, und das sind wieder die Institutionen […]« 48 Ebd., S. 7. 49 Ebd., S. 42. 50 Vgl. ebd., S. 9, wo das Merkmal der Subjektivität als das »Stigma des Menschen in einer Zeit des Institutionen-Abbaus« apostrophiert wird.
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ohne die spektakulären Entdeckungen der jungpaläolithischen Höhlenmalereien, das Wunder von Lascaux und ihre einschlägigen Darstellungen, namentlich im Werk des Abbé Breuil. Man muss diese Abhängigkeit umso mehr betonen, als Gehlen – in dieser Hinsicht den Gründungsszenarien, die René Girard ausspekuliert,51 nicht unähnlich – das Konzept der Darstellung primär aus einem situativen Verkörperungszusammenhang entfaltet, dessen Empirie sich direkter Beobachtung entzieht, letztere erscheint deshalb selbst als eine Art Extrapolation aus den Befunden der Kunstarchäologie. Eine philosophische Anthropologie der Institution, an ihrer Gründungs-, nicht an ihrer Auflösungsseite orientiert, muss sich naturgemäß in einer Sphäre der Abstraktion bewegen, die den lebensweltlichen Augenschein der Gegenwart und der historischen Dokumentation dezidiert überschreitet. So formuliert Gehlen in Urmensch und Spätkultur die folgende Definition: »Institutionen waren ursprünglich Transzendenzen ins Diesseits im Vollsinne.«52 Was heißt das? Transzendenzen ins Diesseits sind zweiseitige Gegenstände oder Ereignisqualitäten, die sich zwischen dem Daseinswert, das heißt dem Bezug auf aktuelle oder potentielle Bedürfnisse und Transzendenzen ins Jenseits, Überschreitungen, die mit der Kulturschwelle des Monotheismus möglich werden, bewegen. Ihre Zweiseitigkeit gründet darin, dass sie sowohl vom Bedürfnis, also vom Daseinswert, als auch von ihrem Eigen- oder Selbstwert her zu sehen sind. Sie erscheinen den Akteuren als nützliche Instrumente wie als verpflichtende Geltungen. Diese Struktur gilt in der Perspektive von Urmensch und Spätkultur für Institutionen generell und begründen ihren Status als anthropologische Fundamentalkategorie: »Alle Institutionen der Arbeit, der Herrschaft, der Familie usw. haben […] einen direkten Erfüllungswert für menschliche Primärbedürfnisse, aber sie verselbständigen sich gegenüber dem Menschen und man handelt von ihnen her, im Sinne ihrer Erhaltung, ihrer Eigenforderungen, ihrer Gesetze.«53 Transzendenzen ins Diesseits als originäre Struktur der Institution lassen den Daseinswert der Dinge, ihre aktuelle oder potentielle Bedürfnisrelevanz, intakt, aber sie erheben Anspruch auf einen Selbstwert, der den Daseinswert zunehmend virtualisiert, bis hin zu jener Grenze, wo ein Selbstwert im absoluten Sinne den Daseinswert unsichtbar werden lässt. Dieser Zweiseitigkeit korrespondiert ein spezifischer Verhaltenstypus der Darstellung, in dem beides verklammert ist, und er manifestiert sich zunächst und zuerst »als Nachahmung, als imitatorischer Ritus«, Gehlen spricht von »rituell-darstellende(m) Verhalten« und qualifiziert
51 Vgl. insbesondere R. Girard: Des choses cachées depuis la fondation du monde. 52 A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 18. 53 Ebd.
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es als spezifisch archaisch, weil es an den »Brennpunkten des Lebenskampfes« angreifen kann, und als solche fungieren prähistorisch namentlich die großen, gefährlichen Jagdtiere.54 In dem Verhalten zu den fundamentalen Lebensinhalten der archaischen Welt, Jagd und Tod, sind, so scheint es, rudimentäre Instinkte durchaus noch präsent. Das Verhalten bezieht sich jedenfalls nicht auf beliebige Objekte. Aber zur Institution, zur kontinuierenden Transzendenz ins Diesseits, wird es erst, wenn es die Appelldaten, auf die es antwortet, durch Darstellung auf Dauer stellt. Das ist die Geburtstunde des homo pictor, den Hans Jonas in Organismus und Freiheit folgendermaßen als anthropologische Elementarfigur beschreibt: »Ein bildmachendes Wesen ist […] eines, das entweder dem Herstellen nutzloser Dinge frönt, oder Zwecke außer den biologischen hat, oder die letzteren noch auf andere Weise verfolgen kann als durch die instrumentale Verwendung von Dingen. Jedenfalls ist in der bildlichen Darstellung der Gegenstand in einer neuen, nichtpraktischen Weise angeeignet, und eben die Tatsache, dass das Interesse an ihm sich an sein Eidos heften kann, bezeugt eine neue Objektbeziehung.«55
Mit der Darstellung wird das Objekt aus instrumentellen Zusammenhängen gelöst, man bekommt es in den Griff, und kann sich zu ihm verhalten. Das ist das Eine, und damit wird eine fundamentale Umstellung eingeleitet. Die Ursprünge der prähistorischen Kunst instituieren nämlich zugleich eine neue Verhaltenssphäre der Darstellung im Blick auf die großen Lebenschancen und -risiken, das kontingent-unverfügbare Tremendum, das an den großen Jagdtieren hängt. Sie lösen das Erfahrungsdatum von der konkreten Raumzeitstelle einer ereignishaften Erscheinung. Gegen die Kontingenz der Welt eröffnen sie damit einen unvordenklichen Nexus von Institution, Hintergrundserfüllung und Selbstbezug über das Andere. Es ist die Institution der Kunst als primär rituelle, sekundär objektivierte Darstellung, in der dieser anthropologische Leistungszusammenhang möglich wird, wie weit auch immer sie dann von sekundären Zweckbesetzungen (Magie, etc.) in Anspruch genommen wird. Letztere, Religion, Verwandtschaftsbeziehungen, Tierhege, und vieles mehr, mögen in ihren historischen Konsequenzen unabsehbar sein. Primär aber ist die anthropologische Wurzel der Kunst als Darstellung, die »Ablösung der daseinswichtigen Außenweltbezüge aus der Irrationalität der Raumzeitstelle«56 durch Schematisierung, dauerhafte Fixierung
54 Ebd., S. 16 und S. 9. 55 H. Jonas: Organismus und Freiheit, S. 228. 56 A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 55.
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und Zeichengebrauch. Die Darstellung, zunächst als imitatorischer Ritus, in vivo, dann in materia, als Malerei oder Plastik, schließlich in der Erzählung, als Mythos, ist ein Modus der Außenweltstabilisierung gerade dort, wo ihre unverfügbare Kontingenz am massivsten ist, und sie überführt damit die lebenswichtigen Gestalten in die Beständigkeit der Bilder. Sie ist damit die elementare, nichtsubstituierbare Form der Transzendenz ins Diesseits, sie überführt die Riskiertheit und Exponiertheit der menschlichen Existenz in die Stabilität anschaulicher Form. Zu ihr aber kann man sich verhalten – in wachsenden Freiheitsgraden, auch das wird durch die Transzendenz ins Diesseits möglich. Die Darstellung in der Dauer ermöglicht ein Verhalten, das zugleich als eine Stellungnahme zu der eigenen Bedürfnissituation lesbar ist, welche gerade nicht über Bewusstsein und Reflexion läuft, sondern über die exteriorisierte Form als Modus der Vergegenständlichung.57 Es ist die Darstellung, welche sowohl die Sicherheit der Hintergrundserfüllung verschafft als auch die Plastizität der eigenen Antriebe steuerbar macht. Genau darin besteht für Gehlen die Leistung der archaischen Kunst als einer »Kulturtat höchster Verdichtung«: »Die ungeheure Ausdruckskraft der jungpaläolithischen Höhlenbilder liegt darin, dass man spürt, dass eine Konzeption der Welt darin liegt, einer Welt, die mit keinen anderen Mitteln zu veranlassen war, sich selbst zu stellen. Darin liegt die gewaltige Überlegenheit der Darstellung über den Begriff.«58 Diese anthropologische Situation ändert sich erst mit dem Monotheismus und daraus resultiert auch für den modernen Beobachter die Schwierigkeit des Zugangs zu den Darstellungsleistungen der Prähistorie. Mit der Entdeckung des unsichtbaren, transzendenten Gottes wird die Außenwelt neutralisiert, »von Faktenheiligkeiten entleert«.59 Die Transzendenzen ins Diesseits, welche die Außenwelt stabilisieren, werden transformiert zur monotheistischen Transzendenz ins Jenseits, die den Geltungsanspruch der Institution der Darstellung untergräbt. Darstellung als Verarbeitung von Erfahrung im Bild, nicht in der Reflexion, heißt immer auch: Verlagerung von Bedürfnissen, Antrieben und Motiven ins Objekt – sie werden damit einerseits stabilisiert, andererseits sprachförmig.
57 Vgl. ebd., S. 76: »Ein gefühlsstarker, bildbesetzter Erlebniskomplex hat erlebnismäßig eine anschauliche Eigenständigkeit, in der die Person sich selbst gegenständlich wird, obgleich nicht im Sinne der Selbstbeobachtung oder Selbstbesinnung.« 58 Ebd., S. 56. Ähnlich S. 58: »Die Außenwelt-Stabilisierung war die erste große Kulturtat der Menschheit, die Götter und Dämonen waren also zunächst und für Jahrtausende daseiende, bildhaft-anschauliche, denn die Außenwelt muss das selbst sagen.« 59 Ebd., S. 57. Zu Gehlens Konzeption der großen Kulturschwellen vgl. ebd., S. 5 und S. 18.
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Allgemein bedeutet Darstellung für Gehlen die überlegene Lösung, ermöglicht sie doch sowohl Selbst- als auch Fremdverstehen, besser vielleicht: Stellungnahme im Personalen wie im Sozialen. In der Darstellung des fremden Appelldatums ereignet sich ein »Sichverstehen jedes einzelnen Menschen in einem dominierenden Bedürfniskomplex«, und zugleich eröffnet sich in der Institutionalisierung des Verhaltens die »Stabilisierung des gegenseitigen Schonverständigtseins«.60 Die Darstellung verkörpert damit die Institution jenes Selbstentwurfs im Anderen, den G.H. Mead to take the role of the other nennt. Im darstellenden Ritus erlebt sich die Gruppe als Gemeinschaft und zugleich als Dauer, die Appellsituation wird mit dem Sozialerlebnis gekoppelt. Gehlen rekurriert in diesem Kontext auf den Begriff der stabilisierten Spannung, den er von dem polnischstämmigen Linguisten und Religionswissenschaftler Jean Przyluski (1885-1944) übernimmt, der in seinem philosophischen Hauptwerk L’évolution humaine (1943)61 mit dem Konzept der tension stabilisée operiert. Aber auch Freuds Interpretation des Tabus als »Ergebnis eines Ambivalenzkonflikts« wird ins Spiel gebracht. Und offenkundig korrespondiert der Begriff systematisch, wenn auch unausdrücklich, mit jener Kopräsenz kontradiktorischer Impulse, die Bataille angesichts der Höhlenbilder glaubt rekonstruieren zu können. Stabilisierte Spannung meint eine in der Dauer festgehaltene Affekteinstellung angesichts großer, lebenswichtiger wie erschreckender Objekte, die ihre Konstanz aus der wechselseitigen Hemmung der gegenläufigen Antriebe bezieht. Institutionalisierte Formen der stabilisierten Spannung, wie man sie aus der Geschichte kennt, bedienen sich häufig ästhetischer Formen, sind in ihren Zwecken aber häufig politischer oder religiöser Orientierung unterworfen, ihre prominentesten kulturhistorischen Paradigmen sind zweifellos die verbindlichen Rituale des Verhaltens vor Königen und Göttern. Dieser Befund erhellt zweierlei: Zum einen, dass das in der Institution der Kunst verkörperte Ästhetische zunächst so gut wie immer in heteronomen Zweckzusammenhängen auftritt, ja diesen die Chance der Entfaltung und Anreicherung bietet; zum anderen, dass ohne das anthropologische Paradigma der Darstellung (des rituell-darstellenden Verhaltens) die Kategorie der stabilisierten Spannung nicht zur kulturstiftenden Entfaltung hätte kommen können. Gehlen macht das auch insofern sichtbar, als er die Bedeutung der stabilisierten Spannung für die Kunstproduktion im Allgemeinen profiliert. Deren Dynamik mag durchaus von einem emotionalen oder kognitiven Komplex erster Hand aus-
60 Ebd., S. 76. 61 Zweiter Teil einer Trilogie, deren erster Teil Participation (1940), der letzte Créer (1943) betitelt ist.
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gehen, aber dieser gewinnt Kontur erst angesichts der Hemmung durch ein Wirklichkeitssegment, das ebenso unabweisbar wie bedeutsam ist. In dieser Ambivalenz können Emotionen, Erinnerungen, Assoziationen, Projektionen und Entwürfe hinzutreten, die sich in Richtung einer stabilisierten Spannung entwickeln und ausdifferenzieren. So kommt es zur produktionsästhetischen Gegenseitigkeit der »Weiterentwicklung und Anreicherung des subjektiven Gefühlsund Gedankenkomplexes und des dargestellten Gegenstandes.«62 Die Darstellung integriert den undifferenzierten subjektiven Komplex ebenso wie den Schematismus des Gegenstandes und reichert sie wechselseitig an. Sie durchläuft rekursive Schleifen der Differenzierung und der Komplexitätssteigerung. Ähnliches gilt indes, so ließe sich ergänzen, mutatis mutandis für die Wahrnehmungs- und Rezeptionsseite. Die im ästhetischen Objekt gebündelte stabilisierte Spannung organisiert die Dauerform orientierter Aufmerksamkeit – die unter archaischen Bedingungen noch instinktresidual verstärkt ist. Sie fungiert mithin als eine Art Promoter von Wahrnehmungsintensität, die in die Selbstwahrnehmung zurückläuft. Das aus der Ebene des Objekts motivierte Verhalten wird damit von innen heraus für Anschlussmotive und sekundäre Zwecke freigesetzt: die Symbolisierung des Subjektiven, die emphatische Feier des Sozialen, die Ausdifferenzierung der Macht und des Glaubens. Welche Qualitäten aber muss das Objekt erfüllen, wenn es als ästhetisches das lebensweltliche Tremendum sowohl retten als auch für freie Anreicherung verfügbar sein soll? Der ekstatische, darstellende Mimus ist nach Gehlen zweckfrei, aber nicht unmotiviert, weil er in einem als obligatorisch erlebten Verhalten gegenüber einem äußeren Ereignis besteht. Dieses muss, um den Fokus der Aufmerksamkeit zu besetzen, die Bedingung einer unwahrscheinlichen, überraschenden Wahrnehmung erfüllen, gestaltpsychologisch gesprochen, es muss Formen des Auffallenden und Prägnanten, des Symmetrischen und Einfachen erfüllen. Man hat es bei Gehlen mit einer biologisierenden Version der schönen Form zu tun, letztere verkörpert demnach Auslösereigenschaften, die sich vom Instinkthaften gelöst haben. Die Wirkung des prägnanten Wahrnehmungsdatums mit Appellqualität konzentriert sich in der Bündelung eines Antwortdrucks unbestimmter Art, mit Vilfredo Pareto, einem der Gewährsautoren Gehlens, gesprochen, eines »besoin de faire quelque chose«. Gerade die Unbestimmtheit des Appells lässt eine virtuelle Bedeutung entstehen, weil er sich nicht im Vollzug der Handlung oder in der Entladung des Affekts abarbeiten lässt. Damit entsteht ein Hiat, die Rätselhaftigkeit des Appelldatums sollizitiert Variationen der Antwort. Die Darstellung im Bild und die Benennung im Wort sind die entscheiden-
62 A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 81.
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den anthropomorphen Reaktionsformen, sie stellen die Erscheinung durch Stellvertretung auf Dauer, sie eröffnen den Raum eines Stattdessen und etablieren die Struktur des fiktionalen Als-Ob. Beides, die Produktion von ähnlichen Gestalten und die Benennung numinoser Qualitäten, emanzipiert das Verhalten von der Kontingenz des Vorfindlichen und eröffnet Räume der Variation, der Anreicherung und der Inversion. Gehlen hat letztere in der Kategorie der Umkehr der Antriebsrichtung thematisiert. Sie ist für ihn im Verbund mit dem instrumentell-rationalen und dem rituell-darstellenden Verhalten die dritte große Kategorie anthropomorphen Verhaltens. Genetisch ist sie allerdings von der nachahmenden Bildhaftigkeit abhängig, erlaubt doch erst die in der Stabilität arretierte Darstellung die Provokation und Anreicherung der Innenseite des Erlebnisses. Eine fiktive, in die Darstellung gebannte Handlung ermöglicht Verstetigung innerer Zustände und Verständigung im Umweg über das Sichtbare. Affekte schlagen in Dispositionen um, Gefühlsstöße werden zu kognitiven Emotionen. Man bekommt so die eigenen Emotionen in die Hand, indem man sie von der Kontingenz unwahrscheinlicher Erlebnisse ablöst und durch Darstellung provozierbar macht. So erkennt Gehlen in den »herrlichen Malereien auf den spanischen und französischen Höhlenwänden« eine kulturstiftende Leistung, die er nicht ohne Pathos beschwört: »Was also erlebbar wird, ist […] die dauernde, virtuelle Präsenz der Erfüllungsobjekte für dauernde, virtuelle gemeinsame Bedürfnisse: eine sehr tiefe Aussage über die Vollkommenheit des Lebens.«63 In Urmensch und Spätkultur wird die Inversion der Antriebsrichtung vor allem im Hinblick auf die gegenstrebigen Ekstasen des Rausches und der Askese thematisch. Diese Fokussierung ist kein Zufall, gilt Gehlens Hauptinteresse doch, in polemischer Gegenstellung gegen den als haltlos denunzierten Subjektivismus der Moderne, der Profilierung eines stabilen Ethos des Verhaltens, induziert und verstetigt durch die unbestimmte Verpflichtungsqualität der Darstellung. Wenn in der Umkehr der Antriebsrichtung ekstatische Zustände zwischen den Polen des momenthaften Rausches und dem verstetigten Habitus der Askese möglich werden, so gilt das institutionentheoretisch begründete Interesse naturgemäß der Askese, denn nur sie ist dauerhaft stabilisierbar. Von der Institution ermöglicht, wird sie selbst zur Institution. In der Ausdifferenzierung von stimulans und disciplina als Vektoren der Umkehr der Antriebsrichtung optiert Gehlen für letztere, denn nur sie offeriert die Option des sacrificium, die Möglichkeit, sich von der Institution konsumieren zu lassen oder selbst zur Institution zu werden, jedenfalls nicht an der Sabotage der Institution und ihrer Geltung
63 Ebd., S. 150f.
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mitzuwirken. »Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall« wird es in Die Seele im technischen Zeitalter heißen. Die Sorge des Kulturkritikers, die sich hier manifestiert, zwingt, so scheint es, zu Verkürzungen in der analytischen Entfaltung des Verhältnisses von Darstellung und Antriebsrichtung. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Institution Kunst. Sie wird unter den Bedingungen der Moderne in eine Unverbindlichkeit des Ästhetischen gedrängt, die der Produktivität der Institution Kunst zwischen Urmensch und Spätkultur nur eine melancholische Coda übrig lässt.64
4. M IMESIS
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»Versuche, Ästhetik aus dem Ursprung der Kunst als ihrem Wesen zu begründen, enttäuschen notwendig.«65 Adornos Exkurs zu den »Theorien über den Ursprung der Kunst«, seiner Ästhetischen Theorie als Paralipomena beigegeben, formuliert ein Versagen, das in der Hypertrophie des Anspruchs, der Ursprung und Wesen der Kunst in einem Begründungszusammenhang verklammert, bereits vorgezeichnet ist. Er suggeriert, indem er auf den Ursprung reflektiert, eine Einheit, deren Existenz für Adorno durchaus in Frage steht, jedenfalls nicht vorauszusetzen ist.66 Adornos Skizze zu Ursprungskonzepten, einer der seltenen Texte, wo er ausdrücklich den Beitrag von Mitarbeitern zu erwähnen sich veranlasst sieht, ist ein ausgesprochen hybrider und symptomatischer Text, mehr Problemanzeige als Exposition. Er diskutiert Begrifflichkeiten der ästhetischen Theorie im Rückgriff auf Benedetto Croce, Melville Herskovits und Arnold Hauser, schon die Heterogenität der Namen lässt erkennen, dass es dabei ebenso sehr um Kritik ihrer Positionen wie um begriffliche Grundlagen gehen wird. Andererseits werden die »älteste(n) Höhlenmalereien«67 mit hartnäckiger Insistenz ins Feld geführt, ohne dass die einschlägigen Autoren der prähistorischen Forschung zitiert würden. Weder der Abbé Breuil noch André Leroi-Gourhan werden auch nur erwähnt, die einschlägig orientierten Ursprungstheorien der Kunst bleiben ausgespart, von Georges Bataille oder André Malraux ist über-
64 Zu Gehlens Auseinandersetzung mit der modernen Malerei vgl. allerdings A. Gehlen: Zeit-Bilder. 65 Th.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 480. 66 Die Integration der Kunst, heißt es wenig später, mag mehr »eine im Begriff […] als durchaus eine der Sache sein«. Überhaupt: »Kunst als Einheit markiert eine sehr späte Stufe.« (Ebd., S. 482) 67 Ebd.
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haupt nicht die Rede, der akademische und intellektuelle Gegenspieler Arnold Gehlen wird nur als Autor des Aufsatzes »Über einige Kategorien des entlasteten, zumal des ästhetischen Verhaltens« erwähnt. Adornos Reflexionen bewegen sich in kaum überraschenden Bahnen. Er rekapituliert die Diskussionen über den Ursprungsvorrang naturalistischer oder symbolischer Darstellungsverfahren, polemisiert gegen Versuche, Kunst auf ihre prähistorischen Ursprünge zu »reduzieren« oder die frühesten Zeugnisse als die »authentischsten« zu apostrophieren, das verbiete allemal der Charakter der Kunst als eines »Gewordenen«.68 Man mag das als Doxa der kritischen Theorie verbuchen. Andererseits kann Adorno, und hier zeigt sich die symptomatische Qualität seiner Reflexionen, nicht umhin, dem Antrieb der prähistorischen Kunst eine Persistenz zu vindizieren, welche das Monitum radikaler Historizität konterkariert. Dieser Umschlag zeigt sich bereits darin, dass auch Adorno, in nirgendwo deklarierter Konvergenz mit seinen Vorläufern, die Höhlenzeichnungen als spätere Stufen eines Prozesses begreift, der sie auf eine vorausgehende »mimetische Verhaltensweise« als primäre »ästhetische Verhaltensweise«69 projiziert. Diese indes ist sowohl ursprünglich wie fundamental. Ihre Diskussion changiert bei Adorno unruhig zwischen Vorgeschichte und später Moderne, Emanzipations- und Verfallsgeschichte. Die einschlägigen Formeln leben von der Provokation des Anachronismus wie der Denunziation aktueller Entwicklungen. An den Höhlenmalereien diagnostiziert Adorno einerseits die »frappierenden Züge autonomer Darstellung«, zugleich exponiert er andererseits den Positivismus der modernen »Amusischen, erfolgreich Kastrierten«70 als Verfallsform oder Verdrängung des mimetischen Verhaltens. So wird das ästhetische Verhalten, das in den Höhlenmalereien der Prähistorie schlagartig sichtbar wird, zum Protest gegen den Erfahrungsverlust der Moderne und das »mittlerweile zur Totalität sich aufspreizende verdinglichte Bewusstsein«.71 Zweifellos sind solche kühnen Konstellationen nur schwer auf argumentative Stringenz zu verpflichten. Gleichwohl lassen sich aus Adornos Überlegungen drei bedenkenswerte, ins Grundsätzliche zielende Gesichtspunkte entnehmen, die ex negativo die Frage der Institutionalität der Kunst aufwerfen. Die ästhetische Verhaltensweise ist für Adorno erstens das Vermögen, die Dinge ins Bild zu verwandeln, das heißt von ihrer dinghaften Beschaffenheit
68 Ebd., S. 480. 69 Ebd., S. 487, 482. So ist denn auch die Rede von einer »Hartnäckigkeit des ästhetischen Verhaltens« (S. 487). 70 Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 487ff. 71 Ebd., S. 488.
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ebenso wie von ihren Zweckzusammenhängen abzusehen. Sie ist »der Blick, unter dem, was ist, ins Bild sich verwandelt«.72 Ästhetisches Verhalten ist zweitens mimetisches Verhalten, allerdings weder als unmittelbares noch als verdrängtes, sondern als Prozess, »den sie (die Mimesis, H.P.) entbindet und in dem sie modifiziert sich erhält«73. Ästhetisches Verhalten ist also Mimesis, in der ursprünglicher Antrieb und reflexive Distanz zusammenkommen. Was damit gemeint ist, lässt sich mit Adornos drittem Gesichtspunkt erläutern. Ästhetisches Verhalten ist demnach die »Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre Gänsehaut das erste ästhetische Bild«, damit ein »Angerührtsein« vom Gegenstand, und schließlich eine Vermählung von »Eros und Erkenntnis«.74 Es ist vermutlich kein Zufall, dass die Ästhetische Theorie mit dieser mythischen Formel endet. Zwar ist unklar, wie Adorno seine Überlegungen entwickelt hätte, wäre ihm die Zeit geblieben, dem Buch definitive Form zu geben. Aber es ist unübersehbar, dass die Skepsis gegenüber der Anthropologie Adorno in eine Zirkularität ideologiekritischer und mythologischer Denkfiguren treibt, die immer wieder in ein Konzept ästhetischen Verhaltens mündet, dessen Fundament undeutlich bleibt. Seine Bestimmungen werden variiert, aber nicht präzisiert. Die platonisierende Einheitsformel von Eros und Erkenntnis überspielt die Schwierigkeiten, die sich aus der Privilegierung der Verhaltensseite des Ästhetischen ergeben, unter konsequenter Vernachlässigung seiner institutionellen Seite. Ohne eine Anthropologie der Institutionen aber wird man schwerlich jene Spielräume des Verhaltens analytisch dingfest machen können, die von der Darstellung (in vivo oder in der Materialität) zu ihrer Instrumentalisierung oder zu den Formen ihrer Inversion (im Sinne einer Umkehr der Antriebsrichtung) reichen. Damit wäre nicht nur die Ursprungsfrage von Wesenszuschreibungen entlastet. Vielmehr könnten die Grenzphänomene des Ästhetischen75 in ihrer Funktionalität diskutiert werden, ohne das in seiner anthropologischen Ursprünglichkeit erschlossene Ästhetische selbst dem Verdacht auszusetzen, ein Grenzphänomen zu sein.
72 Ebd., S. 489. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 489f. 75 Vgl. dazu H.-R. Jauß (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste.
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L ITERATUR Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21973. Breton, André Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. III, (Hg. Marguerite Bonnet et al.), Paris: Gallimard 1999. Abbé Breuil, Henri Quatre cents siècles d’art pariétal. Les cavernes ornées de l’age du renne, réalisation Fernand Windels, Montignac: Centre d’Etudes et de documentation préhistoriques 1952. Bataille, Georges: Œuvres complètes, Bd. IX, Paris: Gallimard 1979. Char, René: Dans l’atelier du poète (Hg. Marie-Claude Char), Paris: Gallimard 1996. Durkheim, Emile: Les formes élémentaires de la vie religieuse (Hg. Michel Maffesoli), Paris: CNRS éditions 2007. Foucault, Michel »Préface à la transgression«, in: ders., Dits et écrits, 19541988, 4 Bde., (Hg. Daniel Denfert/François Ewald), Paris: Gallimard 1994, Bd. I, S. 233-250. Gehlen, Arnold Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M.: Athenäum 1960. — Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a.M.: Athenäum 1977 (1. Aufl. 1956). Hahn, Alois: »Transgression und Innovation«, in: Werner Helmich/Helmut Meter/Astrid Poier-Bernhard (Hg.), Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München: Fink 2002, S. 452-465. Girard, René: Des choses cachées depuis la fondation du monde. Recherches avec Jean-Michel Oughourlian et Guy Lefort, Paris: Grasset 1978. Jauß, Hans Robert (Hg.): Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München: Fink 1968. Jonas, Hans: Organismus und Freiheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973. Leroi-Gourhan, André: Préhistoire de l’art occidental, Paris: Mazenod 1965. Malraux, André: Œuvres complètes, Bibliothèque de la pléiade, 6 Bände. — Bd. III (Hg. Marius-François Guyard et. al.), Paris: Gallimard 1996. — Bd. V (=Ecrits sur l’art, II.) (Hg. Henri Godard et. al.), Paris: Gallimard 2004. Penaud, Guy: André Malraux et la Résistance, Périgueux: Fanlac 1986. Plessner, Helmuth: »Lachen und Weinen«, in: ders., Philosophische Anthropologie, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1970, S. 11-171.
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Abbildung 1: Überlagerung der Figuren in der Apsis
Abbildung 2: Schwarzer Hirsch im axialen Seiteneingang
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Abbildung 3: Einhorn im Saal der Stiere
Abbildung 4: Schwarzer Stier im axialen Seiteneingang
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Abbildung 5: Mensch mit Vogelkopf im Brunnen
Die Humboldt-Universität Spannung von Idee und Institution I STVÁN M. F EHÉR
Vor dem Hintergrund der seit längerem andauernden Krise der Universitäten und der sie begleitenden Umgestaltung der europäischen Hochschullandschaft ist in den letzten etwa 25 Jahren eine wachsende Literatur über Funktion, Rolle und Geschichte der Institution Universität entstanden.1 Damit hat sich die Krise der Universitäten zu einem Dauerthema entwickelt. Daß in den unterschiedlichsten – nicht selten leidenschaftlich geführten – Debatten und Diskussionen die Humboldt-Universität einen besonderen Stellenwert einnimmt und einen immer wiederkehrenden Bezugspunkt darstellt, ist nicht verwunderlich. Wilhelm von Humboldt war schließlich derjenige Reformer, mit dessen Namen die neuzeitliche europäische Universität unzertrennlich verknüpft ist. Sein Konzept der »Einheit von Forschung und Lehre« hat – mit anderen seiner Leitideen wie »Bildung durch Wissenschaft« und »Einsamkeit und Freiheit« – Profil und Selbstverständnis der europäischen Universität nachhaltig und entscheidend
*
Die vorliegende Arbeit basiert auf Forschungen, die im Rahmen der Förderung des OTKA durchgeführt wurden (Projektnummer: OTKA K-75840), und stellt die überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortragstextes dar.
1
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier einige aufgeführt: J. Pelikan: The Idea of University; C. Russell: Academic Freedom; J. Mittelstraß: Die unzeitgemäße Universität; S. Rothblatt: The Modern University; M.G. Ash: Mythos Humboldt; V. Gerhardt/R. Mehring/J. Rindert: Berliner Geist; D. Kimmich/A. Thumfart: Universität ohne Zukunft?; W. Rüegg: Geschichte der Universität in Europa; A. Morkel: Die Universität muß sich wehren; W.E.J. Weber: Geschichte der europäischen Universität; J.-D. Gauger/G. Rüther:
Warum
die
Geisteswissenschaften
I.M. Fehér/P.L. Oesterreicher: Philosophie und Gestalt.
Zukunft
haben!;
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geprägt. Dieses Konzept ist anthropologisch fundiert: angestrebtes Ziel der Bildung war es für Humboldt, Geist und Seele des Menschen zu formen, um die Welt zu erfassen und den eigenen Geist zu vervollkommnen. Unter Bildung wollte er nicht bloß die Aneignung von Fachwissen, sondern Menschenbildung verstanden wissen. Dieses Menschenbild, in dessen Zentrum Menschenbildung als Vorgang – also Menschwerdung – steht, hat neuzeitlich-idealistischen Charakter, denn Bildung in Humboldts Sinne hat etwas mit der Idee des Menschen als eines autonomen Subjekts zu tun. Die Humboldtsche Universitätsidee, ihre Entstehung und Umsetzung durch die Gründung der Berliner Universität, bleibt ihrerseits angesichts der ihr zugrundeliegenden Voraussetzungen mit der Philosophie des Deutschen Idealismus tief verbunden – ohne diese ist sie schlicht undenkbar. In den heutigen Debatten wird oft auf Humboldt Bezug genommen, teils in Verteidigung seiner Ideen, teils aber auch ablehnend. Man hört immer wieder, die Humboldtsche Universitätsidee sei unter den Bedingungen heutiger Massenuniversitäten unwiderruflich überholt, das alte Modell der Humboldt-Universität sei angesichts der Verwandlung der Universitäten von Bildungs- in reine Ausbildungsstätten so gut wie tot. Infolgedessen ist es von besonderer Aktualität und Wichtigkeit, sich auf die geschichtlichen Wurzeln der europäischen Universitätstradition zu besinnen, um ihre heutige Lage zu verstehen und Zukunftsperspektiven erarbeiten zu können. Eine verantwortliche Analyse der gegenwärtigen Situation erfordert die kritische Reflexion ihres Ursprunges. Zwar wird auf Humboldt oft Bezug genommen, und der Tatsache, daß seine Universitätsidee ihrer geistigen Herkunft und ihren Leitideen nach dem idealistischen Denken des Zeitalters stark verpflichtet ist, gebührend Rechnung getragen, dennoch kommt es, soweit ich sehe, kaum zu einer tieferen Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen, um den Sinn der Humboldtschen Universitätsidee im Spannungsfeld von Idealismus und Universität – im Rückgriff auf »Geburtsort« und »Geburtsstunde« – neu zu erschließen. Ein Stück dieser archäologisch-hermeneutischen Arbeit habe ich in einem vor ein paar Jahren erschienenen Buch zu unternehmen versucht. Aus den vielfachen Zusammenhängen zwischen Humboldtscher Universitätsidee und idealistischer Philosophie wurde dabei vor allem den Beziehungen zwischen Schelling und Humboldt nachzugehen versucht, wobei die Diskussion hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) um die zwei Universitätsschriften – Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums und Humboldts Denkschrift Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin – kreiste und sie vielfach aufeinander zu beziehen bestrebt
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war.2 Im vorliegenden Beitrag werde ich aus diesem komplexen Themenkreis dem Titel entsprechend die Zusammenhänge, welche zugleich eine nicht unwesentliche Spannung darstellen, zwischen Idee und Institution hervorheben und ihr gegenseitiges Verhältnis zur Diskussion stellen.
I.
E INIGE METHODOLOGISCHE V ORÜBERLEGUNGEN ÜBER I DEE UND I NSTITUTION : V ORVERSTÄNDNIS ODER I DEE DER I DEE – V ORVERSTÄNDNIS ODER I DEE DER I NSTITUTION
Es dürfte auf der Hand liegen: wenn es darum geht, Idee und Institution miteinander in Verbindung zu bringen, sich gegenseitig aufeinander zu beziehen, so sind dabei immer schon je unterschiedliche Ideen oder – hermeneutisch ausgedrückt – je unterschiedliche Vorverständnisse von Idee und Institution ins Spiel gebracht. Einmal läßt sich Institution ganz umfassend verstehen, etwa im Sinne Walter Rüeggs, Universitätshistoriker und Gesamtherausgeber des auf vier Bände angelegten Werks Geschichte der Universität in Europa, wie er sie im Vorwort zum ersten Band des Gesamtwerkes formuliert: »Die Universität ist eine, ja die europäische Institution par excellence. Von den drei anerkannten Mächten des Mittelalters, regnum, sacerdotium, studium«, hat nämlich »die erste, die politische Gewalt, tiefgreifende Veränderungen erfahren. Die zweite hat zwar in der römisch-katholischen Kirche ihre Struktur bewahrt und sich über den ganzen Erdball ausgebreitet, jedoch ihr Heilsmonopol verloren. […] Keine andere europäische Institution hat wie die Universität mit ihren Strukturen und ihren wissenschaftlichen Leistungen in der ganzen Welt universale Geltung erlangt.«3
2
I.M. Fehér: Schelling – Humboldt.
3
W. Rüegg: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1, S. 13. (Die letzte Hervorhebung I.M.F.) Siehe auch J. Mittelstraß: Wissenschaft als Lebensform, S. 110: »Der allgemeine Charakter von Wissenschaft bildet einen Gegensatz zur Vorstellung ihrer regionalen Verankerung; Wissenschaft läßt sich nicht unter Gesichtspunkten der Partikularität (regionalen Verhältnisse), sondern nur unter Gesichtspunkten der Universalität (ihres Erkenntnisinteresses) ins Werk setzen […]. – Entsprechend waren die Universitäten ursprünglich, und das heißt: bevor sie im 15. Jahrhundert unter landesfürstliche ›Protektion‹ gerieten, im Grunde eine […] europäische Veranstaltung.«
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Hier wird Institution als soziales Gebilde verstanden, das dazu bestimmt ist, wie Wolfgang E. J. Weber es formuliert, »maßgeblich zur kulturellen Prägung, Identitätsstiftung und Selbstbewußtwerdung Europas und der europäischen Staaten sowie ihrer Ableger und Nachahmer in Außereuropa« beizutragen.4 Auf der anderen Seite läßt sich Institution soziologisch-empirisch, sozusagen bloß institutionell verstehen, wobei der Akzent z.B. auf die Gliederung und gegenseitige Zuordnung von institutionellen Einheiten, z.B. Lehrstühlen, Instituten und Fakultäten gelegt wird sowie auf die Art und Weise, wie sich diese miteinander verbinden und sich zu ihren Trägern wie dem Staat oder der Kirche verhalten können. Institution wäre in diesem Sinne die sinnliche bzw. diesseitige Verkörperung einer Idee. Was letztere angeht, so hat es damit in bezug auf die Universität eine ganz eigentümliche Bewandtnis, insofern nämlich die Universität mehr als irgendetwas anderes bzw. wie kein anderes Gebilde von Anfang an dazu bestimmt zu sein scheint, in ihrer empirisch-körperhaften Erscheinung so etwas wie eine Idee zu ihrer Grundlegung oder Voraussetzung zu haben. Mangels deren wäre nämlich ihre Identität – oder besser: ihre Identifizierung als Universität – gefährdet. Es handelt sich dabei um einen eigentümlich paradoxalen Sachverhalt, der von Sheldon Rothblatt im ersten Kapitel seines Buches The modern University and Its Discontents dargelegt wird. Dieses Kapitel trägt den Titel »The idea of the idea of a University and Its Antithesis«. Hier wird die Sache folgendermaßen exponiert: »The subject of this chapter is the history of the ›idea of a university‹, or rather, it is the history of the idea that a university derives its identity from an idea. The subject is puzzling. Why does a university require an ›idea‹? Quite simply, it does not. The historical answer, however, is more interesting. Whether or not a university needs an ›idea‹, it has been assigned one, more than one, in fact.«5
Rothblatt spricht des weiteren über die Geschichte der Idee der Universitätsidee, »the history of the idea of the idea of a university« und versucht, dieser in ihren vielfältigen geschichtlichen Gestalten nachzugehen. Was für unser Thema aber als besonders wichtig erscheint, ist die Akzentsetzung auf die eigentümliche Zweideutigkeit einer bloß institutionellen Betrachtung der Institution Universität. Denn
4
W.E.J. Weber: Geschichte der europäischen Universität, S. 243.
5
Sheldon Rothblatt: The Modern University, S. 1.
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»it is both natural and unnatural to discuss institutions as if they embody an abiding, single purpose that provides a compass for decision-making. It is natural because complex institutions are otherwise unmanageable, adrift and open to all competing pressures. But it is unnatural for precisely the same reason. […] In the absence of an idea of a university, there would exist no reason to dispute its nature.6«
Insbesondere aus dem Schlußsatz ergibt sich aber das Fazit: Eine bloß institutionelle (empirisch-soziologische) Betrachtung könnte nicht einmal ihren eigenen Gegenstand (»Universität«) auffinden, wobei auf der anderen Seite immerhin die Idee einer (so oder so vorverstandenen, z.B. ohne »Ideen« bestehenden und bloß institutionell untersuchten) Institution stillschweigend und d.h. dogmatisch immer schon ins Spiel gebracht worden wäre. Nach diesen Vorüberlegungen sollen im weiteren Verlauf des Beitrags einige Charakterzüge der Humboldtschen Universitätsidee zur Diskussion gestellt werden, wobei die jeweiligen Zusammenhänge mit institutionellen Überlegungen akzentuiert in den Vordergrund treten sollen. Es dürfte nicht unnütz sein, hinsichtlich des Institutionellen eine weitere Vorbemerkung zu machen, nämlich die, daß zur Zeit Humboldts auch der Name universitas jene erhabene, emphatische Bedeutung gewann, die wir ihm heutzutage zuzuschreiben gewöhnt oder aus ihm am meisten immer noch herauszuhören geneigt sind – diejenige von Universalität. Denn »selbst der Name der universitas, der im Mittelalter für Genossenschaften unterschiedlichster Art gebraucht wurde und dementsprechend zunächst nur die korporative Organisation von Lehrern und Schülern bezeichnete«, erhielt in der Neuzeit »eine geistige Aufwertung: Als universitas litterarum verkörpert die Universität seit dem 18. Jahrhundert die Bildungsinstitution, welche die Gesamtheit der Wissenschaften zu pflegen und zu vermitteln hat«.7 Ursprünglich bedeutete Universitas eine »öffentlich anerkannte Körperschaft mit rechtlichen Freiheiten und Privilegien ausgestattet«.8 Die neue Bedeutung taucht etwa in Schleiermachers Universitätsschrift auf. Danach bedeutet der Name Universität, »nicht nur mehrere […] Kenntnisse sollen eingesammelt, sondern die Gesamtheit der Erkenntnis soll dargestellt werden, indem man die Prinzipien und gleichsam den Grundriß alles Wissens auf solche Art zur Anschauung bringt, daß daraus die Fähigkeit entsteht, sich in jedes Gebiet des
6
Ebd., S. 2f.
7
W. Rüegg: Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1, S. 13.
8
Ders.: Gottesfrage, S. 31.
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Wissens hineinzuarbeiten.«9 Es kommt mithin darauf an, wie Schelling noch früher denselben Gedanken ausdrückt, »sich zur Anschauung eines organischen Ganzen der Wissenschaft zu erheben«,10 oder einfach, mit Humboldt gesagt, »sich zur Wissenschaft zu erheben«.11 Dazu kommt noch, daß die Tradition der Humboldt-Universität über sich selbst ausdrücklich als eine solche – die sich unter den Namen Humboldts stellt, sich im Rückgriff auf ihn damit bezeichnet und sich als eine solche identifiziert – erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts, nach Entdeckung und Veröffentlichung der Denkschrift Humboldts, weiß. Dieser Sachverhalt sollte keineswegs verwunderlich sein, bedenkt man, daß die Tradition gemäß der hermeneutisch üblichen Art und Weise, wie sich Traditionen ausbilden, erst nachträglich entstand und im Rückblick den Anfangspunkt ihrer Urstiftung identifizierte. Traditionen bilden sich normalerweise unbewußt und (deswegen auch oft) ohne Namensgebung und Selbstidentifizierung. Wenn sich eine Tradition ihrer selbst als einer solchen ausdrücklich bewußt wird, weiß sie immer schon eine Vergangenheit hinter sich. Jede Geschichte ist wohl »eine Geschichtsschreibung aus dem Nachher, also eine Konstruktion«.12
II. U NIVERSITÄT ALS I NSTITUTION DER F ORSCHUNG UND W AHRHEITSSUCHE UNTER ABSAGE AN N ÜTZLICHKEIT Als Ausgangspunkt für die historische Situierung gilt es festzuhalten: Die Universitätsschriften des Zeitalters Humboldts und des Idealismus lassen sich in Zusammenhang stellen mit dem »Übergang von den Nützlichkeitsanforderungen an die Wissenschaften im frühen 18. zu den Autonomieidealen im 19. Jahrhundert«, und damit auch mit dem »Übergang vom alten Typ Wissenschaft, die sich als Vervollständigung und Systematisierung bewährten Wissens versteht, zu
9
F.D.E. Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken, S. 33f. Zum Bedeutungswandel auf die Universalität hin bei Fichte vgl. z.B. Deducirter Plan, GA II, 11, S. 143 = FW VIII, S. 171: »[…] es würde erhellen, daß der Ausdruck ›Provinzial-Universität‹ einen Widerspruch enthielte, indem die Universalität das besondere aufhebt […]«.
10 F.W.J. Schelling: Vorlesungen über die Methode, Ehrhardt, S. 8. Siehe auch SW V, S. 214. 11 W.v. Humboldt: Über die innere und äußere Organisation, GS X, S. 256. Siehe auch Humboldt: WF IV, S. 261. 12 Siehe J. Grondin: Einführung, S. 4.
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einem neuen Typ Wissenschaft, die sich dezidiert als Forschung und als Erzeugung neuen Wissens versteht«.13 Die Absage an das Nützlichkeitsprinzip wird bei Kant in mehrfacher Weise, wohl am eindeutigsten in der Spätschrift Der Streit der Fakultäten, vorgezeichnet und antizipiert. Der entscheidende Gedankengang bei Kant, der zugleich die zentrale Stellung der Philosophie im Humboldtschen Konzept vorwegnimmt sowie – insbesondere bei Schelling und Humboldt – zur Trennung der höheren Anstalt von der Schule und zur Ablehung des »Brotstudiums« führt, impliziert eine stillschweigende Umkehrung des traditionellen Verhältnisses der Fakultäten, ihrer Einteilung in drei oberen Fakultäten (die theologische, die juristische und die medizinische Fakultät) und in eine untere (Philosophie). Der Einordung Kants liegt nun eine Unterscheidung des Interesses zugrunde, wobei zwischen Regierungsinteresse und Interesse der Wissenschaft unterschieden wird. Die Materien bzw. das Lehrmaterial, welche die drei oberen Fakultäten zum Gegenstand haben, interessieren die Regierung insofern, als sie »das am allermeisten [interessiert], wodurch sie sich den stärksten und dauerndsten Einfluß aufs Volk verschafft, und dergleichen sind die Gegenstände der oberen Fakultäten«.14 Die untere Fakultät hat dagegen nur »mit dem wissenschaftlichen Interesse, d.i. mit dem der Wahrheit zu tun«.15 An diesem Punkt kommt wie ein Statement die Behauptung, die für nachfolgende Generationen auf Dauer maßgebend sein sollte: »Auf einer Universität muß aber auch ein solches Department gestiftet, d.i. es muß eine philosophische Fakultät sein. In Ansehung der drei oberen dient sie dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden, weil auf Wahrheit […] alles ankommt; die Nützlichkeit aber, welche die oberen Fakultäten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein Moment vom zweiten Range ist.«16
Ein völlig anderer, ja dem ersteren diametral entgegengesetzter Nützlichkeitsbegriff taucht in Kants Metaphysik-Vorlesungen auf. Hier heißt es: »Philosophie in sensu scholastico geht nur auf Geschicklichkeit, in sensu cosmopolitico aber auf die Nützlichkeit. Im ersteren Verstande ist also die Philosophie die Lehre der
13 K. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 207; zitiert nach W. Frühwald et al.: Geisteswissenschaften heute, S. 76. 14 I. Kant: Der Streit der Fakultäten, A7f; WA XI, S. 281. 15 Ebd., A10; WA XI, S. 282. 16 Ebd., A25f vgl. A9f; WA XI, S. 290, 282.
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Geschicklichkeit, im andern aber, der Weisheit«.17 Nützlichkeit erscheint hier mit Weisheit gleichbedeutend und weist zurück auf die Grundüberzeugung Kants, der »praktische Philosoph« sei »der eigentliche Philosoph«,18 bzw. es gehe der Philosophie dem Weltbegriff nach nicht so sehr um Erkenntnisse, sondern vielmehr um den richtigen »Vernunftgebrauch«.19 Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß der doppelte Nützlichkeitsbegriff – einmal im negativen, dann aber auch in einem positiven, »bildenden« Sinne (diese Doppelung ist jedoch auch in der oben zitierten Behauptung stillschweigend schon da) – auch bei Schelling auftaucht, indem er an einer Stelle den Gedanken äußert, daß in Staaten, wo der »Nützlichkeitsgeist« herrscht, »die Philosophie nichts nützen kann«.20 Die Absage an das Nützlichkeitsprinzip, die bei Kant entscheidend antizipiert wird, läuft bei Schelling und Humboldt ganz klar parallel mit – und drückt sich teilweise aus in der Form – der Ablehnung des Universitätsstudiums als Brotstudiums.21 Kants Absage an das Nützlichkeitsprinzip blieb jedoch auf die
17 Ders.: AA, Bd. 28 (IV. Abt., Band V), S. 532; vgl. auch in den Logik-Vorlesungen: WA VI, S. 446f. 18 Ebd., S. 447. 19 Ebd., S. 450. 20 F.W.J. Schelling: VMAS, Ehrhardt, S. 54 = SW V, S. 260. 21 Siehe z.B. Ebd., Ehrhardt, S. 36 = SW V, S. 242: »Man hat den Ekelnamen der Brodwissenschaften allgemein denjenigen gegeben, welche unmittelbarer als andere zum Gebrauch des Lebens dienen. Aber keine Wissenschaft verdient an sich diese Benennung. Wer die Philosophie oder Mathematik als Mittel behandelt, für den ist sie so gut bloßes Brodstudium, als die Rechtsgelehrsamkeit oder Medicin für denjenigen, der kein höheres Interesse für sie hat als das der Nützlichkeit für ihn selbst. Der Zweck alles Brodstudium ist, daß man die bloßen Resultate kennen lernt, entweder mit gänzlicher Vernachlässigung der Gründe, oder daß man auch diese nur um eines äußeren Zwecks willen, z.B. um bei angeordneten Prüfungen nothdürftige Rechenschaft geben zu können, historisch kennen lernt.« Bei Humboldt siehe z.B.: »Der Staat muss seine Universitäten weder als Gymnasien noch als Specialschulen behandeln, und sich seiner Akademie nicht als einer technischen oder wissenschaftlichen Deputation bedienen. Er muss im Ganzen […] von ihnen nichts fordern, was sich unmittelbar und geradezu auf ihn bezieht, sondern die innere Ueberzeugung hegen, dass, wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte aus erfüllen, von einem, von dem sich viel mehr zusammenfassen lässt und ganz andere Kräfte und Hebel angebracht werden können, als er in Bewegung zu setzen vermag.« (Humboldt: OHWA, GS X, S. 255 = WF IV, S. 260)
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Philosophie – die untere Fakultät – beschränkt und ließ die oberen Fakultäten weitgehend unberührt; nun wird sie auf die gesamte Wissenschaft und damit auf das ganze Universitätsstudium erweitert und übertragen. Dies ist insofern auch nicht verwunderlich und liegt in der Natur der Sache begründet, als sich für den Idealismus Philosophie und Wissenschaft als weitgehend gleichbedeutend erweisen.22 Was Kant für die untere Fakultät, d.h. für die Philosophie reklamierte, wird von Schelling und dann Humboldt auf das Ganze der Universität ausgedehnt23 – nützlichkeitsfreies, auf reine Wahrheitsuche eingestelltes Studium; damit wird die ganze Universität philosophisch aufgefaßt. Die »höhere Lehranstalt«, wie Humboldt sie versteht, erweist sich als eine vergrößerte Philosophische Fakultät im Sinne Kants. Kritik des Brotstudiums impliziert zugleich eine Distanzierung von den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft und nimmt so eine Entwicklung vorweg, die Ende des 19. Jahrhunderts zu einer zunehmenden Verengung des Bildungsbegriffes auf die humanistisch-philologischen Wissenschaften führt. Wahrheitssuche als sich in der Form der Forschung vollziehende Lebensform ist bildend, die sich an der Nützlichkeit orientierenden Naturwissenschaften werden dagegen von der Bildung allmählich ausgeschlossen. Distanzierung von den Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft führt andererseits zur staatlichen Verankerung und Legitimierung der Institution Universität. Dem Staat fällt die Aufgabe zu, die Nützlichkeitskriterien von sich weisende, auf die Bildung freier Menschen ausgerichtete Universitäten zu legitimieren; dies geschieht mittels einer Staatsauffassung, in der der Staat als Erziehungs- und Kulturstaat erscheint und als solcher einen Bildungsauftrag an die Universitäten stellt, seinen Staatsbürgern die ihnen als Staatsbürgern und Menschen gebührende Bildung (durch Wissenschaft) zu erteilen. Diese, die kulturstaatliche Rolle des Staates zum Ausdruck bringende Staatsauffassung, auf die noch zurückzukommen sein wird, wird ihm selbst wiederum von der Universität erarbeitet und zur Verfügung gestellt, und damit wird der Kreis geschlossen.
22 Siehe z.B. F.W.J. Schelling: VMAS, Ehrhardt, S. 8 = SW V, S. 214 (Philosophie ist »Wissenschaft aller Wissenschaften«); Ebd., Ehrhardt, S. 55 = SW V, S. 261 (»Es ist keine Wissenschaft, die an sich in Entgegensetzung mit der Philosophie wäre, vielmehr sind alle eben durch sie und in ihr eins«) usw. 23 Bei Schelling wird dies auch sachlich begründet: »Was aber die philosophische [Fakultät] betrifft, so ist meine Behauptung, daß es überhaupt keine solche gebe noch geben könne, und der ganz einfache Beweis dafür ist: daß das, was alles ist, eben deswegen nichts insbesondere sein kann.« (Ebd., Ehrhardt, S. 78 = SW V, S. 284)
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Unter den Gründen für die die Humboldtsche Universitätsidee charakterisierende Absage an die Forderungen nach Nützlichkeit und Brotstudium findet sich die Überlegung, Orientierung an Nützlichkeit sei mit dem Wesen der Wissenschaft, Selbstzweck zu sein, schlicht unverträglich. Insbesondere Schelling betont aber auch, daß das Nützlichkeitskriterium – nunmehr ungeachtet des Umstandes, ob man es für einen geeigneten Maßstab hält, die Wissenschaft zu messen, oder nicht – als allgemeiner Orientierungs- und Bezugspunkt gerade für den Staat ebenso unhaltbar wie untauglich und deswegen schlicht abzulehnen ist. Im Hinblick auf »das bloß Nützliche« heißt es: »Wenn einmal dieses der höchste Maßstab für alles ist, so gilt er auch für die Staatsverfassung. Nun gibt es aber wohl überhaupt keine wandelbarere Sicherheit als jene; denn von dem, was heute nützlich ist, ist es morgen das Gegenteil.« Und kurz danach nochmals wiederholt: »Wenn die höchsten Preise aller Art auf die Nützlichkeit gesetzt werden, so muß […] Eigennutz noch das einzige Band werden, das den Staat selbst zusammenhält und den Einzelnen an ihn bindet. Nun gibt es aber in der Welt kein zufälligeres Band als eben dieses.«24 Daß die Welt der bürgerlichen Gesellschaft durch »Zufälligkeit und Willkür« charakterisiert wird und in ihr »die blinde Notwendigkeit des Systems der Bedürfnisse« herrscht, weswegen es nicht angeht, den »Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft« zu verwechseln,25 wird von Hegel später im Detail ausgearbeitet; das Wesentliche dieser Position ist aber, wie man sieht, schon bei Schelling präsent.26 Die Wandelbarkeit des Nütz-
24 Ebd., Ehrhardt, S. 53f = SW V, S. 259f. 25 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 185 (TW 7, S. 341); Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, § 532 (TW 10, S. 328); Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258 (TW 7, S. 399). 26 Es gibt allerdings nicht unerhebliche Unterschiede zwischen den Positionen Schellings und Hegels, die nicht außer acht gelassen werden dürfen. Deren wohl wesentlichster läßt sich mit Hans Jörg Sandkühler darin zusammenfassen, daß »Schelling, anders als Hegel, Recht und Staat nicht als Entitäten mit der Würde der Substanz begreift, sondern durchgängig pragmatische, funktionale Bestimmungen vorlegt. Recht und Staat sind für ihn geschichtlich notwendig; sie sind Folge der Freiheit, die der Grund der Geschichtlichkeit der Existenz ist – der Freiheit zum Guten und zum Bösen.« Das »Ende der gegenwärtigen Welt-Krisis« hoffte Schelling darin zu erblicken, daß, wie er in einem Brief an König Maximilian 1853 schrieb, »der Staat wieder an seine wahre Stelle – als Bedingung, als Voraussetzung – nicht als Gegenstand und Zweck der individuellen Freiheit gesetzt werde«. Daß er »weder eine Rechts- noch eine Staatsphilosophie« vorgelegt hat, dürfte damit weitgehend zusammenhängen (H.J. Sandkühler: Revolution, S. 292, 303). Der Staat gilt Schelling vollends als das
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lichen ebenso wie der Eigennutz als zufälliges Band verleihen für Schelling der bürgerlichen Gesellschaft eine eigentümliche Instabilität bzw. »nur eine scheinbare und gezwungene […] Identität« und führen ihn dazu, ihnen angesichts der Begründung der für die Akademien erforderlichen »wahrhaft innere[n] Identität« und ihres »absoluten Zweck[s]«27 eine entschiedene Absage zu erteilen. Dabei ist auf folgendes aufmerksam zu machen: mittels einer typischen Gedankenfigur, die dann bei Humboldt wiederkehrt, wird beim Staat als oberster Instanz der Macht Schutz gesucht gegen die – vorwiegend aufklärerische und von der bürgerlichen Gesellschaft geltend gemachte – Forderung, Universitäten an Nützlichkeitskriterien zu messen; und es wird versucht, den Staat durch eine Staatskonzeption zu überzeugen, die ihm eine kulturstaatliche Rolle zuspricht. Diese kulturstaatliche Rolle wird von Humboldt übernommen. Politisch hat eine solche Konzeption nun insofern Aussicht auf Erfolg, als die kulturbildende und bildungsorientierte Rolle des Staates zu Zeiten mangelnder politischer Einheit zu
»Reich dieser Welt« (ebd., S. 304; L. Trost/F. Leist: König Maximilian, S. 242), dem eine beschränkte Legitimität insofern – aber nur insofern – zukommt, als er Freiheit, Geist und Zuwendung zum wahren Reich, dem Reich Gottes, ermöglicht. Daß die Richtung von Schellings Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft von der Kritik Hegels an derselben trotz mancher gemeinsamer Züge im wesentlichen abweicht, läßt sich auch an der eben diskutierten Stelle der Jenaer Vorlesungen insofern belegen, als die dem Staat von Schelling zugemutete Legitimierung der Universitäten eben mit Bezug auf »Ideen«, d.h. auf Geistiges (und nicht Rechtliches) erfolgt, und daß dem »zufälligen Band« des »Eigennutzes« das »wahre Band« des »Göttlichen« entgegengesetzt wird: »Jedes wahre Band, das Dinge oder Menschen vereinigt«, heißt es, »muß ein göttliches sein, d.h. ein solches, worin jedes Glied frei ist, weil jedes nur das Unbedingte will« (Schelling: VMAS, Ehrhardt, S. 29f = SW V, S. 235f). Daß es zu vermeiden ist, daß »der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird«, bzw. daß die »Vorstellung vom Staat«, »nach welcher […] er seine Bestimmung nur hat im Schutz und Sicherheit des Lebens, Eigentums und der Willkür eines jeden, insofern sie das Leben und Eigentum und die Willkür der anderen nicht verletzt«, abzulehnen ist – darin dürfte indes Schelling mit Hegel weitgehend übereinstimmen (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 258, 270; TW 7, S. 399, 424). Zu Hegels Staatsauffassung in ihrem markanten Unterschied zu der Schellings siehe z.B. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 111: »Im Staat allein hat der Mensch vernünftige Existenz. […] Alles, was der Mensch ist, verdankt er dem Staat; er hat nur darin sein Wesen.« 27 F.W.J. Schelling: VMAS, Ehrhardt, S. 29f = SW V, S. 235f.
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Recht als gemeinschaftskonstituierendes Prinzip zu fungieren vermag. Daß der Staat die Universitäten in diesem Sinne in seinen Schutz nimmt, meint Bestätigung ihres Selbstverständnisses, Stätte von Forschung und Wahrheitssuche zu sein, meint Anerkennung und Sicherung ihrer Autonomie und Selbständigkeit gegenüber Instanzen der bürgerlichen Gesellschaft – ja, auch und gerade gegenüber dem Staat selbst. Die gezielte Stellung einer durch den Staat gesicherten Unabhängigkeit von Gesellschaft und Staat wird mit einem Konzept belohnt, das dem Staat zur Zeit der Not wie nötiger Umorientierung mit einer ihm eigenen ratio essendi beispringt und ihm hierdurch theoretische Rückversicherung verleiht. Die Universität wiederum sieht sich angesichts der Bedingungen ihrer äußeren Existenz sowie der Sicherung ihrer Autonomie völlig auf den Staat angewiesen – von da aus bedarf sie seiner in höchstem Maße, angesichts der sich innerhalb ihrer vollziehenden Forschung und Lehre hingegen gar nicht. Darin liegt das Eigentümliche der Humboldt-Universität, über die ihr durch den Staat versicherten Bedingungen ihrer Existenz hinaus gerade auch staatlich garantierte und staatlich geschützte Staatsunabhängigkeit für sich in Anspruch zu nehmen und sie zu gewinnen.28 Während der Staat, so heißt es bei Humboldt, »die Pflicht hat, [äußere Formen und Mittel] für die Bearbeitung der Wissenschaft herbeizuschaffen«, ist das »was man […] höhere wissenschaftliche Anstalten nennt, […] von aller Form im Staate losgemacht«. 29 Humboldt bedauert sogar, daß es »überhaupt […] äußere Formen und Mittel« für Universitäten geben soll. Soll es aber dergleichen doch geben, so bedarf es des Staates, der
28 Damit steht nicht nur das Denken des frühen, sondern auch des späten Schelling im Einklang; siehe Philosophie der Mythologie, SW XI, S. 551: »Die Aufgabe ist also: dem Individuum die größte mögliche Freiheit (Autarkie) zu verschaffen – Freiheit, nämlich über den Staat hinaus und gleichsam jenseits des Staats […]«. Auch Hegel plädiert auf seine Weise für eine staatlich garantierte Staatsunabhängigkeit der Wissenschaft, wobei er auch auf das Argument des Gemeinsamen zwischen Religion und Wissenschaft (Philosophie) und ihren institutionalisierten Formen (Kirche bzw. Universität) rekurriert: »Wie die Kirche zu dieser Prätention aus dem ausgedehnten Grunde, daß das geistige Element überhaupt ihr Eigentum sei, kommt, die Wissenschaft und Erkenntnis überhaupt aber gleichfalls in diesem Gebiete steht, für sich wie eine Kirche sich zur Totalität von eigentümlichem Prinzipe ausbildet, welche sich auch als an die Stelle der Kirche selbst noch mit größerer Berechtigung tretend betrachten kann, so wird dann für die Wissenschaft dieselbe Unabhängigkeit vom Staate, der nur als ein Mittel für sie als einen Selbstzweck zu sorgen habe, verlangt.« (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 270, S. 423; Herv. I.M.F.) 29 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 252f = WF IV, S. 256f.
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demnach »die Pflicht hat, diese auch für die Bearbeitung der Wissenschaft herbeizuschaffen«. Dies im klaren Bewußtsein, »daß etwa nicht bloß die Art, wie er diese Formen und Mittel beschafft, dem Wesen der Sache schädlich werden kann, sondern der Umstand selbst, daß es überhaupt solche äußere Formen und Mittel für etwas ganz Fremdes giebt, immer nothwendig nachtheilig einwirkt und das Geistige und Hohe in die materielle und niedere Wirklichkeit herabzieht«, so daß am Ende der Staat bestrebt sein müsse, »gut zu machen, was er selbst, wenngleich ohne seine Schuld, verdirbt oder gehindert hat.«30 Der Staat verhält sich für Humboldt zu (seinen, den von ihm gegründeten und ermöglichten) Universitäten weitgehend als Grund zum Existierenden im Schellingschen Sinne, als »Grundlage« und »Ausgangspunkt«31 für das in Existenz Hervortretende – bleibt er aber als Grund nicht zugleich im Hintergrund, so entsteht eine »Umkehrung der Prinzipien«,32 eine – aus Schellings Sicht unangemessene und unerwünschte – »falsche Einheit«.33
III. B ILDUNG DURCH W ISSENSCHAFT Insbesondere mit Blick auf Humboldt können wir hier unseren Ausgangspunkt aus Clemens Menzes zusammenfassender Darstellung nehmen. »Bildung im Sinne Humboldts«, schreibt er, »ist die Ausbildung der von Natur in den Menschen angelegten Fähigkeiten in der Weise, daß sie […] sich auf je individuelle Weise zu einem harmonischen, in sich geschlossenen Ganzen fügen.«34 Bildung besteht einmal »in der Erweiterung der Weltansicht, indem in ihr die Aufhebung der je bedingten Weltansicht der Subjektivität in der Objektivität erstrebt wird; zum anderen bezeichnet sie die
30 Ebd., GS X, S. 253 = WF IV, S. 257. 31 Aufgabe des Staates ist für Schelling, im vollen Bewußtsein seiner Grenzen die Bedingungen dafür zu schaffen, innerhalb des Staates ein von ihm selbst unabhängiges und d.h. ein geistig-religiöses Leben zu führen. Er ist »Grundlage« und »Vorbedingung«: »sofern Grundlage, ist er nicht Zweck, aber ewiger, d.h. nicht aufzuhebender noch in Frage zu stellender Ausgangspunkt zum höheren Ziel alles geistigen Lebens.« (F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, SW XI, S. 550; siehe ähnlich L. Trost/ F. Leist: König Maximilian, S. 243) 32 F.W.J. Schelling: Philosophische Untersuchungen, S. 366. 33 Zum Konzept siehe ebd., S. 371. 34 C. Menze: Wilhelm von Humboldts Lehre, S. 125.
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Kultivierung und Erhöhung, den ständigen Prozeß der Vollendung des Ich bis zur Repräsentanz der Idee der Menschheit in der Totalität des Besonderen. – Bildung besteht in der Erweiterung der an die jeweilige Individualität gebundenen Perspektive zu einer so umfassenden, daß sie den Inbegriff aller nur möglichen Perspektiven überhaupt darstellt und dadurch aus der subjektiven Gebundenheit gelöst und zur Objektivität selbst wird. Das aber heißt, daß die Subjektivität in ihrer Endlichkeit sich zu der alle Subjektivitäten umfassenden Objektivität vollendet.«35
Hier werden die Wesensmerkmale des klassischen Bildungsbegriffs auf eine Weise zusammengefaßt, die heute noch als maßgebend angesehen werden dürfte, selbst wenn man geneigt wäre, aus der an der Endlichkeit und Geschichtsgebundenheit des Menschen orientierten Sicht zeitgenössischer Hermeneutik mit Begriffen wie »Subjektivität« bzw. »Objektivität«, insbesondere aber der hier anvisierten Möglichkeit »der Vollendung des Ich bis zur Repräsentanz der Idee der Menschheit in der Totalität des Besonderen« etwas vorsichtiger bzw. zurückhaltender umzugehen. Statt diese Darstellung über den dem Idealismus und Humboldt eigenen Bildungsbegriff weiterzuführen, soll im folgenden vielmehr auf einige in der Struktur des Konzepts »Bildung durch Wissenschaft« liegende Spannungen oder Schwierigkeiten hingewiesen werden; jene, die auch die geschichtliche Entfaltung der zur Institution gewordenen Humboldt-Universität begleiteten und wesentliche Rückwirkungen auf das Wissenschaftsverständnis der letzten 200 Jahre im Sinne der Spannung zwischen Wissenschaft als Lebensform und Wissenschaft als entpersönlichtem Gebilde bzw. als Institution hatten. Was man im Bildungskonzept Humboldts und des Idealismus immer wieder hervorzuheben und geltend zu machen pflegt, ist der Aspekt der Menschenbildung im Gegensatz zu bloßer Sammlung von Kenntnissen. Beim Bildungsbegriff und bei der Charakterisierung des auf dem Prinzip »Bildung durch Wissenschaft« beruhenden Universitätskonzepts pflegen begriffliche Explikata hervorgehoben zu werden wie »Versittlichung des Menschen«, »geistige Selbsttätigkeit«, »sittliche Vervollkommnung«, »Selbstvervollkommnung des Menschen«, »Selbstversittlichung«, »Handlungsselbständigkeit«, »sittliche Selbstwerdung«, »Selbstbildung«.36 Suchen wir nach einschlägigen Stellen in Humboldts Denkschrift, so finden wir gleich anfangs die grundsätzliche Behauptung, das Wesen der höheren Lehranstalten bestehe darin, »die objective Wissenschaft mit der subjectiven Bildung […] zu verknüpfen«37 (wobei das Adjektiv »subjectiv«
35 Ebd., S. 257. 36 H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 79ff. 37 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 251 = WF IV, S. 255.
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kennzeichnend ist). In diesem Zusammenhang erinnert Humboldt dann daran, »daß ja nicht die Anhäufung todter Sammlungen für die Hauptsache zu halten«38 sei, sondern Wissenschaft immer »aus der Tiefe des Geistes heraus geschaffen«, nicht »durch Sammeln extensiv auseinandergereiht werden« müsse.39 Der Grund: »Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und in’s Innere gepflanzt werden kann, bildet den Charakter um, und dem Staat ist es ebenso wenig wie der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu thun.«40 Und an einer weiteren Stelle wird die Bestrebung, »sich zur Wissenschaft zu erheben« gleich mit dem Sinnen »auf harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten«41 in Zusammenhang gebracht, wobei nochmals Menschenbildung als oberstes Ziel der Wissenschaft gekennzeichnet wird. Diese klaren Formulierungen, die im einzelnen wohl kaum weiter kommentiert zu werden brauchen, zeigen eindeutig den engen Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Bildung und lassen sich in der Tat mit Recht zusammenfassend unter die Formel »Bildung durch Wissenschaft« bringen (welche Formel jedoch, soweit ich sehe, in Humboldts Denkschrift selbst wortwörtlich in dieser Form nicht auftaucht). Geht es in diesem Sinne, wie Helmut Schelsky es formuliert hat, in der Humboldt-Universität in erster Linie »um den in ihr sich bildenden Menschen«,42 um »die Entwicklung aller im Menschen angelegten Fähigkeiten zu dem Höhepunkt der bewußten Individualität«, so scheint es von daher eine zwar überspitzte, aber gleichwohl nicht übertriebene Formulierung zu
38 Ebd., GS X, S. 255 = WF IV, S. 260. 39 Ebd., GS X, S. 253f = WF IV, S. 257f. 40 Ebd., GS X, S. 254 = WF IV, S. 258. Daß an der durch die Wissenschaft erwirkten Charakterbildung und Handlungsfähigkeit gerade auch dem Staat liegt, so daß dieser gleichsam als »Auftraggeber« erscheint, ist nochmals ein Indiz des Kulturstaatsgedankens. 41 Ebd., GS X, S. 256 = WF IV, S. 261. 42 H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 135 (Herv. im Original).
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sein, die Universität sogar als »eine Institution der sich selbst bildenden Individualisten« zu bezeichnen.43 Wenn es im Konzept »Bildung durch Wissenschaft«
43 Ebd., S. 67. Herbert Schnädelbach stimmt der Meinung zu, dass Humboldt den Vorgang der Bildung durch Wissenschaft »wesentlich vom Individuum her denkt«; er stellt aber in Abrede, daß Humboldt damit auch schon ein »Bildungsindividualist« gewesen sei. Denn, wie er formuliert, »die Prinzipien ›Einsamkeit‹ und ›Freiheit‹ sind vielmehr gerade die Voraussetzung dafür, daß durch den so konzipierten Bildungsprozeß auch die Ansprüche des Gemeinswesens an den wissenschaftlich Gebildeten optimal erfüllt werden« (H. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland, S. 43). Dazu ist zweierlei zu sagen. Erstens: es ist zweifelsohne so, daß in Humboldts Konzept die Ansprüche des Gemeinwesens sehr stark mit berücksichtigt und zur Geltung gebracht werden. Beide – Ansprüche des Individuums und des Gemeinwesens – schließen aber einander nicht notwendig aus, oder man könnte den Sachverhalt auch so formulieren, daß durch Humboldt die Ansprüche des Bildungsindividualismus auf staatliche Ebene erhoben und sanktioniert werden. In diesem Sinne könnte auch die Antwort Schelskys lauten: »Die Ansprüche des Gemeinswesens an den wissenschaftlich Gebildeten« stammen gerade von den letzteren selbst; sofern dem Staat seine Ansprüche und Aufgaben, ja seine ganze Auffassung als Kulturstaat, eben von »den wissenschaftlich Gebildeten« nahegelegt oder sogar »vorgeschrieben« worden seien (siehe Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 133ff). Zweitens: Daß sich den Prinzipien ›Einsamkeit‹ und ›Freiheit‹ durchaus positive Seiten abgewinnen lassen, steht außer Frage (detaillierter hierzu I.M. Fehér: Schelling und Humboldt, S. 78ff). Jedoch haben fast alle Aspekte der Humboldtschen bzw. idealistischen Bildungs- und Universitätsidee sowohl positive als auch negative Seiten, je nachdem, in welche Kontexte sie gestellt und anvisiert sind oder ob sie aus ihrem ursprünglichen Kontext fallen und gelegentlich auch pervertiert werden. Einsamkeit kann z.B. unter Umständen durchaus in Isolierung degradieren, auch das Geltend-Machen des Nationalcharakters, wie Schelling ihn für eine Neigung zur Philosophie in Anspruch nimmt (siehe VMAS, Ehrhardt, S. 54 = SW V, S. 260 und I.M. Fehér: Schelling und Humboldt, S. 92ff) läßt je nach Kontext, Zeitraum und geschichtlichem Hintergrund unterschiedliche Interpretationsrahmen und Bewertungsmöglichkeiten zu. Der Charakter des von der Humboldt-Universität in Anspruch genommenen Prinzips staatlich geschützter Staatsunabhängigkeit kann ebenfalls unterschiedlich eingeschätzt werden, je nachdem, ob es darauf abzielt, die äußeren und rechtlichen Grundlagen, einen Frei- und Spielraum für die Existenz der Wissenschaft zu schaffen, dem Zusammenhalt einer Gemeinschaft in Zeiten mangelnder politischer Einheit zu dienen und, im allgemeinen, mit der Gemeinschaft in irgendeiner schöpferischen Verbindung zu stehen; oder ob es, umgekehrt, sich dem Staat wegen seiner Sonderstellung verpflichtet wissend, nach außen gerichteten
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in erster Linie – wie aus der Akzentsetzung der Formel wohl herauszuhören ist und wie auch aus den Intentionen Humboldts hervorgeht – auf die Bildung, nicht auf die Wissenschaft ankommt, wenn Wissenschaft des weiteren eine Lebensform, nicht ein entpersönlichtes Gebilde darstellt, so läßt sich die Wissenschaft in objektivierten Formen nicht weitergeben und sie bleibt immer eine eigene Angelegenheit, fast eine »Privatsache« des Individuums. Objektivationen, in denen sich die Wissenschaft niederschlägt, z.B. schriftliche Texte, lassen sich dann – streng genommen – nicht mehr zu dieser gehörig ansehen. Wie Humboldt sagt: Wissenschaft »entflieht« dabei dergestalt, »daß sie selbst die Sprache wie eine leere Hülse zurückläßt«.44 Als Lebensform kann Wissenschaft gewählt, versäumt oder bewußt abgelehnt werden. Als Vollzug und Selbstaufbau der Persönlichkeit kann sie jedoch kaum mit objektivierbaren »Ergebnissen« gleichgesetzt werden, und sie läßt sich nur als vorbildhafte Tätigkeit der eigenen »Selbstwerdung«, als persönliches Beispiel auf folgende Generationen überliefern. Kontinuität der Wissenschaft läßt sich von da aus gesehen vor allem und ausschließlich als Kontinuität der Lebensform am lebendigen Beispiel Älterer verstehen. Wissenschaft ist das Medium, in dem und durch das Bildung vollzogen werden muß – dennoch kommt es in erster Linie auf die Bildung an. Allen Objektivationen, sprachlich objektivierten »Resultaten«, »Konzepten«, »Begriffen«, »Theorien« kommt im Hinblick auf die Bildung der Persönlichkeit nur vorübergehende, beschränkte
staatlichen Machtideologien Vorschub leistet bzw. einfach in gesellschaftlich luftleeren Raum, in den Zustand tatsächlicher Isolierung und Irrelevanz gerät. Für das letztere mögen einige briefliche Äußerungen Heideggers als Beispiel angeführt werden – eben desjenigen Heidegger, der die wahre Einsamkeit sehr wohl zu schätzen wußte –, in denen der Ausdruck »Einsamkeit« eben im gewöhnlichen bloß negativen Sinne als Isoliertheit, Allein-Sein verwendet wird. In zwei aufeinanderfolgenden Briefen an Karl Jaspers aus den Jahren 1935-36 schreibt er: »die Einsamkeit ist nahezu vollkommen«; »Sonst ist es einsam«. Aber diesen Briefen ist zugleich auch der Grund dafür zu entnehmen, nämlich im Blick auf den Zustand, »daß die ›Philosophie‹ ohne Ansehen ist«. Das heißt: zu Zeiten gesellschaftlicher Irrelevanz wird Philosophie und die damit einhergehende Einsamkeit mangels der Möglichkeit öffentlicher Wirkung zu einer Privatsache, bloßem Allein-Sein (Briefe Heideggers vom 1. Juli 1935 und 16. Mai 1936; siehe M. Heidegger/ K. Jaspers: Briefwechsel 1920-1963, S. 157, 161f; siehe noch ebd., S. 172). Wenn Heidegger auch noch Jahrzehnte später über Einsamkeit in diesem Sinne gesprochen hat, so besagt das wohl, daß sich dieser Zustand als dauerhaft erwiesen haben dürfte (vgl. R. Wisser: Nachdenkliche Dankbarkeit, S. 52, 65). 44 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 254 = WF IV, S. 258.
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und bedingte Bedeutung zu. Wenn man an Objektivationen hängt oder an ihnen hängen bleibt, hat man das Wesentliche schon verfehlt. Wissenschaft ist ja nicht totes Material, sondern lebendiger Vollzug. Gleichwohl gehört zur Wissenschaft ihrem Sinne nach so etwas wie Diskussion und Kritik, Auseinandersetzung wissenschaftlicher Theorien miteinander, Überprüfung früherer Theorien u.ä. Eine wissenschaftliche Kritik soll z.B. gerade auch das Sachliche vor Augen haben und im Blick darauf vollzogen werden; ihre Wissenschaftlichkeit hängt in erster Linie daran, ob sie für die Sache zutrifft. Daß sie sich dazu noch als bildend erweist, könnte als ein weiterer zusätzlicher Charakter angesehen werden, kaum aber als dazu genügend, sie allein auf diesem Grund als wissenschaftlich zu qualifizieren. Eben das fiele aber schwer, aus der Sicht des Prinzips »Bildung durch Wissenschaft« zu rechtfertigen. Von da aus gesehen besteht das Wissenschaftliche wohl im Bildenden oder Bildungsmäßigen: Eine wissenschaftliche Theorie oder eine Kritik, die Bildung ergibt, müßte sich ausschließlich und allein kraft dieses Charakters als wissenschaftlich bezeichnen lassen. Könnten aber schlicht falsche Theorien nicht bildend sein? Die Schwierigkeit, die hier zutage tritt, besteht darin, daß Bildung jeweils Sache des Einzelnen bleibt, während Wissenschaft irgendwie doch einen allgemeinen, intersubjektiven, objektivierbaren Charakter haben und auch überlieferbar sein soll. Die Spannung kommt in Humboldts Forderung, »die objective Wissenschaft mit der subjectiven Bildung […] zu verknüpfen«, exemplarisch zum Ausdruck. Bei der einseitigen Akzentsetzung auf die Wissenschaft als Lebensform, statt auf das entpersönlichte Gebilde, den mehr oder minder kontinuierlichen oder sich verändernden Wissens- und Lehrbestand, fällt es dem Humboldtschen Konzept schwer, die Weitergabe, die Überlieferung, die Kontinuität oder Änderung des Sachlichen zu erklären. Bei der Akzentuierung der Wissenschaft als Lebensform erweist sich also die Überlieferung der Wissenschaft als Lehre durchaus als problematisch und wird aus dem Gesichtskreis verloren. Gemäß dem Humboldtschen Prinzip und in seiner Wirkungsgeschichte ergibt die erfolgreiche Bildung durch Wissenschaft zunächst und vor allem Bildung – kaum aber Wissenschaft.
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IV. L IBERALE S TAATSAUFFASSUNG , B ILDUNGS K ULTURSTAATSGEDANKE
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UND
Liberal kann die der Humboldtschen Universitätsidee zugrundeliegende Staatsauffassung, die mit ihrer liberalen Wissenschaftsauffassung im engen Zusammenhang steht, zumindest aus zwei Gründen genannt werden. Erstens gewährt der Staat den von ihm selbst gegründeten und unterhaltenen Universitäten volle Lehr- und Lernfreiheit, die später sogenannte »akademische Freiheit« als Recht auf Autonomie und Selbstverwaltung.45 Aus dieser Sicht ist der Staat eher Subjekt als Objekt der nämlichen Auffassung, die dergestalt mehr eine staatliche als eine Staatsauffassung darstellt. Zweitens, und damit im Zusammenhang, wird durch die Gründung und Unterhaltung auf akademischer Freiheit basierender Universitäten ein Bildungsauftrag gegeben, dem ein bestimmtes Menschenbild sowie eine bestimmte Auffassung des Verhältnisses von Staat und Staatsbürgern entsprechen und zugrunde liegen. Durch den Bildungsauftrag wird den höheren Lehranstalten ein Auftrag gegeben, Staatsbürger besonderer Art zu erziehen, wobei ausdrücklich oder unausdrücklich unterstellt wird, der Typ »gebildeter Mensch«, den die auf den Prinzipien »Einheit von Forschung und Lehre«, »Einsamkeit und Freiheit« und »Bildung durch Wissenschaft« ruhenden Universitäten bilden sollen, sei für den Staat besonders wertvoll. Das der Staatsauffassung
45 Diese Autonomie ist, gemäß dem Freiheitsbegriff Kants und dem Idealismus, keine unbeschränkte und durch nichts gebundene, keine Willkür oder Beliebigkeit. Es wird zu Recht daran erinnert, daß die Autonomie eine »in der Wissenschaft begründete« ist und daß die Universität sie »nicht als Privileg um ihrer selbst willen besitzt« (Das Berufsbild, S. 47). Dasselbe betrifft die Selbstverwaltung, die auch nicht als Selbstzweck dem »Schutz von Institutionen um ihrer selbst willen«, vielmehr dem »wohlbegründeten Interesse der Allgemeinheit an einer sich frei entfaltenden Wissenschaft« dient (ebd., S. 72). Selbstverwaltung ist von da aus, was sie ist, immer auch als »Sachverwaltung«, nämlich »als Verwalterin, als Dienerin einer hohen Sache, einer hohen Funktion« (E. Anrich: Die Idee, S. 50). Wenn angesichts des eigentlichen Subjekts oder der Rechtsträger der Selbstverwaltung bzw. der Autonomie die beiden hier dargelegten Positionen in zueinander diametral entgegengesetzte Positionen kommen – »Die Autonomie ist nicht den Menschen gegeben, sondern der Institution« (ebd., S. 50), »die Freiheit der Selbstverwaltung« wurzelt »letztlich im einzelnen; sie ist nicht delegierte, sondern ursprüngliche Freiheit« (Das Berufsbild, S. 73) –, so spiegelt dies bei genauerem Hinsehen weniger einen in der Sache liegenden grundsätzlichen Gegensatz wider als vielmehr die Bemühung, auf unterschiedliche, einander entgegengesetzte Pervertierungsmöglichkeiten zu reagieren bzw. sich davor zu schützen.
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zugrunde liegende und sie mit ausmachende Menschenbild orientiert sich dabei selber an der autonomen, forschenden Lebensform, die als Wissenschaftsideal den Universitäten zugewiesen wird. Aufgabe und Ziel des Staates angesichts des Lebens seiner Bürger ist, ihnen »freie ungehemmte Wirksamkeit«46 zu ermöglichen. »Harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten«,47 die in bezug auf die Universität in deren Zöglingen beabsichtigt ist, soll erweitert allen Staatsbürgern ermöglicht werden. Im Humboldtschen Menschenbild werden demnach insbesondere Bildung und Freiheit unzertrennlich miteinander verknüpft. Es ist unschwer einzusehen: Sich bilden kann man nur in Freiheit, und nur freie Entfaltung der eigenen Kräfte führt zu – oder sie ist sogar unmittelbar schon – Bildung. Diese Verknüpfung finden wir in der Tat in einer Formulierung, die Humboldts Menschenbild und ideal am knappsten zu enthalten scheint. »Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung.«48 Aus dieser engen Verbindung von Freiheit und Bildung folgt für den Staatsmann, daß der gebildete Mensch freier ist als der ungebildete und daß mit einem höheren Grad der Bildung auch die Freiheit zunimmt.49 Zur Freiheit kann folglich am ehesten durch Bildung erzogen werden, und von da aus gesehen läßt sich sagen, daß die Universitäten eine überaus wichtige und unerläßliche staatsbürgerliche Aufgabe erfüllen. Humboldts liberaler Staatsgedanke weicht jedoch an einem Punkt von den üblichen liberalen Staatsauffassungen entscheidend ab, insofern als die für sie kennzeichnende Selbstbegrenzung des Staates nicht wie in den gewöhnlichen angelsächsischen Auffassungen vor allem der Verteidigung des Privateigentums und den Interessen der bürgerlichen Gesellschaft dient. Vielmehr geht es Humboldt – in Anknüpfung an die Absage Kants und Schellings an das Nützlichkeitsprinzip als mögliche Orientierungsrichtung für den Staat, da Nützlichkeit der selbstlosen Wahrheitssuche und dem Prinzip »Bildung durch Wissenschaft« schroff entgegengesetzt sein soll – darum, den Staat als oberste irdische Instanz zu verstehen, die zugunsten des geistigen Sichbildens seiner Bürger und um dessen Förderung willen sich selbst begrenzt und von ihrer Freiheit zurücktritt. Darin liegt eben der Kulturstaatsgedanke, die von der deutschen Klassik und
46 W.v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, GS I , S. 100 = WF I, S. 57. 47 Ders.: OHWA, GS X , S. 256 = WF IV, S. 261. 48 Ders.: Ideen zu einem Versuch, GS I, S. 107 = WF I, S. 64. 49 Vgl. ebd., GS I, S. 101 = WF I, S. 58.
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dem Idealismus herrührende Idee des Staates als Bildungs- und Erziehungsanstalt. Die Bildung der Staatsbürger zu ermöglichen und innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu fördern, fällt diesem Konzept gemäß als allererste Aufgabe dem Staat zu.50 Wenn wegen des auf das Individuum und seine freie Selbstentfaltung gesetzten Akzents das Humboldtsche Konzept als Bildungsindividualismus bezeichnet werden kann,51 so könnte an diesem Punkt
50 Diese Position läßt sich durch das bereits im anderen Kontext angeführte SchellingZitat (siehe Anm. 28 oben) angemessen verdeutlichen: »Die Aufgabe ist also: dem Individuum die größte mögliche Freiheit (Autarkie) zu verschaffen – Freiheit, nämlich über den Staat hinaus und gleichsam jenseits des Staats […]« (F.W.J. Schelling: Philosophie der Mythologie, SW XI, S. 551). Mit etwas abweichender Akzentuierung bei Fichte, der die nämliche Autarkie zugunsten der Gemeinschaftlichkeit in den Hintergrund zu stellen tendiert: »es giebt keine Art der Bildung, die nicht von der Gesellschaft, d. i. vom Staate im strengsten Sinne, ausgehe, und die nicht wieder in dieselbe zurückzulaufen streben müsse; diese Bildung ist daher selbst Staatszweck und der vollkommene Staat wird dessen Beförderung, jedem nach seinem Maasse, schon ohnedies in Anschlag gebracht haben.« (J.G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, S. 148) 51 Siehe E. Troeltsch: Die deutsche Idee, S. 101f: »Die freie Hingebung in Pflicht und Gewissen an den Staat hat ihre Wahlverwandtschaft mit der Selbsthingabe des Glaubens an die Kirchen. Ebenso aber hat auch der deutsche Bildungsindividualismus seine starke Analogie mit der religiösen Innerlichkeit eines ganz persönlichen Glaubens, wie sie nicht bloß dem deutschen lutherischen Protestantismus, sondern auch dem deutschen, nur äußerlich romanisierten Katholizismus eignet. Ja, man wird sagen dürfen: Hier handelt es sich um mehr als bloße Wahlverwandtschaft und Analogie; es liegt ein historischer Entwicklungszusammenhang vor. Der deutsche Staatsgedanke und der deutsche Bildungsindividualismus sind zum guten Teil Verweltlichungen der kirchlich-religiösen Idee, ihre Übertragung auf Staat und Bildung […]«. – Eduard Spranger kennzeichnet den gesamten abendländischen Kulturwillen durch die Wendung: »Das Reich Gottes angestrebt in dieser Welt« (E. Spranger: Bildungsideal, S. 98). Die deutsche Universität charakterisiert er als »eine Stätte für die Pflege ethisch bedeutsamer geistiger Kulturgüter überhaupt«: »der deutsche Liberalismus erweitert das protestantische Prinzip der Gewissensfreiheit zur Autonomie der geistigen Persönlichkeit überhaupt«; hierzu gehören »vernünftige ›Frömmigkeit‹, […] ein eigentümlich neuer Humanismus, eine weltlich-religiöse Vertiefung des Persönlichkeitsgefühls […] So hängen deutscher Idealismus, Humanismus oder Persönlichkeitsideal und politischer Liberalismus innerlich zusammen« (E. Spranger: Das Wesen, S. 85f; vgl. noch ebd., S. 87f: »die Beschäftigung mit den wissenschaftlichen
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das die liberale Staatsidee Humboldts Auszeichnende und von allen anderen Unterscheidende darin erblickt werden, einen bestimmt gerichteten Bildungsliberalismus darzustellen.52 Daß eine Universitätsidee zu einer bestimmten, ihr gemäßen Staatsaufassung führen und sich mit ihr zusammenschließen soll, mag überraschen, jedenfalls scheint es nicht notwendig zwingend zu sein. Gleichwohl kann es nicht verwundern, stellt doch die Staatsauffassung sozusagen den logischen Endpunkt oder Schlußstein der Humboldtschen Universitätsidee dar. Ohne ihn bliebe sie sozusagen in der Luft schwebend. Daß und wie die Universität eine Bestimmung und Gestalt gewinnen soll, kann nämlich in noch so hohem Maße Sache ihrer eigenen Gesetzgebung im Sinne Kants sein: ohne eine »irdische« oder »weltliche« Bestätigung bzw. Rückbindung und Garantie könnte sie kaum in die Wirklichkeit um- und festgesetzt und auf Dauer am Leben bleiben.53 Nicht von ungefähr wird ihre Existenz immer dann gefährdet, wenn wie heute der Staat dazu
Ideen im Sinne von Kant, Fichte, Schelling, Hegel erschien als der Weg zur Vollendung der Persönlichkeit […]«). – Zur Zurückführung von Humboldts Bestrebungen auf Luther siehe auch M. Lenz: Geschichte, S. 187: »So hatte einst Martin Luther das Verhältnis des Staates […] zur Kirche, zum Reiche Gottes formuliert: als die Pflicht, den Untertanen die Freiheit des Zuganges zu Gott zu sichern. […] in dem Boden der Reformation […] ruht auch Humboldts Einschätzung der geistigen Werte, wie fernabliegend die Welt, in der er lebte, dem in dem Kulturbewußtsein seiner Epoche befangenen Reformator gewesen sein mochte […]«. 52 Vgl. hierzu R.R. Sullivan: Gadamer, S. 253: »Ever since Wilhelm von Humboldt was a Prussian Minister of Education, there has been a kind of distinctly German liberalism which has focused on the educational development of the individual and devalued the distinctly Anglo-Saxon development of property. Admittedly, this German liberalism got badly sidetracked in the nineteenth century, but the memory of it was kept alive by, of all people, Nietzsche, who despised the new Reich for its materialism and cultivated a vision of history and education which made sense only in terms of the development of distinct individuality.« Sullivan behauptet ferner, daß »Gadamer is very much in harmony with this distinctly German liberalism«. – Der Begriff Bildungsliberalismus taucht bei Clemens Menze im Kontext der Humboldt gegenüber kritischen Darstellungen der Nazi-Zeit auf (C. Menze: Wilhelm von Humboldts Lehre, S. 284, Anm. 103). 53 »Verwirklichen kann sich die Universität aus dem ursprünglichen Wissenwollen nur«, schreibt Karl Jaspers, »wenn Gesellschaft und Staat es wollen« (K. Jaspers/ K. Rossmann: Die Idee der Universität, S. 12).
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tendiert, den Kulturstaatsgedanken als eigenes Selbstverständnis immer mehr preiszugeben. Die Selbstbegrenzung des Staates gegenüber den von ihm selbst gegründeten und getragenen Universitäten kommt nun in Humboldts Denkschrift klar zum Ausdruck. »Höhere wissenschaftliche Anstalten«, so heißt es, sind »von aller Form im Staate losgemacht«, sie betreffen nur »das geistige Leben der Menschen«.54 Dies zu befördern und mit äußeren Mitteln zu ermöglichen sei Pflicht des Staates; dies getan, soll er sich aber am besten zurückziehen; im allgemeinen dürfe er sich in Sachen der Universität sowenig wie möglich einmischen. Der Kulturstaatsgedanke zehrt von einem anthropologischen Konzept, das davon ausgeht, daß das vom Staat zu Fördernde als Neigung und Anlage in den Bürgern schon vorhanden ist; in der Universitätsidee Humboldts erscheint in diesem Zusammenhang der Staat als Instanz, deren Aufgabe darin besteht, daß er »das in sich unbestimmte und gewissermaßen zufällige Wirken [der Menschen, d.h. der Bürger] in eine festere Form zusammenfassen will«.55 Es wird hierbei vorausgesetzt, es gebe so etwas wie ein »inneres Streben«, das »zur Wissenschaft und Forschung hinführt«. Dennoch ist sich Humboldt, der erfahrene Staatsmann, bewußt, daß jenes Streben nicht unbedingt in jedem Menschen vorliegen muß, weswegen ihm ein ganz bestimmtes Problem entsteht – gerade auch in bezug auf die anvisierten wissenschaftlichen Anstalten. Denn in diesen, so schreibt er, »werden natürlich auch viele […] thätig sein können, denen dies Streben fremd, einige, denen es zuwider ist«.56 Humboldts Formulierungen sind in dieser Hinsicht vorsichtig und zurückhaltend. Der Grund mag im latenten Bewußtsein der Schwierigkeiten liegen. Seine Argumentation ist daher von Resignation durchdrungen. Es ist ja unvermeidlich, so wird nahegelegt, daß an den Universitäten »viele« werden »thätig sein können«, denen das innere Streben nach Wissenschaft und Forschung teils »fremd«, teils sogar »zuwider« ist. Was tun? Gegenüber Schellings radikalem Lösungsvorschlag, sie aus der Universität einfach zu entfernen (oder bestenfalls »in der gänzlichen Passivität [zu] erhalten«57), sucht Humboldt einen modus vivendi, gleichsam einen Kompromiß, zu erreichen. Dies schon deswegen, weil, wie er in der Fortsetzung des Obigen gleich resigniert bemerkt, das nämliche Streben »in voller und reiner Kraft […] überhaupt nur in wenigen sein« könne, »und es […]
54 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 252 = WF IV, S. 256. 55 Ebd., GS X, S. 252 = WF IV, S. 256. Zum folgenden ebd. 56 Ebd., GS X, S. 254 = WF IV, S. 258. 57 F.W.J. Schelling: VMAS, Ehrhardt, S. 30f = SW V, S. 236f.
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nur selten und nur hier und da wahrhaft hervorzutreten«58 brauche. Diese eher schwermütigen Überlegungen vorausgeschickt, kommt Humboldt endlich einmal zu einem Machtspruch-ähnlichen Muß-Satz: »was aber schlechterdings immer herrschend sein muß, ist Achtung für dasselbe [Streben] bei denen, die es ahnen, und Scheu bei denen, die es zerstören möchten«.59 Die Universität, so scheint Humboldt anzudeuten, müsse notgedrungen mit denjenigen zusammenleben, denen die Idee derselben »fremd« oder »zuwider« ist; die Möglichkeit, sie loszuwerden, wird nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Aber Humboldt geht nicht darauf ein, wie sich sein Muß-Satz verwirklichen ließe. Denn wie sollte in der Tat »Achtung« für ein Streben bei denjenigen erweckt werden können, denen dasselbe »fremd« ist, geschweige denn »Scheu bei denen, die es zerstören möchten«? Scheu erwecken kann man wohl nicht ohne autoritäre Geste, Gewalt, Zwang oder Machtsprüche, und ihr Gelingen bleibt zweifelhaft – aber sollte es auch gelingen, was würde letztendlich aus der Universität als höherer Lehranstalt freier geistiger Selbsttätigkeit und sittlicher Selbstwerdung, wenn sie sich am Ende just darüber freuen müßte, die innerhalb ihrer vorhandenen zerstörerischen Kräfte, infolge der in ihnen erweckten Scheu, mit Erfolg zurückgestellt zu haben? Welche Chancen hat nun eine Institution, die von Anfang an gegen die in sie eingebauten zerstörerischen Kräfte kämpfen muß, um sie unschädlich zu machen, zur Verwirklichung ihrer hochangegriffenen Ziele? Um auf den Kulturstaatsgedanken zurückzukommen, besteht seine Positivität darin, daß Bildung der Bürger nicht bloß Sache staatlicher Kulturpolitik darstellt, sondern staatlicher Politik überhaupt. Die Kehrseite, die es auch gibt, liegt ebenda, nur von der anderen Sinnrichtung her, daß nämlich die gesamte Politik des Staates von der Kulturpolitik absorbiert, genauer: in sie zurückgenommen wird. Bürgerliche Freiheit wird von nun an hauptsächlich als (und innerhalb der Grenzen der) Freiheit zur Bildung verstanden; diese wiederum wird – unter Verzicht auf äußere wie wirtschaftliche so politische Tätigkeit (Folge der Absage an die einseitige Nützlichkeitsorientierung der Aufklärung und des Zurückschreckens vor den Exzessen der französischen Revolution) – vorwiegend als Sache der Innerlichkeit interpretiert. Die Universitäten gehen, nachdem sie aus dem Zentrum staatlicher Politik und der Staatsziele herausgefallen sind, in den spezifisch untergeordneten Interessenkreis staatlicher Kulturpolitik über, neben der es andere, möglichst wichtigere Teilbereiche staatlicher Politik gibt –, ja, es entsteht gerade sensu stricto Kulturpolitik als begrenztes Teilgebiet und Aufgabenbereich innerhalb der staat-
58 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 254 = WF IV, S. 258. 59 Ebd., GS X, S. 254f = WF IV, S. 258f.
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lichen Politik selbst. In einem gewissen Sinne darf wohl gesagt werden, die Entstehung der Kulturpolitik hängt im wesentlichen mit dem Untergang des Kulturstaatsgedankens zusammen: Entsteht die Kulturpolitik, vergeht der Kulturstaatsgedanke, oder auch umgekehrt: Vergeht der Kulturstaatsgedanke, entsteht die Kulturpolitik. Letztere stellt die Kompensation oder den Ersatz für den Untergang des Kulturstaatsgedankens dar.
V. D IE WECHSELVOLLE N ACHGESCHICHTE DER H UMBOLDT -U NIVERSITÄT ERLÄUTERT AN EINER H AUPTSCHWIERIGKEIT DES I DEALISMUS Die Humboldt-Universität hat in ihrer Geschichte vielfache Unbilden erfahren, ja, wie wir sehen, war ihre ganze Geschichte sogar von Anfang an durchgehend eine problematische, schwankende, mit Erschütterungen und Umstürzen beladen, so daß sogar in Frage gestellt werden kann, ob sie in ihrer »Reinheit« je einen Augenblick wirklich existiert hat.60 Die Frage, die hier abschließend kurz zur Diskussion gestellt werden soll, ist nicht eine geschichtliche, sondern vielmehr eine grundsätzliche, d.h. philosophische, und läßt sich wie folgt formulieren: Gesetzt, daß die Humboldtsche Universitätsidee in ihrer geschichtlichen Entfaltung Unbilden und Erschwernisse erfahren hat, woran liegt es? Läßt es sich, mit anderen Worten, durch geschichtliche Umstände und deren sich jeweils ändernde Konstellationen genügend erklären, oder kann es hier Schwierigkeiten geben, die philosophischer Art, d.h. in der Universitätsidee selbst und in ihrer Verwurzelung in der idealistischen Philosophie begründet sind? Anhaltspunkte für eine mögliche Antwort finden sich bei mehreren Autoren; von diesen wird zunächst ausgegangen, und es wird versucht, die Befunde, die zwar eine strukturelle Ähnlichkeit untereinander aufweisen, jedoch disparater Art sind, auf ein Kernproblem bzw. eine in der Philosophie des Idealismus liegende Grundschwierigkeit zurückzubeziehen. Setzen wir gleich bei einem Hinweis Schelskys an, der das entscheidende Problem ohne Umstände gleichsam nebensächlich anspricht. Ging es Humboldt darum, in den höheren wissenschaftlichen Anstalten »die Thätigkeit immer in
60 Es wäre auch nicht übertrieben, mit Schelsky der Meinung zu sein, »die Krise der Universität« könne »historisch als ihr Normalzustand angesprochen werden« (H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, S. 33).
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der regsten und stärksten Lebendigkeit zu erhalten«,61 so heißt es unter Anspielung auf diese Stelle knapp bei Schelsky: »Die ›regste und stärkste Lebendigkeit‹ der Wissenschaft und Forschung ist nicht institutionalisierbar.«62 Rückübersetzt in die Perspektive des Idealismus bedeutet dies folgendes. Die Schwierigkeiten, die in der Humboldtschen Universitätsidee (bzw. in ihrer Umsetzung) liegen, kommen z.T. den Schwierigkeiten der idealistischen Philosophie gleich und sind demnach auf sie zurückführbar: Lebendigkeit und Geist (Hauptthemen des Idealismus) lassen sich kaum angemessen institutionalisieren. Von da aus läßt sich die These aufstellen: Die dem Idealismus eigene Grundschwierigkeit besteht in der Unangemessenheit von Idee und empirischer Erscheinung bzw. Idee und ihrer empirischen Erscheinung. Die Idee muß ihrer Erscheinung immer transzendent bleiben. In dieser Hinsicht bleibt auch Humboldt, wiewohl er andererseits den »idealistischen Systemgedanken nie geteilt«63 und sich im Gegensatz zum Idealismus überhaupt gesehen hat, indem er den Standpunkt des Allgemeinen zugunsten der Individualität ablehnte, an ihn doch innerlich gebunden.64 Wie sehr er die auf Platon zurückreichende idealistische Grundunterscheidung von Idee und Erscheinung teilte, geht aus einer Stelle seiner Denkschrift, die oben in einem anderen Kontext herangezogen wurde, ganz klar hervor: Der Staat müsse sich immer bewusst bleiben, heißt es, »dass etwa nicht bloss die Art, wie er diese [äußeren] Formen und Mittel beschafft, dem Wesen der Sache schädlich werden
61 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 251f = WF IV, S. 256. 62 H. Schelsky: Einsamkeit und Freiheit, 2. Aufl., S. 262. (Hervorhebung I.M.F.) 63 Ders.: Einsamkeit und Freiheit, S. 83. 64 Siehe hierzu H.-G. Gadamer: GW 1, S. 347f: Was die Begründung des Historismus angeht, »ist es doch die Position Hegels, in der er seine Legitimation findet, auch wenn die Historiker, die das Pathos der Erfahrung beseelte, sich statt dessen lieber auf Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt beriefen. Weder Schleiermacher noch Humboldt haben ihre Position wirklich zu Ende gedacht. Sie mögen die Individualität […] noch so sehr betonen, am Ende findet doch lediglich in einem unendlichen Bewußtsein […] der Gedanke der Individualität seine Begründung. Es ist die pantheistische Eingeschlossenheit aller Individualität ins Absolute, die das Wunder des Verstehens ermöglicht. So durchdringen sich auch hier Sein und Wissen im Absoluten. Weder Schleiermachers noch Humboldts Kantianismus ist somit gegenüber der spekulativen Vollendung des Idealismus in Hegels absoluter Dialektik eine selbständige systematische Affirmation. Die Kritik an der Reflexionsphilosophie, die Hegel trifft, trifft sie mit.« Vgl. ferner ebd., S. 443: Humboldts »Interesse an der Individualität ist wie seines Zeitalters durchaus nicht als eine Abkehr von der Allgemeinheit des Begriffs zu verstehen.«
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kann, sondern der Umstand selbst, dass es überhaupt solche äussere Formen und Mittel für etwas ganz Fremdes giebt, immer nothwendig nachtheilig einwirkt und das Geistige und Hohe in die materielle und niedere Wirklichkeit herabzieht«.65 »Das Geistige und Hohe« wird hier völlig unvermittelt einer »materiellen und niederen Wirklichkeit« entgegengesetzt und stellt im Blick auf diese »etwas ganz Fremdes« dar, in das es eben »herabgezogen« wird. Damit ist der richtig platonische hiatus, die grundsätzliche, nie aufhebbare Unangemessenheit von Geistigem und Materiellem, Idee und Wirklichkeit, klar ausgesprochen. So sehr der Staat nach Humboldt darum unablässig bemüht sein soll, »gut zu machen, was er selbst, wenngleich ohne seine Schuld, verdirbt oder gehindert hat«:66 es bleibt völlig unklar, inwieweit der jeweilige Versuch einer Wiedergutmachung überhaupt Chance zum Gelingen haben kann – ist es doch erklärtermaßen so, daß der Staat »immer hinderlich ist, sobald er sich hineinmischt«. Von da aus gesehen wäre, nimmt man Humboldt richtig beim Wort, das Tun des Staates im Hinblick auf die Universitäten notgedrungen immer ein Verderben, ein Hindern. Sollte es gleichwohl um die Sache auch nicht so schlimm bestellt sein – diese Worte Humboldts klingen nicht nur allzu pessimistisch, sondern sie sind darüber hinaus auch nicht ganz verträglich mit dem, was er anderswo über die Aufgabenstellung des Staates etwa im Blick auf die Ernennung der Dozenten behauptet –, so ist immerhin in dieser Hinsicht Walter Rüeggs Bemerkung – die der Sache nach in dieselbe Richtung zeigt wie der Hinweis Schelskys – zuzustimmen: »Die Humboldtsche Universität hat […] keine aus ihrer eigenen Idee her resultierende Struktur.«67 Dieser Satz sollte wohlgemerkt nicht in dem Sinne mißverstanden werden, es gäbe keine empirische Struktur überhaupt, die der Idee entspräche. Der Satz soll vielmehr bei genauerem Besehen so verstanden werden, daß eine Vielzahl institutioneller Strukturen mit der Idee durchaus verträglich sein können und sie zur Geltung zu bringen imstande sind; daß indessen nicht sinnvoll davon die Rede sein kann, es könne jeweils eine einzige oder ausgezeichnete Struktur geben, die wie keine andere ihr zu genügen oder sie zu empfangen vermöchte. Eine Idee kann sich unmöglich in einer einzigen empirischen Realität voll verkörpern, in ihr ohne Rest aufgehen – soll heißen: eine Pluralität empirischer Erscheinungen kann ihr genüge tun, kann ihre Trägerin werden, eine ausgezeichnete gibt es nicht. Die Idee ist unerschöpflich, die empirische Erscheinung dagegen jeweils beschränkt. In diesem Sinne heißt es – mit Schelsky und
65 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 253 = WF IV, S. 257. (Herv. I.M.F.) 66 Ebd., GS X, S. 253 = WF IV, S. 257. Zum folgenden ebd. 67 W. Rüegg: Strukturreform, S. 246.
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Rüegg weitgehend übereinstimmend – bei Karl Jaspers: »Jede Verwirklichung einer Idee in Institutionen führt auch zu einer Einschränkung der Idee. Die Institution, ihre Gesetze und Formen drängen sich vor.«68 Die angezeigte Schwierigkeit des Idealismus hinsichtlich der Ungleichheit bzw. Unangemessenheit von Idee und Empirie, Geist und Institution läßt sich am Beispiel Heideggers gut verdeutlichen. Sein Versuch einer Erneuerung der Universität im Rückgriff auf Humboldt und den Idealismus hatte von Anfang an mit dem Problem des Institutionellen zu kämpfen. Am Ende der Rektoratsrede steht schon das emphatische Entweder-Oder: »es steht bei uns, ob und wie weit wir uns um die Selbstbesinnung und Selbstbehauptung von Grund aus und nicht nur beiläufig bemühen oder ob wir […] nur alte Einrichtungen ändern und neue anfügen«.69 Das Bemühen um Selbstbesinnung und Selbstbehauptung wird bei dieser Akzentuierung und Problemstellung notgedrungen so etwas wie einer Änderung von Einrichtungen gegenübergestellt, wo doch wirkliche Selbstbesinnung letztere nicht nur nicht auszuschließen bräuchte, sondern vielmehr in ihr enthalten müßte. Gewiß, es kann durchaus dabei bleiben, daß nur alte Einrichtungen geändert und neue angefügt werden, während keine wirkliche Selbstbesinnung und Selbstbehauptung stattfindet. Soll diese doch nicht ausbleiben, so wäre es jedenfalls verkehrt, wenn sie in sich geschlossen bliebe; sie soll grundsätzlich, wie es scheint, ihrerseits auch und gerade zur Änderung alter Einrichtungen und ihrer Ablösung durch Neue führen. Bei einer institutionellen Änderung kommt freilich alles darauf an, welchen »Geist« sie trägt und zur Geltung zu bringen sucht. Hierüber Gewißheit zu erhalten ist jedoch grundsätzlich unmöglich, ist doch Selbstbesinnung Sache der Gesinnung, d.h. der Innerlichkeit. Die Selbstbesinnung und Selbstbehauptung kann also mit mehreren institutionellen Änderungen verträglich sein, mit einer einzigen bestimmten Form läßt sie sich kaum identifizieren. Möglicherweise ist dies der Grund dafür, daß Heideggers Aufrufe keine empirische Konkretisierung angeben. Heideggers Rektoratsrede sollte »die Erneuerung der Universität […] gegen Übergriffe aller Art immunisieren« schreibt Gerhart Schmidt. »Heidegger war guten Willens und tat genau das Verkehrte: Er untergrub die institutionalen Grundlagen. ›Wir wollen uns selbst‹, verkündete er emphatisch […] Aber damit wird der Wille daran gehindert, sich objektiv zu werden, sich in wirklichen Gestalten zu verfestigen.«70 Was hier eher als Vorwurf formuliert wird, erscheint
68 K. Jaspers/K. Rossmann: Die Idee der Universität, S. 120. (Hervorhebung I.M.F.) 69 M. Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, GA 16, S. 116f. 70 G. Schmidt: Heideggers philosophische Politik, S. 88. Das Heidegger-Zitat siehe GA 16, S. 117: »(›Wir wollen uns selbst‹).«
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aus unserer Sicht vielmehr als eine in der Sache selbst liegende Schwierigkeit. Das Objektiv-Werden des Willens ist zumindest seit Kant – der ja meinte, »der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut« und »die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch abnehmen«71 – das ObjektivWerden des Willens ist ein wirkliches Problem, das deshalb kaum bloß auf Heideggers »Unfähigkeit, das Wesen der Institutionen zu begreifen«,72 zurückgeführt werden könnte. Nicht zu Unrecht kann in diesem Zusammenhang bereits Kant als »organisationsblind« bezeichnet werden.73 Das Wesen der Institutionen liegt ja laut Humboldt, wie wir gehört haben, eben darin, »äussere Formen und Mittel für etwas ganz Fremdes«, nämlich für »das Geistige« darzustellen, womit die Konsequenzen bei Jaspers und Schelsky weitgehend im Einklang stehen: »Jede Verwirklichung einer Idee in Institutionen führt auch zu einer Einschränkung der Idee«; »die ›regste und stärkste Lebendigkeit‹ der Wissenschaft und Forschung ist nicht institutionalisierbar.« Die zur Diskussion stehende Schwierigkeit läßt sich schließlich auch durch Rückgriff auf einige Aspekte dessen erläutern, was oben als die Aporie des Bildungsbegriffs bzw. des Konzepts »Bildung durch Wissenschaft« bezeichnet wur-
71 I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WA VII, S. 19. Hegel hat diesen Charakter der kantischen Moralphilosophie von Grund her kritisiert und ihm seinen Begriff der Sittlichkeit gegenübergestellt. Sittlichkeit soll ihm zufolge die Objektivationen – Sitten, Bräuche, Religion usw. – eines Volkes in sich schließen und nicht auf die reine Innerlichkeit des Willens (desjenigen des Einzelnen) beschränkt bleiben. Schon die Tatsache jedoch, daß sein System über den objektiven Geist hinaus (wo ja die Sittlichkeit ihren systematischen Ort findet) zum absoluten Geist führt, zeigt, daß der Geist auch bei ihm alle Objektivationen zurücknehmen muß, um bei sich selbst und mit sich selbst identisch zu sein. 72 G. Schmidt: Heideggers philosophische Politik, S. 90. (Hervorhebung I.M.F.) Das beträfe ohne weiteres auch Kant. 73 Siehe H. Brunkhorst: Die Universität der Demokratie, S. 81: »Die Universität als organisatorischer Kern des Wissenschaftssystems […] spielt bei dem eher organisationsblinden Kant überhaupt noch keine Rolle.« Diese Blindheit soll in unserem Zusammenhang indes nicht bloß als mangelndes Interesse oder als Gleichgültigkeit gegen die organisatorische Frage verstanden werden – als ein Versäumnis, das »bei seinen idealistischen Nachfolgern«, die die »Idee der Wissenschaft« in eine »entsprechende Idee der Universität« überführt haben (ebd., S. 81f), nachgeholt wird. Sie liegt viel tiefer und betrifft den Kern Kantischen wie idealistischen Denkens.
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de. Bildung ist ja Sache der Innerlichkeit, ein subjektiver Vorgang, und das die Humboldtsche Universitätsidee Auszeichnende liegt eben darin, »die objective Wissenschaft mit der subjectiven Bildung […] zu verknüpfen«.74 In und durch Wissenschaft soll das Individuum gebildet und durch Bildung zu einem verwandelten Menschen werden. Humboldt geht es um diejenige »Wissenschaft, die aus dem Innern stammt und in’s innere gepflanzt werden kann«, denn nur diese »bildet den Charakter um«.75 Das heißt: ihm kommt es auf die Wissenschaft in erster Linie (nicht als Bereicherung von Kenntnissen, Zuwachs am objektivierten Bestand von Ergebnissen, Wettbewerb von Theorien, sondern vielmehr) als persönlichkeitsbildende und -umbildende Kraft an. Im Konzept »Bildung durch Wissenschaft« kommt es aber in erster Linie – wovon oben die Rede war – auf die Bildung, nicht auf die Wissenschaft an. Objektivieren läßt sich wohl die Wissenschaft, nicht aber die Bildung durch sie. Denn, so Humboldt, »alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Inneren der Seele, und kann durch äußere Veranstaltungen nur veranlaßt, nie hervorgebracht werden«.76 Wissenschaft erscheint in diesem Licht als »äußere Veranstaltung«, durch die Bildung einerseits wohl »veranlaßt«, andererseits aber »nur veranlaßt, nie hervorgebracht werden« kann. In der Perspektive Humboldts und des Idealismus stehen dem allein wichtigen Bildungsvorgang die jeweiligen Objektivationen der Wissenschaft in gewissem Sinne wie unvermittelt, fremd oder inkommensurabel gegenüber. Nun läßt sich hinzufügen: zu diesen Objektivationen gehören mit Sicherheit auch die jewieligen institutionellen Formen. Die innere Verwandlung der Seele läßt sich nicht in institutionellen Formen einschließen oder in wirklichen Gestalten verfestigen (ebensowenig wie die religiöse Erlösung des Menschen). Sie kann durch mehrere Formen »veranlaßt« werden oder mit mehreren Formen verträglich sein; eine einzige Form, die sie wie keine zweite oder keine andere »veranlassen« und problemlos weiterführen könnte, kann es nicht geben. Denn, wie es bei Karl Jaspers hieß: »Jede Verwirklichung einer Idee in Institutionen führt auch zu einer Einschränkung der Idee. Die Institution, ihre Gesetze und Formen drängen sich vor.«77
74 W.v. Humboldt: OHWA, GS X, S. 251 = WF IV, S. 255. 75 Ebd., GS X, S. 258 = WF IV, S. 254. 76 W.v. Humboldt: Über Religion, GS I, S. 70 = WF I, S. 25. (Hervorhebung I.M.F.) Dies läßt sich auch als eine »monadische« Struktur des Menschen bezeichnen (siehe C. Menze: Wilhelm von Humboldts Lehre, S. 101). 77 K. Jaspers/K. Rossmann: Die Idee der Universität, S. 120. (Hervorhebung I.M.F.) Es ist ein »Selbstwiderspruch der Kultur«, hieß es bei Georg Simmel, daß »die objektiven Gebilde, in denen sich ein schöpferisches Leben niedergeschlagen hat und die
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»Jede Verwirklichung einer Idee« – diese Redewendung dürfte indes etwas ungenau sein, und durch Hinweis darauf soll dieser Beitrag zum Schluß kommen. Ideen lassen sich nämlich streng genommen – soll der platonische Unterschied zwischen Idee und Erscheinung zu Recht bestehen – nicht verwirklichen: sie können vielmehr entweder lebendig oder tot, entweder wirksam oder unwirksam sein, sie können das Wirken von Menschen durchdringen oder nicht. Sie sind Leitbilder, die unsere Tätigkeit bestimmen, unter die wir uns stellen können. Idee im Sinne Kants und des Deutschen Idealismus ist kein Begriff, dem Gegenstände entsprechen könnten. Ideen sind gar nicht gegenständlich, weil die Totalität, die sie anzeigen, kein Gegen-stand ist, ihnen kann des weiteren erfahrungsgemäß, d.h. in der Empirie grundsätzlich niemals entsprochen werden.78 Nach
dann wieder von Seelen aufgenommen werden, […] alsbald eine selbständige, jeweils durch ihre sachlichen Bedingungen bestimmte Entwicklung« gewinnen, bzw. daß »die objektiven Kulturgebilde ein selbständiges, rein sachliches Normen gehorsames Wachstum erfahren«. Das Wesen des inneren Lebens ist es, daß es »seinen Ausdruck immer nur in Formen findet, die […] eine Festigkeit in sich selbst haben, in einer gewissen Abgelöstheit und Selbständigkeit gegenüber der seelischen Dynamik, die sie schuf. Das schöpferische Kraft erzeugt dauernd etwas, was nicht selbst wieder Leben ist, woran es sich irgendwie totläuft […]. Es kann sich nicht aussprechen, es sei denn in Formen, die etwas für sich, unabhängig von ihm, sind und bedeuten. Dieser Widerspruch ist die eigentliche und durchgehende Tragödie der Kultur« (G. Simmel: Die Krisis der Kultur, S. 46f, 50f). Siehe noch G. Simmel: Der Begriff, z.B. S. 183: »Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat«; ferner Ders.: Lebensanschauung, z.B. S. 49. – Was Simmel als Tragödie oder Selbstwiderspruch der Kultur schildert, trägt mutatis mutandis auch demjenigen Phänomen Rechnung, das oben auseinanderzusetzen versucht wurde, nämlich der wesentlichen Spannung zwischen dem innerlichen Bildungsvorgang und seinen äußeren Objektivationen. 78 Zum Wesen der Ideen bzw. Prinzipien gehört nach Kant im wesentlichen, daß »ihnen kein korrespondierendes Schema der Sinnlichkeit gegeben werden kann, und sie also keinen Gegenstand in concreto haben können«. »Denn, wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? Darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals irgend eine Erfahrung kongruieren könne« (Kant: Kritik der reinen Vernunft, B692, B649). Vgl. noch ebd., B595: »Ideen aber sind noch weiter von der objektiven Realität entfernt, als Kategorien; denn es kann keine Erscheinung gefunden werden, an der sie sich in concreto vorstellen ließen«. Ebd., B510f: Ihr werdet »durch keine einzige Erfahrung den Gegenstand eurer Ideen in concreto erkennen können (denn es wird, außer dieser vollständigen Anschauung,
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Schellings treffender Formulierung ist das Unbedingte dadurch gekennzeichnet, eben kein Ding zu sein und niemals zu einem solchen werden zu können.79 Vielmehr sind die Ideen richtungsweisend, indem sie dazu tendieren, das Gegebene der Erkenntnis in ein Ganzes zu organisieren.80 Wenn Schelling in seiner Universitätsschrift sagt, »Ideen sind das Lebendige der Wissenschaft«, so meint das u.a., daß sie es sind, die unserer Erkenntnis Einheit und Leitbild verleihen. Philo-
noch eine vollendete Synthesis und das Bewußtsein ihrer absoluten Totalität erfodert, welches durch gar kein empirisches Erkenntnis möglich ist)«. Ebd., B371: »Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann jemals mit ihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keinesweges bloße Hirngespinste sein«. Wohlgemerkt gehen die Vernunftideen zwar »über die Grenzen des Empirischen« hinaus, bleiben aber jederzeit »in Verknüpfung mit demselben« (ebd., B436). 79 Vgl. F.W.J. Schelling: Vom Ich als Prinzip der Philosophie, § 3, AA I, 2, S. 89f = SW I, S. 166f: »Die philosophische Bildung der Sprachen, die vorzüglich noch an den ursprünglichen sichtbar wird, ist ein wahrhaftes durch den Mechanismus des menschlichen Geistes gewirktes Wunder. So ist unser bisher unabsichtlich gebrauchtes deutsches Wort Bedingen nebst den abgeleiteten in der Tat ein vortreffliches Wort, von dem man sagen kann, daß es beinahe den ganzen Schatz philosophischer Wahrheit enthalte. Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist, woraus zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als Ding gesetzt sein kann, d.h. daß ein unbedingtes Ding ein Widerspruch ist. Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht ist, gar nicht zum Ding werden kann. […] Das Unbedingte kann also weder im Ding überhaupt, noch auch in dem was zum Ding werden kann, im Subjekt, […] liegen.« (Herv. I.M.F.) 80 Siehe hierzu M. Heidegger: Schellings Abhandlung, S. 44: »Ideen sind die Vorstellungen von der Einheit der gegliederten Mannigfaltigkeit eines Bereiches als eines Ganzen.. […] Die Ideen bringen nicht das Vorgestellte – lediglich durch das Vorgestelltwerden – leibhaftig vor uns, sondern sie zeigen nur die Richtung an, in der wir die Mannigfaltigkeit des Gegebenen hinsichtlich seines Zusammenhangs und d.h. hinsichtlich seiner möglichen Einheit durchsuchen müssen. Die Ideen sind nicht ›ostensiv‹, sondern nur ›heuristisch‹, ›regulativ‹, das Suchen anweisend und das Finden regelnd.«
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sophie ist demzufolge »die Wissenschaft der Ideen«81 und als solche eben deshalb dazu innigst berufen, die allgemeine Grundlage der akademischen Studien und Disziplinen zu bilden.82 Sollte eine Idee je verwirklicht werden können, so käme dies ihrer Vernichtung gleich. Eine Wirksamkeit kann wohl unter der Leitung einer Idee stehen, verwirklicht werden kann diese durch sie jedoch nicht, weil sie keine Bildvorstellung eines herzustellenden Gegenstandes ist.83
81 Vgl. F.W.J. Schelling: VMAS, Ehrhardt, S. 49 = SW V, S. 255. Siehe noch ebd., Ehrhardt, S. 55 = SW V, S. 261: »Die Philosophie lebt nur in Ideen«; ebd., Ehrhardt, S. 71 = SW V, S. 277: »Zerfall der Philosophie« ist »Auflösung der Ideen«. Siehe noch ebd., S. 70, 53, bzw. 276, 259: Da »Philosophie […] mit der Sittlichkeit innig eins« ist, so gilt: »Es gibt keine [Sittlichkeit] ohne Ideen, und alles sittliche Handeln ist es nur als Ausdruck von Ideen«. Wohlgemerkt: »Ausdruck« – nicht Verwirklichung! D.h.: »Ausdruck« sollte nicht mit »Verwirklichung« verwechselt werden. – Ein weiterer Grund für Schellings Absage an das Nützlichkeitsprinzip hängt wohl mit diesem Vorverständnis der Philosophie zusammen: »Von dem Nutzen der Philosophie zu reden, achte ich unter der Würde dieser Wissenschaft. Wer nur überhaupt darnach fragen kann, ist sicher noch nicht einmal fähig ihre Idee zu haben [bzw., was damit gleichbedeutend ist, Ideen als solche überhaupt zu haben – I.M.F.]. Sie ist durch sich selbst von der Nützlichkeitbeziehung frei gesprochen. Sie ist nur um ihrer selbst willen; um eines andern willen zu sein, würde unmittelbar ihr Wesen [›Wissenschaft der Ideen‹ zu sein bzw. in Ideen zu leben – I.M.F.] selbst aufheben.« (Ebd., Ehrhardt, S. 50 = SW V, S. 256) 82 Vgl. ebd., Ehrhardt, S. 25 = SW V, S. 231: »Nur das schlechthin Allgemeine ist die Quelle der Ideen, und Ideen sind das Lebendige der Wissenschaft. Wer sein besonderes Lehrfach nur als besonderes kennt und nicht fähig ist, weder das Allgemeine in ihm zu erkennen, noch den Ausdruck einer universell-wissenschaftlichen Bildung in ihm niederzulegen, ist unwürdig, Lehrer und Bewahrer der Wissenschaften zu sein.« Das »schlechthin Allgemeine« läßt sich mit keinem Einzelnen identifizieren, in dieses versetzen, obwohl jenes dieses sehr wohl zu umfassen und zu durchdringen vermag, während das Einzelne – durch Teilhabe an ihm – Träger und Ausdruck des Allgemeinen sein kann. Eben diese hoch gegriffene Schellingsche Auffassung der Ideen habe im übrigen laut Schaffstein Humboldt begeistert; er sei »nüchtern genug« gewesen, »nicht von allen, die an der Universität lehrten, die Erfüllung so hoher Forderungen zu erwarten. Doch hat auch er sich im Grundsatz Schellings These zu eigen gemacht.« (F. Schaffstein: Wilhelm von Humboldt, S. 227) 83 Ist Wirklichkeit als »Wirken im Sinne des verursachenden Machens« zu verstehen (vgl. M. Heidegger: Nietzsche, Bd. 2, S. 414), dann heißt Verwirklichen nichts anderes als etwas durch »Wirken im Sinne des verursachenden Machens« herzustellen.
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Was verwirklicht werden kann, läßt sich auch vernichten. Nur Wirkliches läßt sich vernichten. Was nicht verwirklicht werden kann, das läßt sich dagegen auch nicht vernichten. Ideen lassen sich dergestalt weder verwirklichen noch vernichten. Das ist die – positive – Kehrseite der Behauptung, Ideen ließen sich nicht verwirklichen.84 Deswegen scheint die heutige Rede vom Tod der Humboldtschen Universitätsidee etwas voreilig zu sein. Gewiß erweisen sich die Bedingungen als Nachteil – rein soziologisch gesehen fand im übrigen die Universitätsgründung Humboldts selbst vor dem Hintergrund und im geistigen Klima einer »universitätsfeindlichen Stimmung«85 statt –; und obwohl es keine einzelne empirische Form gibt, in der sie restlos »verwirklicht« werden könnte, ist sie sicherlich mit einigen verträglicher als mit anderen – und mit manchem ist sie schlicht unverträglich. Ihre Entstehung verdankt sie – wie wohl jedes Entstehen – einer einmaligen historisch-geisteswissenschaftlichen Konstellation, einem Zusammentreffen heterogenster geschichtlicher Umstände. Klassisch-griechisches Bildungsideal, lutherisches Innerlichkeitsprinzip, Aufschwung neuzeitlicher Wissenschaft unter gleichzeitiger Verblassung des überlieferten theologisch-religiösen Weltbildes, Umstellung religiöser Lebensführung in die säkularisierte wissenschaftliche Welterkenntnis und in deren Suche nach Wahrheit, anthropologisch-anthropozentrisch ausgerichtete Umorientierung der neuzeitlichen Philosophie mit dem im Denken Kants gipfelnden Gedanken der Autonomie und Würde des Menschen, Krise herkömmlicher Wege der Wissensvermittlung, Gefährdung der Universitäten durch das Vordringen aufklärerischer Nützlichkeitsanprüche und
Herstellen als techne gehört wohl in das Bereich dessen, was verwirklicht werden kann, nicht aber das gemeinschaftliche Handeln als praxis. Letztere kann z.B. sehr wohl unter phronesis stehen und vor sich gehen, phronesis wird aber dadurch schon nicht »verwirklicht«. 84 Wenn Philosophie laut Schelling »die Wissenschaft der Ideen« ist und »nur in Ideen« lebt (siehe Anm. 82), so dürfte mit der Rede ›Verwirklichung der Ideen‹ auch diejenige über ›Verwirklichung der Philosophie‹ ins Schwanken kommen. – Unserer Behauptung, Ideen ließen sich nicht verwirklichen, scheint ein Satz Schellings zu widersprechen. »Unter ›Idee‹ versteht auch Hegel das zu Verwirklichende«, heißt es in seiner Hegel-Kritik (F.W.J. Schelling: Münchener Vorlesungen, S. 151). Aus der Fortsetzung wird aber klar, daß mit Verwirklichung hier der Endpunkt der immanenten logischen Entwicklung, nicht etwa Umsetzung in die Realität, gemeint ist. Schelling spricht nämlich über »[d]iese am Ende der Logik verwirklichte Idee«; die »verwirklichte Idee« sei eben die »am Ende der Logik verwirklichte Idee« (ebd.). 85 F. Schaffstein: Wilhelm von Humboldt, S. 217.
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absolutistische Monarchen, französische Revolution und Napoleonische Kriege, Niederlage Preußens und der Versuch eines kulturpolitischen Aufbruchs – das Ineinanderspielen und die Verschlungenheit all dieser Komponenten haben dazu beigetragen, die dem eigenständigen kulturhistorischen Gebilde, genannt Humboldt-Universität, zugrundeliegende Ideenwelt auszuprägen. Die Einmaligkeit des Gründungsmoments – wie wohl die jeder schöpferischen Gründung – läßt sich nicht restituieren oder wiederherstellen. Im Hinblick auf die wesenhafte Geschichtlichkeit des Menschen erweist sich – hermeneutisch gesehen – jeder Versuch einer Restitution vom Anfang an als zum Scheitern verurteilt.86 Die Tradition soll nicht – und kann auch bei der wesentlichen Geschichtlichkeit aller Dinge nicht – wiederhergestellt oder restituiert werden – ein Versuch der »Restauration vergangenen Lebens« wäre »widersinnig«.87 Der Unterschied der Umstände ist allzu offensichtlich, er bildet aber keinesfalls Grund dafür, über die Unmöglichkeit zu klagen. Die Idee wieder zur Geltung zu bringen, sie lebendig zu machen, wäre nicht irgendeine – ohnehin aussichtslose – Wiederherstellung, sondern – schöpferische – Wieder-holung.88 Einem Versuch in diesem Sinne stehen die veränderten Umstände nicht im Wege – vielmehr fordern sie dazu auf.
L ITERATUR Siglen Fichte FW = Fichtes Werke (hg. Immanuel Hermann Fichte), Fotomechanischer Nachdruck, Berlin: de Gruyter 1971, 11 Bände. Zitiert als »FW«, gefolgt von der Angabe der Band- und Seitenzahl.
86 Siehe H.-G. Gadamer: GW 8, S. 430. Die erste Aufgabe der Hermeneutik im Umgang mit der Überlieferung ist aus Gadamers Sicht nicht Sinnrestitution, sondern Gegenwartsbezug: es kann nicht sinnvoll um »Wiederherstellung«, »Restitution« oder »Restauration« gehen, sondern um »Integration« oder »Vermittlung mit dem gegenwärtigen Leben« (vgl. GW 1, S. 172ff, 265); siehe hierzu I.M. Fehér: Verstehen bei Heidegger und Gadamer. 87 H.-G. Gadamer: GW 1, S. 172. 88 Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 386: »Die Wiederholung läßt sich, einem entschlossenen Sichentwerfen entspringend, nicht vom ›Vergangenen‹ überreden, um es als das vormals Wirkliche nur wiederkehren zu lassen. Die Wiederholung erwidert vielmehr die Möglichkeit der dagewesenen Existenz.«
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GA = Fichte, Johann Gottlieb: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, (hg. Reinhard Lauth/Hans Jacob), Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1962ff. Zitiert als »GA«, gefolgt von der Angabe der Reihen-, Band- und Seitenzahl. Gadamer GW = Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke, Bände 1-10, Tübingen: Mohr Siebeck, 1985-1995. Zitiert als »GW«, gefolgt von der Angabe der Bandund Seitenzahl. Hegel TW = Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, Theorie Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe (hg. Eva Moldenhauer/ Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Zitiert als »TW«, gefolgt von der Angabe der Band- und Seitenzahl. Heidegger GA = Heidegger, Martin: Gesamtausgabe, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1975ff. Zitiert als »GA«, gefolgt von der Angabe der Band- und Seitenzahl. von Humboldt GS = Humboldt, Wilhelm von: Gesammelte Schriften, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903ff. Zitiert als »GS«, gefolgt von der Angabe der Band- und Seitenzahl. WF = Humboldt, Wilhelm von: Werke in fünf Bänden (hg. Andreas Flitner/ Klaus Giel), Stuttgart: J.G. Cotta 1980. Zitiert als »WF«, gefolgt von der Angabe der Band- und Seitenzahl. OHWA = Humboldt, Wilhelm von: »Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin«, in: GS X, S. 250-260; WF IV, S. 255-266. Kant AA = Kant’s gesammelte Schriften, (Hg. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften) [= Akademie-Ausgabe], Berlin: Reimer (später Walter de Gruyter), 1900ff. Zitiert als »AA«, gefolgt von der Angabe der Band- bzw. Abteilungs-, Band- und Seitenzahl.
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WA = Kant, Immanuel: Werke in zwölf Bänden, Theorie-Werkausgabe (Hg. Wilhelm Weischedel), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. Zitiert als »WA«, gefolgt von der Angabe der Band- und Seitenzahl. Schelling AA = Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Historisch-kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (hg. Hans Michael Baumgartner et al., Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1976ff. Zitiert als »AA«, gefolgt von der Angabe der Reihen-, Band- und Seitenzahl. SW = Schellings sämmtliche Werke (hg. Karl Friedrich August Schelling), Stuttgart/Augsburg: J. G. Cotta, 1856-61, I. Abt. 10 Bände, II. Abt. 4 Bände. Zitiert als »SW«, gefolgt von der Angabe der Band- und Seitenzahl. Die Bände der zweiten Abteilung werden, wie üblich, zitiert als Bände XI-XIV. VMAS = Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: »Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums«. Zitiert nach SW (SW V, S. 207-352) bzw. der folgenden Einzelausgabe: Ehrhardt = Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums (hg. Walter E. Ehrhardt), 2., erweiterte Aufl., Hamburg: Meiner, 1990. Zitiert als »Ehrhardt«, gefolgt von der Angabe der Seitenzahl. Primär- und Sekundärliteratur Anrich, Ernst: Die Idee der deutschen Universität und die Reform der deutschen Universitäten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1960. Ash, Mitchell G. (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1999. Brunkhorst, Hauke: »Die Universität der Demokratie«, i n: D. Kimmich/ A. Thumfart (Hg.), Universität ohne Zukunft?, S. 80-96. Das Berufsbild des Universitätslehrers. Thesen mit Erläuterungen. Forum. Hrsg. im Auftrag des Präsidiums des Deutschen Hochschulverbandes, Heft 55, Bonn: Verlag des Deutschen Hochschulverbandes 1991. Fehér, István M.: »Verstehen bei Heidegger und Gadamer«, in: Günter Figal/ Hans-Helmuth Gander (Hg.), »Dimensionen des Hermeneutischen«. Heidegger und Gadamer (Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Bd. 7), Frankfurt a.M.: Klostermann 2005, S. 89-115.
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Institutionelle Codes und Techniken um 1800
Das »unsichtbare Institut« Über Herders Freimaurerschriften E NDRE H ÁRS
Die Auseinandersetzung mit freimaurerischen Themen hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich auch in Texten ihren Niederschlag gefunden, die sich an Schnittstellen der freimaurerischen Literatur und des Schaffens literarisch-philosophisch etablierter Autoren befanden, als solche später mitkanonisiert und als repräsentativ für freimaurerische Problemlagen ausgelegt wurden. Mindestens eine dieser Schriften, Lessings Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (1778/80) erbrachte auch den Beweis, dass Literatur im weiteren Sinne ein geeignetes Medium freimaurerischer Thematik und diese wiederum ein geeignetes Problemfeld literarischer Bearbeitung war. Auch wurden Lessings Dialoge zum Bezugspunkt weiterer Vertextungen, deren Rezeption dann, wie im Fall von Knigges Beytrag zur neuesten Geschichte des Freymaurerordens in neun Gesprächen (1786) und Herders Freimäurer (1802) weniger positiv ausgefallen ist. Die schlechte Bilanz dieser Fortschreibungen resultierte aus zwei miteinander zusammenhängenden Urteilen: das erste betraf die textuelle und/oder literarische Qualität der Dialoge und das zweite untermauerte dies damit, dass es in Knigges und Herders Bearbeitungen eine viel zu tiefe Verwurzelung im freimaurerischen Diskurs und damit im historisch Kontingenten ausmachte. Denn bei Lessing ließ sich eine Erhebung über korporative Detailfragen beobachten, die umgekehrt eine Erhebung des freimaurerischen Gedankenguts über das Mikrosoziale zum Gegenstand hatte. Für Autoren, die Kosellecks erfolgreiche These über den politischen Gehalt des Freimaurertums differenziert und teilweise verschoben haben, kommt in Ernst und Falk eine »didaktisch-erkennt-
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niskritische[…] Dimension«1 zum Vorschein, die sich in Sprachreflexion niederschlägt und als solche geschichtsphilosophisch wirkmächtig wird. Der Lessingsche Dialog fungiert »als eine Initiation durch das Geheimnis«2 und befördert »eine Empfindung, eine Bewußtseinsänderung«, die – statt »eine[r] neue[n] Lehre, die propagiert werden müßte«3 – die Möglichkeit eines Innewerdens menschlichen Fortschritts generell und selbstkritisch eröffnet. Demgegenüber seien in Knigges Beytrag »weder die Brillanz von Lessings Dialogführung noch dessen änigmatische Fingerzeige auf das Geheimnis der Freimaurer […] jemals erreicht«4; und bei Herder sei nicht nur die Gestaltung seiner Adrastea-Gespräche »mühsam und schleppend, dem Anliegen Herders weitgehend äußerlich«5, sondern auch dieses Anliegen − der Beitrag zur Schröderschen Reform der Freimaurerei − selbst ein weiteres Zeugnis dessen, »daß ihm die kritischen Implikationen des Arkanmodells der Aufklärung verborgen geblieben sind«6. Lessings historischer Beitrag war es auch, der für die spätere Forschung die – die Freimaurerliteratur generell, die genannten Texte im Besonderen strukturierenden – Begriffsoppositionen des Themas am klarsten zum Vorschein gebracht hat. Das Gespräch zwischen Ernst und Falk gibt der historischen Unterscheidung zwischen »operativem« und »spekulativem«7 Freimaurertum eine philosophische 8 Wendung, indem es die »guten« und die längerfristig bis utopisch »wahre[n]« Taten der Freimaurer einander gegenüberstellt und damit zugleich die Differenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Reellem und Ideellem erläutert. Fügt man dem eine weitere Folge von geläufigen Distinktionen zwischen freimaurerischer Esoterik und Exoterik, Geheimem und Profanem,9 Gedrucktem und Ungedrucktem etc. hinzu,10 so wird der binäre Organisationsmodus des Diskurses erkennbar. Dieser offenbart sich in der Radikalität des Geheimnisses als Entweder-
1
M. Voges: Aufklärung, S. 160.
2
Ebd.
3
H.B. Nisbet: Zur Funktion des Geheimnisses, S. 304.
4
G.E. Lessing: Ernst und Falk, S. 728 (Kommentar).
5
M. Voges: Aufklärung, S. 218.
6
Ebd., S. 221.
7
D. Knoop/G.P. Jones: Die Genesis der Freimaurerei. Dazu M. Voges: Aufklärung, S. 22f.
8
G.E. Lessing: Ernst und Falk, S. 20-21.
9
Vgl. H.-H. Solf: Die Funktion der Geheimhaltung.
10 Beispielhaft versichert Knigge in der »Vorerinnerung« zum Beytrag, nichts mitzuteilen, als was »einzeln schon in gedruckten Büchern steh[t], folglich jetzt ein Eigenthum des Publicums« sei. A. Knigge: Beytrag, S. 193.
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Oder (Auf und Ab, Fort und Da) von Wissen und Nichtwissen, das kein Drittes zulässt und die Unterwanderung des Dualismus lediglich als Schwellenerfahrung der Initiation (des Rituals etc.) und – der Literatur ermöglicht. Mag Lessings diesbezügliches Problembewusstsein und das hieraus folgende semiotische Spiel eine besondere Leistung darstellen, so geht der Ansatz in einem Punkt wieder zu weit. Die Differenz zwischen Heimlichkeiten, »die prinzipiell ausgesprochen werden können«11, und dem Geheimnis, das »der Freimäurer nicht über seine Lippen bringen kann, wenn es auch möglich wäre, daß er es wollte«12, korrespondiert mit einem Verständnis des Geheimnisses als »soziologischer Bestimmtheit«, die – ob als »äußeres« (individuelles) oder »inneres«13 (gruppenbildendes) Prinzip – über das »äußerlich historische[…] Interesse«14 für geheime Gesellschaften weit hinausgeht. Wie für Lessing, gilt auch für die Soziologie, »daß das freimaurische Geheimnis, selbst wenn es öffentlich ausgesprochen wird, gar nicht verraten oder entdeckt werden kann« – handelt es sich doch um kein »positives Geheimniswissen«, sondern um eine »Reihe von sukzessiven Gemeinschaftserfahrungen«15. Hier wie dort ist etwas anderes als das Freimaurertum gefragt: es geht um eine Logik, die »Vorbedingung und Kennzeichen aller zivilisierten Formen menschlichen Zusammenlebens«16 ist und als solche als konstitutiv für Gesellschaft im Allgemeinen verstanden wird. Die freimaurerische »Substanzlosigkeit des Geheimnisses«17 wird transzendiert, und die Leerstelle erfährt in der Theorie ihre – einmal geschichtsphilosophische (Lessing) ein andermal funktionalistische (Simmel) – Überbrückung. Eine Lösung, die in Ernst und Falk als Problem der Trennung und der Vereinigung von Menschen als Staatsbürgern abgehandelt und in der Sprachfigur des Dialogs zum impliziten Konzept intimer Freundschaft wird;18 die die Soziologie wiederum auf den Punkt bringt, indem sie das Geheimnis für eine »primäre soziologische Tatsache«, für eine »formale Beziehungsqualität« erklärt und sich dadurch in die Lage setzt, die geheimen Gesellschaften im »soziologischen Formenkomplex«19 generell zu verorten.
11 H.B. Nisbet: Zur Funktion des Geheimnisses, S. 298. 12 Lessing: Ernst und Falk, S. 49. 13 G. Simmel: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, S. 372. 14 Ebd., S. 373. 15 F.E. Schrader: Zur sozialen Funktion, S. 180. 16 A. Assmann/J. Assmann: Einführende Bemerkungen, S. 7. 17 M. Voigts: Thesen, S. 73. 18 P. Michelsen: Die »wahren Taten«, S. 314. 19 G. Simmel: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, S. 389.
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Damit ist jedoch ein Extrempunkt erreicht, der dem der freimaurerischen Realität symmetrisch entgegengesetzt ist. Das historisch Kontingente – das Enttäuschende des Logenalltags – wird durch dessen nicht-freimaurerische Theorie nicht nur korrigiert, sondern restlos beseitigt. In dem Maße, wie sich das Geheimnis als inhaltslos zu erkennen gibt, wird Freimaurertum zum leeren Namen. Womit jedoch ein Soziales, das von geheimen Gesellschaften »dauernd akzentuierte Bewusstsein, Gesellschaft zu sein«20 verloren geht. Für die freimaurerische »Quantitätssteigerung« von Soziabilität – für deren »spezifische Verschärfung«21 der Zwischenlage zwischen Individuum und Gesellschaft – hat, so die hier zu entwickelnde Ansicht, nicht die (eh unzugängliche) historische Praxis des Freimaurertums an sich einzustehen. Es muss da noch mehr geben, z.B. andere Sprach- und Theorieregister, die gewissermaßen zwischen dem historisch Kontingenten und dem allgemein Historischen zu liegen kommen. Hier gilt es anzusetzen. Gesucht wird ein Verständnis, nicht des Sozialen im Allgemeinen, vielmehr der Ausgestaltung des Sozialen unterhalb makrosoziologischer Perspektiven. Eine Erfassung des Institutionellen, das nicht lediglich mit der Geschichte von Logen, aber auch nicht mit dem Prinzip selbst zusammenfällt, eher zu deren Schnittstelle wird. An der sich die »organisatorische Potenz«22 der Institution als eines Dritten (das nicht nur Ritual und auch nicht nur Literatur ist) entäußert. Unter diesem Blickwinkel werden im Folgenden Herders Annäherungen ans Problem des Freimaurertums gesichtet und ausgewertet. Herders Versuche oszillieren zwischen den beiden genannten Extremen und nähern sich letztlich, so die Hypothese, einem mittleren Standpunkt, der beide verbindet. Letzterer ist den Freimaurergesprächen der Adrastea (1802) vorbehalten. Ihnen gehen episodische Erkundungen beider Extreme, die Befragung der Logengeschichte (Historische Zweifel […] / Briefe über die Tempelherrn, Freimäurer und Rosenkreuzer […], 1782) und deren ›Lessingssche‹ Läuterung (Glaukon und Nicias, um 1783 / Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft, 1793) voraus. Ihre Darstellung folgt im Folgenden dem Verlauf ihrer Entstehung.
20 Ebd., S. 390. 21 Ebd. 22 A. Koschorke: Institutionentheorie, S. 49.
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1. S TREITBARE G ESCHICHTE ( N ) Herders erste Bearbeitung des Freimaurerthemas entstand im polemischen Kontext: als Kritik von Friedrich Nicolais Versuch über die Beschuldigungen welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß […] (1782), dem ein Anhang »Ueber das Entstehen der Freymaurergesellschaft« beigefügt war. Herders anonyme Rezension, die in drei Folgen im Teutschen Merkur erschien, erfuhr das Schicksal seiner Schlözer-Kritik aus dem Jahre 1772: sie wurde zum Anlass einer Entgegnung im Buchformat, in der Nicolai zum expliziten Gegenschlag überging.23 Interessant ist gleich zu Beginn dieses »Zweite[n] Theils« des Versuchs Nicolais Charakterisierung seines Gegners. Der »Ungenannte«, dessen Identität durch eindeutige Hinweise klargestellt wird,24 habe Nicolais Konzept nicht nur »verwirrt«, »nicht verstanden«, »unrichtig vorgestellt«25 etc., sondern auch mit etwas versetzt, woraus man auf einen schlechten (wenn nicht gleich bösen) Charakter folgern kann – was sich doch aus gegebenem Anlass vor allem in Methoden- und Stilfragen niederschlägt. Es ist von »Verdrehungen, Nachläßigkeiten und schaale[n] Spöttereyen« die Rede, vom »übermüthigen wegwerfenden Tone« des Rezensenten, und immer wieder von der Strategie, »dem Leser Staub in die Augen zu streuen«26. Er verstehe »die Kunst […], die wenigste Kenntniß von einer Sache am meisten geltend zu machen«, seine Begriffe »schweben« zu lassen und die Gegenstände »in ein […] wohlthätiges Dunkel zu hüllen«27. Dies ist desto schmerzhafter, da es Nicolai in seiner Abhandlung sehr wohl um die Wahrheit gegangen sei. Er rühmt die »Genauigkeit« und die »Selbstverläugnung«, die »zu einer historischen Untersuchung eigentlich gehör[en]« und hebt dabei immer wieder – wie auch schon im ersten Teil des Versuchs – sein eigenes Verdienst hervor. Denn »unter den zehen ist vielleicht nicht einer, der die Urkunden und Quellen zur Hand hat, und die mühsame Arbeit übernehmen will, sie nachzuschlagen und zu vergleichen«28.
23 Vgl. R. Haym: Herder. Zweiter Band, S. 182-192. 24 Ein Hinweis auf den Streit mit Schlözer sowie Nennungen Herderscher Werktitel lassen eindeutig auf den Verfasser der Rezension schließen. F. Nicolai: Versuch, Zweyter Theil, S. 29, 33, 34. 25 Ebd., S. 27. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 28. 28 Ebd., S. 4; Der erste Teil von Nicolais Schrift (die eigentliche Abhandlung) rühmt sich vielfach der intensiven Quellenarbeit, die der Verfasser im Unterschied zu anderen aufklärerischen Arbeiten zum Tempelherrenorden auf sich genommen hat. Er
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Genauigkeit und ergiebige Quellenkenntnis kann man in Herders Rezension sicherlich nicht voraussetzen, eher »wirtschaftet[…]« er »mit den Materialien, die ihm erst das Buch seines Gegners in die Hand gab«29. Gleichwohl ist auch Nicolais Abhandlung voller Spekulationen, so dass der Ertrag im Falle beider Texte bedingt und eher von wissenschaftshistorischem Interesse ist.30 Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass Nicolai und in der Folge Herder das Vorhaben – wenngleich letzterer mit weiteren Effekten –, von einem dezidiert historistischen Interesse her definieren: Der Versuch und die Zweifel wollen Erkenntnisse über den Tempelherrenorden und die Freimaurer zu Tage fördern. Nicolai stellt Thesen auf und untermauert sie mit historischen Dokumenten unterschiedlich-
habe »so viel möglich, bloß die vorhandenen gleichzeitigen Geschichtsschreiber und Urkunden […] gebraucht, besonders aber die eigenen Aussagen der Tempelherren«. (F. Nicolai: Versuch, [Erster Teil], S. 13) Nicolais teilweise Bekräftigung (und historische Erklärung) der Beschuldigungen auf Grund von Prozessakten wird bei Herder zu einem der Kritikpunkte. 29 R. Haym: Herder. Zweiter Band, S. 185. 30 In Diskussion mit Karl Gottlob Antons Versuch einer Geschichte des Tempelherrenordens (21781) argumentiert Nicolai für die Berechtigung der im Prozess gegen die Tempelherren vorgebrachten Beschuldigungen, indem er die häretischen Rituale der Tempelherren auf gnostische Einflüsse zurückführt. Am ausführlichsten werden die Umstände eines symbolischen Gegenstandes (des Bildidols »Baphemetus«) betrachtet, dessen Sinn Nicolai im Zentrum des geheimen Rituals etymologisch erklärt. Besonders über letzteren mokiert sich Herder, der sich – gewissermaßen im Mainstream aufklärerischer Tempelherrenforschung – für die (relative) Unschuld der Tempelherren ausspricht und ihr ›Geheimnis‹ ironisch in ihrer ökonomischen Erfolgsgeschichte verankert. Nicolais Spekulation über den Baphemetus wird Herders eigener, zum Teil ebenfalls etymologisierender Lösungsvorschlag entgegengehalten. – Das Freimaurertum führt Nicolai ideengeschichtlich auf rosenkränzerische Ansätze (darunter auf Johann Valentin Andreäs Einfluss), auf die Wirkung von Bacons The New Atlantis und politische Umstände nach Ermordung König Karl I. zurück. Institutionell lässt er die Freimaurer wiederum aus einer esoterischen Initiative zur Erforschung der Wissenschaften (Versuch [Erster Teil], S. 188) hervorgehen, die sich zunächst der mittelalterlichen Maurerzunft (ebd., S. 192) und dann des politischen Ziels der Wiederherstellung der Monarchie angenommen habe (ebd., S. 196f). Das Freimaurertum erlange dann seine spätere Gestalt in den Reformen Christoph Wrens. (ebd., S. 210) Herder lehnt vor allem Nicolais ideen- und politikgeschichtlichen Spekulationen ab und schließt statt eines Gegenkonzepts mit einem Wink auf mögliche Reaktionen der Freimaurer selbst. (vgl. unten)
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sten Ranges. Herder stellt den Thesen Nicolais die seinigen gegenüber und begründet sie durch Bloßstellung einiger nachweislicher Irrtümer des Verfassers. Dieser findet in seiner Entgegnung genug Anlass, seinerseits die Irrtümer und Fehler Herders hervorzukehren, das Konzept zu wiederholen sowie seinen wissenschaftlichen Anspruch zu beteuern. Methodisch – mit unverkennbaren Konsequenzen für die historischen Thesen – scheiden sich die Geister in einem Punkt deutlich, ohne sich dessen ihrerseits bewusst zu werden. Nicolai geht von der Prämisse aus, dass sich die Geschichte der beiden historischen Institutionen auf namhaft zu machende Akteure zurückführen lässt, deren Leistungen gelegentliche historische Zäsuren markieren. Bezogen auf die Tempelherren mustert er die Verhörsakten und wertet übereinstimmende Aussagen ebenso aus wie konzeptuell bedeutsame besondere Formulierungen. Bezeichnend ist die Fiktion einer Urszene, die den Beginn der Einflussnahme gnostischer Lehren markieren soll: »Es kann seyn«, schreibt Nicolai, »daß ein Ritter aus seiner Gefangenschaft von den Saracenen, ihre Lehre von der Einheit Gottes und ihren Zweifel wider die Dreyeinigkeit mitgebracht hat. Er kann sogar vielleicht gnostische Lehren von daher gebracht haben […]. Die Obern des Ordens […] behielten sie für sich, und sie ward vielleicht desfalls noch allgemeiner unter ihnen, da sie […] eine politische Absicht damit verbanden.«31 Desgleichen gestaltet Nicolai die Entstehung des Freimaurertums zum einen durch Kenntlichmachung des Einflusses philosophisch-literarischer Werke (Johann Valentin Andreä, Francis Bacon), zum anderen durch Festlegung historischer Daten (die Jahre 1646, 1785) sowie Nennung einzelner Entscheidungsträger (Elias Ashmole, George Monk, Christoph Wren), deren Überzeugungskraft und Dokumentierung jedoch selbst vor der Aufzählung namentlicher bis unbekannter Ritter aus templerischen Verhörsprotokollen zurückbleibt. In Abhebung von Nicolais Geschichte singulärer Leistungen operiert Herder im Längsschnitt historischer Prozesse mit kollektiven Akteuren. Die Tempelherren seien »wie alle Gesellschaften der Art«32 charakterisierbar, und die Beschuldigungen »die gemeinste Romanlüge und Pöbelsage […], die damals exsistierte, die Jahrhunderte durch exsisitiert hatte«33. Der Historiker verfehlt sein Ziel nur dann nicht, wenn er »den nahen historischen Grund der Anklagen [berücksichtigt], der im Jahrhundert selbst liegt und ohne den viele Punkte gar nicht einmal verstanden werden können« (SWS 15, 100). Dieser »nahe[…] Grund« lässt wiederum keine näheren Angaben als die Untersuchung umfassen-
31 Ebd., S. 135-136. 32 J.G. Herder: Historische Zweifel, S. 79. 33 J.G. Herder: Briefe über Tempelherrn, S. 84.
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der Vorstellungen und weit verbreiteter Vorurteile zu. »Märchen« und »Pöbelwahn« (SWS 15, 93) seien jedoch – wenngleich im Fall templerischer Beschuldigungen gewiss nachteilig – keine unbedeutenden Faktoren der Geschichte. Es ist also »[g]eschichtsmäßig« (SWS 15, 98), sie als solche zu berücksichtigen; alles andere sei – wie Herder seine eigene Spekulation vom Schlage Nicolais einleitet – nur »Muthmaßung« und »Vermuthung« (SWS 15, 95), oder eben – gegen Nicolai gewendet – eine »Deduction« (SWS 15, 73). Geschichte als Fiktion (als historischer Wahn und als historistischer Irrtum) ist einmal mehr Thema in Herders Kritikpunkten zu Nicolais Freimaurerthesen. Haben Vorurteile des historischen Subjekts »man«34 zum Untergang der Tempelritterschaft geführt, und strafen dieselben den Historiker, der in ihnen nicht den »Pöbelwahn« erkennt, Lügen, so stellt die Geschichte des Freimaurertums gar erst eine freie Erfindung dar, deren ›Romanhaftigkeit‹ wiederum nur vom genannten unvorsichtigen Historiker verkannt werden kann. Allen voran in Nicolais These zu Johann Valentin Andreäs Wirkung auf das spätere Freimaurertum überkreuzen sich für Herder realhistorische und historiologische Fiktionsbildung. Was die Leserschaft von Andreä, und dann wiederum Nicolai missverstanden hätten, so Herder, sei dessen Absicht gewesen, sich über den Sektengeist zu »erlustigen« oder ihn etwa zu »beßern« und »von Thorheiten zurückzuführen« (SWS 15, 60). Es sei ihm gelungen, »einer so zahlreichen und unter sich selbst so verschiednen Sekte, ja einem Nest von Sekten, in den cultivirtesten Ländern auf einmal einen Namen zu geben durch – einen Spaß seines Petschafts«35. Die »Fiction von Christian Rosenkreuz aus Fez und Damaskus« (SWS 15, 63) sei also statt eines Gründerdokuments geheimer Vergesellschaftung dessen frühe und – da sie sonst kaum mit Freimaurertum verbindbar ist – alle konkreten Sekten- und Geheimgesellschaftsgründungen einbeziehende Unterwanderung. »[D]er literarischen Welt von Andreä’s Fama« (SWS 15, 71) kann Herder darüber hinaus – mag es an seinem Interesse am Thema oder an Nicolais Referenzautoren selbst liegen – auch noch eine weitere hinzufügen. Denn Nicolai habe auch Bacons Atlantis, »eine[n] Roman, wie es damals mehrere gab« (SWS 15, 65), missverstanden und zur Quelle erklärt. Und auch wenn darin »der Philosoph oft mit dem Dichter durch[geht]« (Ebd.), heißt die Umsetzung höchstens Royal Society und keineswegs Tempel Salomons, wie Nicolai
34 Vgl. dessen inflationären Gebrauch ebd., S. 91. 35 Ders.: Historische Zweifel, S. 64; Herder erklärt: »[D]as Kreuz und vier Rosen waren sein [Andreäs] Familien-Petschaft; er konnte und mußte sich also im eigentlichen Verstande Ritter von Rosenkreuz nennen« (ebd., S. 62). Damit liege, so Herder, ein ebenso banaler wie vieldeutiger Grund für eine reflexive-spielerische Namensgebung vor.
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– trotz einiger gekränkter Diskussion über die Differenz von ›Haus‹ und ›Tempel‹ – wissen will.36 Im Zeichen des bemängelten und reichlich nachgereichten Fiktionsbewusstseins kann letztlich auch Herders – von Nicolai so übelgenommene37 – ironische Äußerung gelesen werden, der zufolge der Versuch, statt eines Beitrags zur Wissenschaft, ein marktstrategisch durchdachtes Produkt abgebe, das sich zu Zeiten gewachsener esoterischer Interessen einfach gut verkaufen lässt: »Eben darauf, scheints, hat der Verfasser [mit seinem Quellen-Eklektizismus, E.H.] gerechnet: alle Partheien, die jetzt nach den Catalogen gäng und gäbe sind, sollen sein Buch lesen. Die Rosenkreuzer primo […]. Die Philosophen […]. Die Politiker […]. Endlich die Tempelherrn, Deisten […]« (SWS 15, 78). Denn der Wahn setzt sich im Jahrhundert der Aufklärung durchaus fort und gestaltet die Meinungen sogar in den Büchern fortschrittlichster Aufklärer. So rückt das, was Nicolai im Nachhinein als Unkenntnis gescholten und als bloße Stilfrage abgetan hat, ins Zentrum des Konzepts. Die Geschichte ist nur als Dialektik von Wissen und Nicht-Wissen zu haben, mit Konsequenzen für jeden, der das Wort ergreift. Insofern ist Herders ›Wirtschaften‹ mit bzw. ›Verdrehen‹ von Informationen das ironische Echo der Arbeit Nicolais. Einmal mehr wird dies durch die literarische Verdunkelung seiner Ansichten zum Ausdruck gebracht: Die Rezension gestaltet sich als eine Folge von fünf Briefen, die die angestrebte Anonymität verdoppeln und die Relativität des Meinens fingieren. Interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei die offene Stelle des Empfängers dieser Briefe. Man erfährt über »Herr[n] –«, dass ihn Nicolais »Anhang über das Entstehen der Freimäurergesellschaft […] wahrscheinlich mehr interessieren [würde], als die oft ventilierten Beschuldigungen des längst erloschenen Tempelherrenordens« (SWS 15, 57). Aus diesem Grunde kommt der Verfasser der Briefe zunächst auf das bei Nicolai Hintangestellte und erst im Anschluss daran auf dessen eigentliches Thema zu sprechen. Ob das genannte Interesse von »Herr[n] –« das eines Profanen oder eines Ordensmitglieds ist, bleibt offen. Umgekehrt ist der sonst klar ausgesprochene profane Status des Verfassers der Briefe insofern wieder uneindeutig, als er zum einen in freimaurerischen Fragen bewandert zu sein scheint, zum anderen sich jedoch aller Infor-
36 Vgl. ebd., S. 66; F. Nicolai: Versuch [Erster Teil], S. 185; ders.: Versuch, Zweyter Theil, S. 196-201. 37 Herder »entblößet […] sich nicht, zu verstehen zu geben, mein Versuch sey aus Absichten geschrieben, er sey ein elender Catch penny, nur darauf eingerichtet, viele Leser und Käufer anzulocken. […] Schande sey über den niederträchtigen Verläumder, der mit solchen gehässigen Auslegungen das unschuldigste Vornehmen anzuschwärzen sucht […]!« Ebd., S. 30-32.
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mationen enthält, die über die Nicolaischen Kritikpunkte hinausgehen könnten. Kein Wort zur wahren Geschichte, geschweige denn zum wahren Wesen der Freimaurerei. »Ich bin begierig«, schließt er statt dessen seine Erläuterungen zu Nicolais Anhang, »wie die Mitglieder des Ordens diese Zeugnißlose Entdeckung aufnehmen werden, die die Gesellschaft bald zu einem Dunst der Rosenkreuzer, bald zum sinnlosen Nachhall einer verlebten politischen Parthei, bald gar zum Handwerkspaß eines Baumeisters macht. Schwiegen sie, lobten sie; nun wahrlich mir als Laien gölte es gleich – – –« (SWS 15, 77–78). Dennoch lässt sich dieses abschließende »gleich« aus Gleichgültigkeit schnell in ihr Gegenteil – zurück zum anfänglichen »Ich bin begierig« – wenden. Gleich(gültig) sind die Fragen nämlich dem Profanen nur, weil ihm weder das Schweigen noch das Reden der Freimaurer zusteht. Und diese durch Exklusion erzwungene Gleichgültigkeit hat ein ausgesprochenes Interesse, die Neugierde zu ihrer Kehrseite. Herders Briefsteller gibt auch dem Wunsch Konturen, vom Nicht-Wissen zum Wissen zu wechseln, und sei es auf Kosten einer hinzukommenden Verschwiegenheit. Die besagte Neugierde ist durchaus von der Art, die sonst die Geheimnisse mitkonstituiert.38 Wer weiß, ob die Geschichte, die sich als Fiktion erwiesen hat, in der Cloture des freimaurerischen Geheimnisses nicht jene Konkretheit erlangen würde, die von Nicolai erhofft und von Herder dahingestellt wurde. Aber eben das muss ein Geheimnis bleiben. Der Briefsteller muss es dabei belassen und in seinem abschließenden Fragenkatalog wieder in etwas ausweichen, das nur historisch (und also lediglich Spekulation) ist: »Die Fortsetzung dieser Briefe verfolgt die Materie weiter«, so der Nachtrag; da würden im späteren die Fragen behandelt, »[o]b vor Valent. Andreä Rosenkreuzer gewesen? Ob die Freimäurer unter Karl I. und Cromwell mit den Levellers zusammengehangen? Ob des genannten Dr. Knipe Commentar darüber vernünftig sei? u.s.f.« (SWS 15, 121) – Fragen, die in der Rezension in diesem Stil eh schon beantwortet wurden und wohl auf eine andere Art Beantwortung harren. Aber diese wird gewiss nicht im vorgegebenen Rahmen zu haben sein: »Da aber den meisten Lesern des T. Merkurs an historischen Erörterungen der Art wenig gelegen seyn dörfte: so bleiben diese Briefe einem andern Ort.« (Ebd.) Auch wäre dieser Ort etwas prinzipiell anderes als eine Zeitschriftennummer. Es könnte sich dabei um eine Wunscherfüllung, um Antworten der freimaurerischen Initiation handeln. Über deren Erfolg und Misserfolg haben jedoch weitere Texte Herders zu berichten.
38 Vgl. A. Assmann/J. Assmann: Die Erfindung des Geheimnisses.
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2. F ALKS N ACHFOLGE Im Zeichen der Lessingschen Problematik entstand Herders Fragment Glaukon und Nicias. Gespräche (um 1783),39 dessen desillusionierte Bestandsaufnahme mit der wiederholten Bearbeitung des Themas im 26. Humanitätsbrief (1793) im Einklang steht.40 Dass Herder in letzterem ein »Gespräch über eine unsichtbarsichtbare Gesellschaft« einrückt, das lediglich Lessings Ernst und Falk kompiliert und abwandelt, mag wohl sein eigenes Urteil über Glaukon und Nicias zum Ausdruck bringen, dessen »längst erkannte[n] Wahrheiten«, »mangelnde[r] Profilierung« und »penetrante[r] Szenerie«41 auch später kein gutes Wort beschieden war. Dennoch ist zwischen den beiden Texten auch dann zu differenzieren, wenn sich das »Gespräch« der Humanitätsbriefe als Konsequenz der in Glaukon und Nicias vorgebrachten Einsichten und als definitives Hinweggehen über die Freimaurerproblematik liest. Herders Fragment setzt sich aus zwei Gesprächen, einem vollständig ausgeführten Dialog zwischen Glaukon und Nicias und einem abgebrochenen zwischen Nicias und Adimant zusammen. Glaukon kommt im ersten Gespräch im Auftrag zu Nicias, ihn über Adimants am selben Abend stattfindende Aufnahme in eine geheime Gesellschaft zu befragen. Nicias soll Stellung nehmen und hierüber Adimant wissen lassen. Das Gespräch entwickelt sich zu Ungunsten geheimer Gesellschaften, denen der Selbstwiderspruch sowohl geheimer Wissenschaften als auch ihrer geheimen Moral entgegengehalten wird. Denn zum einen sei die Verhüllung des Wissens der Natur – der »gute[n] Mutter« (SWS 15, 166) wie »der menschlichen Natur« (SWS 15, 167) – vorbehalten, der gegenüber sich positive (d.h. auch »offene«, SWS 15, 166) Wissenschaften zu behaupten haben. Zum anderen sei die Moral »die offenbarste Sache der Welt und die Wißenschaft derselben […] in aller Menschen Herz geschrieben«
39 Zur Entstehung vgl. J.G. Herder: SWS 15, S. 628 (Kommentar). 40 Zu Herders eigener Mitgliedschaft in Geheimgesellschaften gibt es zwei Anhaltspunkte: die Aufnahme in die Rigaer Loge 1766 (R. Haym: Herder. Erster Band, S. 122) sowie der Beitritt zum Illuminatenorden um 1783 (D.W. Wilson: Geheimräte, S. 190). Es herrscht relatives Einverständnis über Herders distanzierte Haltung und geringfügige Aktivitäten (bis hin zum Kontakt mit Schröder um 1800, darüber weiter unten). Vgl. P. Müller: Untersuchungen, S. 19-21; M. Voges: Aufklärung, S. 203 sowie vielfach zitierte Briefstellen: J.G. Herder: An Christian Gottlob Heyne, 9. Januar 1786, in: Briefe, Fünfter Band, S. 166; an Johann Georg Müller, Januar 1786, ebd., S. 170. 41 M. Voges: Aufklärung, S. 192.
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(SWS 15, 168). Zum Verhältnis von Wissen und Moral trage wiederum der menschliche Fortschritt das seinige bei: »Allenthalben geht die Wißenschaft jetzt«, so Nicias, gerade darauf hinaus, »daß man Gesetze in der Natur anerkenne und sie auffinde«; und »je allgemeiner diese Gesetze anerkannt werden, desto reiner, aber auch allgemeiner wird die Moral, die für Menschen daraus folgt« (SWS 15, 170). Der Prozess menschlicher Selbsterkenntnis stelle zunehmend heraus, dass die Moral »in der Natur des Menschen« liege und folglich »von keiner Willkühr«, »geschweige vom willkührlichen Institut einer geheimen Gesellschaft [abhanget]« (Ebd.). Diesem Urteil Nicias’ entspricht die Enttäuschung, über die im zweiten Gespräch der beschämte Adimant berichtet. Nicias kommentiert dies mit Erläuterung dessen, wie eine geheime Verbindung der Idee nach funktionieren sollte. An sich zu Recht seien Adimant nicht nur geheime Wissenschaften, sondern auch die Beteiligung an »einer verborgnen Brudergesellschaft großer, guter, edler, erlesener Seelen« (SWS 15, 176) versprochen worden. Nur nicht die geheimen Gesellschaften seien die hierzu geeigneten Medien. Nach anfänglichem Spott geht Nicias zu selbstbezüglichen Andeutungen »[w]ahrer Freundschaft« (SWS 15, 177) über, die eine Erleuchtung Adimants in Lessingscher Manier bewirken.42 Hier bricht die Szene ab und hat wenigstens klar herausgestellt, dass Lessings »unsichtbare Kirche«43 nicht in geheimen Gesellschaften zu suchen sei. Der Zusammenhang zwischen Natur, Moral und Wissen macht, wohlgemerkt, nicht alle Institutionen der Erforschung des Menschen überflüssig. Nicias und Glaukon behalten sich zum einen vor, immer wieder auf die Wissenschaften zu sprechen zu kommen, gar erst, da sich auch Adimants vermeintlicher Fehltritt daraus herleitet, dass ihm »in Trophonius’ Höle« der »Schlüssel aller Wißenschaften und Künste« (im einzelnen Religion, Moral, Physik, Geschichte, Philosophie und Politik) versprochen wurde. Das Urteil betrifft die Heimlichkeiten und lässt den Institutionen des Wissens auch dann Raum, wenn die geschichtsphilosophische Prämisse der sich von sich selbst entfaltenden Natur des Menschen sie zu erübrigen scheint. Zum anderen lässt die redende Trias – aus der ein vierter, der geheimbündlerische Trasymachus, bewusst ausgeschlossen wird – einen Begriff des Umgangs unter Gleichgesinnten aufkommen, der
42 »Sie wißen, Glaukon«, vermerkt Nicias bereits im ersten Gespräch, »wie hoch ich von den Verbindungen der Freundschaft und von der Stärke jedes guten, insonderheit gesellschaftlichen Beispiels denke. Es sind die sanftesten und mächtigsten Bande, durch welche man zur Tugend gezogen, ja liebreich gezwungen wird […]«. Ebd., S. 169. 43 Ebd., S. 176; vgl. G.E. Lessing: Ernst und Falk, S. 34.
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der sozialen Funktion geheimer Gesellschaften wenigstens verwandt ist. Diesen Konsequenzen entspricht die Abwandlung der Lessingschen Vorlage in Herders »Gespräch« von 1793. Hier wird Lessings zweites Gespräch zwischen Ernst und Falk – gekürzt und mit geänderten Namen – wiedergegeben und bis zu dem Punkt geführt, an dem das »opus super erogatum«44 derjenigen Männer, die sich um den Zusammenhalt von Menschen über konkrete historisch-politische Gesellschaften hinweg kümmern, als Freimaurertum kenntlich gemacht wird: »Wie, wenn es die Freimäurer wären«, erläutert Lessings Falk, »die sich mit zu ihrem Geschäfte gemacht hätten, jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd werden, so eng als möglich wieder zusammen zu ziehen?«45 Wie, »[w]enn es auch außer deiner Gesellschaft eine andre, freiere Gesellschaft gäbe«, ergreift Herders »Ich« das Wort und leitet damit ein von der Lessingschen Vorlage abweichendes »zweites Gespräch« ein. Wie wäre es, fragt er, wenn diese Gesellschaft »das große Geschäft, wovon wir sprachen, nicht als Nebensache, sondern als Hauptzweck; nicht verschlossen, sondern vor aller Welt; nicht in Gebräuchen und Sinnbildern, sondern in klaren Worten und Taten […] triebe« (SWS 17, 129)? Was Ernst und Falk ausgehandelt haben wird hier zwischen »Ich« und »Er« ergänzt und abgewandelt durch den Vorschlag, »[d]ie Gesellschaft aller denkenden Menschen in allen Weltteilen« (SWS 17, 130) zu denken. Hier wäre – Herders mehrfach vorgetragenem palingenetischem Konzept entsprechend46 – »die Zusammenkunft der Körper […] sehr entbehrlich« (SWS 17, 130), dafür eine Verbindung über »alle Zeiten, alle Beziehungen« (SWS 17, 132) möglich, die die »reine, helle, offenbare Wahrheit« durch die beinahe restlose Beseitigung persönlichen Umgangs sichern würde. Denn die »Taten« hießen in dieser Gemeinschaft »Poesie, Philosophie und Geschichte« (SWS 17, 131) und ihre Mitgliedschaft würde alle Namen der virtuellen Gelehrtenrepublik entlang der Kulturgeschichte umfassen. Damit sind die Ziele der Freimaurer gerettet, ihr Problem mit ihnen selbst aus der Welt geschafft, und eine Nullstufe von Allgemeinheit erreicht, die ihrerseits wieder zum Problem wird. Hieran wird Herder in seiner wiederholten Annäherung ans Freimaurertum um 1800 weiter arbeiten. Ein diesbezügliches Problembewusstsein lässt sich jedenfalls auch schon in den hier besprochenen beiden Extremtexten der Ablehnung freimaurerischer Institutionen dokumentieren. Hat die Rezension über Nicolais Schrift dem Interesse für Geschichte – dem ein Interesse an Geheimgesellschaften die Waage
44 J.G. Herder: SWS 17, S. 128; G.E. Lessing: Ernst und Falk, S. 32. 45 Ebd., S. 34. 46 Vgl. J.G. Herder: Tithon und Aurora; ders.: Das eigene Schicksal; ders.: Palingenesie.
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hielt – durch Fiktionalitätsbewusstsein gegengesteuert, so kann man auch hier Anzeichen einer ›literarischen‹ Relativierung der eigenen Position beobachten. Es ist gerade die seltsame Dramaturgie Herders, die die Gespräche zwischen Glaukon und Nicias sowie Nicias und Adimant interessant macht. Glaukon kommt als Bote Adimants zu Nicias, und diese ›Mediation‹ scheint auch dringend nötig. Denn zum Zeitpunkt des Gesprächs hat sich bereits alles entschieden, so dass Nicias, sollte er abraten wollen, überflüssig urteilt. Und der abwesende Adimant weiß auch sehr wohl, dass ihm Nicias »Zweifel, Gründe in den Weg legen« würde, und er kann nachträglich auch den Grund seiner Maßnahme, das Ergebnis der Befragung gar nicht erst abzuwarten, schlicht eingestehen: »ich wollte [nämlich Freimaurer werden, E. H.]« (SWS 15, 176). Glaukon hat seinerseits zwischen Adimants Wollen und Nicias’ Wissen zu vermitteln und tut es auch im Gespräch. Er ist es, der den freimaurerischen Geheimnis-Glauben mit anthropologischen Maximen unterwandert und erkenntnistheoretisch widerlegt. Auch macht er kein Hehl aus seiner Einschätzung freimaurerischer Aktivitäten. Dennoch ist er auch derjenige, der das bei Nicias ›warmlaufende‹ Urteilen zum einen abdämpft, zum anderen von der Philosophie wieder zurück aufs Institutionelle lenkt. »Winkel« seien, so Nicias, die geheimen Gesellschaften, »die sich dem Licht der Sonne verschließen« (SWS 15, 171). Dem enstprechen die symbolischen Ortswechsel, zu denen er zu Beginn und dann noch einmal im späteren Verlauf des Gesprächs Anstoß gibt: »Ich bitte Sie, m. Fr.«, sagt er zu Glaukon, »kommen Sie aus dieser Laube hinweg, so schön die Nacht ist. In unserm Klima haben wir von Tigern und Schlangen nichts zu fürchten; wenn wir aber befürchten müßten, daß eben jetzt, da wir ruhig sitzen und den schönen Orion ansehn, ein Unthier auf uns spränge –« (Ebd.). Denn für Nicias ist klar, welches »Unthier« hier zur Disposition steht, und dass die Dunkelheit für die »Gespräche des Verstandes […] nicht eben die bequemste Mittlerin und Freundin« (SWS 15, 165) ist. Umgekehrt findet Glaukon die einbrechende Nacht »gar zu schön«, und mehr als das: er »macht mich beherzter«, sagt er, »Dinge zu sagen, die ich vor der Lampe ohne eignes Erröthen vielleicht kaum sagen würde«. Und er fügt hinzu: »[A]uch bei Ihnen [Nicias] wird der sanfte Abend den Unwillen mildern, den Sie mit Recht über meine Erzählungen empfänden, wenn Sie mir dabei ins Auge sähen« (SWS 15, 171). Glaukon stellt sich zwischen Adimant und Nicias und »besänftigt«, wie die Nacht, »die Affecten und löscht die Flamme aus, die sich sonst durch den Anblick allein schon mitteilet« (Ebd.). Diesem Anblick ist der abwesende Adimant entwichen und ließ Nicias statt seiner dem mildernden Befragen Glaukons begegnen. Dieser nimmt seine Rolle wahr, indem er wiederholt Signale seiner Neugier gibt, ob bei Adimants Einweihung nicht dennoch etwas zu haben wäre, so dass dieser »sodann wie Paulus aus dem dritten Himmel
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sehr neue Dinge sagen« (SWS 15, 167) würde. Auch veranlasst Glaukon Überlegungen, ob die geheime Moral nicht als »eine geheime Wißenschaft der Moral« (SWS 15, 169) Hoffnung und Sinn machen könnte, ob sich hierzu nicht auch noch eine »geheime[…] Wißenschaft der Religion« (SWS 15, 170) finden ließe; und er bringt letztlich seine Zuversicht zur Sprache, dass die »Sonnenfinsterniß« (SWS 15, 172) der Freimaurerei vorüberginge – gar erst, wenn eine gerechte Auseinandersetzung mit ihr mehr Klarheit verschaffen würde.47 Glaukons Gegensteuern ist natürlich für kaum mehr als für ironisch leicht durchsetzte Gesprächsdramaturgie zu nehmen. Mit Nicias entscheidet sich auch er, wie später Adimant, gegen die geheimen Gesellschaften. Trotzdem ist mit ihm eine Systemstelle eröffnet, die in Herders später Auseinandersetzung mit dem Thema eine viel deutlichere Rolle spielen sollte. Ein geheimnisvoller Dritter taucht übrigens auch im Gespräch zwischen Nicias und Adimant auf. Kurz vorm Abbruch des Fragments verweist Adimant auf »ein[en] ehrwürdige[n] Greis«, der sich seiner im enttäuschenden Kreis der Freimaurer als ein »wahrer Engel« angenommen, und ihn mit den Worten beiseite genommen hätte, »heute bin ich nur Deinetwegen hergekommen; ich werde an Deiner Seite sitzen, und Du kommst künftig nur mit mir her« (SWS 15, 178). Weiteres ist darüber nicht mehr zu erfahren, der Vorfall lenkt jedoch die Aufmerksamkeit auf Nicias’ Doppelrolle im Gespräch als »mein Freund, mein Vater« (SWS 15, 175) zurück – auf einen Umgang, der trotz der Beteuerungen der Freundschaft auch mit – wenngleich väterlicher – Observanz zu tun hat. Merkwürdigerweise führt hier Adimant sogar den Begriff der Profanität im Kontext der Freundschaft – als Befürchtung der Verstoßung – ein48 und lockert damit den zwischen wahrer Freundschaft und unehrlichem freimaurerischem »Bruderband« (SWS 15, 178) aufgestellten Gegensatz. Ebendiese Doppeldeutigkeit bringt richtungsverkehrt der vertrauliche Alte in der rigiden Freimaurergesellschaft zum Vorschein. Als »mein Freund, mein Vater« findet sich ein »Bruder« (Ebd.), der gleichsam als
47 »Mich dünkt, lieber Nicias, mehr als Eine Eule habe dieses [das Wagnis des »Taglichts« E.H.] schon gethan; das Geschrei der kreischenden, bunten Vögel hinter ihr her habe aber auch nicht gefehlet. Wie war man dem Buch des erreurs et de la vérité auf dem Nacken und was hat die Wahrheit dadurch gewonnen?« J.G. Herder: SWS 15, S. 173. 48 »Grausam spotten Sie meiner, Nicias. Freilich habe ich mit meiner Erwartung Spott verdient; aber nicht von Ihnen, mein Freund, mein Vater. […] Sie sehen mich nicht als einen Profanen, als einen Verbannten an, da ich die Thorheit begangen habe, unbekannter Menschen Freundschaft zu suchen […]«. Ebd., S. 177.
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Nicias’ Pendant mitten unter den Freimaurern kritisch, reflexiv und menschlich agiert. Schließlich lässt sich ist auch im »Gespräch« von 1793 von einer Art dramaturgischem Surplus Notiz nehmen. Es ergibt sich aus der Rollenverteilung zwischen »Ich« und »Er« bzw. aus deren Umschlag im sogenannten »zweiten Gespräch«. Während in der Wiedergabe der Lessingschen Vorlage »Er« konsequent Falks Worte, »Ich« Ernsts Erwiederungen vermittelt, ergreift »Ich« die Initiative im »zweiten Gespräch« selbst und weist seinem vormals wortführenden Gesprächspartner seinerseits die Rolle des Lehrlings im mäeutischen Dialog zu. Dieses »Ich« ist natürlich identisch mit dem Briefsteller (26. Humanitätsbrief), dem man auch den Vorspann – ein Resümee des ersten Lessingschen Gesprächs – und die Unterbrechung des »Gesprächs« – ein Resümee des dritten Lessingschen Gesprächs – verdankt. Als »Ich« des »Gesprächs« setzt sich der Briefsteller jedenfalls selbst in Szene, und zwar, indem er einmal zum Medium für Lessings Ernst, ein andermal zum Meinungsträger in eigener Sache, gleichsam zum zweiten Falk wird. Dadurch, dass er hinter sein szenisches »Ich« zurücktritt, wird er zum Akteur einer zunächst nachgestellten, dann sich verselbstständigenden Szene – zu Ernst und Falk und eben deshalb zu keinem von beiden ganz. Der wichtigste Effekt ist dabei, dass die Lessingsche Vorlage in eben dem Maße auf die Erzählebene des Humanitätsbriefes erhoben wie umgekehrt dessen Aussage – wo doch ›Herder‹ statt ›Lessing‹ spricht49 – zurück auf die Ebene des literarischen Gesprächs gebracht wird. Die Wiedergabe des »[n]eulich« (SWS 17, 123) stattgefundenen Gesprächs, das wiederum zu großen Teilen Wiedergabe eines anderen literarischen Gesprächs ist – gesetzt, dass sie als solche erkannt wird –, lässt dessen Fortsetzung im Zwielicht rekursiver Fiktionalisierung erscheinen. Dies steht im Einklang mit der zentralen Aussage dieser Fortsetzung, der zufolge die einzig mögliche geheime Gesellschaft nur »[i]m Umgange mit Geistern auf Fausts Mantel« (SWS 17, 130) zu haben ist. Thematisch am äußersten Ende jeder glaubwürdigen Rehabilitation des Freimaurertums, ist das Feld literarisch für ebendieselbe Rehabilitation vorbereitet.
3. »Q UID
PRO QUO «
Herders »Freimäurer« (1802) betiteltes Doppelgespräch im Achten Stück der Adrastea und dessen im Nachlass erhaltene Fortsetzungen haben das Problem des freimaurerischen Geheimnisses wortwörtlich spürbar werden lassen. Herder
49 Zu deren Identifizierung mit »Ich« und »Er« vgl. M. Voges: Aufklärung, S. 204.
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musste über die Veröffentlichung Friedrich Ludwig Schröder Rechenschaft geben, mit dem er über die Reformierung der Hamburger Loge im Briefkontakt stand, und dem er im Winter 1800 detaillierte konzeptuelle und stilistische Kommentare zu den Entwürfen des Rituals zukommen ließ. Aus dieser halb profanen, halb freimaurerischen Beteiligung an der Redaktion resultierte, dass ihm Schröder nach Erscheinen des Gesprächs vorhielt, rituelle Details öffentlich gemacht zu haben.50 Herder hat sich zu rechtfertigen versucht, indem er sein Verfahren wie folgt charakterisierte: Der »Aufsatz über die FreiMaurer« sei zum Ersten »[g]esprächsweise [verfasst], wo Einer dies, der andre das meinet«; zum Zweiten handele er »[v]on Personen, die keine Freimaurer sind, selbst von einer Frauensperson«; drittens habe Herder diese Personen »[l]ediglich aus der Fama, diese sei schrift- oder mündlich, oder thätig sprechen laßen«, und viertens sei dabei eine »of[f]ne, freie, blos literarische, antiquarische, kritische Untersuchung«51 herausgekommen. Dennoch versichert Herder auch, dass die Gespräche für ihn nicht nur bezüglich des Konzepts der Adrastea wichtig waren – im betreffenden Stück werden »allerlei Institute, Mißionen, Juden, Jesuiten, Methodisten pp«52 abgehandelt –, sondern auch infolge der Situation des Freimaurertums ein Muss darstellten. Die Freimaurerei sollte in einer Zeit, in der so viel Ungerechtes und Falsches darüber veröffentlicht wird, ins rechte Licht gerückt und historisch verstanden werden. Tatsächlich befinden sich mit Faust, Horst und Linda drei Profane im Gespräch, die sich gleichsam dem Selbststudium widmen und den Freimaurer Hugo, der im dritten und vierten Gespräch sporadisch zu Wort kommt, gar nicht erst um Rat bitten – vielmehr eines Besseren belehren.53 Auch wenn sich die »Fama fraternitatis oder Ueber den Zweck der Freimäurei, wie sie von außen erscheint« ihres Titels – als einer zweiten Fama – ironisch bedient, scheint die Absicht sowohl in Herders Vorrede als auch im Munde der Dialogpartner(innen) ernsthaft die zu sein, einen »Ehrliebende[n], redliche[n] Bruder, dabei ein[en]
50 Zum Kontakt zwischen Schröder und Herder vgl. ebd., S. 205-213; Haym berichtet darüber viel kürzer; bei ihm gehen die unten zu behandelnden Differenzen der Gesprächspartner gänzlich durcheinander. Vgl. R. Haym: Herder, Zweiter Band, S. 843-846. 51 J.G. Herder: Briefe, Achter Band, S. 354. 52 Ebd. 53 Nicht von ungefähr treffen sie sich beide Male – im zweiteiligen ersten Gespräch (SWS 24, S. 127), und dann wieder ein Jahr darauf in der »Zweiten Unterredung« (SWS 24, S. 441) – ausgerechnet am Johannistag (an dem sich auch Freimaurer versammeln).
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genaue[n], ein[en] kritische[n] Kenner der Geschichte« (SWS 24, 130) herbeizuwünschen, oder eben selbst seine Rolle zu übernehmen54. Denn man muss gegen »Truggeschichten« (SWS 24, 129) vorgehen, die Gesellschaft der Freimaurer – so im »Basilika. Ueber die Freimäurei« überschriebenen dritten Gespräch – »von mancher falschen Hypothese rein abschneide[n]« und verhindern, dass der Orden »ewig mit der Lüge verwachsen bleib[t]« (SWS 24, 453). In dieser Absicht wird die »Fama fraternitatis« dominiert durch die duetthafte Verständigung Lindas und Fausts über ein Freimaurertum, das dem Lessingschen Extrem sehr nahe kommt. Mit expliziten Hinweisen auf Ernst und Falk erarbeiten sich die beiden ein »freie[s] und große[s] Feld[…]« der Abstraktion, auf dem »dies unsichtbare Institut« als ein »schönes Unternehmen« (SWS 24, 131) gewürdigt werden kann. »Es ist angenehm«, sagt Linda, »sich eine geschloßene, das Wohl der Menschheit berathende, im Stillen wirkende Männergesellschaft zu denken, denen ihr Werk gewißermaasse selbst ein Geheimniß seyn muß, daran sie wie an einem endlosen Plan arbeiten.« (Ebd.) Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft, so Faust in newtonistischer Metaphorik, »wirken nicht nur durch vereinte, sondern auch mit Fortwirken in die Ferne des Raumes und der Zeiten durch eine beschleunigte, vermehrte Kraft. Eine Gesellschaft ist unsterblich […]« (SWS 24, 134). Geradezu parodistisch wird dies wiederum auf das andere Geschlecht übertragen: Da Frauen die Öffentlichkeit eh versagt ist, schaffen sie »im Hause ein Paradies«, das nicht nur beruflich und standsmäßig verpflichteten Männern zugute kommt, sondern auch zum Modellfall freimaurerischer Exklusivität und Privatheit im Sinne Kosellecks wird.55 »Mit unsrer mehreren Elasticität und Seelenfreiheit sind wir gebohrne Freimäurerinnen am reinen Bau und Fortbau der Menschheit«, ruft Linda aus
54 Der Aufsatz »Freimäurer« umfasst die zwischenbetitelten Gespräche »Fama fraternitatis oder Ueber den Zweck der Freimäurei, wie sie von außen erscheint« (ebd., S. 127-138) und »Salomo’s Siegelring. Eine Fortsetzung des vorigen Gesprächs« (ebd., S. 139-148). Im Anhang zur Adrastea befinden sich folgende Fragmente: »Freimäurei. Zweite Unterredung« (ebd., S. 441-448); »Drittes Gespräch« (ebd., S. 448450); »Basilika. Ueber die Freimäurei. Drittes Gespräch« (ebd., S. 451-455); »Massonerie. Ueber die Freimäurerei. Viertes Gespräch«, ebd., S. 455-463. 55 Leicht entsteht hier der Eindruck, als ob die von Koselleck postulierte »Trennung zwischen einem weltlichen Außenraum und einem moralischen Innenraum« (R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 63) in geschlechtsspezifische soziale Rollen transformiert wäre. Lindas unten zu behandelnde Rolle als Dritte im Bund bekräftigt und überschreitet dies zugleich.
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und muss wieder wegen »große[r] Gedanken und Imaginationen« (SWS 24, 133) verwarnt werden. Verwarnt werden schließlich jedoch beide gemeinsam vom bis dahin eher schweigsamen Horst, der sie des »schönen Traum[s]« (SWS 24, 136) rügt und ihre Unterredung »auf einem Nebenwege« meint, »auf dem die Roße der Phantasie und der Empfindung mit euch munter davon flogen« (SWS 24, 139). Horsts eigenes Konzept wird im zweiten Teil des Gesprächs – überschrieben mit »Salomo’s Siegelring. Eine Fortsetzung des vorigen Gesprächs« (SWS 24, 139) – schrittweise entwickelt, jedoch schon hier mit einem Auszug aus Christoph Wrens Darstellung der gothischen Baukunst abrupt eingeleitet. Zur Disposition steht hier das große Dilemma zwischen operativem und spekulativem Freimaurertum, das mindestens zu Beginn der Gespräche als Skandal eines »grotesken Quid pro quo« (SWS 24, 128) empfunden wird: »Zwei so verschiedne Dinge« wie die Geschichte der Freimaurer und der Baukunst »mit einander zu vermengen«, ist für Faust, der eh an einer »unsterblichen« Gesellschaft interessiert ist, ein »Blendwerk« (Ebd.) und ein Scherz. Auch Horst will Verwechslungen aus dem Weg räumen und tut dies, indem er seine Gesprächspartner umgekehrt auf die operativen Anfänge, »die eigentliche Maurerei« (SWS 24, 141) aufmerksam macht. Hierzu gehört ein Studium der Quellen, zu dem die Gesprächspartner im Verlauf der Gespräche immer mehr ermuntert werden, bis hin zum »Massonerie. Ueber die Freimäurerei« betitelten vierten Gespräch, das regelrecht in Horsts »Basilika«, d.h. seiner Bibliothek stattfindet und mit gemeinsamer Lektüre verbracht wird. Im Sinne der Schröderschen (-Herderschen) Zurücklenkung des Freimaurerideals sowie -rituals auf die englischen Anfänge behauptet Horst »[a] mystery, ein Kunstgeheimniß« (SWS 24, 139) entdeckt zu haben. Entgegen den »philanthropischen Wünschen« (SWS 24, 449) Lindas und Fausts sei »noch Etwas anderes dahinter«, worauf jene mit ihrem »edlen Eifer fürs Höchste und Beste der Menschheit« (SWS 24, 139) nicht gekommen sind. Das Quidproquo positiv gewendet verlangt Horst, dass die freimaurerische Symbolik als solche ernst genommen und deren nur scheinbar banal anmutende Herkunft in der operativen Maurerei erkannt wird. Man liest »das Original« (SWS 24, 141) – mehrere sogar – gemeinsam, um einem »Handwerkslied« (SWS 24, 141), einer »Handwerksparabel« (SWS 24, 447), dem »Urbild der Maurerei« (SWS 24, 144) etc. zu begegnen. Dies löst das anfängliche Problem der unglaubwürdigen bis erlogenen Geschichte des Freimaurertums. Unter Rückgriff auf die Maurerei lässt sich eine Kontinuität historischer handwerklicher Aktivitäten setzen, die jede verdächtig anmutende Rückdatierung wenn nicht erklärt, so doch offen lässt. Gebaut wurde schon immer, und entsprechend dürfe sich die europäische Baukunst auch älterer Traditionen und Bilderwelten bedienen.
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Dabei geht es Horst gerade nicht darum, »de[n] Schmetterling von der Larve« (SWS 24, 450) zu trennen. Vielmehr dient der so erkannte Ursprung zur Neubestimmung des Freimaurertums. Die »Entwicklung der feineren aus der ursprünglichen groben Mäurerei« kann und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie »[v]om alten Handwerk […] indeß die massive Einfaßung bei[behielt]«: Denn »eben unter diesen dicken Mauern hat sie sich Jahrhunderte durch, welches sonst vielleicht nicht geschehen wäre, sicher erhalten« (SWS 24, 450). Noch mehr sei sie konstitutionell sowie konzeptionell immer noch eine »Kunstgesellschaft« (SWS 24, 449) und solle es auch bleiben. Sie hat durch ihre Symbole die rohe »Natur« (SWS 24, 445) des Menschen – historisch eines »Trupp[s] Arbeiter« (SWS 24, 445) – gemaßregelt und in Form einer geordneten Gesellschaft gebracht. In diesem konkreten Sinne ist sie immer schon Arbeit am Menschen und nicht lediglich ein erst zu bewerkstelligendes Verfolgen abstrakter Prinzipien. Das Freimaurertum vergegenwärtigt die Idee von Gesellschaft als techné und nicht als Ideal. Als solches stellt es eine Organisation, eine mit allen ihren symbolischen Handlungen verbundene Institution dar, die ein – niemals nur im Singular zu denkendes – Beispiel gemeinsamen, d.h. geregelten Handelns abgibt. In dieser Eigenschaft soll sie das Vorbild von »allen Künsten« (SWS 24, 449) im Sinne menschlichen Könnens werden. »Die Regel jeder Kunst und aller Künste sollte sie enthalten«, sagt Faust in seiner Rolle als Horsts mäeutischer Gesprächspartner, »denn auf Lineal und Winkelmaas, auf Bleigewicht und Cirkel beruhet Alles«. »Nicht Alles«, fügt Horst noch hinzu: »Der Geist des Werks nicht; diesen sollte sie in allen Künsten aufwecken oder aufmuntern. […] [D]er Geist der Künste will von Geistern aufgemuntert seyn, von freien Menschen« (SWS 24, 449). Diesen Raum von Freiheit hat jedoch der Staat selbst, der nicht für alles sorgen kann, für Wesensverwandtes und nicht von ungefähr offengelassen.56 »Freimäurer«, erklärt also Faust, »was das Vaterland nicht thut, das thut ihr, und erweckt und belohnt die Künste« (Ebd.). Die Idee eines »Staates im Staat«57 – ehemals ein Vorwurf – wird hier ebenso funktionalisiert, wie
56 Die Spannung zwischen der proklamierten Politik-Absenz und der »für das neue Bürgertum typische[n] Bildung einer indirekten Gewalt« (ebd., S. 55) ist hier entschärft durch eine Art Lizenzierung von Kontrolle durch den Staat selbst. Vgl. dazu Herders Aufsatz »Atlantis« aus dem selben Stück der Adrastea. 57 Stellvertretend für eine Fülle ähnlicher Wortlaute sei hier Johann Christoph Harenberg zitiert: »Und was haben denn diese Gesellschafter, das zum besten des Staats gerechnet werden kan? Sie machen einen neuen Staat im Staate; Sie machen sich eine eigene gottesdienstliche Bildung der Pflichten, wornach sie sich in ihren Zusammenkünften richten. […] Sie geben ihren Gliedern Gesetze und Verordnungen. Sie verehren den
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der Geist, der eindeutig auf das zu verrichtende Werk – auf Arbeit, Kunst und techné – bezogen wird. Die Gesellschaft wird zur Verschachtelung von Zünften, der Staat selbst zu deren höchstem Maßstab erklärt. Abgesehen vom Fragmentcharakter der Fortsetzungen verlaufen die Gespräche von Fausts und Lindas Extremposition – von ihren »philanthropischen Wünschen« – zur Extremhaltung Horsts, der es am liebsten hätte, wenn »aus wohlbekannten Büchern alles haarklein erwiesen« (SWS 24, 442) wäre. Für Horst ist Faust »auf gutem Wege« (SWS 24, 448) und bereits an einer signifikanten Stelle des veröffentlichten zweiten Gesprächsteils genau da, »wohin ich dich haben wollte« (SWS 24, 141). Dennoch bleibt es insgesamt nicht bei Horsts Kunstgeheimnis. Ohne das Gegengewicht, das das mäeutische Gespräch vor allem in Gestalt des zum Nachdenken und -forschen zu motivierenden Faust bietet, würde sich Horst gänzlich dem Historisch-Philologischen – seiner Bibliothek – widmen oder eben im Praktisch-Konstitutionellen – in freimaurerischen Organisationslogiken – vertiefen. Im ersten Fall wäre ein für die Leserschaft der Adrastea langfristig uninteressantes, im zweiten ein der Geheimhaltung unterliegendes Thema angesprochen. Statt dessen sichert die Dynamik der Gespräche einen Ausgleich der Differenzen, der sie zum einen kommunikabel macht, zum anderen einem mittleren Standpunkt zwischen einem ›Lessingschen‹ (Faust) und einem ›Nicolaischen‹ (Horst) Verständnis von Freimaurertum annähert. Diese Mitte konstituiert sich durch Koppelung abgehobener Zielsetzungen und institutioneller Festlegungen. Das oben zitierte – und von Faust fleißig mitformulierte – Ergebnis eines zunftmäßigen Staates im Staat beruht auf einer Einigung, zu der die Gesprächspartner je nach ihrem eigenen Anliegen zunehmend gelangen: Demnach beruht das Freimaurertum auf einer ebenso idellen wie reellen organisatorischen Handhabung von Menschen zwecks ebenso ideellen wie reellen Wirkens. Diese Annäherung des Abstrakten (Profanen) einerseits und Konkreten (Geheimen) andererseits bringt auch mit sich, dass die um das Freimaurertum herum gelagerten Legenden als historische Bilderwelten erkannt und in ihrer Eigenschaft als Momente von Institutionalisierung betrachtet werden. Man darf bis auf den Salamonischen Tempelbau zurückgehen, weil bzw. insofern Mythenbildungen immer schon ihre historische Funktion und ihren Sinn – und zwar nicht nur für Maurergesellschaften – gehabt haben. Und man darf sich weiterhin organisieren – etwa Logen bilden –, weil bzw. insofern man damit kollektive Handlungsmuster schafft und aufrechterhält. In diesem Sinne hält die »heilige Brüder-
Wink ihres Logemeisters. Sie verbinden ihre Mitglieder durch einen Eyd, um davon, was sie beschliessen, nichts zu eröfnen. Ist dies nicht ein kleiner Staat im Staate?« J.Ch. Harenberg: Beweis, S. 29-30; vgl. M. Voges: Aufklärung, S. 30.
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schaft« des späteren Freimaurertums die »Abgezogenheit reiner Gedanken« (Faust) »umfangen, enge umschränkt, aber innig vestgebunden« durch »eine Art Mäurerei, Steinfügung« (Horst), unter deren Zeichen die salomonischen »Genien und Geister«, wenngleich »unwillig-gerne«, aber wortwörtlich »arbeite[…]n« (SWS 24, 460).58 Über den Sinngehalt dieses Quidproquo von abstrakt und konkret, profan und geheim, spekulativ und operativ werden sich Faust und Horst einig, und auf diesen historisch-philosophisch eingelassenen Begriff von Organisation kommt es auch Herder als Verfasser der Gespräche an. Im Rückblick auf Herders frühere Freimaurerschriften kann man dies auch als Rehabilitierung des im engeren Sinne Freimaurerischen lesen. Dass es dennoch um mehr als das geht, kann eine weitere, den Adrastea-Gesprächen ebenfalls eingeschriebene Alternative bekräftigen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit wieder weg vom Freimaurerischen und zurück auf die Gespräche selbst. Lindas Rolle ist in der Profanen-Trias schon insofern interessant, als ihr allein die Möglichkeit freimaurerischer Aktivität prinzipiell versagt ist. Als Frau ist sie am weitesten weg vom Thema. Umgekehrt steht ihr als dennoch hinzugezogener Gesprächspartnerin die größte Freiheit in Behandlung der besprochenen Fragen zu. Auch hält sie nicht konsequent durch mit Faust – freilich auch dieser selbst nicht – im Ideellen Lessingscher Provenienz. Statt dessen entwickelt sie eigene Argumente und eine besondere Strategie der Teilnahme am Gespräch. Vor allem letztere setzt sie dann in Stand, die Position eines Dritten einzunehmen und einmal die Schiedsrichterin, ein andermal die Rolle einer je nachdem aktiven oder passiven Gestalterin des Gesprächs zu spielen. Darin, was Linda argumentativ ins Gespräch einbringt, fallen überraschende bis unpassende Momente auf. Naiv und zugleich zutiefst ironisch bekundet sie ihr Interesse für eine Geschichte der Freimaurer, die ihr, wie sie versichert, lieber ist »als manche geheime Burg unsrer Romane« (SWS 24, 130). Nicht von ungefähr erinnert sie sich später wieder »eines Romans«, in dem sie die »im Stillen wirkende Männergesellschaft« durch »ein[en] hülfreiche[n] Mönch« (SWS 24, 131) präfiguriert sieht. Unbehelligt zitiert sie des Weiteren Klopstock und »den Spruch der Dido« (SWS 24, 135), hält sich »an die Penelope« (SWS 24, 146) und zeigt sich, da sie »Mährchen gnug gelesen« (SWS 24, 143), durchaus bewandert in der Sagenwelt Salomos. Mag Lindas Belesenheit bzw. deren Lektüreprofil ihren Standort als Frau unter Männern einmal mehr kennzeichnen, so wird dadurch auch mehr als das vorbereitet. Während die Männer Worte sprechen und zitieren, unterbricht sie das Gespräch mehrfach durch Singen: sie greift zur »Aeolsharfe« (SWS 24,
58 Zur Geschichte des Salomonischen Tempelbaus: J.G. Herder: SWS 24, S. 143-145; vgl. ders.: SWS 10, S. 1316, 1322 (Kommentar).
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141), skandiert einen »Juden-Canon« (SWS 24, 146) und benutzt die »Guitarre« (SWS 24, 148). Solche Handlungssegmente sind zwar für die Fortsetzungsgespräche nicht mehr charakteristisch, dennoch ist deren Konsequenz spürbar. Durch die Musik wird ein dem Freimaurertum wesensfremdes Element ins Spiel gebracht,59 das, gepaart mit dem prononcierten Hang der Leserin für bloße Fiktionen, die Ernsthaftigkeit des Gegenstandes wie des Gesprächs darüber gleichsam ausklinkt. Linda ist es auch, die während der Gespräche nach eigenen Regeln kommt und geht,60 die den Verlauf unterbricht, Ortswechsel veranlasst und Abschiede inszeniert.61 Am Ende des veröffentlichten Doppelgesprächs verteilt sie nicht nur Aufgaben, die auf das Weitere vorausdeuten, sondern wird zur Richterin, die den ›streitenden Parteien‹ ihr Urteil – ein literarisch-freimaurerisches Orakel – verkündet: »Wohlan dann! […] Was soll ich sagen, meine Freunde? Dir, Horst, möchte ich sagen: ›der Zauberring Salomons ist zerbrochen, die Geister sind frei!‹ oder in der neueren Sprache: ›das alte Wort ist verlohren! […]‹. […] Dir, Faust, gebe ich zu deinen Untersuchungen ein morgenländisches Mährchen mit auf die Reise: denn, wie Horst sagt, Licht und die Mäurerei kommen von Osten.« (SWS 24, 147) Das Doppelgespräch schließt mit Lindas vieldeutigem Ausspruch: »Hört ihr, Freunde! Ist nicht die Aeolsharfe eine wahre Fama fraternitatis?« (SWS 24, 148). Und dies trifft auch zu, akzeptiert man Lindas Rolle wenigstens ansatzweise als die einer Dialogfigur, die durch die ihr eigene doppelte Fremdheit (als Profane und Frau) das Thema ständig aufhebt und zugleich weiterführt. Sie markiert die Stelle, an der das Freimaurertum ein dezidiertes Gesprächsthema und dadurch einem Medium überlassen wird, das durch Zeichen – maurerische wie nichtmaurerische – wirkt und sich insofern alternativ zu Horsts/Fausts Verständigung über das Quidproquo des Abstrakten und des Konkreten verhält.62 Was beide, die Arbeit am Menschen
59 »›Wir Freimaurer singen nur bei Tafel‹, sagte Jemand, ›Tafellieder. Unser Werk selbst ist stumm und pantomimisch.‹ ›Schade‹, sagte der Andere, ›da doch Gesang, Gesang und Modulation, von Symbolen und Gebehrden fast unabtrennlich ist, und ihn das Heilige, Wartende der Nacht erfordert.‹ – Eine Stimme, ein kurzer Chorgesang in dieser Stille, wie erhebend könnte es werden« – schreibt Herder an Schröder in der Beilage zum Brief v. 6. November 1800. J.G. Herder: Briefe, Neunter Band, S. 628. 60 Ders.: SWS 24, S. 127, 449, 457. 61 Ebd. S. 141-142, 146, 148, S. 448, S. 463. 62 Voges schreibt, es sei »nicht eindeutig zu erkennen, ob Herder mit der Figur Lindas, einer eifrigen Romanleserin, […] die in den Gesprächen gegebene humanitäre Bestimmung der Maurerei ironisch brechen wollte. […] Vor dem Hintergrund des Briefwechsels mit Schröder und der Beteiligung an dessen Reform […] ist es wahrschein-
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(als Kunst/techné einer Institution) und Lindas Arbeit an Zeichen (als eigenwillige Ästhetik dieser Institution im Gespräch) jedenfalls verbindet, ist das Vermitteln von Extremen, die als Einschätzungen der freimaurerischen Problemlage im früheren Werk Herders gegolten haben. Es geht hier um ein Drittes, das nicht nur deshalb vage bleibt, weil es mehr erschrieben als ausgeheckt ist; vage ist es auch deshalb, weil der Stillstand fester Meinungslagen nicht zu seiner Eigenart gehört. Gleichwohl waren die hier hervorgekehrten Alternativen für die Forschung nicht explizit genug, die Komplexität der Adrastea-Gespräche erkennen zu lassen. Und die neutralen bis abschätzigen Urteile sind biographisch untermauerbar. Liest man Herders Briefe an Schröder und die Vorschläge, die er zur Reform der Hamburger Loge gemacht hat, so kann leicht der Eindruck entstehen, als handle es sich hier um das »Modell eines humanitären Männerbundes im Dienst tätiger Nächstenliebe«63, das wiederum symptomatisch für eine Geschichte ist, die das progressive Freimaurertum des 18. Jahrhunderts in der – wohl biederen – Vereinsgeschichte des 19. Jahrhunderts aufgehen lässt.64 Denn Herder kommentiert den Text des Rituals mit der Postulierung von »Einfalt, Kraft und Wahrheit«65, von »Honetität, Treue, Ehre [und] Glauben«66. »Eine namentliche Angelobung«, schreibt er, »der schwersten menschlichen Tugenden und Thätigkeiten, der Hülfe für Wittwen und Waisen gegen Unterdrückung und Unrecht[;] Großmuth gegen Feinde, in Allem stille Großmuth pp., welch’ großes reines Gelübde!«67 Und im zeitgleich entstandenen Aufsatz »Ursprung, Mystery und Verwandlung der FrM aus dem alten ins neue Wort«, der sich auch als historische Vorstudie zu Horsts Ansichten liest – da geht es auch darum, »die Sache ganz aufs Reine zu bringen, mit allen Erweisen«68 –, heißt es ebenfalls: »Wer wünscht nicht noch jetzt in Europa eine solche still-, fast gegründete Tugend-Fleiß-
lich, daß Herder die Figur Lindas eher zur Steigerung der Wirksamkeit seiner Reformbotschaft eingesetzt hat, daß die Ironie also eine unfreiwillige war.« M. Voges: Aufklärung, S. 221; im vorliegenden Ansatz gehen Steigerung und Ironie als dramaturgische/versprachlichte Überhöhung ›einfacher‹ Lösungen miteinander einher. 63 Ebd., S. 222. 64 Ebd., S. 18-21. 65 Herder an Schröder, 6. November 1800. In: J.G. Herder: Briefe, Neunter Band, S. 625. 66 Ebd., S. 632. 67 Ebd., S. 630. 68 Ders.: Ursprung III, § 18; Zum Aufsatz vgl. M. Voges: Aufklärung, S. 213-217.
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Kunstgesellschaft für alle Brauchbarkeiten des Leben[s]?«69 Dennoch taucht auch in solchen Kommentaren ansatzweise ein Zwitterbegriff – eine Abwandlung der freimaurerischen Arbeit auf, die zum einen »reel«, zum anderen »rein kosmopolitisch, menschlich«70 sein sollte. Mit Bezugnahme auf Benjamin Franklin und dessen philanthropisch-philosophische Gesellschaft in Philadelphia würdigt Herder die Verwandlung des symbolischen Rituals »in Uebung und That«71: »[Z]u Vorlesereien ist die Frei Maurerei nicht bestimmt; sondern zur thätigen Uebung des Verstandes und Herzens, thätiger Beihülfe und Veredlung, ja Erweckung und Rettung des Menschengeschlechts.«72 Der Grund hierfür ist historisch: »Die ganze Tendenz unserer Zeit will diese Arbeit. – Der Symbole ist man satt; wir wollen sie in Wirksamkeit verwandelt sehen, und doch lieben wir Leitung, Regel unter Symbolen.«73 So wie der zuletzt zitierte Satz rekursiv zu seinem Beginn zurückkehrt, ist selbst in diesen, im pragmatischen Zusammenhang entstandenen Schriften etwas von dem bereits enthalten, was Horst, Faust und Linda zwei Jahre später im Gespräch austragen sollten. Dieses Engangement lässt sich weder zu ideellen – klassisch-weimarischen bis progressiven – noch zu reellen – geheimbündlerischen bis wohltätigen – Zwecken ganz benutzen.74 Der Sinn des Ganzen bleibt Verhandlungssache, als solche im Besitz eines Literaten, der zwischen Extremen vermittelt und die Humanität ebenso tätig wie die Tat geschichtsphilosophisch werden lässt.
L ITERATUR Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit (Archäologie der literarischen Kommunikation V,1), München: Fink 1999. — »Die Erfindung des Geheimnisses durch die Neugier«, in: dies., Schleier und Schwelle. Geheimnis und Neugierde (Archäologie der literarischen Kommunikation V,3), München: Fink 2002, S. 7-11.
69 J.G. Herder: Ursprung I, § 17. 70 Herder an Schröder, 6. November 1800; ders.: Briefe, Neunter Band, S. 635. 71 Vgl. die »Fragen zu Errichtung einer Gesellschaft der Humanität von Benjamin Franklin« im 3. Humanitätsbrief. Ders.: SWS 17, S. 10-16. 72 Herder an Schröder, 6. November 1800, ders.: Briefe, Neunter Band, S. 635. 73 Ebd., S. 636. 74 Vgl. E. Hárs: Herders agency.
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— »Einführende Bemerkungen«, in: dies., Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, S. 7-16. Harenberg, Johann Christoph: Beweis, daß die Freimäurergesellschaft in allen Staaten sowohl etwas überflüßiges, als auch ohne Einschränkung, etwas gefährliches, schädliches und verbietungswürdiges sey. […], Danzig/ Leipzig: o. V. 1764. Hárs, Endre: »Herders agency«, in: Anna Babka/Julia Malle/Matthias Schmitt (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Anwendung. Kritik. Reflexion, Wien: Turia & Kant 2011 (im Druck). Haym, Rudolf: Herder, 2 Bände, Berlin: Aufbau 1954. Herder, Johann Gottfried: Sämmtliche Werke [SWS], 33 Bände (Hg. Bernhard Suphan u.a.), Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1877-1913, Olms, Hildesheim/New York: Reprint 1967-1968. — Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803, 10 Bände (Hg. Wilhelm Dobbek/Günter Arnold), Weimar: Böhlau 1977-1984. — »Atlantis«, in: SWS 24, S. 164-176. — »Basilika. Ueber die Freimäurei. Drittes Gespräch«, in: SWS 24, S. 451-455. — »Briefe über Tempelherrn, Freimäurer und Rosenkreuzer. Eine Fortsetzung der Historischen Zweifel über des Herrn Nicolai Buch von den Beschuldigungen, welche dem Tempelherrnorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß; nebst einem Anhange über das Entstehen der Freimäurergesellschaft, von Friedrich Nicolai […]«, in: SWS 15, S. 82-121. — »Das eigene Schicksal«, in: SWS 18, S. 404-420. — »Drittes Gespräch«, in: SWS 24, S. 448-450. — »Freimäurei. Zweite Unterredung«, in: SWS 24, S. 441-448. — »Freimäurer«, in: SWS 24, S. 126-148. — »Gespräch über eine unsichtbar-sichtbare Gesellschaft«, in: Briefe zur Beförderung der Humanität, 26. Brief, in: SWS 17, S. 123-132. — »Glaukon und Nicias«, in: SWS 15, S. 156-178. — »Historische Zweifel«, in: SWS 15, S. 57-82. — »Massonerie. Ueber die Freimäurerei. Viertes Gespräch«, in: SWS, S. 455463. — »Palingenesie. Vom Wiederkommen menschlicher Seelen. Mit einigen erläuternden Belegen«, in: SWS 16, S. 341-367. — »Tithon und Aurora«, in: SWS 16, S. 109-128. — »Ursprung, Mystery und Verwandlung der FrM aus dem alten ins neue Wort«, in: Herder-Nachlass (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin), Signatur XXXI, 11.
D AS » UNSICHTBARE I NSTITUT «
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Knigge, Adolph Freiherr: »Beytrag zur neuesten Geschichte des Freymauerordens in neun Gesprächen«, in: ders., Ausgewählte Werke in zehn Bänden, Bd. 7, Philosophie II. Ordenswesen (Hg. Wolfgang Fenner), Hannover: Fackelträger 1994, S. 191-275. Knoop, Douglas/Jones, Gwilym Peredur: Die Genesis der Freimaurerei: ein Bericht vom Ursprung und Entwicklung der Freimaurerei in ihren operativen, angenommenen und spekulativen Phasen, Bayreuth: Freimaurerische Forschungsgesellschaft Quatuor Coronati 1968 [1947]. Koschorke, Albrecht: »Institutionentheorie«, in: Eva Eßlinger et al. (Hg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 49-64. Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 61989. Lessing, Gotthold Ephraim: »Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer«, in: ders., Werke und Briefe, 12 Bände in 14 Teilbänden. Bd. 10, Werke 17781781 (Hg. Arno Schilson/Axel Schmitt), Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2001, S. 11-72. Michelsen, Peter: »Die ›wahren Taten‹ der Freimaurer. Lessings ›Ernst und Falk‹«, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg: Lambert Schneider 1979, Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, S. 293324. Müller, Paul: Untersuchungen zum Problem der Freimaurerei bei Lessing, Herder und Fichte, Bern: Paul Haupt 1965. Nicolai, Friedrich: Versuch über die Beschuldigungen welche dem Tempelherrenorden gemacht worden, und über dessen Geheimniß. Nebst einigen Anmerkungen über das Entstehen der Freymaurergesellschaft, Zwei Teile, Berlin und Stettin 1782. Nisbet, Hugh Barr: »Zur Funktion des Geheimnisses in Lessings Ernst und Falk«, in: Lessing und die Toleranz […] (Hg. Peter Freimark/Franklin Kopitzsch/Helga Slessarev), Sonderband zum Lessing Yearbook, Detroit: Wayne State University Press/München: edition text+kritik 1986, S. 291309. Schrader, Fred E.: »Zur sozialen Funktion von Geheimgesellschaften in Frankreich zwischen Ancien Regime und Revolution«, in: A. Assmann/ J. Assmann (Hg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, S. 179-193. Simmel, Georg: »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft«, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig: Duncker&Humblot 1908, S. 337-402.
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Solf, Hans-Heinrich: »Die Funktion der Geheimhaltung in der Freimaurerei«, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg: Lambert Schneider 1979, Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, S. 43-49. Voges, Michael: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 1987. Voigts, Manfred: »Thesen zum Verhältnis von Aufklärung und Geheimnis«, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Offenbarung (Archäologie der literarischen Kommunikation V,2), München: Fink 1999, S. 65-80. Wilson, Daniel W.: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart: Metzler 1991.
Das Netzwerk der Libertinage Infamie und Tausch bei D.A.F. de Sade A CHIM G EISENHANSLÜKE
1. D AS R ECHT
DER
L ITERATUR
Als Jacques Derrida in einem Interview aus dem Jahre 1992 diese »merkwürdige Institution namens Literatur« zum Gegenstand der Reflexion nahm, hatte er zwei Seiten der Bestimmung von Literatur als Institution im Blick: »Literatur als historische Institution mit all ihren Konventionen, Regeln usw., aber auch jene Institution der Fiktionalität, die einem im Prinzip die Macht verleiht, alles zu sagen, die Regeln abzuschütteln.«1 Trotz aller theoretischen Unterschiede zwischen Dekonstruktion und Diskursanalyse führt Derrida damit eine ähnliche Diskussion wie Michel Foucault, für den die Literatur auf der einen Seite die Möglichkeit eines »Gegendiskurses« eröffnet, auf der anderen Seite aber selbst integraler Bestandteil einer Diskurspraxis innerhalb eines Machtdispositivs ist, von der sie sich letztlich nicht freizumachen vermag. Derridas Hinweis, dass Literatur das Recht verkörpert, alles zu sagen, wobei diese Freiheit eben auch als eine Form des Zwangs ausgelegt werden kann, ist in ähnlicher Weise wie Foucaults Bestimmung der Literatur als Gegendiskurs erkennbar auf moderne Literatur gemünzt. So nennt er selbst u.a. Joyce, Pound und Céline und wie schon Foucault Artaud und Bataille, um seine These zu stützen, Literatur könne im Unterschied zu anderen Diskursen, zum Beispiel dem der Philosophie, im Prinzip alles sagen. Das Recht der Literatur, alles zu sagen, hat, so wäre hinzuzufügen, allerdings schon vor dem Beginn der Moderne eine prägnante Form gefunden, und zwar im Werk des Marquis de Sade. In diesem Zusammenhang
1
J. Derrida: Diese merkwürdige Institution, S. 91.
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wäre Sade, wie schon Roland Barthes herausgearbeitet hat, im Foucaultschen Sinne geradezu als ein Diskursivitätsbegründer zu verstehen. »La grandeur de Sade n’est pas d’avoir célébré le crime, la perversion, ni d’avoir employé pour cette célébration un langage radical; c’est d’avoir inventé un discours immense, fondé sur ses propres répétetions (et non sur celle des autres), monnayés en détail, surprises, voyages, menus, portraits, configurations, noms propres, etc.: bref, la contrecensure, ce fut, à partir de l’interdit, de faire romanesque.«2
Zwar will Foucault in seinem Aufsatz Was ist ein Autor? die Funktion des Romanautors, wie er am Beispiel von Ann Radcliffe als der Begründerin des Schauerromans deutlich macht, von den wahren Diskursivitätsbegründern wie Marx oder Freud unterschieden wissen, da nur letztere »une possibilité indéfinie de discours«3 geschaffen hätten. Im Fall Sades stellt sich allerdings die Frage, ob er nicht als in seiner Zeit unmöglicher Romanautor letztlich einen Diskurs begründet hat, der weit über die Libertinage hinausgeht und eine »Ästhetik der Delinquenz«4, so Manfred Schneider, das philosophische wie literarische Schreiben über Sexualität, Verbrechen und Strafe in der Moderne bis zu Bataille und zu Foucault selbst entscheidend mitbestimmt hat. Um diese Problemstellung zu erörtern, geht der vorliegende Aufsatz zunächst auf Foucaults alles in allem zwiespältige Einschätzung des Sadeschen Werkes ein, um die Analyse in einem zweiten Schritt um die Vermittlungsfigur von Georges Bataille zu erweitern. Die exemplarische Analyse einer Passage aus Sades La Nouvelle Justine soll es darüber hinaus erlauben, das infame Netzwerk der Libertinage und den damit verbundenen Zusammenhang von Literatur und Institution näher zu bestimmen. Dass das Netzwerk der Libertinage, das Sade in seinem Doppelroman um die ungleichen Schwestern Justine und Juliette entfaltet, auf einer Logik des Tausches ruht, die mit Foucault zugleich als eine bestimmte Form der Infamie zu bestimmen ist, weist zugleich auf die enge Verknüpfung von Recht und Literatur, von ästhetischen und juristischen Diskursformen hin, die die historische Institution Literatur bis heute prägen.
2
R. Barthes: Sade, Fourier, Loyola, S. 812.
3
M. Foucault: Qu’est-ce qu’un auteur?, S. 805.
4
M. Schneider: Ästhetik der Delinquenz.
D AS N ETZWERK DER L IBERTINAGE
2. S ADE
UND DIE
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S CHWELLE DER M ODERNITÄT
Foucaults Verhältnis zu Sade ist ambivalent. In der Ordnung der Dinge führt er Sade als einen Autor ein, der nicht nur an der Schwelle zur Moderne steht, sondern diese in der Überschreitung der klassischen Repräsentation selbst verkörpert: »Ce renversement, il est contemporain de Sade. Ou plutôt, cette œuvre inlassable manifeste le précaire équilibre entre la loi sans loi du désir et l’ordonnance méticuleuse d’une représentation discursive.«5 Für Foucault ist Sade eine epochale Figur, die den Übergang von der klassischen Ordnung der Repräsentation zur modernen Ordnung des Menschen markiert. In diesem Sinne nutzt Foucault in Die Ordnung der Dinge literarische Texte – Don Quixote, La Princesse de Clèves, Mallarmé und eben auch Sade –, immer wieder, um epochale Zäsuren zu verdeutlichen und zu veranschaulichen. Das gilt auch für seine Einschätzung des Werkes Sades. Auf der einen Seite sei dieses ganz und gar von dem Zwang zur Repräsentation bestimmt: »Il y a un ordre stricte de la vie libertine: toute représentation doit s’animer aussitôt dans le corps vivant du désir, tout désir doit s’énoncer dans la pure lumière d’un discours représentatif.«6 Auf der anderen Seite überschreite das schrankenlose Begehren, wie es in Juliette seine Darstellung findet, die Grenzen der Repräsentation. In ähnlicher Weise wie die zwei Teile des Don Quixote stellt Foucault Justine und Juliette genau an die Schwelle von Klassik und Moderne: »Peut-être Justine et Juliette, à la naissance de la culture moderne, sont-elles dans la même position que Don Quichotte entre la Renaissance et le classicisme«7, schreibt Foucault, um Justine diesseits und Juliette jenseits der Klassik anzusiedeln: »Justine correspondrait à la seconde partie de Don Quichotte; elle est objet indéfinie du désir dont elle est la pure origine, comme Don Quichotte est malgré lui l’objet de la représentation qu’il est lui-même en son être profond.«8 So wie Don Quixote in Foucaults geschichtsphilosophischer Darstellung am Anfang der Klassik steht, so Justine an ihrem Ende. Juliette hingegen sei schon über das klassische Denken der Repräsentation hinaus: »Juliette, elle, n’est rien de plus que le sujet de tous les désirs possibles; mais ces désirs sont repris sont résidu dans la représentation qui les fonde raisonnablement en discours et les transforme volontairement en scènes.«9 Die theatralische Inszenierung des Begehrens bei Sade deutet Foucault als den
5
M. Foucault: Les mots et les choses, S. 222.
6
Ebd.
7
Ebd.
8
Ebd., S. 223.
9
Ebd.
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Schritt in die Moderne und damit zugleich als einen Schritt hin zu den Themen, die ihn selbst interessieren: »Sade parvient au bout du discours et de la pensée classique. Il règne exactement à leur limite. A partir de lui, la violence, la vie et la mort, le désir, la sexualité vont étendre, audessous de la représentation, une immense nappe d’ombre que nous essayons maintenant de reprendre comme nous pouvons, en notre discours, en notre liberté, en notre pensée.«10
In dieser Perspektive, die vor Foucault bereits Jacques Lacan in seinem Aufsatz Kant avec Sade aus dem Jahre 1963 formuliert hatte,11 erscheint Sade nicht nur als eine Figur, die das moderne Sprechen über die Sexualität bis hin zu Bataille entscheidend mitbestimmt habe. Auch Foucaults eigene philosophische Überlegungen zum Zusammenhang von Grenzerfahrungen wie Wahnsinn, Verbrechen, Sexualität und Tod scheinen sich zu nicht unwesentlichen Teilen aus dem Sadeschen Kosmos zu speisen. In einem Interview spricht Foucault Sade daher geradezu als den Begründer der modernen Literatur an: »Or, dans la mesure où Sade a rédigé son œuvre en prison et où, de plus, il la fonde sur une nécessité intérieure, il est le fondateur de la littérature moderne. Autrement dit, il y a un certain type de système d’exclusion qui s’est acharné sur l’entité humaine appelée Sade, sur tout ce qui est sexuel, sur l’anomalie sexuelle, sur la monstruosité sexuelle, bref sur tout ce qui est exclu de par notre culture. «12
Verbrechen, Sexualität, Wahnsinn, all die Themen, mit denen Foucault sich lebenslang auseinandersetzt, finden im Werk Sades eine erste Verdichtung. Bei ihm erkennt er »une espèce d’exaltation (au moins dans le cas de Juliette) du sujet, exaltation qui conduit à son explosion complète«13, jene Auflösung der philosophischen Subjektivität, die er auch bei Blanchot und Bataille am Werk sieht. »Ce qui s’étale et s’exprime de lui-même est le langage et la sexualité, un langage sans personne qui le parle, une sexualité anonyme sans un sujet qui en
10 Ebd., S. 224. 11 »Sade est le pas inaugural d’une subversion«, schreibt Lacan, um »l’ordre infâme« seines Schreibens zur Geltung zu bringen. J. Lacan: Kant avec Sade, S. 765; 770. Wie später Foucault erkennt er in der Einführung des Begehrens zugleich die Modernität Sades: »C’est la liberté de désirer qui est un facteur nouveau«. Ebd., S. 785. 12 M. Foucault: Folie, littérature, société, S. 109. 13 Ders.: »Qui êtes-vous, professeur Foucault?«, S. 615.
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jouisse.«14 Dass es bei Sade kein Subjekt im modernen Sinne gibt, macht ihn für das postmoderne Denken jenseits des Menschen, das Derrida und Foucault auf unterschiedliche Weise verkörpern, zum Vorbild. In dieser Hinsicht scheint die positive Wertung Sades, die Foucault mit Lacan, Klossowski, Barthes, aber auch mit Horkheimer/Adorno teilt, zunächst eindeutig zu sein. Die Wertschätzung Sades als des Begründers der literarischen Moderne erfährt in den späteren Schriften Foucaults jedoch eine immer größere Zurücknahme. So behauptet Foucault schon in einem Gespräch aus dem Jahre 1972, »que je vois plus chez Sade le dernier témoin du XVIIIe siècle (il l’était aussi grâce au milieu dont il était issu) que le prophète de l’avenir«15 und verweigert ihm damit jene Modernität, die er seit der Ordnung der Dinge immer wieder betont hat. Die »méticulosité, le rituel, la forme de cérémonie rigoureuse que prennent toutes les scènes de Sade«16 verweist ihn nun eindeutig an die klassische Ordnung der Repräsentation zurück, die er mit der Juliette zumindest scheinbar schon überschritten hatte. In seinen Überlegungen zum Thema des Strafens aus den siebziger Jahren erkennt Foucault in Sade dementsprechend keinen Aufklärer auf der Schwelle zur Moderne mehr, sondern den Vertreter der modernen Disziplingesellschaft, die er in Überwachen und Strafen zum Gegenstand der Kritik genommen hat. Foucault vertritt die These, »que Sade ait formé l’érotisme propre à une société disciplinaire: une société réglementaire, anatomique, hiérarchisée, avec son temps soigneusement distribué, ses espaces quadrilles, ses obéissances et ses surveillances.«17 Als Paradigma für die eigene Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sexualität, die Foucaults späte Arbeiten bestimmt, kann Sade daher nicht länger dienen. Die Parole, die Foucault nun ausgibt, ist eine andere, aber nicht weniger eindeutig als das frühe Bekenntnis zu Sade: »Il s’agit de sortir de cela, de l’érotisme de Sade.«18 Was aber hat diesen Umschwung bei Foucault bewirkt? Es liegt zunächst nahe, seine ambivalenten Äußerungen zu Sade in den Kontext der allgemeinen Veränderung seiner Auffassung vom Status der Literatur einzuordnen.19 An die Stelle des subversiven Libertin tritt demnach die Figur des Literaten, der zum Teil einer diskursiven Praxis des Strafens wird, die seit dem Ausgang des
14 Ders.: Interview avec Michel Foucault, hier S. 661. 15 Ders.: Les problèmes de la culture, hier S. 375. 16 Ders.: Sade, sergent du sexe, hier S. 818. 17 Ebd., S. 821. 18 Ebd. 19 Vgl. A. Geisenhanslüke: Gegendiskurse.
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18. Jahrhunderts herrscht. Zugleich aber sind die Themen, die noch Foucaults späte Arbeiten leiten, Gewalt und Strafe, Sexualität und Überschreitung, dieselben geblieben. Nur scheint ihnen der Bezug zu Sade und zu Bataille abhanden gekommen zu sein. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Relevanz von Sade für Foucaults Denken nicht größer ist, als die kritischen Äußerungen zu seinem Werk es nahelegen. Das gilt insbesondere für die von Bataille hergeleitete Frage nach der »Souveränität« einer poetischen Sprache im Kontext der Überschreitung. Ging es bei Sade wie bei Bataille um eine Form der Souveränität, die sich aus einer eigentümlichen Vermischung von Lust und Strafe, von Blasphemie und Obszönität ergibt, so scheint es sinnvoll, sich in einem nächsten Schritt noch einmal Batailles Theorie der Souveränität zu versichern, um anschließend näher auf Sade einzugehen.
3. D ER
SOUVERÄNE
T AUSCH : G EORGES B ATAILLE
Den Bereich der Souveränität führt Bataille in seinen Überlegungen zu Ökonomie und Verschwendung als das Gegenteil der Nützlichkeit ein: »L’au-delà de l’utilité est le domaine de la souveraineté.«20 Mit dieser Unterscheidung, die die beiden Bereiche des Profanen und des Sakralen über die Begriffe des Nützlichen und des Heiligen unvermittelt gegenüberstellt, knüpft Georges Bataille an die selbst wiederum in der Tradition von Émile Durkheim stehenden religionssoziologischen Überlegungen von Marcel Mauss an. Wie Durkheim und Mauss gilt ihm das Heilige, der Ausdruck des Archaischen, als ein Bereich der Souveränität, der die Kehrseite der modernen Rationalität repräsentiert, und wie Durkheim und Mauss nutzt Bataille den Blick auf archaische Gesellschaftszusammenhänge zu einer grundsätzlichen Kritik an der modernen Gesellschaft: »L’homme archaïque était principalement occupé de ce qui est souverain, merveilleux, de l’au-delà de l’utile, mais c’est là justement ce qu’une conscience éclairée par le progrès des connaissances rejette dans le clair-obscur, douteux et condamnable, auquel la psychanalyse donna le nom d’inconscient. L’homme moderne ignore ou méconnaît, il tend à dénigrer ou à nier ce que l’homme achaïque a tenu pour souverain. L’homme archaïque se posait sans fin la question de la souveraineté, c’était pour lui la question première, celle qui comptait souverainement à ses yeux.«21
20 G. Bataille: La souveraineté, S. 248. 21 Ebd., S. 273.
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Der kulturelle Fortschritt, so lautet die in ihrem apodiktischen Anspruch nicht unproblematische These von Bataille, bedeute in Wirklichkeit einen Verlust an Souveränität, der aus der Beschränkung der Ökonomie auf das Prinzip des Nützlichen resultiert. Mit der Souveränität spricht Bataille ein Prinzip an, das sich modernen Arbeitszusammenhängen zu entziehen scheint: »Ce qui distingue la souveraineté est la consommation des richesses, en opposition au travail, à la servitude, qui produisent les richesses sans les consommer. Le souverain consomme et ne travaille pas, tandis qu’aux antipodes de la souveraineté, l’esclave, l’homme sans avoir, travaillent et réduisent leur consommation au nécessaire, aux produits sans lesquels ils ne pourraient ni subsister ni travailler.«22
Bataille, der in seinen Überlegungen an die spekulative Auslegung des Verhältnisses von Herr und Knecht bei Hegel durch Alexandre Kojève anknüpft,23 bestimmt den Bereich der Souveränität als den einer politischen und religiösen Herrschaft, dessen Prinzip nicht auf Bewahrung, sondern auf Verschwendung beruht. Keine Theorie des ökonomischen Gleichgewichts interessiert Bataille, sondern die eines uneinholbaren Überschusses, den alles Leben bereit hält: »Je partirai d’un fait élémentaire: l’organisme vivant, dans la situation que déterminent les jeux de l’énergie à la surface du globe, reçoit en principe plus d’énergie qu’il n’est nécessaire au maintien de la vie: l’énergie (la richesse) excédante peut être utilisée à la croissance d’un système (par exemple d’un organisme); si le système ne peut plus croître, ou si l’excédent ne peut en entier être absorbé dans sa croissance, il faut nécessairement le perdre sans profit, le dépenser, volontiers ou non, glorieusement ou sinon de façon catastrophique«.24
Was Bataille in den Mittelpunkt der politischen Ökonomie stellt, ist die »énergie excédante«25 als eine Form der Überfülle, die sich in der vollständigen Verausgabung erfüllt. Stabilität erreicht das soziale System durch ein Spiel von Wachstum und Verschwendung, das für ein Gleichgewicht allein dadurch sorgt, dass es sich in katastrophischen Entladungen offenbart. Bataille unterstreicht im Unterschied zu Mauss eher die chaotische Seite der Ökonomie, die immer wieder zu unkontrollierbaren Ereignissen wie Kriegen führt und gleichwohl eine geheime
22 Ebd., S. 248. 23 Vgl. A. Kojève: Introduction, bes. S. 529-575. 24 G. Bataille: La part maudite, S. 29. 25 Ebd., S. 20.
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Ordnung aufrechterhält. »La vie est en son essence un excès, elle est la prodigalité de la vie. Sans limites, elle épuise ses forces et ses ressources; sans limite elle anéantit ce qu’elle a créé«26, so lautet die in ihrem Pathos unmittelbar auf Nietzsche zurückführende Bestimmung der Lebenskraft, die Bataille im Rahmen seiner Theorie der Souveränität vorgibt. Wenn Bataille Leben als grenzenlose Verschwendung kennzeichnet, dann setzt er sich wie Kojève zugleich in ein Verhältnis zum Tod. Souveränität, so formuliert Bataille im Anschluss an Hegel, konstituiert sich in der Überschreitung des Todes: »Le monde souverain est le monde où la limite de la mort est supprimée.«27 Den Tod begreift Bataille daher weniger als Grenze denn als Grund der Souveränität. »Le luxe de la mort, à cet égard, est envisagé par nous de la même façon que celui de la sexualité, d’abord comme une négation de nous-mêmes, puis, en un renversement soudain, comme la vérité profonde du mouvement dont la vie est l’exposition.«28 Bataille spricht vom Luxus des Todes, um dessen eigene verschwenderische Funktion hervorzuheben. Nicht nur eine Negation des menschlichen Daseins bedeute der Tod, vielmehr markiert er zugleich eine geheime Tiefendimension, die dem Leben als unaufhörliche Verschwendung seiner selbst zugrundeliege. Im Rahmen der spekulativen Verschränkung von Individuum und Gattung gelangt Bataille, nicht von ungefähr einer der Paten Foucaults, zu einer Theorie, die nicht mehr den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern eine Form der Überschreitung,29 die das Leben auf die Extrembereiche von Sexualität und Tod bezieht. Der Tod erscheint so als eine Tiefendimension des Lebens und als eine Bewegung der Transzendenz zugleich, die vom Opfer zutage gefördert wird: »C’est que généralement, dans le sacrifice ou le potlatch, dans l’action (dans l’histoire) ou la contemplation (la pensée), ce que nous cherchons est toujours cette ombre – que par définition nous ne saurions saisir – que nous n’appelons que vainement la poésie, la profondeur ou l’intimité de la passion.«30
In ähnlicher Weise wie Mauss sich in seiner Theorie der Gabe auf rituelle Formen der Gastfreundschaft, der Kunst und des Festes berufen hatte, nennt Bataille Kunst und Leidenschaft als Weisen, zu der Tiefenordnung von Tod und sexuel-
26 G. Bataille: L’érotisme, S. 88. 27 Ders.: La souveraineté, S. 270. 28 Ders.: La part maudite, S. 41. 29 Vgl. M. Foucault: Préface à la transgression. 30 G. Bataille: La part maudite, S. 76.
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ler Überschreitung Kontakt herzustellen. Zeichnet sich der kulturelle Fortschritt nach Bataille durch den Verlust der archaischen Ordnung der Souveränität aus, so bezeichnet er die Kunst geradezu als Erbe der Souveränität,31 um sie in die Tradition des Heiligen zu stellen: »La littérature se situe en fait à la suite des religions, dont elle est l’héritière. Le sacrifice est un roman, c’est un conte, illustré de manière sanglante.«32 Was Bataille der Kunst, insbesondere der Literatur, zuspricht, ist die Aufrechterhaltung einer Erfahrung, die vom Verschwinden bedroht ist, weil sie mit den Gesetzen der modernen Ökonomie unvereinbar sei: »Des divers sacrifices, la poésie est le seul dont nous puissions entretenir, renouveler le feu.«33 Bataille privilegiert die Literatur als Garanten jener »expérience intérieure«, die im Mittelpunkt seiner nicht nur mystischen, sondern tendenziell auch mystifizierenden Darstellung von Opfer und Tausch steht. Was er mit Mauss teilt, ist die Ablehnung der politischen Ökonomie der Moderne zugunsten einer archaischen Ordnung der verschwenderischen Gabe, die ihm zugleich als Korrektur an der ausdifferenzierten Vernunft dient, die seit Hegel im Mittelpunkt des Denkens der Moderne steht. Souveränität meint in diesem Sinne eine ekstatische Erfahrung, die sich der Verdinglichung durch die instrumentelle Vernunft widersetzt34 und darin einen Freiraum begründet, der, wie der Hinweis auf Kunst und Literatur zeigt, mit Nietzsche zugleich als ein Raum des Ästhetischen und Erbe des Sakralen zu bestimmen ist.35 So widersprüchlich Batailles Bestimmung der Souveränität auch anmuten mag: Mit der Erweiterung der soziologischen Theorie der Gabe, wie sie von Mauss vorgelegt wurde, zu einer kulturellen Ökonomie des Tausches hat er den Boden bereitet, auf dem sich Foucault noch in den sechziger Jahren bewegte, um eine Form der Subversion des Wissens geltend zu machen, die auch er an die Funktion der Literatur band. Nicht nur in Bezug auf Foucault aber sind Batailles Überlegungen zum Tausch interessant, sondern auch im Blick auf die Überschreitung des ökonomischen Kalküls durch Erfahrungen des Exzesses und der Verschwendung bei Sade.
31 Vgl. Ders.: La souveraineté, S. 446. 32 Ders.: L’érotisme, S. 89. 33 Ders.: L’expérience intérieure, S. 172. 34 Vgl. J. Habermas: Der philosophische Diskurs, S. 262. 35 Das ist der Punkt, den Habermas in seiner Rekonstruktion der französischen Theoriebildung geradezu systematisch übersieht, obwohl er mit Baudelaire die Literatur der Moderne in die Ausgangsbetrachtung seiner Untersuchung einleitend miteinbezieht.
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4. D AS N ETZWERK DER L IBERTINAGE : L A NOUVELLE J USTINE Batailles Begriff der Souveränität und der inneren Erfahrung hat nicht nur Anregungen von Nietzsche aufgenommen, die ihrerseits von Foucault und anderen Theoretikern der Postmoderne weitergeführt werden konnten. Mit der Akzentuierung von Erotik und Tod als den Grundpfeilern der inneren Erfahrung unterhält sein Werk auch eine intensive Beziehung zu dem des Marquis de Sade. Sades Roman La Nouvelle Justine aus dem Jahre 1797, der die 1787 im Gefängnis entstandene Erzählung Les infortunes de la vertu und die 1791 veröffentlichte Justine abschließt, berichtet gemeinsam mit der 1796 erschienen Histoire de Juliette vom Schicksal zweier ungleicher Schwestern. Während Justine der Inbegriff der empfindsamen Figur der verfolgten Unschuld ist, verkörpert Juliette die umgekehrte Seite des Lasters, der in Sades Kosmos von Beginn an der Triumph über das Gute zugesprochen wird: »il vaut infiniment mieux prendre parti parmi les méchants qui prospèrent, que parmi les vertueux qui échouent«36, lautet der philosophische Leitsatz, dem Sade in Justine folgt. Der Roman, der als ironische Replik auf Rousseaus Julie, als Apologie des Bösen und des Lasters wie als Generalabrechnung mit der Aufklärung gelesen werden kann, nimmt nicht nur mit der Konstruktion der Geschichte zweier Geschwister Bezug auf das Thema der Familie. Indem er Justine und Juliette im zarten Alter von 12 und 14 Jahren als mittellose Waisenkinder in die Welt entlässt, destruiert Sade die familiäre Gemeinschaft als Grundlage des Sozialen von Beginn an. Justine und Juliette werden in einem einleitenden auktorialen Akt des Erzählers zunächst von den Eltern und dann voneinander getrennt, da ihre Auffassungen vom weiteren Fortkommen in der Welt sich als miteinander unvereinbar erweisen. An die Stelle der Familie treten unterschiedliche Netzwerkstrukturen, in die die Protagonistinnen des Doppelromans als Opfer bzw. als Täterin eintreten. Von einem Netzwerk der Libertinage kann im Falle von Justine gesprochen werden, da der Weg der unschuldigen Heldin immer wieder in institutionelle Zusammenhänge führt, die von einem Prinzip des wechselseitigen Tausches bestimmt sind. Bereits bei ihrer ersten Begegnung mit der Welt der Libertinage in der Figur des M. Dubourg zeigt sich, dass es im wesentlichen um das ökonomische Prinzip von Angebot und Nachfrage geht, in dem Justine nur solange im Mittelpunkt steht, solange sie das obskure Objekt der Begierde ist, das noch Bunuel in den Mittelpunkt seiner kritischen Auseinandersetzung mit der modernen bürgerlichen Gesellschaft gestellt hat: »Quand des gens de notre
36 M. de Sade: Œuvres II, S. 132.
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sorte donnent, en un mot, ce n’est jamais que pour recevoir«37, klärt Dubourg die verstörte Heldin über die Ökonomie des Tausches auf, in die sich sein Begehren einschreibt. Da sie nichts anderes als ihren ebenso unschuldigen wie reizenden Körper besitzt, richtet sich das Interesse des Libertins umstandslos auf den körperlichen Besitz Justines, die sich »les infamies où se livrait Dubourg«38, zunächst vergeblich zu entziehen sucht. Das einzige, was Dubourg in seinem Verlangen hindern kann, ist seine Impotenz, die dem Abenteuer ein abruptes Ende setzt. In dem Maße, in dem Justine ihre Unschuld als ihr einziges Unterpfand besitzt, ist der Roman die Geschichte des immer wieder neu verschobenen Verlustes der Jungfräulichkeit, der erst im Kloster Sainte-Marie-des Bois erfolgt, wo die Heldin hilflos den Attacken einer wahrlich schändlichen Bruderschaft ausgesetzt ist, deren Netz sich über ganz Europa erstreckt. Der imperiale Ort des Klosters erscheint bei Sade als eine gut funktionierende Institution, die ihre wehrlosen Opfer zu immer neuen, genau berechneten Gruppen zusammenfügt, an andere Klöster weiter verschickt und sich so bei konstant hoher Nachfrage aus ständig neuen Ressourcen bedient. Justine verliert ihre Unschuld an dem Ort, an dem die Ökonomie der Gabe und das damit verbundene Netzwerk am reibungslosesten funktionieren. Das Kloster Sainte-Marie-des Bois ist gleichwohl weder der erste noch der letzte Ort, an dem Justine mit dem Netzwerk der Libertinage konfrontiert wird. In immer neuen Formen der Verkehrung des Gastrechts im Rahmen der negativen Reziprozität, die Marshall D. Sahlin als antisoziales Extrem gekennzeichnet hat,39 trifft Justine auf infame Figuren wie den von Geiz und Habgier beseelten Du Harpin und den Muttermörder Bressac, denen es jeweils ohne Mühen gelingt, ihre schändlichen Taten der armen Justine unterzuschieben, die daraufhin zum unschuldigen Opfer der Justiz wird. Infam sind bei Sade nicht allein die Libertins beiderlei Geschlechtes, infam sind auch Justiz und Kirche als soziale Institutionen, die die Schändung der unschuldigen Heldin fortsetzen. Wie eng das Thema der Infamie bei Sade an die Ordnung der Familie gebunden ist, zeigt der Aufenthalt von Justine bei dem Chirurgen Rodin, der ein Internat für Jungen und Mädchen besitzt, um sich ganz seinen wissenschaftlichen wie erotischen Leidenschaften hingeben zu können. Rodin leitet die Anstalt in einer Form der Inzestgemeinschaft mit seiner Schwester Célestine, einer Erzieherin namens Martha und der Tochter Rosalie, mit der sich Justine befreundet. Rosalie ist nicht nur wie die anderen Kinder des Internats und bald auch Justine das
37 Ebd., S. 143. 38 Ebd., S. 146. 39 Vgl. M.D. Sahlins: Zur Soziologie des primitiven Tauschs, S. 83f.
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Opfer der sexuellen Ausschweifungen ihres Vaters, am Ende des Kapitels wird er die eigene Tochter der Wissenschaft opfern: »On est le maître de reprendre ce qu’on a donné; jamais le droit de disposer de ses enfants ne fut contesté chez aucun peuple«40, definiert Rodin die absolute Herrschaftsmacht des Vaters gegenüber seinem Kind. Mit dem »infâme matricide«41 Bressacs und dem grausamen Opfer der Tochter rahmt de Sade die Episode um den Aufenthalt Justines bei Rodin kunstvoll mit zwei Formen des Verbrechens an der Ordnung der Familie, die beide ebenso erfolgreich wie unbestraft bleiben. Ist die Familie bei Sade der Ort, der in einem beständigen Akt der Überschreitung scheinbar natürlicher Grenzen destruiert wird, so treten andere Formen der Gemeinschaft an ihre Stelle. Nicht nur lebt Rodin mit seiner Schwester in einer Art Familiengemeinschaft, in der es keinen Platz für die Ehe und aus der Ehe hervorgehende Kinder gibt. Die 200 Schüler, die ihm unterstehen, bilden die unmittelbare Erweiterung der Familie zu einer festen Ressource, aus der sich der Libertin jederzeit bedienen kann. Die Anstalt umfasst bei gemischten Geschlechtern genau 200 Schüler zwischen 12 und 17 Jahren. Die Welt der Libertinage ist alles andere als ungeregelt. Sie beruht auf einer genauen Ordnung, die sich in einer räumlichen Form ergibt, in der, wie Horkheimer/Adorno es in der Dialektik der Aufklärung zusammengefasst haben, die »sexuellen teams« auftreten, »bei denen kein Augenblick ungenützt, keine Körperöffnung vernachlässigt, keine Funktion untätig bleibt.«42 Der institutionelle Raum, den das Internat verkörpert, ist ein nach genauesten Regeln geordneter Raum, so wie die Ausschweifungen von Rodin und seinem Team einer an die Welt des Rituellen gemahnenden streng geregelten Abfolge gehorchen, die sich als Weiterführung und Verkehrung religiöser Phänomene verstehen lässt. Schon Emile Durkheim hatte die Welt des Religiösen in die zwei Kategorien der Glaubensüberzeugungen und der Riten aufgeteilt und die ersten als Vorstellungen, die zweiten als Handlungsweisen bestimmt.43 In diesem Sinn praktiziert Rodin einen Ritus als Handlungsweise, um durch ihn zugleich alle Glaubensüberzeugungen zu bekämpfen: »de la vertu, de la religion, des préjugés : voilà tous les monstres que j’ai à
40 M. de Sade: Œuvres II, S. 557. 41 Ebd., S. 521. 42 M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 95. 43 »Die religiösen Phänomene kann man auf natürliche Weise in zwei Kategorien aufteilen: die Glaubensüberzeugungen und die Riten. Die ersten sind Meinungen: sie bestehen aus Vorstellungen; die zweiten sind bestimmte Handlungsweisen. Zwischen diesen beiden Klassen liegt derselbe Abstand wie zwischen dem Denken und Tun.« E. Durkheim: Die elementaren Formen, S. 61.
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combattre.«44 Seinen Höhepunkt findet Rodins Hass auf Tugend, Religion und Vorurteil, als sich Rosalie und Justine für kurze Zeit einer anderen Glaubensgemeinschaft überantworten, der Macht der Kirche, die aus der Welt Rodins verbannt ist, von Justine in der Figur des Abbé Delne aber eingeführt wird, um Rosalie dem rechten Glauben zuzuführen. Zwar gelingt das Unterfangen zunächst, die beiden Mädchen und der Priester müssen aber letztlich einen hohen Preis für die Gründung ihrer spirituellen Gemeinschaft bezahlen. Als Rodin sie bei einer geheimen Messe überrascht, gerät er außer sich vor Wut angesichts der »séduction infâme«45, die sich vor seinen Augen abspielt. Der Verrat bleibt nicht ungestraft. Rosalie und der Abbé werden unter dem Vorwand, dieser hätte seine Tochter entführen wollen, eingesperrt, der Priester gefoltert und hingerichtet: »Je l’ai fait crucifier. J’ai voulu que le valet expirât de la même mort que son maître; et pendant les quatre heures qu’il a langui sur cette croix, il n’est pas de supplice que je ne lui aie fait éprouver«46, versichert Rodin seinem Freund Rombeau, der ihm bei der abschließenden Zeremonie assistiert. Wie schon Horkheimer/Adorno festgestellt haben, ist kaum eine radikalere Form der Aufklärung möglich als die, die Sade in seinem Werk vollzieht. Jede Form des Glaubens ist aus dieser Welt ausgeschlossen: »Das Werk des Marquis de Sade zeigt den ›Verstand ohne Leitung eines anderen‹, das heißt, das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt.«47 Das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt zeigt sich bei de Sade in seiner nackten Form als Herrscher über Leben und Tod. Hatte Bataille den inneren Zusammenhang von Erotik und Tod zum Grundpfeiler der Souveränität erklärt, so scheint auch die Welt Sades nur eines zu kennen: die unumschränkte Herrschaft der Lust, einer Lust allerdings, die mit dem Mechanismus der Bestrafung zusammenfällt. Am Beispiel des Mädchens Julie führt Rodin die von ihm praktizierte Handlungsweise vor: Das Mädchen muss sich wie die anderen Insassen des Internats vor seinem Herren für seine Tugend oder seine Lasterhaftigkeit rechtfertigen, seine Geschlechtsorgane werden untersucht, es erfährt zunächst Beschimpfungen, dann Peitschenhiebe, bis es schließlich zum Analverkehr kommt. Der Bestrafungsritus, der dem Leser an Julie exemplarisch vorgeführt wird, umfasst nicht nur Einzelne, er kann sich zu einer Massenveranstaltung, gleichsam einem Fest der Libertinage erweitern. So treibt es Rodin mit seinem Team in einer stundenlangen Zeremonie mit einer Gruppe von 60 Insas-
44 M. de Sade: Œuvres II, S. 524. 45 Ebd., S. 552. 46 Ebd., S. 555. 47 M. Horkheimer/Th.W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 93.
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sen, 35 Mädchen und 25 Jungen, bis er bei einem fünfzehnjährigen Knaben, der in den streng typisierten Beschreibungen des Romans als Adonis beschrieben wird, endlich ejakuliert: »et le libertin, enivré, ose goûter les plus doux plaisirs au sein de l’inceste et de l’infamie«48, lautet der knappe Kommentar, mit dem Sade das Treiben Rodins versieht. Der Orgasmus ist nicht nur der Höhepunkt des Festes, das Rodin inszeniert, er ist zugleich seine innere Grenze. Nach der ersten Entladung kann Rodin nicht mehr, es braucht mehr als eine Stunde, um ihn wieder in Gang zu bringen, eine zweite, dann eine dritte Entladung sichert den Erfolg des Unternehmens und beendet es zugleich. Die Libertinage, das wird dem Leser bei der ausführlichen, kein Detail aussparenden Beschreibung der Szenerie deutlich, ist eine Form der Arbeit, sie ist eine geregelte Praxis, deren genaues Abbild Sades emotionsloses Schreiben bildet. »Die Sadesche Praxis wird von einer großen Ordnungsidee beherrscht«49, bemerkt schon Roland Barthes, der den erotischen Kodex bei Sade in der Abfolge von Stellung, Operation, Figur und Episode erkennt. Die Szene ist theatralisch aufgebaut, die Welt der Libertinage eine Bühne, die sich gleichwohl dem Begriff der Perversion verschließt. »Den Begriff der Perversion im pathologischen Sinne gibt es bei Sade nicht«, stellt Pierre Klossowski fest, wohl aber einen »Stammbaum der Verbrechen und Laster«50, in dem die Sodomie als »Trugbild und Verhöhnung des Zeugungsaktes«51 fungiere. Die Perversion ist nicht länger das Anormale, sie ist die natürliche Ordnung in einer Welt ohne Glauben und Moral, und dementsprechend verhält sich auch die Sprache des Romans zu ihr. Klossowski vertritt die These, »daß Sade die logisch strukturierte Sprache in die Perversion einführt«52, und auch Barthes stellt fest: »Im Grenzfall könnte man sagen, das Sadesche Verbrechen existiere nur im Verhältnis zu der Sprachmenge, die darin investiert ist; nicht etwa, weil es nur geträumt oder erzählt ist, sondern weil allein die Sprache es konstruieren kann.«53 Poetisch ist Sades diskursives Universum, weil seine Sprache im Sinne Batailles eine Überschreitung vollzieht, die auf Erotik und Tod zielt, um damit im Sinne Foucaults zugleich einen unendlichen Raum des Sprechens zu öffnen: Wie schon einleitend deutlich geworden
48 M. de Sade: Œuvres II, S. 536. 49 R. Barthes: Der Baum des Verbrechens, S. 50. 50 P. Klossowski: Der ruchlose Philosoph, S. 16. 51 Ebd., S. 19. 52 Ebd., S. 20. 53 R. Barthes: Der Baum des Verbrechens, S. 56.
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ist, ist Sade in Foucaults Begrifflichkeit ein Diskursivitätsbegründer,54 der Diskurs, den er begründet, ist der der Infamie als einer poetischen Sprache des Verbrechens. Erotik, für Bataille eine Erfahrung des Heiligen, gibt es bei Sade daher nur im Verbrechen.55 Ihre Vollendung findet die Erotik entsprechend im Mord, der höchsten Form des Verbrechens: »c’est de tuer, mon ami, de tuer, il n’y a que cela ; c’est, j’en conviens, le dernier plaisir que peut nous donner un objet de luxure, mais c’est bien aussi le meilleur«56, erklärt Rodin seinem Freund Rombeau, bevor er seine eigene Tochter tötet, um zugleich in einem anatomischen Experiment das Jungfernhäutchen eines noch nicht erwachsenen Mädchens untersuchen zu können. Der Mord der eigenen Tochter, deren brechende Augen sich auf Justine richten, während der Vater in einem kannibalischen Akt in das noch warme Fleisch der Toten beißt, markiert daher auch das Ende von Justines Aufenthalt in dem Internat. Um die Infamie zu vervollständigen, brandmarken die Verbrecher Justine mit einem heißen Eisen als Diebin. Durch »cette lettre ignominieuse«57 wird der verfolgten Tugend die Ehre abgesprochen, die sie als Zeugin der Verbrechen Rodins bräuchte, um vor Gericht treten zu dürfen. Infam sind bei Sade nicht die Verbrecher, mit dem Stigma des Infamen versehen wird die Unschuld, die sich der Welt des Verbrechens verweigert.
5. S ADE , F OUCAULT
UND DER INFAME
T AUSCH
»Wie kommt es, daß der Sadesche Text als Text für unsere Gesellschaft und für unsere Kultur nicht existent ist?«58, fragte Philippe Sollers schon 1967, und seine Antwort lautet: »weil wir uns noch nicht entschlossen haben, Sade zu lesen.«59 Was aber leistet die Lektüre Sades für die hier gestellte Frage nach institutionellen Netzwerkstrukturen? In Sades Kosmos, so hat der Blick auf La Nouvelle Justine gezeigt, regiert eine nackte Ordnung, die sich jeder Vorgabe der Religion oder Moral verweigert und nur in sich selbst ihr Gesetz findet. Wie einleitend dargestellt, hat Foucault vor diesem Hintergrund im Werk Sades das Ende des klassischen Zeitalters und den Übergang zur Moderne erkennen wollen. Bei
54 Schon Roland Barthes meint, es ginge darum, »das einzig wirkliche Sadesche Universum [zu] betreten, das des Diskurses«. Ebd., S. 59. 55 »Für Sade gibt es nur Erotik, wenn man über das Verbrechen urteilt.« Ebd., S. 50. 56 M. de Sade: Œuvres II, S. 560. 57 Ebd., S. 569. 58 Ph. Sollers: Sade im Text, hier S. 62. 59 Ebd., S. 63.
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Sade finde die klassische Ordnung des Diskurses, die ganz von Taxonomien und Klassifikationen bestimmt war, ihre Grenze und zugleich ihr inneres Gesetz. Auf der Grenze von Klassik und Moderne gruppiert sich das Werk Sades um die Begriffe der Erotik und der Sexualität, der Gewalt und des Verbrechens und des Todes als der inneren Grenze des Begehrens. »La grande tentative de Sade, avec tout ce qu’elle peut avoir même de pathétique, réside dans le fait qu’il essaie d’introduire le désordre du désir dans und monde dominé par l’ordre et par la classification. Voilà ce que signifie exactement ce qu’il appelle ›libertinage‹. Le libertin est l’homme doté d’un désir suffisamment fort et d’un esprit suffisamment froid pour réussir à faire entrer toutes les potentialités de son désir dans une combinatoire qui les épuise toutes.«60
Foucault nutzt das Werk Sades, um den Begriff des Begehrens in die klassische Ordnung der Repräsentation einzuführen und damit letztlich aufzubrechen. Über Foucaults Äußerungen hinaus ist deutlich geworden, dass sich die Gewalt des Begehrens, die Sade in seinen Romanen freisetzt, unmittelbar gegen die soziale Institution der Familie richtet. An ihre Stelle tritt das Netzwerk der Libertinage als einer ökonomischen Neuverteilung der Güter, die sich – wie übrigens auch das Christentum – über jede Form der Blutsverwandtschaft hinwegsetzt. »So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein«61, fordert das Lukas-Evangelium. Auch die Jünger der Libertinage kennen keine Familie mehr. Was die Internate und Klöster als institutionelle Orte der Libertinage bei Sade leisten, ist die Herstellung einer sozialen Ordnung, in der der Familie keine Funktion mehr zukommt. In ihr gibt es keine Eltern mehr, sondern nur noch Lust und Verbrechen, keine Ehe mehr, sondern nur noch die Sodomie als beständige Schändung der Unschuld, keine Kinder mehr, sondern nur noch missbrauchte Körper in der unendlichen Zirkulation der Güter, die von einer Institution zur anderen wandern. Die Ökonomie der Gabe ruht bei Sade auf einem Tausch, der infam genannt werden kann, da er, darin, wie schon Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung bemerkt haben, Nietzsche verwandt, alle Werte umwertet und nichts mehr anerkennt, was nicht in die Form eines Tausches eingebunden werden könnte. Hatte Bataille die Souveränität als einen heiligen Bereich jenseits des Nutzens angesprochen, der sich in Gesten der Überschreitung und der Verschwendung öffnet, so regiert in der Nouvelle Justine
60 M. Foucault: Les problèmes de la culture, hier S. 375. 61 Lukas 14,26.
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noch ganz das kühle Kalkül der Ordnung, das Foucault dem klassischen Zeitalter zugesprochen hat. Die genuin moderne Erfahrung der Überschreitung, wie sie Bataille und Foucault in ihren Theorien der Erotik und Geschichten der Sexualität zur Geltung bringen, kennt Sade nicht, da es bei ihm keinen Platz für den unterworfenen Souverän, das Subjekt und sein Begehren gibt. An ihrer Stelle, an der Stelle einer Subjektivität, die sich durch das eigene Verhältnis zu Lust und Tod definiert, wie es die moderne Literatur des Obszönen und die Psychoanalyse tun werden, steht der Tausch als Grundlage einer sozialen Ordnung, die auf nichts anderem beruht als einer Gabe, die nach ständiger Wiederholung verlangt und so der Welt und ihren Individuen den Stempel des Infamen aufdrückt.
L ITERATUR Primärliteratur De Sade, Marquis: Œuvres II. Édition établie par Michel Delon, Paris: Gallimard 1995. Sekundärliteratur Barthes, Roland: »Sade, Fourier, Loyola«, in: Œuvres completes III. 1968-1971, Paris: Seuil 2002, S. 699-868. — »Der Baum des Verbrechens«, in: Das Denken des Marquis de Sade, S. 3961. Bataille, Georges: »L’expérience intérieure«, in: Œuvres complètes V, Paris: Gallimard 1973, S. 7-189. — »La part maudite«, in: Œuvres complètes VII, Paris: Gallimard 1976, S. 17179. — »La souveraineté«, in: Œuvres complètes VIII, Paris: Gallimard 1976, S. 243-456. — »L’érotisme«, in: Œuvres complètes X, Paris: Gallimard 1987, S. 7-270. Das Denken des Marquis de Sade. Mit Beiträgen von Roland Barthes u.a., Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1988. Derrida, Jacques: »Diese merkwürdige Institution namens Literatur«, in: Jürn Gottschalk/Tilmann Köppe (Hg.), Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, Paderborn: Mentis-Verlag 2006, S. 91-107. Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
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Foucault, Michel: Dits et Écrits, 2 Bde, Paris: Gallimard 1994 — Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris: Gallimard 1966. — »Folie, littérature, société«, in: Dits et écrits II, S. 104-128. — »Interview avec Michel Foucault«, in: Dits et écrits I, S. 651-662. — »Les problèmes de la culture. Un débat Foucault-Petri«, in: Dits et écrits II, S. 369-380. — »Préface à la transgression (en hommage à Georges Bataille)«, in: Dits et Écrits I. 1954-1969, Paris: Gallimard 1994, S. 233-250. — »Qu’est-ce qu’un auteur?«, in: Dits et écrits I, S. 789-821. — »Qui êtes-vous, professeur Foucault?«, in: Dits et écrits I, S. 601-620. — »Sade, sergent du sexe«, in: Dits et écrits II, S. 818-822. Geisenhanslüke, Achim: Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Foucault, Heidelberg: Synchron Verlag 2008. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1988. Klossowski, Pierre: »Der ruchlose Philosoph«, in: Das Denken des Marquis de Sade, S. 7-38. Kojève, Alexandre: Introduction à la lecture de Hegel, Paris: Gallimard 1947. Lacan, Jacques: »Kant avec Sade«, in: Écrits, Paris: Seuil 1966, S. 765-790. Schneider, Manfred: »Ästhetik der Delinquenz«, in: Merkur 43 (1989), S. 862872. Sahlins, Marshall D.: »Zur Soziologie des primitiven Tauschs«, in: Frank Adloff/Steffen Mau (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt a.M.: Campus 2005 (1965), S. 73-91. Sollers, Philippe: »Sade im Text«, in: Das Denken des Marquis de Sade, S. 6281.
Im Netz der Schwüre Ereignis, Versprechen und Vertrag in Kleist Die Marquise von O…
C SONGOR L ŐRINCZ
Die Figurationen von Öffentlichkeit und Geheimnis spielen in den Erzählungen von Kleist bekanntlich eine kardinale Rolle. Diese Figuren werden öfters mit Momenten der (verletzten) Intimität sowie der sexuellen, rechtlichen, gesellschaftlichen Immunität und der Problematik der Familie und der Ehe eng geführt. Um 1800 wird die Trennung zwischen öffentlicher und Privatperson, zwischen der repräsentativen Öffentlichkeit und der Sphäre der Autonomie des Privaten auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens maßgebend. Die Sphäre des Privaten verkörpert sich für die sich selbst bildende bürgerliche Gesellschaft in der Intimität der Liebesehe und der Familie. Ferner wird die Öffentlichkeit ab der Aufklärung als Vermittlungsterrain zwischen dem Staat (dem Souverän) und der Gesellschaft zu einer kommunikativen Dimension, deren geschichtsphilosophische Politisierung im Zuge der Kontamination von »Geschichte« (als Kollektivsingular) als Handlungs- und Reflexionsraum sich entfaltet.1 Bei Kleist wird die Frage aufgeworfen, wie denn Geschichte sich ereignet, deren Geschehenscharakter sich zwischen Handeln und Reflexion der Akteure ansiedelt, sich gleichwohl im selben Zuge einem medial-institutionellen Zusammenhang einschreibt. Ferner: wie wird diese Virtualität des Ereignisses in der literarischen Kommunikation aktiviert oder heraufbeschworen, welche Konsequenzen hat das etwa für die performative Dimension des Textes?
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Vgl. R. Koselleck: Kritik und Krise; J. Habermas: Strukturwandel; W. Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Zu wesentlichen Korrekturen an den Thesen der beidletzten Autoren vgl. Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit.
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Zu dieser Fragestellung wird in diesem Beitrag Kleists Erzählung Die Marquise von O… herangezogen, in der durch die bekannte öffentliche Annonce der Marquise eine double-bind-Struktur erzeugt wird, die mit vielfachen Implikationen beladen ist. Der Akt des öffentlichen Aufrufs der Marquise – in dem sie Amphytrion und Alkmene in sich vereint, auf der Suche nach der Wahrheit, die sowohl zu ihr als auch nicht zu ihr gehört – untergräbt jegliche intime Gemeinschaftlichkeit mit dem durch ebendiesen Aufruf zu finden gehofften Zeugenden ihres Kindes. Diese Aporie wirft im Kleistschen Text zahlreiche Fragen auf: die (gar religiös eingefärbte) Problematik der Unschuld und der Verantwortung, die Frage von Gemeinschaft und Intimität, die Beziehung von Geheimnis und Öffentlichkeit, Geheimnis und Wissen oder Nicht-Wissen, ferner die genealogische Eingliederung des Geheimnisses, also seine Opferung. Im vorliegenden Beitrag steht zunächst die Annonce der Marquise im Vordergrund, da diese im Zuge der double-bind-Struktur die wesentlichen diskursiven Verflechtungen und semantischen Konstellationen gleichsam in sich enthält.2
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Anzumerken ist jedoch, dass der Text in vielfacher Hinsicht eine Allegorie der gesellschaftlich-politischen Umwälzungen um 1800 herum, zwischen Aufklärung und Bürgertum, darstellt. Etwa der Vater (der »Kommandant«) figuriert ursprünglich als ein absolutistischer Souverän, der gar den Ausnahmezustand ausruft (»Der Obrist erklärte gegen seine Familie, daß er sich nunmehr verhalten würde, als ob sie nicht vorhanden wäre.« Kleist: Sämtliche Werke und Briefe II, S. 105; die Seitenzahlen aus den Werken von Kleist im Folgenden in Klammern). Seine Hausherrschaft wird vom öffentlichen Dispositiv und seiner moralischen Funktion beeinträchtigt, danach mutiert er zum bürgerlichen Familienvater, der die privatrechtlichen Verträge arrangiert (und dabei seine Gewalt doch teilweise bewahrt, dem Preußischen Landrecht getreu: »Bei aller Einschränkung der hausväterlichen Gewalt blieb diese aber ein integrierendes Moment nicht nur der sozialen, sondern auch der politischen Verfassung im Sinne des Ständestaates«, R. Koselleck: Preußen, S. 64). Die Standesgrenzen sind im Begriff, von der Berufung auf das Innere, auf das Gewissen als Grundlagen des Versprechens auch aufgelöst zu werden – andererseits durch die steigende Rolle der Presse, des öffentlichen Kommunikationswesens (die mit dem Versprechen in einem verwickelten Zusammenhang stehen, dem in vorliegender Arbeit nachgegangen wird). (Die »Strukturanalogie von Staat und Familie« wird von der Ehe als Vertrag, als Gesellschaftsvertrag in Szene gesetzt. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, S. 280-284. Zum Übergang von der Hausherrschaft zur Rechtsfigur des Vertrages vgl. I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 397-400.) Auf der Ebene der weltanschaulichen Zusammenhänge handelt es sich um den Wechsel, wie die Stelle von transzendentalen Autoritäten (die etwa das Versprechen autorisieren und beglaubigen sollten) vom Vertrag und
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Die Novelle von Kleist inszeniert bzw. reflektiert grundlegende Eigenschaften der Gattung Novelle im Zuge ihrer Verschiebung. Die »unerhörte Begebenheit« ruft in der theoretischen Reflexion der Gattung (bei August Wilhelm Schlegel und anderen) wie in der novellistischen Praxis (so bereits in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten) zunächst in der Vorstellung der rahmengebenden Geselligkeit institutionalisierende Einbettungen und Zuschreibungen hervor.3 Diese verschwinden nicht, sondern werden umbesetzt und umfunktionalisiert, um die »unerhörte Begebenheit« (oder ihre Kulturalisierung) mit inszenierten rechtlichen, öffentlichen oder politischen Instanzen zu legalisieren oder zu legitimieren. Die Einführung der unerhörten Begebenheit in die Historie bzw. in das kulturelle Wissen sind von bestimmten medialen Dispositiven und Aufzeichnungsmechanismen immer weniger zu trennen. Dies zeigt sich bei Kleist schon darin, dass der Erzähler als legitimierende Instanz seine Funktion nicht dadurch erhält, dass »er Selbstgehörtes berichtet«,4 sondern ein Gelesenes – die Annonce – am Anfang seiner Erzählung steht. Dadurch wird gerade die
der öffentlichen Meinung eingenommen wird. Im Kontext einer medientheoretischen Fragestellung steht die medial-archivarische Bedingtheit des Geschehens in der Geschichte und seiner Wissensfiguren, ihrer Überschneidung wie Differenz im Vordergrund. 3
A.W. Schlegels Novellendefinition wird von Die Marquise von O… gewissermaßen verfolgt, um sie dann freilich auch umzustülpen. Laut Schlegel besteht das »Verdienst« der Novelle darin, »etwas zu erzählen, was in der eigentlichen Historie keinen Platz findet, und dennoch allgemein interessant ist. Der Gegenstand der Historie ist das fortschreitende Wirken des Menschengeschlechts; der jener wird also dasjenige seyn, was immerfort geschieht, der tägliche Weltlauf, aber freylich damit er verdiene aufgezeichnet zu werden.« Ferner: »Die Novelle ist eine Geschichte außer der Geschichte, sie erzählt folglich merkwürdige Begebenheiten, die gleichsam hinter dem Rücken der bürgerlichen Verfassungen und Anordnungen vorgefallen sind.« A.W. Schlegel: Vorlesungen, S. 44-45, 50. Laut Lockemann besteht die Wirkung des novellistischen Erzählens und seiner Einrahmung darin, »der Auflösung der Gesellschaft, dem drohenden Chaos entgegenzuwirken«, welche Leistung »durch die Opfertat Einzelner abgerungen wird«. Fr. Lockemann: Die Bedeutung des Rahmens, S. 339, 344. Diese »Opfertat« ist selbstverständlich eine moralische, wie bereits bei Goethe: »daß der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Überzeugung eines Bessern, selbst gegen seine Neigung, zu handeln« (Goethe: Unterhaltungen, S. 495). Zum Bezug der Erzählung von Kleist auf Goethes Unterhaltungen und die dort vertretene Moral vgl. K. Schwind: Heinrich von Kleist, S. 28-30.
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Fr. Lockemann: Die Bedeutung des Rahmens, S. 337.
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Legitimierung auch einem Lesepublikum (als der Figur des Dritten) überantwortet,5 in der narrativ-medialen Selbstpräsentation des Textes ist bereits eine unbestimmte Öffentlichkeit involviert. Die eigentliche Geschichte wird von vornherein von diesem öffentlichen Rahmen, im Medium des Zeitungswesens von der veröffentlichten Zeit eingerahmt. Wie ist nun die Annonce in diesem Geflecht von Geschichte, Historie und Kultur zu verorten? Die Annonce der Marquise wiederholt gewissermaßen das für sie traumatische Ereignis, ihr eignet eine »ihr innerstes Gefühl verletzende Natur« (S. 127; der eigentliche Schmerz wird ihr nicht vom Täter – da befindet sie sich in Ohnmacht –, sondern von ihrem eigenen Versprechen zugefügt). Wie oft bei Kleist, handelt es sich um ein Doppel des Ereignisses bzw. um das Doppel als Ereignis. Das Ereignis wird wiederholt, dabei aber vor allem archiviert, durch die Archivierung wiederholt, es wird zugleich zu einem archivierten Ereignis. Ohne dieses archivierte Ereignis könnte man vielleicht gar nicht vom »ursprünglichen« Geschehen reden, das aus dieser Sicht auch als archivierendes Ereignis gefasst werden kann, im Vergleich zu seinem archivierten Pendant in der Zeitung.6 Das Ereignis wird also durch seine Archivierung zu einem Ereignis, ohne aber dadurch selbstidentisch zu werden. Diese Verflechtung entspricht der grundlegenden Figur der neuen Historizität, die laut Koselleck als die Kontamination von Handlungs- und Reflexionsraum erscheint.7 Oder medientheoretisch gewendet: die Aufzeichnung des Ereignisses (die überhaupt Wissen von diesem ermöglicht) ist vom Ereignis selbst nicht zu trennen.8 Die eigentliche »Handlung« bleibt ohne
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Dass diese Lesefigur keine unschuldige oder neutrale ist, zeigt die latente Parallele zwischen dem Erzähler und dem Grafen, da letzterer als Bote (»Engel«) für die Marquise erscheint, aber auch als Lesender (wie Schreibender). Dem Grafen eignet eine fundamentale Verdopplung: er ist sowohl Täter als auch Bote (Zeuge) dieser Tat (als »Engel«), d.h. Handlung und Nachricht fallen gewissermaßen zusammen. Der Graf schreibt bekanntlich sehr oft in der Erzählung (auch in Gedanken), vorwiegend Briefe. Der Verdopplung von Täter und Bote entspricht die Konstellation von Schreiben und lesendem Bezeugen, diese lassen sich genauso wenig voneinander trennen.
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Zum Verhältnis von archivierendem bzw. archiviertem Ereignis vgl. J. Derrida: Dem
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Bei J.G. Droysen folgendermaßen formuliert: »Die Geschichte ist nicht die Summe
Archiv verschrieben, S. 33. der Geschehnisse, nicht aller Verlauf aller Dinge, sondern ein Wissen von dem Geschehenen.« Historik, S. 397, s. noch ebd., S. 484. 8
Vgl. die wiederholten Bezugnahmen von Vismann auf Droysen (nicht aber auf Kosellecks diesbezügliche Arbeiten): C. Vismann: Akten, S. 245, 250. Zur Verzeit-
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die Aufzeichnung, ohne die Archivierung verborgen bzw. gerade auch in der Archivierung (auch) verhüllt (und diese Pointe braucht schon eine dekonstruktive Wendung, da sie über medienhistorische und -theoretische Prämissen hinausgeht). Die ganze Erzählung von Kleist buchstabiert letztlich die Komplikationen dieser Struktur aus. Im Folgenden wird also davon ausgegangen, dass den eigentlichen novellistischen Kern der Erzählung, den Novellen-Text die Zeitungsannonce (bzw. die Antwort auf sie) darstellt (aber als Wiederholung),9 die ja mit den Attributen »sonderbar« bzw. »unerhört« charakterisiert wird. Somit wird eine Inversion, mehr noch: ein Chiasmus zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, Rahmen und Eingerahmtem, Privatem und Öffentlichem inszeniert,10 in dem die Novelle den
lichung von Herrschaft (herausgelöst aus der Dimension der Ewigkeit) vgl. ebd., S. 142-143. 9
Vgl. bereits M. Kommerell: »Das erste rätselhafte Faktum eröffnet die Novelle. Eine Zeitungsnotiz, wie sie nie durch die Blätter ging.« Die Sprache, S. 255. Vgl. ferner G. Neumann: Skandalon, S. 162. Auch Christa Bürgers Feststellung, die »unerhörte Begebenheit« umfasse bei Kleist »beides, die erzählte Geschichte und die dargestellte Geselligkeit«, deutet in diese Richtung, vgl. Statt einer Interpretation, S. 97. Sie zitiert auch Herders Adrastea über die wissenspoetische Relevanz öffentlicher Memoiren: »Leben ist Äußerung seiner Kraft; von dem aber was Seele und Hand wirkt, will auch das bewegliche Ruder der Vernunft, die Zunge, reden. Durch dies Sprechen über sich klärt sich der Handelnde selbst auf; er lernt sich als einen fremden im Spiegel beschauen, und was Shaftesburi so hoch anrät, teilen. Zwei Personen werden aus ihm, Der gehandelt hat und Der seine Handlungen jetzt erzählt oder beschreibet.« (Zitat fortgesetzt – Cs.L.) J.G. Herder: Adrastea, S. 212. Zum »alles zu sagen« bei Rousseau und der »Profanisierung von Beichtpraxis und Absolution« vgl. H.R. Jauß: Wege des Verstehens, S. 53-54. Zum Verhältnis von Aufklärung und Geheimnis vgl. M. Voigts: Thesen; H.J. Lüsebrink: Öffentlichkeit/Privatheit/Geheimnis.
10 B. Theisen hat diesen quasi-paratextuellen Zusammenhang formalisierend aufgezeigt, und dabei von der »Verschiebung des gesellschaftlichen Erzählerkreises auf die anonyme Öffentlichkeit der einsetzenden Massenkommunikation« gesprochen, welche Verschiebung hier jedoch auch in die »unerhörte Begebenheit« führe und nicht nur als Rahmentechnik zu werten sei. Vgl. Gerahmte Rahmen, S. 160-164. Dass aber gerade dieses Ereigniswerden des öffentlichen Rahmens mit Kategorien der »Metakommunikation« nicht zu fassen ist, wird in dieser Arbeit gezeigt. Ferner vermag Theisen letztlich nicht zu erklären, warum es zu den »Erklärungen« über Erklärungen in der Erzählung kommt, sie lässt diese Serialität einem reflexiv-metakommunikativen
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Rahmen oder den Hintergrund bildet zum Text des Aufrufs, aber auch umgekehrt (diese Verschränkung von Hintergrund und Vordergrund findet statt etwa auch auf der narrativen Ebene zwischen der Erzählstimme und den einzelnen Figurenreden). Dieser Novellen-Text als mise en abyme verdichtet in sich mehrere Aspekte der Gattungsproblematik: die schon behandelte Rahmengebung, die relativierte Autorität des Erzählers (er selber zitiert den Text ja auch), die (problematische) referentielle Identifizierbarkeit des eigentlichen Geschehens und den Komplex der zeitlichen Konstellationen (unbekannte Vergangenheit; verdoppelte Zukunft: des Treffens bzw. der Ehe). So kommt es hier darauf an, die sprachliche Strategie, die illokutiven und diskursiv-textuellen Strukturen (der Annonce) und ihre referentiellen wie performativen Konsequenzen und Implikationen bzw. Widersprüchlichkeiten zu analysieren, weniger über mögliche Motivationen der Marquise nachzudenken, was ja letztlich spekulativer Art bleiben muss.11 Die Annonce – die Selbstsimulation der »Novelle« – erscheint genauer genommen als ein Zeugnis, das zwischen dem überzeitlichen Exemplum (der »unbefleckten« bzw. »unbewußten« Empfängnis) und der veröffentlichten, sogar aufgeschriebenen Zeitlichkeit (der »Vergänglichkeit«) situiert ist bzw. zwischen diesen vermitteln soll. Die Annonce als Nachricht über eine unerhörte Begebenheit bezieht sich auf die Vergangenheit wie auf die Zukunft (als Verkünderin eines »aevum«), zugleich ist sie datiert. Diesen Polen lassen sich ferner zuordnen die Instanzen des auf transzendente Weise verbürgten Glaubens (das die Marquise für sich in Anspruch nimmt) und der ambivalenten, auf Versprechen angewiesenen Glaubwürdigkeit der profanen und mediatisierten Redeakte.12 Der
Moment entspringen, wobei sie jedoch einem tieferen Fehlen – der Unbeweisbarkeit (oder »Nichtkommunizierbarkeit«) von Wahrhaftigkeit – zu verdanken ist. 11 Man könnte sogar argumentieren, dass die Marquise insgeheim darauf hoffe, dass sich niemand melden würde und so ihre Integrität unverletzt bliebe – doch erklärt diese Annahme nicht, warum sie den »sonderbaren Schritt« riskiert, der übrigens eine »ihr innerstes Gefühl verletzende Natur« besitzt (S. 127). Ganz zu schweigen davon, dass damit ihre Glaubwürdigkeit vor der Öffentlichkeit noch bei weitem nicht wiederhergestellt würde. Ferner nimmt sie die Versicherung des Grafen nicht an, in der er ausdrücklich seinen Glauben an ihre Unschuld – aus ihrer Sicht bar einer referentiellen Wissensgrundlage – beteuert (S. 128). 12 Bezüglich der »Beichte« der Marquise könnte wohl die Problematisierung pietistischer Motive zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit verfolgt werden (der Pietismus war ja für die Erziehung von Kleist prägend gewesen, sein Einfluss zeigt
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Novelle – zumindest aber der Marquise – obliegt es gewissermaßen, die transzendente Verkündigung (vgl. Graf als »Engel«)13 im profanen und öffentlichen Medium zu lesen. Das Lesen selbst wird demnach als Korrelat eines Versprechens, des gegebenen Wortes, stattfinden und sich in dessen Komplikationen verwickeln. Der Aufruf inszeniert sowohl ein performatives wie auch ein referentielles Interesse, er kontaminiert demnach zwei Aspekte, einerseits die performative, andererseits die kognitive Dimension der Sprache, d.h. das Versprechen und den Vertrag. In erster Linie ist der Aufruf ja ein Geständnis, um nicht zu sagen eine Beichte einer wirklich »unerhörten Begebenheit« als eines unmöglichen Ereignisses, die vor der Öffentlichkeit abgelegt wird, und der die Funktion der Selbstrechtfertigung zukommt, um die Ehre der Marquise (und der Familie) wiederherzustellen. Es ist ein Eid, durch den geschworen wird, dass sie von dem Vorfall nichts wisse, und somit ihrer Glaubwürdigkeit Glauben zu schenken sei. In diesem Sinne ist das ein Zeugnis, das gerade ein Nicht-Wissen mitteilt, von einem Widerfahrnis zeugt, das die Zeugin nicht in eine konstative Aussage umformen kann, was für sie selbst traumatisch sein kann (der Text präsentiert somit eine Urszene der Zeugenschaft).14 Wohlgemerkt entspringt dieser Eid keiner performativen Potenz oder Vermögen, vielmehr einem un-möglichen Ereignis. Ferner könnte man mit Freud sagen, das Bewusstsein entstehe an Stelle der Erinnerungsspur, einer Spur, die jedoch nur in ihren Folgen und Wiederholungen da ist, da sie nicht als solche erlebt wurde.15 Gerade ein Rätsel bzw. Geheimnis wird
sich auch in seinen Jugendschriften). Zum letztgenannten Komplex vgl. Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. 13 Zur Engelfunktion als Vermittlerin zwischen Ewigkeit und profaner Zeitlichkeit im Zeichen des »aevum« vgl. C. Vismann: Akten, S. 154. 14 »›Passion‹ konnotiert, stets im Gedenken an die christlich-römische Bedeutung, das Martyrium, das heißt, wie sein Name es anzeigt, das Zeugnis. Es ist immer eine Passion, die Zeugnis ablegt. Selbst wenn das Zeugnis stets den Anspruch erhebt, in der Wahrheit von der Wahrheit für die Wahrheit zu zeugen, besteht es um des Wesentlichen willen nicht darin, eine Kenntnis mitzuteilen, wissen zu lassen, zu informieren, das Wahre zu sagen.« Und: »Wenn der Märtyrer Zeugnis ablegt, erzählt er keine Geschichte, sondern gibt sich preis. Er zeugt von seinem Glauben, indem er sich preisgibt oder indem er sein Leben oder seinen Körper preisgibt, und dieser Zeugnisakt ist nicht nur eine Verpflichtung, sondern verweist auf nichts anderes als auf seinen gegenwärtigen Moment.« J. Derrida: Bleibe, S. 25, 40. 15 S. Freud: Jenseits, S. 235. Da das Zeugnis der Marquise sofort in den Vertrag (mit all seinen rechtlich-gesellschaftlichen Implikationen) überformt wird, wird sich der Satz
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bezeugt, aber öffentlich. Es geht ja um die (sexuelle) Unschuld, die von der Aufrichtigkeit dieses Geständnisses umso mehr unterstrichen werden soll (wo also die eigentliche Unschuld von einem sprachlichen Akt – einem »sincerity act«16 – gleichsam ausagiert werden soll).17 Da dies aber nur in der Öffentlichkeit betätigt werden kann, wird der Beichtenden im gleichen Zuge eine Rolle (der Selbstapologie) zugemessen.18 Für ihre Glaubwürdigkeit gibt es kein Alibi19 und keinen wahren Zeugen in der Öffentlichkeit, dieser ist eben der Täter, der durch denselben Aufruf gefunden werden sollte.20 Nur er könnte die Marquise
Freuds bestätigen, dass »Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind.« Ebd. 16 Vgl. dazu neuerdings den Band The Rhetoric of Sincerity. Die Aufrichtigkeitsakte werden in diesem Band aber vorwiegend als (semiotischer) Ausdruck eines Inneren (als »Phänomenalismus der inneren Welt«, mit Nietzsche gesprochen) oder als im – näher liegenden – Sinne vom »doing sincerity« (»veritas facere« von Augustin nach Joh. 3,21), jedoch vornehmlich als Handlungen verstanden (im letzten Fall analogisch zur etwas überbewerteten »Performanz« in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften; vgl. dagegen die nachhaltige Kritik Derridas am Begriff des »Performativen«, z.B. Countersignatures, S. 39, ferner Die unbedingte Universität, S. 71-74). Oder aber als medialer Inszenierungsakt, bei dem es überflüssig werde, nach inneren Akten zu fragen. In all diesen Vorstellungen kommt letztlich das Wesentliche der Problematik zu kurz, nämlich dass solche Akte vordergründig (ob ausgesprochen oder nicht ausgesprochen) Versprechen darstellen und auf das Bezeugen eines Anderen angewiesen sind, somit den Meineid, das falsche Zeugnis immer schon auf beiden Seiten implizieren. – Im Folgenden geht es darum, dass die pietistische Forderung der Extroversion (»die Wahrheit tun« als »ans Licht kommen«, vgl. Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit, S. 10) in der Novelle im Öffentlichkeitsdispositiv als ambivalent erscheint, sowohl in epistemologischer als auch in ethischer Hinsicht. 17 Wenn der Graf seinen »Ruf« – den personalen »Ruf« überhaupt – als »die zweideutigste aller Eigenschaften« charakterisiert, schwört er nachher, dass seine »Versicherung wahrhaftig sei«, die der Obrist auch »unterschreibe[n]« würde (S. 112). 18 Die weiteren möglichen Funktionen der Annonce – Anzeige gegen einen unbekannten Täter oder gar »Partnersuche« – könnten auch die Rollenfiguration akzentuieren. 19 Dieses Motiv führt auch Der Zweikampf weiter, wo Littegarde ihre Ehre ohne Alibi verteidigen muss und dabei eine Beichte ablegt, der Herr Friedrich gerade in Entbehrung eines Beweises Glauben schenkt (S. 252-254). Sie wird zwischen dem Wissen bzw. Glauben an die eigene Unschuld und die göttliche Gerechtigkeit situiert. 20 Der Text schreibt sich damit in eine alte politische Problematik ein: »Was Sokrates und Machiavelli politisch beunruhigte, war nicht die Lüge, sondern das Problem des
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ihrer verwickelten Lage entheben, sie von ihrer potentiellen Schuldigkeit freisprechen.21 Bekanntlich versucht der Graf diese Beichte auf indirekte Weise zu
vor aller Welt verborgenen Verbrechens, von dem keiner erfährt außer dem Verbrecher selbst« (H. Arendt: Über die Revolution, S. 129). Der Graf versucht ja, ein solches Verbrechen der Kenntnisnahme anderer (da gerade dem Opfer) zu entziehen, indem er kurz nach dem Vorfall energisch um die Hand der Marquise wirbt. Hören wir aber Arendt weiter: »In unserem Zusammenhang ist ausschlaggebend, daß der sokratische Täter in sich selbst einen Zeugen mitführt, vor dem er sich nicht verbergen kann, daß es also Taten, die von niemandem gesehen werden und darum überhaupt nicht in Erscheinung treten, nicht gibt.« (ebd., S. 130) Das ist das alte Postulat der Sichtbarkeit der Gewalt, mit dessen Erfüllung man überhaupt von Gewalt reden kann (vgl. A. Haverkamp: Kritik der Gewalt, S. 33). Dass das z.B. im Falle des Holocaust nicht zutrifft, sollte evident sein (vielleicht deswegen gibt es auch Leugner des Holocaust). Und so wird Arendts idealistische Schlussfolgerung auch brüchig: »Wie weit auch ein Mensch sich aus der Gesellschaft seiner Mitmenschen entfernen und was immer er, verlassen von Menschen und Göttern, anstellen mag, ihm bleibt ein ›Publikum‹, das sich wie jedes andere Publikum jederzeit in einen Gerichtshof verwandeln kann, dem er Rede und Antwort stehen muß. Spätere Zeiten haben dieses Tribunal, dem keiner entfliehen kann, ›Gewissen‹ genannt, aber sie haben nicht bedacht, daß dieses Gewissen, wenn es nicht als Gottes Stimme im Menschen verstanden ist, nicht funktionieren kann, wenn Menschen sich weigern zu denken bzw. sich weigern, mit sich selbst zu sprechen und Umgang zu pflegen.« (H. Arendt: Über die Revolution, S. 130-131) Hier spielt das Gewissen die Rolle des Dritten, der im Bewusstsein des Täters implementiert wird und durch diese Adressierung die »Tat« wiederherstellt, d.h. ihre Beziehung zum Täter festschreibt. Der Haken bei Kleist ist natürlich, dass der Graf gerade nicht einfach wegen seiner selbst schweigt, sondern um den guten Ruf der Marquise nicht zu gefährden. Also handelt er sowohl ethisch (und diese Ethik richtet sich hier auf den Anderen, im Unterschied zu Arendts Tribunal) als auch nichtethisch, und wer würde da eine klare Gewichtung wagen! Darüber hinaus kann gerade die innere Stimme des Täters als Autorisierung der Tat, als Berufungsgrund des Täters fungieren, vor dieser Depravierung ist keine innere Stimme des kategorischen Imperativs (gerade als eines Diktats) gefeit – genau dieses Dilemma könnte ein Thema der Erzählung von Kleist sein (darauf kommen wir zurück). 21 Der Graf verkörpert hier die Figur des Dritten, ihm eignet die dieser Figur charakteristische Verdopplung: als Täter stellt er die »Irritation«, als Zeuge die »Institution« dar (vgl. A. Koschorke: Institutionentheorie, S. 49). Er steht innerhalb wie außerhalb der kulturell-politischen Ordnung (wie ein Parasit) und zeigt eine Verschränkung von institutionellen (Vertrag) und informellen (Familie) Triaden an. Die Öffentlichkeit
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leisten (z.B. mit seiner Traumerzählung, S. 116), ohne aber von der Marquise in seiner Funktion als Zeuge (an)erkannt zu werden. Das ist hier exakt die Lacansche Konstellation: »das Unbewußte des Subjekts [also der Marquise] ist der [quasi-performative] Diskurs des anderen [also des Grafen]«, gewissermaßen auf telepathische Weise miteinander verbunden (gerade durch einen Traum dargestellt und akzentuiert).22 Die Ermittlung der referentiellen Umstände der Tat und des Täters soll also mit der Entschuldigung der Marquise zusammenfallen: Epistemologie und (öffentliche) Moralität sollen so zur Deckung kommen. Der Tat muss ferner ein Zweck gegeben (nicht nur die Person des Täters, die Referenz soll ermittelt werden), sie muss in die Rechtsordnung zurückgeholt werden (über die Identifizierung des Täters hinaus)23, und dies wird vom Vertrag – auch als einer legitimierenden wie legalisierenden Ermächtigung zum Versprechen – vollzogen.24 Dieser leistet zugleich eine Vergesellschaftung des Nachfahren als eines Individu-
wird in der Annonce unvermeidlich auch als Dritte adressiert, wobei ihr mehr die Rolle der Institution, dem Täter hingegen vordergründig die Rolle der Irritation zukommt. 22 Vgl. J. Lacan: Funktion und Feld, S. 104. 23 Zur Verbindung von Strafe und öffentlicher Gewalt – im Unterschied zur Gewalt des Souveräns (sogar antagonistisch zu ihr) – vgl. M. Foucault: Überwachen, S. 103-104. Zur Beziehung von Strafgewalt und Gesellschaftsvertrag vgl. ebd., S. 114-119. Der genealogische Blick von Foucault ist evidenterweise an Nietzsche geschult (vgl. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne und Zur Genealogie der Moral). Zur »Ökonomie der Öffentlichkeit« nach dem Souverän vgl. Foucault: »Jetzt ist der Träger des Exempels die Lektion, der Diskurs, das lesbare Zeichen, die Inszenierung und Abbildung der öffentlichen Moralität. Die Zeremonie der Züchtigung beruht nicht mehr auf der schreckenerregenden Wiederherstellung von Souveränität, sondern auf der Wiederinkraftsetzung des Gesetzbuches, auf der kollektiven Festigung des Bandes zwischen der Idee des Verbrechens und der Idee der Strafe […] Die öffentliche Bestrafung ist die Zeremonie der unmittelbaren Wiederherstellung des Codex/Code.« ebd., S. 141-142. Im Text von Kleist wird der Code aber wohl erst etabliert, nicht einfach wiederhergestellt und dieser Aspekt markiert den Übergang zur Technologie der Individualität (ebd., S. 165). 24 Auf diese Weise nimmt die Marquise einen doppelten Vertrag auf sich, im Sinne des »double rapport« von Rousseau: als Partizipantin der Gesellschaft als Macht verpflichtet sie sich gegenüber den Privatpersonen (hier: dem Grafen als Täter oder Verbrecher), und als Mitglied der Gesellschaft gegenüber der (Macht der) öffentlichen Meinung. S. ferner I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 382.
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ums,25 sogar im Sinne einer Biopolitik.26 Die Person, nach der gesucht wird, erscheint von vornherein als ein referentieller Zeuge, eben als Täter, ferner als Vertragspartner, d.h. in beiden Fällen als ein Rechtssubjekt, kein singuläres Individuum, sondern in einer Rolle situiert. Durch den ethisch-rechtlich-politischen Vertrag wird geradezu das (ursprüngliche) sprachliche Versprechen (der Wahrhaftigkeit) kontraktualisiert und dadurch als solches bestimmt, auf der anderen Seite wird der Täter als Vertragspartner determiniert. 27 In diesem Sinne kann man sagen, dass die Erzählung als Narrativität – die auf dem Vertrag basiert – zwischen Kognition und Moralität, Natur und Kultur, ferner zwischen Wissen und Handeln, zwischen Wort und Tat vermittelt und diese Verbindung privatrechtlich absichert.28 Weder die Narrativität noch die Verbindung zwischen den
25 In Übereinstimmung mit der historischen Funktion der Vertragsfigur in der bürgerlichen Gesellschaft in Preußen am Anfang des 19. Jh.s, vgl. R. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 471-472. 26 Am Ende der Erzählung geht die Ehe der Marquise und des Grafen bekanntlich in eine regelrechte Lebensproduktion über (»Eine ganze Reihe von jungen Russen folgte jetzt noch dem ersten«, S. 143), vorhin wurde der ihr damals noch unbekannte Täter von der Marquise als »zum Auswurf seiner Gattung« gehörend bezeichnet (S. 127). Die Erzählung inszeniert dadurch den Übergang zum modernen Dispositiv der biopolitischen Kontrolle im Zeichen des Kollektivsubjekts »Bevölkerung«, über das bekanntlich Foucault handelte, vgl. jüngst: Kritik des Regierens, S. 65-88. In dieser Hinsicht weist der Vertrag auf das von Foucault so genannte »Allianzdispositiv« hin, das durch die Familie mit dem Sexualitätsdispositiv verknüpft wird: »Die Familie ist der Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz: sie führt das Gesetz und die Dimension des Juridischen in das Sexualitätsdispositiv ein und transportiert umgekehrt die Ökonomie der Lust und die Intensität der Empfindungen in das Allianzregime.« (M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 131.) Folgender (freudianischer) Punkt ist noch relevant für Die Marquise von O…: »Diese Verhäkelung von Allianz und Sexualität in der Familie macht einige Tatsachen verständlich: daß die Familie im seit dem 18. Jahrhundert ein obligatorischer Ort von Empfindungen, Gefühlen, Liebe geworden ist; daß die Sexualität ihre bevorzugte Brutstätte in der Familie hat; und daß sie sich aus diesem Grunde ›inzestuös‹ entwickelt.« (ebd.) Die Aussöhnung der Marquise mit ihrem Vater findet bekanntlich in einer quasi-inzestuösen Szene statt (S. 138). 27 Der Graf verharrt ja während der gesamten Erzählung in der Anonymität, der Buchstabe für seinen Namen – »F« – wurde gar als Deckname für »fecit« ausgelegt, also die juristische Bezeichnung für den Täter. 28 Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 wurden im Kontext des Eherechts die Vermögensrechte der Frau besonders geschützt, auch die Rechte der unehelichen
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genannten Bereichen und diese selbst sind als solche gegeben, sie konstituieren sich erst in ihrer wechselseitigen Verbindung, ohne aber eine restlose Kontinuität errichten zu können. Zusammengefasst: die Marquise versucht, Tun und Täter, das eigene (wahre) Versprechen und sich selbst zu verknüpfen (als Prinzip ebendiesen Versprechens), dieses Postulat wird gleichsam von der Suche nach dem (männlichen) Täter gespiegelt bzw. modelliert. Ihr Zusammengehören wiederum soll vom Vertrag gewährleistet werden (was freilich auf die prekäre Seinsweise dieser Verbindung[en] hindeutet). Im Grunde kommt die Annonce einem An-akoluthon (nicht einfach einem »Skandalon«)29 gleich, einem performativen Akt, einem Versprechen, das nach seinem Zeugen ruft, nach einem Begleiter, 30 hier auch wortwörtlich, indem der Zeuge zum Lebensgefährten der Marquise werden soll. Ein solcher Aufruf, der sich selbst, seine Performativität nicht selber – und anhand keiner Konvention – fundieren kann, sondern auf eine gegenzeichnende Zeugenschaft angewiesen ist, ist sowohl privat wie öffentlich.31 Dieser Anruf ist das Korrelat jenes Fehlens, das vom Zeugnis selbst aufgerufen wird (ein Zeugnis für das Fehlen einer Bezeugung)32 – das auch den Zeugen verdoppelt, in eine Rolle der sich entschuldigenden und rechtfertigenden Rede (bar referentieller Beweise) und in den eigentlichen Zeugen, der als »Objekt« des Widerfahrnis bezeugt wird. Das Zeugnis selbst treibt dieses Fehlen hervor, in der Rolle ist der Zeuge immer schon auch der Dritte – welche Figur hier von der öffentlichen, schriftlichen Annonce noch verstärkt wird. Das heißt natürlich auch, dass das »Unerhörte« in jeglicher Hinsicht (z.B. auch medial) vom Zeugnis selbst mit veranlasst wird.33 Die implizite Fiktionalität des Zeugnisses wird somit aktiv (wegen der testimo-
Kinder (vgl. am Ende der Erzählung die »Schenkung von 20000 Rubel an den Knaben« und das »Testament«, in dem die Mutter zur Erbin seines Vermögens wird). Vgl. R. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 473. 29 Vgl. G. Neumann: Skandalon. 30 Vgl. Derridas performativ-testimonial orientierte Ausdeutung des Begriffs Anakoluthon: ›Le Parjure‹. 31 Vgl. nochmals J. Derrida: Die Postkarte I, S. 227. 32 Vgl. J. Derrida: Bleibe, S. 30-31. 33 Manfred Schneiders These bedarf daher der Ergänzung bzw. Korrektur: den »Riß der Sprache« im 18. Jh. durch Literatur zu schließen (Die Inquisition der Oberfläche, S. 109), ist nur die eine Seite der Medaille, da Literatur diesen Riss sehr wohl auch selber öffnet.
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nialen Ambivalenz)34, und es finden Kreuzungen zwischen fiktiv und nichtfiktiv, geheim und öffentlich statt, wo also diese letzteren sich entzweien, können sie sowohl Fiktion wie Nicht-Fiktion darstellen. Im gleichen Moment stellt der Aufruf aber den Vertrag dar, im Sinne der in Aussicht gestellten Eheschließung »aus Familienrücksichten«. Dieser Vertrag wiederum verdoppelt sich, so wie die Position des komplementären Zeugen zwischen individuellem Täter und transindividueller Öffentlichkeit sich entzweite, da bereits das Anbieten der Eheschließung ein Vertrag ist (für das Sich-Melden des Vaters), der wiederum im Ehevertrag münden soll. Der Aufruf zeigt also einen Vertrag im Bezug auf die Wahrhaftigkeit des »Bekenntnisses« an, indem diese durch jenen unterstützt werden soll im Sinne eines Pfandes. Die Marquise verpfändet ihre eigene Zukunft, sie institutionalisiert sie sogar, um die Glaubwürdigkeit ihres Bekenntnisses zu sichern. Als ob man sich der (vermeintlich privaten) Vergangenheit nur durch eine (angeblich öffentliche) Politisierung der Zukunft vergewissern könnte. Wohlgemerkt geht dieses Versprechen durch den Vertrag oder in ihm bereits mit einem Meineid einher, da die Marquise nach dem Tod ihres Mannes sich und ihrer Familie versprochen hatte, nicht mehr zu heiraten.35 Dies bedeutet hier nichts weniger, als dass der Vertrag das Versprechen (der Unschuld) in den Sündenfall hineinverwickelt.36
34 Derrida schärft wiederholt ein, dass das Zeugnis vor der Fiktion nie gefeit sein kann, vgl. Bleibe, S. 84-85. 35 Sie bekräftigt diese Entscheidung nach dem Werben des Grafs ihrer Familie gegenüber. Gleich darauf nimmt sie sie aber auch zurück, in einer merkwürdig stotternden Rede: »… wie würdest du dich, falls er alsdann seinen Antrag wiederholte, erklären? In diesem Fall, versetzte die Marquise, würd ich – da in der Tat seine Wünsche so lebhaft scheinen, diese Wünsche – sie stockte, und ihre Augen glänzten, indem sie dies sagte – um der Verbindlichkeit willen, die ich ihm schuldig bin, erfüllen.« (S. 117) K. Schwind weist zu Recht darauf hin, dass diese Szene »ein kleines Lehrbeispiel für die Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« darstellen könnte (Heinrich von Kleist, S. 56). Interessanterweise mündet diese allmähliche Verfertigung gleich in die Vertragsstruktur hinein, diese scheint gewissermaßen mit jenem Vollzug zusammenzufallen, oder vielleicht anders: gleichsam im Nachhinein wird diesem Versprechen die ökonomische Konstellation der Schuld und ihrer Aufhebung untergeschoben als eine Art Legitimationsakt. Die Marquise scheint ihrer Sprache doch nicht ganz mächtig zu sein, und so bleibt es unentscheidbar, ob die ökonomische Fundierung ihres Versprechens ihr unterläuft oder ob sie intentional erfolgt. 36 In Kleists Drama Die Familie Schroffenstein etwa stellt der Erbvertrag »die entmythologisierte Form des Sündenfalls« dar, vgl. J. Pfeiffer: Die zerbrochenen Bilder, S. 39.
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Der Ehevertrag ist auch doppelsinnig: die »Familienrücksichten« können sich ja sowohl auf die Familie der Marquise beziehen, die in der Tat mit Entrüstung auf den »anderen Umstand« der Marquise reagiert, aber auch auf die Zukunft des Nachkömmlings und die Konstitution der Familie mit dem gefundenen Vater.37 In diesem zweiten Fall spricht die Marquise in der Rolle der künftigen Ehefrau, aus der Sicht der »bürgerlichen Gesellschaft«, der familiären Intimität.38 Somit könnte man sagen, dass das Hinaustreten der Marquise in die
37 Sie lässt »jene sonderbare Aufforderung in die Intelligenzblätter von M… rücken«, nachdem sie auf den »unerträglichen Gedanken« kommt, dass »dem jungen Wesen […] ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben« würde (S. 126-127). Andererseits ist auch diese Begründung – in Bezug auf welche Familie auch immer – nicht zu überbewerten (d.h. eine weitere Möglichkeit der Allegorese wird vom Text suspendiert), da am Ende der Vater schlicht mit der Berufung auf ihr gegebenes Wort die Umsetzung des Heiratsvertrags initiiert. Die Annonce als Vertrag wird zu einem Totem und in diesem Sinne zu einem Kulturalisierungsdispositiv: »Das totemistische System war gleichsam ein Vertrag mit dem Vater […] Es lag auch ein Rechtfertigungsversuch im Totemismus […] So verhalf der Totemismus dazu, die Verhältnisse zu beschönigen und das Ereignis vergessen zu machen, dem er seine Entstehung verdankte.« (S. Freud: Totem und Tabu, S. 428) Überhaupt könnte die Suche nach dem Vater könnte als eine Allegorie der Kulturalität gelesen werden, vgl. noch einmal Freud: »… diese Wendung von der Mutter zum Vater bezeichnet […] einen Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, also einen Kulturfortschritt, denn die Mutterschaft ist durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut.« (Der Mann Moses, S. 560) Kulturelle und rechtliche Gewalt lassen sich bei Kleist voneinander schwer trennen – dazu gesellt sich die gouvernementale Gewalt, die die Subjekte »charakterisiert, klassifiziert, spezialisiert« (M. Foucault: Überwachen, S. 286), hier: sie zu Subjekten der erwähnten Lebensproduktion macht. Kleists Erzählung buchstabiert also diesen grundlegenden historisch-politischen Übergang im frühen 19. Jh. aus (zu diesem Komplex um 1800 vgl. Kittler: Dichter, Mutter, Kind). Alle drei institutionellen Gewalten aber antworten in seinem Text (und auch in anderen Texten von ihm) auf ein Ereignis, dessen unvordenkliche Gewalt und ihre Verschwisterung mit der Sprache jenen vorausgehen und die jene sowohl wiederholen als auch – sogar durch Autorisierungsstrategien – verdecken. 38 Auf der Ebene der politischen Allegorie erscheint diese vorweggenommene Rolle als eine geschichtsphilosophische Legitimation der sich durch die Öffentlichkeit formierenden bürgerlichen Gesellschaft (zur Geschichtsphilosophie als »politischer Macht« vgl. R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 112-113). Ihr Ziel ist letztlich die Aufhebung
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Öffentlichkeit – das Rollenmuster des sich im gleichen Zuge entschuldigenden Zeugnisses – nur erfolge, um sich gleich darauf »in ihr Innerstes« zurückziehen zu können (hier könnte eine Kritik der bürgerlichen Öffentlichkeit bei Kleist angedeutet werden).39 Der öffentliche Aufruf wäre in dieser Hinsicht berufen, die ethische Immunität, den Selbstschutz der Marquise herbeizuführen, folglich kommt der Öffentlichkeit hier eine sowohl existentielle als auch instrumentale Bedeutung zu, um die Zukunft (via Vertrag) – auch die Zukunft des Versprechens – zu beherrschen. Der öffentliche Aufruf als Versprechen konnotiert einen Ausnahmezustand, insofern seine referentielle und konventionelle Basis aufgehoben ist und auch der Täter sich nicht mit absoluter Gewissheit identifizieren und legitimieren kann (vgl. den Fall der Stellvertretung mit Leopardo, dem Jäger, der dabei zu einem Quasi-Opfer wird – vielleicht daher der Tiername für den Jäger von Tieren?). Überhaupt die öffentliche Meinung als Medium für die Aufklärung der rätselhaften Begebenheit zu benutzen, inauguriert oder wiederholt den Ausnahmezustand, insofern die Reaktionen oder Taten Einzelner ausschlaggebend sein können.40 Dieser Ausnahmezustand wiederholt gewissermaßen die Szene des Ansturms41 und wird zu einem echten Schock, in doppelter Hinsicht: die
noch der Vertragsfigur und die utopische Etablierung des Naturzustandes: »… the second wedding seems called for to overcome the contract of the first. Then there is perhaps no contract in effect, which implies that the family remains in the state of nature« (S. Cavell: Conditions, S. 122). 39 In der Fachliteratur wurde auch wiederholt festgestellt, dass die Marquise sich nach dem Publizieren der Annonce fast ausschließlich auf ihrem Besitz, völlig zurückgezogen aufhält (gleichsam à la Rousseau). Zur Korrespondenz von öffentlicher Präsenz und dem Rückzug auf den Besitz vgl. die These von J. Habermas über die ökonomische Grundlage der Öffentlichkeit: Strukturwandel, S. 121. Die familiäre Individuumproduktion kann nur über den »Umweg« durch die gesellschaftliche Öffentlichkeit erfolgen, in der kulturelle und politische Dispositive wirksam sind und die sich schwer unterscheiden lassen von der familiären Intimität und ihrer Triangulation (Vater, Mutter, Kind). Vgl. die bekannte Kritik an der Ödipalisierung bei G. Deleuze/F. Guattari: Anti-Ödipus. 40 Für diesen Ausnahmezustand gibt nicht zuletzt die Kleist-Rezeption ein Beispiel ab, z.B. die Streuung der (oft einseitigen) moralischen Beurteilung der Protagonisten betreffend. 41 Wohlgemerkt aber viel subversiver: die Sturmszene war noch ein regelrechter gesellschaftlicher Repräsentationsprozess mit seinen normierten Verhaltensformen im Ver-
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Veröffentlichung des Aufrufs und dann das Erscheinen des Grafen als Täter. Die Referenz, die durch das Medium der öffentlichen Kommunikation ermittelt wird, wiederholt den Schock, sie bestätigt keineswegs nur die Überzeugung der Marquise (dafür aber die Überzeugung von anderen, der Hebamme, des Vaters usw.). Öffentlichkeit oder öffentliche Meinung können hier also nicht nur als Reizschutz funktionieren,42 sondern auch als dessen unvorhergesehene Durchbrechung. Auf diesen Effekt antwortet der Vertrag – angeboten freilich wiederum in derselben öffentlichen Kommunikation –, der mit seiner normativen Funktion den eigentlichen Reizschutz garantieren soll (für die Zukunft). Mit den Worten Kants über die Vertragsstruktur gesprochen: das ursprüngliche Versprechen ist »das Versprechen (promissum)«, die Realisierung des (Ehe)Vertrags vom Anderen hingegen »die Annehmung (acceptatio)«.43 Dass die Annonce bei Kleist in Versprechen und Vertrag zerfällt, sogar den Vertrag auch verdoppelt (ökonomischer Tausch bzw. Ehe), wirft ein interessantes Licht auf die Kantsche Bestimmung, wie diese auch die Einsätze bei Kleist klären kann. Das Ineinander von Sich-Melden und dem Eingehen der Ehe – diese beiden setzen sich wechselseitig voraus – entspricht der Einheit von »Schließung und Vollziehung«, der Vertrag »schließt alle Zwischenzeit« zwischen diesen, ihre Aufeinanderfolge aus (denn »durch den Vertrag also erwerbe ich das Versprechen eines anderen (nicht das Versprochene) und doch kommt etwas zu meiner äußeren Habe hinzu …«, S. 386). Dies kann gewissermaßen auch das Versprechen charakterisieren: das Geben und Nehmen des eigenen Wortes gehören zusammen, wenn ein gegebenes Wort (ein Versprechen) zurückgewiesen wird, so ist es nichtig. Bei Kant hingegen geht es um eine Totalisierung – er argumentiert länger gegen die Einführung einer »bestimmten Zeit« zwischen den beiden Komponenten des Vertrags –, die aus »einem einzigen gemeinsamen Willen«, »(welches durch das Wort zugleich ausgedrückt wird)«, hervorgeht (S. 385). Persönliches Recht und dingliches (Sachen)Recht sollen im Vertrag so nahtlos zur Deckung kommen (auch wenn Kant eine Zeitdifferenz zwischen ihnen u.U. einzuräumen bereit ist und sagt, diese solle wieder durch einen zweiten Vertrag überbrückt werden), Kant bietet zugleich aber eine unbedingte Instanz an, die diese Einheit überhaupt fundiert: »das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« (S. 389). Dieser Sachverhalt wurde von ihm etwas früher gerade in
gleich zu den wiederholten Szenen, in denen die Marquise ihre Selbstkontrolle völlig verliert. 42 Zur Öffentlichkeit als defensivem Dispositiv oder Reizschutz vgl. N. Bolz: Weltkommunikation; B. Siegert: Es gibt keine Massenmedien. 43 I. Kant: Die Metaphysik der Sitten, S. 383. Weitere Seitenzahlen in Klammern.
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Bezug auf die Frage »warum soll ich mein Versprechen halten?« ausgeführt, die er folgendermaßen beantwortet: »Denn daß ich es soll, begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen […] Es ist ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen Bedingungen des Raumes und der Zeit, was den Rechtsbegriff betrifft, abstrahierenden) Vernunft, und die Lehre der Möglichkeit der Abstraktion von jenen Bedingungen, ohne daß dadurch der Besitz desselben aufgehoben wird, ist selbst Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag …« (S. 385) Auch »der Ehevertrag« – als Gesellschaftsvertrag – wird »durchs Gesetz der Menschheit« zu einem »notwendigen Vertrag« (S. 390). Mit texttheoretischen Termini könnte man sagen, das persönliche Recht – der Text – werde mit dem dinglichen Recht – mit der Referenz bzw. dem Handeln – verschmolzen oder identisch. Diese – vom Vertrag garantierte – Einheit wiederum wird verbürgt vom kategorischen Imperativ und dem Recht der Menschheit (Ethik und Gesetz werden identisch, wobei wir gesehen haben, dass wenn die erstere sich auf den Anderen richten muss, dies aus der Sicht des zweiten als unmoralisch erscheinen kann). Damit aber tilgt Kant die Differenz zwischen Versprechen und Vertrag (Verpflichtung), die bei Kleist wichtig wird, er totalisiert sie, und zwar durch die Berufung auf die Moralität (kategorischer Imperativ) und das Recht der Menschheit, also mit Größen, die anderswo bei ihm mit den Begriffen der Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Meinung besetzt werden und die auch (als der »Leumund der Welt«, S. 124) in der Erzählung eine implizite, gleichwohl kardinale Rolle einnehmen. Jene Differenz ist aber auch eine zeitliche (sie reißt entgegen den Vorkehrungen von Kant eine gespensterhafte »Zwischen-Zeit« auf), aus ihrer Ambivalenz resultieren die zeitlich-narrativen Komplikationen der Erzählung, indem z.B. unentscheidbar wird: hat denn die Marquise bereits bei der Ankündigung der Annonce ihr Versprechen (der Ehe) nicht ernst gemeint oder es beim Erkennen des Grafen als des Täters quasi zurückgenommen oder nicht einlösen können (bis der Vater darauf drängt, ihr Wort zu halten)? Bei Kleist scheint ein gewisses Nicht-Wissen (in referentieller Hinsicht) die Bedingung für das Versprechen darzustellen, zugleich kann das Versprechen erst durch die Überführung dieses Nicht-Wissens in eine referentielle Gewissheit mit einem Pfand versehen werden. So wird aber auch die Performativität des Versprechens eingeschränkt, für die das Nicht-Wissen konstitutiv ist: könnte man die Unschuld, die Glaubwürdigkeit usw. beweisen, so bräuchte man das Versprechen nicht mehr. Die Gegenzeichnung des Versprechens durch den paradoxer-
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weise einzig wahren Zeugen, der der Täter ist,44 ist nämlich auch auf eine Glaubwürdigkeit seinerseits angewiesen. Denn auch er – erst recht er – ist entzweit: als Täter und Zeuge, der aber im Späteren gerade von seiner Tat nicht zeugen kann; sein angeblich unwissendes »Glaubensbekenntnis« über die Unschuld der Marquise wird aber wohlgemerkt nicht angenommen: d.h. die Marquise glaubt letztlich nicht an die eigene Beichtehandlung (ohne referentiellen Garanten), insofern sie die selbe Handlung dem Grafen – dass er von ihrer Unschuld ohne Wissen überzeugt sei – anscheinend nicht zutraut.45 So nimmt auch die Beichte oder das Geständnis selbst das Attribut »unglaublich« an, nicht nur das rätselhafte Geschehen an sich. Die beiden Hauptfiguren stehen sich in einem spiegelsymmetrischen Chiasmus gegenüber: die Marquise bekennt ohne referentielles Wissen, der Graf legt seine Beichte nicht (bzw. nur indirekt) ab, dabei ist er sich über die referentiellen Umstände des Vorfalls sehr wohl im Klaren. Wissen und Bekennen, Erkennen und Handeln kommen nicht zur Deckung, zugleich finden Stellvertretungen zwischen den beiden Figuren statt, insofern die Marquise nicht als eine Zeugin des eigentlichen Geschehens gelten kann, und gerade deswegen ein (paradoxes und ambivalentes) Zeugnis ablegt, das der Graf zu bezeugen hat. In diesem Sinne aber stellt der Vertrag auch die Aufrichtigkeit des Täters auf die Probe, nicht nur stützt er die Wahrhaftigkeit des Geständnisses der Inserierenden (Versprechen und Vertrag können aber auch hier in keine pure Kontinuität treten).46 Darüber hinaus wird das Geheimnis – und das macht die paradoxe
44 »Der Graf erwiderte, daß […] ihre Erklärung über ihre Unschuld vollkommenen Glauben bei ihm fände …« (S. 128) »Der Zeuge ist an der Hervorbringung des Sündenfalls beteiligt« – schreibt Ch. Moser mit Blick auf Das Marionettentheater. Prüfungen der Unschuld, S. 102. 45 Sie kann die Versicherung des Grafen freilich auch nicht annehmen, da sie sich vor der Öffentlichkeit verpflichtet hatte, den Vater des Kindes zu heiraten. Zu diesem Moment steht natürlich der Sachverhalt in ironischem Kontrast, dass gerade ihre Familie ihr nicht glaubt (s. die Beweisprobe mit Leopardo, dem Jäger). Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit, Vertrautheit und Fremdheit, Kennen und Nicht-Kennen werden also mit den Polen des Privaten und Öffentlichen chiastisch vertauscht bzw. verunsichert. 46 Dieser Aspekt lässt sich mit Foucault als Moment der politischen Technologie der Individuen auffassen: das Geständnis des Grafen ist Voraussetzung für die (ökonomisch strukturierte) »Wiedergutmachung« des Verbrechens, die von der »kollektiven und nutzbringenden Aneignung« determiniert wird (und keine Ausstoßung aus der Gesellschaft zur Folge hat, im Gegenteil). Diese Struktur eignet dem Disziplinarsystem der Gesellschaft (vgl. M. Foucault: Überwachen, S. 139-141, 271-292). (Zur »Subjekt-
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Verschränkung von Geheimnis und Öffentlichkeit aus – gerade so gewahrt, dass der Täter ihr verbunden bleibt47, gar in den Vertrag des Performativen hineingelockt wird. So ist der im Aufruf erzeugten Konstellation, dem Archiv des Geständnisses auch eine theatralische mise-en-abyme-Struktur zu eigen: vor der Öffentlichkeit wird eine Beichteszene inszeniert, in der die »Sünderin« zwar ebendieser Öffentlichkeit gegenüber beichtet, zugleich aber doch nur von einer singulären Person freigesprochen werden kann (die Zeugnis für sie ablegt), die wiederum durch diesen Aufruf gefunden werden soll. Die Annonce spricht also gewissermaßen mit doppelter oder gespaltener Stimme,48 sie ist bereits in ihrer
werdung« vor dem Gericht des Gewissens und als Folge der autobiographischen Beichte als »Aktenführung« vgl. C. Vismann: Akten, S. 235-236; zum Übergang auch im Werk Kleists zwischen Naturrecht und Individualität, deren Operationsmodus die Selbstanalyse sein soll, vgl. Ch. Moser: Prüfungen der Unschuld, S. 92-112.) Freilich fehlt bei Kleist genau jenes Element, das die Öffentlichkeit wirklich mit einbeziehen könnte: »die Zeichen, die er [der Schuldige] von sich gibt« (M. Foucault: Überwachen, S. 141), vor allem das Geständnis seiner Tat, das bekanntlich nicht erfolgt. Dadurch fehlt auch die »Lektion« oder das »Exempel« in der Kleistschen Textur, und gerade dadurch wird seine Erzählung »unglaublich« bzw. »unerhört«, nicht einfach wegen der in der Tat ungewöhnlichen Begebenheit, sondern vor allem wegen des Fehlens der Erschließung des Inneren, d.h. der Intention und der Bedeutung der Beichte! Das Attribut »unerhört« oder »unglaublich« kommt einem Text nicht per se zu, sondern ist hermeneutisch bzw. performativ bedingt. Dieser Tatbestand könnte auch an die Grenzen der Foucaultschen Archäologie führen: es scheint, dass die politische Technologie der Individuen, die deren Gewohnheiten und Begehren (den »Körper«) zum Ausgangspunkt nimmt, da sie normierend verfährt, letztlich nicht-individuelle Momente an den Individuen beobachtet bzw. instrumentiert. Durch den Aufruf wird die Beichte des Täters erzwungen, er wird einer Prüfung unterworfen, die »die Individualität dokumentierbar« machen sollte (ebd., S. 243), dennoch gelingt dies nicht restlos, sondern nur in Bezug auf den Täter als Rechtssubjekt. Auch die politische Technologie der Subjekte schreibt diesen doch eine Souveränität zu, die am Kleistschen Horizont – vor allem aus sprachlichen Gründen! – nicht gegeben zu sein scheint. Ferner ist es fraglich, ob die Bußpraktiken (Beichte) nur in Kontexten der Macht auszulegen sind (wie M. Foucault dies suggestiv nahelegt, vgl. Der Wille zum Wissen, S. 77-81). 47 Im Sinne von »Schwöre mir, dass du nicht verrätst, was nicht zu verraten ich geschworen habe.« Vgl. J. Derrida: Die Politik der Freundschaft, S. 350. 48 Gleichsam in der Weise der akolytischen Struktur, vgl. wiederum J. Derrida: ›Le Parjure‹.
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Performativität gedoppelt: sie stellt einen Ruf nach dem Zeugen ihrer eigenen Glaubwürdigkeit dar, zugleich kann nur in ihrem Zusammenhang überhaupt vom Zeugen, dem ursprünglichen Täter, gesprochen werden (so wie auch nicht einfach von einer sprachlosen Unschuld, sondern von der versprochenen Unschuld die Rede sein kann). Die Divergenz zwischen der testimonialen Rolle der Öffentlichkeit und des singulären Zeugen – ein Kontrast, der in der paradoxen Vorstellung der »öffentlichen Beichte« aufscheint49 – schreibt sich beiden Akteuren ein: die Öffentlichkeit wird gleichsam adressiert, sie kann aber nicht für die Beichte einstehen, der eigentliche Zeuge kann nicht angesprochen werden, wobei letztlich nur er für die Glaubwürdigkeit der Beichte bürgen könnte.50 Er wird aber, wie gesagt, als referentieller Zeuge determiniert, als ein Rechtssubjekt, was die Zeugenschaft verrechtlicht und sie infolge dieser juridischen Codierung ihrer Einzigartigkeit beraubt. Zugleich wird gerade die Freisprechung durch den unbekannten Zeugen in der Annonce als einem Text theatralisch inszeniert oder präsentiert.51 Nun scheint diese Divergenz zwischen
49 So kann man feststellen, dass diese Figuration der Beichte in den Kreuzungen von Innerlichkeit, Familie, Öffentlichkeit und Gesellschaft mit der »Sorge um sich« und ihren Subjektivierungsdispositiven (Foucault) nicht angemessen zu beschreiben ist, diese stellt einen möglichen Aspekt dieser Konfiguration dar. Hier sind vornehmlich auch gemeinschaftlich-öffentliche Effekte und Einsätze im Spiel, und dies verkompliziert die Ausdeutung der performativen und referentiellen Implikationen dieser »Beichte« (zu einem ähnlichen Punkt vgl. F.-W. Korsten: The Irreconcilability, S. 69). (Überhaupt scheint Foucault die Institution der Beichte etwas einseitig, eben machttheoretisch auszulegen und nimmt dabei ihr Moment der Zeugenschaft ziemlich restriktiv – als Element einer Strategie – ins Visier.) 50 Diese Komplikationen zwischen Universalität und Singularität werden in Michael Kohlhaas im Kampf für die »Wahrheit« ausgetragen, welcher Kampf im oder als Ausnahmezustand stattfindet und dadurch die Gewaltsamkeit jeglicher Gesetzgebung aufdeckt: »The appeal to a justice that is private and at the same time universal, a law above the law, is intrinsically violent, even when that appeal is performed in the most nonviolent way, for example, by passive disobedience or by peaceful assembly.« J.H. Miller: Laying Down the Law, S. 93. 51 So erhält die Wiederholung der Hochzeit am Schluss der Erzählung ebendiesen theatralischen Effekt, welche Wiederholung wohlgemerkt vom Vertrag nötig gemacht wird. Hier agieren die Obristin wie der Obrist als Regisseure, als Stellvertreter statt der Marquise und zugleich als Schauspieler im »event«: die Mutter führt die Handlung gleichsam zum Ende (mit der Betonung der Notwendigkeit des Verzeihens, des Vergessens), während der Vater auf dem gegebenen Wort der Marquise beharrt. Die
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der Adressierung und dem eigentlichen Rufen aber strukturell mit dem Meineid verwandt zu sein: insofern die öffentliche und singuläre Funktion des Bekenntnisses und seiner Zeugenschaft miteinander nicht zu verschmelzen sind, so sucht die Verdopplung das Geständnis selbst heim, die aber nicht einfach einer Intention, sondern vielmehr dem Nicht-Wissen zuzuschreiben ist, das Möglichkeit und Unmöglichkeit des Geständnisses impliziert. So wird jedoch gewissermaßen Verrat geübt am erwarteten singulären Zeugnis des vermeintlichen Täters, insofern dieser von vornherein als Rechtssubjekt, als Partner des Vertrags oder als Rollenträger eingeführt wird, bevor man weiß, um wen es sich überhaupt handelt. Man kann sogar sagen, dass die »Versicherung« als Versprechen vom Vertrag, von seinem obligativen Zug aufgelöst werde, da ein Versprechen, das als eine Verpflichtung eingehalten werden muss, letztlich kein Versprechen mehr ist (vielmehr eine Ankündigung).52 So schließt der Vertrag das Geständnis eigentlich von vornherein aus, indem ihm letztlich kein Vertrauen geschenkt bzw. auf den Beweis abgehoben wird. Der Vertrag wird eingesetzt, um das Versprechen als eine Tat (wieder)herzustellen, seinen performativen Wert zu sichern, es vom Vertrag autorisieren zu lassen. Letztlich glaubt das Subjekt des Versprechens in dieser Konstellation nicht an das (eigene) Versprechen, dennoch vollzieht es seinen Sprechakt – auch diese un-glaubliche Leere im Versprechen selbst soll vom Vertrag ausgefüllt oder neutralisiert werden (neben der Feststellung der Identität des Täters). In der Metalepse zwischen Versprechen und Vertrag wird etwas versprochen, worauf man sich gleichzeitig beruft53 – das ist die latente Gewalt der Vertragsstruktur als solcher, die eine Macht inauguriert54 –, und folgerichtig verliert das Subjekt das Recht zu versprechen.55
Frage ist nicht endgültig zu beantworten: wem gegeben, dem Vater des Kindes oder der Öffentlichkeit oder gar der eigenen Familie? Die Stellvertreterfunktion der Mutter in der Auslösung des Verzeihens deutet auf dessen erpressten Charakter hin und legt die Gewaltsamkeit des Vergessens nahe (dies wird betont von S. Cavell: Conditions, S. 123-124. »… a denial, a violent forgetting of something whose reappearance is uncanny and may begin and recur as disappointing, hence is not a recovery of a former appearance or presentation«). Zur Theatralik in der Erzählung vgl. noch K. Schwind: Heinrich von Kleist, S. 66. 52 Vgl. hierzu die umsichtige Trennung von Versprechen und Verpflichtung bei H. Lipps: Bemerkungen. 53 Dieser Struktur entspricht der Sachverhalt, dass die Subjekte des Vertrags vor diesem nicht da sind. 54 Der Rechtsvertrag »verleiht jedem Teil das Recht, gegen den andern Gewalt in irgendeiner Art in Anspruch zu nehmen, falls dieser vertragsbrüchig werden sollte. Nicht
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Hier ist eine systematische Anmerkung angebracht. Die Annonce ist ihrer Verfasstheit nach eine Allegorie des Textes und seiner auf die Lektüre angelegten Seinsweise – nicht umsonst werden der Aufruf und sein Lesen mindestens viermal im Laufe der Erzählung in Szene gesetzt. Ein Modell für den »Text«, der demnach in einer doppelten Perspektive lesbar wird: im Aspekt einer allgemeinen Lesbarkeit aufgrund der sprachlichen Konventionen und Institutionen (der »Grammatik«) und in der Dimension einer Zeugenschaft, die vom Text nicht enthalten werden kann, nach der dieser nur rufen oder sie versprechen kann (die »Referenz«).56 Diese Zeugenschaft richtet sich auf etwas (hier auf das »Unglaubliche«), was von der erwähnten Lesbarkeit nicht einzufangen ist, deren Geltung vielmehr aufhebt (sie aber nicht gänzlich auslöscht) im Zuge eines Alles-SagenKönnens (auch dessen, was in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit u.U. nicht sagbar ist), das von führenden Theoretikern für die Literatur als ihr Vorzug reklamiert wird.57 Gerade dieses doppelte Fehlen im Text hebt die Geltung jener Konventionen auf, die aber vom Text als ein supplementärer Text – hier: vom Vertrag – in veränderter Form wiedereingeführt und in einer quasi-theatralischen Weise inszeniert werden, die eine Allegorie des Lesens darstellt. (Einen Aspekt des Lesers könnte hier – in Bezug auf das Schriftstück als solches – der Graf darstellen, des Lesers, der keine neutrale Beziehung zum »Text« haben kann,
allein das: wie der Ausgang, so verweist auch der Ursprung jeden Vertrages auf Gewalt.« Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 190. 55 Paul de Man zeigt eine ähnliche Struktur in Bezug auf Contrat social von Rousseau auf, vgl. Versprechen, S. 166-167. 56 Grammatik und Bedeutung/Referenz werden von de Man in Bezug auf Contrat Social von Rousseau als zwei Perspektiven des »Textes« schlechthin dargestellt. Er berührt in diesem Kapitel noch nicht die Frage der Wahrhaftigkeit, die Thema des nächsten, abschließenden Kapitels der Allegories of Reading (Excuses) über die Confessions von Rousseau bildet (Allegories of Reading, S. 278-301). Vgl. ferner: »In order to work it [a work of literature] has to appeal to precedent. It cannot authorize itself. It has to claim merely to describe and reinforce pre-existing laws […] But as soon as either Kohlhaas the man or ›Michael Kohlhaas‹ the story is authorized from the past and institutionalized for the future, it is no longer novel, unheard-of, original, heterogeneous to what already has been legislated. It confirms an old one.« J.H. Miller: Laying Down the Law, S. 97. Diese Beschreibung gilt aber nicht für die von konventionellen Instanzen ungedeckten Versprechensakte, die vor der juridischen Legitimierung Glaubwürdigkeit überhaupt erfordern. 57 J. Derrida: This Strange Institution, S. 36. Zu Foucault vgl. den Beitrag von Achim Geisenhanslüke in diesem Band.
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vielmehr immer schon in ihn eingreift, ohne aber diesen Eingriff letztlich erklären, von ihm Rechenschaft ablegen, ihn bezeugen zu können.58 Ein NichtWissen bei der und über die Tat, das die Nachträglichkeit jeglicher »Überlegung« herausstellt.59 Ferner korreliert die spukhafte Präsenz des Aufrufs im Text mit den gespensterhaften Zügen des Grafen, der seine Tat im Verborgenen ausübt, später für tot gehalten wird, dann als Gespenst des Rechts – der Strafe, d.h. ohne Rechte –, gar als Subjekt seines eigenen Testamentes erscheint, d.h. textualisiert wird.60 Beide – Text und Leser – sind Gespenster im Zuge eines abwesenden, unkontrollierbaren Geschehens und seiner Deutung. Die Allegorie des Lesens teilt sich demnach folgendermaßen auf: die Marquise ist Leserin und paradoxe Zeugin des Geschehens – zunächst des Grafen als eines »Engels«, also eines Boten,61 dann wähnt sie sich das Medium der göttlichen Offenbarung zu sein; der Graf ist seinerseits Leser des gedruckten und veröffentlichten Schriftstücks als eines Zeugnisses. Auch – sogar erst recht – auf der hermeneutischen Ebene also die Kontamination des Geschehens und seiner medialen Figuration.) Diese Verdopplung lässt sich nicht ganz vereinheitlichen, die beiden Aspekte zur Deckung zu bringen, greift der Text auf eine supplementäre Autorisierung
58 Der Graf übt in Bezug auf den Aufruf mehrere redehermeneutische Tätigkeiten aus: er hört und liest ihn. Im Zusammenhang von Verbrechen und Strafe ist er ein Rechtssubjekt, in Hinsicht auf die vom Aufruf erforderte hermeneutische Fähigkeit hingegen kann man von einer Individualisierung sprechen (vgl. M. Foucault: Überwachen, S. 165-167). Die Hermeneutik als Kompetenz lässt sich teilweise auch in die Disziplinierung der Individualität einführen, sie ist vielleicht deren wichtigstes Element, doch auch die performative Kompetenz (die souveräne Fähigkeit der Ablegung der Beichte) kann von dieser Machtdimension einverleibt werden, um das unmögliche Ereignis in ein mögliches zu transformieren (letztlich ohne aber eine »Freiheit« des Grafen zu bezeugen, eher im Gegenteil, die Unverfügbarkeit von Sprache oder besser des Ungesagten). 59 Vgl. H.v. Kleist: »Von der Überlegung. Eine Paradoxe«, in: Sämtliche Werke und Briefe II, S. 337-338. 60 Der Graf ist ein Nomade, der ständig unterwegs ist, an vielen Orten auftaucht – das kontraktualistische Dispositiv und weitere Verfahren nötigen ihn zur Disziplinierung und zum Sesshaftwerden (vgl. M. Foucault: Überwachen, S. 280). Bedeutsam erscheint hier auch der Sachverhalt, dass die Marquise ihren Mann auf einer Reise verloren hatte. 61 Dieser Zug wird ja am Schluss aufgenommen, ohne ihn erfolgt auch keine spezifische Referentialität (der »Teufel« wird erst realisiert, nachdem sie sich zunächst dem »Engel« – dem Boten – anvertraute).
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zurück, die er inszeniert, wobei – da der Text sich dadurch verdoppelt – jene Differenz aber auch bekräftigt wird. Diese Inszenierung einer Re-autorisierung vermag gerade durch ihre theatralische Macht und Effizienz das Lesen zu beherrschen, in ihren Bann zu ziehen, andererseits gerade eine solche Lektürefigur zu reflektieren, indem sie sie als Schauspiel darstellt. Zwischen diesen beiden Aspekten zu unterscheiden wird dem (kritischen) Lesen aber nicht leicht fallen, die theatralische Performanz des Textes kann – da sie vom Lesen selbst ausagiert wird – demnach sowohl auf eine Schwäche als auch auf eine Stärke des Textes hindeuten. Da die Macht der Öffentlichkeit, des Rechts usw. nicht als Figuren des Dritten – zumindest nicht auf direkte Art und Weise – gelten, simuliert der Text auf intratextuelle Weise legitimierende Instanzen, die etwa für die Glaubwürdigkeit der Erzähler einstehen sollten.62 In der Institutionalisierung des Versprechens (seiner Glaubwürdigkeit) durch den Vertrag ist nicht umsonst eine öffentlich-repräsentative Geste im Spiel, die auf der metaphorischen Achse der Hochzeit (als einem Fest) sogar als eine Art »Medieneffekt« oder »staging« sich verwirklicht – wohlgemerkt als Ausdruck des Inneren (der Wahrhaftigkeit). 63
62 Die auffällige Häufigkeit in der Kleist-Rezeption, mithilfe von moralischen Konventionen eine und die selbe Figur je nach Interpret einmal völlig negativ, einmal völlig positiv zu beurteilen oder verurteilen (einige Beispiele kontrastiv zusammengefasst bei B. Vinken/A. Haverkamp: Die zurechtgelegte Frau, S. 132-133), zeigt an, wie stark die Bindung der Interpreten an moralische Konventionen und Normen im Lesen durchschlägt, gerade wegen der Unlesbarkeit dieser Normen in den Kleistschen Texten. (Gerade Interpreten, die ansonsten gegen quasi-transzendente Momente im Text polemisieren, stützen sich mit Vorliebe auf moralische Maßstäbe, um bestimmte Figuren – hier natürlich vor allem den Grafen – scharf zu verurteilen.) Man greift in solchen normativen Stellungnahmen stillschweigend auf einen unterstellten Vertrag zurück, den man mit dem Text geschlossen zu haben meint, in Wahrheit aber mit außertextlichen Instanzen ausgemacht hat. Eine ähnliche Struktur ist im Spiel auch bei ansonsten viel umsichtigeren Interpreten, wie z.B. bei Schwind (Heinrich von Kleist, S. 71), die den Vertrag zwischen Autor und Leser auf Kosten des Erzählers, erst recht aber der Figuren einführen (in der permanenten Rede über »Signale« des Autors an den Leser) und dadurch eine übergeordnete Autorität als Wissensinstanz legitimieren. Das ist die Perspektive der sowohl eingeweihten als auch unpersönlichen, öffentlichen Instanz auf die mit ihrem privaten Kummer beschäftigten Protagonisten und den auf sie konzentrierten unzuverlässigen Erzähler. 63 Die Hochzeit wird ja am Schluss der Erzählung zweimal gefeiert, durch diese Wiederholung wird ihr theatralischer Zug hervorgekehrt. Das könnte zu einem »feeling of aesthetic satisfaction« (J. Bennett: A Feeling, S. 213) führen, das von einer Unterstel-
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Der Chiasmus zwischen der Marquise und dem Grafen – sie handelt bar referentiellen Wissens, er weiß um die Referenz, kann aber nicht handeln (bzw. sein Handeln misslingt) – modellierte die Divergenz des Textes zwischen Wissen und Handeln, welche Differenz von der von Grammatik und Referenz wiederholt wird.64 Zwischen diesen beiden vermittelt der Vertrag als Trope. Das Versprechen richtete sich auf die Zukunft – in einer bestimmten Gegenwart –, es ist aber gleichermaßen zur Vergangenheit geworden,65 spätestens an jenem »Dritten«, wo die Identität des Täters aufgedeckt wird.66 Der »Text« (die Annonce) situiert sich also zwischen einem vergangenen, unzugänglichen Ereignis und dem Moment der Referentialisierung als dessen Iteration (oder Wiederkehr), die für die Marquise nicht minder – vielleicht sogar erst recht – von traumatischer Wirkung ist, aber erst in der Nachträglichkeit.67 (Die nachträgliche Aktivierung der Referenz unterstreicht noch einmal die Vermutung, dass der Graf gleichsam als Leser agiert.) Zwischen diesen temporalen Phasen finden Wiederholungen, posttraumatische Symptome statt, die nur dank der Diskrepanz zwischen dem Versprechen und seiner Referentialisierung existieren und in diesem Sinne
lung der Aufrichtigkeit ausgeht, deren Gelingen feiert, zugleich auch mit der öffentlichen Erwartung korreliert (denn wer hätte wohl etwas gegen eine Hochzeit von zwei jungen und gut aussehenden Personen einzuwenden, zumal es sich um Adlige handelt?). In diesem Kontext könnte der Ansatz de Mans, bei Kleist die Kritik der ästhetischen Ideologie (vornehmlich Schillerscher Provenienz) herauszustellen, noch mehr an Gewicht gewinnen (vgl. Ästhetische Formalisierung). 64 Vgl. de Man über Contrat Social: »Es kann keinen Text ohne Grammatik geben: Die Logik der Grammatik generiert Texte nur in der Abwesenheit referentieller Bedeutung, aber jeder Text generiert einen Referenten, der dasjenige grammatische Prinzip untergräbt, dem er seine Verfassung verdankt.« Versprechen, S. 162. 65 Ebd., S. 166. 66 Zu dieser Datierung, die ja in den Intelligenzblättern vorgenommen wird, vgl. die Bemerkung Heideggers über die Veröffentlichung der Zeit: »In der Zeitmessung erfolgt daher eine Veröffentlichung der Zeit, dergemäß diese jeweils und jederzeit für jedermann als ›als jetzt und jetzt‹ begegnet.« Sein und Zeit, S. 417. 67 Nach der Weihwasserszene wird sie krank: »sie lag im heftigsten Fieber, wollte durchaus von der Vermählung nichts wissen, und bat, sie allein zu lassen. Auf die Frage: warum sie denn ihren Entschluß plötzlich geändert habe? und was ihr den Grafen gehässiger mache, als einen andern? sah sie den Vater mit großen Augen an, und antwortete nichts.« (S. 142) Nach der Erlangung des Wissens kann sie auch nicht mehr handeln, erst recht nicht mit der Sprache.
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»Geschichte erzeugen«.68 Die sprachliche Geschichte wiederholt (und verdeckt) die materiale Geschichte, dabei wird sie selber materiell (aber auch immateriell zugleich) und prägt ihr supplementäre Figuren ein, indem das Subjekt des Ereignisses notwendigerweise in eine Rolle eingeschrieben wird. Die Referenz wiederholt das ursprüngliche Moment des gewaltsamen Ereignisses und verstellt es auch, z.B. insofern das Versprechen der Annonce gerade nachträglich noch einmal zum Ereignis wird, dessen referentieller wie performativer Status problematisch ist. Denn die Referenz macht das Versprechen der Annonce (den »Text« selbst) unlesbar, verunsichert nicht nur seine Motivation (lagen wirklich – nur – »Familienrücksichten« dahinter?), sondern untergräbt auch seine Intentionalität, seinen performativen Status, seine Wahrhaftigkeit.69 Wie auch immer das Verhältnis zwischen dem gegebenen Wort und dem Gemeinten bestellt sein mag, die Marquise wird (gewaltsam) beim Wort genommen, und dieses bildet am Ende den einzigen Berufungsgrund (zumindest für den Vater als den Dritten).70 Das Versprechen als gegebenes Wort entwickelt einen nicht-referentiellen Überfluss, der gerade auf das Versprechen selbst zurückwirkt, sich gegen dieses wendet, indem es gegen den Willen der versprechenden Person gekehrt – als Tat von ihr abgelöst – und zu einer Verpflichtung gemacht wird (wohl im Sinne von Kants Ethik). Dadurch wird die Marquise zu einer Täterin. Zusammenfassend: die Selbstbezeugung des Textes war auf einen Zeugen ausgerichtet (der seine referentielle Glaubwürdigkeit bezeugen kann), doch konnte sie nur bar der Referenz, nur in der Abwesenheit des referentiellen Zeugen vollzogen werden. Dieser macht jene Selbstbezeugung auf eigentümliche Weise zunichte bzw. erfordert sie aufs Neue, schreibt sie dem Text noch tiefer ein, macht sie gar allererst nötig. Die Referenz findet statt also sowohl vor als auch nach der Selbstbezeugung (des Textes), sie ist von gespenstischem Charakter (wie der Graf). Zugleich bezeugt der Text den Zeugen auch, indem er hier zum Testament des Zeugen wird (am Ende gibt der Graf sein Testament ab), also wiederum seine potentielle Abwesenheit herausstellt.
68 P. de Man: Versprechen, S. 170. 69 »… und nochmals, indem sie alle Engel und Heiligen zu Zeugen anrief, versicherte, daß sie nicht heiraten würde.« (»Engel« als Zeugen …) Darauf handelt der Vater, ihrer Versicherung diametral entgegen: er »ordnete alles, nach gehöriger schriftlicher Rücksprache mit dem Grafen, zur Vermählung an« (S. 142). Die Gewaltserie geht weiter, gerade mithilfe der »Schriften«. 70 Zur Ehe als individueller, jedoch von überindividuellen und dritten Instanzen etablierter Konstellation vgl. die bekannte Analyse von G. Simmel: Soziologie, S. 108-109.
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Das Aporetische der Kreuzungen zwischen privat und öffentlich, singulär und allgemein resultiert wohl aus der ambivalenten performativen Funktion des Aufrufs: einerseits soll er für die Freisprechung der Marquise, für die Immunisierung des Eigenen sorgen, zugleich setzt er diese andererseits um so mehr der Äußerlichkeit (der Öffentlichkeit) aus und führt somit zumindest potentiell eine Autoimmunisierung, eine Kontaminierung durch das »pharmakon« des Aufrufs herbei.71 So wiederholt der letztere Effekt des Aufrufs auf der sprachlichen
71 Die Infektion bei Kleist ist bekanntlich ein überall wucherndes Motiv. Zuletzt hat ein Aufsatz von C. Zumbusch (Übler Schutz) in Bezug auf Der Findling die Motivik des Selbstschutzes gegen Eindringlinge als eine politische Allegorie gewendet (in Anlehnung an die Immunitätstheorie von Roberto Esposito), wo die Mittel des Selbstschutzes letztlich ihr Ziel verfehlen und das Geschützte preisgeben. In Die Marquise von O… sieht man allerdings die Unentscheidbarkeit – und kein narrativ-kausales Nacheinander, wie bei Zumbusch – der Immunisierung und Autoimmunisierung im Spiel, welche Ambivalenz gerade sprachlich-medialen Ursprungs ist, da sie letztlich in einem Text (im Aufruf) gründet. Diese Ambivalenz verdankt sich einer komplexen wie widersprüchlichen Medialisierung des Geschehens. Folgerichtig wird von dieser sachlichen Konstellation auch ein anderer methodologischer Interpretationsansatz erfordert, wie dies bei Zumbusch der Fall ist: ihre Allegorese kommt ohne jegliche Problematisierung der erzähltechnischen und sprachlich-textuellen Verfasstheit der Novelle aus und bewegt sich ausschließlich auf einer semantisch-motivischen Ebene (auf dieser isolierten Ebene kann der Text freilich jegliche allegorisierende Lesart bedienen). Es ist hier nicht der Ort, gewisse Zweifel am letztlich biologistischteleologischen Projekt von Esposito anzumelden, das Biologie, Recht, Religion usw. praktisch auf der selben (freilich metaphorischen) Ebene verortet und sie mit einer räumlichen Figur belegt (instrumenteller Selbstschutz gegen das Äußere, auch wenn dieses im Inneren sich befindet oder gar einverleibt wird) bzw. im Grunde auf einer Trennung zwischen dem Fremden und dem Eigenen basiert. Vgl. dagegen H. Plessners Bestimmung der Interaktion zwischen dem Anderen, dem Fremden und dem Eigenen: »Die gewöhnliche Auffassung deutet das Phänomen [»Ein vertrauter Kreis setzt sich gegen eine unvertraute Fremde ab«] als Schutzmaßnahme unter Zurückführung auf die Angst vor Schaden bzw. als primäre Angriffsmaßnahme zum Zweck der Ausdehnung des eigenen Machtbereichs. Sie vergißt aber bei dieser gewöhnlich auch biologisch unterbauten Deutung den Grund für die primäre Angst und Feindseligkeit anzugeben […] diese Angst ist verwurzelt in der Unheimlichkeit des Fremden und nicht in dessen möglicherweise abträglichen Wirkungen auf die eigene Sphäre der
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Ebene die Gewalt des vom Äußeren her kommenden Eindringens in die Innerlichkeit oder Intimität, er kann wohl gar nicht anders, sollen die Umstände jenes unsichtbaren Eindringens aufgeklärt werden. Ein double-bind, wo die Öffentlichkeit als Vermittlerin zwischen Politik und Moral (Handeln und Wissen, Tat und Wort, Versprechen und Vertrag) laut dem Kantschen Schema hier in ein ambivalentes Licht gerückt wird. Denn der Vertrag – sich zu verehelichen mit ihrem Schänder – nimmt letztlich die ursprüngliche Gewalt an, der Vertrag wird mit der Gewalt selbst geschlossen. (In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass die auffällig metaphorischen Diskurse, die ja auf einem Vertrag basieren – die Trope ist demnach als ein Text verfasst –, dem militärischen und Jagddiskurs entstammen. Die Tropologie wird hier von einer Konvention oder einem Vertrag autorisiert, so wie die sprachliche Pragmatik der verschiedenen ständischen Höflichkeitsdiskurse.72 Die sprachliche Arbeitsweise der Erzählung besteht zu einem Gutteil in der Verunsicherung solcher tropologischen Pakte, in der Eröffnung ihrer Ambiguität – auf allen Ebenen der Narration.) Noch mehr kopiert oder wiederholt aber der Ehevertrag das gewaltsame Moment: der Graf wird zum Gespenst des Rechts (Pflichten, keine Rechte bzw. Testament)73 und eines Vergessens der Verzeihung um der »gebrechlichen Einrichtung der Welt«
Vertrautheit; weil das Fremde nicht bloß ein Anderes ist […] Denn das Fremde ist das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und als das Andere und darum – wir erinnern hier an eine Erkenntnis Freuds – das Unheimliche. Wenn die Formulierung erlaubt ist: Der Mensch sieht ›sich‹ nicht nur in seinem Hier, sondern auch im Dort des Anderen. Die Sphäre der Vertrautheit ist also nicht von ›Natur‹ begrenzt und erstreckt sich (gleichsam außergeschichtlich) bis zu einer gewissen Grenze, sondern sie ist offen und erschließt ihm dadurch die Unheimlichkeit des Anderen in der unbegreiflichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen.« Macht und menschliche Natur, S. 192-193. 72 Die ganze Familie kommt im metaphorischen Sprachgebrauch des Kommandanten überein (»sich ergeben«, Damen »wie Festungen« anstürmen usw.). Die semantische Zweideutigkeit der gegenseitigen Versicherungen und Floskeln (via skandalösen Hintergrund) wurde auch angemerkt, s. z.B. K. Schwind: Heinrich von Kleist, S. 5051. Diese Ambivalenz kontaminiert aber auch den Erzähldiskurs, vgl. etwa folgende Stelle: »Die Mutter sah alle Augenblicke aus dem Fenster, ob er nicht kommen, seine leichtsinnige Tat bereuen, und wieder gut machen werde« (S. 115). Hier können mindestens zwei »Taten« im Spiel sein. 73 Dies sichert in spiegelverkehrter Symmetrie die Immunität der Marquise, die folglich ihm gegenüber Rechte, aber keine Pflichten hat – das ist die Definition von »Immunität«. Vgl. R. Esposito: Immunität, S. 12.
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willen.74 Zugleich wird der Vertrag auch mit der Öffentlichkeit selber geschlossen, und der so verstandene doppelte Vertrag stellt die Moralität im Sinne Kants dar (als Ineinander von kategorischem Imperativ und öffentlicher Gerechtigkeit, wo die Legalität von der Moralität und nicht umgekehrt, diese wiederum von der Öffentlichkeit abhängen soll). Zu diesem Komplex kehren wir zurück, jetzt sind einige sprachliche Modalitäten der Kreuzung von Singulärem und Öffentlichen kurz zu besprechen. Die Verdopplungen oder Aporien zwischen Erkennen und Handeln, Wort und Tat (und ihren verschiedenartigen Zuordnungen zu den Bereichen des Privaten und Öffentlichen) sind nämlich auf verschiedenen, narrativen, inszenatorischen wie textuellen, Ebenen der Erzählung gegenwärtig.75 Z.B. auf der Ebene der Namen, die als Schnittpunkte zwischen personaler Immunität und öffentlicher Repräsentation gesetzt werden.76 Die vieldiskutierte Namenlosigkeit der Marquise von O… steht mit ihrer ungeschützten Ehre, ihrer »verwundbaren Physis« in Korrelation,77 also sowohl auf einer literalen wie auf einer abstrakteren Ebene. Ihren Vornamen erfährt der Leser jedoch aus einer zitierten Aussage des Grafen, die zudem sein letztes Wort sein soll: »Julietta! Diese Kugel rächt dich!« Ihre Singularisierung und zugleich Immunisierung im Eigennamen widerfährt ihr also seitens des Grafen, der sie aber vorher geschändet hat. Also gerade die Figur, die ihren (adligen) Namen im Gewaltakt wortwörtlich verstümmelt, lässt ihr den singularisierenden Eigennamen zukommen oder restituieren.78 Diese Verdopplung entspricht der paradoxen Verschränkung des Täters und des (der »Schuld« enthebenden) Zeugen. Auch dieses »letzte«, authentische Wort –
74 Er existiert vor dem Vertrag nicht als verrechtlichtes Individuum (sondern als unfassbares Gespenst, bei seiner Tat, später als Un-Toter), er kann sein Geständnis nicht ablegen. Der Vertrag antwortet demnach auf diese Leere des Performativen, sowohl auf ihr Ausbleiben als auch auf ihre referentielle Dürftigkeit (diese werden sich angenähert), ferner auf die Unsichtbarkeit der Gewalt, die überhaupt die Identifizierung der Gewalt in Frage stellen kann. 75 Der referentielle Wert der Beschreibungen und Zuschreibungen verdoppelt sich ja auch (aufgrund der akolytischen Logik), aus der Perspektive des Wiederlesens. 76 »Einerseits kann der Eigenname Zugang zur Sphäre der Intimität gewähren; andererseits ist er Teil einer sozialen Codierung, die solche Intimität wiederum auszuschließen vermag.« A. Stephens: »Das nenn ich menschlich nicht verfahren«, S. 20. 77 W. Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 265-266. 78 Dieser Aspekt der Figur des Grafen kommt auch darin zum Ausdruck, dass er ständig Briefe schreibt (also Adressierungen von Eigennamen tätigt), vor und nach seiner öffentlichen Antwort auf die Annonce der Marquise.
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eine indirekte Beichte des Grafen – wird jedoch von einem Boten übermittelt, also zitiert (im Modus der Stellvertretung)79 und von einem quasi-öffentlichen Zug imprägniert. Dem entspricht auch die Annonce, das »Intelligenzblatt« (»intelligence« – Nachricht, Ankündigung), das wiederum als unpersönlicher Bote für die Marquise und dann später für den Grafen fungiert. Die Sprache des Zeugen oder Boten scheint von vornherein in Schriftlichkeit und Iterabilität überzugehen, wenn er die ihm anvertrauten Worte oder sein Zeugnis wörtlich wiederholen muss. Wenn der Graf dann gerade seine Botschaft – das Geständnis – nicht bzw. nur indirekt sagen kann (und in diesem Sinne den Eindruck der Marquise mit dem »Engel des Himmels« dementiert), so ist in der Tat schlüssig zu behaupten, dass die Zeitungsannonce »an der Stelle der ausgefallenen Verkündigung« steht, diese ausstreicht.80 Sie wird wegen der Unmöglichkeit der transzendenten Autorisierung zum Vertrag. Parallelen dazu finden sich auch auf der Seite der Marquise – z.B. wenn ihre Mutter der Hebamme über ihren Zustand berichtet: »Die Frau Marquise schwöre, daß sie sich tugendhaft verhalten habe, und gleichwohl halte sie, von einer unbegreiflichen Empfindung getäuscht, für nötig, daß eine sachverständige Frau ihren Zustand untersuche« (S. 123, Hervorh. CsL). Der Schwur wird auf der narrativen Ebene wiederholt und verdoppelt, seine Singularität in eine Allgemeinheit überführt. D.h., der Schwur verliert seine performative Funktion und wird zum bloßen Wort, das einer Iterabilität ausgesetzt bleibt, in der es dennoch eine gespensterhafte, instabile performative Dimension wiedererlangen kann, die jedoch konträr läuft zur unterstellten Intentionalität. Die wechselseitigen Verdopplungen und Stellvertretungen auf der medialen Ebene – zwischen Schrift und Sprache – variieren auch diese Struktur, so z.B. der berühmte Brief des Vaters an die Marquise, der von ihrer Mutter aufs Papier gebracht wird, allerdings vom Diktat des Vaters her.81 Die diktierende Gewalt
79 Der Marquise erscheint der Graf bekanntlich als ein »Engel des Himmels«, also als ein Bote – seine wirklich an sie adressierten Worte erfährt sie aber nur durch einen zufälligen Augenzeugen, der auch zum Boten wird. Hier also wiederum der Chiasmus zwischen Singularität und Öffentlichkeit (im Zuge der Vermittlung). 80 Vgl. B. Vinken/A. Haverkamp: Die zurechtgelegte Frau, S. 143. Zur Engelfigur als Bote und Vermittler zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit vgl. C. Vismann: Akten, S. 154. 81 Dieses Diktat ist das Ergebnis eines Prozesses, der der Marquise vom Vater und von der Mutter (als Ankläger und Anwältin) gemacht wird. Der Vater setzt sich nachher als Zeuge für die Marquise ein (»Sie hat es im Schlaf getan …«, S. 131). Dieses Quasi-Gericht zeigt die Erweiterung des Traumas in die Richtung des Kollektiven an.
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wird von der Mutter nicht unterschrieben, nur in ihrem Resultat vollzogen: wieder einmal die Divergenz zwischen einer Machtposition, die zwischen Hausherrschaft einerseits und Öffentlichkeit der »bürgerlichen Gesellschaft« (S. 127) andererseits changiert, und einem singulären Verhalten, das die Macht nicht in ihrem etablierten Sinne bezeugt. So wird die performative Wirkung des Briefes auch relativiert. Die medialen Supplementierungen des lebendigen Sprechens sind als Antwort auf die buchstäblich »unerhörte« Begebenheit, zugleich auch als deren Wiederholungen aufzufassen: vom berühmten Bindestrich über die »ausgefallene Verkündigung« bis zur Unfähigkeit des Grafen, seine Tat einzugestehen, geht es um den Entzug der Repräsentation und der Stimmlichkeit, welcher Entzug von den verschiedenen Schriftstücken sowohl kompensiert wie noch weiter verstärkt wird (dieser Chiasmus strukturiert die medialen Verhältnisse des Textes). Gerade hier gilt die Annonce als Signifikant der »unerhörten« Begebenheit, der das Sprechen, die verstimmlichte Sprache supplementiert, beim Lesen gar aufhebt oder auslöscht (vgl. S. 131-132). Die Schrift und die mediatisierte Stimme hallen aber immer schon im Bewusstsein der Figuren wider, ohne dass sie faktisch-materiell, mit illokutiver Zielsetzung ertönten82 – Nicht-sprechenkönnen und Schrift stehen in einer chiastischen Verkehrung (das, worüber nicht gesprochen werden kann, wird zur Schrift bzw. ist immer schon Schrift). Die verschiedenen Zeiten des Lesens, Schreibens und Sprechens kontaminieren sich wechselseitig vor allem in der Figur des Grafen, ohne aber zur Deckung zu kommen – sie prägen ihn als Wiedergänger, wo etwa die Zeit des Schreibens in den Zeiten des Sprechens oder des Lesens gespensterartig wiederkehrt (und auch umgekehrt). Auch in der Rhetorik der Narration agiert der Erzähler als eine Art (unpersönlicher) Bote wie (singulärer) Zeuge, sowohl auf unpersönliche wie auf persönliche Art, welche Aspekte wiederum nicht zur Deckung kommen (was ja in der Fachliteratur schon als Gemeinplatz gilt). Die Erzählung beginnt mit der
(Ferner könnte der diktierende Kommandant auch als Bote – »Engel« – der Rechtsordnung aufgefasst werden, wo deren immanente Gewalt als eine sprachlich-textuelle Performativität erscheint.) 82 Vgl. die telepathischen oder telepoetischen Szenen, in denen der Graf Briefe schreibend über Anderes spricht (Psychophysik avant la lettre) bzw. in Gedanken einen Brief »überlegt[e], den er jetzt zu schreiben verdammt war …«, ferner während des Sprechens mit Anderen liest: »Unzweifelhaft! versetzte der Graf, indessen er mit ganzer Seele über dem Papier lag, und den Sinn desselben gierig verschlang« (S. 114, 130). Bezeichnenderweise fragt der Graf plötzlich gerade in einer solchen Szene zwischen Schreiben und Sprechen »nach der Uhr« (S. 114).
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Wiedergabe des Aufrufs, auf eine gänzlich unpersönliche Art, und situiert den Erzähler als einen Scriptor wie Leser oder Boten (also keinen Souverän), welche Rolle für ihn wohl auch mehrfach gilt. Zugleich übernimmt der Erzähler gelegentlich auch die Perspektive der »öffentlichen Meinung« als einer Auslegeinstanz und bricht in solcher Weise – als Bote dieser Instanz – den Stab über gewisse Figuren.83 Doch nimmt die Erzählinstanz auch die Funktion des Zeugen in Anspruch und begleitet etwa die Marquise mit teils identifikatorischen, teils distanzierenden Gesten. Dieser akolytische Status der Erzählinstanz durchläuft mehrere mediale Transpositionen zwischen Zeuge und Bote,84 er befindet sich in einer Oszillation zwischen dem distanzierten Blick und der admirativen Perspektive auf die Marquise, wodurch er den Text in der erwähnten Verdopplung liest, deren ambivalenter Modus den Zeugenstatus des Erzählers in Bezug auf seinen performativen Wert ebenfalls in ein zweideutiges Licht rückt. Das Wissen, überhaupt die Disposition des Erzählers ist dem fiktiven wie nicht-fiktiven Geschehen nicht weniger ausgesetzt als das Verhalten und problematisierte Selbstverständnis der Figuren. Die Divergenz von Wissen und Handlung, Wort und Tat – für welche Divergenz »unerhört« wiederum als ein Emblem gelten kann – zeigte sich jedoch noch am Anfang und dann durchgehend in der Erzählung darin, dass der Graf sein Vergehen nicht eingestehen, seine Beichte nicht vollziehen kann, um die Marquise freizusprechen. Lediglich auf indirekte Weise gelingt ihm das, in der allegorischen Erzählung seines Traums, in dem die Marquise als Schwan figuriert. Dieses Unvermögen des Geständnisses hat sein Pendant darin, dass es der Marquise nicht gelingt, sich bei ihm für seine Rettungsaktion zu bedanken. Ihr Dankbarkeitsanspruch wird im Text permanent mit ökonomischen Termini wie »schulden« umschrieben. Der Zeuge kann seine eigene Tat und damit die
83 Z.B. wo die Marquise »sehr richtig« darauf schließen soll, dass der Schänder »zum Auswurf seiner Gattung gehören müsse« etc. (S. 127) M. Kommerell hat diesen Zug des Kleistschen Erzählers wie folgt beschrieben: »… der Dichter übernimmt geflissentlich Ton und Bezeichnung des weltläufigen Meinens, wenn er, etwa bei den Kohlhaasischen Mandaten, von einer ›Schwärmerei krankhafter und mißgeschaffener Art‹ spricht« (Die Sprache, S. 305). Laut Kommerell potenziere diese Parteinahme in ihrer Forciertheit nur das »Rätsel« an den Figuren. 84 Der Marquise »schien« der Graf am Anfang ja »ein Engel des Himmels zu sein« (S. 105) – hier also steht das Sehen im Vordergrund. Im Schluss hingegen das Sprechen: »antwortete sie […] wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre« (S. 143). Hier bleibt es unentscheidbar, welches Moment der Erzählung das andere zitiert.
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Unschuld der Marquise nicht bezeugen, seine »Tat« verbleibt außerhalb der ökonomischen Struktur von Geben und Nehmen im Sinne der ethischen Balance. Die Tat ist eine Leerstelle in dieser Ökonomie, ein Schweigen in der Sprache, dessen performativer Charakter ambivalent bleibt: das ist möglicherweise einer der radikalsten Effekte des Auseinandertretens von Wort und Tat. Vor allem die häufigen Stellvertretungen auf der sprachlichen Ebene zeugen von der spannungsvollen Beziehung zwischen Wort und Tat: Transpositionen zwischen den Figuren, am Übergang vom Schweigen zum Sprechen, vom Sprechen zum anderen Sprechen, vom Sprechen zum Schreiben usw.85 Diese Stellvertretungen entbehren nicht der sprachlichen Gewalt: es scheint so, als könnte das Wort des einen nur durch den anderen zur Tat werden, so wie die Tat einer Figur – z.B. des Schwurs der Marquise in der Nacherzählung der Mutter – zum Wort wird. Sowohl die Mutter wie der Vater kommen gegen Ende der Erzählung in die Rolle des Stellvertreters im Interesse der Versöhnung und Kontraktualisierung, welcher Zug darauf hindeutet, dass die Verknüpfung von Wort und Tat letztlich nur kontraktual möglich ist, im Interesse der Eindeutigkeit,86 um das ambivalente Wort, noch mehr aber sein Fehlen in soziale Zeichenstrukturen zu transponieren bzw. mit diesen zu ersetzen. Um welche »Tat« handelt es sich aber in diesem Zusammenhang? Die Identifizierung der Tat und des Täters scheint ja nicht nur in referentieller Hinsicht schwierig zu sein (der Täter stellte ja auch die Rettungsinstanz dar), sondern vor allem in der Feststellung der Verantwortung. Die Verantwortung der Marquise entbehrt des referentiellen Wissens, die Verantwortung wird von ihr für eine Tat übernommen, die sie nicht selber begangen hat. Die Tat entzieht sich der Identifizierung, der Vorfall hüllt sich in ein Geheimnis, das aber keine Vorstellung im (reflexiven) Bewusstsein darstellt.87 Das ist die Beichte einer Tat, die von der
85 Zur Kommentierung der anfänglichen Szene mit der dreifachen Problematik des Namens vgl. D. Grathoff: Die Zeichen der Marquise, S. 209. 86 Ebd., S. 226. 87 Dadurch läge es nahe, statt von »Geheimnis« von »Rätsel« zu sprechen – wenn im Folgenden doch von »Geheimnis« gesprochen wird, dann deshalb, um seinen quasiprivaten, äußerlichen wie innerlichen Charakter anzudeuten: die Marquise besitzt ein Geheimnis, dessen Ursprung sie aber nicht kennt, weshalb sie zu transzendenten Erklärungsmustern greift (»göttliches Geschenk« usw.). Das »Mysterium« steht auch eher mit dem Geheimnis als mit dem (erkenntnistheoretischen) Rätsel im Zusammenhang. (Kommerell etwa nutzt »Rätsel« und »Geheimnis« nebeneinander.) Das »Rätsel« wird ja gelöst, ein gewisses Geheimnis – ein Rest der Textualität – bleibt
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Marquise ja nicht begangen wurde, dennoch wird die vermeintliche Sünde von dieser öffentlichen Beichte her postulierbar. In dieser Nachträglichkeit ist die Tat gewissermaßen fiktional (»unerhört«), da man kein referentielles Wissen von ihr haben kann, dennoch von traumatischer Wirkung für das Opfer. Und genau diese Fiktionalität nimmt textuelle Züge in der Annonce an, die – wie erwähnt – gerade als Schrift von nicht minder traumatischer Wirkung für die Marquise ist, »verletzt« sie doch »ihr innerstes Gefühl«, also ihren Glauben an die eigene Unschuld (S. 127).88 Das nachträgliche Trauma als Schock oszilliert somit zwischen der unbekannten Vergangenheit und der drohenden Zukunft (als Zukünftiges kehrt es aus der Vergangenheit zurück und als Vergangenes kommt es dem Opfer aus der Zukunft entgegen), zugleich zwischen einer fiktiven Referenz und einem fiktiven Text mit referentieller Wirkung, welcher Chiasmus jene zeitliche Kreuzung modelliert.89 So wird auch die Verantwortung gespalten in Bezug auf das Vergangene (im Modus des schlechten Gewissens etwa) und auf das Zukünftige (der gesellschaftliche Status des Abkommens, die Gründung der Familie). Das Trauma korreliert dadurch mit dem Nicht-Wissen, mit einer Virtualität als Geheimnis – dessen Auflösung aber das Trauma gewissermaßen noch weiter potenziert und in dessen Folge die Marquise ihr Wort eigentlich nicht mehr einhalten will oder kann. Gerade die Aufrichtigkeit bzw. die dem Vertrag inhärente Gewalt intensiviert das Trauma nachträglich. Diese Komplikationen resultieren letztlich daraus, dass die Tat oder besser: das Ereignis nach der narrativen Logik gewissermaßen ohne Alternative, geradezu schicksalhaft war
aber bestehen: gerade nach der Lösung des referentiellen Rätsels häufen sich die unerklärlichen Vorfälle im Text, der nach wie vor nicht weniger rätselhaft wirkt. 88 »… das spätere System Bw empfängt aber auch Erregungen von innen her; die Stellung des Systems zwischen außen und innen und die Verschiedenheit der Bedingungen für die Einwirkung von der einen und der anderen Seite werden maßgebend für die Leistung des Systems und des ganzen seelischen Apparates. Gegen außen gibt es einen Reizschutz […] nach innen zu ist der Reizschutz unmöglich, die Erregungen der tieferen Schichten setzen sich direkt und in unverringertem Maße auf das System fort […]. Allerdings werden die von innen kommenden Erregungen nach ihrer Intensität und nach anderen qualitativen Charakteren (eventuell nach ihrer Amplitude) der Arbeitsweise des Systems adäquater sein als die von der Außenwelt zuströmenden Reize.« S. Freud: Jenseits, S. 238-239. Zum Trauma vgl. ebd., S. 239. 89 Diese textuelle Modellierung erlangt wiederum zeitliche Effekte, indem der Aufruf mehrmals und in mehreren Modi im Text zurückkehrt, buchstäblich als ein déjà-vu im Text geistert – merkwürdigerweise teilweise parallel mit dem Grafen, der ja in mehrfacher Hinsicht ein Gespenst ist.
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(wenn der Graf nicht aufgetaucht wäre, wäre es der Marquise möglicherweise noch schlimmer ergangen), ohne aber die Figuration der Schuld (da kein reflexives Bewusstsein im Spiel ist), vor allem aber nicht rückgängig zu machen ist. Diese unfassbare oder, mit dem charakteristischen Wort der Erzählung, »unbegreifliche« bzw. »unerhörte« Gewalt des Ereignisses ist das eigentliche Geheimnis, das Geschehen als Geheimnis und das Geheimnis als Geschehen, beide unheimlich, aus dem Heimischen vertreibend. In diesem Sinne erfolgt hier eine Art Sündenfall (der Graf wird ja von der Marquise nach seinem Erkennen als »Teufel« apostrophiert).90 Vor allem als sprachlicher Sündenfall: die Offenbarung mutiert zu einer Zeitungsannonce (und die Funktion des »Engels« als Boten wird den Massenmedien überantwortet), ferner kann das Versprechen immer schon zu einer Lüge, einem falschen Zeugnis werden, wie dies der Annonce inhärent ist (der biblische Sündenfall beginnt ja mit der Lüge des Teufels).91 Diese Momente sind gewissermaßen in die Welt der Marquise eingebrochen, auch durch ihre Mitwirkung (Aufruf), und sie kann sich nur noch in diesem Kontext auslegen und bleibt getrennt von der transzendenten Instanz und von der Ewigkeit, eingelassen in die profane Zeit der Vergangenheitserkundungen und der Zukunftsantizipationen, welche Zeitlichkeit aber vor allem von der Iterabilität der Annonce als einer Spur des (wiederum erst im Nachhinein, dennoch auch künftigen) traumatischen Ereignisses ausgelöst, strukturiert und destrukturiert wird. Die Figuration des Sündenfalls konnotiert auch die Geschichte, die um 1800 vielfach als »Sündenfall der Natur« angesehen wird.92 Dieses Moment erzwingt die performativen Leistungen der Sprache und zugleich auch deren Kontraktu-
90 Die Verschränkung von »Engel« und »Teufel«, die im Schluss wieder aufgegriffen wird, ist als Zitat aus dem zweiten Korintherbrief des Paulus lesbar, wo das 12. Kapitel als ein Infratext der Novelle von Kleist fungieren könnte: »Und auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe« (2 Kor 12,7). In diesem Sinne bleibt die transzendente Deutung der Marquise auch im Schluss, bis zum Ende potentiell aufrechterhalten. Der »Pfahl ins Fleisch« gilt in ihrem Falle ja buchstäblich und kann als ein Interpretant des traumatischen Zusammenhangs gelten. – Zugleich wird gerade die hermeneutische Affirmation in der Deutung der transzendenten wie profanen »Offenbarung«, deren Bote der Graf ist, relativiert. Eine Allegorie des Lesens, wo die Marquise die Leserin darstellt. 91 Kant denkt an einer Stelle über dieses Moment in der biblischen Erzählung nach, vgl. Die Metaphysik der Sitten, S. 564. 92 Vgl. R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 155.
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alisierung, die sich zum material-historischen Geschehen wie zu dessen Spur, dem performativen Ereignis der Sprache, gewissermaßen antinomisch verhält. Die Gewalt wird per Vertrag ex post teleologisiert, im Sinne Kants als ein geheimer oder »verborgener Plan der Natur« (und so ist es bedeutsam, dass es in der Erzählung um eine physiologisch-biologische Begebenheit geht),93 der von der Geschichte ausgeführt wird. Kleists Text macht aber darauf aufmerksam, dass zwischen diesem Plan der Natur und der so genannten Geschichte ein Vertrag vermittelt, ihre vermeintliche Beziehung keine kontinuierliche ist, sondern politisch effektuiert wird. Dieser Vertrag ist aber nichts Natürliches, sondern eine Institution, deren Einsetzung der Gewalt gerade nicht entbehrt, einer Gewalt, die sich sonst gerade gegen die »ursprüngliche« Gewalt richten will. Im Zeichen des so verstandenen »Fortschritts« erfolgt auch die Vermittlung von privater und »öffentlicher« Moral in Kants Ethik: »handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstand haben können.«94 Und auch umgekehrt, diese Konvergenz, die vom kategorischen Imperativ diktiert wird, findet als die erwähnte Teleologie statt. In diesem Sinne ist der kategorische Imperativ in doppelter Weise totalisierend – bei Kleist wird sein gewaltsamer Charakter aufgezeigt, dass er also einen Vertrag darstellt zwischen privater und öffentlicher Moral, der auf Gewalt (der Gleichmachung vom Dritten, etwa »der Menschheit« her) basiert.95 Mehr noch: die Trennung
93 Vgl. I. Kants diesbezügliche Metaphorik: »… dass, nach manchen Revolutionen der Umbildung, endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde.« Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 47. Der Natur wird von Kant eine Gewalttätigkeit zugeschrieben: »die Natur will aber …« »Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.« ebd., S. 39. 94 I. Kant: Grundlegung, S. 61. 95 F. Nietzsche hat diese Komplizenschaft zwischen Handeln und dem Dritten schon früh aufgedeckt, in einem Passus mit dem Titel »Privat- und Welt-Moral«: »Die ältere Moral, namentlich die Kant’s, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Wieteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse.« Menschliches, Allzumenschliches, S. 46. Zum »als ob« in der Bestimmung Kants vgl. ferner J. Derrida: »dieses ›als
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zwischen den beiden erscheint als eine ideologische, da die ethische Dimension, die sich auf den Anderen richtet (und nicht nur ein Gesetz oder die Moralität vollziehen möchte, wie das noch bei Arendt der Fall ist), unmöglich als bloß »privat« zu bezeichnen ist. Die Trennung zwischen privat und öffentlich bzw. die Identifizierung des Privaten führt zwangsläufig zu einer Opposition zwischen Moralität und Gesetz, zwischen dem Gesetz als Idiom und als Allgemeinheit,96 die dann wiederum vom kategorischen Imperativ aufgehoben werden sollte. Die Allegorien des Auseinanderdriftens von allgemeiner Moralität und Ethik im Zeichen des Anderen bei Kleist (etwa in der erzählten Gerichtszene der Verlobung in St. Domingo) zeigen auch die Nicht-Totalisierbarkeit der Geschichte selber und der Zukunft an. Das Idiomatische kam übrigens in der zeitlichen Datierung der Annonce zum Ausdruck, die aber – als Zeitmessung und mediale Vermittlung – gleichzeitig eine »Veröffentlichung der Zeit« (Heidegger) vollzieht und überhaupt die Ausrichtung der singulär-idiomatischen Zeit auf die veröffentlichte Temporalität ermöglicht.
G EHEIMNIS , T RAUMA UND G ESCHEHEN Die Situierung des Geheimnisses zwischen dem Code des Naturhaften und der Konvention wirft bestimmte Fragen auf. Am Ende des 18. Jh.s schreibt man dem Geheimnis »die Würde und die Priorität des Naturrechts«97 zu, welches Geheimnis Index, sogar Funktion der Moral und der Verantwortung sein soll. Das Geheimnis stellt die Menschlichkeit selber dar, die die Moral begründet oder beherbergt. Eine anthropologische Qualität also, die im Zeichen der Geselligkeit die Gesellschaftsbildung in die Wege zu leiten berufen ist. Der Text von Kleist verschärft nun die diesem Geheimnisbegriff inhärente Aporie: wenn das Geheimnis nie ein naturhaftes oder natürliches Moment darstellt,98 so kann es nicht
ob‹ erlaubt es, die praktische Vernunft mit einer historischen Teleologie und der Möglichkeit eines unendlichen Fortschritts in Verbindung zu bringen.« Préjugés, S. 43. 96 »Das Gesetz ist weder die Vielheit, noch, wie man glaubt, die universelle Allgemeinheit. Es ist immer ein Idiom, und genau hier liegt das Raffinement des Kantianismus.« Ebd., S. 72. 97 R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 65. 98 »Denn in der Natur gibt es kein Geheimnis, ist keinem je ein Geheimnis begegnet. Ein Geheimnis ist das, wovon man zu wissen glaubt, dass es geheimbleiben soll, weil unter bestimmten nicht natürlichen Bedingungen eine Verpflichtung eingegangen, ein Versprechen gegeben wurde.« J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 349.
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auf die Natur gegründet werden, sondern ist an Konventionen, Verträge, in diesem Sinne an Öffentlichkeit gebunden, kann also nicht als behütender Garant der privaten Qualität aufgefasst werden. Dadurch wird aber die Auflösung des Geheimnisses ermöglicht. Ein Geheimnis als Menschlichkeit und Moral: ein öffentlicheres Geheimnis könnte man sich wohl nicht vorstellen. Das ist ein institutionalisiertes Geheimnis, mit einer gemeinschaftsbildenden Funktion, die aber die Aufhebung des Geheimnisses zur Folge hat. Wenn etwas zum Geheimnis wird, so setzt dies bereits einen Vertrag, eine Verpflichtung voraus, was aber der Tilgung des Geheimnisses gleichkommt. Kleist nimmt die natürliche Konstitution des Geheimnisses dennoch wörtlich (vgl. Schwangerschaft, das korporeale Medium des Geheimnisses). Um aber Geheimnis zu werden, braucht es eine »soziologische Technik« im Modus des öffentlichen Aufrufs als eines Boten oder Dritten (es bedarf des Boten, weil es das Geheimnis gibt, das aber ohne den Boten keine Effekte zeitigen kann, dadurch jedoch auch aufgehoben wird). Wenn aber der Täter identifiziert wurde, so wird das Geheimnis auch aufgelöst, Kausalität und Narrativität werden auf der diskursiven Ebene miteinander verbunden. Diese Verbindung ist aber nur vor der Öffentlichkeit, durch ihre Autorisierung möglich. Zugleich ist das Geheimnis referentieller wie performativer Art im Sinne der Glaubwürdigkeit der aufrufenden Person in Anbetracht ihrer unwahrscheinlichen Geschichte. Das Geheimnis aber, das auf dem Wege eines Vertrags, im Interesse einer Gemeinschaft konstituiert wurde, kann in seiner autorisierten Form gerade jene Singularität verdecken, die es im Prinzip bewahren oder sichern möchte.99 So wird hier die Inkompatibilität zwischen dem kontraktualisierten oder institutionalisierten und dem im (wenn auch unausgesprochenen) oder als Versprechen existierenden Geheimnis akut. Eine Inkompatibilität, in der das wahre Geheimnis sich dem Unterschied von privat und öffentlich, Natur und Kultur, Natur und Institution entzieht: ein unaussprechliches und unbegreifliches Geheimnis. Die religiöse Einfärbung dieses Geheimnisses zumindest aus der Sicht der Marquise ist demnach kein bloßer Zufall (wobei bereits ihre Empfindung des Grafen als einem »Engel des Himmels« dies auch vorweggenommen hat, vgl. noch »unwissentliche Empfängnis«, »Geschenk«). Überhaupt steht die unwissentliche Empfängnis für ein überzeitliches Exemplum, dessen Trägerin in diesem Sinne die Marquise wäre und die darin verkörperte Offenbarung (vgl. Graf als himmlischer Bote) ereignet sich als die göttliche, ewige Zeit in der Gegenwart. Da aber der Einbruch dieser Zeit in die profane Zeit zugleich von
99 Vgl. G. Simmel: Soziologie, S. 451. Zum Recht auf Geheimnis bei Kleist vgl. noch die Stelle in Der Findling (S. 211).
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den referentiellen Umständen der empirischen Zeit imprägniert wird, vor allem aber der Einbruch selbst nicht als Gegenwart sich ereignet, sondern nur in einer (medialen) Nachträglichkeit, als ein Post-Trauma erfahrbar wird, lässt er die ewige Zeit, die Überzeitlichkeit als Substanz auch als brüchig erscheinen. Die »Zeit« des Ereignisses wird sofort überformt in (zeit)ökonomische Horizonte, in kontraktualisierte Zeiten, in die Zeit der Verträge (Ehe als Versprechen im Aufruf, der Kontrakt für die tatsächliche Ehe über die »Rechte« und »Pflichten«, dann das Testament). Mit einem Wort: in die Zeit nach dem Sündenfall. Dank dem Grafen – dem »Teufel« ihrer Empfindung nach – wird die Marquise ihrer Immunität entkleidet im Versprechen der göttlichen Gabe, zugleich aber in die Welt und Zeit der Schriften hineinverwebt (dank natürlich auch ihrer Familienmitglieder, nicht umsonst werden alle von ihr mit Weihwasser bespritzt, S. 141). Die ewige Zeit der Offenbarung und des Exemplums erweist sich als ein nur zu empirisches weltliches Geschehen, das in Ideologiekritik und Verurteilung indes nicht aufgeht (nehmen doch diese Operationen genau die Verträge als ihren Grund und Autorität, die immer schon nach dem Ereignis kommen, auch im Sinne der restituierten Unschuld), sondern – wie weiter oben skizziert – einem materialen historischen Geschehen gleichkommt. Dieses Geschehen ist das Geheimnis, also nicht eine kognitive Substanz, sondern Geheimnis meint das (unmögliche) Ereignis selbst, indem es im Kommen bleibt. Dieses Kommen ist aber von der traumatischen Wiederholung sowie von der Iterabilität nicht zu trennen, wie sich diese in textuellen und medialen Transfers kundgibt und dem Ereignis den Aspekt eines »als ob« aufpfropft. Doch soll auf den quasi-transzendenten Aspekt des Falles der Marquise etwas näher eingegangen werden. Ihr Geheimnis kommt ihr wie ein wahres Mysterium vor, sogar und vor allem wie ein mysterium tremendum, insofern dieses sie ihrer Heimlichkeit entkleidet.100 Das Geheimnisvolle besteht buchstäblich in seiner erzitternden Wirkung, es bringt das Selbstverständnis und das Heimisch-sein der Marquise inmitten ihrer Familie ins Wanken. Das Verb »zittern« und seine Synonyme beherrschen die Erzählung mehrere Seiten lang im Zuge des langsamen Klarwerdens der Marquise über ihren »anderen Umstand« (S. 123-125). Dieses Zittern geht über das Psychologische hinaus, es ist die Spur jenes Geschehens inmitten des Ansturms, das (nicht nur) ihr Leben verändert, es kommt einem wahren Beben nahe, wie das Erdbeben in einer anderen Erzählung von Kleist, welches dann in der sozial-rechtlichen Dimension weiterzittert. Das Geheimnis der Marquise spaltet sich in das quasi-religiöse Mysterium und in das Erzittern-
100 Zum »mysterium tremendum« aufgrund von Kierkegaard u.a. vgl. J. Derrida: Den Tod geben.
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de, das das Traumatische bezeichnet, welches zugleich als posttraumatisches Symptom zwischen Vergangenheit und Zukunft vibriert (im Ineinander von Drohung und Versprechen). Dieses Geheimnis lässt gerade als eine Gabe den Beschenkten erzittern.101 Genau dieses »tremendum« und seine Gabe als unheimliches Geheimnis lässt sich nun nicht restlos in die Dimension der Öffentlichkeit, in deren ethische Vorgaben der etablierten Verantwortung, übersetzen: »Für den gemeinen Verstand und auch für die philosophische Vernunft ist die Bindung der Verantwortlichkeit an die Öffentlichkeit und an das Nicht-Geheime, an die Möglichkeit, ja an die Notwendigkeit, Rechenschaft zu geben, zu begründen und vor anderen die Geste und das Wort auf sich zu nehmen, die bestgeteilte Evidenz.«102 Um der von dem im »tremendum« gezeitigten Geheimnis herausgeforderten Verantwortung Genüge zu leisten, muss man laut Derrida die generalisierbare, »ethische« Allgemeinheit opfern: »Sobald ich mit dem Anderen in Beziehung bin, mit dem Blick, dem Verlangen, der Liebe, dem Befehl, dem Ruf des Anderen, weiß ich, daß ich darauf nur antworten kann, wenn ich das Ethische opfere, das heißt das, was mir die Verpflichtung auferlegt, auch und auf dieselbe Weise im selben Augenblick allen anderen zu antworten.«103 Verantwortung im Zeichen der ethischen Allgemeinheit – die öffentliche Verantwortung oder das Öffentliche der Verantwortung – kann gerade gegen die Herausforderung des singulären, erzittern lassenden Ereignisses immunisieren.104 Somit schreibt sich die doppelte Perspektive des Aufrufs als ein Ruf an einen Einzigen vor der Öffentlichkeit – und diese Verschränkung bzw. Divergenz der beiden Aspekte der Adressierung haben wir als Allegorie des Textes erkannt – in den Zusammenhang der Verantwortung zwischen Ethik und Politik, Versprechen und Vertrag ein. Und so erscheint gerade das Öffentliche in einer Ambivalenz, Agent sowohl der Immunisierung wie der Autoimmunisierung. Es ist nämlich auffällig bei Kleist, dass die Momente des »Blicks«, des »Verlangens«, der »Liebe« usw. in der mediatisierten öffentlichen Kommunikation zwischen der Marquise und dem Graf nur asymmetrisch, für den Grafen gegeben sind. Dieser möchte möglicherweise das Geheimnis wahren, die Immunität des Privaten bzw.
101 Vgl. ebd., S. 383. 102 Ebd., S. 387. 103 Ebd., S. 395. 104 Vgl. M. Kommerell über Kleist: »Immer steht gegen dies Geheimnis der Versuch einer Selbstauslegung, an dem die Welt noch mitspricht: das ›man‹ im Ich.« Die Sprache, S. 310.
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des Rufes der Marquise gewährleisten, daher kann er nur zu einem indirekten Geständnis kommen.105 Diese Immunität steht natürlich auf der Folie der ursprünglichen NichtImmunität, des nächtlichen Geschehens im Ansturm, während die vom Aufruf erhoffte Immunisierung auch eine Autoimmunisierung ist. Diese Kreuzung modelliert die Verschränkung der performativen Perspektiven im Aufruf, der zwei Adressaten hat und sein Geständnis an beide delegiert, ohne aber seine perlokutive Funktion und seinen performativen Wert eindeutig bestimmen zu können. Es scheint so, dass unter textuellen Umständen – im Falle eines literarischen Textes – niemals als gesichert gelten kann, dass der Träger/die Trägerin der Verantwortung – und a fortiori der Interpret/die Interpretin – wirklich dem singulären Anspruch des Anderen entsprochen und nicht vielmehr der öffentlichen Erwartung (der Ethik, der Konvention, dem Vertrag) Genüge geleistet hat, die im Text als Text und seinem Lesen immer präsent ist.
K OMMUNIKATION , Ö FFENTLICHKEIT
UND DIE
»T AT «
Für das beispiellose Ereignis kann nur das transzendente Exemplum der unbefleckten (bei Kleist: »unwissentlichen«) Empfängnis als Prätext – und: als
105 Wenn Kant in der Metaphysik der Sitten das Geheimnis diskutiert, so kommt er auch zur Problematik des Geständnisses, des von diesem in Anspruch genommenen Vertrauens und der Möglichkeit des Verrats, also des Meineids: »Der Mensch ist ein für die Gesellschaft bestimmtes (obzwar doch auch ungeselliges Wesen), und in der Kultur des gesellschaftlichen Zustandes fühlt er mächtig das Bedürfnis, sich anderen zu eröffnen (selbst ohne etwas dabei zu beabsichtigen) […] Findet er also einen, der Verstand hat, bei dem er in Ansehung jener Gefahr gar nicht besorgt sein darf, sondern dem er sich mit völligem Vertrauen eröffnen kann […] so kann er seinen Gedanken Luft machen […] Ein jeder Mensch hat Geheimnisse und darf sich nicht blindlings anderen anvertrauen …« Und hier taucht im Juvenal-Zitat der schwarze Schwan auf, die seltene Verkörperung jenes Freundes, der das »ihm anvertraute« Geheimnis zu wahren weiß (S. 611-612). Wie J. Derrida aber bemerkt (Politik der Freundschaft, S. 349), geht es bei Juvenal um eine Frau: »keuscher als die Sabinerinnen, die sich mit offenem Haar unter die Kämpfenden warfen.« »Sie hat alles: wer würde sie als Gemahlin ertragen?« So kann der Schwan in der Traumerzählung des Grafen als ein Echo von Juvenal/Kant fungieren, da in der betreffenden Szene der Graf geradezu performativ das Geheimnis inszeniert und es zugleich verschweigt.
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Autorisierung ihrer Glaubwürdigkeit – herangezogen werden (durch die Marquise), historisch gesehen steht kein Exemplum zu Gebote, und so übernimmt die Öffentlichkeit hier in der Tat die Funktion der Tradition.106 Zugleich ist sie aber auch ein Medium der tele-pathischen Kommunikation (mit dem Täter) und ihre tele-poetischen Effekte können sehr wohl vorgängige Wissensformen und Überzeugungen aufbrechen. In dieser Tele-poetik der öffentlichen Kommunikation ist das Geheimnis von vornherein nicht nur privat, aber auch nicht einfach nur veröffentlicht, sondern ein sich verdoppelndes (also iterativ-temporales) Ereignis von sowohl referentiellem als auch medialem Index. Das Zwischen von ewiger Transzendenz und datierbarer Öffentlichkeit (als medialem Dispositiv) kann nämlich als »Geschichte« definiert werden – als die Kontamination (Stellvertretung) von sich ereignender (d.h.: verborgener) und archivierter Geschichte. Das Geschehen an sich bzw. sein sprachlicher Charakter gehören weder zum Privaten noch zum Öffentlichen, vielleicht verteilen sie sich gerade deswegen auf gespenstische Weise auf beide Bereiche – und sind deshalb sowohl traumatisch als auch Geheimnis. Das fragliche Geschehen ist ja in der Form einer »›unempfundenen‹ Erfahrung« da, »als Tod ohne Tod, den man anders weder sagen noch verstehen könnte, das heißt anders als durch eine Phantasmatizität, also einer Gespenstigkeit gemäß (phantasma heißt das Gespenst auf Griechisch), die davon das Gesetz selbst ist« und »geht über den Gegensatz zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen, dem Aktuellen und dem Virtuellen, dem Wirklichen und dem Fiktiven hinaus.«107 Nach diesem Ereignis gibt es nur noch ein posthumes Leben. Die Marquise wird vom gespenstischen Geschehen auch gerade durch das implizite Fiktivwerden ihres Geständnisses bzw. Zeugnisses heimgesucht, das eine Art Über- oder Nachleben in Szene setzt (nachdem sie sich in die Rolle der Beichtenden und ihres zeugenden/bezeugten Ichs entzweite).108 Andererseits wird die Heimsuchung der Fiktion (des fiktiven Ereignisses)
106 Vgl. N. Luhmann: Gesellschaftliche Komplexität. 107 J. Derrida: Bleibe, S. 109. 108 »In der ganzen Zeit ihrer Schwangerschaft war die Marquise einer Situation ausgeliefert, die ihre Worte anzeigen: ›Eher … daß die Gräber befruchtet werden, und sich dem Schoße der Leichen eine Geburt entwickeln wird!‹ [II. 121.] Genau dies ist nun aber geschehen: die Gräfin ist als Leiche beschlafen worden, und die Geburt hat postumen Charakter. So erscheint denn auch das spätere Leben mit dem Grafen als ein postumes. Erst die Gestorbene kann, nach einer langen Trennung, das Leben eines liebenden Menschen führen.« B. Böschenstein: Ambivalenz und Dissoziation, S. 45. Anzumerken bleibt, wie schon erwähnt, dass dies auch für den Grafen zutrifft, er kehrt nach seiner Verwundung auch aus dem Tode zurück.
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zur Iterabilität des Zeugnisses, wie das in der Erzählung im erneuten Wiedergeben der Annonce sichtbar wird. Diese Iterabilität ist die Heimsuchung (und nicht einfach eine Reaktion oder Kompensation). D.h. die so genannte Wahrhaftigkeit als nicht-verfügbare Intention oder innerer Akt antwortet dem Rufen dieses Ereignisses (und keinem noch so kategorischen Imperativ der Moralität), zugleich wird sie von diesem auch durchkreuzt. Die Tat des Grafen war in diesem nekrophilienahen Sinne sowohl referentiell wie fiktiv, zumindest wird ihre eindeutige axiologische Zuordnung problematisch. Sie sagt damit einerseits noch nichts Bestimmtes über seinen Charakter aus (der sich ja vor, aber vor allem nach der Tat anders zeigt), und auch das zeigt den problematischen Zug einer Zeugenschaft an, die sich als referentieller Beweis (d.h. im Dienste einer Rechtsordnung) versteht.109 Ferner ist es fraglich,
109 Mit den Worten von M. Kommerell: »Man kann verhören über das, was jemand tat, nicht über das, was jemand ist.« Die Sprache, S. 247. H. Arendt: »Nicht von unseren Intentionen, wohl aber von unserem wirklichen Verhalten können wir wahr oder falsch Zeugnis ablegen, und zwar uns selbst gegenüber. Das Verbrechen des Heuchlers ist, daß er falsch Zeugnis ablegt wider sich selbst.« Über die Revolution, S. 132. Arendt bezieht sich hier auf das falsche Zeugnis in Bezug auf die ihrer Meinung nach anscheinend erkennbaren (»wirklichen«) Taten, die gleichsam abgestritten werden (dies sollte die Heuchelei bewirken), ohne eine dazugehörige Intention wird aber das »wirkliche Verhalten« selbst unlesbar. Die Selbstlüge bezieht sich also vielmehr auf die Intention selbst, nicht einfach auf die Tat. Freilich kommt diese Intention erst durch eine Interpretation der »Tat« (durch eine Festlegung der Tat als »Tat«) zustande, könnte man dem mit Nietzsche eine gerade nicht unwesentliche Ergänzung hinzufügen. Und bei einer solchen Interpretation sind quasi-juridische Dispositive im Spiel. – Die Tat als Faktum an sich wird erst in einer Interpretation semantisch bestimmt, die dem Performativen (der Handlung) eine kognitive Funktion (Intention) zuschreibt. D.h. nicht einfach die referentielle Konstatierung der Handlung, sondern vielmehr ihre Interpretation und Kommunikation entscheidet über deren Relevanz in pragmatischen wie semantischen Kontexten. Gerade in Bezug auf das aufgedeckte Geheimnis wurde dies betont: »In ein Geheimnis im vollen Sinn eingeweiht nämlich sind allein die, denen nicht allein die relevanten Fakten offenbart werden, sondern denen darüber hinaus gestattet wird, an der gemeinsamen Deutung und Bewertung dieser Fakten teilzunehmen. Der Grad, in dem sich eine Gemeinschaft über die Kommunikation von Geheimnissen bildet,
ist
nicht von dem Wie der
Kommunikation über diese Geheimnisse zu trennen.« (A. Keppler/Th. Luckmann: Beredtes Schweigen, S. 220; zur Unterscheidung von ausgesprochenem und unausgesprochenem Geheimnis, Heimlichkeit und Geheimhaltung vgl. A. Hahn:
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ob der Tat des Grafen eine kommunikative Funktion (für einen Dritten) zuzuschreiben ist: das zeigt sich auch daran, dass er sein »Geständnis« in der Traumerzählung verschlüsselt ablegt, nicht an Dritte zu adressieren scheint. (Gerade die unscheinbare Differenz zwischen übertragener und wörtlicher Bedeutung, sogar das Fehlen der letzteren impliziert jedoch den virtuellen Dritten, also den Interpreten.)110 Andererseits ist die Tat nicht eindeutig böse zu nennen, wenn
Soziologische Aspekte.) In der Erzählung wird die deutende (nicht-neutrale) Funktion der Kommunikation gerade in der metaphorischen Redeweise der Figuren angezeigt, die aber ständig die Disjunktion von Signifikat und Referent in Szene setzt. Die ganze Erzählung stellt in dieser Sicht die Gemeinschaftlichkeit – auch der Interpreten – auf die Probe. 110 Mag die – von den neueren Kulturwissenschaften in Anspruch genommene (vgl. A. Koschorke: Institutionentheorie) – These von Reemtsma in vielen Fällen einleuchten (»Jede menschliche Handlung hat einen kommunikativen Aspekt, und man kann das vermutlich sogar für Handlungen annehmen, die ohne Zeugen stattfinden, denn Zeuge ist auch der Handelnde selbst, der mit dem, war er tut, sagt, wer er ist.« J.Ph. Reemtsma: Vertrauen und Gewalt, S. 107), bei Kleist ist sie dennoch nicht restlos zu bejahen. Denn bei Reemtsma wird bei aller Notwendigkeit seiner Einsicht doch die Intention der Handlung gerettet, in Form einer kommunikativen (nicht einfach handlungsorientierten) Intention oder Funktion, und so wird die Tat eingesetzt oder definiert. Dies alles geschieht beim Verfasser etwa der Bemerkungen Von der Überlegung. Eine Paradoxe jedoch nachträglich, ist also Effekt einer Interpretation (und keiner »Beobachtung«, dieses Lieblingswortes der genannten Wissenschaften). Das wiederum ist ein Aspekt, für den sich (nicht nur) Reemtsma nicht zu interessieren scheint, wobei die Feststellung von kommunikativen Funktionen (auch von Handlungen) doch auch den »Empfänger«, den Interpreten solcher Handlungen mit einbeziehen sollte (gerade, aber nicht nur, als Adressaten). Denn bei Kleist werden – wie weiter oben zu sehen war – gerade die Verträge zwischen (Sprach)handlung und Drittem aufgebrochen und der Interpretation anheim gestellt. Hilfreich zur Verortung des verschlüsselten Geständnisses ist hingegen – bei aller Unterschiedlichkeit der Fälle – folgende Bemerkung: »Es ging nicht darum, ob Eichmann die Wahrheit sagte oder ob er log, sondern dass er nicht zu einem Dritten sprach. Darum wusste er auch über seine Taten keine sinnvolle Auskunft zu geben.« (ebd., S. 470) Deswegen ist der Sprechakt des Grafen auch ein Schweigeakt zu nennen, da er nicht zu einem Dritten zu sprechen scheint (»versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, daß er sie außerordentlich liebe: sah wieder auf seinen Teller nieder, und schwieg.«, man beachte den Doppelpunkt als Quasi-Einleitung einer Aussage, die hier aber das Abwenden des Blicks und das Schweigen meint).
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man will, vor allem im weiteren Zusammenhang und dem (scheinbaren) happy end. Das Schweigen des Grafen (als Zeugen) über seine Tat (über sich als Täter) entspricht vielleicht der Unmöglichkeit, auch diese Tat moralisch-wertend eindeutig zu klassifizieren und zu adressieren (und dabei den Zeugen als Autorität über dem Täter zu positionieren und die ethische Balance wiederherzustellen).111 In Frage steht dabei, ob wirklich nur die Unschuld unbeweisbar ist, die Schuld dagegen als nachweisbar gelten könnte.112 Der Tatcharakter ist jedoch nicht eindeutig zu bestimmen (wenn seine Intentionalität nicht zu überprüfen ist, die zur Feststellung der »Schuld« unerlässlich ist), desgleichen auch seine Wertung ambivalent bleibt. Die »böse« Tat wird durch eine eventuelle Selbstlüge des Grafen nicht bestätigt, in der er seine eigenen vermutlichen Intentionen festschreiben würde – das Fehlen seines Geständnisses lässt die »Tat« gewissermaßen undefinierbar. Tat und Täter zu trennen stößt auf Schwierigkeiten.113 Es
111 Das wäre das moralische Prinzip als solches: die Überlegenheit des Zeugen dem Täter gegenüber. Gerade diese vermeintliche Höherwertigkeit des Zeugen (der den allgemeinen Willen mit Rousseau oder den kategorischen Imperativ mit Kant als Adressierungsdispositive an den/des Dritten vertritt) über dem Täter basiert jedoch auf einem gewaltsamen Moment, das die Trennung ins Subjekt einführt, wie dies bei Rousseau gerade mit der Begrifflichkeit des Feindes effektuiert wird. (Das findet im Text von Kleist z.B. im oder als Diktat statt – das das schreibende Subjekt mit sich selbst entzweit –, die Gewalt ist hier eine mediale oder eine Gewalt des Mediums.) Das ist die Politisierung des Zeugen, also gerade die Ethisierung als eine Art Sündenfall – das ist eine der »Botschaften« der Erzählung Kleists. 112 »… nur Schuld wirklich beweisbar ist, Unschuld dagegen, sofern sie mehr sein soll als ein Nichtschuldigsein, niemals erwiesen, sondern nur auf Treu und Glauben akzeptiert werden kann, wobei die Schwierigkeit darin liegt, daß ein solches Vertrauen sich nicht einmal auf das gegebene Wort zu stützen vermag, das ja immer auch eine Lüge sein kann.« H. Arendt: Über die Revolution, S. 110. 113 Diese Schwierigkeit will Arendt – ob gewollt oder ungewollt – mit der Charakterisierung der Selbstlüge (bei ihr »der Heuchler«) als »Verbrechen« aufheben: die Selbstlüge als Verbrechen abzustempeln, setzt die Trennung zwischen der sich belügenden Person und sich selbst voraus, wo die belogene Person doch nur als Rechtssubjekt definiert werden kann, will man den Ausdruck »Verbrechen« beibehalten. Die Determinierung des Werdens (in) der »Tat«, des Geschehens kann nur auf rechtlicher Grundlage stattfinden, die aber das Werden zu einem Sein verfestigt und die Schuldhaftigkeit der Handlung setzt (vgl. W. Benjamin: »Das Recht verurteilt nicht zur Strafe, sondern zur Schuld.« Schicksal und Charakter, S. 175). Die Opposition bei Kommerell und Arendt, ihr Glaube an die Definierbarkeit der (bei Arendt gar
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scheint so, als ob Kleist hier in der (buchstäblich) »unerhörten« Begebenheit (die nicht einfach als Faktum gelten kann), gerade durch ihre mediale Vermittlung jene Unbekanntheit des Handlungswertes in Sicht habe, von der Nietzsche gesprochen hat.114 Sowohl die angebliche Herkunft als auch die (erwünschten) Folgen werden der Handlung im Text durch konventionell-arbiträre Zuordnungen (Vertrag, Ökonomisierung usw.) als »Erkenntniss« zugeschrieben (welche Erkenntnis sich von der »Welt-Moral«, der Synchronisierung und dem postulierten Gleichwert der Handlungen autorisiert). Die Rolle des Bewusstseins (der Kognition) als vorgängiger Etablierung der Handlung (der Performativität) wird bei Kleist angezweifelt (wie auch in Die Verlobung in St. Domingo und in Von der Überlegung), der Glaube an ihre Verknüpfung als Fundament der Moralität wird als das Prinzip der Überzeugung, vor allem der öffentlichen Überzeugung dargestellt. Die Verknüpfung der kognitiven mit der performativen Funktion soll vor allem die Bestimmung der letzteren bezwecken, so wie auch das Versprechen als ein wahrhaftiges hingestellt wurde. Zugleich hat aber das Zeugnis durch seine immer schon (selbst)entschuldigende Funktion die Zeugin
»bösen«) Tat, welcher Glaube bei Arendt von der Autorität des Dritten (ob als »Gewissen« oder anders genannt) gestützt wird, wird von Kleist nicht geteilt, der damit radikaler und moderner ist als die beiden Denker des 20. Jh.s und vielmehr mit der »Unschuld des Werdens« von F. Nietzsche in Verbindung zu bringen wäre: »Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten – Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort ‒?« Sämtliche Werke und Briefe II, S. 683. (Zu beachten ist die Netzmetapher, die einen latenten Zweifel an der Identifizierbarkeit der Handlung ausdrückt.) Kleists Gedanken über Überlegung und Tat (Von der Überlegung. Eine Paradoxe) werden bei Nietzsche vielfach auf den Punkt gebracht: »was man von einer That überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu thun, dass die Brücke von der Erkenntnis zur That in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist?« Morgenröthe, S. 109. 114 »Daß der Werth einer Handlung von dem abhängen soll, was ihr im Bewußtsein vorausging – wie falsch ist das! – Und man hat die Moralität danach bemessen, selbst die Criminalität … […] Man weiß die Herkunft nicht, man weiß die Folgen nicht: hat folglich eine Handlung überhaupt einen Werth? … […] Wenn also die Handlung weder nach ihrer Herkunft, noch nach ihren Folgen, noch nach ihren Begleiterscheinungen abwerthbar ist, so ist ihr Werth x, unbekannt …« F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 13, S. 371-372.
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selbst in einen Dritten verwandelt, welche Position zugleich von der öffentlichen Kommunikation vertreten, in diese hinausverlagert wird. Die öffentliche Meinung soll zugleich die entschuldigende Instanz darstellen, dabei war sie in ihrer Struktur von vornherein auf die Verknüpfung von Kognition und Performanz, Wort und Tat beim Subjekt der sich selbst entschuldigenden Bezeugung ausgerichtet. Sie, die öffentliche Meinung, soll also die entschuldigende Funktion übernehmen, damit aber bestreitet sie letztlich die Verknüpfung von Motiv und Handlung, die sie aber vom Zeugen sehr wohl erwartet hat. In der öffentlichen Meinung wird der sich entschuldigende Aspekt des Zeugnisses instrumentalisiert, der Zeuge mit sich selbst als einem Dritten konfrontiert; somit reproduziert die Struktur und Instanz der öffentlichen Meinung denjenigen Meineid, den sie dem Zeugen attestiert oder verbietet.115 In der Divergenz zwischen öffentlicher Adressierung und singulärem Zeugen, von Grammatik und Referenz wird nun sichtbar, dass das Ereignis die Überzeugung affizieren (und zwar auch die Überzeugung ihrer »Subjekte«: bei der Marquise fordert es diese heraus und stellt sie zugleich in Frage), dieser widerstehen kann.116 Die Wahrheit ist nicht mit der Überzeugung (der Wertschätzung) zu verrechnen, vielmehr steht sie mit dieser in unauflöslicher Spannung (und das ist wiederum ein Thema von Nietzsche). Wohlgemerkt ist das anfängliche Ereignis nicht einfach von der moralischen Überzeugung her unerhört, sondern im Sinne seines Status, der weder nur privat noch einfach öffentlich, ferner unsichtbar ist und darüber hinaus gerade die moralischen Prinzipien der Verknüpfung von Motiv und Handlung, der (moralischen) Überlegenheit des Zeugen über dem Täter unterwandert. Das Dispositiv der medial erzeugten Öffentlichkeit operiert auf der Ebene der Kognition, und gerade die performative Dimension des von ihm selber heraufbeschworenen Ereignisses bleibt ihm unerreichbar. Auf diesen Zusammenhang soll noch weiter eingegangen werden. – Wenn das Öffentliche die Immunität der Marquise durchkreuzt, so tut es das in ihrem Selbstverständnis
115 Vgl. dazu G.W.F. Hegels Bewertung der öffentlichen Meinung: »Das an und für sich Allgemeine, das Substantielle und Wahre, ist darin mit seinem Gegenteile, dem für sich Eigentümlichen und Besonderen des Meinens der Vielen verknüpft; diese Existenz ist daher der vorhandene Widerspruch ihrer selbst, das Erkennen als Erscheinung; die Wesentlichkeit ebenso unmittelbar als die Unwesentlichkeit.« Grundlinien, S. 483. 116 Vgl. G.W.F. Hegel: »In der Tat ist mein Überzeugtsein etwas höchst Geringfügiges, wenn ich nicht Wahres erkennen kann …« ebd., S. 276.
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selbst, in der Form des Bewusstseins, das sich gegen ihr »Gefühl« richtet.117 Ihr Selbstverständnis wird medialisiert, ihre unbewusste Unschuld wird zu einer versprochenen Unschuld, die von der Sprache – gar von einem Text (der Annonce) – bekleidet wird, die sie zugleich auch entblößt (wenn auch auf indirekte Weise, indem sie auf ein Fehlen hindeutet, im Endeffekt eine Verdopplung herbeiführend).118 Die Unbewusstheit oder Ohnmacht war ja gerade Bedingung der »Tat« (wie in Kleists Aphorismus Von der Überlegung. Eine Paradoxe), und die eigentliche Ursache ihrer Schwangerschaft wird erst mit der Ermittlung des Täters bewusst oder tritt in das Bewusstsein.119 Dieses Wissen als Bewusstseinsinhalt und als Selbstbewusstsein wird mit der Öffentlichkeit, der öffentlichen Kommunikation verknüpft und in diesem Sinne erweist es sich immer schon als (potentielles) Schuldbewusstsein, das von der öffentlichen Mitteilung und dem somit entstehenden Rechtfertigungszwang generiert wird. Das Postulat der bewussten Verantwortung, die Verknüpfung von Tun und Täter ist von der öffentlichen Struktur bedingt. Man könnte sagen, dass das, was bewusst wird, in die Dimension des Bewusstseins eintritt (ob aus dem Unbewussten oder anderswoher, ist jetzt wohl sekundär), bereits von einer potentiellen sozialen Kommunikation bedingt ist, einen Index der Öffentlichkeit darstellt. Das bedeutet freilich nicht, dass Kommunikation nur gebunden an das Bewusstsein oder das Bewusste stattfinden kann, aber sehr wohl, dass Kommunikation immer eine öffentliche Relevanz oder Rolle besitzt, die aber schwer einzugrenzen ist. Das Bewusstsein ist hier also Folge der »Mitteilung«, wie dies später von Nietzsche dargelegt wird. Laut einem komplexen, pseudo-genealogischen Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft ist die Herausbildung des (intentionalen) Bewusstseins nicht einem autonomen (anthropologischen) kognitiven Reichtum zu verdanken, der Grund des Bewusstseins ist vielmehr bedingt von der Mitteilung, vom Erkennen von Zeichensystemen als Zeichen: »Nun scheint mir […] die Feinheit
117 Vgl. die Funktionen des »Bewusstseins« und des »Gefühls«: das Erste »spricht« seinen Träger »rein«, das Zweite kann sich »gegen« ihn richten (S. 121). 118 Vgl. M. Kommerell: »Ehe sie unbegreiflich wurde, hat die rätselhafte Person den Begriff ihrer Umgebung vorbildlich erfüllt. Dieser Begriff (Schablone, Kodex, Einrichtung, Sitte) wirkt manchmal in ihr nach; sie ist gewohnt, sich selbst nach ihm auszulegen, und beginnt also sich mit sich selbst zu entzweien.« Die Sprache, S. 257258. 119 Früher wusste nur ihr »Umstand« darüber, nicht sie, gleichsam im Sinne des Spruchs in Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden: »Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.« H. v. Kleist: Werke II, S. 323.
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und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältnis zur Mittheilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhältniss zur Mittheilungs-Bedürftigkeit«. Nietzsche versteht dies folgendermaßen: »denn allein dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand.« Gerade das Bewusstsein ist für Nietzsche das Organ, das »nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist.« Daraus folgt für ihn, dass »Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, ›sich selbst zu kennen‹, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein ›Durchschnittliches‹, – dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins – durch den in ihm gebietenden ›Genius der Gattung‹ – gleichsam majorisiert und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird.«120 (Bei Kleist ging es um die quasi-juridische Prozedur der Übersetzung des Versprechens – das vom Trauma induziert wird, dieses zugleich aber auch potenziert – in das Bewusstsein.) Diese Konstellation gilt beim späten Nietzsche auch in Bezug auf die »innere Erfahrung«: »Die ›innere‹ Erfahrung tritt uns ins Bewußtsein, erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht … d.h. eine Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände –«.121 Man könnte über gar kein Wissen von der »inneren« Erfahrung verfügen, würde sie nicht in »eine Sprache« übersetzt, welche Sprache aber (mit ihrer intentionalen Eigenschaft) ebendiese innere Erfahrung im selben Zuge auch verstellt oder verschiebt, zumindest sie mit sich selber nicht-identisch macht. Gerade diese Übersetzung in die Sprache erweist sich füglich als ein Verrat an der »inneren Erfahrung«, bei Kleist: eines Wahrhaftig-Seins, das seiner selbst nicht weiß.122 Wenn Aufrichtigkeit als Ausdruck (und nicht als Versprechen bzw. Bezeugen) aufgefasst wird, so gehört das auch noch in das Paradigma des Zeichens (und des
120 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 590-592. 121 F. Nietzsche: Sämtliche Werke, Bd. 13, S. 460. Bekanntlich ist die Leitfigur in dem Nachweis über den »Phänomenalismus der inneren Welt« die Metalepse, die nachträgliche Erstellung einer Ursache für die zeitlich frühere Wirkung (ebd., S. 459). In den metaphorischen Vokabularien des Obristen, des Forstmeisters – in denen sich der Graf gut auskennt – reflektiert der Text genau diese Übersetzungsmechanismen, die in ihrem Gelingen auf einen Quasi-Vertrag angewiesen sind. 122 Vgl. M. Kommerell: Die Sprache, S. 247. Ch. Moser: Prüfungen der Unschuld, S. 98.
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öffentlichen Exempels), das Oberfläche und Bewusstsein bzw. Intentionalität impliziert. Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit sind aber kein Ergebnis einer bewussten, strategischen Entscheidung.123 Dennoch wird der Dritte aus dem Versprechensvorgang nie ganz auszuschließen sein, sei es in Form von (transzendenten) Beteuerungen oder in der öffentlichkeitsbedingten Medialität von (schriftlichen) Ankündigungen (die letztere übernimmt gewissermaßen die Funktion der ersteren, an diesem – auch historischen – Übergang situiert sich das Kleistsche Werk). Der Dritte bewirkt die öffentliche Festlegung des Versprechens, die gerade mit der Schriftlichkeit zusammenfällt; in dieser Ambivalenz kann aber (ebendieser Dritte) auch zum falschen Zeugen werden, und zwar auch im oder als Bewusstsein der versprechenden Person.124 So stellt das Selbstbewusstsein – von der Öffentlichkeit markiert – den falschen Zeugen der inneren Akte des Subjekts dar und impliziert den Zwang der Selbstrechtfertigung (wie weiter oben über die Rollenhaftigkeit des Bekennenden – als eines Dritten zu sich selbst – angedeutet). Die bereits angesprochene geschichtsphilosophische Fundierung der Macht der öffentlichen Meinung erweist sich als eine gewaltsame Operation, indem jene (pseudo-juridische) Macht als die Macht der Zeit und der Geschichte dargetan und somit politisiert wird (als Autorisierung und Rechtfertigung politischen
123 Vgl. F.-W. Korsten: Hypocrisy and Sincerity, S. 69. Er leitet diese Unmöglichkeit aus der »conformity of thought and body, the passion of sincerity« ab. Und: »Kleist will zeigen, daß die hier [in Prinz von Homburg] dargestellte Entscheidung eines Wesens zu sich selbst kein Willensakt ist. Dies trennt eine Kleistische Entscheidung von einer in Schillers Dramen.« M. Kommerell: Die Sprache, S. 282. 124 Es ist wohl kein Zufall, dass die Begegnung infolge der Kommunikation im Intelligenzblatt »am Dritten« stattfindet. Wenn die Uhrzeit – »elf Uhr« – ikonisch-numerisch als die Trennung der beiden ausgelegt wurde (die dann von den 20000 Rubeln zu einem Paar gebildet wird, vgl. K. Schwind: Heinrich von Kleist, S. 39, das auch als Symbol fungieren kann, das von J. Lacan als Vertrag konkretisiert wird, vgl. Funktion und Feld, S. 112), so könnte der »Dritte« auf das öffentlich-mediatisierte Moment der Begegnung hinweisen. (Zum Geld als symbolon, »d.h. als Zeichen und Pfand eines Kontrakts« im zeitgenössischen Kontext vgl. J. Vogl: 1797. Geld als Versprechen, S. 314. Es ist schade, dass Vogl das Kreditpotential des Gelds nur ökonomisch versteht – in Bezug auf die garantierte Wertmenge – und es nicht auf den Status des Gelds selbst bezieht, wo dieses seine Echtheit als solche verspricht, gegen das potentielle Falschgeld. Genau diese Überlegung in Bezug auf das Versprechen bildete den Ausgangspunkt dieser Arbeit.)
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Handelns).125 Dass diese Relation sich als solche – noch bar inhaltlicher Momente – überhaupt aufdrängt, ist ein gewaltsames, nicht restlos erklärbares Ereignis (im Zuge der allgemeinen Verzeitlichung der Geschichte und der politischsozial-ökonomischen Begriffe um 1800 herum, die sich mit gesellschaftlichen, ideengeschichtlichen, politischen und kulturellen Begriffen nicht ausschöpfen lässt, diese vielmehr induziert und provoziert). Gerade der doppelte Zug des Grafen – Täter und Zeuge – deutete auf die Kontamination der »Geschichte« als Handlungs- und Reflexionsraum hin. Die Tat und die Schuld werden erst vor der Öffentlichkeit zu dem, was sie sind, zugleich sollen sie von dieser Öffentlichkeit freigesprochen werden (dieser Doppelung entspricht letztlich die doppelte Eigenschaft des Grafen). Diese Reflexion (Spiegelung) und Umformung des Geschehens im öffentlichen Raum, die so hervorgetriebene Iterabilität des Ereignisses gehört gewissermaßen zu diesem selbst und bleibt ein Geheimnis (wie das Geständnis oder das Versprechen) selbst noch in der schrillsten öffentlichen Mediatisierung. Gerade diese partielle Verborgenheit ruft die Politisierung hervor, fordert sie heraus, wo die Hausherrschaft und Souveränität ablösenden kollektiven Herrschaftsformen126 gerade in der kollektiven Öffentlichkeit ihr Machtpotential, diese als Machtpotential entdecken.127 Auch der Begriff des kategorischen Imperativs – der, wie oben gesehen, Versprechen und Vertrag homogenisieren soll (so wie Macht der Öffentlichkeit und Macht der Geschichte zusammenfallen sollten) – ist Exponent dieser Gewalt (noch laut Nietzsche und Freud), da in ihm ein Imperativ ohne »äußeren imperans« waltet und letztlich frei ist für totalitäre Besetzungen.128
125 Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, S. 908. Und: »… die geschichtliche Zeit [wurde] selbst zur legitimierenden Instanz für die Herrschaft der öffentlichen Meinung« (Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 4, S. 453). Zu den Begriffen »volonté générale« (bei Rousseau), »dritte Gewalt«, »öffentliche Gewalt« und »Gesetz der öffentlichen Meinung« vgl. R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 47. Vgl. noch H. Arendt: Über die Revolution, S. 73-146. 126 Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, S. 64. 127 Ebd., S. 901. 128 Ebd., S. 76. Gerade Kleist hat dies am deutlichsten gesehen und die auf den inneren Imperativ gegründete Vorstellung der »Verantwortlichkeit« entlarvt, vgl. die oft zitierte Briefstelle: »Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, und mit Andacht ißt er ihn auf – Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen?« (An Wilhelmine von Zenge, am 15. August 1801, S. 683) Vgl. hierzu Nietzsches
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Das (referentielle) Wissen war in der Novelle auf den Boten – auf Sprache und Medien, die zugleich öffentliche Effekte zeitigen – angewiesen.129 Alles, was ins Bewusstsein tritt, ist bereits Gegenstand und Effekt der Mitteilung, ferner Index eines Bedürfnisses (kein Zeichen eines autonomen Reichtums). Das Bewusstsein oder die Bewusstheit als Intentionalität ist Folge, Figuration oder Effekt der Mitteilung, unabhängig davon, ob die Mitteilung selbst verlautete oder nicht, ob sie eine private oder öffentliche Adressierung aufweist130 – insofern trägt es einen öffentlichen Index an sich, indem die Medialität der Mitteilung selbst Indikator und Funktion der Öffentlichkeit ist. Überhaupt wird das »Gefühl« in der Sprache zum Bewusstsein (und das heißt hier: zum Schuldbewusstsein): das Sprechen »von der Unschuld« kann nur im Modus des Bewusstseins erfolgen,131 das die Beteuerung der Unschuld jeglicher Authentizität zu entkleiden droht. Das ist auch ein Effekt der »allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Kleists Erzählung ergibt somit eine Nietzsche verwandte Einsicht. Im Vertrag werden sowohl die Marquise als auch der Graf als Subjekte gesetzt, die es vor diesem Vertrag nicht gab, gerade in dieser Funktion wird aber vom Vertrag an ihnen Verrat geübt: am Grafen als einem unersetzbaren Zeugen132 und an der Marquise als der singulären Auserwählten einer Gabe, die von ihr teilweise sogar als himmlisches Geschenk empfunden wird (das man wohlgemerkt nur unwissentlich empfangen kann, d.h. ohne Erwartung und Berechnung). So wird
Bemerkung: »Die Verantwortlichkeit lange getrennt vom Gewissen!« Sämtliche Werke, Bd. 10, S. 330. Auch in Bd. 9, S. 686. 129 Die in der zweiten Fassung der Erzählungen erfolgte Zutat von »außer der heiligen Jungfrau« in der Rede der Hebamme »kann die Aufmerksamkeit noch einmal auf das Nicht-Wissen lenken. Die ›unwissentliche‹, statt der unbefleckten, ›Empfängnis‹ aktiviert dieses Wort zusätzlich, insofern als der ›heiligen Jungfrau‹ das ›Wissen‹ von der ›Empfängnis‹ ja von einem ›Engel‹ überbracht wird.« K. Schwind: Heinrich von Kleist, S. 60. 130 Vgl. nochmals die Divergenzen beim Grafen: Briefe schreiben während des Sprechens mit anderen; Briefe formulieren in Gedanken. 131 Laut der genauen Bemerkung von K. Schwind (Heinrich von Kleist, S. 58). An dieser Verdopplung wird es verständlich, warum der Kleistsche Text öfters von »(reinem) Bewusstsein« spricht, wo eigentlich »Gefühl« stehen sollte. 132 »… indem sie keine Art des Geheimnisses mit dieser Person zu teilen haben wolle.« (S. 139) Zu diesem Unwillen steht die Annahme in krassem Gegensatz, laut der der »Ursprung« des »jungen Wesens« »geheimnisvoller« erscheint (S. 126).
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die Marquise – zwischen Geheimnis und Konvention – zu einer falschen Zeugin des Grafen und auch ihrer selbst, infolge der politischen Instrumentalisierung des Geheimnisses.133 Gerade durch die öffentliche Annonce übt sie diesen Verrat am Geheimnis, welches wiederum aber buchstäblich nur im Medium der Öffentlichkeit zu einem solchen werden kann. Die Immunität des Geheimnisses – und die vom Geheimnis gesicherte Immunität (das Mystische) – werden sowohl bestätigt wie getilgt. Als Hauptmotiv und Anlass hinter der ambivalenten, zugleich sich selbst aufhebenden testimonialen Konstellation wurde der selbstdestruktive Chiasmus von Wissen und Handeln, ihre wechselseitige Nicht-Übertragbarkeit verortet, und nun kann das ganze Verhältnis von der Gabe her modelliert bzw. erklärt (?) werden. Die Ereignishaftigkeit der Gabe zeigt sich, wenn man sie nicht erwartet hat (oder sie auch über eine Erwartung hinaus als Unvorhersehbares eintritt) – wenn man von ihr (intentional) weiß, so übernimmt man keine Gabe, sondern einen Besitzgegenstand. Und umgekehrt: wenn man der Gabe als Gabe entsprochen hat, so kann das keinen Gegenstand eines reflexiven Wissens bilden. Die Gabe streicht in ihrem Stattfinden das vorgängige Wissen, aber auch die souveräne Handlung aus (deswegen ist sie ein un-mögliches Ereignis) – ihr Übernehmen als Gegen-Gabe muss ohne Wissen von dieser Gabe erfolgen.134 So kann man sagen, dass die Sprache als Mitteilungsbewegung und als Aussetzung die Bewegung einer Gabe modelliert (bzw. supplementiert), die das Wahrhaftig-Sein sowohl ermöglicht als auch durchkreuzt, die die Unschuld zu bekräftigen berufen ist, zugleich sie aber immer schon in eine unzugängliche Vergangenheit verweist.135 Wenn man auf diese Gabe nicht wartet, das ist die Unschuld – wenn man von ihr nicht in kognitiver Weise weiß (»Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.« Dieser »Zustand« ist hier wohl weder einfach privat noch öffentlich, sondern auf ununterscheidbare Weise beides). Und sie somit in verschiedene Ökonomien übersetzt (wie dies in der Novelle tatsächlich der Fall ist). Die Gabe gefährdet
133 Dieser Aspekt lässt sich natürlich kritisch auf Kant beziehen, der unter »Geheimnis« ein gewusstes Geheimnis, einen Wissensbestand oder »Erkenntnisgegenstand« versteht und dadurch die auf kognitive Weise nicht-gesicherte Seinsweise des Geheimnisses verdrängt. Vgl. J. Derrida: Politik der Freundschaft, S. 349-350. 134 Vgl. J. Derrida: Falschgeld. 135 Vgl. Ch. Moser über Das Marionettentheater: »Die Pointe der kurzen Erzählung besteht ja darin, dass es eines Kunstwerks bedarf, um die natürliche Anmut sichtbar zu machen. Um überhaupt in Erscheinung zu treten, darf die Unschuld nicht mehr sein.« Prüfungen der Unschuld, S. 105.
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jedoch jegliche Immunität136 und Souveränität bzw. Autonomie und Integrität (bei Kleist ist sie sowohl »Geschenk« wie »Pfahl ins Fleisch«, das das Wissen untergräbt). Wenn sie sich in eine schon bestehende Immunität (oder einen Privatbereich als dessen Eigentum) eingliedern ließe, wäre sie keine Gabe: und in dieser Weise exponiert sie den Beschenkten in seinem Eigenen, in seinem Selbstverständnis.137 Wenn aber die Gabe als Gabe realisiert (und vom Gebenden bzw. Beschenkten unterschieden) wird,138 stellt dies bereits einen öffentlichen und ökonomischen Effekt (etwa den »Überfluss« zum bloßen »Bedürfnis«) dar.139 Die Gewissheit der Gabe wird von der referentiellen
136 Daher lässt sich die Marquise nicht zu einer Heiligen erklären (wo das »Heile« das Geschützte, Unversehrte bedeuten sollte). 137 Der Marquise gelingt ein authentisches Selbstverständnis bezeichnenderweise erst in der vollkommen hoffnungslosen Situation der Vertreibung aus dem elterlichen Hause, wo sie in dem spontan entwickelten Widerstand gegen die väterliche Verfügungsgewalt mit »sich selbst bekannt gemacht« wird (S. 126). Diese Bekanntschaft mit sich selber erfolgt ohne eine referentielle Wissensbasis, für die der Erzähler einen Vergleich findet, dessen Semantik gerade dem physikalischen Gesetz trotzen soll (»wie an ihrer eigenen Hand«). Sie wird sich selber bekannt, ohne die Ursache ihrer Schwangerschaft zu wissen, also ohne ein referentielles Wissen. Das Selbst, das so entdeckt wird, ist nicht ohne jenes Geschehen zu erfahren, das genau dieses Selbst in Frage stellt – es legt nämlich nahe, dass sie sich früher gerade nicht »bekannt« war. Dieser Zusammenhang wird allerdings dadurch ambivalent, dass der Marquise auch gerade ihre transzendente Überzeugung die Kraft gibt (»… des Geschenks, das Gott ihr mit dem dritten gemacht hatte …«, ebd.), sich der Familie zu entledigen (das »dritte« Kind verkompliziert erneut die Figurationen des Dritten in der Novelle – es ist eine Gabe, die die Marquise und den Grafen sowohl verbindet – vom ökonomischen Kontrakt suggeriert, vgl. die 20000 Rubel – als auch trennt, eine Gabe wie ein »pharmakon« zugleich). Dieser Zusammenhang findet sich im bereits zitierten Brief von Paulus (vgl. Fußnote 90): »Darum bin ich gutes Muts in Schwachheiten, in Mißhandlungen, in Nöten, in Verfolgungen, in Ängsten, um Christi willen; denn, wenn ich schwach bin, so bin ich stark.« (2 Kor 12,10) 138 Diese Unterscheidung wiederholt die Unterscheidung von Tun und Täter, laut Nietzsche ist diese der Grund des »schlechten Gewissens«, der »Schuld« und der sie erzwingenden Rechtsordnung. 139 Die Referentialisierung der Gabe erfolgt nachträglich, überhaupt ist die Referenz von der Nachträglichkeit imprägniert. Genauso ist der Gabe gegenüber auch die Öffentlichkeit nachträglich, dennoch stellt das Postulat der (bewussten) Verantwortung bereits den Index des Öffentlichen, die Konfiguration des »tertium datur« dar.
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Eindeutigkeit der Verträge gewährleistet, von denen zugleich das Recht auf die Gabe gesetzt wird (diese Funktion könnte dem im Aufruf anvisierten Ehekontrakt zukommen). In diesem Sinne wäre nun die Auflösung der Konvention, des Vertrags, ihr Mehrdeutigwerden, eine Chance der Gabe. Zu den Immunitätsgaranten gehört gleichwohl, vielleicht an erster Stelle, die Moralität mit ihren öffentlichen Indexen. Folglich erreicht das Vorhaben, unschuldig bleiben zu wollen (»Ich will nichts wissen«), gerade das Umgekehrte, auf diese Weise ist das keine Unschuld mehr.140 Somit lässt sich nochmals feststellen, dass die Marquise – vielleicht ohne davon zu wissen – zumindest potentiell zu einer falschen Zeugin ihrer selbst wird: ihre medialisierte Situation und Selbstverständnis lassen sich kognitiv nicht beherrschen. Das vielfache Schweigen der Marquise (z.B. in der Szene, wo dann der Vertrag vom Vater inauguriert wird), kontrastiert von ihren heftigen Ausbrüchen, deutet auf diese Ohnmacht, wo sie vielleicht erkennt, dass sie in der profanen und mediatisierten Zeit (der Sprache) ihre Unschuld – und ihr exklusives Recht auf die »Offenbarung« – so oder so verloren hat. Ihre Paralyse nach der Bekanntmachung des Täters könnte der Index einer Einsicht sein, dass sie die transzendente Verkündigung (supplementiert von der indirekten Beichte des Grafen) doch falsch (bzw. nicht) gelesen hat – nicht einfach nur in kognitivem bzw. hermeneutischem Sinne, sondern vor allem durch den Vertrag. »Ich will nichts wissen«: Das Nichtwissen um den Täter und Zeugen wird aufrechterhalten – aus welchem (persönlichen, transzendenten, familiären) Grund auch immer –, also dass man sich auf den Anderen als Anderen nicht einlässt, ist wohl unerlässlich für die Institution des Vertrags.141 Also gerade die Individualisierung der Rechtsansprüche durch den Vertrag – der Grund der bürgerlichen Gesellschaft laut Kant – führt denkbar weit von der »Individual-Existenz des Menschen« (Nietzsche); Kleist lässt somit die rechtshistorisch-gesellschaftliche Entwicklung seiner Tage einer Kritik unterziehen, die spätere Positionen vorwegnimmt. In der Novelle ist freilich nicht eindeutig, ob die Marquise in ihrer partiellen Ohnmacht mit diesem Vertrag
140 Wiederum kann dies mit den Worten von F. Nietzsche bzw. von Zarathustra erläutert werden: »Ihr ladet euch einen Zeugen ein, wenn ihr von euch gut reden wollt; und wenn ihr ihn verführt habt, gut von euch zu denken, denkt ihr selber gut von euch. / Nicht nur Der lügt, welcher wider sein Wissen redet, sondern erst recht Der, welcher wider sein Nichtwissen redet. Und so redet ihr von euch im Verkehre und belügt mit euch den Nachbar.« (Also sprach Zarathustra, S. 78.) Auf die Marquise trifft evidenterweise der zweite Fall zu. 141 Das »noli me tangere« nach der ersten Hochzeit wird ja vertraglich rechtskräftig gemacht – wieder ein emblematisches Moment.
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tatsächlich einverstanden ist. Da aber bereits die Annonce eine mehrfache Kontraktualisierung in Gang gesetzt hat, entwickelt sich dieser Vorgang im Laufe des Textes zu einer Art Maschine, deren Wirkung sie sich anscheinend nicht mehr entziehen kann.142 In diesem Prozess wird die Marquise nicht nur zur falschen Zeugin ihrer selbst, sondern gewissermaßen zu ihrem eigenen Feind, insofern der Vertrag gegen ihre Überzeugung den Grafen als einen »Teufel« betreffend vollzogen wird (im Endeffekt als Pakt mit dem Teufel). Ihre Zeugenfunktion – das Versprechen in der Annonce – lässt sich mit ihrer tatsächlichen referentiellen Realisierung – dem Vertrag – nicht in Einklang bringen. Die Spaltung zwischen ihrer Überzeugung des »Teufels« und ihrer Annahme des Vertrags (sie lässt diesen sich selbst vom Vater aufdrücken) markiert eben die Unmöglichkeit, zum Du (des Grafen) noch ein neutrales Verhältnis aufzunehmen. Die Transformation des »Engels« in den »Teufel«, des Freundes in den Feind bewahrt noch eine gewisse Individualität dessen, beim Ursprung des Vertrags stand hingegen die Überzeugung, dass der Täter »der letzte Auswurf der Menschengattung« sein müsse, als Feind der Menschheit den absoluten Feind darstelle. Diese Einschätzung des Feindes nimmt sich das Recht, sich auf einen Vertrag mit der »eigentlichen« Menschheit zu berufen. Die »Welt-Moral« und ihre Axiologie der »Handlung« hängen von einem bestimmten Humanismus ab.
LITERATUR Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang von: »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten«, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 4.1 (Hg. Reiner Wild), München: Carl Hanser Verlag 1988, S. 436-518. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe, 9. vermehrte u. revidierte Aufl. (Hg. Helmut Sembdner), München: Carl Hanser Verlag 1993.
142 Zum Verhältnis von Versprechen, Vertrag und Maschine bei Rousseau vgl. P. de Man: Versprechen.
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Literatur und juridisch-politische Dispositive
Das Gesetz in Sophokles’ Antigone A TTILA S IMON
1. R ECHT , P OLITIK
UND
L ITERATUR
Die Antigone des Sophokles ist dicht mit juristischen und politischen Fäden durchwoben, sowohl im thematischen Sinne als auch auf den verschiedenen Ebenen der dramatischen Sprache. In den letzten drei Jahrzehnten wurde in der Altertumswissenschaft die Untersuchung dieser Aspekte des Dramas stärker als früher akzentuiert. Mit einer gewissen Vereinfachung könnten wir sagen, dass die Forscher − die Hauptrichtung früherer Forschungen modifizierend − in der letzten Zeit nicht so sehr die – als wirkliche Personen aufgefassten − »Charaktere« untersucht haben, also nicht ihre inneren »Eigentümlichkeiten«, »Charakterzüge« oder »psychischen Tätigkeiten«, die ohnehin unzugänglich sind, da es um einen literarischen Text geht.1 Ferner sind gewissermaßen auch die datenhaftigen und formalen poetischen (strukturellen, stilistischen usw.) Untersuchungen in den Hintergrund getreten. So galt die besondere Aufmerksamkeit eher den gesellschaftlichen und politischen Beziehungen des Stücks, die die Interpreten hauptsächlich mit Hilfe der Untersuchung der Diskurse der dramatischen Personen beleuchteten. Im Sinne dieser Ansätze können die Genderdifferenzen, die Generationskonflikte, die Unterschiede der gesellschaftlichen Positionen und der politischen Einstellungen der dramatis personae an ihrem Sprachgebrauch abgelesen werden. Genauer gesagt: sie können durch diskursanalytische Interpretationen zutage gefördert werden, die über die semantischen Untersuchungen der
1
M. Griffith: Sophocles’ Antigone, S. 36. (Der griechische Text des Stückes wird aufgrund dieser Ausgabe zitiert.) In den früheren Forschungen ging dieses psychologisch motivierte Interesse oft mit der Vernachlässigung des sprachlichen Aspekts einher.
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thematischen Elemente hinausgehen.2 Dass die gesellschaftlichen und politischen Akzente die Tragödien-Interpretationen immer mehr bestimmten, führte dazu, dass Jasper Griffin schon vor einem Jahrzehnt eine Gefahr andeuten musste: die einseitige oder übermäßige Hervorhebung der politischen Beziehungen der Stücke beenge das Feld der vielfältigen Möglichkeiten ihrer ästhetischen Erfahrung.3 Griffins Warnung bleibt beachtenswert angesichts der Versuche, die politischen (oder gar juristischen) Gesichtspunkte für die (oder in Form der) geschichtlichen, referentiellen Identifizierungen geltend zu machen oder eine eindeutige politische und ideologische Botschaft (z.B. das demokratische Engagement) der Stücke zu dechiffrieren: in diesen Fällen wird der Spielraum der ästhetischen Erfahrung tatsächlich beengt. Es gibt aber auch einen anderen Weg, nämlich wenn die immer mehrdeutigen sprachlichen Komponenten des Dramentextes in einer tiefgreifenden rhetorischen Analyse der Äußerungen beleuchtet werden, wobei diese rhetorische Lektüre zugleich im Kontext der politischen und juristischen Probleme lokalisiert wird. So bleibt auch für die ästhetische Erfahrung ein offener Spielraum, in dem die erwähnten referentiellen, geschichtlichen Identifizierungen – dank des subversiven Potentials der rhetorischen Lektüre − unmöglich werden. Die Rhetorizität der Sprache verbindet die Literatur aufs Engste mit Recht und Politik, die immer sprachlich entstehen und funktionieren. Die rhetorische Lektüre kann den unbegreiflichen, unbegründeten, in diesem Sinne »fiktiven« oder − mit Derrida − »mystischen« Charakter des Rechtes (der Sprache des Rechtes) aufzeigen, indem sie die mögliche Ambiva-
2
Ebd.
3
J. Griffin: Sophocles and the Democratic City – mit einem Überblick der politischen Interpretationen der Antigone. Griffin bestreitet die These, dass die Modifizierung der Fragerichtungen eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte sei. Als Gegeninstanz erwähnt er das 1954 veröffentlichte Sophokles-Buch von V. Ehrenberg: Sophocles and Pericles. Trotzdem zitiert er dann ausschließlich Werke aus den 80er und 90er Jahren, und das kann keineswegs ein Zufall sein. Da handelt es sich natürlich nicht darum, ob politische Interpretationen von Sophokles schon früher vorlagen, sondern um die tendenzielle Wandlung der Hauptfragen der Rezeption. Man könnte sicherlich auf noch viel frühere Zeiten zurückgreifen (was Griffin aber nicht tut): wird doch die Antigone schon von Wilamowitz als politisches Stück interpretiert. (U.v. WilamowitzMoellendorff: Die griechische Tragödie, S. 345.) Interessanterweise erwähnt Griffin eine der markantesten politischen Deutungen des Stückes in seinem Überblick überhaupt nicht: siehe W.M. Calder III: Sophocles’ Political Tragedy.
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lenz und semantische Unentscheidbarkeit der juristischen und politischen Sprache in deren Wirkungen erschließt.4 Im Folgenden werde ich mich an die erwähnten gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen anschließen und eines der relevanten Themen hervorheben: Welche Rolle spielt der nomos (Gesetz) in dieser Tragödie? Zu diesem Problem möchte ich einige Bemerkungen machen. Methodisch betrachtet unterscheidet sich aber mein Interpretationsansatz von den diskursanalytischen Interpretationen, indem er durch die rhetorische Lektüre und die Thematisierung politischer und juristischer Fragen in der Dekonstruktion bestimmt wird. Als Hintergrund meiner Untersuchungen gebrauche ich vor allem Jacques Derridas Studie »Gesetzeskraft«, die die Beziehungen von Kraft, Gewalt, Recht, Gerechtigkeit und Dekonstruktion aufgrund einiger Passagen von Montaigne, Pascal und Walter Benjamin untersucht.5 Dabei versuche ich auch die Interpretationsschritte und Ergebnisse einiger – vor allem den politischen Schriften von Rousseau gewidmeten – Studien von Paul de Man nutzbar zu machen.6 Die vorliegende Interpretation bleibt aber auch von Michel Foucaults Vorschlag beeinflusst, Diskurse als strategische und polemische Spiele zu analysieren.7 Nebenbei berücksichtige ich die rechtsgeschichtlichen Forschungen im Rahmen der Altertumswissenschaft, vor allem Edward M. Harris’ Studie »Antigone the Lawyer, or the Ambiguity of Nomos«.8
4 5
H.-T. Lehmann: Erschütterte Ordnung. J. Derrida: Gesetzeskraft. Der hier diskutierte Text von Benjamin: W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt.
6
P. de Man: Allegories of Reading, S. 135-159: Metaphor (Second discourse) und
7
»Heute ist es aber an der Zeit, diese Diskursphänomene nicht mehr nur unter sprachli-
besonders: S. 246-277: Promises (Social contract). chem Aspekt zu betrachten, sondern – ich lasse mich hier von anglo-amerikanischen Forschungen anregen – als Spiele, als games, als strategische Spiele aus Handlungen und Reaktionen, Fragen und Antworten, Beherrschungsversuchen und Ausweichmanövern, das heißt als Kampf. Der Diskurs ist jenes regelmäßige Ensemble, das auf einer Ebene aus sprachlichen Phänomenen und auf einer anderen aus Polemik und Strategien besteht.« M. Foucault: Die Wahrheit, S. 671. 8
E.M. Harris: Antigone the Lawyer. Harris’ Studie liefert ein reiches Material zum juristischen Kontext des Stückes. Zum Begriff nomos im Allgemeinen ist bis heute unentbehrlich: M. Ostwald: Nomos.
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2. D ER
NOMOS DER
B ESTATTUNG
In der tragischen Dichtung der Griechen gibt es kaum ein Stück, in dem der nomos eine so bedeutende Rolle spielt wie in der Antigone. (In dieser Hinsicht könnte man mit ihr höchstens die Eumeniden des Aischylos vergleichen.) In seiner ersten Rede sagt Kreon, schon als Herrscher der Polis, dass er mit seinen Gesetzen die Stadt mächtiger machen werde (191), und der Chor erkennt ihm das Recht zu, als Herrscher alle Gesetze sowohl auf die Toten als auch auf die Lebenden anzuwenden (213-214). Im ersten Stasimon lobt der Chor den Menschen, der die Gesetze der Erde und das Recht der Götter ehrt (368-370). Nachdem der Wächter Antigone, die er neben dem Leichnam des Polyneikes gefangen genommen hat, in die Szene einführt, traut der Chor seinen Augen kaum und erklärt es für unmöglich, dass es eben Antigone sei, die sich »untreu den königlichen Gesetzen« entgegenstelle (ἀπιστοῦσαν / τοῖς βασιλείοισιν […] νόµοις: 381382). In der Szene, wo Kreon Antigone des Gesetzesverstoßes beschuldigt, antwortet Antigone, dass sie kein Gesetz verletzt habe. Antigone erkennt nirgendwo im Text des Dramas an, dass Kreons Befehl, sein kerygma, ein Gesetz wäre. Sie behauptet sogar, dass gerade Kreon gegen die ungeschriebenen Gesetze der Götter verstoßen habe (449-460). Nachdem er in seinem heftigen Gespräch mit Teiresias eingesteht, einen Fehler gemacht zu haben, gibt Kreon auch zu, dass er gegen die althergebrachten, sanktionierten Gesetze nicht hätte verstoßen dürfen (1113-1114). Ohne mich in die rechtsgeschichtlichen Zusammenhänge des Dramas vertiefen zu wollen, stelle ich − bevor ich den Text zu untersuchen beginne − den Kontext des Gesetzes oder der Norm, die das Verständnis des Stückes grundsätzlich bestimmt, kurz dar. Die Norm, die im Zentrum der Handlung der Antigone steht, regelt den Umgang mit den Toten. Wie ist Kreons Beschluss, die Leiche des Polyneikes als die eines Vaterlandsverräters nicht begraben zu lassen, im zeitgenössischen Kontext zu beurteilen? Welche Meinung vertraten die Griechen über die Behandlung der Toten, vor allem die Behandlung der Toten der Feinde, über deren Bestattung oder deren Auslieferung an die Angehörigen? Die Forschung ist bei weitem nicht einheitlich in der Beurteilung dieser Fragen. Hierfür bleibt der wichtigste Grund, dass unsere Quellen größtenteils aus fiktionalen und historischen Werken bestehen − welche aber nicht scharf voneinander getrennt wurden −, und die rednerischen Produktionen einen dritten Teil der Quellen darstellen. So geben diese Quellen zwar ein Bild von den Erwartungen der zeitgenössischen Rezipienten wieder, sie tun das aber ihren fiktionalen oder prozessualen Zwecken gemäß, also offensichtlich in der Absicht der Beeinflussung der
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| 241
Zuschauer. Obendrein bieten unsere Quellen kein klares und einheitliches Bild zu dieser Frage. In der archaischen Zeit war die Demütigung des Feindes, die Rache – mit gewissen Einschränkungen – im Allgemeinen eine akzeptable Verhaltensweise. In der Literatur des 5. Jahrhunderts wird sie aber − obwohl solche Taten in Wirklichkeit häufig vorkamen − als Barbarei verurteilt. Aufgrund des Stückes Antigone kann man nur mit Sicherheit behaupten, dass Kreons Beisetzungsverbot der Moment ist, der den Zorn der Götter auslöst, und genau wegen dieses Verstoßes bestrafen sie ihn auch. Der genaue Grund für den Zorn der Götter bleibt aber – wie schon Mark Griffith bemerkt hat − weitgehend unklar. Ist es das Nicht-Begraben im Allgemeinen, das den Zorn der Götter auf Kreon lenkt, oder ist es der besondere Umstand, dass Kreon einen seiner Verwandten (seinen Neffen) nicht begraben lässt? Es ist ebenso wenig eindeutig zu erklären, welche Bedeutung der Tatsache beizumessen ist, dass Polyneikes Kreons Meinung nach als Vaterlandsverräter anzusehen ist, der seine Heimat aus Machtgier mit den Waffen und der Hilfe fremder Verbündeter angegriffen hat. Im Falle von Landesverrätern war in Athen lediglich die Verweigerung der Bestattung auf dem Gebiet der Polis üblich.9 Griffith hält es für vorstellbar, wiewohl für nicht sicher, dass Kreons Urteil über die gewöhnlichen Normen der zeitgenössischen politischen und religiösen Praxis hinausging, weil er die Bestattung auch außerhalb der Grenzen der Polis (Theben) nicht zuließ und ausdrücklich darauf bestand, Polyneikes’ Leiche nicht zu begraben, damit »sie für die Vögel süße Speise wird« (29−30). Edward M. Harris hält die Lage für eindeutiger. Seiner Meinung nach hat Kreon offenkundig gegen die göttlichen Gesetze − anders ausgedrückt gegen die so genannten ungeschriebenen Gesetze − verstoßen, die in der Polis angenommen waren. Das Nicht-Begraben des Toten löst bereits bei Homer den Zorn der Götter aus.10 Ferner kann mit zahlreichen Textstellen aus dem 5. und 4. Jahrhundert belegt werden, dass der nomos, aufgrund dessen auch den Feinden die Bestattung ihrer toten Angehörigen gestattet werden musste, in ganz Griechenland angenommen und in Athen sogar besonders respektiert wurde.11 In Athen war das Verbot der Bestattung, auch im Falle der Vaterlandsverräter und Tempelräuber, auf das Gebiet Attikas beschränkt. Die Athener haben also Kreons Beschluss schon am Anfang des Stückes zumindest mit gemischten Gefühlen,
9
Siehe z.B. Thukydides I 138, 6; Xenophon: Hellenika I 7, 22. Über Polyneikes ähnlicherweise Euripides: Phoinissai 776, 1629-1630.
10 Ilias XXII 358; XXIV 39-45, 112-115, 134-136; Odysseia XI 73. 11 Siehe z.B. Thukydides IV 97-98; Lysias II 7-10. Vgl. Pausanias I 32, 5.
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vielleicht aber auch mit einer gewissen Abneigung vernommen. Es könnte aber genauso gut sein, dass sie bis zum Ende des Stückes, wo sich herausstellt, dass Kreon tatsächlich die Ehre der Götter verletzt hat, keinen eindeutigen Standpunkt bezogen.12 Neben dem − wahrscheinlich Anstoß erregenden − Inhalt von Kreons Verordnung können einige Fragen in Bezug auf ihre Legitimation auftauchen. Nach Harris’ Ansicht wurzelt der Konflikt in dem grundsätzlichen Unterschied des nomos-Verständnisses von Antigone und Kreon. Für Antigone habe ein nomos nur Gültigkeit, wenn ihn sowohl die Götter als auch die Bürger legitimieren. Demgegenüber meint Kreon, dass er als Herrscher das Recht hat, jedwedes Gesetz einzubringen, und dass seine Untertanen ihm Gehorsam schulden. Diese Gegenüberstellung ist aber nicht ganz stimmig. Denn auch Kreon beruft sich in der Begründung seiner Verordnung auf ihre religiöse Legitimation13 und behauptet, er habe in der Verordnung das Interesse der ganzen Gemeinschaft vor Augen gehabt (166-210, 283-289, 304-306, 518-525). Ferner erwähnen mehrere Figuren des Dramas den Befehl als Gesetz oder – wie Antigone − mindestens als Beschluss der Bürger, also der ganzen Stadt, der ganzen Polis (59, 79: Ismene, 907: Antigone; auf die terminologischen Differenzen komme ich weiter unten zurück). Infolgedessen kann man gegen Kreons Beschluss einwenden, dass er vor seiner Entscheidung weder die Götter noch die Bürger über ihre Meinung befragt hat. In rechtlich-politischem Sinne kann dieses Versäumnis derjenige »tragische Fehler« (hamartema) sein, den Kreon begangen hat und auf den Teiresias und der Chor hinweisen (1025, 1260).14 Gleichzeitig aber kann der juristische Status von Kreon aufgrund des Stückes nicht mit letzter Eindeutigkeit bestimmt werden. Der Kreis seiner Souveränität ist nicht genau definiert, und in erster Linie verursacht genau dieser Umstand, dass seine Verordnung aus Sicht der Legitimität fragwürdig erscheinen kann. Wenn wir seinen Prozess auf
12 M. Griffith: Sophocles’ Antigone, S. 32. 13 Gleichzeitig zeigt sich aber Kreon mehrmals als impius: 486-487, 1039-1041, gegenüber Hades: 777-780. Siehe darüber J. Dalfen: Gesetz ist nicht Gesetz. 14 Es wäre also keineswegs richtig, den im Zentrum des Stückes stehenden Rechtstreit in dem Sinne zu begreifen, dass Kreon den Standpunkt des »Rechtspositivismus«, Antigone und Haimon dagegen den des »Naturrechts« verträten. Einerseits beruft sich auch Kreon auf die sakrale Legitimation und die Interessen der politischen Gemeinschaft, andererseits stützt sich nicht nur Antigone auf das göttliche Gesetz, das ohnehin nicht unbedingt mit dem Naturrecht identisch sei, sondern Haimon bemängelt sowohl die sakrale Legitimität als auch den Konsens der politischen Gemeinschaft für die Entscheidung seines Vaters. (E.M. Harris: Antigone the Lawyer, S. 48-49.)
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Grundlage von demokratischen Normen beurteilen wollen, dann kann er kritisiert werden (obgleich im demokratischen Athen nicht jede politische Frage vor der Volksversammlung diskutiert werden musste, die Magistraten hatten eigenständige Macht, die Strategen konnten z.B., die Todesstrafe ausgenommen, eigenständig Verordnungen erlassen). Wenn wir uns aber Kreon als König vor das geistige Auge führen, also sein Regime als das monarchische System von Theben, dann können wir ihn nicht wegen einer Gewalttat anklagen. Diese Unklarheit, genauer gesagt diese Vermengung der monarchischen und demokratischen Merkmale und Legitimationskriterien kann so erklärt werden, dass in der tragischen Dichtung die heroisch-mythischen (historisch: bronzezeitlichen oder archaischen) Elemente und die demokratischen Merkmale des 5. Jahrhunderts (der klassischen Zeit) gewöhnlich zusammen auftreten.15
3. ANTIGONE
UND DAS GÖTTLICHE
G ESETZ
Der Chor nimmt von Antigone auf ihrem letzten Weg zur Felshöhle in einem schmerzvollen Kommos Abschied. Hier fällt ein Wort (821), welches uns – im Zusammenhang mit dem nomos – einen Schlüssel zur Tragödie von Antigone geben kann. Du gehst als autonomos, sagt der Chor zu Antigone, deinem eigenen, dem von dir selbst gewählten Gesetz folgend, und allein als lebendig unter den Sterblichen, in den Hades hinunter oder: du gehst als alleinige autonomerweise Lebende unter den Sterblichen in den Hades hinunter (αὐτόνοµος ζῶσα µόνη δὴ / θνητῶν Ἀίδην καταβήσῃ). Der Chor sieht Antigone als eine, die sich – anders als die anderen Bewohner der Polis, unter ihnen der opportunistische Chor – der Verordnung oder dem Gesetz von Kreon nicht gefügt hat, sondern als »autonome«, als nach eigenem Gesetz Lebende lebt und stirbt. Nach Karl Reinhardt ist dieses Gesetz nicht einfach das der Bruderliebe oder der rituellen Bestattung der Toten, nicht nur das Gesetz, den Ansprüchen der unterirdischen Götter zu entsprechen, sondern es ist die Fügung der von den Göttern geschaffenen und bewerkstelligten Weltordnung, d.h. der Ordnung des Weltalls.16 Demnach ist Antigones Autonomie nicht mit der des modernen, auf sich selbst gestellten Subjekts identisch, sondern sie ist die einer Person, die sich die göttlichen Gesetze auf innerste Weise angeeignet und ihren Geist am tiefsten erlebt hat, und so erreicht sie ihre eigentliche Identität: eine Identität, in der das Selbst
15 M. Griffith: Sophocles’ Antigone, S. 32. 16 K. Reinhardt: Sophokles, S. 85-87.
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und das göttliche Gesetz zusammenfallen.17 Dieser Zusammenfall gibt Antigones Charakter eine Monumentalität und Überdurchschnittlichkeit, er gibt ihr aber auch die Unbeugsamkeit und Eigensinnigkeit, das manchmal fast gefühllose und rohe Selbstbewusstsein (letzteres zeigt sich hauptsächlich Ismene gegenüber, die die »Durchschnittlichkeit« verkörpert). Tatsächlich ist die αὐτόνοµος Antigone in mancher Hinsicht Kreon ähnlich, dem Teiresias seine αὐθαδία, seinen eingebildeten und hochmütigen Charakter, vorwirft (1028). Man kann mit Reinhardts Meinung einverstanden sein: die Ähnlichkeit der beiden Personen ergebe schließlich, dass die Antigone eine »Tragödie zweier, im Wesen getrennter, dämonisch verbundener, im Sinne des Gegenbilds einander folgender menschlicher Untergänge« ist.18 Man kann das auch dann behaupten, wenn ganz offensichtlich ist, dass ihre Einseitigkeit – wie Martha Nussbaum bemerkte – sich an einem grundlegenden Punkt als inkommensurabel erweist: während Kreon das Leben anderer Personen zugrunde richtet, sogar vernichtet, opfert Antigone ihr eigenes Leben für ihre Ideale.19 Der Leser nimmt aber den Gegensatz der Hauptpersonen viel schärfer wahr als ihre Ähnlichkeit. Der wichtigste Schnittpunkt der vielfältigen Gegensätze von Antigone und Kreon ist aller Wahrscheinlichkeit nach eben im Unterschied ihrer Beziehung zum Gesetz zu suchen. Die Unvereinbarkeit ihres nomos-Verständnisses kommt in der stilistischen, rhetorisch-pragmatischen und lexikalischen Dimension ihres Sprachgebrauchs deutlich zum Vorschein. Im Dialog zwischen Antigone und Ismene am Anfang des Stückes steht den ruhigen und ausgeglichenen Perioden, dem erhabenen und neutralen Stil Ismenes die einfachere, aus kürzeren Einheiten aufgebaute, von Fragen, Wiederholungen, Imperativen und Ausrufen oftmals unterbrochene und pathetische Rede Antigones gegenüber. Antigones Sprache passt wenig zu den allgemeingültigen Regeln, sie ist nicht konform, sondern immer konkret, persönlich und affektiv und durch eine große Anzahl von offen verneinenden Worten und – manchmal sarkastisch − abweisenden sprachlichen Formen gekennzeichnet.20 In ihren Äußerungen
17 Darin sieht Ritoók den letzten Grund für die Einsamkeit von Antigone: Zs. Ritoók: Antigones Einsamkeit. Diese Ambiguität oder Unentscheidbarkeit der Autonomie und Heteronomie zeigt sich auch in Antigones »Handlung«. Ihre Tat wird paradoxerweise sowohl durch ihre Freiheit und Wahl als auch durch ihr Schicksal bestimmt. Emese Mogyoródi schreibt dazu: »She falls victim to her own freedom to fall victim to her own non-freedom.« E. Mogyoródi: Tragic Freedom and Fate, S. 370. 18 K. Reinhardt: Sophokles, S. 73-75, das Zitat: S. 74. 19 M. C. Nussbaum: The Fragility of Goodness, S. 66-67. 20 M. Griffith: Sophocles’ Antigone, S. 37.
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spielen die Ausdrücke des unmittelbaren, intuitiven Wissens, der fraglosen und unzweifelhaften Gewißheit (z.B. die Verben von ἐπίσταµαι und οἶδα, ›kennen‹ und ›wissen‹) eine große Rolle. Dadurch gerät sie mehrfach in diskursiven Konflikt mit Ismene und Kreon, die sich auf die kalkulierende Rationalität, die Erwägung, das Lernen und die Überlegung, also den diskursiven Vernunftgebrauch berufen.21 Antigones Redeweise erscheint dem Chor und Kreon als von hybris geprägt und »männlich«. Antigone verweist oftmals darauf, dass ihre Überzeugungen und Taten zugleich natürlich, traditionell und den Göttern gefällig seien. (Erst später deutet Aristoteles in ihre Worte den Gegensatz zwischen den von den verschiedenen Völkern gebrachten – geschriebenen oder ungeschriebenen − Gesetzen und dem allgemeinen, auf der physis beruhenden Gesetz hinein.22) Antigones Unerschütterlichkeit rührt von ihrer Überzeugung her, sie handele dem göttlichen Gesetz gemäß, als dessen Vollzieherin. Das kommt in ihrer unaufhörlichen Berufung auf ihr inneres Wissen, in ihrer Überzeugung und Gewißheit hinsichtlich der moralischen Werte zum Ausdruck. Sie bezeichnet sich nicht als Schöpferin dieser Gesetze, sie sei nur Vermittlerin, die authentische, sogar alleinig authentische Vertreterin dieser von ihr unabhängig entstehenden und geltenden Gesetze. Betrachten wir nun den sich auf das Gesetz beziehenden Sprachgebrauch von Antigone aus pragmatischer Sicht, im Hinblick auf die rhetorische Strategie, die sich in ihrem Sprachgebrauch erfassen lässt. (Diesen rhetorischen Aspekt nennt Paul de Man »Rhetorik der Überzeugung«.23) Der Sprachgebrauch von Antigone bezüglich des Gesetzes bewegt sich – ungeachtet all ihrer Leidenschaft – in konstativem Modus der Aussage, der Behauptung oder der Setzung: das ist das Gesetz und ich handle diesem Gesetz gemäß. Zur Darstellung dieser These möchte ich nun eine der meistinterpretierten Stellen des Dramas zitieren (446460 Ü. d. Verf.): »{ΚΡ.} […] σὺ δ’ εἰπέ µοι µὴ µῆκος, ἀλλὰ συντόµως, ηἴδησθα κηρυχθέντα µὴ πράσσειν τάδε; {ΑΝ.} ἤιδη· τί δ’ οὐκ ἔµελλον; ἐµφανῆ γὰρ ἦν. {ΚΡ.} καὶ δῆτ’ ἐτόλµας τούσδ’ ὑπερβαίνειν νόµους; {ΑΝ.} οὐ γάρ τί µοι Ζεὺς ἦν ὁ κηρύξας τάδε,
21 Ebd., S. 42. 22 Aristoteles: Rhetorik I 13, 1373b1-11. 23 P. de Man: Rhetoric of Persuasion, S. 129-131.
246 | ATTILA S IMON οὐδ’ ἡ ξύνοικος τῶν κάτω θεῶν ∆ίκη τοιούσδ’ ἐν ἀνθρώποισιν ὥρισεν νόµους· οὐδὲ σθένειν τοσοῦτον ὠιόµην τὰ σὰ κηρύγµαθ’ ὥστ’ ἄγραπτα κἀσφαλῆ θεῶν νόµιµα δύνασθαι θνητὸν ὄνθ’ ὑπερδραµεῖν. οὐ γάρ τι νῦν γε κἀχθές, ἀλλ’ ἀεί ποτε ζῆι ταῦτα, κοὐδεὶς οἶδεν ἐξ ὅτου ’φάνη. τούτων ἐγὼ οὐκ ἔµελλον, ἀνδρὸς οὐδενὸς φρόνηµα δείσασ’, ἐν θεοῖσι τὴν δίκην δώσειν·« »KREON Und jetzt sage du mir, aber nicht langwierig, sondern kurz gefasst: wusstest du von der Verkündung, das nicht zu tun? ANTIGONE Sie war bekannt, wie wäre sie denn nicht bekannt, sie wurde ja doch öffentlich verkündet. KREON Und dennoch hast du dich erkühnt, diese Gesetze zu überschreiten? ANTIGONE Den Beschluss verkündete mir nicht Zeus, und auch nicht Dike, die bei den unterirdischen Göttern wohnt, bestimmte solche Gesetze für die Menschen. Ich denke, dass dein Beschluss nicht so stark sei, dass du als Sterblicher die ungeschriebenen und unerschütterlichen Gesetze der Götter übertreffen kannst. Diese Gesetze leben nicht heute oder gestern, sondern sie leben ewig, und niemand weiß, wann sie entstanden [eigentlich: erschienen] sind. Ich wollte nicht, vor eines Menschen Willen mich fürchtend, die Strafe der Götter (für die Übertretung dieser Gesetze) auf mich ziehen.«
Wenn wir die Äußerungen von Antigone aus dem Blickwinkel der sprachlichen Handlung analysieren, können wir behaupten, dass sie die göttlichen Gesetze der Macht, dem Wirkungskreis der juristisch-politischen Handlung des Menschen entzieht Und zwar entzieht Antigone sie nicht nur der gesetzgebenden Autorität von Kreon, sondern auch ihrer eigenen Macht, sofern sie sich auf Kreons Sterblichkeit beruft (θνητὸν ὄνθ’), was sich offenbar auf alle Menschen bezieht. Außerdem weist sie darauf hin, dass niemand weiß (κοὐδεὶς οἶδεν), seit wann diese Gesetze existieren. Diese Gesetze sind nicht vom Menschen geschaffen, auch Antigone selbst kann nur ihre Vermittlerin sein. Diese Gesetze unterschei-
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den sich in drei Merkmalen von den Gesetzen der menschlichen Welt. Erstens sind sie ungeschrieben (ἄγραπτα: dieses Wort sollte in einem allgemeinen Sinne verstanden werden, nämlich dass sie keine Beziehung zu einem menschlichen Aufschreibesystem haben). Zweitens sind sie unerschütterlich (ἀσφαλῆ). Und drittens stehen sie außerhalb der menschlichen Zeit, sie sind (eigentlich: »leben«) ewig (οὐ γάρ τι νῦν γε κἀχθές; ἀεί ποτε ζῆι; ἐξ ὅτου ’φάνη).24 Antigones letzte Worte im Zitat weisen darauf hin, dass sie die göttliche Gerechtigkeit oder Justiz nicht verletzen wollte, und man kann diese Worte sogar so verstehen, dass sie die Strafe der göttlichen Justiz nicht auf sich ziehen wollte (οὐκ ἔµελλον […] ἐν θεοῖσι τὴν δίκην δώσειν), indem sie den Willen, den Gedanken, den Beschluss, oder die Entscheidung (φρόνηµα) eines Sterblichen beachtet. Hegel beschrieb die Folgen dieser Beziehung Antigones zum Gesetz so, dass man in ihrem Sinne in der reinen sittlichen Substanz lebt und die sittliche Ordnung ohne Reflexion auf die Richtigkeit seiner Werte oder seiner Entscheidungen als eine unvermittelte, unbefragte Gegebenheit ansieht.25
24 Die Bedeutung der Metapher der »lebendigen Gesetze« steckt in der Vorstellung, dass Antigone ihre Gültigkeit auf solche Weise als »Präsenz eines lebendigen Lebewesens« empfinden kann, mit dem sie in unmittelbarer Beziehung steht, oder sie es mindestens so fühlt. Vgl. J. C. Kamerbeek: The Plays of Sophocles, S. 97. 25 Die einschlägige Passage steht im Kapitel »Gesetzprüfende Vernunft« in der Phänomenologie des Geistes und lautet wie folgt: »Das Selbstbewußtsein ist ebenso einfaches, klares Verhältnis zu ihnen. Sie sind, und weiter nichts − macht das Bewußtsein seines Verhältnisses aus. So gelten sie der Antigone des Sophokles als der Götter ungeschriebenes und untrügliches Recht […]. Sie sind. Wenn ich nach ihrer Entstehung frage, und sie auf den Punkt ihres Ursprungs einenge, so bin ich darüber hinausgegangen; denn ich bin nunmehr das Allgemeine, sie aber das Bedingte und Beschränkte. Wenn sie sich meiner Einsicht legitimieren sollen, so habe ich schon ihr unwankendes An-sich-sein bewegt, und betrachte sie als etwas, das vielleicht wahr, vielleicht auch nicht wahr für mich sei. Die sittliche Gesinnung besteht eben darin, unverrückt in dem fest zu beharren, was das Rechte ist, und sich alles Bewegens, Rüttelns und Zurückführens desselben zu enthalten. […] Nicht darum also, weil ich etwas sich nicht widersprechend finde, ist es Recht; sondern weil es das Rechte ist, ist es Recht. […] Daß das Rechte mir an und für sich ist, dadurch bin ich in der sittlichen Substanz; so ist sie das Wesen des Selbstbewußtseins; dieses aber ist ihre Wirklichkeit und Dasein, ihr Selbst und Willen.« G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 322f. Diese Bezugnahme auf Hegel bedeutet aber nicht, dass die vorliegende Untersuchung mit der Grundthese seiner Interpretation in Übereinstimmung steht. Im Stück ausschließlich den Konflikt zwischen »Familie« und »Staat« zu sehen bedeutet einer-
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Als Abschluss dieses Kapitels füge ich eine kurze Bemerkung zum lexikalischen Aspekt des Sprachgebrauchs von Antigone hinzu: sie betrifft die Gegenüberstellung von kerygma und nomos. Antigone bezeichnet Kreons Verordnung oder Beschluss über das Bestattungsverbot nie als Gesetz, als nomos: nicht nur in der zitierten Passage nicht, sondern an keiner Stelle des Stückes. (Gegenüber Kreon, Ismene und dem Chor.) Statt dessen verwendet sie das auch im Zitat mehrmals vorkommende Verb κηρύσσω und das mit dem Suffix -ma aus demselben Stamm gebildete Substantiv κήρυγµα (z.B. 8, 26, 32, 34, 161, 203). Die Grundbedeutung dieses Verbs ist ›verkünden‹, ›bekannt geben‹. Im politischen und vor allem militärischen Kontext bedeutet es eine ›Verkündung‹, eine sprachliche Äußerung mit der Illokution der Verordnung oder des Befehls, die von einem Boten (κῆρυξ) verkündet wird, der die Worte des Verordnenden mündlich übermittelt. Antigone benennt die Quelle der Verordnung, nämlich Kreon, bald als στρατηγός – dieses Wort bedeutete ursprünglich ein Militäramt, später geriet die Benennung von da in den Kreis der demokratischen Ämter in Athen –, bald redet sie ihn einfach und ziemlich beleidigend als Kreon an, im Unterschied zu den anderen Protagonisten, die ihn König, Herrscher oder Monarch nennen (ἄναξ, βασιλεύς, τύραννος).26 Darin liegt eine wichtige terminologische und gleichzeitig juristisch-politische Differenz: Antigone scheint auf diese Weise den offiziell-juristischen Status, die Autorität des Herrschers von Theben anzuzweifeln oder ihn gewissermaßen herabzusetzen. Diese Verkündung des Boten hören die anwesenden Bürger an, dann geben sie sie den anderen weiter, die nicht da waren. Deshalb muss auch Antigone den für sie entsetzlichen Befehl weitersagen, d.h. ihn mit ihrem eigenen Mund Ismene wiederholen, die ihn noch nicht kennt, weil sie, dem Gebrauch der zeitgenössischen Frauen gemäß, den Palast nicht verlassen hat, also aus dem geschlossenen, inneren, privaten Raum nicht in den äußeren, öffentlichen,
seits eine starke Einengung des komplizierten Systems der Konflikte, andererseits bleibt dabei die Tatsache unberücksichtigt, dass Kreon auch aus der Sicht des »Staates« kritisiert wird (von Haimon expliziter-, vom Chor impliziterweise), und dass Antigone, die die Werte der »Familie« verteidigt, mit der Befolgung der göttlichen Gesetze zugleich auch dem Interesse des »Staates« dient. (Eigentlich sind Familie und Staat in einer Monarchie im Fall der Herrscherfamilie überhaupt nicht voneinander getrennt. Diese Tatsache ist auch dann bemerkenswert, wenn im Stück, wie erwähnt, eine Ambivalenz im Zusammenhang mit der Herrschaftsform beobachtet werden kann.) 26 M. Griffith: Sophocles’ Antigone, S. 122.
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politischen Raum vorgedrungen ist (7-38).27 (Auch dieses Moment ist ein kleines, aber wichtiges Zeichen der Differenz zwischen den beiden Schwestern.) Für die Bürger des demokratischen Athen (und natürlich auch für uns) sind nicht nur die erwähnten terminologischen Differenzen von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass Kreon sich nicht vor der Verordnung den Rat des Chors (der thebanischen Alten) erbat, sondern seine Entscheidung sofort dem Volk verkündete und sie dem Chor erst nachträglich begründen wollte. (Und zwar ausschließlich dem Chor, »getrennt von allen anderen« (ἐκ πάντων δίχα), also das Volk ausschließend: 164; und der Chor gibt ihm eine ziemlich kühle und distanzierte Antwort: 211-214.28) In der oben zitierten Passage bestimmt Kreon den juristischen Status seiner Verordnung erstmals mit dem von Antigone verwendeten Wort (κηρυχθέντα), im nächsten Satz bezeichnet er seine öffentlich (offiziell) ausgesprochenen Worte jedoch als Gesetze (νόµους). Antigone bestreitet zuerst, dass die Verkündung von Zeus käme (οὐ γάρ τί µοι Ζεὺς ἦν ὁ κηρύξας τάδε), dann sagt sie, dass Dike solche Gesetze (νόµους) nicht gebe. Offensichtlich bedeutet das nicht, dass sie Kreons Verordnung als Gesetz gelten lassen möchte, sie betont mit ihrem Wortgebrauch gerade die Differenz zwischen den Tätigkeiten Kreons und Dikes.29
4. K REON
UND DIE
G ESETZESKRAFT
Betrachtet man Kreons Äußerungen im Hinblick auf die sprachliche Handlung, so erweist sich sein Sprachgebrauch als Mischung aus Gewaltsamkeit und Arroganz, Kleinlichkeit und Gemeinplätzen. Joachim Dalfen wies darauf hin, dass
27 H. Flashar: Sophokles, S. 76. 28 J.C. Kamerbeek: The Plays of Sophocles, S. 68. 29 Siehe ebd., S. 96. E.M. Harris: Antigone the Lawyer, S. 35-36, und S. Weber: Antigone’s »Nomos« argumentieren so, dass Antigone Kreons kerygma auch deshalb bestreitet, weil das keine allgemeingültige Norm, sondern gegen eine Person gerichtet ist, was auch für die zeitgenössischen Athener eine Verletzung des Rechtprinzips der »Allgemeingültigkeit« gewesen sei. Antigone empfindet vielleicht wirklich so (31-32; obwohl sie hier das Kerygma auch auf Ismene bezieht: τοιαῦτά φασι τὸν ἀγαθὸν Κρέοντα σοὶ − / κἀµοί, λέγω γὰρ κἀµέ − κηρύξαντ' ἔχειν (»Gesagt ist, dass der gute Kreon solch eine Verkündung dir / und mir, ich sage: mir! gemacht habe«), doch zuvor hat sie selbst zum Ausdruck gebracht, dass Kreon das Kerygma dem ganzen Volk der Polis verkündete (7−8: πανδήµωι πόλει / κήρυγµα θεῖναι τὸν στρατηγὸν). So verlieren Webers Argumente für Antigones »Singularität« einen wichtigen Grund.
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Kreon häufig an hervorgehobenen Stellen (am Anfang oder Ende des Verses) das Personalpronomen der 1. Person Singular verwendet (z.B. 173, 184, 191, 484, 498, 668, 886, 1211, 1319-1320). Das musste den Griechen besonders auffallen, weil das konjugierte Verb im Griechischen ohne Personalpronomen stehen kann.30 Auch die Anwendung der Anredeformen weist auf die Respektlosigkeit und Machthaberei Kreons hin: oft spricht er Anwesende nur mittelbar an, indem er auf sie in der 3. Person hinweist (473-496, 561-562, 726727, 883-890, 931-936), und er wendet sich mehrmals sehr grob an die Gesprächspartner (441-442, 531-535).31 Sein Diskurs ist im Unterschied zu Antigones persönlicher Sprache reich an allgemeingültigen Formulierungen (Gnomen und Gemeinplätzen), die sein Bestreben widerspiegeln, seine Welt in festen, unwandelbaren und allgemeinen Begriffen (in »Gesetzen«) zu stabilisieren.32 Kreon mag die Analogien und Abstraktionen, die in seiner Sprache als Gleichnisse und Metaphern erscheinen. Wenn er die Beeinflussung des Verhaltens anderer Personen meint, verwendet er nicht selten vergegenständlichende, sogar instrumentalisierende Bilder, z.B. die Bearbeitung der Metalle oder das Zähmen und Einspannen von Tieren (z.B. 291-292, 473-479). Seine Sprache ist außerdem von einem militanten Wortgebrauch, militärischen Termini und Metaphern der Kriegführung geprägt (z.B. 287-288, 640, 665-675). Während den Sprachgebrauch von Antigone der individuelle Charakter und die Leidenschaftlichkeit auszeichnen, setzt Kreon die Erwägung, das nüchterne Denken, also die kalkulative Rationalität und deren zweifellose Richtigkeit über alles. Was das Verhältnis zum »Gesetz« angeht, zeigt der Sprachgebrauch von Kreon und Antigone eine sehr grundlegende pragmatische Differenz. Der König befiehlt, verbietet, gestattet, erlässt und verkündet Gesetze. Er verhört, klagt an und fällt Urteile. In Kreons Sprache steht der performative Aspekt im Vordergrund, er bringt mit seinem Wort etwas zustande, ruft etwas ins Leben: von jetzt an ist dies das Gesetz, weil ich ein neues Gesetz gab, als ich durch die Verkündigung ein neues Gesetz gültig machte. In seinen Äußerungen hebt er mehrmals − vielleicht sogar zu oft − die gesetzgebende Kraft seines Wortes hervor. Als er das erste Mal auf der Bühne erscheint, wendet er sich mit folgenden Worten an den Chor (191-210): »τοιοῖσδ’ ἐγὼ νόµοισι τήνδ' αὔξω πόλιν. καὶ νῦν ἀδελφὰ τῶνδε κηρύξας ἔχω
30 J. Dalfen: Gesetz ist nicht Gesetz, S. 21. 31 M. Griffith: Sophocles’ Antigone, S. 20. 32 Ebd., S. 36.
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ἀστοῖσι παίδων τῶν ἀπ’ Οἰδίπου πέρι· […] τοῦτον πόλει τῆιδ’ ἐκκεκήρυκται τάφωι µήτε κτερίζειν µήτε κωκῦσαί τινα, […] τοιόνδ’ ἐµὸν φρόνηµα, […]« »Die Polis werde ich mit solchen Gesetzen mächtiger machen. Und jetzt verkündete ich den Bürgern mein Urteil über die Söhne von Oidipous. […] Dieser Polis wurde verkündet, diesem Mann die letzte Ehre mit Bestattung und Klagegesang nicht zu erweisen. […] Das ist mein Gedanke [meine Entscheidung, mein Beschluss] …«
Das Gleiche können wir auch an der Stelle beobachten, wo er auf die oben zitierten Worte von Antigone (446-460) antwortet (480-481): »αὕτη δ’ ὑβρίζειν µὲν τότ’ ἐξηπίστατο, νόµους ὑπερβαίνουσα τοὺς προκειµένους·« »Und dieselbe [Antigone] beging eine hybris [ὑβρίζειν, sie verletzte die oberen Mächte], als sie (und zwar bewusst) meine festgelegten33 Gesetze überschritt.«
Kreon benutzt ganz bewusst die Kraft seiner Worte, d.h. die autoritativ-performative Macht, die seinen Äußerungen einen rechtlich-politischen Status verleiht. Mark Griffith wies auf die besondere Bedeutung des setzenden (establishing) Moments in Kreons Sprache hin, auf die sprachlichen Formen des performativen Diskurses der Behauptung, der Bestimmung oder der Anordnung (z.B. 188, 190, 639-680). Griffith gibt auch Hinweise darauf, dass Kreon im Gegensatz zu den demokratischen Elementen seiner Sprache eine immer größer werdende Neigung dazu zeigt, seine persönliche Autorität als Herrscher, Mann und Vater – auch
33 Kreons Wortgebrauch weist darauf hin, dass er seinen Beschluss so betrachtet, als ob er ein geschriebenes (wörtlich: »festgelegtes«) Gesetz wäre (νόµοι προκείµενοι). Kamerbeek, The Antigone, 43, vgl. Antigone 36: προκεῖσθαι; Thukydides III 45, 1; zum Wort siehe LSJ: πρόκειµαι, I, 4.
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entgegen der Meinung der Bürger – zu bewahren (473-485, 672-680, 726-769).34 Er hält seine Macht fast für absolut, und in der Erfahrung der aktiven Kraft seiner Verordnungen vergisst er sich im Überschwang des Befehlens. Die Differenz zwischen Antigone und Kreon entspringt, über ihre persönlichen Kennzeichnungen hinaus, vor allem der Verschiedenheit ihrer politischen Lage. Antigone ist eine einfache Bürgerin der Polis, die als Frau für die zeitgenössischen Rezipienten in Athen keine politischen Rechte hat. Kreon hingegen ist der mit Autorität ausgestattete Leiter der Polis. Daraus folgt auch die Verschiedenheit des Sprachgebrauchs von Antigone und Kreon. Ich bin der Meinung, dass der aktiv-performative Charakter von Kreons Sprachgebrauch, also der Umstand, dass seine Worte Kraft demonstrieren oder einen Akt der Gewalt in Aussicht stellen, an sich keinen Charakterfehler, keine aggressive Neigung oder ähnliches bedeuten. Diese Eigenart ist vielmehr als eine der juristisch-politischen Sprache notwendig innewohnende Kraft (force), als ein unhintergehbares Moment der Gewalt anzusehen, in dem Sinne, wie es Jacques Derrida in seinen Untersuchungen der englischen Formel to enforce the law und des Begriffes Gewalt bei Walter Benjamin behauptete.35 »›Am Anfang der Gerechtigkeit (der Rechtsprechung) wird der Logos gewesen sein, die Sprache‹; dies widerspricht nicht zwangsläufig einem anderen incipit: ›Am Anfang wird die Kraft (Gewalt) gewesen sein.‹«36 Keine Rechtsordnung, ja sogar kein einziges Gesetz ist ohne unmittelbar vorhandene Kraft oder potentiell vorhandene Gewalt vorstellbar: und zwar weder in der Quelle (die sprachlich-performative Kraft der Autorität oder in Revolutionen auch die tatsächliche Gewalt), noch in der Verwaltung (»Erzwingbarkeit«, enforceability) und auch nicht in seinen Wirkungen, in den Folgen, die es in Aussicht stellt (Vergeltung, Strafe). Der Umstand, dass keine juristisch-politische Entscheidung ihre Folgen ganz vorsehen und beherrschen kann, macht die Anwendung der Kraft, der Kraft des Gesetzes oder des Rechtes, die Anwendung der sprachlichen oder gar physischen Kraft (Gewalt) besonders und unreduzierbar riskant. Wegen des unplanbaren Ereignis-Charakters bleiben die Entscheidungen immer unkalkulierbar und können erst nachträglich, d.h. auf Grundlage ihrer unvorhersehbaren Wirkungen, beurteilt werden. Die unkalkulierbare Wirkung der politischen Handlung zeigt sich in Kreons kerygma in dem Moment, als sich Antigones Tat, dem Polyneikes die letzte Ehre zu erweisen, in ihrem unvorhersehbaren, unvoraussagbaren
34 M. Griffith: Sophocles’ Antigone, S. 48. Auf das letzte Moment weist ähnlicherweise auch E. M. Harris hin, Antigone the Lawyer, S. 46. 35 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 12-15. 36 Ebd., S. 22.
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Ereignis-Charakter offenbart.37 Man kann Kreons »Fehler«, sein hamartema in dieser Hinsicht dahingehend festmachen, dass er der von ihm verwendeten juristisch-politischen Sprache keinen Damm, der setzenden (institutionalisierenden) Kraft keinen Widerstand entgegensetzt. Er glaubt, dass er wirklich alles tun darf, was er tun kann. Nach der Verkündung des kerygmas gerät er in eine Zwangslage und kann nicht korrigieren. (Zumindest beurteilt er selbst die Situation so, dass er in eine Zwangslage geraten ist, und er hat mit diesem Urteil aus machtpolitischer Sicht wahrscheinlich recht.38) In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die formale Rechtmäßigkeit des Beschlusses von Kreon im Drama von niemandem in Frage gestellt wird, und zwar auch nicht von Antigone. Antigones »Gegenargument«, oder besser gesagt ihr Widerstand liegt in der Überlegung begründet, dass man Kreons Verkündung deshalb nicht gehorchen soll, weil sie dem göttlichen Gesetz entgegensteht. (Es heißt zwar, dass Antigone den Gesetz-Charakter des Beschlusses von Kreon bestreitet, aber sie tut das nicht aufgrund eines formalen, sondern aufgrund des erwähnten inhaltlichen Kriteriums.) Haimon, der die komplexesten Einwände vorbringt, kritisiert seinen Vater aufgrund der Ideale der demokratischen Ideologie. Er bezweifelt aber nicht die Rechtmäßigkeit seines Beschlusses. Letzlich kritisiert Teiresias Kreon nicht aus rechtlichen, sondern ausschließlich aus religiösen Gründen. Mit einem Wort: Kreon verletzt die Gerechtigkeit auf eine solche Weise, dass er gleichzeitig der Anforderung der Gesetzmäßigkeit nachkommt. In seinem Fall gewährleistet die rechtmäßige Anwendung der Macht, d.h. das Recht selbst nicht die Gerechtigkeit. Kreon hält die Regeln des Rechtes in der Weise ein, dass seine gesetzgebende Praxis nicht mehr zu begründen ist: die formalen Anforderungen der Recht-
37 »Unvorhersehbar«, »unvoraussagbar«, »ereignishaft« in dem Sinne, dass man nicht mit Sicherheit voraussehen, nicht sicher im Voraus wissen kann, dass Antigone versuchen wird, Polyneikes zu begraben, und dass sie es allein versuchen wird. Natürlich kalkuliert man auf dem Gebiet der Politik immer mit zukünftigen Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten. Was für die Politik unerreichbar bleibt, ist das sichere Wissen über die zukünftigen Möglichkeiten. Wenn solch ein Wissen möglich wäre, dann wäre die Politik, die politische Handlung − im Sinne von Hannah Arendt als »zu etwas ganz neuem ansetzen« − unmöglich. Hans-Thies Lehmann hält die Darstellung der jeweiligen Ungewissheit der politischen Kalkulation für die wichtigste poetische Leistung des Textes. H.-T. Lehmann: Erschütterte Ordnung, S. 29; 32-33. 38 György Karsai machte darauf aufmerksam, dass das Verbot der Bestattung der erste Befehl von Kreon ist und als solcher in der Herstellung seines Ansehens eine entscheidende Rolle spielt. Er kann von seiner ersten Maßnahme nicht zurücktreten. Gy. Karsai: A Szép és a Szörnyeteg, S. 40-41.
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mäßigkeit an sich garantieren nicht die Herstellung der Gerechtigkeit, des Endziels des Rechtes.39 Der Fall Kreons kann zeigen, dass immer die Möglichkeit und die Gefahr der rechtmäßigen Ungerechtigkeit besteht – oder in Gustav Radbruchs Diktion: die Gefahr eines »gesetzlichen Unrechts«40 −, wo es um menschliche Institutionen, Normen und Entscheidungen geht. Die Institutionen an sich können ohne das Engagement (Einsicht, politische Weisheit oder einfach Anständigkeit) der Menschen, die für sie (zuständig und) verantwortlich sind, die Durchsetzung der für sie fundamentalen Prinzipien nicht gewährleisten. Aus dieser Perspektive fällt es ganz und gar nicht ins Gewicht, über welche Form der Regierung gesprochen wird. Die inneren und äußeren Ungerechtigkeiten der athenischen Demokratie haben für die zeitgenössischen Denker klar bewiesen, dass nicht einmal die demokratische Regierung den Missbrauch, die Gewalt, die Unterdrückung, die Manipulation, mit einem Wort: die Ungerechtigkeit aus den öffentlichen Institutionen und der Praxis der politischen Gesellschaft verbannen kann.41 Das traf in besonderem Maße zu auf eine Demokratie, die von der heutigen grundsätzlich verschieden war, da sie keine repräsentative, sondern eine unmittelbare und vor allem keine liberale und rechtsstaatliche Demokratie war. Davon ausgehend lässt sich besser begreifen, dass die Antigone mehrmals als versteckte Kritik an Perikles interpretiert wurde (wie man auch den Oidipous Tyrannos in demselben Sinne interpretieren kann).42 Wenn man sich dem diesbezüglichen Urteil des herausragenden Althistorikers Christian Meier
39 Hier könnte man einwenden, dass Kreon nach seiner Einsicht dieses Fehlers sagt: δέδοικα γὰρ µὴ τοὺς καθεστῶτας νόµους / ἄριστον ἦι σώιζοντα τὸν βίον τελεῖν. (»Ich fürchte, es wäre am besten, das Leben so zu beenden, dass man die bestehenden Gesetze bewahrt hat.«) (1113-1114.) Also dass er die festgelegten, geltenden Gesetze (τοὺς καθεστῶτας νόµους: das Gesetz der Bestattung von Toten, das Recht der unterirdischen Götter) nicht hätte verletzen dürfen. In diesem konkreten Fall kann diese Behauptung richtig sein, aber sie kann keineswegs verallgemeinert werden, weil auf diesem Grund kein neues Gesetz entgegen den festgelegten Gesetzen, sie modifizierend oder gar abschaffend, entstehen könnte. So ginge die Möglichkeit der juristisch-politischen Handlung (sogar in bestimmtem Sinne der Geschichte überhaupt) verloren. 40 G. Radbruch: Gesetzliches Unrecht. 41 Vgl. C. Meier: Die politische Kunst, S. 220-222, und Zs. Ritoók: Antigones Einsamkeit, S. 251. 42 C. Meier: Die politische Kunst, S. 221; V. Ehrenberg: Sophocles and Pericles, S. 105108.
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anschließt, könnte sogar die Bemerkung riskiert werden, dass nicht einmal wir, die wir in liberalen und demokratischen Verfassungsstaaten leben, Sophokles’ implizite Mahnung auf die leichte Schulter nehmen dürfen.43
5. D AS K ONSTATIVE
UND DAS
P ERFORMATIVE
Die Hauptdifferenz der »juristischen« Diskurse von Antigone und Kreon haben wir in ihrem konstativen und performativen Sprachgebrauch festgemacht. Man kann aber nicht nur einen Kontrast, sondern auch eine Verflechtung dieser beiden Redeweisen beobachten.44 Bei näherer Betrachtung von Antigones konstativer Sprache lassen sich nämlich Merkmale der Performativität konstatieren: Die göttlichen Gesetze – genauer gesagt: die göttliche Herkunft dieser Gesetze – kann niemand wahrnehmen oder erfahren, ihre »Behauptung« bedeutet zugleich ihre »Schaffung«. Die Berufung auf die göttliche Weltordnung in Antigones Sprache lässt aber die »Unbegründetheit« und so die »Gewaltsamkeit« ihres Diskurses verschwinden. Eben diese Verhüllung bedeutet im schon erwähnten Sinne der »Rhetorik der Überzeugung« die wichtigste, wenn auch unbewusste rhetorische Strategie in Antigones Äußerungen. Die Unbegründetheit oder die Gewaltsamkeit, oder zumindest die Unbegreiflichkeit der von Antigone als unhinterfragbar dargestellten Gesetze verschwindet jedoch nicht völlig, Antigone kann die Kraft oder Gewalt, die sie selbst durch ihre Bezugnahme auf diese Gesetze willkürlich und zugleich unwillkürlich setzt, nicht verschwinden lassen. Beobachtet man nämlich Antigones Äußerung, mit der sie sich auf die göttlichen Gesetze beruft, aus der Sicht der − der Rhetorik der Überzeugung entgegengesetzten – »Rhetorik der Tropen« (Paul de Man), tritt die sich verbergende rhetorische Strategie deutlich zu Tage. Die Rhetorik der Tropen
43 C. Meier: Die politische Kunst, S. 222-223. 44 »The differentiation between performative and constative language […] is undecidable; the deconstruction leading from the one model to the other is irreversible but it always remains suspended, regardless of how often it is repeated. […] Between the two functions, the distance is so wide as to be nearly unbridgeable. Yet the two modes manage to exist side by side where one would least expect it.« P. de Man: Rhetoric of Persuasion, S. 130-131.
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enthüllt und erschüttert die rhetorischen Figuren der Überzeugung, obwohl diese verborgen und scheinbar unerschütterlich sind.45 An der oben zitierten Stelle (446-460) antwortet Antigone auf Kreons Frage, ob sie sich der Tatsache bewusst gewesen sei, dass sie Kreons Verordnung zuwiderhandelt, indem sie ihrem Bruder die letzte Ehre erweist, ungeduldig, dass sie von der Verkündung natürlich gewusst habe, da sie einmal »öffentlich verkündet wurde«, »offensichtlich« und »allgemein bekannt« war (ἐµφανῆ γὰρ ἦν).46 Das Wort, das Antigone hier gebraucht, steht in Beziehung mit dem Verb φαίνοµαι (›erscheinen‹). Sie kannte Kreons Gesetz, da es in dem Sinne »erschienen war«, dass es für die Öffentlichkeit verkündigt wurde. (Übrigens bedeutet das Wort φαίνοµαι vor allem die sichtbare Erscheinung, aber es kann sich auch auf die im Reden [genauer gesagt: im Hören] sich erschließende »Erscheinung« beziehen.) Kreons Gesetz ließ sich als Phänomen wahrnehmen, es war im Medium der hörbaren Stimme (und potentiell der sichtbaren Buchstaben) für die sinnliche Erfahrung zugänglich. Aber überraschenderweise gebraucht Antigone einige Verse später dasselbe Wort und bezieht es auf die ungeschriebenen, unerschütterlichen und ewigen Gesetze der Götter: »Niemand weiß, wann sie entstanden [eigentlich: erschienen] sind (κοὐδεὶς οἶδεν ἐξ ὅτου ’φάνη).« (457) An dieser Stelle zeigt sich eine semantische Spannung, weil die göttlichen Gesetze nicht phänomenalisierbar sind, sie erst durch menschliche Vermittlung erfahrbar gemacht werden können und man über die Zuverlässigkeit dieser Vermittlung keine solide Aussage treffen kann. Die göttlichen Gesetze »erscheinen« keineswegs – im Gegensatz zu den menschlichen – für die unmittelbare Erfahrung. Über die göttliche Herkunft dieser Gesetze kann keine Gewissheit in der Erfahrung erreicht werden.47 Das heißt natürlich nicht, dass man ihnen nicht göttliche Autorität
45 »Considered as persuasion, rhetoric is performative, but when considered as a system of tropes, it deconstructs its own performance.« Ebd., S. 131. Siehe noch: P. de Man: Rhetoric of Tropes, S. 103-118. 46 J.C. Kamerbeek: The Plays of Sophocles, S. 96: »manifest«, »publicly known«. R.C. Jebb: Sophocles, S. 89: »public«. 47 Man könnte gegen meine Interpretation einwenden, dass die passive Form des Verbs φαίνω in diesem Zusammenhang auch ›entstehen‹, sogar ›bestehen‹, ›existieren‹ bedeuten kann (siehe LSJ s. v. φαίνω, I, B, 2, b, und 3.) Diesen Sinn scheint auch der Kontext zu bestätigen, da Antigone über diese Gesetze Formulierungen verwendet wie »sie leben ewig« (ἀλλ’ ἀεί ποτε / ζῆι ταῦτα). Das Bedeutungsfeld des Verbs φαίνοµαι hängt aber so untrennbar mit dem Moment der ›Erscheinung‹ zusammen, dass auch die Bedeutung ›entstehen/existieren‹ aus diesem Moment des ›Erscheinens‹ abzuleiten ist. Wenn man aber sagt, dass φαίνοµαι hier sicherlich und ausschließlich im Sinne
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beimessen kann (die zeitgenössischen Griechen maßen sie ihnen wahrscheinlich bei). Das heißt nur, dass immer eine – zumindest theoretische – Möglichkeit besteht, an dieser Autorität zu zweifeln. Antigone spricht über die »Erscheinung«, eigentlich über die »Präsenz« der göttlichen Gesetze, aber sie sind ausschließlich für sie »erschienen« oder »präsent«. Und es gibt keinen strukturellen Grundunterschied zwischen diesem Fall und dem, in dem der Glaube an diese Präsenz von einer größeren Gemeinschaft − z.B. der im Stück repräsentierten Polis − geteilt wird. Bereits die Sophisten machten die Zeitgenossen des Sophokles auf diese erschütternde Ungewissheit aufmerksam. Die Wirkung der Sophistik ist an diesem Punkt entscheidend für die Problematik der Antigone.48 Was Antigones Argumentation angeht, könnten wir nach Derrida die Behauptung aufstellen, dass Kreon vielleicht nicht wegen Antigones Tat selbst unerbittlich und unüberzeugbar wird, sondern wegen der Bedrohung, welche Antigones Tat gegen die Rechtsordnung in sich trägt, also eben wegen des performativen Moments, das hinter Antigones konstativer Äußerung steckt und als Konkurrenz für das in Kreons Gesetz liegende Performative erscheinen kann, ja muss. Kreon nimmt Antigones Berufung auf das Gesetz der Götter als »juristische Argumentation« ernst, welche seine Macht angreift, indem sie seiner Autorität eine andere Autorität gegenüberstellt. Wir können − Derridas Formulierung auf den Fall Kreons angewendet − behaupten, dass der Herrscher Thebens als Repräsentant des Staates »sich vor der ›begründenden‹ Gewalt fürchtet […], vor der Gewalt, die in der Lage ist, Rechtsverhältnisse zu legitimieren oder zu verändern, und die selbst als jenes, was ein Recht auf das Recht hat, erscheinen kann.«49
von ›entstehen/existieren‹ steht, ohne das Bedeutungsmoment des ›Erscheinens‹ (was meiner Meinung nach nicht der Fall ist), dann ist das Problem nur auf eine andere Ebene verschoben, weil dann die Frage auftaucht, wie man sich über dieses ›Entstehen/Existieren‹ Gewissheit verschaffen kann. 48 Siehe z.B. Protagoras DK80 A1; in moralischer, juristischer und politischer Hinsicht besonders relevant sind: Antiphon DK87 B44, Kritias DK88 B25, Anonymus Iamblichi VI-VII, Dissoi logoi (Argumente und Gegenargumente); zur ganzen Problematik: G. B. Kerferd: The Sophistic Movement, bes. S. 111-130, S. 139-162. 49 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 76. Antigone kann aus dieser Perspektive auch mit der von Benjamin erwähnten Gestalt »des ›großen‹ Verbrechers« in Zusammenhang gebracht werden, sofern man den Ausdruck in seinem wörtlichen Sinne versteht: die Formulierung »der große Verbrecher« deutet auf einen, der das Gesetz auf großartige Weise »bricht«. W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 183. Wie es Derrida formuliert: »Die bewundernde Faszination, welche die ›Gestalt des ›großen‹ Verbrechers‹
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Die unüberbrückbare Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit, außerdem die immer unkalkulierbare Wirkung der juristischen und politischen Handlung sowie die Bedrohung, die in dieser Struktur und im unentscheidbaren Charakter des Konstativen und Performativen liegt, stellt uns die Tragödie Antigone in ihrer sprachlichen Gestalt mit besonderer Schärfe dar.
L ITERATUR Siglen DK = Hermann Diels/Walther Kranz (Hg. und Übers.): Die Fragmente der Vorsokratiker Griechisch/Deutsch. 3 Bände, Zürich: Weidmann 1996. LSJ = George Liddell/Robert Scott: A Greek-English lexicon: With a revised supplement. Revised and augmented throughout by Henry Stuart Jones, Oxford: Clarendon Press 91996. Primärliteratur Griffith, Mark (Hg.): Sophocles’ Antigone, Cambridge: Cambridge University Press 1999. Sekundärliteratur Benjamin, Walter: »Zur Kritik der Gewalt«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/1 (Hg. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 179-203. Calder III, William Musgrave: »Sophocles’ Political Tragedy. Antigone«, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 9 (1968), S. 389-407. Dalfen, Joachim: »Gesetz ist nicht Gesetz und fromm ist nicht fromm. Die Sprache der Personen in der sophokleischen Antigone«, in: Wiener Studien 90 (1977), S. 14-20.
[…] ausübt, läßt sich so erklären: Die heimliche Bewunderung wird nicht von jemandem erregt, der ein bestimmtes Verbrechen begangen hat, sondern von jemandem, der das Gesetz herausfordert, der ihm trotzt und die Gewalt der Rechtsordnung selbst bloßlegt.« J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 74.
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Politik der reinen Mittel: Walter Benjamin Z OLTÁN K ULCSÁR -S ZABÓ
Am Schlusspunkt seines umfangreichen Kommentars zu Walter Benjamins frühem Essay Zur Kritik der Gewalt angelangt fasst Jacques Derrida in einem etwas enttäuschten oder verlegenen Ton diejenige Zusammenhänge des Textes zusammen1, die er am »unerträglichsten« darin fand: die Ablehnung von »Aufklärung«, die Präsenz der metaphysischen, theologisch gefärbten Sprachtheorie des jungen Benjamins, die (daraus folgende) Kritik der Repräsentation (auch im politischen Sinne), sogar der liberalen, parlamentarischen Demokratie, und an erster Stelle die messianische Vorstellung einer »göttlichen Gewalt«. Benjamin sei hier mit Diskursen in Berührung gekommen, deren Verantwortung für das Zustandekommen des »Schlimmsten« (der »Endlösung«), so Derrida, nicht auszuschließen ist, mit einer Diskurswelle also, auf deren Oberfläche u.a. auch der Nazismus geritten hat. Derridas Lektüre, die in den darauf folgenden Jahren eine explosionsartige, bis heute kaum nachlassende Aktivisierung der (nun eigentlich kaum mehr überblickbaren) Fachliteratur zum Essay Benjamins ausgelöst hat, bot Anlass zu Diskussionen über die lange Zeit vermisste ethische Selbstinterpretation bzw. über den Gerechtigkeitsbegriff der Dekonstruktion (sogar über ihre Selbstidentifikation mit diesem Begriff2), was vielleicht erklären kann, dass Derrida sich hier an einem äußerst kritischen (und im Kreis seiner deutschen Anhänger zum Teil ungewohnt kühl aufgenommenen) Dialog mit einen Autor versucht, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits als die vielleicht unbestreitbarste Ikone des (ideologie)kritischen und theoretischen Denkens in Europa etabliert hat. Vor den 1990er Jahren zählte Zur Kritik der Gewalt vielleicht nur zu den Zeiten der westeuropäischen Studentenbewegungen um 1968 zu den frequen-
1
J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 123f, vgl. ferner bereits S. 62.
2
Ebd., S. 30.
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tierten Arbeiten Benjamins (eine Auswahl von Benjamins Texte, die die radikalen politischen Akzente des Oeuvres in Vordergrund gestellt hat, erschien 1965 mit einem Nachwort von Herbert Marcuse3), sein – mitunter zwar »revolutionär« genannter – »Konservativismus«4 passte nie wirklich reibungslos in das kanonische Bild des Denkers, der sich nur wenige Jahre nach dem Abfassen des Essays dem Marxismus zuwendete – trotz der Tatsache, dass der Text zahlreiche Berührungspunkte nicht nur zu den sprach- oder literaturtheoretischen Schriften aus der ungefähr selben Zeit, sondern gar zu den späteren geschichtstheoretischen Überlegungen Benjamins aufweist. Benjamins viel diskutierte (obwohl gerade im Falle von Zur Kritik der Gewalt zumindest beweisbedürftige) Nähe zur »politischen Theologie« Carl Schmitts, des späteren »Kronjuristen« des Dritten Reichs, gilt z.B. seit langem als unerschöpfliche Irritationsquelle5.
3
W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt.
4
S. z.B.
J. Habermas:
Bewusstmachende
oder
rettende
Kritik,
S. 220,
oder
K.H. Bohrer: Plötzlichkeit, S. 180-181. 5
Benjamins Brief vom 9.12.1930, in dem er Schmitt den Ursprung des deutschen Trauerspiels empfiehlt und in äußerst respektvollem Ton darüber berichtet, dass er bei Schmitt die »Bestätigung« für seine eigene »kunstphilosophischen Forschungswiesen« gefunden hat (W. Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. III, S. 558), d.h. – mit den Worten von Jacob Taubes – die »Mine, die unsere Vorstellungen von der Geistesgeschichte der Weimarer Periode schlechthin explodieren lässt« (J. Taubes: Ad Carl Schmitt, S. 27), fehlt in der ersten, von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem zusammengestellten Ausgabe von Benjamins Briefwechsel, vielleicht deshalb bezieht sich Schmitt in einem Buch von 1956 auf den Brief: C. Schmitt: Hamlet oder Hekuba, S. 64). Schmitts Konzept des »Souveräns« kommt im Trauerspielbuch in der Tat eine bedeutende Rolle zu (vgl. W. Benjamin: GS, Bd. I/1, bes. S. 245-250 bzw. einen Brief an Richard Weissbach von 1923: Gesammelte Briefe, Bd. II, S. 327), über eine ähnlich unmittelbare Präsenz Schmitts im Text von Zur Kritik der Gewalt zu reden wäre jedoch wohl übertrieben. Giorgio Agamben erwägt sogar die Möglichkeit, dass es in diesem Falle um einen umgekehrten Einfluss gehen könnte (G. Agamben: Ausnahmezustand, S. 64-66), d.h. dass vielleicht Benjamins Essay, der 1921 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erschien (und den Schmitt, der später auch zu den Autoren der Zeitschrift gehörte, sogar hätte lesen können) Impulse für die im Folgejahr veröffentlichte Politische Theologie hätte liefern können. Zu den Verbindungspunkten s. ferner H. Bredekamp: Von Walter Benjamin zu Carl Schmitt. Derrida weiß sogar von einem – weder von ihm noch anderswo dokumentierten – Brief, in dem Schmitt, kurz nach dessen Erscheinen, Benjamin zum Essay gratuliert haben soll, vgl.
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Ob Zur Kritik der Gewalt vielleicht gerade im doppelten (also auch die Bedeutung einer Rückkehr einschließenden) Sinne als »revolutionär« zu betrachten ist (also eine Wendung zugleich nach links und rechts ausführen soll), wie Derrida es angenommen hat6, oder aber deshalb fortdauernd irritieren kann, weil die Repräsentanten einer sogenannten »konservativen Revolution« (der Begriff wurde von Hofmannsthal erst Jahre nach dem Erscheinen von Benjamins Essay eingeleitet) – mit den Worten Pierre Bourdieus7 – »donnent une respectabilité intellectuelle à leur mouvement en habillant leurs idées régressives d’un langage parfois emprunté au marxisme et aux progressistes«, ferner ob es hier in jedem Fall um »idées regressives« geht – diese Fragen werden in der folgenden Untersuchung kaum befriedigende Antworten finden können. Was hier lediglich unternommen werden kann (vielleicht viel zu wenig, um den Verdacht der Überflüssigkeit oder der redundanten Fachliteraturvermehrung abzuwenden), ist die Untersuchung der diskursiven Strukturen, die es dem messianischen, revolutionären und/oder metaphysischen Prinzip einer »göttlichen Gewalt« ermöglichen, als zentrale Instanz der Kritik von Gewalt im Essay aufzutreten. Auch wenn dieser Schritt äußerst bodenständig erscheint, lohnt es sich, zunächst die Titelformel, nämlich die Tatsache ins Auge zu fassen, dass Benjamin hier eine »Kritik« von Gewalt in Aussicht stellt und dadurch einen Begriff in den Mittelpunkt rückt, der zu den eigentlich zentralsten Gegenständen des ganzen Frühwerks gehört: hinzuweisen wäre vor allem auf die Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik und auf die sorgfältige Erörterung des Kritikbegriffs in Benjamins wenig Jahre nach Zur Kritik der Gewalt veröffentlichtem Goethe-Essay. Es sind zwar zahlreiche Verbindungspunkte zwischen Zur Kritik der Gewalt und bestimmten Fragen zu finden, die den politischen Öffentlichkeitsdiskurs in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg stark beeinflusst haben, wird jedoch schnell klar, dass die um die Idee der Gewaltlosigkeit aufgebauten Argumentationsrahmen des Antimilitarismus8 oder des Pazifismus (187)
J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 67. In Folge Derridas war später vom Briefwechsel, sogar von Buchsendungen die Rede (1921 käme dafür nurmehr Schmitts Die Diktatur in Betracht), ebenfalls ohne Nachweise, vgl. z.B. J. Butler: Critique, Coercion, S. 207. Es ließe sich leicht behaupten, dass – um eine Phrase aus Benjamins Essay zu borgen – Schmitts Schatten sozusagen »in dämonisch-zweideutiger Weise« (Benjamin, GS II/1, S. 198) über der Benjamin-Philologie schwebt. Die Seitenzahlen nach den Zitaten aus Zur Kritik der Gewalt im Text verweisen im Weiteren auf diese Ausgabe. 6
J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 97.
7
P. Bourdieu: L’ontologie politique, S. 36-37.
8
W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 186.
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für Benjamin kaum dazu taugen, diese Kritik methodisch konsequent durchzuführen, und zwar deshalb nicht, weil – wie auch Derrida bemerkt9 – »Kritik« bei Benjamin in einem zumindest doppelten Sinne verstanden wird: sie ist nicht bloß eine zurückweisende oder negative Beurteilung ihres Gegenstandes, sondern eine Untersuchung, die auf die Möglichkeit der Erkenntnis dieses Gegenstands oder gar überhaupt auf die Bedingungen seiner Fassbarkeit gerichtet ist. Diese – gewissermaßen die Tradition des Kantischen Kritikbegriffs aufgreifende – Annahme macht im ganzen Text des Essays wiederholt Beschreibungen von Relationen, auf- (und aus)einander folgende Unterscheidungen, Abund Umgrenzungen nötig: es könnte mit einigem Recht behauptet werden, dass alles, was Benjamin hier unternimmt, darin besteht, verschiedene Zusammenhänge auseinanderzufädeln bis zu einem Punkt, wo nun endlich der reine Begriff von Gewalt auftauchen kann. Gleich zum Auftakt des Essays wird Gewalt innerhalb des Kreises der »Ursachen« umgrenzt (eine Ursache wird erst zur Gewalt, wenn sie »in sittliche Verhältnisse eingreift« [179]), im nächsten großen Schritt fängt er mit dem Abbau der Mittel/Zweck-Relationen an, die als paradigmatisch für die Traditionen sowohl des Natur-, als auch des positiven Rechtes dargestellt werden (»das Bereich der Zwecke […] schaltet für diese Untersuchung zunächst aus« [181], wenig später: »Der Sinn der Unterscheidung der Gewalt in rechtmäßige und unrechtmäßige liegt nicht ohne weiteres auf der Hand« [182]). Was so ans Licht gebracht wird, nämlich die Vorstellung von Gewalt als »bloßem Mittel«, bleibt immer noch relational, mehr noch, irreführend: das Streikrecht und das Kriegsrecht zeugen ja davon, dass Gewalt kein »bloßes Mittel« sein kann, »eines Beliebigen, das gerade erstrebt wird, unmittelbar sich zu versichern«, und das heißt dann auch, dass sie nicht ist, »was sie zunächst scheint«, und zwar deshalb nicht, weil Gewalt »imstande ist, Rechtsverhältnisse zu begründen und zu modifizieren« – genau diese ihre »Funktion« liefert das »einzig sichere Fundament« für eine Kritik von Gewalt (185). Als unmittelbare Erklärung dafür – was auch mit Hinsicht auf den hier angewendeten Kritikbegriff wichtig sein kann – bietet der Text die vorhin bereits zitierte Annahme an: das sichere Fundament der Kritik sei deshalb hier aufzufinden, weil es in diesem Zusammenhang sichtbar wird, dass Gewalt nicht das ist, was sie zunächst scheint. Gewalt lässt sich also nicht als ein einem beliebigen Zweck dienendes Mittel auffassen, ihr Wesen als Mittel sollte in ihrer doppelten, rechtserhaltenden und rechtsetzenden Funktion begriffen werden. Dies ist die erste wirklich bedeutende Unterscheidung des Essays, die Benjamin aber – mit Bezug auf das Beispiel der
9
J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 70.
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modernen Polizei, wo die beiden Funktionen kaum zu trennen sind (189) – kurz darauf zurückzieht bzw. durch eine weitere, nämlich die Opposition zwischen »mythischer« und »göttlicher« Gewalt ersetzt: diese lässt sich nicht mit der früheren symmetrisch gleichsetzen, da einer ihrer Pole (die »mythische« Gewalt) eigentlich beide Funktionen von Gewalt als Mittel umfasst. Die zweite wesentliche Differenz bestünde ferner darin, dass Benjamin an diesem Punkt bei einer Vorstellung von Gewalt ankommt, wonach diese nun in keinem Sinne mehr »Mittel« bleibt, sondern als eine Art Offenbarung, Manifestation zu denken ist.10 Diese Unterscheidung erweist sich als die eigentliche Bedingung für die Durchführbarkeit der Kritik: bliebe diese bei der Auffassung von Gewalt als Mittel stecken, so müsste der Sinn von Gewalt notwendigerweise daraus (aus demjenigen Zweck) hergeleitet werden, was sie als Mittel zustandebringt.11 Auch diese neue Unterscheidung soll aber zurückgezogen werden, da die kritische Analyse der mythischen Gewalt die Folgerung zum Ergebnis hat, dass die Mittel/ZweckRelation auch in solcher »unmittelbaren« Manifestation wiederhergestellt wird, in einer Weise zudem, wonach Gewalt hier zugleich als Mittel (Mittel der Rechtsetzung) und Zweck erscheinen wird (letzterer ist mit Macht gleichzusetzen, die von Gewalt nicht unabhängig oder gewaltlos sein kann, da sie ihre Manifestation ist [198]). Die Abgrenzung, die die neue Opposition oder Unterscheidung einleitet und die also den Begriff von Gewalt als Mittel mit ihrer Auffassung als Manifestation ablöst, hilft an diesem Punkt der Kritik der Gewalt folglich nicht wirklich weiter, wird aber zu einem wichtigen Moment dieser Kritik. Noch bevor er nämlich bei der Unterscheidung Mittel/Manifestation angekommen war (als Beispiel dafür dient, unmittelbar vor der zweiten Unterscheidung, der Ausbruch von Zorn, der »nicht Mittel, sondern Manifestation« ist), hatte Benjamin bereits über die Frage nachgedacht, worin die sogenannten »reinen Mittel« bestehen dürften, die die Möglichkeit der vollständigen Auseinanderkopplung von Mitteln und Zwecke bezeugen könnten. Es geht hier um gewaltlose Mittel (Beispiele: eine »Kultur des Herzens«, die Übereinkunft zwischen Menschen, Diplomatie, eigentlich auch die Sprachen dieser, ferner bestimmte Formen der anhand von Georges Sorel behandelten »Generalstreiks« [191-195]), deren Auflistung an diesem Punkt des Argumentationsganges nicht ganz klar ist, da Benjamin diese Runde mit der Feststellung abschließt, dass eine »irgendwie denkbare Lösung
10 »Die mythische Gewalt in ihrer urbildlichen Form ist bloße Manifestation der Götter. Nicht Mittel ihrer Zwecke, kaum Manifestation ihres Willens, am ersten Manifestation ihres Daseins.« W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 197. 11 Vgl. dazu J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 79-81.
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menschlicher Aufgaben«, und insbesondere eine »Erlösung« (z.B. die »Erlösung aus dem Bannkreis aller bisherigen weltgeschichtlichen Daseinslagen« [196]) durch den vollständigen Verzicht auf Gewalt unvollziehbar sind. Erst nach diesen Überlegungen wirft Benjamin die zweite große Unterscheidung (die zwischen den beiden Formen unmittelbarer »Gewalt«, »mythischer« und »göttlicher«) auf, und erst auf der zweiten Seite dieser Opposition, im Feld der göttlichen Gewalt, ist man jenseits der Welt der Mittel/Zweck-Relationen angekommen. Der eigentliche Kode dieser Unterscheidung ist »Reinheit«: während mythische Gewalt, obwohl ihrerseits ebenfalls unmittelbare Manifestation, »weit entfernt« ist, »eine reinere Sphäre zu eröffnen«, kann göttliche Gewalt als »reine unmittelbare Gewalt« betrachtet werden. Von den darauf folgenden, einigermaßen rätselhaften Überlegungen Benjamins ist an diesem Punkt lediglich die Behauptung festzuhalten, dass diese Reinheit göttlicher Gewalt in ihrer »vernichtenden« (u.a. rechtsvernichtenden) Kraft liegt, und dass mit der Identifizierung dieser vernichtenden Kraft zugleich die Aufgabe der Kritik der Gewalt durchgeführt ist, da Benjamin die Analyse der mythischen Gewalt mit der Feststellung der »Verderblichkeit ihrer geschichtlichen Funktion« abschließt, und ihre »Vernichtung damit zur Aufgabe« erklärt (199). Blickt man nun zum Auftakt des Essays zurück (»Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt lässt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben.« Herv. ZKSz), liegt die Folgerung nahe, dass die eigentliche Leistung solcher Kritik in der radikalen Tilgung oder Unterbrechung des darzustellenden Verhältnisses, d.h. in seiner Vernichtung bestehen muss. Benjamins zum Anfang des Essays ohne weitere Erläuterung hingeworfene Bemerkung, dass nämlich der angemessene »Standpunkt« für eine Kritik der Gewalt sich von der »geschichtsphilosophischen Rechtsbetrachtung« herleiten lasse (181-182), gewinnt ähnlicherweise erst am Schluss des Textes eine Erklärung. »Die Kritik der Gewalt – schreibt Benjamin hier – ist die Philosophie ihrer Geschichte. Die ›Philosophie‹ dieser Geschichte deswegen, weil die Idee ihres Ausgang allein eine kritische, scheidende und entscheidende Einstellung auf ihre zeitlichen Data ermöglicht.« (202) Dieser Ausgang, Anfang eines »neuen geschichtlichen Zeitalters«, liegt in der Unterbrechung der dialektischen Zirkulation der einander gegenseitig schwächenden rechtsetzenden bzw. rechtserhaltenden Gewalten, soll also wiederum in der »Entsetzung« (202), d.h. Vernichtung des Rechts (und mit ihm der »Staatgewalt«) verortet werden. Dies wurde jedoch von Benjamin in der letzten seiner Unterscheidungen der Leistung der göttlichen Gewalt zugeschrieben, die nicht bloß in diesem Sinne kaum in der Gewalt des Menschen (des Menschlichen) liegen kann, sondern auch deshalb nicht, weil, so eine der Schlüsselstellen im letzten Abschnitt von
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Benjamins Argumentation, die Identifikation einer restlos reinen Form von Gewalt dem Menschen kaum zusteht: »nicht gleich möglich noch gleich dringend ist aber für Menschen die Entscheidung, wann reine Gewalt in einem Falle wirklich war« (203). Obwohl Benjamin nur einen Satz früher – in einer etwas unterdeterminierten und eine gewisse Deutungsambivalenz zulassenden Bedingungsform12 – reine Gewalt zur Seinsbedingung für die »revolutionäre Gewalt«, d.h. »die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen« erklärt hat, lässt dieser Zusammenhang kaum ohne weiteres die Folgerung zu, dass erstens die radikale Kritik von Gewalt durch eine kritische Analyse von außen durchführbar ist bzw. dass es zweitens überhaupt möglich ist, diese Kritik der Gewalt (deren Aufgabe es ist, das Recht zu vernichten) von der (ebenfalls rechtsvernichtenden) göttlichen Gewalt zu unterscheiden. Die Kritik der Gewalt ist vielleicht – was auch grammatisch und semantisch nicht ganz auszuschließen ist – nichts anderes, als die Kritik der Gewalt, Gewalt als Kritik.13 Dies steht ja auch in keinem Widerspruch zu Benjamins Auffassung von Kritik, die – obwohl auf eine detaillierte Darlegung hier verzichtet werden muss – Kritik als einen (zwar nicht unbedingt äußeren, ja zumeist immanenten) Eingriff vorstellt, der die Einheit, Totalität, Kontinuität, schöne Scheinartigkeit ihres Gegenstandes, ja sogar seine Mitteilungsfähigkeit zer- oder unterbricht. Diese Leistung der Kritik bestimmt die den Frühromantikern entliehene Vorstellung eines »prosaischen Kernes« im Kunstwerk, die die Kritik aufzuzeigen hat, wie auch die Annahme, dass Kritik ihren Gegenstand zu einem nicht mitteilenden, nicht bedeutenden Medium umwandelt14. Der Hinweis auf den Wahlverwandtschaften-Essay liegt hier wohl noch mehr auf der Hand, da Benjamin hier die Seinsbedingung von Kritik u.a. in der berühmten Instanz des »Ausdruckslosen« identifiziert hat: in einer Art immanenter kritischer Gewalt (wortwörtlich!), die zwar außerstande ist, in der Kunst Schein vom Wesen sauber zu trennen, »aber ihnen verwehrt, sich zu mischen«, ferner der Harmonie eines schönen Scheins »ins Wort fällt« und das Kunstwerk »vollendet«, indem sie seine falsche Totalität gleichsam in Stücke
12 Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Dominick LaCapra über das starke oder schwache Konditional des Satzes: Ebd., S. 110-112 bzw. D. LaCapra: Gewalt, Gerechtigkeit, S. 154-156. 13 Für eine ähnliche Deutung s. R. Gasché: Über Kritik, S. 199. 14 Vgl. R. Gasché: The Sober Absolute, S. 449-452, bzw. R. Comay: Benjamin and the Ambiguities, S. 143. Für einen Überblick der Verwendungen des Begriff im ganzen Œuvre s. U. Steiner: Kritik.
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zerschlägt.15 Es bedarf kaum besonderer interpretatorischer Anstrengungen einzusehen, dass eine solche Instanz, die im Sinne von Benjamins Kritikbegriff ihre kritische Wirkung im Abbruch oder im Verstummen der Mittelbarkeit oder der Mitteilung entfaltet, in Zur Kritik der Gewalt in zahlreichen, mehr oder weniger konkreten Gestalten auftreten mag. Das »Ausdruckslose« dürfte z.B. an einigen Beispielen von Benjamins gewaltlosen Mitteln (am ehesten am Generalstreik16) veranschaulicht werden, aber auch Kritik allgemein ließe sich (dem begriffsgeschichtlichen Ursprung von krinein durchaus entsprechend) durch die Reihe der lauten Abtrennungen, Umgrenzungen oder Unterscheidungen, die im Essay vorgeführt werden, nicht untreffend exemplifizieren, durch Operationen also, an denen – hierauf hat Gasché hingewiesen17 – gerade der Vorgang als wirklich gewaltsam erscheint, in dem Gewalt nach und nach von allen ihren Mittel-Funktionen abgelöst wird, um schließlich als bloße, reine Gewalt, als bloße, reine Kritik ans Licht zu treten. An diesem Punkt taucht freilich ein Widerspruch auf. Ist Kritik einerseits »scheidende« und »entscheidende« Kritik, andererseits jedoch, zumindest im Endeffekt, ebenso »grenzenlos« vernichtend (199) wie die Manifestationen der göttlichen Gewalt, so wird die Folgerung, dass Kritik als Gewalt, kritische Gewalt in Wahrheit auch oder vor allem sich selbst, das System ihrer eigenen Abgrenzungen und Unterscheidungen vernichten muss, kaum abwendbar. Genauer formuliert: es muss immer auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass die Abgrenzungen und Unterscheidungen im selben Schritt auch ihre eigene Selbstvernichtung durchführen müssen. Im Folgenden sollen also die wichtigsten Unterscheidungen Benjamins – um die Übersichtlichkeit zu bewahren, auf fünf Oppositionen eingeschränkt – unter diesem Gesichtspunkt erneut ins Auge gefasst werden. Gewalt/Recht: den ersten größeren Abschnitt des Essays widmet Benjamin dieser Opposition, um die Grenzen ihrer Gleichsetzung mit der Mittel/ZweckRelation aufzuzeigen. Um Benjamins nicht völlig kohärent ausgeführten Gedankengang zusammenzufassen, ließe sich mit gewissem Recht behaupten, dass seine Untersuchungen letztendlich zu einer formal paradoxen Folgerung führen, wonach das Verhältnis der beiden Begriffe zugleich homolog und nicht homolog erscheint. Wie Derrida in mehreren Zusammenhängen dargestellt hat, liegt eine
15 Vgl. W. Benjamin: GS I/1, S. 181f. Zur Funktion des »Ausdruckslosen« in Benjamins Auffassung von Kritik s. B. Menke: Sprachfiguren, S. 575-581, für interpretationstheoretische Zusammenhänge s. Cs. Lőrincz: Hermeneutik des »Ausdruckslosen«. 16 Vgl. W. Hamacher: Afformativ, Streik, S. 355-356. 17 R. Gasché: Über Kritik, S. 207-209.
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der wichtigsten kritischen Einsichten des ganzen Essays in der Erkenntnis, dass jede Art von Rechtsordnung auf Gewalt gründet (was übrigens, um kurz einen Nebenstrang zu eröffnen, als eine latente oder gar nicht so latente Hegelpolemik seitens Benjamin zu betrachten wäre18). Gerade deshalb aber bleibt es unentscheidbar, ob die Quelle der Rechtsordnung (der »mystische« Grund für ihre Autorität, wie Derrida mit Montaigne formuliert) selber rechtmäßig oder unrechtmäßig ist19, Benjamin hat ja bereits an einem frühen Punkt seines Essays den Zweifel vorausgeschickt, dass die Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt auch im Allgemeinen »nicht ohne wieteres auf der Hand [liegt]« (182). Reichlich später dann meint er – mit Hinweis auf den »schicksalsmäßig« gewaltsamen (und zugleich – oder eben deshalb? – mystischen) Ursprung der Rechtsordnung – geradezu »die letztliche Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme« eingesehen zu haben (196)20 – die Erklärung dafür soll die Parallele der Sprachen liefern, die sich auf ihre Weise ebenfalls »schicksalsmäßig« entwickeln: die Eigentümlichkeit der sich entfaltenden oder werdenden Sprachen liege darin, dass es in diesen äußerst schwierig ist, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. Benjamin legt großen Akzent darauf zu zeigen, dass auch Recht, das in Verträgen ausgehandelt wird (als Beispiel wird das Friedensabkommen genannt), auf Gewalt gründet, und zwar nicht nur in dem Sinne, der für Besiegte, die »diktierte« Abkommen signieren müssen, maßgebend ist, sondern bereits dadurch, dass die Gewalt, die für einen Vertrag haftet (oder eben durch den Vertrag zustande kommt), wie eigentlich auch schon der Vertrag selbst arbiträr, weil durch Konvention gesichert sind. Dasselbe gilt für Formen von Gewalt, die auf dem Prinzip der Repräsentation begründet sind, und Benjamin bezieht sich hier – auf eine Weise, die zu dieser Zeit kaum beispiellos ist, man denke z.B. an Schmitts Kritik der parlamentarischen Demokratie oder an seine geniale Verfassungslehre – auf den Verfall des Parlamentarismus (190191), dessen Ursache darin liegen soll, dass in dieser Institution »das Bewusstsein von der latenten Anwesenheit von Gewalt« schwindet: moderne Parlamente ignorieren die »revolutionären Kräfte, denen sie ihr Dasein verdanken« bzw.
18 Vgl. z.B. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie, S. 223: »Die Gewalt […] ist darum nicht Grund des Rechts, obgleich das notwendige und berechtigte Moment im Übergange des Zustandes des in die Begierde und Einzelheit versenkten Selbstbewusstseins in den Zustand des allgemeinen Selbstbewusstseins.« 19 Vgl. dazu J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 27-30 bzw. – im allgemeineren Kontext – bereits S. 12. 20 Später wird auch von der »mythischen Zweideutigkeit« der Gesetze die Rede sein; W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 198.
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haben keinen Sinn mehr »für die rechtsetzende Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist« (Herv. ZKSz). Repräsentation repräsentiert also (auch) Gewalt, in der Rechtsordnung oder im Gesetz aber repräsentiert sie genau diejenige Gewalt (oder, was – hier – dasselbe ist: macht sie zum Mittel oder schließt sie aus), auf der sie sich gründet: in solcher Repräsentation unterdrückt, verdrängt oder isoliert diese Gewalt eigentlich sich selbst.21 Rechtsetzende/rechtserhaltende Gewalt: die Unmöglichkeit dieser Unterscheidung lässt sich, wie bereits sichtbar wurde, auf einer streng formalen Ebene von Benjamins Argumentation bezeugen, da sie – anhand des Beispiels der modernen Polizei – von ihm selbst ausgesagt wird, später werden die beiden Pole im Rahmen einer nächsten Unterscheidung sogar unter der gleichen Kategorie, der von »mythischer Gewalt«, zusammengefasst, und mehr noch: was dabei als wirklich »mythisch« definiert wird, ist eigentlich gerade die Ununterscheidbarkeit der beiden.22 Diese mythische Unentscheidbarkeit wird übrigens gerade in Bezug auf die Repräsentation sichtbar, ja sie folgt vielleicht geradezu aus der Repräsentationsstruktur der Rechtsordnung, da beide Formen der Gewalt notwendigerweise wechselseitig ineinander repräsentiert sind.23 Es bedarf keiner besonderen Beweisführung, da Derrida das schon erledigt hat, dass die (zumindest partielle) Unhaltbarkeit dieses Gegensatzes sich auf der allgemeineren Ebene der Performativität auch theoretisch nachweisen lässt: jedwedem setzenden oder positionalen Akt (so z.B. der Gründung eines Gesetzes oder der Verabschiedung einer rechtlicher Regelung) kann erst dann Sinn zugeschrieben werden (bzw. sie können erst dann ihre Funktion erfüllen), wenn in solche Akte auch die Vorgabe ihrer Aufrechterhaltung, Verwendung, Wiederholung eingeschrieben ist.24 Von beiden der bisher behandelten Unterscheidungen lässt sich also behaupten, dass ihre Widersprüchlichkeit auf ihre performative Grundstruktur zurückzuführen ist. Der setzende Akt, der sie erzeugt hat (Gewalt das Recht, rechtsetzender Akt das einzuhaltende Gesetz), hat einerseits Grenzen gezogen, indem er Ursache von Wirkung, ja sogar Mittel vom Zweck unterschied, andererseits jedoch diese Grenzen auch überschritten, indem er – »gespenstisch« (189) wie im Falle der Polizei oder »latent« wie in den Parlamenten – auch
21 Vgl. dazu W. Hamacher: Afformativ, Streik, S. 344. Es ist von hier aus gesehen geradezu notwendig, dass Auffassungen von Macht, die auf der Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt bestehen, Gewalt unausweichlich als bloßes Instrument betrachten müssen. Als Beispiel s. H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 52. 22 Vgl. B. Menke: Benjamin vor dem Gesetz, S. 219. 23 Vgl. dazu J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 62. 24 Vgl. ebd., S. 83.
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jenseits der Grenze auftaucht, auf der Seite der Institutionen, die er ins Leben gerufen hat. Unmittelbare/mittelbare Gewalt: diese Unterscheidung hat Benjamin, auch das wurde bereits erwähnt, von der Auflösung der Mittel/Zweck-Relation bzw. der dadurch hervortretenden Unterscheidung zwischen reinen und gewaltsamen Mitteln hergeleitet. Mythische und göttliche Gewalt werden hier auf der gleichen Seite eingeführt (beide sind unmittelbar, da eher Manifestationen als Mittel eines beliebigen Willens), in der Analyse der mythischen Gewalt musste jedoch festgestellt werden, dass diese sich gegenüber der rechtsetzenden Gewalt nicht abgrenzen lässt, da das, was sie als Recht ins Leben ruft (Macht), »innig« an Gewalt selbst gebunden ist. Dies ist also derjenige Aspekt der Untrennbarkeit von Recht und Gewalt, in dem – im Gegensatz zu den modernen Parlamenten – Gewalt keineswegs »latent« bleibt. »Rechtsetzung ist Machtsetzung – schreibt Benjamin – und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt« (198). Der Satz spricht für sich (für die eigene Zweideutigkeit). Der rechtsetzende Akt ist einerseits eine Manifestation von Gewalt, was im Kontext des Essays nur so verstanden werden kann, dass Rechtsetzung selbst nicht als Zweck zu betrachten, weil in keine der Mittel/Zweck-Kontinuitäten eingeschrieben ist: sie ist unmittelbares Mittel. Da rechtsetzende Gewalt vorhin aber auf der anderen Seite der Unterscheidung (der der mittelbaren Gewalt) angesiedelt wurde, lässt sich der Satz auf einer möglichst formalen Ebene wie folgt umschreiben: mittelbare Gewalt ist Manifestation der unmittelbaren Gewalt. Diese Formel ist aber (da Gewalt nur in dem Fall unmittelbar sein kann, wenn sie »nicht Mittel, sondern Manifestation« ist) höchst tautologisch: mittelbare Gewalt ist – unmittelbare Gewalt. Es wäre freilich wenig großzügig, Benjamins Unterscheidung an diesem Punkt mit einem bloßen Verweis auf den Tautologieverdacht beiseite zu stellen: möglicherweise geht es ja vielmehr darum, dass mittelbare Gewalt sich einfach nicht auf ihre Mittelfunktion einschränken lässt: dieser Einwand könnte mit denjenigen Stellen aus dem Essay belegt werden, wo Benjamin sich auf die Befürchtungen oder Selbstverteidigungstechniken der Rechtsgewalt bezieht, die aus der Erkenntnis folgen bzw. auf diese reagieren, dass (wie im Falle der zweimal erwähnten [183, 186] Gestalt des »großen Verbrechers«) die Manifestation von Gewalt sich der Kontrolle einer auf Gewalt begründeten Macht entziehen oder über diese hinausbreiten kann. Unmittelbare Gewalt ist in Wahrheit vielleicht der Exzess von rechtsetzender und/oder rechtserhaltender Gewalt, der sich in der Rechtsordnung nicht unterdrücken lässt25: ein Akt der Rechtsetzung mag
25 Für eine ähnliche Deutungsrichtung s. A. García Düttmann: Die Gewalt der Zerstörung, S. 296.
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die unmittelbare (und prä-positionale26) Gewalt in diesem Sinne als eine ihm überlegene, dennoch von ihm in Anspruch genommene Instanz (oder Medium?) in der Tat manifestieren. Manifestation ist (was auch auf Benjamins diesbezügliches Beispiel des Zornausbruchs zutrifft) Manifestation des Übermaßes. Mythische/göttliche Gewalt: an diesem Punkt kann Benjamins abschließende Unterscheidung noch nicht ausführlich behandelt werden. In der Struktur der Argumentation hat sie die Funktion, die binäre Opposition von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt, die sich als unhaltbar erwiesen hat, abzulösen (aber nicht einfach zu wiederholen oder widerzuspiegeln27), während formal gesehen Benjamin hier zwei frühere Unterscheidungen (zwischen mittelbarer und unmittelbarer Gewalt bzw. zwischen reinen und gewaltsamen Mitteln) zu kombinieren scheint. Beide Pole treten auf der Seite der unmittelbaren Gewalt auf, welche sich freilich kurz zuvor als ein keinesfalls sauber abgrenzbarer Bereich erwiesen hat, d.h. es trifft auf beide zu, dass sie Manifestationen (des Exzesses) von Gewalt darstellen. Den entscheidenden Unterschied sieht Benjamin darin, dass, während die mythische (rechtsetzende) Gewalt »Grenzen« – z.B. Rechtsnormen oder Friedenverträge – setzt und den »Gegner« nicht vernichtet (198), die göttliche, die »rechtsvernichtend« genannt wird, »grenzenlos« vernichtet (199). Dies ist kaum anders zu deuten, als dass in dieser Vernichtung gerade der Gegenpol, nämlich mythische Gewalt zerstört wird, diese Folgerung wird zumindest in der Erklärung nahegelegt, dass diese »verschuldend und sühnend«, göttliche Gewalt hingegen »entsühnend« sein soll, was jedoch, nimmt man die nächste Unterscheidung (»ist jene drohend, so diese schlagend«) und die darauf folgenden ernst, erst gerade in einem nichtrechtlichem Sinne Entsühnung bedeuten kann. Es könnte hier in der Tat kaum um eine rechtliche Freisprechung gehen, da göttliche Gewalt laut Benjamin ja vor allem Recht selber vernichtet – und mit ihm das ganze System der Zwänge von Schuld, Schuldbewusstsein und Sühne. An diesem Punkt ist lediglich festzuhalten, dass diese grenzenlos vernichtende göttliche Gewalt, indem sie selbst ebenfalls unmittelbar, ebenfalls Manifestation ist, möglicherweise einen anderen Aspekt desselben Gewaltexzesses darstellt, über den einen Punkt früher die Rede war: diese Vernichtung ist die Manifestation göttlicher Gewalt, oder vielmehr die göttliche Manifestation von Gewalt, in der sich die Gewalt, die den rechtsetzenden Akten zugrunde liegt oder diese trägt, all das, was sie begründet hat, zerstört (de-legitimiert, in Frage stellt, in der Wirksamkeit verhindert oder revolutionär hinwegfegt) – und zwar dadurch, dass sie sich äußert, die eigene Präsenz manifestiert. Solche Vernichtung ist in dem
26 W. Hamacher: Afformativ, Streik, S. 348. 27 Vgl. dazu B. Menke: Benjamin vor dem Gesetz, S. 221-222.
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Sinne entsühnend, dass sie die Ungerechtigkeit der unvermeidlich in Gewalt gründenden Rechtsordnung außer Kraft setzt, eine Ungerechtigkeit, die gerade daraus folgen mag, dass Recht außerstande ist, die Gewalt, die sich in seiner Gründung und/oder Aufrechterhaltung manifestiert, endgültig zu instrumentalisieren (wie z.B. immer eine Chance bestehen bleibt, dass die Gewaltwelle, die eine gesetzmäßige Polizeimaßnahme auslöst, mit gesetzmäßigen Mitteln nicht mehr kontrollierbar wird). Die bisher behandelten Unterscheidungen Benjamins scheinen also nun die verschiedenen Aspekte und verschiedenen Verhältnisse der Performativität der rechtsetzenden Gewalt bzw. ihrer Repräsentation in der Rechtsordnung zum Vorschein gebracht zu haben: dass die Unterscheidungen selber sich nicht stabilisieren ließen, mag gerade an der Mannigfaltigkeit dieser Aspekte oder Verhältnisse liegen. Reine/gewaltsame Mittel: mit dieser Unterscheidung steht es etwas anders. Benjamin scheint hier, auf den ersten Blick zumindest, Beispiele gefunden zu haben, in denen die Unterscheidung kaum anzufechten ist. Obwohl der Streik zuvor als Beweis gerade dafür angeführt wurde, dass Gewalt fähig ist, Rechtsverhältnisse zu verändern, kommt Benjamin hier eine neue, genauere Opposition zur Hilfe, nämlich Sorels Unterscheidung zwischen zwei Arten des Streiks, dem politischen und dem proletarischen Generalstreik. Letzterer mag, da es hier nicht um die Erzwingung neuer politischer oder Machtverhältnisse, sondern lediglich um die Vernichtung des bestehenden, ferner – so Sorels Argumentation – um eine »unteilbare«, d.h. keinen weiteren Unterscheidungen, Gliederungen oder Unterteilungen ausgesetzte, Formation geht28, zwar über eine gewisse Performativität verfügen, dies aber höchstens auf eine – im Sinne Hamachers – afformative Weise29: Entsetzung statt Setzung. Eine wichtige Unterscheidung Sorels definiert Gewalt (violence) genau in diesem Zusammenhang, indem er »orthodoxen Marxisten« den Vorwurf macht, diese mit einer Art Zwangskraft (force)
28 Vgl. G. Sorel: Réflexions, S. 120. 29 Vgl. W. Hamacher: Afformativ, Streik, S. 346-347. Wie weit entfernt Benjamin hier von den maßgebenden kommunistischen politischen Programme seiner Zeit steht, kann am deutlichsten durch den Vergleich mit Rosa Luxemburgs Begriff des »Massenstreiks« gezeigt werden. Letztere unterscheidet die kommunistische Auffassung (und sogar »Taktik«) des Massenstreiks scharf vom »Generalstreik« der Anarchisten gerade mit dem Hinweis darauf, dass der Massenstreik eine für politische Zwecke eingesetzte politische »Waffe«, sogar ein »Mittel« ist (vgl. z.B. R. Luxemburg: Massenstreik, S. 4f). Der politische Massenstreik kann, im Rahmen dieses Programms, kaum rein bleiben, da er im notwendigen Zusammenhang mit dem »ökonomischen Kampf« steht; ebd., S. 31.
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verwechselt zu haben: hat der politische Generalstreik die Ergreifung letzterer (als Mittel einer Macht, über die eine Minderheit verfügt) vor Augen, so ist ein tatsächlich revolutionärer Proletarierstreik in dem Sinne gewaltsam zu nennen, dass er gegen diese Form von Macht gerichtet ist.30 Benjamin meint hier sogar von der Gewaltsamkeit des Erpressungspotentials absehen zu können, das in der allgemeinen Arbeitseinstellung liegt, da das Bereich von Wirkungen und Zwecken er bereits früher aus dem Gesichtskreis seiner kritischen Untersuchungen ausgeschlossen hat: es »darf dennoch über die Gewaltsamkeit einer Handlung ebensowenig nach ihren Wirkungen wie nach ihren Zwecken, sondern allein nach dem Gesetz ihrer Mittel geurteilt werden« (195). Diese Überlegung dürfte u.a. hinter dem Entschluss stehen, unmittelbare Gewalt mit dem Beispiel des Zornausbruchs zu erhellen (wer aus Wut zerstört, der kann bekanntlich durchaus Schaden anrichten, aber der Zweck der Zerstörung liegt kaum hierin, sie hat ja vielleicht überhaupt keinen Zweck, da sie, wie Benjamin sagt, Manifestation ist), aber auch die weiteren Beispiele für reine Mittel (darunter Betrug oder Lüge, die laut Benjamin ursprünglich straffrei waren, ferner die Diplomatie) würden ohne diese Voraussetzung eigentlich sinnlos bleiben. Wie vom Streik und Zornausbruch, könnte auch von diesen Mitteln in einem bestimmten Sinne behauptet werden, dass sie erst in ihren Wirkungen oder Folgen möglicherweise gewaltsam werden, deshalb zeigt sich in der Tatsache, dass das moderne Recht sie bestraft (oder, wie im Falle von Diplomatie, zu bloßen »äußerlichen« Formen abschwächt [195]), vor allem seine eigene Schwäche: die Angst vor der Wut der Betrogenen oder vor den gewaltsamen Reaktionen, die ein Streik auslösen kann. Der Essay kommt an diesem Punkt in einem etwas unerwartet leidenschaftlichem Ton auf den Fall des Ärztestreiks, einen »hervorragenden Fall gewalttätiger Unterlassung, […] verwandt der Blockade«, zu sprechen, wo »skrupellose Gewaltanwendung« sich »aufs Abstoßendste« zeige. Dieser Umweg, der als eine etwas überflüssige Interpolation oder Unterbrechung im Gang der Argumentation wirkt (er verfügt über keinerlei unmittelbare Verbindungspunkte, Benjamin kehrt gleich danach zur Besprechung der gewaltlosen Mittel zurück), beansprucht gerade mit Hinblick auf die früher erwähnten Eigentümlichkeiten von Benjamins Kritikbegriff (auf die Gewalt, die er dem »Ausdruckslosen«, dem Ins-Wort-Fallen, Formen der Unterbrechung usw. zugeschrieben hat) die Aufmerksamkeit des Kommentars. Es geht hier darum, dass die Abgrenzung der reinen Mittel erst durch den Ausschluss ihrer Wirkungen oder Folgen, also durch eine weitere Abgrenzung
30 G. Sorel: Réflexions, S. 132-136. Diese Unterscheidung Sorels wird wenig später auch für Schmitt wichtig: vgl. C. Schmitt: Die politische Theorie, S. 17.
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(genauer gesagt: durch die Wiedereinführung einer früher schon durchgeführten) ermöglicht wird: durch die Trennung oder Auseinanderkopplung von Mitteln und Zwecke. Die Beispiele von Lüge oder Betrug (d.h. das Problem der Unterscheidung zwischen Täuschung und ihren schädlichen Auswirkungen) könnten – wenn man die starke Wirkung (des Linksflügels) der frühexpressionistischen Nietzscherezeption auf Benjamin bedenkt – als latenter Nietzschebezug betrachtet werden, der Proletarierstreik nimmt – wenn auch in einem anderen Sinne – eine bestimmte Mittel/Zweck-Relation ebenso wenig in Anspruch, im Falle des Ärztestreiks aber (welcher ja freilich niemals ein proletarischer sein kann) ließe sich keine ähnliche Trennlinie ziehen, da die Arbeitseinstellung hier notwendigerweise zerstörerische Folgen hätte. Benjamin, der den ganzen Essay hindurch im Grunde genommen die Möglichkeit sucht, »revolutionäre Gewalt« rechtfertigen zu können, kann in diesem Kontext – aus den zuvor behandelten theoretischen Gründen – nicht für das revolutionäre Recht des Guten auf Gewalt argumentieren etwa in Manier Ernst Blochs, den er übrigens ohne Vorbehalte schätzte, und der in seiner im gleichen Jahr veröffentlichten Münzer-Monographie die christliche Idee der Gewaltlosigkeit als ein mit Paulus gemischtes Dogma der Evangelien entlarven wollte und sich äußerst kritisch über die »vormessianische Schwäche des Christushaften« äußerte.31 Die Unterscheidung von Mittel und Zweck könnte also als diskursive Notwendigkeit betrachtet werden, das singuläre Beispiel des Ärztestreiks macht aber gerade auf die Grenzen dieser Voraussetzung aufmerksam: seine Erscheinung (Nichtunterdrückung) im Essay, wodurch die ganze Argumentationslinie an diesem Punkt unterbrochen wird, dürfte – neben anderen möglichen Funktionen, auf die noch zurückzukommen ist – von einem eigentümlichen Selbstbezug der Kritik und freilich wieder einmal von der denkerischen Ehrlichkeit Benjamins zeugen. Jedenfalls kann an diesem Punkt festgestellt werden, dass die Abgrenzung der reinen von den gewaltsamen Mitteln erst durch die Mitwirkung der Opposition Mittel/Zweck durchgeführt werden kann, genauer durch die Ausschaltung des letzteren (d.h. der Zwecke, Wirkungen oder Folgen der eingesetzten Mittel). Die Mittel einer auf diese Weise umgeschriebenen reinen Gewalt sind jedoch, erstens, unzulängliche Mittel (die Erlösung bleibt »unter völliger und prinzipieller Ausschaltung jedweder Gewalt unvollziehbar«), zweitens können sie wegen ihrer unberechenbaren Wirkungen an bestimmte Folgen gebunden und dadurch auch vergolten werden, drittens schließlich kann (wie im Falle des Ärztestreiks) ihre Gewaltlosigkeit auch Gewaltanwendung bedeuten.
31 Vgl. E. Bloch: Thomas Münzer, S. 159.
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Weshalb Benjamin trotzdem an der Abgrenzung von reinen Mitteln festhält, und das an einem im gewissen Sinne zentralen Punkt seiner Abhandlung, ist letzten Endes leicht einzusehen, obwohl diese Einsicht kaum einen Ausblick auf den zeitgenössischen Kontext von Benjamins Verwendung des Begriffs entbehren kann: den Ausblick auf seine unmittelbaren Quellen, das diskursive Umfeld des Essays und nicht zuletzt auf Benjamins andere (vor allem sprachtheoretische) Arbeiten, die er um diese Zeit verfasst hat. In der Literatur sind zahlreiche, teils unterschiedliche Versuche zu finden32, den Essay auf diese Weise einzubetten, die hier verfolgte Fragestellung kann sich aber nicht in jeder Hinsicht auf diese Ergebnisse stützen, obwohl die wichtigsten Zusammenhänge im Folgenden kaum ausführlich erörtert werden können. Dass das politische Problem der Beziehung von Absichten oder Zwecken und Mitteln in Benjamins Essay derart im Vordergrund steht, dürfte kaum überraschen, es wurde z.B. in Max Webers berühmtem Vortrag zwei Jahre zuvor, wo das Verhältnis von Gewalt und Recht übrigens im Begriff des »Staates« zur Versöhnung kommt, ebenfalls ausführlich behandelt.33 Das terminologische Umfeld des Begriffs von »reinen« Mitteln ist zwar heterogener, lässt aber gerade deshalb Benjamins Voraussetzungen schärfer hervortreten. In einem rechtstheoretischen Kontext könnte vor allem auf die Rechtsphilosophie Hans Kelsens, des späteren großen Gegners Schmitts, hingewiesen werden; ihre Grundzüge wurden zwar erst 1934 in der Monographie Reine Rechtslehre veröffentlicht, aber die wichtigsten Elemente der Konzeption sind bereits in den Jahren um 1920, also um die Entstehung von Benjamins Essay, zu finden. In Kelsens Rechtslehre fungiert »Reinheit«, in gewisser Hinsicht den Voraussetzungen des Kantschen Kritikbegriffs angepasst, der auch in Benjamins Text seine Spuren hinterlassen hat, bekanntlich als ein Prinzip, das die Möglichkeit in Aussicht stellt, das eigentliche Gebiet des Rechts gegenüber anderen Bereiche (z.B. »Rechtspolitik«) klar abzugrenzen: eine Rechtslehre ist »rein«, sofern sie von all dem befreit wird, was sich über das formale System des Rechts hinausbreitet, u.a. vom Problem des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit (die Frage von Gerechtigkeit ist aus der Sicht der reinen Rechtslehre, die »Normen« zu untersuchen hat, in Wahrheit eine leere Frage).34
32 Für die breitest gefassten Darstellungen von Benjamins (tatsächlichen und möglichen) Quellen s. U. Steiner: Der wahre Politiker bzw. P. Bojanić: God the Revolutionist. 33 Vgl. M. Weber: Politik als Beruf, S. 552-558. 34 H. Kelsen: Reine Rechtslehre, S. 1-16. Für frühe Spuren der Konzeption s. ders.: Das Problem der Souveränität.
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Obwohl Kelsen, der zwar in den 1910er Jahren auch unter den Autoren von Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik zu finden war, kaum als Quelle und/oder Bezugspunkt von Benjamin angeführt werden kann, ist der Hinweis auf den Begriff der »reinen Rechtslehre« dennoch nicht von ungefähr: die neokantischen Wurzeln von Kelsens Rechtsphilosophie weisen nämlich in mehrerer Hinsicht auf Hermann Cohen, eine der zentralen Figuren der Marburger Schule, zurück, der hingegen zu dieser Zeit ein durchaus bedeutender Autor für den jungen Benjamin war und dessen Arbeit zur Ethik des reinen Willens von 1904 in Zur Kritik der Gewalt auch zitiert ist. Mit Blick auf Benjamins Verwendung des Begriffs steht hier die Tatsache im Vordergrund, dass Cohen, der in dieser Arbeit den Versuch unternommen hat, Ethik auf den Fundamenten des Rechts als eines der Mathematik ähnlich funktionierenden formalen Systems zu begründen, den Terminus »reiner Wille« als eine Instanz bestimmt, die hinter der »Einheit der Handlung« steckt. Diese Bestimmung beruht auf der Annahme, dass solche »Einheit« (die Einheit von Wille und Aktion, Wille allein an sich wird ausgeschlossen) nicht als empirische (wie auch Wille nicht als psychologische), sondern als eine formal-rechtliche, demzufolge »reine« Kategorie beschreiben lässt: die Einheit der Handlung bzw. die Reinheit des Willens ist dadurch gesichert, dass diese von der Rechtsordnung (also quasi auf vertraglich-konventionelle Weise) bestimmt werden.35 Dieser begriffliche Hintergrund macht auf eine weitere Unterscheidung oder besser auf eine weitere kritische Abgrenzung in (oder, genauer: hinter) der Argumentation Benjamins aufmerksam: dadurch, dass er das Attribut von Reinheit vom Recht, das in seiner Sicht unvermeidlich »zweideutig« bleiben muss, auf die Dimension von Gewalt überträgt und damit die Möglichkeit eines »reinen« Rechtes auf implizite Weise verwirft (das Recht ist immer schon von der Gewalt beschmutzt, auf der es gründet), führt er diese Möglichkeit auf der anderen Seite, nämlich auf der Seite der Gewalt bzw. der »Mittel«, wieder ein. Aus diesem Aspekt lässt sich, auch wenn das vielleicht bloß die Begriffsverwendung betrifft, eine der wichtigsten (potentiellen) Quellen Benjamins – neben den zeitgenössischen und für Benjamin auf der Hand liegenden Schriften Blochs oder Franz Rosenzweigs, auf die noch zurückzukommen ist – vor allem in der Philosophie der »Befreiung durch das reine Mittel«, also einer Idee des anarchistischen Predigers (und Begründers der Berliner [Freien] Volksbühne) Bruno Wille erahnen. Wille, der übrigens eine ausführliche Kritik der Tolstoischen Ethik der absoluten Gewaltlosigkeit und der widerstandslosen Duldung widmet, macht einen definitiven Unterschied zwischen »reinen« und »unreinen« Mitteln
35 Vgl. dazu H. Cohen: Ethik des reinen Willens, S. 169-180.
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revolutionärer Gewalt: das Mittel selber wird als gewollte Ursache einer gewollten Wirkung definiert, über deren Reinheit durch die Frage entschieden wird, ob sie Nebenwirkungen mit sich führt, die ihrem eigentlichen Zweck schaden können.36 Liegt der Zweck z.B. in der Befreiung, so ist Gewalt als reines Mittel zu betrachten, was in anderen Fallen nicht unbedingt der Fall ist. In der Betrachtung der Seite des Rechtes scheint Wille fast ausschließlich »unreine« Mittel gesehen zu haben: das Gesetz selber ist »unreines« Mittel der Regelung des gesellschaftlichen Lebens, und zwar genau deshalb, weil es durch Gewalt aufrechterhalten wird – als Alternative führt Wille die utopistische Idee eines sozialen Lebens an, dem keine derartigen Regeln aufgezwungen werden und statt solcher Determinierung von seinen Teilnehmern (freien Individuen, die sich von autoritären Organisationen – Parteien, ja überhaupt jeglicher Form der politischen Repräsentation – fernhalten und eben deshalb nicht als Mittel irgendeiner Macht in Anspruch genommen werden können) selber reguliert ist – auf ähnliche Weise wie optimal geführte Betriebe oder, mehr noch, wie lebendige Organismen. Die (freien) Mittel solcher Regelung stehen laut Wille in Techniken zur Verfügung (Übereinkommen, Vereinbarung, Freiwilligkeit)37, die von Benjamin später unter der »Kultur des Herzens« zusammengefasst werden. Beschränkt man sich streng auf die begriffliche Definition, ist nur ein einziger Unterschied zwischen Wille und Benjamin festzustellen, nämlich dass Benjamin, wie oben zu sehen war, die Mittel-/Zweck-Relation und damit die Möglichkeit, die Folgen (oder, mit der Kategorie von Wille ausgedrückt, die Nebenwirkungen) zu beurteilen, von vornherein ausschließt – was in dem Sinne konsequent ist, dass, wenn diese Möglichkeit einmal vorausgesetzt ist, kaum mehr von reinen Mitteln die Rede sein kann, die jeglicher Instrumentalisierung entbehren. Es rührt vielleicht daher, dass Benjamins Begriff des Mittels aus dieser Perspektive als beinahe selbstreferentiell erscheint und dass folglich die Gewalt, die solche Mittel ausüben, bloß als eine Art Manifestation betrachtet werden kann, auch wenn diese Manifestation, wie vorhin dargelegt wurde, kaum ohne jegliche instrumentale Kraft auskommen mag: laut Agamben werden reine Mittel z.B. durch die Politik manifestiert.38 Die Entkopplung von Mittel und Zweck scheint geradezu durch die Manifestation zu erfolgen: entlang dieser Einsicht lässt sich der vielleicht wichtigste Bereich im diskursiven Umfeld von Zur Kritik der Gewalt eindeutig in den frühen sprachtheoretischen Schriften
36 B. Wille: Philosophie der Befreiung, S. 37-38. Zur Kritik von Gewaltlosigkeit s. ebd., S. 118-121. 37 Vgl. ebd., S. 212. 38 Vgl. G. Agamben: Noten zur Politik, S. 111.
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Benjamins (vor allem im Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen von 1916 bzw. in der Abhandlung Die Aufgabe des Übersetzers, die kurz nach der Abfassung der Gewaltschrift entstanden ist) feststellen. Im Rahmen dieser Arbeit muss auf eine ausführliche Rekonstruktion dieser Sprachphilosophie verzichtet werden, es geht im Folgenden also lediglich darum, gewisse Schwerpunkte aufzuzeigen. Als erstes wäre die in der Literatur zu Benjamin vielerseits erörterte Beobachtung39 hervorzuheben, dass im Mittelpunkt dieser sprachphilosophischen Ausführungen die Idee einer Medialität der Sprache, also Sprache als Medium der unmittelbaren und reinen Mitteilung steht. Das Wesentliche an dieser Medialität von Sprache liegt für den jungen Benjamin in ihrem Mitteilungscharakter40, der aber so zu verstehen ist, dass dies auch auf die Sprache selber bezogen ist, indem Sprache in der Mitteilung auch sich selbst mitteilt. Dies rührt daher, dass was an einem Ding mitteilbar ist, kann laut Benjamin kaum identisch sein mit dem Ding selber, es ist vielmehr »das geistige Wesen« der Dinge (im Falle des Menschen liegt dieses geistige Wesen darin, dass er die Dinge benennt, anders formuliert im als Eigenname zu verstehenden Namen der Dinge), folglich ist »das sprachliche Wesen der Dinge […] ihre Sprache«. Eine scheinbare Tautologie also, deren Funktion vor allem darin besteht, die falsche Gleichsetzung des Benannten (des Dinges) und des Namens (oder: der Dinge und ihrer sprachlichen Wesen) abzuwehren, und die in gewissem Sinne eine Verdopplung innerhalb der Sprache impliziert, die zwar kaum zu verorten, aber dennoch vorauszusetzen ist. Die sich selbst mitteilende Sprache ist zugleich Medium dieser Mitteilung, und zwar – wie Benjamin formuliert – »im reinsten Sinne« (herv. ZKSz): diese reine Medialität wird dann als die Unmittelbarkeit von Sprache, also – in einem beinahe verwirrenden Spiel der Buchstaben – als »die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung« erfasst. Die tatsächliche Bedeutung der in diesem Sinne aufgefassten Unmittelbarkeit von Sprache wird hier erneut durch eine Unterscheidung aufgeschlossen, welche zugleich die polemische Ausgerichtetheit von Benjamins Definitionen klar macht, nämlich dass er sich hier eigentlich am Entwurf eines alternativen, nichtsemiologischen Sprachmodells versucht. Jenseits dieser Unterscheidung liegt nämlich die Auffassung von Sprache als Zeichen bzw. Mittel (hier teilt sich
39 Vgl. grundsätzlich B. Menke: Sprachfiguren, S. 42-70. Ferner: N. Bolz/W. van Reijen: Walter Benjamin, S. 42-43; B. Hanssen: Language and Mimesis, S. 57; im Kontext von Benjamins Auffassung von Geschichte C. Fynsk: The Claim of History, S. 118. 40 Zum Folgenden s. W. Benjamin: GS II/1, S. 142-146. Zur Entwicklung der Bedeutung des Begriffs beim frühen Benjamin s. B. Menke: Sprachfiguren, S. 39.
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Sprache nicht in ihr selber mit, sondern die Mitteilung erfolgt durch sie), welche Benjamin gleich zweimal als die »bürgerliche« Auffassung von Sprache brandmarkt. Die Abgrenzung der beiden Sprachkonzeptionen lässt sich entlang den Gegensätzen Mitteilbarkeit/Mittel oder sogar Medium/ Zeichen bzw. – in Hinblick auf den Begriff der Mitteilung – Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit formalisieren: in diesem Kontext lässt sich aus letzterem unschwer der semantische Beitrag des Ausdrucks »Mittel« heraushören.41 Die mediale Unmittelbarkeit der Sprache schließt also die Auffassung von Sprache als Mittel aus – diese Folgerung spiegelt sich dann ziemlich genau im Gewalt-Essay, näher in der Unterscheidung zwischen nicht-instrumentaler (besser gesagt in reinen Mitteln sich manifestierender), d.h. »unmittelbarer« und mittelbarer Gewalt wider. Die Relation der beiden Sprachmodelle wird von Benjamin darüber hinaus auch auf eine temporale (am ehesten noch: historische) Achse projiziert dargelegt, und zwar in Form einer Sündenfallparabel, die auf der Parallele gründet, die er zwischen der Instrumentalisierung und Semiotisierung der Sprache und der Vertreibung aus dem biblischen Paradies (also aus der unmittelbaren Medialität der Namen- bzw. Eigennamensprache) aufzustellen sucht.42 Zwei Momente dieses Vergleichs sind hier besonders zu beachten. Einerseits die Tatsache, dass Benjamin, wenn auch auf eine etwas enigmatische oder zumindest unerwartete Weise, die ganze Sündenfallgeschichte mit dem »mythischen Ursprung des Rechtes« in Zusammenhang stellt. Ist »die Sprache des Paradieses vollkommen erkennend gewesen«, so stehen auf der anderen Seite, d.h. außerhalb der »Namensprache«, Gut und Böse »als unbenennbar, als namenlos« da, deshalb konnte die Frage, die auf diese gerichtet ist, in der semiologischen Welt des Menschen nach dem Sündenfall (in der Welt der schlichten »Mittelbarkeit« der Mitteilung) zum bloßen »Geschwätz« verfallen: der Baum der Erkenntnis gibt keine Aufschlüsse, er steht vielmehr »als fragendes Wahrzeichen des Gerichts über den Fragenden« im Garten Gottes, eben »diese ungeheure Ironie ist das Kennzeichen des mythischen Ursprungs des Rechtes«. Die Erklärung mag darin liegen, dass Benjamin wenige Sätze früher bereits das »richtende Wort« eingeführt hat, dem »die Erkenntnis von gut und böse unmittelbar« ist und dessen Ursprung als seine Auslösung durch den Sündenfall dargestellt wird: deshalb bestraft das richtende Wort, so Benjamin, »die Erweckung seiner selbst als die einzige, tiefste Schuld«.
41 Wie auch aus der Etymologie von »Mittel« hervorgeht, ist der Bedeutungskreis von »Mittel« von dem des »Mediums« (mit den Bedeutungen von ›intermediär‹, ›mittlere‹ usw.) selbstverständlich kaum unabhängig. Vgl. J. Grimm/W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, Sp. 2381; F. Kluge: Etymologisches Wörterbuch, S. 482. 42 Zum Folgenden s. W. Benjamin: GS II/1, S. 152-154.
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Schuld – die Auslösung oder Erweckung des richtendes Wortes (Benjamin: seine »Exzitierung« aus dem Paradies) – und Strafe – die die Hervorrufung oder Erweckung eben dieses Wortes bestraft – fallen also in der Sündenfallgeschichte zusammen, es mag also vielleicht gerade daran liegen (wie, mehr noch, auch die Strafe gerade darin bestehen mag), dass das Gericht, die Instanz des Rechtes selber – sich jeglicher Erkenntnis entzieht. Der mythische Ursprung des Rechtes – und darauf wird es in erster Linie im Folgenden ankommen – liegt also darin, dass das Recht in seiner Unbegründbarkeit und Unerkennbarkeit seine eigene Existenz, die Notwendigkeit also, dass es bestrafen muss, vergilt. »Das Gericht über den Fragenden« ist also vielleicht gar nicht das Gericht (das Urteil) eines Gerichts (irgendeines Gremiums), das Urteil, das die Fragenden heimsucht, besteht vielmehr in der Existenz (oder Macht) der unerkennbaren (zweideutigen?) Rechtsinstanz. Hier wäre es noch anzumerken, dass – wie aus dem Gleichsetzen der Exzitierung des »richtenden Wortes« mit der eigentlichen Schuld zumindest implizit folgt – dieses Gericht nichts anderes zu sein scheint, als die paradiesische Sprache vor dem Sündenfall – aus der Perspektive des Menschen nach dem Sündenfall: das richtende Wort ist die Manifestation einer reiner medialen Sprache in der semiologischen Sprache der Mittel! Das zweite wichtige Moment dieser Argumentation liegt darin, dass Benjamin diese paradiesische, unmittelbare, nicht-semiologische Sprache unter anderem mit dem Attribut »rein« versieht: mit dem Sündenfall tritt der Mensch »aus der reinen Sprache des Namens« heraus, er verletzt »die Reinheit des Namens«. Dies deutet darauf hin, dass der Begriff »reine Sprache« diejenige Sphäre bezeichnet, aus der das richtende Wort exzitiert wurde, wo es also noch keine Spaltung zwischen Sprache und Erkenntnis und folglich keinen Bedarf auf Rechtsurteile gab. Die Frage, die an diesem Punkt auf der Hand liegt, könnte lauten: wie lässt sich die Existenz dieser Dimension der reinen Sprache in der Welt der menschlichen Erkenntnis bezeugen, die in der obskuren Wildnis lauter Zeichen und Mittel herumirrt? Benjamin hat, wie eine andere überkommentierte Schrift aus dem Frühwerk bezeugt, in der Übersetzung einen Zusammenhang gesehen, in dem eine spezifische Erscheinung der »reinen Sprache« in der Sprache zu beobachten ist.43 Hier ließe sich, wie bekanntlich durch das Beispiel der gleichbedeutenden französischen bzw. deutschen Wörter »Brot« und »pain« illustriert werden soll, eine Art »Unergänztheit« der Sprachen feststellen, und zwar in der Spannung zwischen der »Art des Meinens« und dem »Gemeinten«, was aus der Verschiedenheit der Sprachen folgt (die im vorhin behandelten
43 Zu Synonymen und Kontexten des Begriffs der »reinen Sprache« bei Benjamin s. J. Hagestedt: Reine Sprache, S. 43-63.
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Essay übrigens ebenfalls auf den Sündenfall zurückgeführt wurde). In ihnen (d.h. in den Sprachen im Allgemeinen) »ist ihr Gemeintes niemals in relativer Selbständigkeit anzutreffen«, im Gegensatz zum Falle ihres Aufeinandertreffens, wo die »Arten des Meinens« (also »Brot« und »pain«) einander sozusagen ergänzen, und zwar zum »Gemeinten«.44 Das (also die Auflösung der Spannung zwischen beiden) manifestiert sozusagen die reine Sprache, und da Benjamin dies eben am Beispiel der Mannigfaltigkeit der Sprachen und der Übersetzung veranschaulichen will, bedarf es keiner besonderen Erklärung, weshalb er wenig später so formulieren muss, dass reine Sprache »in den Sprachen verborgen« oder »in fremde gebannt ist« bzw. weshalb ihr Hervortreten am »messianischen Ende ihrer Geschichte« bzw. ihre »Erlösung« in der Übersetzung verortet wird.45 »In dieser reinen Sprache, die nichts mehr meint und nichts mehr ausdrückt, sondern als ausdrucksloses und schöpferisches Wort das in allen Sprachen Gemeinte ist, trifft endlich alle Mitteilung, aller Sinn und alle Intention auf eine Schicht, in der sie zu erlöschen bestimmt sind« (herv. ZKSz).46 In der reinen Sprache erfolgt also die Selbstauslöschung instrumentaler (Sinn tragender, intentionaler, ausdrucksvoller) Sprache, die Leistung der Übersetzung liegt dabei (ähnlich wie die des »zerstückelnden, dissoziierenden Prinzips der allegorischen Anschauung« beim späteren Benjamin47) gerade darin, diese (im Grunde genommen:) kritische, zergliedernde, vernichtende Gewalt in der Sprache auszulösen oder zu entfalten.48 Die vernichtende »Erlösung« der Sprache durch Übersetzung läuft aber – wie es laut Benjamin Hölderlins Sophokles-Übersetzungen exemplifizieren – Gefahr, den Sinn vollständig aufzugeben, und die einzige Möglichkeit der »Übersetzbarkeit«, wo Sinn das Hervorrufen der reinen Sprache nicht blockiert, wo also »der Text unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn […] der wahren Sprache
44 Vgl. W. Benjamin: GS IV/1, S. 14. Der Begriff Mitteilung bezieht sich laut Menke auf die Ebene der »Art des Meinens«, vgl. B. Menke: Sprachfiguren, S. 60. 45 Für ein interessantes zeitgenössisches Pendant zu dieser Denkfigur, das auch in Hinsicht auf den hier zu behandelnden Essay Benjamins äußerst aufschlussreich sein dürfte, s. eine Formdefinition des jungen Georg Lukács: »Das Formen: das letzte Gericht über den Dingen; das letzte Gericht, das alles Erlösbare erlöst und mit göttlicher Gewalt allem die Erlösung aufzwingt.« G. Lukács: Ästhetische Kultur, S. 24 (Herv. ZKSz). 46 Vgl. W. Benjamin: GS IV/1, S. 19. 47 Vgl. z.B.: »Die zertrümmerte Sprache hat in ihren Stücken aufgehört, bloßer Mitteilung zu dienen.« Ders.: GS I/1, S. 382. 48 Vgl. dazu ferner B. Menke: Benjamin vor dem Gesetz, S. 231-232; W. Hamacher: Afformativ, Streik, S. 348.
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[…] angehört«, scheint der Essay schließlich auf die interlineare und/oder »virtuelle Übersetzung« der »heiligen« Schriften beschränken zu müssen.49 Reine Sprache ist also – abgesehen von der Möglichkeit ihrer heiligen Manifestation und ihres messianischen Kommens – höchstens in ihren Auswirkungen, in Effekten der Unterbrechung oder Zerstörung, als Einbruch in die Sprachen erfahrbar. Sollte diese »reine Sprache« also in der Tat als Modell für »reine Mittel« dienen50, so ist dies vermutlicherweise ausgehend von dem Manifestationscharakter letzterer zu begründen, d.h. von der Annahme, das diese – wie Benjamin mehrfach hervorhebt – auf gewisse Weise über irgendwelche Sprachlichkeit verfügen müssen. Beschränkt man diese Annahme auf Fälle der »Manifestation«, so liegt eigentlich die Folgerung nahe, dass in den reinen Mittel eben diese »Sprachlichkeit« sich manifestiert. Agamben erklärt das am treffenden Beispiel der im strengen Sinne nicht sprachlichen »Geste« (in der Geste zeige sich das »In-der-Sprache-Sein des Menschen als reine Mittelbarkeit«51), ferner könnte man auch in diesem Zusammenhang auf den Zornausbruch hinweisen. Dieser kann sich zwar als reines Mittel von allen möglichen Zwecken losreißen, wird dadurch jedoch nicht von jedem Moment des Ausdrucks oder der Kommunikativität befreit: auch in höchst selbstreferentiellen Wutanfällen, die zu denken sind, wird Gewalt wohl nicht ohne eine Art Ausgerichtetheit auskommen können (Man könnte hier an die Ausführungen des Bachtingefährten Vološinov zur »Gestikulationsmetapher« denken, z.B. an den Fall, wenn man »drohenden Blickes ins Nichts starrt«!52). Wo ist aber in solchen Manifestationen der Gewalt die Spur einer »reinen Sprache« aufzufinden? Der Text von Zur Kritik der Gewalt ist in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig. Sprache wird hier als eine für Gewalt unzugängliche Sphäre (zugleich als »die eigentliche Sphäre der ›Verständigung‹«) erwähnt (192). Die vorgeführten Beispiele für eine »Kultur des Herzens« (»Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen«) verweisen auf »die reinen Mittel der Übereinkunft« als »subjektive Voraussetzung« dieser, ihre »objektive Erscheinung« wird von Benjamin statt unmittelbarer Konflikte zwischen Menschen in der Übereinkunft über Sachen und Güter erkannt (191-192). Unter den Formen letzterer sind – wie früher erwähnt – auch Lüge und Betrug zu finden, die sich jedoch kaum vollständig mit dem Begriff der reinen Sprache vereinen lassen, und zwar nicht aus
49 Vgl. W. Benjamin: GS IV/1, S. 21. 50 Vgl. A. Haverkamp: Gewalt und Gerechtigkeit, S. 165-166. 51 G. Agamben: Noten zur Geste, S. 60-61. 52 V. Vološinov: Slovo v žizňi, S. 255.
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moralischen Gründen, die in diesem Zusammenhang wohl irrelevant sind, sondern deshalb, weil sie ohne die Voraussetzung, die »Art des Meines« vom »Gemeinten« oder eben Mitteilung vom Sinn trennen zu können, kaum durchzuführen sind.53 Benjamin verlässt schließlich das Problem von Sprache und der Sphäre der gewaltfreien Übereinkunft zwischen Menschen, um sich zu einem viel offener politischen Gebiet, dem des Generalstreiks hinzuwenden, mit der Bemerkung, dass es im Falle des letzteren nun um »reine Mittel der Politik« (herv. ZKSz) geht, die eher nur als »Analogon« zu den reinen Mitteln der friedlichen Übereinkunft zu denken sind. Mehr als das, also mehr als eine Analogierelation lässt sich auch zwischen reinen Mitteln und reiner Sprache kaum ausmachen. In diesem Zusammenhang könnte es also vor allem darum gehen, dass reine Sprache – im Sinne von Benjamins oben zusammengefasster Verwendung des Begriffs – vielleicht gar keine Sprache ist oder zumindest dass sie in der profanen (semiologischen und/oder politischen) Alltagswelt des Menschen sich nicht oder nicht als Sprache, da vielmehr in ihren Wirkungen, also der Zertrümmerung oder Zerstückelung von Sprache (als bedeutungsloses Zeichen?54) manifestiert. Hält man an dieser Analogie fest, so impliziert dies immerhin die Folgerung, dass reine Mittel sich auf eben diese Weise in der politischen Sphäre gewaltsamer Mittel manifestieren dürften. Die Entscheidung darüber, ob reine Mittel in dieser Welt im obigen Sinne in der Tat zugänglich sind (und zwar in wahrhaft reiner Gestalt55) oder eher irgendeine messianische Zielsetzung artikulieren, liegt kaum auf der Hand. Die in gewisser Hinsicht alles entscheidende Frage, ob die politische Philosophie des frühen Benjamins als utopistische und/oder messianische Theologie bzw. Teleologie zu betrachten ist, wird hier kaum hinreichend beantwortet, es liegt aber zu viel an ihr, um sie einfach zu umgehen: ließe sie sich mit ja beantworten, erschiene es als äußerst paradox, über tatsächlich reine Mittel zu sprechen, da diese zumindest in der Vorstellung einer politischen-theologischen Erlösung schließlich doch zu Mitteln eines bestimmten Zweckes werden müssen. Benjamins Theologisch-politisches Fragment, das – auch wenn seine Entstehungszeit umstritten ist – sich aufgrund überzeugender Argumente im Umfeld von Zur
53 S. jedoch die gegenseitige Darstellung Hamachers, wonach eine rein mediale Sprache, die sich selbst mitteilt, die epistemologische Dimension von Wahrheit und Lüge oder »wahr« und »falsch« nicht in Anspruch nimmt: W. Hamacher: Afformativ, Streik, S. 348-349. 54 Vgl. S. Žižek: Violence, S. 169. 55 Vgl. zu dieser Frage T. McCall: Momentary Violence, S. 190-191.
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Kritik der Gewalt verorten lässt56, macht jedenfalls einen unübersehbaren Unterschied zwischen den profanen (politischen) und den »messianischen« Bezügen von Geschichte, indem Benjamin hier nachdrücklich die Behauptung vertritt, dass »das Reich Gottes […] historisch gesehen […] nicht Ziel, sondern Ende« ist: auf der anderen Seite jedoch verortet er den Zielpunkt der Aufgabe einer »Weltpolitik«, die aus der Ordnung des »Profanen« folgt, gerade mit dem Hinweis auf diejenige Analogiebeziehung in der »Ewigkeit eines Unterganges«, die zwischen dieser und der »Unsterblichkeit« bestehen soll.57 Mit Bezug auf die geschichtsphilosophischen Thesen des späten Benjamins könnte dargelegt werden, dass es durchaus eine – vom Einfluss des Marxismus nun kaum unabhängige – Selbstinterpretation (oder Selbstrevision) zu dieser politischen Theologie gibt, die die Leistung der (hier: revolutionären) Gewalt als eine vernichtende Kritik an der »homogene[n] und leere[n]«58 Betrachtung des Ganges der Geschichte auffasst, wo die zeitliche Dimension des Messianischen gerade auf das Moment des Abbruchs oder der Unterbrechung (auf Benjamins viel zitierte »Jetztzeit«, das »Modell« des Messianischen) bezogen wäre, das »einen Begriff der Gegenwart als der ›Jetztzeit‹ [begründet], in welcher Splitter des messianischen eingesprengt sind«59. Die kritische Gewalt der reinen Mittel würde nämlich in diesem Sinne genau in dem Moment die Relationen des Bestehenden
56 Vgl. Benjamin: GS II/3, S. 946-947. 57 Vgl. ders.: GS II/1, S. 203-204. Zur widersprüchlichen Struktur des Textes s. ferner B. Menke: Benjamin vor dem Gesetz, S. 233-234. Paul de Man hat kurz vor dem Schluss seines Vortrags über Die Aufgabe des Übersetzers, d.h. gerade an dem Punkt, wo er sich an der Widerlegung des Benjamin oft zugeschriebenen Messianismus versucht, aus der Übersetzbarkeit der oben zitierten Unterscheidung ein tautologischen Spielchen (»it is not its end but its end«) gemacht: vgl. P.de Man: Conclusions, S. 93. Gleichzeitig zu Zur Kritik der Gewalt arbeitete übrigens Benjamin an weiteren Aufsätzen zur politischen Theorie, die aber verschollen sind oder z.T. gar nicht geschrieben wurden: das Schlusskapitel von einer dieser Schriften sollte Teleologie ohne Endzweck heißen. Vgl. W. Benjamin: GS II/3, S. 943 bzw. ders.: Gesammelte Briefe II, S. 109; ferner U. Steiner: Der wahre Politiker, S. 49, 66. 58 W. Benjamin: GS I/2, S. 701. 59 Ebd., S. 704. Habermas stellt Benjamins Begriff der »reinen Gewalt« mit dieser geschichtlichen Unter- oder Durchbrechung in Zusammenhang, vgl. J. Habermas: Bewusstmachende oder rettende Kritik, S. 213-214. Zum Problem der Kontinuität zwischen dem frühen (Zur Kritik der Gewalt, Theologisch-politisches Fragment) und dem späteren Benjamin (Über den Begriff der Geschichte) in dieser Hinsicht s. A. Haverkamp: Gewalt und Gerechtigkeit, S. 166-167.
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unterbrechen, in dem sie die temporale, jedoch in die Kontinuität der Zeit einbrechende Jetztzeit auf eine außerzeitliche Präsenz stoßen lässt. Solche »Jetztzeit« würde daraus folgend die Hypothese eines Stillstandes (ZumStillstand-Kommens) von Zeit begründen (»den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«60), welcher – als eine nichtorganische und nichtlineare Konstellation von Zeit – nicht unbedingt eine ähnlich teleologische Ausgerichtetheit in sich tragen muss, wie das messianische »Ende« geschichtlicher Zeit. Das »Messianische« ist also vielleicht gar kein Endzweck der Kritik, sondern bezeichnet vielmehr den kritischen Effekt, der die Unterbrechung eines organischen geschichtlichen Musters (wie z.B. die Zyklen der wechselseitig aufeinander folgenden rechtsetzenden und rechtserhaltenden Gewaltarten) auslöst. Diese Problematik dürfte auf einen der Schwerpunkte der aus der Sicht des frühen Benjamins mehr oder weniger zeitgenössischen messianischen und/oder revolutionären Diskurse zurückgeführt werden, wie es am klarsten seine Hinweise auf Sorels Streikbegriff darlegen. Das Dilemma, ob die Möglichkeit eines utopischen, auf den Grundlagen der Ethik des reinen Willens aufgebauten Staates in der politischen Zukunft oder vielmehr in einer Art »Ewigkeit« eines Ideals anzusiedeln ist, ist ebenfalls bei den Autoren, die im Gewaltessay zitiert werden, aufzufinden, vor allem bei Cohen61, während Benjamin in Bezug auf die Frage nach dem Wesen sogenannter »höherer Ordungen«, die die Politik der reinen Mittel begründen sollen (welche im Essay ohne Antwort bleibt), auf ein Werk Erich Ungers verweist (193), der die Politik der »unkatastrophalen Ordnungen« von der Voraussetzung einer metaphysischen »Einheit« her bestimmt, die er von der Sphäre der menschlichen Erfahrung zwar abgrenzt, dies aber vor dem Hintergrund der Feststellung, dass diese »Nicht-Erfahrung« nicht prinzipiell oder »logisch«, sondern bloß im historischen Sinne (also quasi nur vorläufig) metaphysisch, d.h. eine »gleichsam-historische Nicht-Erfahrung« ist62. Als vielleicht noch maßgebender erscheint in dieser Hinsicht jedoch Blochs Geist der Utopie, dessen erste Fassung 1918 veröffentlicht und von Benjamin in einer Rezension besprochen wurde, die aber verschollen ist. In Zur Kritik der Gewalt ist zwar kein regelrechter Hinweis auf Bloch zu finden, aber nah am Schluss des Textes taucht die messianische Kategorie des »Nochnichtseins« auf
60 W. Benjamin: GS I/2, S. 702. 61 H. Cohen: Ethik des reinen Willens, S. 568. 62 Vgl. E. Unger: Politik und Metaphysik, S. 21-25.
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(201)63, während Benjamin im Theologisch-politischen Fragment das größte Verdienst von Blochs Werk darin sieht, »die politische Bedeutung der Theokratie mit aller Intensität geleugnet zu haben«. Ob dies tatsächlich als die einzig mögliche Beurteilung von Geist der Utopie zutrifft, soll hier unentschieden bleiben64: parallele Stellen, die das Messianische ähnlich wie im genannten Fragment als die endgültige, rein vernichtende Beendung der geschichtlichen und/oder politischen Welt bzw. des Bestehenden beschreiben, sind bei Bloch jedenfalls zu finden, er definiert ja den messianischen »Augenblick« (der sich bei Bloch unter anderem in der den Menschen selber bestimmenden »unkonstruierbaren Frage« und durch diese im Ernstwerden der Dinge anmeldet) genau in diesem Zusammenhang als »Ernstfall«, »der, einmal eingetreten, nichts geringeres als das unausweichliche Ende dieser Welt mitsamt ihrer Büchern, Kirchen, Systeme bedeutet«65. Schließlich wäre hier ein weiterer Schüler Cohens zu erwähnen, nämlich Rosenzweig bzw. sein Stern der Erlösung, der im gleichen Jahr wie Benjamins Essay erschienen ist und in seinen Überlegungen zur staatlichen Gewalt durchaus an der Fragestellung von Zur Kritik der Gewalt rührt. Nach Rosenzweig besteht der »Sinn« aller Gewalt in diesem Zusammenhang gerade in der Rechtsetzung: das Paradox, das sich hierin – und zwar als eine Variante des Benjaminschen Doppels von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt – zeigt (da Recht »seinem Wesen nach altes Recht ist«, müssen die Kriege und Revolutionen des rechtsetzenden Staates den Moment, der das neue Recht begründet, immer wieder als Ewiges zur Geltung bringen), wird hier in die kritische Perspektive des Messianismus des »ewigen Volkes« gestellt: da dieses über den Zugang zur »wahren Ewigkeit« verfügt, steht es ihm als einzigem zu, das Ganze des Lebens mit einer noch nicht gekommenen Erlösung zu versöhnen. Im Lichte dieses Messianismus erscheint nicht nur die »Weltgeschichte«, sondern auch der rechtsetzende »Staat« (also beide Instanzen des ewigen Kreislaufs von Gewalt und Recht) als sinnlos oder der Perspektive der Erlösung fremd.66 An diesem Punkt soll nun die Frage der Beziehung zwischen mythischer und göttlicher (reiner) Gewalt, d.h. die Frage nach Benjamins letzter und entscheidender Unterscheidung wieder aufgegriffen werden. Benjamin beleuchtet diese Unterscheidung mit zwei Beispielen. Mythische (also unmittelbare, dennoch
63 Vgl. E. Bloch: Geist der Utopie, S. 343. Zur Wirkung Blochs auf den frühen Benjamin s. U. Steiner: Der wahre Politiker, S. 50-55. 64 Für Zweifel s. z.B. Bolz: Auszug, S. 23. 65 E. Bloch: Geist der Utopie, S. 249. 66 Sie dazu F. Rosenzweig: Der Stern, S. 370-372.
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aber instrumentale) Gewalt wird durch die Niobesage veranschaulicht (197), die Sühne der mythologischen Königin, die mit ihrem reichen Kindersegen prahlend Letos Zorn ausgelöst hat, was von Apoll und Artemis, den Kindern letzterer, dadurch gerächt wird, dass sie statt der hochmütigen Mutter, die am Leben bleiben soll, ihren Kindern »den blutigen Tod« bringen. In Benjamins Interpretation ist diese Rache eigentlich keine »rechsterhaltende« Gewalt, keine »Strafe«, nicht einmal »zerstörend« ist sie, richtet sie doch »viel mehr ein Recht auf, als für Übertretung eines bestehenden zu strafen«. Ferner ist es dieses neue Recht, das (gleichsam nachträglich) Niobe für schuldig erklärt – gerade darin liegt die mögliche Erklärung für die irritierende, aber nur scheinbare Inkonsequenz der Handlung, dass statt den unschuldigen Kindern sie am Leben bleiben wird, ein Leben »verschuldeter als vordem«, ein Leben »als ewig stummer Träger der Schuld«. Die Gewalt, die das neue Recht einführt (die Vernichtung der Kinder) wird sozusagen das Subjekt ins Dasein rufen, das schuldige »Rechtssubjekt« (Niobe), das zugleich diese Gewalt, die sie nicht verübt hat, verantworten muss. In der mythischen Gewalt wird also nicht nur die Macht erzeugt, die den Moment der Gewalt, auf dem sie gründet, sozusagen konserviert67, sondern auch das Subjekt, das dann (für all das?) büßen muss.68 Niobe fordert, wie auch die »großen Verbrecher«, die früher im Essay angeführt wurden und die hier von der mythischen Person des Prometheus repräsentiert sind, in Wahrheit – »mit würdigem Mute« – das »Schicksal« heraus, was nicht nur das genau Verständnis der »Schicksalhaftigkeit« mythischer Gewalt, sondern die Antwort auf die Frage verspricht, was »Schicksal« überhaupt ist. Schicksal – laut Derrida »ein Schlüsselbegriff des Textes, aber auch einer der dunkelsten«69 – kommt an zwei verschiedenen Stellen in Benjamins Essay vor, in den Folgerungen aus dem Beispiel der Niobesage bzw. ein gutes Stück früher, in der Analyse des »drohenden« Momentes, das in der rechtserhaltenden Funktion von Gewalt steckt (187-189). Hier schreibt Benjamin darüber, dass das Recht eine »schicksalhafte Ordnung« begründet und behütet, die im Wesentlichen als das Bestehende (188) zu begreifen ist, da »es nur ein einziges Schicksal gibt und […] das Bestehende […] unverbrüchlich seiner Ordnung angehört.« Die Bedrohung des Schicksals ist, das ist leicht einzusehen, verschieden von der des Gesetzes, wo dem Verbrecher immer eine Chance bleibt zu entkommen, im
67 Vgl. dazu T. McCall: Momentary Violence, S. 193-194. 68 Dieser Zusammenhang der Interpretation der Niobesage wurde äußerst überzeugend in Judith Butlers Aufsatz dargestellt, vgl. J. Butler: Critique, Coercion, bes. S. 208. 69 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 88. Zur Deutung des Begriffs bei Benjamin s. J.H. Miller: Fate. Vgl. ferner J. Butler: Critique, Coercion, S. 202 bzw. L. Jäger: Schicksal.
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ersteren Falle hingegen liegt es einzig am Schicksal, »ob ihm der Verbrecher verfällt«. Den unbegründbaren Ursprung bzw. die »Unbestimmtheit« des Rechts führt Benjamin genau auf diese Schicksalhaftigkeit zurück, er definiert Recht sogar als »schicksalhaft (also im obigen Sinne: unausweichlich, ohne Alternative – ZKSz) gekrönte Gewalt«. In diesem Zusammenhang zeige sich dieser schicksalhafte Ursprung des Rechts bzw. »das Schicksal in eigner Majestät« am deutlichsten in der Todesstrafe, d.h. »in der höchsten Gewalt, in der über Leben und Tod«, da in dieser Gewalt Rechts sozusagen sich selber bekräftigt, und zwar auch in dieser Hinsicht dadurch, dass sie vielmehr »das neue Recht« statuiert, statt sich einfach auf bloße Vergeltung einzuschränken. Eine der möglichen Konklusionen aus der Niobegeschichte liegt in der vorhin bereits erwähnten Erkenntnis, die die Kritik der mythischen Gewalt begründen soll: nämlich dass diese selbst nach der Rechtsetzung nicht auf Gewalt verzichten wird, da Gewalt sich auch darin unmittelbar manifestiert, was (die »Macht«) durch sie erzeugt wurde. Demjenigen also, auf den die mythische Gewalt niederschlägt, wird weniger eine Strafe erteilt, sondern vielmehr die »Sühne« (199), die von den Sündern als eine Art »Unglück« erlebt wird, und dass Benjamin sich dabei auf den Fall vom ahnungslosen Überschreiten von festgesetzten Grenzen bzw. auf den Grundsatz moderner Gesetzgebung beruft, wonach die Unkenntnis des Gesetzes nicht von der Strafe befreit, legt die Folgerung nahe, dass diese »planvolle Zweideutigkeit« des Schicksals unmittelbar der Rechtsetzung, der Aufstellung einer Rechtsordnung innewohnt, die ja – als das Bestehende – deshalb als schicksalhaft erscheint, weil sie durch ihr bloßes Bestehen diejenigen zu Sündern macht (und auf sie niederschlägt), die sie bestraft. Cohens hier angeführte Bemerkung zur antiken Vorstellung vom Schicksal (nämlich dass es »seine Ordnungen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und herbeizuführen scheinen«70) macht das noch deutlicher: die Rechtsordnung ist durch ihre bloße Existenz, durch ihr Bestehen schicksalhaft, weil es sie selber ist, die die Taten – zumindest als Straftaten – ermöglicht, die sie vergelten wird. In einer etwas früher geschriebenen, aber ebenfalls 1921 publizierter Arbeit versuchte Benjamin, die Begriffe von »Schicksal« und »Charakter« zu unterscheiden, u.a. dadurch, dass er – etwas nietzscheanisch und stark kafkaesk – im Recht diejenige »Ordnung« identifiziert hat, die statt Glück und Unschuld ausschließlich von den Kategorien des Unglücks und der Schuld (also von den »Gesetzen des Schicksals«) bestimmt ist, vor allem jedoch von der ersteren, da es »nachweisbar ist […], dass jede rechtliche Verschuldung nichts ist als ein Unglück«. Recht verurteilt nämlich »nicht
70 Die Originalstelle s. H. Cohen: Ethik des reinen Willens, S. 343.
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zur Strafe, sondern zur Schuld«, und ist gerade in diesem Sinne schicksalhaft, d.h. »Schicksal ist der Schuldzusammenhang des Lebendigen«, was sich »in der Betrachtung eines Lebens als eines Verurteilten« zeige, »im Grunde als eines, das erst verurteilt und darauf schuldig wurde«. Ein wichtiges Moment der Argumentation, das an diesem Punkt jedoch vorerst bloß zu registrieren ist, liegt hier darin, dass Benjamin diesen »Schuldzusammenhang« mit »der natürlichen Verfassung des Lebendigen« gleichsetzt und wenig später gerade auf diesem Weg bei der Einschränkung ankommt, wonach das Schicksal im Gerichtsurteil nicht den Menschen selber, sondern »das bloße Leben in ihm« trifft.71 Soll also die Schicksalhaftigkeit mythischer Gewalt den Menschen notwendigerweise (unbegründbar, unberechenbar, unausweichlich) zur Buße verurteilen, und zwar genau dadurch, dass sie ihn zu einem (schuldigen) Rechtssubjekt macht, so muss ihr also in der Tat eine (reine, göttliche) Gewaltart gegenübergestellt werden, die rechtsvernichtend und »entsühnend« ist (also von der schicksalhaften Last von Sühne bzw. Büße befreit72), eben weil sie das Recht selber, ja sogar Gewalt, die mythische Gewalt als solche vernichtet. Ob es hier um die von Max Weber eher skeptisch angesehene Idee einer »letzten Gewalt« geht, »die dann den Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde«73, ist eine Frage, die hier schwierig zu beantworten wäre, denn dazu müsste man die – bei Benjamin übrigens nicht von vornherein auszuschließende – begriffliche Möglichkeit einer gegenstands- und zwecklosen Vernichtung überlegen (solche Vernichtung würde vielleicht imstande sein, in der Tat jede Gewalt zu vernichten74), Benjamins Unterscheidung liefert aber in dieser Hinsicht ziemlich zweideutige Gesichtspunkte. Göttliche Gewalt kann nämlich – davon war schon die Rede – auch als Exzess von Gewalt dargestellt werden, der die Rechtsordnung bedroht, die diese Gewalt manifestiert, ohne sie instrumentalisieren zu können (eine Bedrohung, die auf die des aus dem Paradies »exzitierten« richtenden Wortes erinnern könnte, das in der Parabel von Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen die Sünder trifft). Benjamin
71 Vgl. dazu W. Benjamin: GS II/1, S. 174-175. Der Begriff eines »bloßen Lebens«, das »am Menschen als Schuld sich bekundet«, ist auch noch im WahlverwandtschaftenEssay zu finden: ders.: GS I/1, S. 139. 72 Dies ist (u.a.) ein Punkt, an dem bei sich Derrida, der das Wort als »expiation« (also im entgegengesetzten Sinne, nämlich in der Bedeutung von ›Sühne‹ oder ›Buße‹) übersetzt, ein Missverständnis einschleicht. Vgl. dazu B. Menke: Benjamin vor dem Gesetz, S. 255. 73 M. Weber: Politik als Beruf, S. 553. 74 Vgl. García Düttmann: Die Gewalt der Zerstörung, S. 296.
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bleibt aber nicht einfach bei der Feststellung stehen, dass die Vernichtung von mythischer Gewalt vielleicht gerade durch die in ihr manifestierte reine Gewalt ermöglicht wird. Die Unterscheidung zwischen den beiden Arten von Gewalt wird nämlich in einer weiteren, und zwar äußerst irritierenden Opposition, in der Gegenüberstellung von blutiger und unblutiger Gewalt konkretisiert (es ist die letztere, die Derrida auf das Schreckensbild des Holocaust erinnert hat). Unblutige Gewalt wird dabei durch die Geschichte der gegen Mose und Aaron revoltierenden und vom Gott vernichteten »Rotte Korah« aus dem Alten Testament (4 Mose 16,117,15) illustriert, die möglicherweise durch Hermann Bahrs Roman Die Rotte Korahs (1919) ins Blickfeld Benjamins geraten war.75 Ein – darauf hat auch Samuel Weber hingewiesen76 – äußerst zweideutiger Bibeltext freilich, der auch nicht in jeder Hinsicht die Parabelfunktion erfüllt, die Benjamin ihm zuschreibt: die Aufruhr bricht zum Teil um (oder gegen) die (politische) Repräsentation einer Gemeinschaft aus (»Ihr macht’s zuviel. Denn die ganze Gemeinde ist überall heilig, und der HERR ist unter ihnen; warum erhebt ihr euch über die Gemeinde des HERRN?« – 4 Mose 16,3, zitiert nach der Lutherbibel 1912), Gottes Rache erfolgt nicht ganz unangekündigt, trifft nicht nur den unmittelbaren Kreis der Rebellen (4 Mose 16,35 bzw. 17,14), nimmt mehrere verschiedene – wenn auch jeweils unblutige – Formen auf (Verschlingung von der Erde, Feuer, Plagen) und führt schließlich zu neuen Trennungen oder Unterscheidungen (4 Mose 16,19; 17,10). Benjamin jedenfalls, der die Geschichte nach dem Muster Cohens – wenn auch in einer deutlich verschiedenen Auslegung – zur rechtstheoretischen Parabel erhoben hat77, scheint sich ausschließlich auf den unblutigen Charakter der Strafe zu konzentrieren, dessen Bedeutung gerade durch seine Ausführungen zur schicksalhaften, mythischen Gewalt zum Vorschein kommt. Blut nämlich ist Symbol, und zwar »Symbol des bloßen Lebens« (199), und zu diesem bloßen Leben stellt hier Benjamin – ohne besondere Erklärung, aber im
75 Zu den möglichen Quellen Benjamins und der Deutung der Figur von Korach als »falschem Messias« s. P. Bojanić: God the Revolutionist, S. 200-207. Vgl. ferner M. Blumenthal-Barby: Pernicious Bastardizations, S. 743-744. 76 S. Weber: Dekonstruktion, S. 191-193. 77 Für Cohen stellt die Geschichte die rechtliche-ethische Entwicklung im Übergang von der mythischen zur jüdischen, monotheistischen Religion dar, wo es vor allem auf das Verbot des Blutvergießens (z.B. der Blutrache) ankommen soll, vgl. H. Cohen: Religion der Vernunft, S. 514. Für Details s. A. Haverkamp: Gewalt und Gerechtigkeit, S. 175-176, 183-184. Zu den Gegensätzen zwischen Benjamins und Cohens Auffassung von Mythos s. W. Menninghaus: Schwellenkunde, S. 18.
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Großen und Ganzen die Thesen von Schicksal und Charakter aufgreifend – fest, dass seine ursprüngliche Verschuldung aus der Tatsache entspringe, dass dieses bloße Leben der mythischen Gewalt des Rechts unterworfen ist (oder umgekehrt: diese Unterworfenheit entspringt aus seinem ursprünglichen Schuldigsein): »die Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens [überantwortet] den Lebenden unschuldig und unglücklich der Sühne […], die seine Verschuldung ›sühnt‹« (200). Der Satz78 ist jedoch an diesem Punkt noch weit vom Ende entfernt und zerrüttet durch einen fast anakoluthartigen Bruch den gerade erst ausgebauten Gegensatz zwischen blutiger und unblutiger Gewalt. An der Stelle nämlich, wo Benjamin die Ergänzung hinzufügt, dass diese Sühne »auch wohl den Schuldige entsühnt, nicht aber von einer Schuld, sondern vom Recht«, schreibt er – wenn auch in einem etwas unterdeterminierten Zusammenhang – diese Leistung der Entsühnung gerade der »Sühne« zu: Sühne (zu der mythische Gewalt gezwungen hat) fällt also mit Entsühnung (durch göttliche Gewalt, die die mythische Gewalt vernichtet) zusammen, da diese eben in der Vernichtung des bloßen Lebens erfolgt. Dieser Widerspruch lässt sich nur durch die Unterscheidung auflösen, die Benjamin in Schicksal und Charakter zwischen Mensch und »bloßes Leben« einführt: trifft das Schicksal statt dem Menschen sein »bloßes Leben«, so wird um diesen Preis, d.h. die »Sühne« des letzteren der »Lebende« vom Recht (vielleicht genauer: von der Last der Unterworfenheit, die ihn diesem ausliefert) befreit! Sollte nun, wie dies aus dem nächsten Satz eindeutig hervorgeht, die »Sühne« in der Tat die Vernichtung des »bloßen Lebens« bedeuten (»Denn mit dem bloßen Leben hört die Herrschaft des Rechtes über den Lebendigen auf.«), so scheint dies die eigentliche Bedingung der Vernichtung der mythischen Ordnung von Recht und/oder Gewalt zu sein. Es liegt sogar die Folgerung nahe, dass die beiden Arten von Gewalt vielleicht nur verschiedene Seiten des gleichen Prozesses darstellen: was von der einen Seite als die Vernichtung des »bloßen Lebens« erscheint, ist von der anderen Seite her die Vernichtung der mythischen Rechtsordnung. Um den Unterschied zu bewahren, muss Benjamin also irgendein Plus finden, zu dem – wenn auch nur in der Form von Vernichtung – nur die göttliche Gewalt Zugang hat und das darüber hinaus die Opposition blutig/unblutig nicht umstürzt. Dieses Plus meldet sich – obwohl auf eine etwas zweideutige Weise – erwartungsgemäß gleich in der folgenden
78 »Die Auslösung der Rechtsgewalt geht nun, wie hier nicht genauer dargelegt werden kann, auf die Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens zurück, welche den Lebenden unschuldig und unglücklich der Sühne überantwortet, die seine Verschuldung ›sühnt‹ – und auch wohl den Schuldigen entsühnt, nicht aber von einer Schuld, sondern vom Recht.« (W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 199-200).
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Distinktion an, in der Behauptung Benjamins, wonach mythische Gewalt deshalb blutig sein muss, weil sie »um ihrer selbst« (schicksalhaft?) auf das »bloße Leben« gerichtet ist (auf Grund des bisher Gesagten könnte dies sogar weitergeführt werden: weil »bloßes Leben« notwendigerweise und/oder schicksalhaft genau erst in dieser Unterworfenheit unter die Gewalt existiert), während göttliche Gewalt auf der anderen Seite »reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen ist«. Leben ist, aus der Perspektive dieser reinen Gewalt, die im gewissen Sinne Exzess der instrumentalisierten Gewalt ist, ein Exzess des Lebens oder des Lebendigen, der sich nicht auf »bloßes Leben« reduzieren lässt.79 Durch diese Abgrenzung wird das Wesen der reinen Gewalt jedoch immer noch nicht ausgesprochen deutlich gemacht. Da Benjamin sie über alles Leben ausdehnt, ist sie als umfassender vorzustellen als die blutige mythische Gewalt, und Benjamins unmittelbar darauf folgende Parallele (erzieherische Gewalt – 200) schränkt diese Vorstellung nur insofern ein, als er nun die »Seele« (es ergäbe nicht sehr viel Sinn, diese hier nach platonischer Anweisung zu deuten) aus dem alles umfassenden Kreis der Vernichtung herauszieht.80 Nachdem Benjamin relativ lange beim Problem des Gebots »Du sollst nicht töten« verweilt und Gesichtspunkte gesucht und gefunden hat, die Möglichkeit zu entkräften, durch den Verweis auf dieses Gebot die »Ausdehnung« der reinen Gewalt in Frage zu stellen, zieht er den Schluss, dass die allgemeine Verurteilung jeder Tötung von Menschen, die These der »Heiligkeit des Lebens […] falsch, sogar unedel ist« (201), zumindest wenn sie auf das »bloße Leben« bezogen sind. Der Kontext dieser Argumentation (Benjamin verweist u.a. auf das »animalische« und »vegetabile« Leben, sogar auf die »Einzigkeit« der »leiblichen Person« des Menschen) legt die Folgerung nahe, dass es kaum möglich ist, in diesem Diskurs zwischen »bloßem Leben« und biologischem Dasein zu unterscheiden, für beide steht Blut als »Symbol«. Man sollte hier gleich hinzufügen, dass Blut hier also bloß (?) Symbol ist, und in diesem Zusammenhang lässt es sich in der Tat dafür argumentieren, dass Unblutigkeit auf der anderen Seite vielleicht gerade als »Nicht-Symbolik« zu deuten sei.81 Es eröffnet sich hier jedoch auch eine andere Deutungsmöglichkeit: wenn es in reiner Gewalt um die blut-lose Vernichtung, »auf unblutige Weise letale« Zerstörung des »bloßen Lebens« geht, dann könnte das vielleicht auch bedeuten, dass reine Gewalt, während sie »alles Leben«, ja selbst Recht von der Bühne fegt, etwas doch bewahrt (oder aufhebt) – sonst hätte z.B. Benjamins Bemerkung, wonach diese grenzenlose Zerstörung »um des
79 Vgl. dazu S. Žižek: Violence, S. 168. 80 Vgl. zu dieser Stelle J. Butler: Critique, Coercion, S. 210-211. 81 S. B. Menke: Benjamin vor dem Gesetz, S. 238-239.
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Lebendigen willen« erfolgt, kaum einen Sinn. Das wäre im Kontext der jüdischkabbalistischen theologischen Tradition, die Benjamin über Scholems Arbeiten gekannt und die seinen Essay stark beeinflusst hat, nicht einmal inkonsequent, da die Art von Gewaltmanifestation, um die es Benjamin hier geht und die ja vielmehr den Zorn Gottes, als eine Art Strafe manifestieren soll, dieses Moment von Aufhebung oder Hinauszögerung kaum entbehren mag.82 In dieser Hinsicht ist es ziemlich interessant, dass Korach und seine Leute – obwohl Benjamin das nicht einmal erwähnt – in der Geschichte aus dem Alten Testament ja lebendig von der Erde verschlungen werden (4 Mose 16,33), d.h. etwas, noch dazu etwas Lebendiges (wenn auch vielleicht auf unheimliche Weise Lebendiges) von ihnen zurückbleibt. Benjamin hält hier eindeutig daran fest, dass die besagte These erst bei einer auf das »bloße Leben« beschränkten Definition des Seins falsch und unedel sein muss, dass also diese Behauptung auf »den unverrückbaren Aggregatzustand von ›Mensch‹« bzw. auf die Bedrohung eines »Nichtseins« des Menschen (was mit einem Nichtsein des »bloßen Lebens« nicht zu verwechseln ist) bezogen nicht mehr zutrifft.83 Dieser »Aggregatzustand«, hier wohl als eine Art mengenartiger Zustand zu verstehen, als eine Art Anhäufung, Ansammlung oder Akkumulation, impliziert in diesem Zusammenhang die Unmöglichkeit, den Menschen als ein Ganzes endgültig (quasi also dieses Ganze von der Gesamtheit oder der Akkumulation der vorangehenden Teilen her84) zu bestimmen. Er ist zwar weiter gefasst als das »bloße Leben«, bezeugt jedoch zugleich das Nichtsein (Nochnichtsein?) jedes wesentlicheren Begriffs vom »Menschen« oder vom »Lebendigen«: »Der Mensch fällt eben um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Leben des Menschen, so wenig mit dem bloßen Leben in ihm wie mit irgendwelchen andern seiner Zustände und Eigenschaften«. Das »Heilige« am Menschen bezieht sich auf diesen unbestimmten oder unbestimmbaren Begriff (und nicht auf seine einzelnen Zustände, die ebenso wenig heilig sind wie »sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches Leben« – 201-202.), den Benjamin hier erneut als »Leben« beschreibt, aber als dasjenige Leben, »welches identisch in Erdenleben, Tod und Fortleben liegt«. Dieses Leben scheint also von vornherein nicht auf die Weise zerstörbar zu sein wie ein lebendiger Körper. Die Vertreibung des Ärztestreiks aus dem Bereich der reinen Mittel wird vielleicht
82 Vgl. dazu ebd., S. 249-251, J. Butler: Critique, Coercion, S. 207. 83 »Wenn der Satz sagen will, das Nichtsein des Menschen sei etwas Furchtbareres als das (unbedingt: bloße) Nochnichtsein des gerechten Menschen« W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 201. 84 Zum Begriff s. G. Gángó: Zwischen Geist und Geschlecht, S. 1-2.
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genau in diesem Zusammenhang begründet, da dieser notwendigerweise »blutige« Gewalt sein muss, weshalb seine Folgen auf die Dimension des »bloßen Lebens« beschränkt bleiben werden. Eine unblutige Zerstörung hingegen verschont oder bewahrt vielleicht genau das Leben, das dem »bloßen Leben« gegenübergestellt wurde, und zwar in dem Sinne, dass sie seine Gleichsetzung mit dem »bloßen Leben« verhindert. Ihre »Unblutigkeit« mag vielleicht darin bestehen, dass sie die Deutung von Blut als »Symbol« untersagt (indem sie die Rechtsordnung, die die mythische Gewalt auf das Prinzip der Repräsentation aufgebaut hat, wegfegt), vielleicht ja – obwohl diese Folgerung weiterer Überlegungen bedürfte – gerade dadurch, dass sie die nicht-symbolische Heiligkeit von Blut bewahrt: Rosenzweig hat z.B. in den sogenannten »Blutgemeinschaften«, die er den staatlich-territorial organisierten gegenübergestellt hat (d.h. im »Blut« abgetrennt vom »Boden«) das Privileg des im irdischen Sinne heimatlosen »ewigen Volkes« erblickt, dass es über die unmittelbare Erfahrung der »Ewigkeit« verfügt.85 Das »Heilige« am Menschen, am Leben oder am Lebendigen wird von der göttlichen Gewalt also dadurch bewahrt, dass sie es gerade dem bloßen Leben gegenüber abgrenzt bzw. diesem entreißt: das Schema könnte von ferne an die Idee der reinen Sprache erinnern, die sich in den Sprachen als Einbruch oder Zerstörung durch die Übersetzung offenbart und die die Menge (den Aggregatzustand) der an sich »unergänzten« Sprachen zur »Erlösung« führt. »Bloßes Leben« also ist Leben, das dem Gesetz oder dem Recht ausgeliefert ist: dass Agamben Benjamins Definition des Begriffs, die auf dieser Einsicht gründet, in der politischen und begriffsgeschichtlichen Tradition von »homo sacer« verortet (auch in Benjamins Essay ist ein Hinweis auf diese Tradition zu finden, der die Irrtümlichkeit der modernen Verwendung des Begriffs klarstellen soll86), ist in dieser Hinsicht jedoch nicht ganz einleuchtend. »Bloßes Leben« wird bei Benjamin nämlich dadurch bedroht, dass es dem Recht unterworfen ist, und es finden sich im Essay kaum Spuren der diesem gegenübergestellten Vorstellung eines von der Rechtsordnung behüteten politischen Lebens: in Zur Kritik der Gewalt fällt kein Wort davon, dass Recht eine behütende oder verteidigende Funktion erfüllen könnte bzw. wird diese Funktion auf die Gewaltsamkeit des Bestehenden beschränkt, das sich selbst verteidigt. Agambens auf Schmitts
85 F. Rosenzweig: Der Stern, S. 331-333. 86 Die »Heiligkeit des Lebens« ist deshalb ein »Dogma«, das »wahrscheinlich […] jung« ist, weil »was hier heilig gesprochen wird, dem alten mythischen Denken nach der gezeichnete Träger der Verschuldung ist: das bloße Leben« (W. Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, S. 55).
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Begriff des »Ausnahmezustands« begründete Konzeption der modernen Politik als einer Art »Biopolitik«, die gerade das »bloße« oder »nackte« Leben oder die Macht über dieses politisiert (wodurch die Unterscheidung zwischen Gewalt und Recht aufgehoben wird87), könnte andererseits in diesem Zusammenhang die Tatsache erklären, dass »Ausnahmezustand«, vielleicht eben aufgrund solcher Politisierung des »bloßen Lebens«, für Benjamin vielmehr den Normalzustand der Politik darstellt, denn was aus diesem Aspekt als wirkliche Ausnahme erscheinen könnte, ist nämlich gerade die reine Gewalt, die die (schicksalhafte) Unterworfenheit des »bloßen Lebens« unter das Recht aufhebt und deren messianisches Eintreten (oder Kommen) genau deshalb nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, weil ihre Erscheinung eigentlich mit der der (vielleicht auch »unblutigen«) Gewalt gegen dieses »bloße Leben« zusammenfällt, da sie sich eben in diesem manifestiert. Einer der explizitesten (und vielleicht der kritischsten) Hinweise auf Schmitt bei Benjamin findet sich in seiner viel zitierten VIII. These zur Geschichtsphilosophie: »Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustandes vor Augen stehen«.88 Es fragt sich also, wie zwischen dem Ausnahmezustand, der in den Rechtsnormen aufgedeckt ist, und einem Ausnahmezustand, der in der reinen (göttlichen und/oder revolutionären) Gewalt hervortritt, die ja gerade den ersteren vernichtet, zu unterscheiden ist. Der dementsprechende Begriff der Geschichte, der laut der VIII. These die Positionen »im Kampf gegen den Faschismus« verbessern soll, ist im Essay des frühen Benjamins, wie dies früher dargestellt wurde, in der Geschichtsphilosophie der Gewalt aufzudecken, die die »scheidende und entscheidende Einstellung«, die hier der Kritik der Gewalt oder der Gewalt als Kritik zugeschrieben wird, an die Bedingung einer »Idee« des »Ausgangs« von Geschichte bindet. Solcher Ausgang (der – aufgehobene oder verschobene? – Endzweck der politischen Theologie) besteht in der Unterbrechung der Zirkulation von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt (und daraus folgend im Ende des Rechts, der »Herrschaft des Mythos« und sogar des Staates – 202), und Benjamin scheint
87 Mit Bezug auf Benjamin s. G. Agamben: Homo sacer, S. 76; ferner ders.: Souveräne Polizei, S. 99-101 bzw. J. Butler: Critique, Coercion, S. 214-215. Es stellt sich die Frage, ob Agamben Benjamin vielleicht zu stark aus der Perspektive des religiösen, paulinischen Messianismus Schmitts liest, zum Problem s. neulich B. Britt: The Schmittian Messiah. 88 W. Benjamin: GS I/2, S. 697.
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die Möglichkeit der »revolutionären Gewalt« in der nun reinen und unmittelbaren Gewalt zu erblicken, die jenseits des Rechts erhalten bleibt. Dies stellt aber vielmehr nur »die höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen« dar (202-203). Die nicht jeder Komplikation entbehrenden Formulierungen zum Schluss des Essays zeugen nämlich davon, dass – auch wenn das »nicht gleich […] dringend ist« – die Erkennbarkeit reiner, göttlicher Gewalt, von ihren »unvergleichlichen Wirkungen« einmal abgesehen, gar nicht selbstverständlich gegeben ist, und zwar deshalb nicht, weil »die entsühnende Kraft der Gewalt für Menschen nicht zutage liegt«. Benjamins Überlegungen zeugen hier davon, dass der »wirkliche Ausnahmezustand«, auf den er in der VIII. These hinweist, in dieser Frühschrift in der göttlichen Gewalt verortet ist, erst in Bezug auf diese versagt jede Verallgemeinerung oder jede Regel, die über ihre Möglichkeit oder gar ihre Erkennbarkeit entscheiden sollten: die Bezugnahme auf Gott oder auf das Göttliche hat in diesem Zusammenhang laut Derrida die Funktion, dass dadurch »die irreduktible Besonderheit jeder Situation«89 in Rechenschaft gezogen wird, zu der ja sinngemäß kein Recht mehr Zugang zu verschaffen vermag. Es ist kaum nebensächlich, dass der eigentliche Eckstein der ganzen Argumentation, der laut Derrida die Berührungspunkte zwischen Benjamins Essay und extremistischen politischen Diskursen ermöglicht, genau hierin, also in der restlosen Ausblendung von Gerechtigkeit in der Sphäre des Rechts, liegt. Benjamin setzt sich mit der außerordentlichen, unverallgemeinerbaren Seinsweise göttlicher Gewalt bzw. mit deren Folgen für die (politische) Welt des Menschen in einem äußerst seltsamen Satz auseinander: »Nicht gleich möglich, noch auch gleich dringend ist aber für Menschen die Entscheidung (herv. ZKSz), wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war.« Das in vielen seiner Texte beobachtbare Idiomatische von Benjamins Sprache macht auch diesen Satz einigermaßen zweideutig oder lässt zumindest zwei verschiedene Fokussierungen zu: neben der Frage nämlich, ob in einem bestimmten Fall reine Gewalt in der Tat realisiert war bzw. stattgefunden hat, könnte der Satz auch auf die Entscheidung darüber bezogen gelesen werden, ob die Gewalt, die in einem bestimmten Fall festgestellt wurde, wirklich, wahrhaftig reine Gewalt gewesen ist (aufgrund der grammatischen Gliederung, grammatisch allerdings inkorrekt, könnte ferner aus dem Satz sogar eine dritte, unterdrückte grammatische Möglichkeit herausgehört werden: die Frage, die die Wirklichkeit von Gewalt auf ihre Wirk-lichkeit, d.h. Wirksamkeit hin prüfen möchte – gleich im nächsten Satz verweist Benjamin auf den
89 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 104.
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Ausnahmefall, in dem, theoretisch zumindest, reine Gewalt sich gerade in ihren »unvergleichlichen Wirkungen« erkennbar macht). Wie dem auch sei, die Realisierung und/oder die Erkennung von reiner Gewalt scheint eine Frage der Entscheidung zu sein, einer Entscheidung, die (da sie eigentlich Unentscheidbarkeit darstellt) dem Menschen vollkommen unzugänglich ist. Genau dies bereitet Derrida Sorgen, nicht bloß aufgrund der radikalen (radikal unentscheidbaren) politischen Implikationen, sondern auch deshalb, weil damit sich eine andere, strukturelle Unentscheidbarkeit auftut. Wie erwähnt, hat Benjamin Unentscheidbarkeit (nämlich »die letztliche Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme«) im Bereich der Formen mythischer Gewalt im Wesentlichen als die Unentscheidbarkeit der Gerechtigkeit vom Recht positioniert, gegen den Schluss des Essays geht es jedoch um die Unentscheidbarkeit in der Erkenntnis der gerechten, reinen Gewalt. »Auf der einen Seite die Entscheidung ohne entscheidbare Gewissheit, auf der anderen die Gewissheit des Unentscheidbaren – aber ohne Entscheidung.«90 Entscheidung kann in keinem der Fälle auf Erkenntnis oder auf die Gewissheit von Erkenntnis begründet werden. An einem deutlich früheren Punkt in seiner Lektüre liefert Derrida eine Analyse zur Seinsweise solcher Typen von Unentscheidbarkeit, die von außerordentlicher Tragweite ist:91 Unentscheidbarkeit ist ihrer wesentlicher Bedeutung nach keine Ungewissheit oder Schwankung zwischen zwei möglichen Entscheidungen (in diesem Fall könnte sie nurmehr zu programmierten oder berechenbaren, also zu keinen wirklich freien Entscheidungen führen), sondern zwingt die Entscheidung vielmehr dazu, einer neuen (oder wieder bekräftigten) Regel folgen – aber erst nachdem sie sich in dieser Unentscheidbarkeit unausweichlich der Aufhebung der Regel oder der Ordnung unterwerfen musste, die sie notwendig gemacht haben. In diesem Sinne kann die (laut Derrida ereignishafte) Entscheidung nie vollkommen gesetzmäßig, konsequent oder gerecht sein, weil das Unentscheidbare, das sie – eben deshalb nur scheinbar – überwunden hat, ihr weiterhin gespensterhaft innewohnen wird. Obwohl das hier nicht detailliert dargelegt werden kann, ließe es sich – z.B. an der Unterscheidung zwischen »Wahl« und »Entscheidung« im Wahlverwandtschaften-Essay92 – durchaus zeigen, dass auch Benjamin selber sich mehrfach mit dieser paradoxen Struktur der Entscheidung konfrontiert sah. Derridas Darstellung könnte aber unmittelbar vor allem auf die Zweideutigkeit der mythischen Gewalt bzw. der Rechtsordnung bezogen werden, Benjamins Konzept der reinen Gewalt weist in Hinsicht auf die Ent-
90 Ebd., S. 110-112 (Zitat auf S. 112). 91 Ebd., S. 49-52. Vgl. dazu B. Menke: Benjamin vor dem Gesetz, S. 224-225, 253. 92 W. Benjamin: GS I/1, S. 189.
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scheidung nämlich mindestens zwei verschiedene Ebenen auf. Einerseits ist sie, da sie sich nicht im Rahmen der mythischen Rechtsordnung verorten lässt (welche sie zerstört), selber von einem radikalen Begriff von Entscheidung her zu begreifen, einer Entscheidung, die eine Ausnahme darstellt (obwohl oder vielmehr weshalb sie unzugänglich bleiben muss) bzw. einen Ausnahmezustand hervorruft oder manifestiert. Mangels einer detaillierten Untersuchung, die hier nicht durchgeführt werden kann, soll an dieser Stelle bloß hingewiesen werden darauf, dass einer der offenbarsten Berührungspunkte zwischen dem jungen Benjamin und Schmitt gerade in diesem Zusammenhang erkennbar wird, da der Ausnahmezustand bei Schmitt bekanntlich auf die Entscheidung des Souveräns zurückgeführt wird, d.h. auf eine Entscheidung, die zwar innerhalb der Rahmen des Rechts bleibt, ja sogar (im Gegensatz zu Benjamins göttlicher Gewalt) Recht begründet, die jedoch erst durch die Aufhebung »jeder normativen Gebundenheit« an die Rechtsordnung, in einer Art normativen Vakuums, also eben nie als eine Entscheidung zwischen zwei oder mehreren Normen erfolgt (erfolgen kann).93 Andererseits geht es an der zitierten Stelle bei Benjamin um eine nachträgliche Entscheidung: die Entscheidung darüber bzw. die Unentscheidbarkeit (kritische Beurteilung?) dessen, »wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war«. Das Gewicht dieser Entscheidung – in der zugleich, wiederum, über die Erkennbarkeit und/oder Anwendbarkeit von »reinen Mitteln« entschieden wird – wird von Benjamin etwas überraschend relativiert, zumindest letztendlich. Einerseits gibt er einige Anhaltpunkte in Bezug auf die Formen an, durch die diese Entscheidung getroffen werden kann: er nennt revolutionäre Gewalt die »höchste Manifestation reiner Gewalt durch den Menschen«, bezieht sich auf »ewige Formen«, die göttlicher Gewalt »vom neuen [frei]stehen« und nur in der Kreuzung von Mythos und Recht »bastardiert« worden sind, und illustriert diese schließlich auch mit den Beispielen eines »wahren Krieges» und der Menge, die das »Gottesgericht« über den Verbrecher vollstreckt. Es scheint also, als ob der Gang der Argumentation nun im (Be-)Reich der reinen Mittel göttlicher Gewalt angekommen wäre oder dieses sich durch die Argumentation doch erschließen würde, Benjamin hält dennoch daran fest, dass die Erkenntnis dieses Bereichs als Entscheidung unmöglich, sogar nicht gleich dringend bleiben muss. Dieser Widerspruch lässt sich, zumindest auf der Ebene der unmittelbaren textu-
93 Vgl. dazu C. Schmitt: Politische Theologie, S. 18-19 bzw. 37-38. Zum Vergleich zwischen Benjamin und Schmitt in diesem Zusammenhang s. z.B. M. Makropoulos: Modernität, S. 38-40; S. Weber: Taking Exception, S. 10-15; G. Agamben: Ausnahmezustand, S. 68-70.
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ellen Zusammenhänge (und genau diese Ebene ist die entscheidende) kaum auf etwas anderes zurückführen als darauf, dass die Entscheidung über das Stattfinden von reiner Gewalt nicht über das Wesen der reinen Mittel, sondern über ihre Wirkung entscheidet: darauf verweisen die beiden Voraussetzungen, wonach, erstens, reine Mittel nur in ihren »unvergleichlichen« (also von keiner Norm verallgemeinerbaren) Wirkung identifiziert werden können bzw. zweitens, »die entsühnende Kraft« dieser Mittel für Menschen »nicht zutage liegt« (Und wie könnte sie auch, wenn sie sich in der Zerstörung des »bloßen Lebens« manifestiert?). Reine Gewalt ist also, was ihre Wirkungen betrifft, singulär bzw. unverallgemeinerbar, was natürlich an einen empfindlichen Punkt im Diskurs Benjamins rührt, da er sich im Vorfeld darauf festgesetzt hat, dass die Gewaltsamkeit der Mittel »ebensowenig nach ihren Wirkungen wie nach ihren Zwecken« beurteilt werden kann. Aufgrund der Wirkungen scheint es also von vornherein unmöglich zu sein, zu einer Entscheidung zu kommen. Im Ausnahmefall der unvergleichlichen Wirkungen, an dem Benjamin sich dennoch festhält, geht es also in diesem Bezugsrahmen vielleicht gar nicht um Wirkungen (da im Falle von reiner Gewalt Wirkung sich per definitionem weder vergleichen noch auf eine Mittel/Zweck-Relation zurückführen lässt), sondern – das ist die einzige Alternative, die der Text anbietet – um Manifestationen. Als Benjamin im letzten Satz seiner Abhandlung die voneinander abgegrenzten Typen von Gewalt erneut »definiert«, tut er dies im Rahmen eines Wortspiels, das auch seinen eigenen Vornamen einbezieht. Rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt werden hier in einer technisch bzw. bürokratisch klingenden Formulierung umgeschrieben (»schaltende« bzw. »verwaltete« Gewalt), ihre tiefgreifende Zusammengehörigkeit wird im Hintergrund auch durch die Phrase »schalten und walten« betont, in der die beiden Verben aneinander gebunden auftreten. Die »waltende« göttliche Gewalt gehört, grammatisch gesehen, ebenfalls eng in diesen Zusammenhang. Dass in diesem Attribut das Präfix fehlt, verweist auf eine einfache Tautologie, da »Gewalt«, die es bezeichnet, die nominalisierte Bildung des gleichen Verbs ist: der Ausdruck »waltende Gewalt« ist zwar, vor allem wenn man die bestimmende oder abgrenzende Funktion des Attributs beachtet, keine bloße Wortdrescherei, er untermauert dennoch die Vorstellung einer geradezu selbstreferentiellen, nicht-instrumentalen Gewalt. Das wird auch vom unmittelbaren Textzusammenhang bestätigt, da göttliche Gewalt laut Benjamin »Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist« (herv. ZKSz), also diese heilige Vollstreckung weniger durch konventionelle Bezeichnung als vielmehr durch eine Art indexikalische Berührung und/oder performative Autorisierung bezeugt: die Vollstreckung erfolgt demnach – um die Unterscheidungen von Benjamins medialer Sprachtheorie hier
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anzuwenden – nicht durch, sondern sozusagen in der göttlichen Gewalt, die sie nicht repräsentiert, sondern – hier wieder – manifestiert. Ob diese Opposition zwischen Repräsentation und Manifestation in diesem Rahmen tatsächlich aufrechterhalten werden kann, ist eine äußerst schwierige Frage, die vielleicht nur Boa-Dekonstrukteure beantworten könnten. Was Benjamins Gewaltbegriffe betrifft, ist es vielleicht gerade dieses letzte Wortspiel, das zu Vorsicht ermahnen dürfte, da es die (nicht ganz) implizite Erkenntnis neu zu formulieren scheint, wonach die göttliche, reine Gewalt sich gerade deshalb nicht klar von den instrumentalen Formen von Gewalt abgrenzen lässt, weil sie sich eben im Exzess dieser bemerkbar macht, in einer Art Überschuss, der die eigene Mittelhaftigkeit vernichtet – was vielleicht auch für die Beziehung zwischen dem von der Rechtsordnung hergestellten Ausnahmezustand und dem, den Benjamin als »wirklichen« diesem gegenübergestellt hat, zutreffen würde. Mythische und göttliche Gewalt sind also nicht identisch, weil aber ihre Beziehung jedoch nicht als Repräsentation, sondern als (selbst)zerstörerische Manifestation aufzufassen ist, wird es weiterhin schwierig, klar zwischen dem Zusammenfall und NichtZusammenfall der beiden zu unterscheiden. Vielleicht liegt hierin die Erklärung für den zweideutigen, zwecklosen Messianismus des Essays, wie freilich auch dafür, weshalb die Entscheidung nicht dringend ist: reine, göttliche Gewalt ist im Endeffekt nichts anderes als die Selbstzerstörung der in der profanen Welt wirkenden rechtlichen-politischen Mittel oder Kräfte, welche über diese Selbstzerstörung keine Macht haben.
L ITERATUR Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. — Homo sacer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. — Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin: Diaphanes 2001. — »Noten zur Geste«, in: ders., Mittel ohne Zweck, S. 53-62. — »Noten zur Politik«, in: ders., Mittel ohne Zweck, S. 105-112. — »Souveräne Polizei«, in: ders., Mittel ohne Zweck, S. 99-102. Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München/Zürich: Pieper Verlag 1970. Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe in sechs Bänden (Hg. Christoph Gödde/ Henri Lonitz), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. — Gesammelte Schriften in sieben Bänden (Hg. Rolf Tiedemann), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972ff. — »Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Gesammelte Schriften Bd. I/1, S. 125201.
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Wort und Tat Sergej Tret’jakovs juridischer Pakt mit der Literatur S USANNE S TRÄTLING
Abbildung 1: Sergej Tret’jakov: Čistka idet (Die Säuberung läuft, ca. 1930)
Quelle: Sergej Tret’jakov: Vyzov, Moskva 1930, o.S.
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I. ANZEIGEN Die diesem Text vorangestellte Aufnahme macht der Schriftsteller und Drehbuchautor Sergej M. Tret’jakov vermutlich im Jahr 1930 während eines Arbeitsaufenthaltes in der landwirtschaftlichen Kommune »Kommunistischer Leuchtturm« (Kommunističeskij majak) im nördlichen Kaukasus.1 Sie zeigt einen mit Vorhängeschloss gesicherten Briefkasten, dessen Funktion ein darunter angebrachtes Schild expliziert: »Zur Säuberung des Apparates der Kommune« (po čistke apparata kommuny). Vom rechten Rand herkommend greift eine Hand in das Bild hinein, um einen gefalteten Zettel oben in den Kasten zu stecken. Der Euphemismus čistka (Säuberung) bezieht sich auf die in mehreren Wellen über Sowjetrussland hereinbrechenden Überprüfungsverfahren, die seit 1921 nicht nur parteiinterne Reihen von sogenannten oppositionellen Elementen »reinigen« sollten, sondern den gesamten sowjetischen Apparat betrafen. 1929-30, zur Entstehungszeit der Fotografie, fand im Zuge der sog. Entkulakisierung der Landwirtschaft die zweite der großen Generalsäuberungen (general’nye čistki) statt, zugleich die erste von Stalin selbst geleitete. Auch Tret’jakov nahm als Kulturfunktionär und Ratsmitglied des »Kommunistischen Leuchtturms« an diesen Prozessen teil. In seinem »Rapport eines Kolchozniks und Schriftstellers« berichtet er davon, wie er Klagen der Bauernschaft untersuchte und auf Versammlungen für die »Säuberung der Kolchose von Kulaken und antikollektivistischen Elementen« eintrat. 2 Teil dieser agitatorischen Arbeit waren auch Fotografien, welche zur Mitarbeit an den »Säuberungen« aufriefen.
1
1931 beziffert Tret’jakov die Zahl seiner Kolchosaufnahmen auf zweitausend. Aus dieser umfangreichen Sammlung sind nur diejenigen Fotografien der Konfiszierung seines Archivs 1937 entgangen, die in den Kolchosbüchern, Ein Monat auf dem Land (Mesjac v derevne) und Die Herausforderung (Vyzov) sowie im Rahmen von FotoEssays in verschiedenen Zeitschriften publiziert wurden. Eine ausgezeichnete Übersicht über Tret’jakovs fotojournalistische Arbeiten gibt E. Wolf: The Author as Photographer. Vgl. zu Tret’jakovs Aufnahmen speziell im »Kommunistischen Leuchtturm« M. Gough: Radical Tourism, S. 159-178.
2
S. Tret’jakov: Raport pisatel’ja-kolchoznika, S. 12. Deutsche Übersetzung in: S. Tretjakow: Feld-Herren, S. 110-113. Sowie dort auch: »Zugleich rief die fortschreitende Kollektivierung eine Bewegung hervor, die Kulaken als Klasse zu liquidieren. Auf der Grundlage der totalen Kollektivierung fällt die Klasse der Kulaken der Vernichtung anheim. […] Im Kampf um die Kollektivierung hat die Partei in ihren eigenen Reihen Hindernisse in Form von ›rechten‹ und ›linken‹ Abweichungen zu
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Säuberungsprozesse beginnen mit einer Denunziation, und es ist exakt diese Situation, welche Tret’jakovs Fotografie zeigt. Was die Aufnahme in einer ambivalenten Komposition zwischen Vorführen und Verbergen, Öffnen und Schließen zu sehen gibt, ist der Moment der Anzeige als Schlüsselszene eines sowohl bildkompositorischen wie auch strafrechtlichen Prozesses. Aus der Anonymität eines im Off der Aufnahme verbleibenden Klägers herkommend ragt eine Hand in den Bildraum hinein und demonstriert das Dokument eines Verdachts, ohne dessen Gehalt offenzulegen. Die Geste der ostentativen Zuweisung von Schuld bleibt so durch eine mehrfache Unsichtbarkeit gerahmt. Wie sich der Anzeigende im gesichtslosen Raum jenseits der Bildgrenze entzieht, so verschwindet die Anzeige im Inneren des Bildes, im Inneren des Kastens, der Licht ins Dunkel des Apparats bringen soll. In dem Maße aber, wie die Anzeige unlesbar und ihr Autor unerkannt bleiben, gewinnt der scharfe Kontrast zur überdeutlichen und teils tautologischen Aufschrift von Kasten und Schild eine Brisanz, aus der heraus der versiegelte Kasten sich als Ausgangspunkt der Eröffnung eines Verfahrens erweist. In der deiktischen Szene der Fotografie bezeichnet die black box des Briefkastens denjenigen Ort, an dem sich die Anzeige ereignet und zugleich vor unseren Blicken verbirgt. In dieser oxymoralen Verschränkung der Anzeige zwischen Zeigen und Entziehen, überschreitet die Fotografie ihren agitatorischen Appellcharakter und tritt prägnant als Anklage hervor. Diese Anklage birgt in sich nicht nur die Anschuldigung eines Vergehens; sie exekutiert auch einen Imperativ, der sich an den Betrachter richtet: zu schreiben, und dies in einer Form, die Schreibbefehl und Haftbefehl stets zusammendenkt. Das diskursive Modell dieses Schreibimperativs versteht sich von Anfang an als Teil eines Gerichtsverfahrens, als Akte eines Prozesses, als Dokument eines Schreibens mit juristischen Konsequenzen. Mit anderen Worten: Es setzt das Schreiben als Tat. Tret’jakovs Fotografie gewährt einen ersten Einblick in die ebenso engen wie schwierigen Beziehungen zwischen Schreiben und Institution in der frühen Sowjetunion. Man hat in dieser Beziehung vor allem einen Abschied vom Konzept ästhetischer Autonomie gesehen, eine Degeneration des Autors als eines freien, individuellen Künstlersubjekts hin zur bloßen Exekutivinstanz übergeordneter gesellschaftspolitischer Interessen. Nachdem er den Winter 1926/1927 in Moskau verbracht hatte, schreibt Walter Benjamin in einem Essay über die »Neue Dichtung in Rußland«: »Nimmt man hinzu, daß in Rußland der freie Schriftsteller auf dem Aussterbe-Etat steht, der breite Durchschnitt der Schrei-
überwinden. […] Die Partei liquidierte beide Abweichungen mit bolschewistischer Entschlossenheit und Unerbittlichkeit.« Ebd., S. 105-107.
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benden in dieser oder jener Form dem Staatsapparat verbunden ist und als Beamter oder anders durch ihn kontrolliert wird, so hat man ein Gradnetz der herrschenden Zustände.«3 Hier zeichnet sich auch für den Besucher aus dem Ausland unübersehbar eine Entwicklung ab, die dann in den 30er Jahren als »Verstaatlichung der Literatur« ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.4 In der immer wieder diagnostizierten politischen Instrumentalisierung der Literatur, wie sie im Theorem der Verstaatlichung auf den Begriff gebracht ist, scheint sich das Projekt einer institutionellen Neuverortung der spätavantgardistischen Literatur jedoch keineswegs zu erfüllen. Denn eingelagert in die Verwandlung von Schriftstellern in Staatsbeamte ist eine zweite, folgenreichere Veränderung: Die Ernennung des Schriftstellers zum Staatsanwalt. Einher mit den Umpositionierungen im literarischen Feld geht eine offensive Orientierung poetischer Verfahren an juridischen Regularien. Literaturhistorisch lässt sich eine Verbindung zwischen Text und Prozess bis hin zu Platons Vertreibung der Dichter aus dem idealen Staat zurückverfolgen. Zu unterscheiden wäre dabei aber zwischen einer Inkriminierung von Literatur als Gesetzesbruch oder als verdächtiger Form der Subversion gesetzlich sanktionierter Strukturen einerseits und der Gestaltung von Texten als Verfahren der Unterwerfung literarischer Rhetorik unter die Regeln der Forensik andererseits. Ein solches Partizipationsverhältnis in den Instanzen der Klage, der Beweisführung, der Zeugenschaft, des Gestehens, des Richtens und des Strafen ist auch für die russische Literatur kein Novum, man denke nur an die kunstvollen Kreuzverhöre in Fedor Dostoevskijs Kriminalroman Verbrechen und Strafe (Prestuplenie i nakazanie, 1866) oder an
3
W. Benjamin: Neue Dichtung in Rußland, S. 757. Ähnlich (bzw. passagenweise identisch) auch ders.: Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller, S. 190-194: »Was am schlagendsten die Stellung des sowjetrussischen Schriftstellers von der seiner sämtlichen westeuropäischen Kollegen unterscheidet, ist die absolute Öffentlichkeit seines Wirkens. Seine Chancen sind daher ungleich größer, seine Kontrolle ist ungleich strenger als die der westlichen Literaten. Diese seine öffentliche Kontrolle durch Presse, Publikum und Partei ist politisch. Die eigentliche offizielle Zensur – bekanntlich eine Präventivzensur – ist also für die Bücher, die erscheinen, nur ein Vorspiel jener politischen Debatte, als welche ihre Rezensionen zum größten Teil sich darstellen.« Ebd., S. 190.
4
H. Günther: Die Verstaatlichung der Literatur. K. Städtke hat diesen Befund dahingehend zugespitzt, dass mit dieser Verstaatlichung eine zunehmende Enteignung des individuellen Autors, der Abschaffung individueller authentischer Autorschaft einher gegangen sei. Vgl. K. Städtke: Welt hinter dem Spiegel, S. 20. Tret’jakov betreibt diese Entindividualisierung als »Entprofessionalisierung« der Autorschaft.
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Lev Tolstojs evangelikales Schwurgerichtsepos Die Auferstehung (Voskresenie, 1899).5 Doch schleicht sich in den 1920er Jahren eine bezeichnende Verschiebung ein. Beansprucht die Literatur des klassischen Realismus noch bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts die Gültigkeit des Prinzips der poetic justice, so kommt es nun zur einer Art von Gesetzestextualität, die man hypothetisch als poetic justiciability bezeichnen könnte. Während die klassische Forderung nach poetischer Gerechtigkeit den Autor vor allem als moralisch integre Instanz beglaubigt, kennzeichnet die poetische Justiziabilität eine Literatur, welche Autor und Text in eine Rechtbeziehung eintreten lässt, die einer Art literarischer Haftpflicht gleichkommt.6 Sie ermöglicht, den Dichter nicht nur zum Anwalt und Richter, sondern auch zum Gerichteten zu machen. Tret’jakov forciert diese Entwicklung maßgeblich, und er agiert dabei auf zwei Ebenen. Die erste Ebene betrifft Passagen zwischen Literatur und Leben, auf der zweiten geht es um die Konjunktion von Text und Tat. 1. Die Porösität der Grenzziehungen zwischen Literatur und Leben durchsetzt den gesamten dokumentaristischen Diskurs der Avantgarde. Als gegen Ende der 1920er Jahre die Welten literarischer Fiktion zunehmend unter Mystifikationsverdacht geraten, publiziert Nikolaj Čužak seine Thesen zur »Literatur des Lebensbauens« (literatura žiznestroenija). Mitten hinein in das Vakuum einer orientierungslosen poetologischen Debatte wirft er einen neuen Leitbegriff: die »literatura fakta«, die »Literatur des Faktums«, verstanden als »unmittelbare Teilnahme des Schriftstellers am Aufbau unserer Zeit« (prjamoe učastie pisatelja v stroitel’stve našich dnej).7 Eine der prägnantesten Ausprägungen der literatura fakta liegt in den Texten Tret’jakovs vor. In enger Zusammenarbeit mit Čužak entwickelt Tret’jakov ein faktografisches Prosagenre, das er »operative Skizze« (operativnyj očerk) nennt. In ihr ist der avantgardistische Topos der Literatur des Lebensbauens mit der Literatur der Tatsachen zusammengeführt, um aus dieser Synthese das Wort als eine wirklichkeitsstiftende Instanz hervorzutreiben. In einem kurzen autobiographischen Text von 1934 spitzt Tret’jakov dieses Pro-
5
Dazu R. Lauer: L.N. Tolstojs Auferstehung, S. 292-311. Tolstoj arbeitet mit einer Opposition von Staatsrecht und göttlichem Gesetz (vgl. Nechljudovs Lektüre des Evangeliums auf dem Weg nach Sibirien) Vgl. auch F. Ch. Schröder: Tolstojs Auferstehung aus der Sicht des Juristen, S. 312-324.
6
Das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit wird v.a. von Nietzsche in der Geburt der Tragödie (14. und 22. Stück) kritisiert. Sie raube, so Nietzsche, der Tragödie das Musikalische und Dionysische. Mit der poetischen Gerechtigkeit werde ein sittlicher Wert erreicht, aber ein ästhetischer verfehlt.
7
N. Čužak: Literatura žiznestroenija.
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gramm einer performativen Poetik auf den Paradigmenwechsel vom Beobachten zum Bauen zu: »Habe ich vor dem ersten Fünfjahrplan meine Werke als Beobachter, als Vorbeireisender, sozusagen als Vertreter eines Künstlerischen Schiedsgerichts geschrieben, so hat mich der Fünfjahrplan in die Aufbauprozesse hineingezogen und mich gelehrt, nicht ›zu erzählen‹, sondern ein gleicher in der Reihe der Bauleute zu sein, ein Mensch zu sein, der sozusagen ein Logbuch des Fünfjahrplans führt. Die direkte Schlußfolgerung daraus ist der operative Charakter meiner Werke. […] Das Teilgebiet, auf dem der Schriftsteller tätig ist, wird in einem gewissen Maße zum Werk seiner Hände, und der vom Fünfjahrplan verwandelte Schriftsteller selbst zu seinem Produkt.8«
Mit diesem Positionswechsel des Schriftstellers von einer passiven Randfigur zum Agenten gesellschaftlicher Transformation geht eine Neubestimmung seines Schreibens einher. Ihr Kern liegt darin, die klassischen narratologischen Alternativen von ›Erzählen‹ (telling) vs. ›Zeigen‹ (showing) durch Hinzuziehung eines dritten Terms ›Tun‹ aufzusprengen. Operativität überbietet dabei sowohl narrative Schilderung wie auch die chronikalische Berichterstattung hin auf einen literarischen Modus wirklichkeitsschaffenden Schrifthandelns. Schreiben repräsentiert keine Welten, es generiert diese. Man könnte damit von einem Dreischritt des Literaturbegriffs sprechen, den Tret’jakov vollzieht. Vom Medium der Narration wird der Text zu einem solchen der Deskription, um schließlich als Operation zu seiner eigentlichen Bestimmung zu finden. 2. Zugleich aber geht es darum, die damit freigesetzte performative Potenz des Wortes zu binden und zu regulieren. An diesem Punkt sind auch Instanzen angesprochen, mit denen Texte und Autoren die Macht der Sprache als formative und konstitutive Gewalt einsetzen. Dabei ist im zitierten Passus von einem Gericht die Rede, von einem Künstlerischen Schiedsgericht, dessen Zeiten, so heißt es, vorbei seien. Statt eines Richteramts nehme der Schriftsteller nun das Amt eines Zeugen wahr, statt über ästhetische Wahrheit und Lüge zu urteilen, gelte es nun, ein simultanes Protokoll der Lebensprozesse selbst zu erstellen. Doch damit ist die Rechtsprechung noch nicht aus der Literatur vertrieben. Vielmehr setzt Tret’jakov an die Stelle des Künstlerischen Schiedsgerichts ein Strafgericht. In der oben angeführten autobiographischen Notiz heißt es weiter:
8
S. Tret’jakov: Die Arbeit des Schriftstellers, S. 141. Das russ. Original ist nicht publiziert, der Text wurde auf Deutsch erstveröffentlicht in: Illustrierte Sammelbände WOKS, Heft 7-8 (1934), S. 135-137, hier S. 135.
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»Ich beschrieb nicht mehr einfach Menschen, ich haftete für meine Gestalten.«9 In dieser Formulierung wird deutlich, wie der Handlungsimperativ operativer Literatur durch ein Haftungsprinzip überlagert wird, wie die literatura fakta das Faktum einer Tatsache immer auch als Tat versteht, die potenziell Straftat und damit haftbar ist. Tret’jakov nimmt hier eine entscheidenden Neuorientierung vor. Geht es im faktographischen Dokumentarismus der späten zwanziger Jahre vor allem um ein Prinzip von Literatur und Zeugenschaft, von empirischer Beweisführung eines »So ist es (gewesen)«, signalisiert die Formulierung des haftenden Schriftstellers ein neues Paradigma, das man als Prinzip von Literatur und Richterschaft bezeichnen könnte. Was auch in Russland im Laufe des 19. Jahrhunderts als Urheberrecht zur gesetzlich kodifizierten Institutionalisierung von Autorschaft führt, treibt damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine Urheberpflicht zu.10 Wenn Autorschaft als juridisch einklagbare Verantwortung verstanden wird, sind Texte nicht mehr Dokumente, sondern Akten eines Prozesses, Skripte einer potenziellen Anklage und Vorlage ihrer Verhandlung. Nicht nur begreift sich die Rhetorik dieser Texte damit von vornherein als forensische Rede ‒ ihr Autor steht stets schon vor dem Gesetz. Und jeder seiner Text unterliegt damit einem Regulativ, das man in Abwandlung einer Formel Philippe Lejeunes einen ›juridischen Pakt‹ nennen könnte. Lejeune hatte das Schema des autobiographischen Textes aus einer Fülle auto- und heterodiegetischer Erzählformen mittels eines rigiden Identitätsgesetzes von Autor, Erzähler und Protagonist herausgefiltert.11 Aus dem »autobiographischen Pakt« leitet Lejeune eine zweite Vertragsform ab, den Referenzpakt, der nichts anderes besagt, als dass Texte in Bezug auf ihre Aussage über eine außerhalb des Textes gemachte Realität einer »Wahrheitsprobe« unterzogen werden können. Wo die Formel des autobiographischen Paktes heißt »Ich, der Unterzeichnende«, lautet die des Referenzpaktes »Ich schwöre, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen«.12
9
Ebd.
10 Vgl. zur Entwicklung des Immaterialgüter- und Urheberrechts in Russland A.P. Sergeev: Pravo intellektual’noj sobstvennosti v Rossijskoj Federacii. Einen historischen Abriss zur Entwicklung in Westeuropa gibt M. Rehbinder: Urheberrecht, S. 8-27. 11 Ph. Lejeune: Der autobiographische Pakt, S. 27. Lejeune setzt symmetrisch zum autobiographischen Pakt den »Romanpakt« an, der auf einer Nicht-Identität von Autor und Protagonist beruht. Daneben existiert im »autobiographischen Raum« auch der »phantasmatische Pakt«, der den Leser auffordert, die Romanfiktion indirekt autobiographisch zu lesen. Ebd., S. 47. 12 Ebd., S. 39f.
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In dieser Verschränkung zweier Rechtsformeln, von der die eine als Verknüpfung von Person und Rede den Aussagestatus identifiziert, die zweite als Verknüpfung von Text und Wirklichkeit den faktualen Status eines Textes beglaubigt, liegt die entscheidende Herausforderung für Tret’jakovs Haftungsgesetz der Literatur. Mit der Formel »Ich hafte für meine Gestalten« unterwirft sich einerseits der Autor als heteronomes Rechtssubjekt der Vollstreckungsgewalt des Staates und autorisiert andererseits den poetischen Sprechakt als Gesetz der Existenzsetzung. Wo der autobiographische und der Referenzpakt zeigen, mit welchen Strategien sich Lebenslinien in Texte übersetzen, ist der juridische Pakt Tret’jakovs nichts anderes als der Versuch, Texte in das Leben hineinzuprojizieren und sie zugleich der Verfügungsgewalt eines anderen Textes, eines Gesetzestextes zu unterstellen. Tret’jakovs Poetik des juridischen Pakts setzt nicht nur den Autor in eine Rechtsbeziehung zu den von ihm verfassten Texten ein. Sie will den Schreib- und Lesetechniken der Avantgarde eine vertragliche Form geben, welche mit einer gesetzlich verankerten Verbindlichkeit zugleich eine poetische Verpflichtung auf Realität institutionalisiert. Mit dieser Vertragsform zwischen Autor und Figur wird die operative Genese von Texten als Vollzug von Handlungen institutionell verankert. Oder anders gesagt: Wo das dokumentarische Faktum vom juridischen Pakt beglaubigt ist, wird das Wort als Tat in Kraft gesetzt und zugleich die der Sprachmacht innewohnende Gewalt als justiziable Straftat benannt.
II. F AKT
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P AKT
Die Möglichkeit, mit Sprache Tatsachen zu schaffen und Welten zu bauen, bildet einen vitalen Kern politischer und poetischer Utopien bzw. ist vielleicht gerade das Performativum der Ort, an dem die Politik des Poetischen virulent wird. So hat sich seit Michail Ryklins Thesen zum gewaltsam kollektiven Redekörper des Stalinismus die Überzeugung durchgesetzt, in der Programmatik des Sozialistischen Realismus sei die prädestinierte Figuration eines performativen Sprachgebrauchs zu suchen.13 Versuche, dem Wort eine weltbildende Funktion zuzuerkennen, erweisen sich literatur- wie rechtshistorisch als Präzedenzfälle einer
13 M. Ryklin: Terrorologiki, S. 52ff. Kaum irgend ist das pointierter formuliert als in Maksim Gor’kijs Äquivalenzmodell von Sprache und Handlung: »Denn das Wort ist gleichbedeutend mit der Tat – im Grunde ist es auch die Tat, und deswegen kommt es darauf an, zu zeigen, wie es auf den Menschen wirkt, wie es ihn beeinflusst.« M. Gor’kij: Über Literatur, S. 566.
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Sprachgerichtsbarkeit, die weit in die russische Kultur zurückreicht. Sie tritt in kodifizierter Form hier zunächst im Bereich der Kirchen- und Rechtsgeschichte auf, in der das Syntagma ›Wort und Tat‹ (slovo i delo) zum theologischen und juristischen Sach-, Wort- und Tatbestand wird. Die Gesetzesgrundlage dafür wird 1649 durch den ersten, bis 1832 geltenden, Rechtskodex der Rus’, das Sobornoe Uloženie geschaffen. Gemäß dem Uloženie kommt jede verbale Schmähung des Zaren oder eines anderen staatlichen oder geistlichen Würdenträgers einem tätlichen Angriff auf diese Person gleich und ist aus diesem Grunde ebenso scharf zu ahnden. Bereits seit dem 16. Jahrhundert, also noch vor der juridischen Reglementierung durch das Sobornoe Uloženie, weist der Historiker N. Novombergskij mehr als 400 Prozessakten nach, in denen der Anklagepunkt »slovo i delo gosudarevo«, d.h. der Majestätsbeleidigung (crimen laesae maiestatis) erfüllt ist oder auch fälschlich erhoben wird.14 Bis ins ausgehende 18. Jahrhundert ist diese Praxis geläufig, obwohl die Formulierung ›slovo i delo gosudarevo‹ 1762 durch Katharina II. verboten wird. Die Promemorien, Verhörprotokolle, Geständnisse, Gegenüberstellungen und Urteilsverkündungen des ›slovo i delo‹ werden schnell zum Lektüregegenstand auch eines nichtjuristischen Fachpublikums, darunter nicht wenige Literaten. In einem poetologischen Rechenschaftsbericht für die Anthologie Wie wir schreiben (Kak my pišem, 1930) berichtet Aleksej Tolstoj davon, wie die Lektüre von Novombergskijs historischer Materialsammlung für ihn ein sprachliches Schlüsselereignis gewesen sei: In den Situationen der Denunziation und des Verhörs, in den unter Folterqualen erzwungenen Geständnissen habe er eine Sprache entdeckt, die in ihrer vermeintlich ungekünstelten Primitivität über eine spezifische Intensität und ›Ursprünglichkeit‹ verfüge, welche der rhetorisch ornamentierten Literatursprache kaum noch eigen sei. »Ich sah, spürte: die russische Sprache. […] In den Gerichtsakten (Folterakten) lag eine Sprache der Tat [jazyk dela], dort vermied man nicht die ›gemeine‹ Rede, dort erzählte, stöhnte, log, schrie in Schmerz und Angst das russische Volk.«15 Aus den Untiefen eines ebenso grausamen wie juridisch hochgradig reglementierten Verfahrens birgt
14 Abgedruckt sind diese auf 600 Seiten in: N. Ja. Novombergskij: Slovo i delo gosudarevy. Vgl. zur Jurisdiktion des ›slovo i delo‹ auch M. Semevskij: Slovo i delo. Zu sprachgeschichtlichen und sozilinguistischen Aspekten V.V. Kolesov: Slovo i delo. Iz istorii russkich slov. Zur Rolle des ›slovo i delo‹ als symbolische Interaktion zwischen Herrscher und Beherrschten vgl. A. Rustemeyer: Dissens und Ehre. 15 »Я увидел, почувствовал: русский язык. […] В судебных (пыточных) актах – язык дела, там не гнушались ›подлой‹ речью, там рассказывала, стонала, лгала, вопила от боли и страха народная Русь.« A. Tolstoj, in: Kak my pišem, S. 130.
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Tolstoj ein Sprechen, das im Akt der gewaltsamen Exekution von Staatsgewalt eine ihm unbekannte poetische Expressivität gewinnt. Just an der Schwelle zum Tod findet er das Wort aufgeladen mit einer primären Emotionalität und zerberstenden Lebendigkeit. Die kodifizierte Rede des Rechts erpresst und erzwingt neben einem Geständnis über die Straftat hinaus vor allem eine Sprache der Tat.
III. Z EUGUNG UND Z EUGENSCHAFT : I CH (J A CHOČU REBENKA )
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Das quälerische Arsenal der mittelalterlichen Folterkammern der Rus’ hat auch andere in ihren Bann gezogen, so den Juristen, Dramaturgen und Theaterwissenschaftler Nikolaj Evreinov, der in den 1910er Jahren parallel zu seiner Dissertation über Körperstrafen in der russischen Rechtspflege und Verwaltung an einer Studie zum Verhältnis von Theater und Schafott (Teatr i ešafot) arbeitet. In seiner rechtshistorischen Dissertation hatte Evreinov auf die Verwurzelung von Redewendungen wie etwa »jemanden weichklopfen« (dobit’sja čego-libo ot kogo-libo) in Folterpraktiken hingewiesen.16 Wenn sich nun Tret’jakov auf das Syntagma von »slovo i delo« bezieht, so nicht aus einer prekären Faszination für die Sprache der Folter. Ihm geht es darum, eine Kluft zwischen res und verba zu schließen, welche das poetische Gesetz der Operationalität zu verschlingen droht. Sein erster Versuch auf diesem Gebiet führt ihn in die Dramatik und damit in eine Gattung, die seit der Antike als forensische Form legitimiert ist. Nach einigen Jahren der Zusammenarbeit mit Sergej Ėjzenštejn am Theater entsteht in den Jahren 1926/27 Tret’jakovs Produktionsstück (proizvodstvennaja p’esa) Ich will ein Kind (Ja choču rebenka), in dem die Agronomin Milda Grignau ihr Recht darauf verteidigt, sich außerehelich einen Samenspender nach biopolitischen Richtlinien sozialistischer Produktivität und Hygiene zu suchen und das so gezeugte Kind nicht im freudianischen Dreieck der bourgeoisen Kleinfamilie,
16 Vgl. N. Evreinovs frühe Studie Istorija telesnych nakazanij v Rossii. [dt. Übersetzung: Die Körperstrafen in der russischen Rechtspflege und Verwaltung.], S. 6. Evreinov bezieht sich u.a. auf Semevskijs Band Slovo i delo. Vgl. zum System der Körperstrafen auch M. Sadow: Das prügelnde Russland sowie B. Stern: Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Russland und ders.: Russische Grausamkeit, einst und jetzt. Visuelles Material findet sich auch in D. Rovinskijs Sammlung von Bilderbögen Russkija narodnyja kartinki.
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sondern im öffentlichen Kollektiv eines Kinderheims aufziehen zu lassen.17 In dem »hundertprozentigen« Proletarier Jakov findet Milda schließlich den Idealtypus des potenten Erzeugers. Doch als sie ihn auf ihr Zimmer einlädt, ihm einen notariell beglaubigten Verzicht auf finanzielle Forderungen vorlegt und so für einen Fortpflanzungsvertrag ohne rechtliche Konsequenzen seinerseits gewinnen will, weigert sich Jakov zunächst mit den Worten: »Wenn man sich zu fassen kriegt und wenn man so was Tolles treibt, dann schon ganz toll. Da hat man alles da – Stimmung und Musik und so. Aber hier – wie in einem Gerichtssaal.«18 Mithilfe einer kosmetischen Maskerade kann Milda Jakov umstimmen, sie wird schwanger, und am Ende des Stücks sehen wir sie einen Preis entgegennehmen, den eine medizinische Wachstumskommission für das nun schon zweite Produkt dieses Fortpflanzungsvertrags vergibt. Zwischen all den Räumen, die im Laufe des Stücks bespielt werden, wirft die Szenerie des Gerichtssaals ein Schlaglicht nicht nur auf Mildas Zimmer und das nüchterne Setting dieses sachlich vorbereiteten und rechtlich abgesicherten Zeugungs(p)aktes. Sie erhellt vor allem die dramaturgische Form. Tret’jakov nennt Ich will ein Kind ein Diskussionsdrama, das heißt, eine Auseinandersetzung mit dem Publikum über die Thesen des Stücks soll Teil des Dramas bzw. seiner Inszenierung sein. Die beiden Inszenierungsprojekte von Vsevolod Mejerchol’d und Igor’ Terent’ev gehen diese Überschreitung von Bühnen- und Zuschauerraum sehr unterschiedlich an. Während Mejerchol’d vorhatte, Zuschauerraum und Bühne zu integrieren, die Plätze auf der Bühne mitzuverkaufen und die Inszenierung in teils geplanter, teils improvisierten Manier immer wieder durch provokative Fragen unterbrechen zu lassen, »um die Gegner des Stücks zu entlarven«19, wollte Terent’ev das gesamte Stück als »strenge« Debatte inszenieren, deren Kernstück eine über der Bühne hängende Glaskabine sein sollte, in der ein sogenannter Stab der Theaterhandlungen (štab teatral’nych dejstvij), bestehend aus einer Typografistin, einer Stenografistin und einer Sprecherin, per Funk Fragen aus dem Zuschauerraum entgegenzunehmen und zu beantworten hatte.20
17 Vgl. dazu F. Mierau: Sergej Tret’jakov und Bertold Brecht. Das Produktionsstück ›Ja choču rebenka‹, S. 226-241. 18 S. Tretjakow: Ich will ein Kind haben!, S. 79. 19 V. Mejerchol’d: Doklad o plane postanovki p’esy S.M. Tret’jakova ›Choču rebenka‹. Auch Tret’jakov selbst sollte das Spiel der Schauspieler immer wieder unterbrechen durch Korrekturen an der Diktion. Es war geplant, die Aufführungen unter dem Titel ›erste‹, ›zweite‹, oder ›dritte Diskussion‹ laufen zu lassen. 20 I. Terent’ev: ›Choču rebenka‹. Plan postanovki.
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Abbildung 2: Entwurf eines Bühnenbilds für Ich will ein Kind von El Lissitzky
Quelle: El Lissitzky. Jenseits der Abstraktion. Fotografie, Design, Kooperation. Hg. v. Margarita Tupitsyn. München 1999, S. 28.
In diesen Verfahren adaptieren beide Inszenierungen dramaturgische Formen der sogenannten agitsudy, der Agitationsgerichtsspiele, die seit 1917 an der popularisierten Bildung des homo sovieticus in politischen, agronomischen, hygienischen u.a. Fragen (politsud, bytovoj sud, sansud, agrosud) arbeiteten. Über diese erzieherische Funktion hinaus reinstalliert das Agitationsgericht vor allem die antike Konzeption des Dramas als Rechtsgattung. Julie Cassiday argumentiert in ihrer Studie The Enemy on Trial, die Neugestaltung des Gesetzwesens in der jungen Sowjetunion sei mit einer Neubestimmung des Theaters einhergegangen, welche das Drama in die antike Einheit von Tragödie und Rechtssprechung zurückgeführt habe, um über Agitationsgerichtsspiele die neue Gesetzgebung zu implementieren: »Bolshevik culture of the 1920s brought the actor into the heart of the legal sphere to complement and augment the new law’s impact.«21 Weit
21 J. Cassiday: The Enemy on Trial, S. 9f. Cassiday spricht hier von »mythopoetic justice«. Während von den frühen Massenschauprozessen (z.B. »Sud nad Vrangelem« [Prozess gegen Wrangel]) keine Skripte überliefert sind, weist Cassiday Texte für ca. 130 agitsudy der 1920er Jahre nach. (Vgl. J. Cassiday, S. 59) Der agitsud ist deutlich abzugrenzen von der agitp’esa (Agitdrama). Während ersterer keinen fertigen Text, sondern nur ein Schema kennt, welches improvisatorisch zu füllen ist, gibt die
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über 100 agitsud-Szenarien sind aus den 20er Jahren überliefert, und eines von ihnen sah auch Walter Benjamin. Im Moskauer Tagebuch berichtet er vom Besuch einer »Gerichtsverhandlung« am 28. Dezember 1926 im Krest’janskij Klub, wo eine Bäuerin der Kurpfuscherei mit Todesfolge angeklagt war: »Wir traten in einen rot ausgeschlagenen Saal, in dem gegen dreihundert Menschen Platz hatten. Er war dicht gefüllt, viele standen. In einer Nische eine Lenin-Büste. Die Verhandlung fand auf der Estrade der Bühne statt, die rechts und links von gemalten Proletariern, einem Bauern und einem Industriearbeiter, eingerahmt wurde. Am oberen Bühnenrand die Sowjetembleme. Die Beweisaufnahme war schon beendet als wir kamen, ein Sachverständiger hatte das Wort. Er saß mit seinem Kollegen an einem Tischchen, ihm gegenüber der Tisch des Verteidigers, beide die Schmalseite zur Bühne gewandt. Der Tisch des Richterkollegiums stand frontal zum Publikum, vor ihm saß in schwarzer Kleidung auf einem Stuhle, einen dicken Stock in den Händen, die Angeklagte, eine Bäuerin. […] Der Sachverständige gab sein Gutachten ab: die Schuld am Tod der Frau sei allein auf den Eingriff zurückzuführen. Der Verteidiger plädiert: kein böser Wille, auf dem Lande fehle es an sanitärer Hilfe und Aufklärung. Der Staatsanwalt beantragt die Todesstrafe. Die Bäuerin in ihrem Schlußwort: immer sterben Menschen. Danach wendet der Vorsitzende sich ans Publikum: sind Fragen vorhanden? Auf der Estrade erscheint ein Komsomolz und plädiert für äußerst strenge Bestrafung. Danach zieht das Gericht sich zur Beratung zurück – eine Pause entsteht. Die Urteilsverkündigung wird von allen stehend angehört. Zwei Jahre Gefängnis unter Zubilligung mildernder Umstände. Von Einzelhaft wird daher abgesehen. Der Vorsitzende weist seinerseits auf die Notwendigkeit hygienischer Versorgungs- und Bildungszentralen auf dem Lande hin. Man ging auseinander.«22
agitp’esa einen fertigen, zu lernenden Text vor. Ein Schema zur Erstellung sowie Hinweise zur Gestaltung der Bühne, zur Wahl der Darsteller und zur Einbeziehung des Publikums bei agitsudy geben B. Vetrov und L. Petrov: Agitsud i živaja gazeta v derevne, und A. Vilenkin: Kak postavit’ agitsud v izbe-čital’ne, (hier auch ein Verzeichnis von agitsudy, agrosudy und politsudy). 22 W. Benjamin: Moskauer Tagebuch, S. 73f. Benjamin beschließt den Abend (und seinen Tagebucheintrag) mit einem weiteren Theaterbesuch. In einer »Piwnaja« (Bierstube) nimmt er mit Reich »ziemlich nahe an der brettenen Estrade Platz, die hinten von einer süßlich verschwommenen Aue, mit einem Stückchen wie in Luft zergehender Ruine abgeschlossen wurde. Aber für die ganze Länge der Bühne reichte dieser Prospekt nicht aus. Nach zwei Gesangsnummern kam die Hauptattraktion des Abends, eine ›Inszenirowka‹ – d.h. ein im Grunde anderswoher, aus Epik oder Lyrik stammender Stoff für das Theater bearbeitet. Hier schien der dramatische Rahmen für eine Anzahl Liebes- und Bauerngesänge gegeben zu werden. Zuerst trat nur eine Frau
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Tret’jakov folgt ‒ anders als die agitsudy ‒ in seinem Stück nur ansatzweise dem etwas leblos wirkenden Procedere im sowjetischen Theatergerichtssaal, das Benjamin aufzeichnet.23 Ihm ist es nicht um eine Strukturanalogie von dramaturgischer und juridischer Form, von Akt und Akte, von forensischer und dramatischer Rede zu tun. Wenn er die Bühne als Gerichtssaal wahrnehmen lässt, so deshalb, um in der Szenerie des Zeugungszimmers das Publikum in den Zeugenstand zu rufen und zur Aussage zu zwingen. Sylvia Sasse hat darauf hingewiesen, wie die Verschmelzung von ästhetischem und juristischem Urteil in ähnlichen dramaturgischen Konstellationen den Raum einer »Handlungskatharsis« öffnet, »die Zuschauen oder Teilnehmen selbst zu Momenten des Verbrechens oder der Strafe macht«.24 Im Dialog von Szene und Saal, Schauspieler und Zuschauer, der in Mejerchol’ds Inszenierung direkt, in Terent’evs Plan hingegen über eine zwischengeschaltete Instanz reguliert und dokumentiert werden sollte, lässt die Kreuzung von Theater und Gericht einen hybriden Raum entstehen, in dem die Zuschauer ihrerseits zu Akteuren, zu sprechenden und handelnden Figuren eines Stücks werden, das sie zur gleichen Zeit sehen und spielen. Mit dieser Entgrenzung der ästhetischen Erfahrung artikuliert sich ein Anspruch auf die existenzsetzende Macht der Rede, der im Stück auf unterschiedlichen Ebenen Gestalt gewinnt. Die genretypologischen Kategorien von »Produktionsstück« und »Diskussionsstück« verbinden sich hier zur Generierung eines Körpers, den zum einen das gezeugte Kind der Akteure, zum anderen das Kollektiv der zuschauenden Zeugen bildet. Ich will ein Kind handelt nicht nur von der Verwand-
auf und lauschte einem Vogel. Dann kam aus einer Kulisse ein Mann und so ging es weiter bis die ganze Bühne voll war und alles mit einem Chorgesang unter Tanz endete. Dies alles unterschied sich nicht sehr von geselliger Familienvergnügung, aber mit dem Untergang dieser Veranstaltungen in der Wirklichkeit sind die wahrscheinlich dem Kleinbürger auf der Bühne nur anziehender geworden.« Ebd., S. 75f. 23 Und das doch immer wieder zu Verwechselungen von Fakt und Fiktion geführt hat. Cassiday berichtet von einer bezeichnenden Verwechslung dramatischer und juridischer Praxis. So sei das agitsud-Stück Prozess gegen eine Prostituierte (Sud nad prostitutkoj, 1923) in der Pravda als realer Prozess dargestellt worden, in dem nämlich »die Bürgerin Z. der Prostitution und der Ansteckung des Rote ArmeeSoldaten K mit Syphilis angeklagt war«. Einige Tage später korrigiert sich die Pravda: »Aufgrund eines Versehens des diensthabenden Redakteurs wurde der Bericht über den dramatischen Prozess gegen die Bürgerin Z. in der Rechtssektion statt in der Sektion der Lokalberichterstattung abgedruckt.« J. Cassiday, The Enemy on Trial, S. 70. 24 S. Sasse: Gerichtsspiele, S. 127.
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lung der aseptisch wirkenden Szene des Gerichtssaals in eine sexuell stimulierende, vitale Keimzelle neuen Lebens. Es setzt den Plan, auf der Bühne vor Gericht ein neues Leben zu (er)zeugen in die Szene einer Transgression theatraler Rede, in welcher ein biologischer Zeugungsakt zum Kristallisationspunkt eines performativen Sprechakts wird. Der juridische Pakt Mildas mit Jakov, durch den der Wunsch Mildas zum Gesetz wird, bringt damit in mehrfacher Hinsicht ein Drittes hervor: Er bildet die Grundlage, um ihren Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, und er macht das Procedere dieses Vertrags zum Gegenstand eines Prozesses, in dem das partikuläre dramatische Geschehen selbst sich in einen konjunktiven Erfahrungsraum der Wirklichkeit hineinspielt.
IV. ANKLAGE Als Theaterprojekt gleichwohl wurde das Stück nicht realisiert. Ich will ein Kind kam zu Tret’jakovs Lebzeiten nie zur Aufführung, und nach den schwierigen Auseinandersetzungen um die Inszenierung, wandte sich Tret’jakov verstärkt dem Drehbuch und der Prosa zu, vor allem der Entwicklung der operativen Skizze. Geographischer und konzeptioneller Ort dieser Entwicklung ist die Kommune »Kommunistischer Leuchttum«, die Tret’jakov erstmals im Juli 1928 im Rahmen der Aktion »Schriftsteller, in die Kolchose!« besucht. Rückblickend bringt er diese Wochen auf die Formel »starke Kommune und schwacher Schriftsteller« (moščnaja kommuna i bespomoščnyj pisatel’).25 Es bleibt eine Phase der reinen Beobachtung, eine Zeit der Skizzen, die »naturgemäß nur das wiedergaben, was ich in der Eile mit ungeschultem Auge aufzufangen vermochte«. Zurück in Moskau beschließt Tret’jakov, seine nächsten Reisen zum »Kommunistischen Leuchtturm« nicht als Besucher, sondern als Mitglied zu unternehmen. Während seines zweiten Aufenthalts im Oktober 1929 »verwandelt sich der Schriftsteller in einen Kolchoznik«, und von Januar bis Oktober 1930 arbeitet Tret’jakov im Kombinat Herausforderung (Vyzov), das sich um die Kommune herum gebildet hat, als Ratsmitglied, Bildungsfunktionär und Redakteur der Kombinatszeitung. Seine Arbeit dokumentiert er in Notizen, Protokollen, Fotografien, er rekrutiert ein Kamerateam des Mežrabpomfil’m, um eine Langzeitfilmstudie über das Kombinat zu drehen – und er schreibt Skizzen, die »von Reportagen eines Beobachters zu Arbeitsausweisen eines Teilnehmers« werden.26 In der Transposition vom Beobachten zum Teilnehmen, vom Auf-
25 S. Tret’jakov: Vyzov, Kolchoznye očerki, S. 3. 26 S. Tret’jakov: Raport pisatelja-kolchoznika, S. 12. Dt:. Feld-Herren, S. 110.
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zeichnungsdokument zum Arbeitsausweis experimentiert Tret’jakov mit der Verwandlung dieses Genres »von bloßen Informationen in Operationsberichte. Sie zählen nicht nur auf, was sich an Tatsachen begibt, sie sehen diese Tatsachen in ihrem Zusammenhang und fordern zum unverzüglichen Eingriff in die sich vollziehenden Geschehnisse auf.«27 Mehr noch sind sie bereits Eingriff. In seinem zweiten Sammelband von Kolchosskizzen Die Herausforderung (Vyzov) spitzt Tret’jakov den Konflikt von chronikalischem und operativem Element auf eine Auseinandersetzung um die Gewalt der Rede zu, die nur noch mit juristischen Mitteln ausgetragen und reguliert werden kann.28 Eine der Skizzen mit dem Titel »Die Säuberung« (Čistka) verhandelt diesen Konflikt vor Gericht und interpretiert in einer Prozessszene das dramatische Prinzip der Katharsis zu einem Akt der Sprachreinigung um. Der kurze Text dokumentiert in seinem ersten Teil zunächst die weiten Wege des Kolchosdirektors Markov, der in einem Akt übermenschlichen Arbeitseifers unermüdlich für die agronomische und politische Sache des (Aus)Siebens, Sortierens und Säuberns unterwegs ist. Wir sehen Markov erst in der Kreisstadt den Austausch von gewöhnlichem in erstklassiges Saatgut erwirken, danach in eine Baptistensiedlung eilen, wo es die Aussiedlung von Großbauern zu überwachen gilt, und schließlich nach Einbruch der Dunkelheit in der Kolchose »Neues Leben« eintreffen, um hier eine Sitzung der Entkulakisierungskommission zu leiten. Auf der Tagesordnung stehen der Ausschluss von fünf Großbauern aus der Kolchose und die Verwarnung zweier Mitglieder der sogenannten Dorfarmut. Man versammelt sich im kleinen Schulgebäude. Dem Procedere eines Gerichtsverfahrens gemäß, werden zunächst die Anschuldigungen durch den Kommissionsvorsitz vorgetragen, daraufhin haben die Angeklagten die Möglichkeit, sich zu den Punkten zu äußern, und schließlich ergreifen die Mitglieder der Kolchose das Wort. Das Ziel des Verfahrens wird vorweg formuliert: »Die Säuberung lehrt sie [d.i. die Dorfarmut, S.St.] ihr altes,
27 Tretjakov: Dt.: Feld-Herren, S. 113. Russ.: »Если я начинал свою колхозную работу очерками, которые поневоле только отображали то, что я поверхностно успевал схватить малоопытным глазом, то сейчас эти очерки из информационных становятся оперативными. Они не просто перечисляют факты, они видят эти факты в их развитии и требуют немедленного вмешательства в совершающиеся события. Очеркист-оперативник сменяет очеркиста-информатора.«, Raport pisatelja-kolchoznika, S. 12f. 28 Vgl. z.B. zur Auseinandersetzung von Belletristik vs. Skizze: Chronika, in: Lef 12 (1928), S. 44.
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traditionelles Schweigen gegenüber den Reichen zu brechen.«29 An den Stationen dieses juristisch initiierten und überwachten Sprachaneignungsprozesses zeigt sich nicht nur, wie die amorphe schweigende Masse des Kollektivs in den Regularien des Verfahrens schrittweise das Wort ergreift und sich als politische und rhetorische Macht artikuliert. Der Prozess gegen die Kulaken ist zugleich ein Prozess gegen Sprache, an dem sich beobachten lässt, wie Rede zensiert wird, wie Worte in der Wechselrede von Anklage und Verteidigung umgedeutet werden können: »Viermal ergriff jeder der Angeklagten das Wort, bevor die Dorfarmut aufbrauste und die Schweigenden zu sprechen begannen. Ihre misstrauischen, spöttischen Stimmen kämpfen gegen den Beschwerdeton der gemästeten Leute, und das, was den Angeklagten als Kleinigkeit und Krittelei erscheint, wächst in den Reden der Dorfarmut zur Dimension schwerer und gewaltiger Schuld an.« »Раза по четыре брали обвиняемые слово, прежде чем прорвало бедноту и заговорили молчащие. Недоверчивые и полунасмешливые голоса бьют по жалобным интонациям разъевшихся людей, и то, что обвиняемым кажется мелочью и придиркой, в речах бедноты вырастает до тяжелых и грозных размеров вины.«30
Sukzessive verschiebt sich im Verlauf der Beweisführung die Anklage von den angeblich begangenen Taten der Angeklagten auf die Inkriminierung ihrer Rhetorik. Immer stärker rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie sie sich sprachlich zur Anklage selbst verhalten, wie sie den Begriff der Säuberung auslegen und sich durch ihre Rede dem forensischen Diskurs entziehen. Ihr politisches Vergehen wird damit zu einem Delikt in der Sprache selbst. Schuldig werden sie im Sprechen bzw. erst in der Verteidigungsrede, welche doch die Schuld einer vergangenen Tat tilgen soll, begehen die Angeklagten einen neuen und nun den eigentlichen Verstoß. So sehr der Säuberungsprozess, den Tret’jakov erzählt, von der Ermächtigung zum Sprechen handelt, so sehr hält er darauf zu, dass sich, wie Judith Butler konstatiert hat, »Sprechen […] stets in gewissem Sinne unserer Kontrolle [enzieht]«.31 Die Erzählung »Säuberung« ist als Protokoll einer Verhandlung Ort und Medium einer Ahndung von Taten als Regulierung von Sprache. Sie definiert die Parameter weniger eines Handlungsdiskurses als
29 S. Tret’jakov: Čistka., S. 298. »Чистка учит ее ломать свое старое, привычное молчание перед зажиточным.« 30 Ebd., S.301. 31 J. Butler: Hass spricht, S. 29.
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vielmehr eines Diskurses von Sagbarkeit und Unsagbarkeit, von zulässiger und verbotener Rede. Keines der Worte aber, die Rechtsbrüche verüben, keine der Reden, die schuldig machen, hören wir. Die Rhetorik der Straftat als einer Sprachtat, für welche die Angeklagten werden haften müssen, bleibt in der Berichtsperspektive einer Textinstanz gefiltert, die sich indirekt nur als Staatsanwalt zu erkennen gibt. Doch dann kommt es für einen kurzen Moment zu einer signifikanten Durchbrechung dieses Modus, als der verwarnte Mel’nikov die Ordnung der Rede stört und sich in einem Akt vorauseilenden Gehorsams schuldig bekennt: »Ich bin ein nervöser Mensch. Vielleicht stell’ ich was Schlimmes an. Vielleicht kann ich mich nicht beherrschen. Ihr habt mich verwarnt. Nun stehe ich unter Beobachtung. Ihr habt mir gesagt, ihr werdet mich rauswerfen (Replik aus der Menge: »Und das werden sie«). Dann werft mich jetzt gleich raus (schreiend), zusammen mit ihnen (verzweifelt). Wozu warten! Alle zugleich!« »Я нервный человек. Я, может быть, чего плохого наделать могу. Я, может, не удержусь. Вы мне предупреждение сделали. Меня на подозрение взяли. Сказали, что вышибете меня (реплика из толпы: ›И вышибут‹). Так вышибайте сейчас (криком), вместе с ними (истошно). Чего ждать! Заодно!«32
An dieser Stelle scheint die Zwangsdiskursivität der Gerichtsrede außer Kontrolle zu geraten. In einer an die dramatische Form ‒ und zugleich das Stenogramm eines Gerichtsprotokolls ‒ erinnernden Szene mit Zwischenruf und eingeklammertem Intonationsnebentext bricht sich eine Prozessdynamik Bahn, das Verbrechen, noch bevor es überhaupt geschehen ist, schon als mögliches zu gestehen und im Geständnis einer potenziellen Schuld diese zugleich zum Faktum werden zu lassen. In Mel’nikovs Vorwegnahme eines drohenden Urteils zeigt sich nicht nur die Internalisierung des Prinzips der Säuberung als Selbstdenunziation, sondern die Gewalt der juridischen Redeordnung, die bereits mit der Artikulation eines Verdachts das Verbrechen hervorruft, die mit der Antizipation eines Vergehens dasselbe konstituiert. Derrida hat in seiner Studie zur Gesetzeskraft vermutet, die performative Handlung als Sprechakt, als Justizakt oder als Rechtstat berge »in sich stets eine plötzlich ausbrechende Gewalt und gehorch[e] nicht einfach den Erfordernissen der theoretischen Rationalität.«33 Noch ohne dass die Androhung einer Gewalt schon realisiert wäre, vollzieht Mel’nikov den
32 S. Tret’jakov: Čistka, S. 302. 33 J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 55.
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richtenden Akt selbst. Zugleich aber ist seine Selbstanklage ein verzweifelter Versuch, die Autorität über das eigene Sprechen und Handeln zurückzugewinnen, sich in einem paradoxen Akt der Unterwerfung als souveränes Subjekt des Sprechens und Handelns zu reinstitutionalisieren, ohne der Drohgebärde des Gerichts rechtliche Gegenmittel entgegenzusetzen. In der Affirmation eines noch nicht vollzogenen Urteils erhebt der Verdächtige Einspruch gegen den juridischen Gewaltdiskurs der Säuberung, durch die Wiederholung ihres Gesetzes zieht er es in eine Übererfüllung hinein, welche dessen disziplinierenden Imperativ zu durchkreuzen drohen. Es kommt hier zu einer Situation, die Butler ein »konstitutives Fehlschlagen der performativen Äußerung« genannt hat, da die performative Äußerung stets mehr erschafft als sie zu erschaffen meinte und es dadurch einerseits zu einem Überschuss und andererseits zu einem »Rückstand zwischen dem diskursiven Befehl und seiner angeeigneten Wirkung« kommt.34 Sprechakt und Rechtspakt begegnen hier einander in einer wechselseitig überformenden Wirkung. Indem aber Mel’nikov die Sprachlogik des juridischen Performativs offenlegt, begibt er sich außerhalb des Sagbaren und setzt seinen Status als Subjekt und als Figur dieses Textes aufs Spiel.35 Diese Situation ist der kritische Moment, in dem die repressive Stimme des operativen Erzählers (očerkist-operativnik) in seiner Funktion als Staatsanwalt erstmals laut wird. »Das begann verdächtig nach Märtyrertum zu riechen. Höchste Zeit, das Wort zu ergreifen.« (»Zapachlo mučeničeskim vencom. Nado brat’ slovu.«) In einem Plädoyer, das die Anhörung beschließt, nennt Tret’jakov die Aussagen der Angeklagten eine Lüge, Mel’nikovs Aussage wird als hysterische Rede aus dem Verfahren ausgegrenzt und aus dem forensischen an den psychopathologischen Diskurs verwiesen. Durch eine Abstimmung wird das Urteil gefällt und das Verfahren für beendet erklärt.
34 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 174. 35 »Sich außerhalb des Bereichs des Sagbaren zu begeben, heißt seinen Status als Subjekt aufs Spiel zu setzen.« J. Butler: Hass spricht, S. 189.
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V. AUTOREN VOR G ESETZ Der Formalist Osip Brik attestiert 1929 der ästhetisch unaufgeklärten, voravantgardistischen russischen Intelligencija eine Unfähigkeit, zwischen Literatur und Leben, zwischen Fiktion und Fakt zu unterscheiden: »Die Leute gingen zu Gerichtsverfahren wie ins Theater und vergaßen, dass vor ihnen kein Schauspieler, sondern ein lebendiger Mensch stand. Und umgekehrt wurden Prozesse gegen Romanhelden geführt und dabei vergessen, dass es sich nicht um lebendige Menschen, sondern um fiktive Personen handelte.«36 Auch wenn Brik gegen diese Vermischung der Sphären des Fiktiven und des Realen polemisiert, so partizipiert die Avantgarde – etwa im Genre der agitsudy – doch massiv an diesen transgressiven Praktiken des Als-ob, um in dokumentarischen Doppelwelten die ästhetische Urteilsschwäche des Rezipienten in eine juridische Urteilsstärke zu verwandeln. Tret’jakov reagiert auf die problematische Verwechslung von juridischem und ästhetischem Urteil mit einer Poetik, welche die Übergänge von Text und Prozess nicht als mystifizierende Aberrationen einer symbolistischen Lebenskunst praktiziert, sondern als Inkraftsetzung des Wortes in der Welt.37 In der Spät- und Postavantgarde aber führt die Aneignung von Methoden der Rechtspraxis durch die Kunst zu einer Situation, in der nicht mehr fiktive Figuren zu realen Angeklagten werden, sondern reale Autoren mit fiktiven Anklagen überzogen werden. An dem Punkt, an dem sich Kunst als juridische Praxis etabliert und ihren machtdiskursiven Anspruch auf Bestrafungshoheit erhebt, sich gewissermaßen zur »Strafpotenz« (Witte) ermächtigt, wird sie selbst zum Schuldigen in einem politischen Strafprozess.38 Tret’jakovs Versuch, der operativen Sprachgewalt durch den juridischen Pakt einen diskursiven Rahmen zu geben, in dem die Setzungsmacht des Wortes als (oder mit) Gesetzesgewalt durchsetzbar ist, markiert damit den Beginn einer Redekultur, in der das Syntagma von Wort als Tat erneut zum kriminellen Tatbestand wird. Sein juridischer Pakt mit der Literatur wird in dem Moment zur Straftat, in dem der Staat beginnt die Grenzüberschreitung zwischen Theater und
36 O. Brik: Bliže k faktu, S. 83 »Люди ходили на уголовные процeссы, как в театр, забывая, что перед ними не актер, а живой человек. И обратно – устраивались суды над героями романов … забывая, что это не живой человек, а вымышленный персонаж.« 37 Vgl. zur symbolistischen Transgression von Kunst und Leben Sch. Schahadat: Das Leben zur Kunst machen, insbes. Kap. III. 38 Vgl. zur Selbsterhebung der Kunst als Machtprivileg und der damit einhergehenden »Strafpotenz« der Kunst in der Moderne G. Witte: Kunst als Strafe für Kunst.
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Gericht zu nutzen, um über Literatur Gericht zu halten, um Schriftstellern den Prozess zu machen, die mit ihren Worten Verbrechen zu begehen drohen. Damit zieht die Autorisierung des Schriftstellers als verantwortliche Instanz seines Textes sein Schreiben in einen Prozess hinein, der in die Verhaftung und Vernichtung von Autorschaft führt. Mit der Unterzeichnung des juridischen Pakts der Literatur bekräftigt Tret’jakov zugleich die totalisierenden Effekte sprachlicher Operativität, die ihn selbst vor Gericht bringen werden. Am 16. Juli 1937, drei Jahre, nachdem Tretjakov das Haftungsprinzip des Schriftstellers zum Programm erhoben hat, wird er ‒ neben vielen anderen Schriftstellern ‒ zum Angeklagten in der dritten Welle der Säuberungsprozesse, die in den Stalinistischen Schauprozessen kulminiert. Kaum drei Monate nach seiner Verhaftung, am 10. September, wird er nach einer zwanzigminütigen Verhandlung zum Tod durch Erschießen verurteilt, das Urteil noch am selben Tag vollstreckt.39
L ITERATUR Primärliteratur Tret’jakov, Sergej: »Raport pisatel’ja-kolchoznika« [Bericht eines KolchosSchriftstellers ], in: ders., Mesjac v derevne. (Ijun’-ijul’ 1930g.) Operativnye očerki [Ein Monat auf dem Lande (Juni-Juli 1930) Operative Skizzen], Moskau: Federacija 1931. — Vyzov. Kolchoznye očerki [Die Herausforderung. Kolchos-Skizzen], Moskau: Federacija 21932. — Feld-Herren. Der Kampf um eine Kollektivwirtschaft, Berlin: Malik 1931. — Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts, (Hg. Heiner Boehncke), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972. — Ich will ein Kind haben! (1. Fassung). Übers. von Fritz Mierau. Berlin: Henschel Verlag 1995. Sekundärliteratur Benjamin, Walter: »Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller«, in: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 190-194.
39 Die NKVD-Akte zu Tret’jakov ist publiziert in: V.F. Koljazin (Hg.): Vernite mne svobodu!.
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— »Neue Dichtung in Rußland« [1927], in: Gesammelte Schriften in sieben Bänden (Hg. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, Bd. II/2, S. 755-762. — Moskauer Tagebuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. Brik, Osip: »Bliže k faktu« [Näher zum Fakt], in: Nikolaj Čužak (Hg.), Pervyj sbornik materialov rabotnikov LEFa [Erster Sammelband von Materialien der Arbeiter des LEF], Moskau: 1929 [Reprint Moskau: Verlag Sacharov 2000]. Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. — Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Cassiday, Julie: The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screen, DeKalb/Ill.: Northern Illinois Univ. Press 2000. Čužak, Nikolaj: »Literatura žiznestroenija« [Literatur des Lebensbauens], Teil I, in: Novyj LEF 10 (1928), S. 2-16. — »Literatura žiznestroenija« [Literatur des Lebensbauens], Teil II, in: Novyj LEF 11 (1928), S. 15-19. Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Evreinov, Nikolaj N.: Istorija telesnych nakazanij v Rossii [Die Geschichte der Körperstrafen in Russland], St. Petersburg: Il’inčik 1917. — [dt. Übersetzung:] Die Körperstrafen in der russischen Rechtspflege und Verwaltung, Leipzig: Verlag für Sexualwissenschaften 1931. Gor’kij, Maksim: O literature [Über Literatur], Moskau: Sovetskij pisatel’ 1958. — [dt. Übersetzung:] Über Literatur, Berlin/Weimar: Aufbau 1986. Gough, Maria: »Radical Tourism. Sergei Tret’iakov at the Communist Lighthouse«, in: October 118, Fall 2006, S. 159-178. Günther, Hans: Die Verstaatlichung der Literatur. Entstehung und Funktionsweise des sozialistisch-realistischen Kanons in der sowjetischen Literatur der 30er Jahre, Stuttgart: J.B. Metzler 1984. Koch, Gertrud/Sasse, Sylvia/Schwarte, Ludger (Hg.): Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München: Wilhelm Fink 2003. Kolesov, Vladimir V.: Slovo i delo. Iz istorii russkich slov [Wort und Tat. Aus der Geschichte russischer Wörter], St. Petersburg: St. Peterburgskij Universitet 2004. Koljazin, Vladimir F. (Hg.): »Vernite mne svobodu!« Dejateli literatury i iskusstva Rossii i Germanii – žertvy stalinskogo terrora [»Gebt mir die Frei-
W ORT
UND
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Die Falle der Erinnerung: das »Treblinka-Lied« in Claude Lanzmanns Shoah Z OLTÁN K ÉKESI
In einem kaum dreiminütigen Abschnitt des Filmes Shoah singt Franz Suchomel, ehemaliger SS-Unterscharführer des Lagers Treblinka, das Lied, das das jüdische Arbeitskommando des Lagers singen musste.1 Der Text dieses »Liedes« figuriert die Singenden nicht als unterworfene Subjekte, sondern als freiwillige Diensttuende in einem Arbeitslager, das sie durch »ein kleines Glück« einmal verlassen können. Dieser Abschnitt des Films ist Teil eines langen Interviews, das der Regisseur Claude Lanzmann 1976 für seinen inzwischen klassisch gewordenen Film mit Franz Suchomel über Treblinka führte. Täteraussagen werden im Zusammenhang des Nazi-Genozids unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht, und zwar entlang von Fragen wie: Wie können Taten anhand der Aussagen historisch rekonstruiert werden? Wie können diese Taten moralisch oder juristisch beurteilt werden? Welche Ideologien standen im Hintergrund dieser Taten? Wie lassen sie sich psychologisch erklären? Meine Fragen lauten anders: wie lässt sich dieses »Lied« als Instrument der »Biomacht«2 und gleichzeitig als mündlich überliefertes Dokument der Machtausübung interpretieren? Wie lässt sich jene »archontische Gewalt«3 im »Lied« lesen, die es als Instrument und gleichzeitig als Dokument der Unterwerfung
1
Shoah (Fr. 1985, R: Claude Lanzmann).
2
Vgl. G. Agamben: Homo sacer.
3
Unter »archontischer« oder archivalischer Macht verstehe ich im Sinne von Jacques Derrida jene Macht, die in der Herstellung eines Dokumentes sowie in der Festlegung seiner Bedeutung und seines Ortes zur Geltung kommt. J. Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 36.
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hervorbrachte? Und schließlich: worin besteht Claude Lanzmanns Politik, als er in seinem Film Suchomel auffordert, das »Lied« zu singen? Was geschieht im Film durch das Singen dieses »Liedes«? Worin liegt die Politik seines Wiederholens – jenseits des Gestus des Zeigens und der Enthüllung eines »Geheimnisses«? In den Materialien des Düsseldorfer Treblinka-Prozesses und den Memoiren der Überlebenden habe ich noch eine andere Textvariante des »Liedes« gefunden, die die Überlebenden überliefert haben. Wichtig ist mir nicht, wann und wie diese beide Textvarianten zustande kamen. Die »Entzweiung« oder Dissemination des Textes entzieht das »Lied« der Macht, die das »Lied« schrieb oder schreiben ließ und seinen Text und seine Bedeutung festschrieb. Anstatt der Frage nachzugehen, welche Variante »authentischer« sei, oder ob ein dritter und »authentischerer« Text hergestellt und im Namen einer anderen institutionellen Macht – der archontischen Macht der Philologie – gesichert werden kann, sollen hier die folgenden Fragen gestellt werden: Was geschieht durch die »Entzweiung« oder Disseminiation des Liedtextes? Welche Möglichkeiten hat hier – im Zusammenhang literarisch-textuellen Zugangs zur Vergangenheit – der Widerstand gegen die archivalische Macht, die durch das »Lied« und durch die Festlegung seiner Bedeutung ausgeübt wurde? Inwiefern kann das »Lied« gegen diese Macht Widerstand leisten?
1. D AS I NTERVIEW :
EINE
K AMPFZONE
Bis 1985, als der Film Shoah zum ersten Mal gezeigt wurde, gehörte Suchomel nicht zu den bekannten Tätern des Genozids: als SS-Unterscharführer und Aufseher der sog. »Goldjuden« (des Arbeitskommandos, das die Wertsachen der Getöteten erfassen musste), nahm Suchomel innerhalb der Hierarchie der SS eine untergeordnete Stelle im Lager ein. Ausserdem fiel er weder durch besonderes ideologisches Engagement noch durch besondere psychologische Abweichung auf. Suchomel stand 1964/65 in dem Düsseldorfer Treblinka-Prozess vor Gericht, wo er nicht als Mittäter, sondern als Beihilfe verurteilt wurde. An einer Stelle des Interviews verweist Suchomel darauf, dass seine Aussagen »gerichtlich bewiesen« seien. Das Urteil des Düsseldorfer Gerichtes ist für Suchomel wichtig, da es ihm ermöglicht, sich selbst von den »wahren« Tätern zu unterscheiden und jene Rolle anzunehmen, die ihm Lanzmann anbietet, als er sagt: »Herr Suchomel, wir reden nicht über Sie, wir reden nur über Treblinka, weil Sie sind ein sehr wichtiger Augenzeuge und Sie können uns erklären: was war Treblinka.«
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Das Urteil, das in diesem Interview Suchomels Sprecherposition autorisiert, ist Teil eines breiteren erinnerungsgeschichtlichen Zusammenhangs und somit jener ambivalenten Erinnerungspolitik unterworfen, die die Verweigerung der individuellen Verantwortung im Nachkriegsdeutschland bis zu den Prozessen der 60er Jahre erleichterte. Den Urteilsverfahren lag ein Rechtssystem zugrunde, das es ausschloss, Angeklagte ohne bewiesenen ideologischen Tatendrang oder sadistische Absichten als Mittäter zu verurteilen.4 In den Prozessen der Nachkriegszeit waren außerdem die Zeugenaussagen der Überlebenden nur unter Vorbehalt ins Urteilsverfahren einbezogen und damit weitgehend marginalisiert.5 Spuren dieser Erinnerungspolitik finden sich noch im Diskurs Suchomels und in den Aussagen anderer ehemaliger SS-Männer in Lanzmanns Film. Suchomel ist der wichtigste Zeuge unter den ehemaligen SS-Männern und Schreibtischtätern, die in Claude Lanzmanns Film über den Holocaust sprechen. Im Gegensatz zu den anderen ist er willig, unter bestimmten Bedingungen über die Vergangenheit zu sprechen. Seiner Aussage gingen monatelange Verhandlungen über ihre Bedingungen voraus, so wurde u.a. festgelegt, dass das Interview nicht gefilmt werden durfte und die Aussage ausschließlich durch Tonaufnahme und anonym gespeichert werden sollte.6 Als Suchomel an einer Stelle des Interviews sagt, »aber bitte, nennen Sie mich nicht bei meinem Namen«, verweist er auf diese Vereinbarung. »Nein, nein, ich habe es versprochen!«, antwortet Lanzmann. Jenseits dessen, was in diesem Interview gesagt oder ausgesagt wird, ist von vornherein ein wichtiger Bestandteil des Interviews, dass Lanzmann sein Versprechen nicht hält: man erfährt nicht nur den Namen, sondern sieht auch das Gesicht Suchomels durch das Bild einer geheimen Kamera. Obwohl Suchomel bereit ist, eine Zeugenschaft über das Lager Treblinka abzulegen, ist dieses Interview ein Kampf, und zwar zwischen mehreren archivalischen Mächten: der Strategie der Spurenvernichtung des Nazi-Regimes, dem Täterdiskurs der Nachkriegszeit, der Zeugenschaft der Überlebenden und dem ganzen Apparat der Spurensicherung, den Lanzmann einsetzt. Es geht aber nicht nur darum, dass uns Suchomel Daten und Informationen über das Lager Treblinka gibt und uns erklärt, »was war Treblinka«. Suchomel ist in diesem Film nicht nur »Augenzeuge«: in dem Abschnitt des Filmes, in dem er das »TreblinkaLied« singt, wird mehr gesagt, als er uns als Augenzeuge sagt.
4
Vgl. R. Wittmann: Tainted Law, S. 211ff.
5
Vgl. D. Bloxham: Genocide on Trial, S. 61-69, 124.
6
In seiner 2009 erschienenen Autobiographie gibt Lanzmann eine ausführliche Darstellung der Geschichte des Interviews, vgl. C. Lanzmann: Der patagonische Hase, S. 540, 568-573, 577-580.
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Wenn Suchomel glaubt, dass die jüdischen Überlebenden mehr über dieses oder jenes Detail wüssten als er, ist er stets bereit, die Kenntnisse der Überlebenden anzuerkennen. Als Lanzmann ihn fragt, wieviele Gaskammern in einem bestimmten Zeitraum im Lager in Betrieb waren, sagt Suchomel: »Die Juden sagen fünf auf jeder Seite, ich sage vier, aber ich kann es nicht behaupten«. Diese Anerkennung der »Autorität« der jüdischen Überlebenden dient aber auch dazu, seinen eigenen Abstand zur Tat zu betonen: als Lanzmann ihn fragt, wie viele Menschen die »neuen«, d.h. im September 1942 aufgebauten Gaskammern aufnehmen konnten, sagt Suchomel: »Das kann ich Ihnen als Deutscher nicht genau sagen, die Juden sagen 200«, obwohl nur schwer zu glauben ist, dass die SS keine genaue Daten darüber gehabt hätte. An dieser Stelle und auch an anderen Stellen des Interviews spielt die Topographie des Lagers eine wichtige Rolle: diese Topographie, die das Lager in einen unteren und einen oberen Lagerbereich teilte, hilft Suchomel, unterschiedliche Rahmen der Wahrnehmung und somit der späteren Erinnerung aufzustellen: das jüdische Sonderkommando sah mehr und war den Taten im oberen Lager, im »Totenlager«, näher als er, der im »unteren Lager« im Dienst war, weit weg von dem »eigentlichen« Schauplatz der Taten. An dieser Stelle wiederholt Suchomel jene Strategie, der die Aufstellung der jüdischen Sonderkommandos ursprünglich folgte: das Ziel der Zwangsarbeit, sagt Walter Sofsky, war nicht nur, die Lager überhaupt betreiben zu können, sondern auch, die Last der Verantwortung auf die Opfer zu schieben.7 Lanzmann erhielt von Alfred Spieß, dem Staatsanwalt des TreblinkaProzesses, den Plan des Lagers, der während des Prozesses benutzt wurde und den er »auf die Grösse einer Schultafel« vergrößern ließ. »Als Suchomel […] unser Studio betrat«, schreibt Lanzmann in seiner Autobiographie, und »unvermittelt vor dem großen Plan von Treblinka stand, […] wich er zurück. Ich beruhigte ihn, indem ich ihm den Zeigestock in die Hand drückte und sagte: ›Ich bin Ihr Schüler, Sie sind mein Lehrer, Sie werden mich unterrichten‹.«8 Das Interview verläuft vor dem vergrößerten Plan des Lagers, auf dem uns Suchomel den Aufbau des Lagers und den Vorgang des Tötens erklärt. Die Topographie des Lagers macht es Lanzmann möglich, Suchomel Schritt für Schritt beschreiben zu lassen, wie das Lager Treblinka, »der effizienteste Mordapparat, den es je gegeben hat«9, funktionierte. Dieselbe Topographie macht es Suchomel möglich, seinen eigenen Abstand zum Beschriebenen herzustellen: er spricht als »Lehrer«
7
Vgl. W. Sofsky: Die Ordnung des Terrors, bes. S. 304.
8
Lanzmann: Der patagonische Hase, S. 578.
9
W. Benz: Treblinka, S. 407.
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und Augenzeuge vor dem Hintergrund des Plans, der ihm zu Hilfe kommt, als er die verschiedenen Rahmen der Wahrnehmung und damit der späteren Erinnerung festlegt, d.h. die beiden Orte bezeichnet, an denen er und die »Juden« den Vorgang des Tötens sahen und sich daran beteiligten. In diesem Sinne ist die gleichzeitig reale und symbolische Topographie des Lagers eine Kampfzone der Erinnerung zwischen Suchomel und den jüdischen Überlebenden. Diese Unterscheidung zwischen der »deutschen« und der »jüdischen« Erinnerung zieht sich durch seinen ganzen Diskurs. Im Folgenden geht es um einen Abschnitt, in dem sich diese Unterscheidung in seinen Diskurs am gewaltigsten einschreibt.
2. D AS »L IED
VON
T REBLINKA«
In einem kurzen Abschnitt des Filmes singt Suchomel jenes »Lied«, das das jüdische Arbeitskommando des Lagers singen musste. Das »Lied« entstand zu der Zeit, als wegen der erhöhten Leistungsfähigkeit der neuen Gaskammern die Aufstellung eines »Judenkommandos« notwendig wurde.10 Die Aufgabe des »Liedes« bestand darin, als Instrument der Biopolitik die Macht über das »bloße Leben« (Agamben) zu medialisieren. Indem es die »Arbeitsjuden« als freie Subjekte figurierte, also das Sprechen der Deportierten deformierte, half das Lied aus dem Rest der politisch definierten – und in diesem Sinne sich selbst definierenden, das heißt: widerstandsfähigen – Lebens ein »bloßes Leben« zu erzeugen.11 In den ersten Einstellungen sieht man das Haus, das Lanzmann für die Aufnahme des Interviews gemietet hatte, und vor dem Haus einen Kleinbus. Auf dem Bild erscheint die Aufschrift: »Franz Suchomel SS Unterscharführer«, und aus dem Hintergrund hört man schon das Singen. Als die Kamera heranzoomt, erblickt man in dem Kleinbus ein Abhörgerät und auf dem rauschigen Bild des Gerätes das Gesicht Suchomels. An dieser Stelle bittet Lanzmann Suchomel, das »Lied« noch einmal zu singen. Suchomel ist die Situation unangenehm, er sagt zu Lanzmann, »Nehmen Sie es nicht übel. Sie wollten Geschichte haben, und ich sage Ihnen Geschichte.« Die grammatisch ungenaue Form des Satzes ermöglicht
10 Zur Aufstellung des Arbeitkommandos s. Y. Arad: Belzec, Sobibor, Treblinka, S. 105f. 11 Laut Suchomel mussten die Deportierten das »Lied« am Abend ihrer Ankunft schon mitsingen. Wer das »Lied« nicht singen konnte, wurde beim Abendappell einer Prügelstrafe unterzogen. Hierzu s. noch: A. Rückerl: NS-Vernichtungslager, S. 213.
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zwei Lesarten: »Sie wollten die Geschichte kennen, und ich spreche zu Ihnen über die Geschichte«, d.h. das, worüber er spricht, sei Geschichte geworden, sei abgeschlossen, und er sei es, der imstande ist, die Geschichte zu erklären. Eine andere Lesart könnte lauten: »Sie wollten eine Geschichte hören, und ich erzähle Ihnen eine Geschichte«: es sei nur eine Geschichte, ein kleiner, aber nicht unwichtiger Teil der Vergangenheit, dessen, was bereits Geschichte geworden ist. An dieser Stelle erzählt Suchomel die Entstehungsgeschichte des »Liedes«: die Melodie stamme aus Buchenwald, und Kurt Franz, der spätere stellvertretende Kommandant des Lagers Treblinka habe sie nach Treblinka gebracht und selber den Text zu der Melodie verfasst. Dieser Bericht über die Entstehung des »Liedes« ist gleichzeitig ein Umweg: als ob Suchomel Zeit gewinnen wolle, bevor er ein zweites Mal das »Lied« singt, als ob er die Rahmenbedingungen seiner Aussage noch einmal festlegen wolle: »Sie wollten Geschichte haben und ich sage Ihnen Geschichte«, d.h. ›ich habe mich verpflichtet, eine Geschichte zu erzählen‹, oder ›über die Geschichte zu sprechen‹, d.h. ›meine Aufgabe ist nur, einen Bericht zu geben, und nicht, das Lied zu singen‹. Letzteres geht nämlich über seine Rolle als Lehrer und Augenzeuge hinaus. Das heißt: Suchomel versucht, vor der Performanz des »Liedes« zu der Referentialität einer Geschichte oder der Geschichte zu fliehen. Aber Lanzmann versichert ihm, dass es sehr wichtig sei, dass er das »Lied« noch einmal singe, »aber stärker, bitte«: »Fest im Schritt und Tritt und der Blick geradeaus, immer fest und fest in die Welt geschaut, marschieren Kommandos zur Arbeit! Für uns gibt’s heute nur Treblinka, das unser Schicksal ist. Drum haben wir uns auf Treblinka eingestellt in kurzer Frist. Wir kennen nur das Wort der Kommandanten, und nur Gehörsamkeit und Pflicht. Wir wollen weiter, weiter leisten, bis dass das kleine Glück uns einmal winkt – Hurra!«
Als Suchomel anfängt, das »Lied« zum zweiten Mal zu singen, erblickt man sein Gesicht auf dem rauschigen Bild des Monitors in Nahaufnahme. Von der ersten Einstellung an bewegt sich die Kamera auf dieses Bild zu. Diese Bewegung hält
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nur für das kurze Intermezzo inne, in dem Suchomel die Geschichte des »Liedes« erzählt. Als Suchomel anfängt, das »Lied« zum zweiten Mal zu singen, und der Zuschauer sein Gesicht in Nahaufnahme auf dem Bild des Monitors erblickt, hört der Zuschauer das »Lied« zum ersten Mal mit voller Stärke ertönen. Das heißt: der ganze Apparat der Spurensicherung mitsamt des Abhörgeräts, der inneren und der äußeren Kamera sowie dem nachträglichen Schneiden der Bildund der Tonspur trägt dazu bei, dass ein skopisches und ein auditives Moment zusammenfallen und einander verstärken. Es geht in diesem Moment nicht so sehr darum, dass etwas – das »Lied« –, das bisher geheim geblieben ist, enthüllt wird, sondern eher darum, dass Suchomel zum Akteur einer Handlung wird, die über seine Rolle als Augenzeuge hinausgeht. In diesem Moment sieht der Zuschauer keinen »Augenzeugen« einer Vergangenheit auf dem Bildschirm, sondern er wird selber Augenzeuge eines Ereignisses, das in dem Film sorgfältig und schonungslos inszeniert und gezeigt wird. Nachdem er das »Lied« beendet hat, fragt Suchomel Lanzmann: »Sind Sie jetzt zufrieden?« und fügt aufgeregt hinzu: »Das ist ein Original, das kann kein Jude heute mehr!« In diesem Abschnitt geht es natürlich um das Machtspiel zwischen Suchomel und dem Interviewer: Mit diesem Satz sagt Suchomel: ›Sie haben mich in eine unangenehme Situation gebracht, Sie sind aber auf mich angewiesen, wenn Sie die Geschichte oder die Geschichte des Liedes von Treblinka kennen möchten‹, d.h. ›wenn Sie wissen wollen: was war Treblinka, da ich bin der einzige authentische Augenzeuge‹. Es geht hier aber nicht nur um die Hierarchie zwischen Suchomel und dem Interviewer. Der Satz deutet eher an, dass ›es niemanden gibt, der das Lied gekannt und das Lager überlebt hat.‹ Aber es gibt Überlebende, und Suchomel verweist darauf an manchen Stellen des Interviews. Warum kann das »Lied« dann heute kein Jude mehr? Meint er etwa, dass die Juden die »Geschichte« des »Liedes« nicht kennen, da sie nicht wissen, dass Kurt Franz das »Lied« aus Buchenwald nach Treblinka gebracht hat? Nein, der Satz verweist viel eher auf das Singen des »Liedes«: ›Kein Jude wird Ihnen heute dieses Lied singen können‹. Geht es etwa darum, dass das »Lied« den Singenden in einer fremden Sprache aufgezwungen wurde, so dass sie nicht richtig verstehen konnten, was sie genau sangen? Oder sind die Juden keine authentischen Augenzeugen dieser Geschichte oder des »Liedes«, weil sie schon damals nicht im Besitz der Bedeutung des »Liedes« waren? In einem früheren Abschnitt des Interviews berichtet Suchomel, dass es der SS eine Zeit lang gelungen sei, den »Arbeitsjuden« vorzutäuschen, dass sie überleben können, d.h. dass ihnen das Glück einmal »winkt«, wie es im »Lied« heißt. Ab Anfang 1943, als die Transporte spärlicher und somit die großen Arbeitkommandos überflüssig wurden, begann die SS, sie verhungern zu lassen, und die Deportierten verstanden,
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dass ihr Leben allein von den Transporten abhing. Oder geht es etwa darum, dass die Deportierten sich weniger an das »Lied« erinnern können? Oder darum, dass sie das »Lied« ungern singen würden, selbst wenn sie es noch gut in Erinnerung hätten? Was würde geschehen, wenn die Überlebenden Richard Glazar oder Abraham Bomba das »Lied« vor der Kamera Lanzmanns gesungen hätten? Hätten sie sich nicht noch einmal als Subjekte der unterwerfenden Macht des »Liedes« erfahren müssen? Das »Lied« übt nämlich seine unterwerfende Kraft gerade durch sein Singen aus. Sollte man dann das »können« in Suchomels Satz in diesem Sinne verstehen? Dass es keinen Juden gibt, der heute dieses »Lied« singen könnte, d.h. imstande wäre, dieses »Lied« zu singen, auch dann, wenn er noch lebt und das »Lied« noch in Erinnerung hat? Soll etwa Suchomels Aussage bedeuten, ›ich bin es allein, der imstande ist, dieses Lied zu singen – als Deutscher‹? Dass es eine biopolitische Grenzlinie gebe, die ihn »als Deutschen« vor der unterwerfenden und zerstörerischen Macht des »Liedes« schützen sollte? Suchomels Überlegenheit ist natürlich nicht ungestört: Sie wurde von vornherein mit Verlegenheit kontaminiert, nämlich gerade dadurch, dass ihn Lanzmann das »Lied« singen lässt. Er wurde damit in eine Situation gebracht, in der er die Position der Deportierten einnehmen musste. Ist es diese Verwechslung der Positionen, diese Störung der Opposition des »deutschen« Selbst und des »abjektierten«12 Anderen, die Suchomel aufregt und die verborgene Gewalt der Unterscheidung zwischen den »Deutschen« und den »Juden« hervor- oder zutagebringt? Deshalb ist dieser Satz und das selbstsichere Lächeln Suchomels so verwirrend: In dieser Szene wird gerade jene Biomacht neu-inszeniert, die die Grenze zwischen den »Deutschen« und den »Juden« aufstellte und damit jene »Geschichte« hervorbrachte, deren Ort und Schauplatz u.a. Treblinka war. Ferner, in einem archivalischen Sinn, geht es in dieser Szene um die Fähigkeit, Zeugnis abzulegen: Die Frage ist nicht, wer sich richtig erinnert, die Frage ist vielmehr, wer die Möglichkeit und die Macht hat, zu sprechen und Zeugnis abzulegen. Lanzmanns Politik richtet sich darauf, den Zuschauern diese Dominanz, die in der Macht über die Möglichkeit der Zeugenschaft besteht (»Das ist ein Original, das kann kein Jude heute mehr!«), zu zeigen und auszuliefern. Nun stellt sich anhand der Materialien des Treblinka-Prozesses und der Memoiren der Überlebenden heraus, dass die Überlebenden einen anderen Text des »Liedes« und eine andere Entstehungsgeschichte überliefert haben. Laut dieser Entstehungsgeschichte stammt die Melodie nicht aus Buchenwald, und Kurt Franz ist nicht im engeren Sinne Autor des Liedtextes. Kurt Franz habe im Lager Treblinka befohlen, das »Lied« zu schreiben; Artur Gold, ein jüdischer
12 Zum Begriff der Abjektion s. J. Kristeva: Powers of Horror.
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Deportierter aus Warschau, habe die Melodie geschrieben, und Walter Hirsz, ein anderer jüdischer Deportierter aus Prag, habe den Text verfasst. Diese Textvariante weicht an einigen Stellen leicht von dem Text ab, den Franz Suchomel in Lanzmanns Film singt. »Frei in die Welt geschaut Marschieren Kolonnen zur Arbeit. Für uns gibt es heute nur Treblinka, Das unser Schicksal ist. Wir hören auf den Ton des Kommandanten Und folgen dann auf seinen Wink. Wir gehen Schritt und Tritt zusammen für das, Was die Pflicht von uns verlangt. Die Arbeit soll hier alles bedeuten Und auch Gehorsamkeit und Pflicht, Bis das kleine Glück Auch uns einmal winkt.« 13
13 Zitiert nach Rückerl: NS-Vernichtungslager, S. 213f. Diese Textvariante wurde aufgrund der Zeugenaussagen im Text des Urteils erfasst, der aber nicht von der Autorschaft von Walter Hirsz weiß. Laut dem Urteil wurde der Text von Kurt Franz, einem der Angeklagten des Prozesses, geschrieben, auf dessen Anordnung ein Lied »von dem Kapellmeister Gold, dem jüdischen Dirigenten der Kapelle des unteren Lagers« komponiert wurde (ebd., S. 213). Hinsichtlich der Autorschaft weichen auch die Memoiren der Überlebenden voneinander ab. Walter Hirsz wird u.a. in den Memoiren Samuel Willenbergs benannt, der schreibt, »die Hymne des Lagers wurde unter dem Titel Fester Schritt [sic!] von einem tschechischen Juden, Walter Hirsch [sic!] komponiert, der später im Lageraufstand starb« (vgl. S. Willenberg: Surviving Treblinka, S. 132f). Richard Glazar, der auch in dem Düsseldorfer Prozess aussagte und später einer der wichtigsten Zeugen des Filmes Shoah wurde, beschreibt in seinen 1992 veröffentlichten Memoiren die Szene, in der Kurt Franz Befehl zum Schreiben des Textes und der Melodie des Liedes gab, erwähnt aber nur den Namen von Alfred Gold und benennt den Autor des Textes nicht: »›Also, du schreibst zur Melodie, die Gold komponieren wird, den Text, und das Lied wird das Leben und die Arbeit hier in Treblinka beschreiben.‹« R. Glazar: Die Falle, S. 119. Die bei Glazar wiedergegebene Textvariante stimmt im Wesentlichen mit der oben zitierten überein (vgl. ebd.). Zur Autorschaft von Walter Hirsz vgl. noch www.holo caustresearchproject.org/ar/treblinka/treblinkarememberme.html
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Wer ist der Autor dieser Textvariante? Ist es Kurt Franz, der das Schreiben eines »Liedes« in Auftrag gegeben hatte, oder Artur Gold und Walter Hirsz, denen das Schreiben eines »Liedes« befohlen wurde, und die selber Unterworfene des »Liedes« waren? Wofür kann diese Textvariante als Dokument des Genozids Zeugnis ablegen? Das Treblinka-Lied »archiviert« in erster Linie jene Macht, die die Geheimnisträger durch das »Lied« in freie Subjekte transformierte und damit die Singenden unterwarf. Die von den Überlebenden überlieferte Textvariante unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der anderen. Und dennoch scheint diese zweite Textvariante etwas anderes zu bezeugen: der letzte Vers verweist durch das Auch auf eine latente Bedrohung und deutet gleichzeitig durch das letzte Wort, winkt auf den 5. und den 6. Vers zurück, die besagen, dass die Singenden, d.h. die »Arbeitsjuden« dem Wink des Kommandanten folgen. Es geht aber um mehr, wenn man bedenkt, dass die eher ungewöhnliche Zusammensetzung im 5. Vers, der Ton des Kommandanten von jener Textvariante, die Suchomel singt, genau an der Stelle abweicht, an der sie das Wort mit Ton ersetzt: Suchomel singt über das Wort des Kommandanten, das sehr wohl auch auf das Befehlswort verweisen kann, hier geht es aber um den Ton, der nicht die Stimme, sondern die Betonung, die Tongebung, die Intonation, kurz den Gesang oder den Ton eines Instruments konnotiert: das Lied selbst – das Lied des Kommandanten. Als ob dieser Vers auf den archontischen Ursprung des »Liedes« und auf seinen ursprünglichen Autor verweisen würde, auf jene Macht, die das »Lied« schreiben ließ und seine Bedeutung und seine Bestimmung festlegte. Dieser Vers figuriert die Singenden als Subjekte dieses ironischen Wissens – er figuriert sie als Subjekte, die zu einer Reflexion über die archontische Macht fähig sind.
3. T RAUMA UND R AUSCH In dem Interview gibt es zwei Stellen, an denen Suchomel über Ereignisse berichtet, durch die die biopolitische Grenze zwischen den »Deutschen« und den »Juden« verletzt wurde. Am Anfang des Interviews fragt Lanzmann nach seinen ersten Eindrücken in Treblinka. Nach langen Umwegen schildert Suchomel die Geschichte des ersten Tages an seiner neuen Dienststelle und die Erschütterung, die er beim Anblick der Toten erlebt habe. Die langen Umwege, die Suchomel macht, bevor er den Augenblick beschreibt, in dem er die Öffnung einer Gaskammer und die herausfallenden Leichen sah, sind bereits ein Anzeichen für
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eine Schockerfahrung, die nur ungern zu Wort gebracht wird.14 Die Geschichte des ersten Tages leitet zu der Schilderung der damaligen Situation im Lager über. Als er ankam – Ende August 1942 – sei das Lager »im Hochbetrieb« gewesen, so sehr, dass die Leichen wegen der vielen ankommenden Transporte nicht beseitigt werden konnten:15 »Suchomel: […] und weil so viel Menschen anfielen, so viel Tote, die man nicht wegräumen konnte, lagen tagelang ganze Haufen von Menschen vor der Gaskammer. Unter diesen Menschen war eine Kloake, zehn Zentimeter hoch, Blut, Würmer und Dreck. Lanzmann: Wo? Suchomel: Vor der Gaskammer. Es wollte das niemand wegräumen. Die Juden, die haben sich lieber erschießen lassen und haben dort nicht arbeiten wollen. Lanzmann: Lieber erschießen lassen? Suchomel: Ja, lieber erschießen lassen. Es war fürchterlich, ihre eigene Leute begraben und das ganze Ding sehen. Von den Leichen ist das Fleisch weggegangen … So ging Wirth16 selbst hinauf mit einigen Deutschen und ließ Riemen schneiden, lange Riemen, die hat man den Leichen um die Brust gelegt und hat sie weggeschleifen. Lanzmann: Wer hat das gemacht? Suchomel: Deutsche. Deutsche und Juden. Lanzmann: Deutsche und Juden. Suchomel: … und Juden, ja. Lanzmann: Juden auch? Suchomel: Juden auch, ja! Lanzmann: Und was haben die Deutschen gemacht? Suchomel: Die haben die Juden angetrieben, mit Peitschen, und haben mitgeholfen, die Leichen herauszuschleifen. […] Lanzmann: Ich denke, die Juden haben das gemacht. Suchomel: In dieser Situation mussten auch die Deutschen mit angreifen.«
14 Auch wenn aus historischen Forschungen hervorgeht, dass Suchomel zuvor in dem sog. »Euthanasie«-Programm gedient hatte (wie die meisten SS-Männer, die später in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka eingesetzt waren), d.h. er musste bei seiner Ankunft in Treblinka genau wissen, dass Menschen systematisch und mit Gas getötet wurden. Zu Suchomel s. H. Friedlander: The Origins of Nazi Genocide, S. 239. 15 Zur Situation Ende August 1942 und zur darauf folgenden Umorganisation des Lagers s. noch Arad: Belzec, Sobibor, Treblinka, S. 89ff. 16 Christian Wirth war zu dieser Zeit Inspekteur der Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, vgl. ebd., S. 182f.
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In dieser Geschichte, in der die Deutschen »mit angreifen« mussten, geht es um die Verletzung jener biopolitischen Grenze, die im Lager den »deutschen« und den »jüdischen« Körper voneinander trennte. Man könnte die Strategie, die diese Grenze aufstellte, die »Biopolitik der Hand« nennen. Diese Biopolitik der Hand sollte den »deutschen Körper« und die »deutsche Seele« schützen und kam in manchen wichtigen Entscheidungen über den Verlauf des Genozids zur Geltung: sie war einer der Gründe, dass es Ende 1941 nach einer Periode von Massenmorden durch Einsatzkommandos in den besetzten osteuropäischen Gebieten zur Verwendung von Gas kam; es geschah im Zeichen derselben »Biopolitik der Hand«, dass jüdische Sonderkommandos zum Betreiben der Gaskammern und zur Errichtung der »Handarbeit der Todesfabriken«17 aufgestellt wurden und später, ab Juni 1942, jüdische »Enterdungskommandos« zur Beseitigung der Massengräber in den Lagern und an den Orten der Massenmorde in den besetzten Gebieten. Yitzak Dugin und Motke Zaïdl, ehemalige Mitglieder des »Enterdungskommandos«, berichten in Lanzmanns Film, dass der Gruppe jüdischer Deportierter, zu der sie gehörten, verboten wurde, bei der Öffnung der Gräber und der Exhumierung der Leichen Werkzeuge zu verwenden. Die Aufgabe dieser »Biopolitik der Hand« war, den abjektierten Anderen zu unterwerfen und gleichzeitig den »deutschen Körper« und die »deutsche Seele« vor dem Schock und dem Trauma zu schützen. An den obigen beiden Stellen des Interviews geht es um solche Schock- oder Traumaerfahrungen. Die Historiographie beschreibt das Sublimieren oder Transformieren des Traumas mit dem Begriff des »Rausches«. Dieser Begriff wurde von Dominick LaCapra auf Grund der Analyse ausgearbeitet, die Saul Friedlander über das »Nazi-Erhabene« (nazi sublime) gab.18 Unter »Rausch« versteht LaCapra ein Element der Nazi-Rhetorik, dessen Aufgabe es war, Tätertraumata in ein Gefühl der Ekstase und der Erhabenheit zu transformieren.19 Nun interpretiert LaCapra das Singen in Claude Lanzmanns Film als Medium des »Rausches« und des Triumphgefühls (glory), d.h. er liest das Lied nicht aus der Sicht der Unterworfenen, sondern aus der Sicht der SS. LaCapra sagt, Suchomel singe »a song celebrating Treblinka«: Das Funkeln in den Augen Suchomels an einer Stelle der Szene drücke das Gefühl der Überlegenheit und des Triumphes der SS aus.20 Obwohl diese Szene, wie ich oben versuchte zu zeigen, nicht auf das Gefühl der
17 Sofsky, Die Ordnung des Terrors, S. 305. 18 Vgl. S. Friedlander: History, Memory, S. 104-111. 19 Vgl. D. LaCapra: History and Memory, S. 35. 20 Vgl. Ders.: Lanzmann’s Shoah, S. 127.
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Überlegenheit reduziert werden kann, beschreibt LaCapra ein wichtiges Moment im Singen des »Liedes«.
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Diesen Marsch ein »Lied« zu nennen, ist bereits Instrument der Unterwerfung der Singenden. Das Lied galt nämlich ursprünglich als Inbegriff für eine freie und spontane Selbst-Äußerung des Individuums: im Lied wurden Gesang und Gedicht als Medien einer »Innerlichkeit« verstanden. Anders gesagt: das Lied war eine literarische Technik, die Innerlichkeit herstellte. Im Folgenden versuche ich zu zeigen, dass das Singen für Suchomel gerade durch diese Eigenschaft des Liedes zur Falle wird. Das »Lied« aus Treblinka ist freilich ein Marsch und kein Lied im eigentlichen Sinne, denn in ihm spricht die Gemeinschaft der Deportierten und nicht jenes Ich, das Emil Staiger einmal »lyrisch gestimmt« nannte. Ist das Lied eine Gattung, die eine Technik des einsamen und stillen Lesens verlangt, erfordert der Marsch ein gemeinsames und lautes Singen. Der Marsch wird angelernt und eingeübt, beim Lied hingegen wird es »dem Leser zumute sein, als habe er selbst das Lied verfaßt. Er wiederholt es im Stillen, kann es auswendig, ohne es zu lernen, und spricht die Verse vor sich hin, als kämen sie aus der eigenen Brust«21. Anders gesagt: es wird dem Leser zumute sein, als sei das Lied keine Technik der Innerlichkeit, sondern der Ausfluss der Seele. Diesen Unterschied zwischen Marsch und Lied beschreibt Staiger entlang dem hegelianisch definierten Unterschied zwischen Gedächtnis und Erinnerung. Gedächtnis bezeichnet in diesem Sinne eine Mnemotechnik, die mechanische Wiederholung und materiell aufzeichnete Zeichen voraussetzt. Erinnerung hingegen heißt eine Verinnerlichung und innere Ansammlung der Erfahrungen. In diesem Sinne definiert Staiger das Lied als »Er-innerung«: das Ich des Liedes gehe in der Vergangenheit auf, »er ›erinnert‹. ›Erinnerung‹ soll der Name sein für das Fehlen des Abstands zwischen Subjekt und Objekt, für das lyrische Ineinander. Gegenwärtiges, Vergangenes […] kann in lyrischer Dichtung erinnert werden.«22 Diese Definition kann man heute nicht lesen, ohne die dekonstruktive Interpretation ihrer hegelianischen Begriffe hineinzuhören. Liest man bei Staiger, dass »das Lyrische eine Idee ist, die sich […] ihrem Wesen nach als Dichtung nie verwirklichen läßt«23,
21 E. Staiger: Grundbegriffe, S. 49. 22 Ebd., S. 62. 23 Ebd., S. 25.
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so muss man daraus folgern, dass Dichtung, und also auch das Lied aus Treblinka, ein Medium der Erinnerung ist, das von einer Technik der materiellen Einschreibung und der mechanischen Wiederholung niemals frei ist. Tilgt das Gedächtnis die Erinnerung, wie das Ich im Hegelschen Sinne sich selbst tilgt,24 verschwindet der Unterschied, der den Abstand zwischen Lied und Marsch definierte: Das Lied ist ein immaterielles Medium der Erinnerung und gleichzeitig ein gedächtnistechnischer Innerlichkeits-Apparat. Daraus folgt, dass ein NaziMarsch wie das »Lied von Treblinka« gleichzeitig ein Medium der Erinnerung und des Gedächnisses sein kann. Vorausgesetzt, dass der Begriff der materiellen Einschreibung nicht nur auf das Beschreiben eines Papierblattes, sondern auf jede memoriale Spur – das heißt auch auf die Einprägung eines Tons – zutrifft. In Lanzmanns Film hört man eine singuläre Stimme und sieht den Kopf des singenden Suchomels in Nahaufnahme. Diese Stimme entbehrt damit beider Momente, die ein Marsch, um ein Medium des Rausches zu sein, voraussetzt: sowohl die Gemeinschaft der Singenden als auch das Marschieren, d.h. die Körperlichkeit der Performanz. Dass das Singen trotzdem einen Effekt des Rausches auslösen kann, ist deshalb vielmehr jener Eigenschaft des Liedes zuzuschreiben, dass sich im Lied der Abstand zwischen dem Ich und der »er-innerten« Vergangenheit aufhebt: Das Ich des Liedes, sagt Staiger, gehe in der Vergangenheit auf. Dies ist es gerade, was verhindert, dass das Ich gegenüber der Vergangenheit irgendeinen – u.a. moralischen – Standpunkt einnehmen kann: »Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung«25. In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass der von LaCapra beschriebene Effekt des Rausches erst zustande kommt, als Suchomel das Lied zum zweiten Mal singt. Nachdem er das Lied zum ersten Mal gesungen hat, sagt Suchomel: »Wir machen das und lachen, aber es ist so traurig.« Dieser Satz impliziert, dass er es nicht allein und nicht freiwillig macht, und deutet gleichzeitig auf einen moralischen Standpunkt, der die Quelle seiner Verlegenheit ist. Der Effekt des Rausches kommt erst zustande, nachdem Lanzmann ihn auffordert, das Lied noch einmal zu singen. Die Wiederholung des Liedes dient nicht nur dazu, dass der Gesang gehört und aufgezeichnet wird; durch seine Wiederholung wird die »Erinnerung« der Vergangenheit und der Rausch erst herbeigeführt und inszeniert.26
24 Vgl. P. de Man: Zeichen und Symbol, S. 54. 25 Staiger: Grundbegriffe, S. 57. 26 Das Lied war von vornherein ein wichtiger Bestandteil der NS-Propaganda, und das Singen auswendig gelernter Lieder wurde nach 1933 ein fester Teil des Unterrichts, des Alltags und der Feste. So sehr, dass die zeitgenössische Presse im Rückblick auf die Geschichte des Nationalsozialismus aus dem Jahr 1938 die Ansicht vertrat, dass
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Wiederholbarkeit wohnt jeder Zeugenschaft inne, da sie erst durch die Möglichkeit ihrer Wiederholung die nötige Beglaubigung und Glaubhaftigkeit erhält: Wenn ich Zeugnis ablege, verpflichte ich mich, dass ich meine Aussage morgen oder später identisch wiederhole.27 Andererseits ist es gerade die Wiederholbarkeit, die die Zeugenschaft der Gefahr aussetzt, nicht dasselbe sagen zu können, und dass die Bedeutung der Aussagen – im Sinne der différance – sich verschieben kann. Darin besteht die Aporie der Zeugenschaft auch im Fall Suchomels: er muss das Lied wiederholen, da es nur dann glaubhaft und authentisch ist, wenn es wiederholbar ist; wird es aber wiederholt, geschieht durch die Wiederholung mehr, als er als »Augenzeuge« noch beherrschen kann. Lanzmanns Politik der Wiederholung liegt gerade darin, dass das Lied, ein Instrument der Biomacht in der Hand der SS, im Film zur Falle wird. Jedoch kann man nicht sagen, dass diese Falle allein durch den raffinierten Apparat des Filmes gestellt wurde. Die Möglichkeit der »Er-innerung« ruht auf der mechanischen Einschreibung einer memorialen Spur und auf ihrer Wiederholung und nochmaliger Einprägung und Bestärkung. Der Rausch tritt erst ein, als das Lied durch die Wiederholung noch einmal eingeprägt und eingeübt wird. Nachdem Suchomel den Gesang beendet hat, fragt er Lanzmann: »Sind Sie jetzt zufrieden?« »Die Erinnerung zieht das Gedächtnis nach«, sagt Staiger,28 das heißt es stellt den Abstand zwischen dem Ich und der Vergangenheit wieder her und legt die Verlegenheit offen, die die »Er-innerung« und der Rausch herbeiführte. »Das ist ein Original!«, sagt Suchomel, um seine Rolle als Lehrer und als Augenzeuge zu versichern und den referentiellen Diskurs der Zeugenschaft und die festgelegten Bedingungen des Interviews wieder zur Geltung zu bringen. Es blieb nur noch übrig, im Zusammenhang von Erinnerung und Gedächtnis noch einmal auf den Unterschied zwischen Stimme und Ton zu verweisen. Es
»das Erleben der Zeit im Lied Form gewann«, zit. nach J. Wulf: Musik im Dritten Reich, S. 264. Die Wiederholung spielte durch das ritualisierte Singen der Lieder wahrscheinlich vor und nach 1938 eine wichtige Rolle in der Rhetorik des Rausches. 27 Vgl. Derrida: Bleibe, S. 33. »In dem Moment, da man Zeuge ist […], in dem Augenblick, in dem man ein Zeugnis vorbringt, muß es auch eine zeitliche Verkettung beispielsweise von Sätzen geben, und vor allem müssen diese Sätze ihre eigene Wiederholung und damit ihre eigene quasi technische Reproduzierbarkeit versprechen. Wenn ich mich verpflichte, die Wahrheit zu sagen, verpflichte ich mich, dasselbe einen Augenblick danach, zwei Augenblicke danach, am nächsten Tag und für alle Ewigkeit auf eine bestimmte Weise zu wiederholen.« 28 Staiger: Grundbegriffe der Poetik, S. 56f.
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geht hier um den Unterschied zwischen der inneren Stimme des Ichs und der mechanischen Einprägung eines äußeren Tons, um jenen Unterschied also, der in der Textvariante der Überlebenden durch das Syntagma Ton des Kommandanten evoziert wird. Indem dieses Syntagma auf den archivalischen Urspung des »Liedes« und auf seinen ursprünglichen »Autor« verweist, zeigt es in der Stimme der Singenden den äußeren Ton und in der Erinnerung das Gedächtnis auf, das heißt in der freien Aneignung und Verinnerlichung des »Liedes« die Gewalt des Lernens und des Einübens. Es stellt dadurch gerade denjenigen Abstand zwischen den Singenden und dem »Lied«, zwischen den Arbeitsjuden und der archivalischen Macht, her, der sich laut Staiger im Lied aufhebt: das Sagen eines Liedes verlangt »gleichgestimmte«29. Das heißt: Dieser Text des »Liedes von Treblinka«, den die Überlebenden überliefert haben, entkommt der Falle des Liedes, diesem Innerlichkeit-Apparat, und stürzt die archivalische Macht über die Bedeutung um.
L ITERATUR Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. Arad, Yitzhak: Belzec, Sobibor, Treblinka: The Operation Reinhardt Death Camps, Bloomington: Indiana UP 1987. Benz, Wolfgang: »Treblinka«, in: ders./Distel, Barbara (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 8, München: C. H. Beck 2008, S. 407-443. Blanchot, Maurice/Derrida, Jacques: Bleibe, Wien: Passagen 2003. Bloxham, Donald: Genocide on Trial: War Crimes Trials and the Formation of Holocaust History and Memory, Oxford/New York: Oxford UP 2001. Derrida, Jacques: »Dem Archiv verschrieben«, in: Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (Hg.), Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 29-60. — Bleibe. Maurice Blanchot, Wien: Passagen 2003. Friedlander, Henry: The Origins of Nazi Genocide: from Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill, NC: University of North Carolina Press 1995. Friedlander, Saul: History, Memory, and the Extermination of the European Jews, Bloomington: Indiana UP 1993.
29 Staiger: Grundbegriffe der Poetik, S. 48.
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Literarische Institutionen und die poetische Funktion
Gesetz zwischen Code und Rauschen Binäre Systeme vs. Chiasmen bei Saussure und Jakobson H AJNALKA H ALÁSZ
Gibt es »keinen Sinn, wie Philosophen und Hermeneutiker ihn immer zwischen den Zeilen gesucht haben, ohne physikalischen Träger«,1 werden physikalische Signale – im nichthermeneutischen Kontext – nur als Folge und nach dem Dazwischenkommen einer Codierung und dem sogenannten weißen Rauschen (was auch immer diese meistdiskutierten Faktoren der Kommunikation bezeichnen) erst denkbar und spürbar. Jedoch sind die Funktionen, die die ›strengeren‹ und die ›schwächeren‹ Richtungen diesen unabdingbaren Bedingungen der technischen Übermittlung der Information zuschreiben, ziemlich verschieden. Friedrich Kittlers »technische Schriften« markieren die diskursiven Grenzen durch ihre bekanntlich skeptische Modalität und oft programmatischen Formulierungen an mehreren Stellen. Ein technischer Codebegriff kann natürlich auf plausible Weise das unüberbrückbare und heterogene Verhältnis zwischen den technischen und den sprachlichen Übersetzungen implizieren. Diese Perspektive löst das Faktum von ihren theoretischen Repräsentationen nicht nur ab, sondern führt notwendig zur Gegenüberstellung der materiellen Kontingenz mit der motivierten Konstitution des Zeichens und somit zu einer Auffassung der Sprache, die auf repräsentationsgebundenen Verhältnissen beruht. Die kritische Grundlage der Medienarchäologie bildet der Vorrang des eigentlichen Sinnes der Codierung gegenüber den Interpretationen, die die Relationen der technischen Übermittlung zur Modellierung sprachlich-metaphorischer Zusammenhänge gebrauchen. »Im Glanz des Wortes Code erglänzen heute Wissenschaften, die noch nicht einmal ihr Einmaleins und Alphabet beherrschen, geschweige denn bewirken, dass aus
1
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etwas etwas anderes wird, nicht nur wie bei Metaphern etwas anders heißt«.2 Wachsame Theoretiker könnten dabei schnell das Vorhaben, die parasitäre Mimesis der Sprache aus der Technikwelt zu verbannen, entdecken und die Hierarchie auf Anhieb auf den Kopf stellen. Die Auseinandersetzung lässt sich damit aber noch nicht lösen. Obwohl die Trennung von Medienarchäologie und -theorie die Ablösung der begrifflichen Sphäre der Hermeneutik von den materiellen Fakten der Mediengeschichte unumgänglich voraussetzt, trägt auch die Ökonomie der Medientheorien viel dazu bei, den Unterschied von sprachlichen und technischen Codebegriffen weiter zu vertiefen: Eben die Hochkonjunktur der informatischen Begriffe scheint die medientheoretischen Kommentare von den Fakten zu entfernen. Das ist bereits in der ›Erfolgsgeschichte‹ des Rauschens auszuweisen: Seine theoretischen Behandlungsweisen lassen sich meist nach dem Vorhaben seiner Ästhetisierung und Entrhetorisierung differenzieren. Juri Lotman3, William R. Paulson4 oder Martin Seel5 sind nur einige von den Theoretikern, die ihre Ästhetik der »so inflationär[en] wie fraglich[en]«6 Devise des
2
»Man sollte daher – wie Lily Kay im Fall der Biotechnik – vor Metaphern auf der Hut sein, die den legitimen Codebegriff verwässern, wenn sich zum Beispiel bei der DNS keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen materiellen Elementen und Informationseinheiten finden lässt. Weil das Wort ja schon in seiner langen Vorgeschichte ›Verschiebung‹, ›Übertragung‹ meinte – von Buchstabe zu Buchstaben, von Ziffern zu Lettern oder umgekehrt –, ist es am anfälligsten von allen, zu falscher Übertragung einzuladen. Im Glanz des Wortes Code erglänzen heute Wissenschaften, die noch nicht einmal ihr Einmaleins und Alphabet beherrschen, geschweige denn bewirken, dass aus etwas etwas anderes wird, nicht nur wie bei Metaphern etwas anders heißt. Codes sollten daher einzig Alphabete im Wortsinn der modernen Mathematik heißen, eineindeutige und abzählbare, ja, möglichst kurze Folgen von Symbolen also, die dank einer Grammatik mit der unerhörten Fähigkeit begabt sind, sich gleichwohl selbst unendlich zu vermehren: Semi-Thue-Gruppen, Markowketten, Backus-NaurFormen usw. Das und nur das unterscheidet solche modernen Alphabete vom vertrauten, das unsere Sprachen ja zwar auseinanderlegte und Homers Gesänge schenkte aber keine Technikwelt zum Laufen bringt wie heutzutage Computercode.« F. Kittler: Code, S. 18.
3
J.M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte.
4
W.R. Paulson: The Noise of Culture.
5
M. Seel: Ästhetik des Erscheinens.
6
Vgl. im Zusammenhang des Codes: »Der Begriff des Codes, heißt das aber, ist so inflationär wie fraglich. Wenn jede Geschichtsepoche unter einer ersten Philosophie steht, dann unsere unter der des Codes, der mithin – in seltsamer Wiederkehr des
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Rauschens überlassen. Es ist andererseits wohl kein Zufall, dass in den ›strengeren‹ dekonstruktiven Ansätzen, die die Verfechter der semiotischen Produktivität oft als die »strengste Theorie vom textuellen Rauschen«7 in Evidenz halten, der informationstheoretische Terminus des Rauschens bei Weitem nicht so große Beachtung findet, wie es von den »Ästhetiken des Rauschens« zu erwarten wäre. Die leere Oberfläche vom Begriff des Rauschens, die ihrer Entleerung und theoretischen Allegorisierung zugleich ausgesetzt ist, kann sich beispielsweise in den Versuchen zeigen, die die verborgenen Potenziale des Rauschens sowohl mit der Disartikulation der Stimme in Bettine Menkes Analysen als auch mit der – im Vergleich zu diesen aber mit wesentlich anderen Einsätzen spielenden – Dissemination von Derrida in Zusammenhang bringen können.8 Wie verschieden das Bestreben seiner Theoretisierung auch sein mag, es lässt sich trotzdem ein gemeinsamer Bezugsrahmen finden, mit Bezug auf den sich die nicht mehr hermeneutischen, aber noch immer diskursiv bedingten informationstheoretischen Termini jeweils (neu) lesen lassen. Sprachliche Prozesse ließen sich nämlich ohne das Kommunikationsmodell von Jakobson, dessen Semiotik sich unter den ersten in den fünfziger Jahren von der nicht-
ersten Wortsinns, nämlich ›Codex‹ – allem das Gesetz erteilte, genau das also täte, was in der ersten Philosophie der Griechen einzig Aphrodite konnte.« F. Kittler: Code, S. 18. 7
»It is in the context of de Man’s and Derrida’s deconstructions of literary language, not that of the reception theorists, that the concept of self-organization is potentially most relevant to literary studies, for deconstruction is our strongest theory of textual noise.« W.R. Paulson: The Noise Of Culture, S. 92.
8
»[Bettine Menke] macht in meinen Augen darüber hinaus deutlich, inwiefern die von mir schematisch mit den Namen Seel und Derrida bezeichneten Positionen zu einem komplementären Pathos des Kunst-Rauschens neigen, dem Menke ein Rauschen der Albernheit und der Oberflächigkeit entgegenhält, das nicht zuletzt den erhaben hohen Ton sowie die problematische Verallgemeinerungstendenz bestimmter Deutungen des angeblich Sinnsubversiven an Kunstwerken auffällig macht.« R. Sonderegger: Ist Kunst, was rauscht?, S. 37. Die dialektisierenden Tendenzen der allzu schnellen Deutung der Derridaschen Dissemination als »quasimystische Darstellungsrelation« sind nicht zu übersehen: »Dank der mystischen Darstellungsrelation kann aus der literarischen
Darbietungs-
bzw.
Markierungspraxis
des
Sinnfernen
etwas
Außerordentliches werden: bei Seel die Darbietung einer Fülle von Möglichkeiten, die er im völlig Abstrakten einer leeren Sinnversicherung beläßt, bei Derrida ein Verweis auf das, was aller Darstellung zugrundeliegt, sie aber auch immer verstört und eigentlich undarstellbar ist.« Ebd.
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semiotischen Informationstheorie Shannons hat inspirieren lassen, kaum durch Begriffe wie »Information«, »Übertragung« oder »Decodierung« ersetzen.9 Auch wenn »Linguistik und Poetik« keine weiteren Anweisungen hinsichtlich der Grenzen von technischen und sprachlichen Codes geben kann (das Modell geht ja eben von der Komplementarität der Linguistik und der Mathematik aus), können die Widersprüche und die dementsprechend diffusen Lektüren des Textes doch die Spaltung der beiden aufzeigen. Durch die Lesart von Friedrich Kittler, die die Funktion des Poetischen in der Maximalisierung vom SignalRausch-Abstand und im Reinigen der Artikulation vom Rauschen verortet,10 wird die Sprachauffassung der Repräsentation eher bekräftigt als infrage gestellt. Die Lektüren, die von den Widersprüchen der maximalen Artikulation und der selbstaufhebenden Funktionsfülle der Mehrdeutigkeit ausgehen, können uns der Frage der Differenzen zwischen technischer und sprachlicher Codierung näher bringen. Nach Erhard Schüttpelz’ Analyse lassen sich die Kommunikationsfaktoren untereinander auch in andere Zusammenhänge stellen. Infolgedessen könnte der verborgene Faktor des Rauschens die Illusion jeglicher Intentionalität und Vorstrukturiertheit bzw. der Existenz eines vorherigen Codes und das anagrammatische Funktionieren der Dichtung sichtbar machen.11 Es bleibt freilich fraglich, ob zur Beweisführung der anagrammatischen Seinsweise des Lesens der informationstheoretische Apparat überhaupt nötig ist. In seinen Überlegungen zur Möglichkeit einer selbstreflexiven Sprache macht Zoltán Kulcsár-Szabó auf die synekdochische und chronologisch umgedrehte Verbindung aufmerksam, auf der die Poetologien basieren, die von der Semantisierung der Materialität und den symbolischen Figuren der poetischen Funktion ausgehen. Bereits die Jakobsonschen Beispiele müssen die Existenz einer referentiellen Lektüre voraussetzen, die der Wahrnehmung der materiellen Oberfläche des Zeichens und den Wiederholungen der Äquivalenzen vorausgeht: »den poetischen Akt der Selbstreflexion, in dem die sprachliche Materie die referentielle und kontextuelle Bedingtheit der Nachricht abbildet, könnte nur die Umkehrbarkeit der Erinne-
9
Vgl. E. Holstein: Einführung, S. 14.
10 F. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 170. 11 »Das Anagramm übersteigt das Gesetz und die Einstellung, die Zeichenbeziehung der Sprache sei codiert. Es gibt Umschriften – und was sind Anagramme anderes als Umschriften? –, die sich weder Zufall noch Absicht und weder einer gemeinsamen noch einer geheim gehaltenen Sprache verdanken, die es zur Illusion werden lassen, sie verdankten sich der symmetrischen Ver- und Entschlüsselung eines Codes.« E. Schüttpelz: Quelle, Rauschen und Senke der Poesie, S. 202.
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rung garantieren.«12 Es sind also nicht die sich wiederholenden materiellen Elemente und die äquivalenten Strukturen, die in dieser Einstellung die Semantisierung lenken, sondern das ihre Entzifferung überhaupt ermöglichende Lesen, das folglich die Kontingenz der Materialität eher einschränkt als zur Geltung bringt. Der poetischen Funktion, der die motivierte paronomastische Verbindung des Zusammenfallens von Materialität und Phänomenalität einerseits und der davon abgeleiteten Semantisierung andererseits, zugrunde liegt, kann das Modell des Anagramms entgegengestellt werden, in dem sich die selben sprachlichen Erscheinungen (Wiederholung materieller Strukturen) nicht mehr im motivierten, sondern im arbiträren Verhältnis von Bezeichnenden und Bezeichneten zeigen. Die Semantisierung materieller Einheiten ist in Wirklichkeit nichts anderes als auf einer notwendig vorauszusetzenden materiellen Inskription und der Nachträglichkeit der Referenz beruhendes, prosaisches Lesen. »Die Bedingung der sprachlichen Selbstreflexivität kann in diesem Fall allein eine Wiederholung sein, die in der referentiellen Identifizierung die Inskription eines primären performativen Aktes aktiviert, zitiert oder wiederholt.«13 Wie dem auch sei, die Leistung des Codes scheint vom Rauschen her Ideologie und Macht gleichzeitig zu sein. Dient er in den Alphabetsystemen der Sprachen zur Reinigung vom Rauschen, macht die Verschlüsselung den Zufall zur Signalquelle und damit »[d]ie experimentelle Verschaltung von Information und Rauschen ›den Diskurs zur Nebensache‹«.14 Einerseits lassen sich die Grenzen, die die einander ausschließenden Leistungen voneinander differenzieren, praktisch deutlich erfassen.15 Andererseits bleibt die Frage, wie das fiktiv-imaginäre Stadium zwischen Code und Rauschen zu beschreiben ist, das Lacan im Spiegelstadium als eine Wiederholung auslösende Inversion präsentierte16 und in dem sich Verschaltungen oder Abkopplungen ereignen, die das Reelle und das Symbolische unwiderruflich trennen. Der Abstand von Signal und Rauschen sei berechenbar und in Zahlen auszudrücken – könnte Friedrich Kittlers Antwort mit Bezugnahme auf Shannons Schreibexperiment lauten: »Fortan erfahren Lettern keine bessere Behandlung als Zahlen mit ihrer schrankenlosen Manipulierbar-
12 Z. Kulcsár-Szabó: Önreflexió, S. 148. 13 Ebd., S. 145. 14 F. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 166. 15 Vgl.: »Lacans symbolische Ordnung [ist], von ihren philosophischen Interpretationen weit entfernt, ein probabilistisches Gesetz, das auf dem Rauschen des Reellen aufbaut, mit anderen Worten eine Markow-Kette.« Ebd., S. 179. bzw. siehe Fußnote 2. 16 J. Lacan: Das Spiegelstadium, S. 61-70.
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keit, fortan sind Signale und Geräusche nunmehr numerisch definiert.«17 Sucht man woanders nach der Verbindung (oder eben Abkopplung) von Lettern und Zahlen, in der unmittelbaren Nähe und doch auf der Kehrseite von Shannon, bei der allerersten Quelle – wenn auch nicht der des modernen Rauschens, sondern der der modernen Linguistik und Semiotik –, stößt man wiederum auf Roman Jakobson, doch diesmal nicht auf die poetische Funktion, sondern auf Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems.18 Der Einsatz seines Unterfangens ist da nicht weniger als die linguistische »Einverleibung« des Rauschens durch die implizite Ausarbeitung eines Codebegriffs, d.h. die Anordnung des »abschreckende[n] Bild[es] der chaotischen Vielheit«, die paradoxerweise gerade in der phonetischen Einstellung auf die Materialität des Signals hervortritt. Das Zusammenfallen von Signal und Rauschen ist in dieser Einstellung, die sich von der der poetischen durch die Abwesenheit eines Codes unterscheidet, nur in einem vorsprachlichen und fiktiven Zustand, mehr noch: in den Wunschvorstellungen eines russischen romantischen Schriftstellers vorstellbar, in einer Parabel, in der eine »böse Hexe […] die Rede seiner Geliebten und die Musik der Dichtung in zahllose artikulatorische Bewegungen und unzählige Schalleindrücke [zerlegt], welche ganz sinnlos und reizlos blieben.«19 Diese chaotische Vielheit ist eine bloße rhetorische Konstruktion und die Sackgasse des »naiven Naturalismus« oder der Phonetik als »Stoffwissenschaft«, welche Theorien, wie Jakobson und Halle in den Grundlagen der Sprache gezeigt haben, sich notwendigerweise in die Aporien der abstrakten Unterscheidung von materiellen Lauten und immateriellen Phonemen verwickeln.20 Die Unterscheidungen der verschiedenen Seiten der Sprache, wie sie auch immer genannt werden, sind bereits bei Saussure nicht von »außen«, von den Unterscheidungen her, sondern von »innen«, von der Sprache als »Verbindungsglied« zu denken. Während aber das Verbindungsglied zwischen den Lauten und dem Denken die weitere Differenzierung der lautlichen Materie – aus Gründen, die später noch geklärt werden müssen – irrelevant
17 F. Kittler: Signal-Rausch-Abstand, S. 168. 18 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 139-181. 19 Ebd., S. 141. 20 »Diese sogenannte ›innere, immanente Auffassung‹ (approach), welche den distinktiven Merkmalen und ihren Gruppierungen eine bestimmte Stelle innerhalb der sprachlichen Laute – sei es auf physiologischer, akustischer oder auditiver Ebene – zuweist, ist die günstigste Voraussetzung für Phonem-Operationen, was allerdings von den Vertretern der ›äußeren‹ Auffassungen, die die Trennung der Phoneme von den konkreten Lauten auf andere Weise vornehmen, wiederholt bestritten worden ist.« R. Jakobson/M. Halle: Grundlagen der Sprache, S. 8.
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macht, haftet die Nichtunterscheidung des Phonems und seiner distinktiven – nicht mehr im stofflichen/phonetischen Sinne materiellen, sondern bereits »einverleibten« – Merkmale bei Jakobson dafür, Sprachgebilde und Sprechhandlung »in einer ordnenden Einheit«21 wieder zu vereinen. Die Einverleibung der Phonetik durch die Phonologie, die durch die und zu den distinktiven Merkmalen führt, definiert die Saussuresche langue zum Code um. Und da das System der Merkmale nichts anderes als ein Code ist, sind die Materialitäten der Phonetik bei Jakobson bereits in das Gebilde integriert. Die Kritik der abstrakten Unterscheidung von sprachlicher Form und Verwirklichung, eine These, die Jakobson – neben der Linearität des Zeichens – sogar dem Vorbild Saussure vorwirft, geht also von einem umgedeuteten langue- oder Formbegriff aus und wird durch das Zusammenfallen von Sinn und Materie in den Merkmalen als Unterscheidungsträgern unterstützt.22 In einem Zirkel, der durch das binäre System der Merkmale in Gang gesetzt wird, werden Materialitäten, die bei Saussure von den Verbindungen und Werten entsubstanzialisiert wurden, unter
21 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 141. 22 Das Zusammenfallen der Form als Invariant und der materiellen Verwirklichung als Variant ist nicht nur in den Schriften, die die Phonologie als »Form- bzw. Funktionslehre« (Ebd., S. 148) begründen, das Leitprinzip der Analyse, sondern spielt auch bei der Unterscheidung der sprachlichen Funktionen eine wichtige Rolle. Aus einem Beispiel von Jakobson wird ersichtlich, dass die emotiven und die referentiellen Codes der Sprache nur unter der Bedingung des untrennbaren Zusammenhaftens von Form und Materie überhaupt unterscheidbar werden. Würde das Gegenüberstehen von Varianten und Invarianten ein stabiles System bilden, könnten die emotiven Informationsgehalte nicht decodiert und differenziert werden. Je nachdem, von welcher Funktion die Phonemfolgen dekodiert werden, können die Realisationen eines einzigen Phonems – nach einem Codewechsel – auch als Invarianten gedeutet werden. Die Möglichkeit der Inversion von Varianten und Invarianten wird angesichts der Jakobsonschen Theorie noch weitere Konsequenzen haben. Vgl.: »Der Unterschied im Englischen zwischen [big] ›groß‹ oder der emphatischen Dehnung des Vokals [bi:g] ist eine konventionelle, kodierte, sprachliche Eigenschaft, gleich wie der Unterschied zwischen dem kurzen und dem langem Vokal in tschechischen Paaren wie [vi] ›du‹ und [vi:] ›er kennt‹; in diesem Paar ist die unterschiedliche Information jedoch phonematisch, während sie in jenem emotiv ist. Solange wir an phonematischen Varianten interessiert sind, erscheinen die englischen /i/ und /i:/ als bloße Varianten ein und desselben Phonems, doch wenn es um emotive Einheiten geht, kehrt sich das Verhältnis zwischen Invarianten und Variantem um: Länge und Kürze sind Invarianten, realisiert durch verschiedene Phoneme.« R. Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 89.
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den Namen des Codes wieder in die Ordnung der Symbole eingefügt. Legt die Jakobsonsche Kritik an Saussure das von ihr bereits einverleibte System der Unterscheidungen zu Grunde, ist leicht einzusehen, dass die Kritik den Riss des Originals oder die Differenz innerhalb der Sprachgebilde von Anfang an übersieht. Wenn man nun an die Kritik von Derrida denkt, ist der blinde Fleck durch das Verhältnis von phone vs. Spur/Schrift/différance zu ersetzen: Während Jakobson von der Einheit des Phonems ausgeht, lässt sich aus den Widersprüchen des Saussureschen Textes die Möglichkeit einer différance (und zwar innerhalb der phone und im Unterschied der empirischen Differenz zwischen Rede und Schrift) entfalten.23 Ist es für Derrida aus strategischen Gründen wichtiger, die Evidenz der Substanzialität der phone von der sich selbst verzehrenden Metapher der Schrift zu untergraben, soll die Frage nach den materiellen Institutionen von sprachlichen Gesetzen das Konzept der sogenannten »Codierung« unter die Lupe nehmen. Im gegenwärtigen Kontext ist es nun umso bedenklicher, dass sich die Konzepte der Entsemantisierung mehr von dem ›ästhetisierten‹ Modell des Jakobsonschen Kommunikationsmodells und weniger von einer radikalen Formalisierung der Zeichensysteme Saussures angesprochen fühlen, deren Dimensionen die Bahnen des Sinns und der Repräsentation schon verlassen haben, noch bevor sie die moderne Semiotik hätten begründen können. Nicht nur, weil bei ihm sogar die Vorstellung, d.h. die Bedeutung oder die semantischen Ebenen der Zeichensysteme nicht-semantischen Operationen oder Stellenwerten ausgesetzt sind. Die Bemerkung, nach der »[d]ie Sprache dem Denken gegenüber nicht die Rolle [hat], vermittelst der Laute ein materielles Mittel zum Ausdruck der Gedanken zu schaffen, sondern als Verbindungsglied zwischen dem Denken und dem Laut zu dienen«,24 hat nicht bloß die Einsicht zur Folge, dass die Träger selbst nur in diesen Operationen und die letzteren gar nicht zu denken sind, sondern dass das Denken ein nachträglicher Effekt dieses Systems ist und folglich nicht einmal dem System angehört. Die Nachträglichkeit aller Sinnphänomene entfaltet sich weiterhin nicht vor dem Hintergrund einer einfachen und leeren, sondern einer doppelten oder im Unterschied zweier
23 »Die Linguistik bestimmt in letzter Instanz und in der irreduziblen Einfachheit ihres Wesens die Sprache – den Bereich ihrer Objektivität –, als die Einheit von phone, glossa und logos. Diese Bestimmung geht zu Recht allen möglichen Differenzierungen voran, die in den terminologischen Systemen der verschiedenen Schulen haben entstehen können: Sprache/gesprochenes Wort; Code/Message; (Sprach-) Schema/ (Sprach-)Gebrauch; Linguistik/Logik; Phonologie/Phonematik/Phonetik/Glossematik.« J. Derrida: Grammatologie, S. 53. 24 F. de Saussure: Grundfragen, S. 133.
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Differenzen. Sogar der Wert, deren Vorstellung immer noch nichts Substanzielles nach sich zieht, kann erst nach einer doppelten Prozedur – nach dem Vergleich ähnlicher und der Auswechslung unähnlicher Dinge – ins jeweilige System überhaupt eintreten.25 »Beliebigkeit und Verschiedenheit sind zwei korrelative Eigenschaften«,26 d.h. die Auswechslung hat einen Vergleich zur Folge während der beliebige Austausch den Vergleich motiviert. Wie auch immer die Formel geordnet wird, es geht um mindestens vier »Elemente«, die durch zwei verschiedene Verhältnisse ausgetragen werden und dabei mehrere Stellen einnehmen können. Auf den ersten Blick sind nicht nur der Code und die binären Oppositionen im beschriebenen System schwierig zu verorten, sondern auch die Reihe von Unterscheidungen, die Jakobson während seiner Analysen trifft, stellt für die Systematisierungslust eine echte Herausforderung dar. Die Sonderstellung des Phonems besteht einerseits darin, dass es sowohl zum Sprachgebilde als auch zur Sprechhandlung gehört, andererseits ist es »von allen übrigen sprachlautlichen Werten und überhaupt von allen übrigen Sprach- bzw. Zeichenwerten grundverschieden.«27 Daraus lässt sich noch ohne logische Schwierigkeiten die Folgerung ziehen: Der Code geht den kritisierten Saussureschen Termini von Sprachgebilde und Sprechhandlung als Nichtunterscheidung28 voran und schafft eine neue Grundlage für das System der Repräsentation, also für alle übrigen Zeichen, die im Gegensatz zu ihm »ihre eigene, positive, bestimmte und konstante Bedeutung«29 haben. Die Ausdifferenzierung des Phonems aus der Ökonomie
25 »Zur Antwort auf diese Frage [die Verwechslung des Wertes mit der Bedeutung. H.H.] wollen wir zunächst feststellen, daß auch außerhalb der Sprache alle Werte sich von diesem Grundsatz beherrscht zeigen. Sie sind immer gebildet: - durch etwas Unähnliches, das ausgewechselt werden kann gegen dasjenige, dessen Wert zu bestimmen ist, - durch ähnliche Dinge, die man vergleichen kann mit demjenigen, dessen Wert in Rede steht.« Ebd., S. 137. 26 Ebd., S. 141. 27 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 178. 28 »Die Form wurzelt im Sprachgebilde, aber ist in jeder Sprechhandlung notwendigerweise vorhanden, sonst wäre es ja keine Sprechhandlung, sondern ein bloßes Lallen.« Ebd., S. 148. Die abstrakte Unterscheidung von Form und Verwirklichung, die kaum etwas mit dem Saussureschen System gemeinsam hat, wird nach dem Prinzip der Opposition in eine Einheit wiedervereinigt: »[E]in wirkliches Oppositionsglied kann nicht ohne das andere Glied gedacht werden.« Ebd., S. 167. 29 Ebd., S. 157.
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der Zeichen, in der »der Gegensatz zweier Zeichenwerte durch eine Opposition auf dem Felde des signatum gegeben [wird], und die letztere für die Stelle dieser Zeichenwerte im bezüglichen System maßgebend [ist]«,30 sollte sein System auf andere Grundlagen stellen. Hat jedes Wort, jedes Morphem, jede Emphatika und jedes lautliche Grenzsignal ein Gegenstück auf der Ebene des Signifikats, entspricht dem Phonem »einzig und allein die Tatsache eines Bedeutungsunterschiedes, wogegen der Inhalt dieses Bedeutungsunterschiedes weder bestimmt noch konstant ist.«31 In dieser Aufstellung spaltet sich die Sprache in eine horizontale und eine vertikale Weise der »Aufeinanderbezogenheit«, wobei jene ausschließlich aus phonematischen Unterschieden oder vielmehr: Gegensätzen organisiert wird. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, in allen Details auf die problematischen Textstellen Jakobsons einzugehen. Jedoch sind die Probleme, die die Klassifizierung und Hierarchisierung der Zeichenwerte,32 die repräsentative Funktion der Schrift33 und die Wiederherstellung der unterbrochenen Verbindung zwischen den semantischen und den phonematischen Ebenen34 aufwerfen, nicht unabhängig von unseren Fragestellungen. Das Gelingen des Auseinanderhaltens der Zeichensysteme wird allerdings in dieser Hinsicht noch von Bedeutung sein. Bekanntlich zergliedert Jakobson die Phoneme in binäre Unterschiede, die die Frage der phonematischen Unterschiede durch den Begriff des Gegensatzes, der Opposition und des Kontrastes klären. So erscheinen »nicht die Phoneme, sondern die distinktiven Qualitäten als die primären Elemente der Wortphonologie.«35 Nach der Rechtfertigung der Phoneme als Grundlagen der Sprache durch ihre Aufspaltung in primäre Werte kommt man aber nicht umhin, nun die Phoneme selbst zum Signifikat der binären Unterschiede zu ernennen, das dazu bestimmt ist, den leeren Unterschied an sich zu manifestieren. Somit ist die Sprache durch die Idee der Repräsentation begründet worden, in der »sich die Phoneme auf ein anwesendes Zeichen beziehen, sie fungieren als Diacritica, als Zeichen am Zeichen.«36 Das Phonem erweist sich als »das erste Zeichen«37 der Sprache, dessen Signifikat »die bloße Tatsache des Andersseins«38 und mit
30 Ebd., S. 164. 31 Ebd., S. 155. 32 Ebd., S. 160. 33 Ebd., S. 159. 34 Ebd., S. 165. 35 Ebd., S. 169. 36 Ebd., S. 170. 37 J. Derrida: Grammatologie, S. 24. 38 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 170.
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sich selbst identisch ist. Vollendet dadurch »die systematisch und entschieden phonologische Orientierung der Linguistik […] eine ursprünglich Saussuresche Intention«39 und folgt dem Vorhaben der Reduktion der Schrift und der Auszeichnung der phone, sind die blinden Gesetze der Sprache, die keine Rücksicht auf ihren Inhalt oder ihre semantischen Effekte nehmen, nicht in der offensichtlich metaphysischen Auslegung, sondern in der imaginären Topologie der Merkmale zu suchen. Mag die poetische Funktion von den Oppositionen des signatum her gesehen40 auf den Äquivalenzen, Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten der materiellen Träger der Sprache basieren, ist nur unter Vorbehalt anzunehmen, dass auch die Grundelemente Eigenschaften haben, die miteinander vergleichbar sind. Obwohl das Phonem seiner Beschreibung nach ein Bündel von Qualitäten oder eine komplexe Einheit ist, die den Code als eine sprachliche Behauptung – die Zuordnung eines Prädikats (unterschiedliche Merkmale) zu einem Subjekt (das Phonem als Signifikat) – definiert, ist der Code selbst von seinen eigenen Effekten oder durch das Vergleichen der Phoneme wohl kaum abzulesen. Die schon an sich poetisch und halluzinatorisch wirkende Annahme, es gäbe Phoneme, die sich mehr ähneln als andere, ist jedoch nicht nur in der poetischen Funktion, sondern von den Anfängen der Phonologie am Werk. Die Merkmale, die nach den Eigenschaften der Lautbildungsorgane bestimmt, benannt oder vielmehr gesetzt werden, treten in einer korrelativen Ordnung auf: »Die vermeintlichen 28 Vokalunterschiede des Osmantürkischen lösen sich in drei Grundoppositionen auf: die der Breite und Enge, die der hinteren und vorderen und die der gerundeten und ungerundeten Bildung. Mittels dieser drei Paare unzerlegbarer distinktiver Eigenschaften sind alle 8 Vokalphoneme des Osmantürkischen aufgebaut.«41
Wird jedem Phonem eine singuläre Zusammensetzung dreier Eigenschaften zugewiesen, können die »Zeichenwerte« der Elemente durch die Oppositionsglieder anderer bestimmt werden. So können sich drei verschiedene Grade der
39 J. Derrida: Grammatologie, S. 52. 40 »Zwei Zeichenwerte sind einander entgegengesetzt, falls auf der Ebene des signatum eine Opposition besteht. Einer derartigen Opposition kann eine wirkliche Opposition auf der Ebene des signans entsprechen. So steht zum Beispiel dem fallenden Verlauf der abschließenden Intonation der steigende Verlauf einer weiterweisenden Intonation gegenüber oder der senkrechte Kopfgeste für Bejahung die waagerechte Kopfgeste für Verneinung.« R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 63. 41 Ebd., S. 169.
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Ähnlichkeit/Unähnlichkeit zwischen den jeweilig entgegengesetzten Phonemen ergeben: weichen die Phoneme durch eine einzelne Opposition ab und sind in aller anderen Hinsicht gleich, bilden sie eine einfache Opposition. Auf solche Fälle ist der Begriff des Kontrastes zu beschränken, »in denen die polaren Eigenschaften zweier Einheiten durch ihr Nebeneinanderstehen (Kontiguität) in der Hörerfahrung in Erscheinung treten«.42 Andere Gegensätze können zwei Oppositionen enthalten oder in einer anderen Aufstellung in allen drei Oppositionen abweichen. Das gegebene Vokalsystem setzt sich also ebenso aus hierarchischen Verbindungen zusammen wie die Zeichen erster, zweiter und dritter Klasse auf der vertikalen Achse je nach ihrem Abstand zum Inhalt eingestuft werden.43 Man sollte annehmen, dass die bedeutungslosen Elemente des Systems in erster Linie durch ihre Merkmale definiert und individualisiert werden. Diese Vorstellung nimmt nicht nur das Modell der sprachlich-logischen Aussage zu Grunde (der Code wird in der Sendung, die bereits [de]codiert wurde, definiert). Die Sprache kann deswegen und muss schon immer poetisch funktionieren, weil die Phonologie im Grunde und von ihren Anfängen an auf der ästhetischen Figur des Vergleichs basierte. Die Grundlagen der Sprache sind aus der ursprünglichen Idee der poetischen Funktion abgeleitet worden. Als Teil dieses Kreises ist auch die phonologisch/alphabetisch fundierte Idee des sprachlichen Codes in der symbolischen Ordnung der Zeichen gefangen geblieben. Es erhebt sich damit die Frage, inwiefern und in welchem Sinne von einem »vertrauten« Alphabet, das auch »Homers Gesänge schenkte«,44 und überhaupt vom Code im Bereich des »Geistes« die Rede sein kann, bzw. wo die wirklichen Grenzen – wenn es sie überhaupt gibt – zwischen den Codes »der modernen Mathematik« und denen der Zeichensysteme liegen. Wollen wir nicht bei der Ausweitung der phonematischen Gegensätze zu binären Unterschieden stehen bleiben und das Funktionieren des erweiterten Systems erklären, dann sollten wir des Weiteren von den binären Oppositionen
42 R. Jakobson/M. Halle: Grundlagen der Sprache, S. 4. 43 Während in der ersten Klasse das Bezeichnete in der Aussage als Inhalt fungiert, ist es in der zweiten Klasse ein Zeichen an Zeichen, z.B. die Phoneme. Die Buchstaben gehören der dritten Klasse der Repräsentation an, wo das Bezeichnete das Zeichen eines Zeichens ist. »Das signatum ist freilich zum Gegenstande der Aussage durchwegs näher als das entsprechende signans. Demzufolge ist das letztere dem ersten hierarchisch untergeordnet, besonders wenn es sich um Zeichen der Inhalte, zum Beispiel um Morpheme oder Emphatica, handelt.« R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 163. 44 F. Kittler: Code, S. 18.
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und dem gegebenen Beispiel des Vokalsystems ausgehen. Die Unterschiede zwischen den acht Vokalen lassen sich also durch die drei erwähnten Oppositionen in einer abstrakten Sprache weiter formulieren: »die Phoneme /o/, /a/, /ö/, /e/ stellen sich den Phonemen /u/, /ɯ/, /y/, /i/ als breite den engen gegenüber, die Phoneme /o/, /u/, /a/, /ɯ/ den Phonemen /ö/, /y/, /e/, /i/ als hintere den vorderen, und die Phoneme /o/, /u/, /ö/, /ü/ den Phonemen /a/, /ɯ/, /e/, /i/ als gerundete den ungerundeten. o
:
u
=
a
:
ɯ =
ö
:
ü
=
e
:
i
o
:
ö
=
u
:
ü
=
a
:
e
=
ɯ :
i
o
:
a
=
u
:
ɯ =
ö
:
e
=
u
i«45.
:
Müsste man in den oben dargestellten Formeln nur von den Buchstaben ausgehen, sollte es auch möglich sein, die sich wiederholenden Oppositionen durch andere Symbole zu ersetzen. Ein paar Zeilen früher versucht Jakobson sein phonologisches Modell durch das Problem des Optischen und der Schrift zu veranschaulichen, was nach den zahlreichen ähnlichen Beispielen der Grammatologie wohl keinen mehr überraschen kann. Seine Bezugnahme auf die Bedeutung der Wörter beweist eben die offensichtliche Tatsache, dass Decodierer nicht auf der Suche nach Bedeutungen, sondern nach Wiederholungen sind; kämen die Ebenen des Sinns dazwischen, wäre ihre Aufgabe sogar schwieriger zu lösen.46 »Die Aufgabe ist um so lösbarer, je geringer und geordneter die äußerlichen Unterschiede sind, auf die sich die Buntheit der Buchstaben reduzieren läßt.« Um die Gegensätze der Phoneme in zitierten Formeln zu erklären, brauchen wir mindestens und nicht mehr als drei Oppositionen. Zur Darstellung der
45 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 168. 46 »Zur Veranschaulichung übertragen wir das Problem ins Optische! Wir wollen uns beispielsweise eine uns unbekannte, zum Beispiel die koptische Schrift aneignen. Die Aufgabe ist ungemein schwer, falls es für uns eine bloße Anhäufung sinnloser Arabesken ist. Die Aufgabe ist leicht, falls für uns jeder Buchstabe einen ständigen und einheitlichen positiven Wert besitzt. Es gibt einen Zwischenfall: Dieser positive Wert der Buchstaben bleibt uns unbekannt, aber wir kennen die Bedeutungen aller Wörter in den gegebenen koptischen Texten, und die Buchstaben fungieren dabei unmittelbar als reine Unterscheidungszeichen. Die Aneignung des Alphabets ist sicher zugänglicher als im ersten, doch bedeutend schwieriger als im zweiten Falle. Die Aufgabe ist um so lösbarer, um je geringer und geordneter die äußerlichen Unterschiede sind, auf die sich die Buntheit der Buchstaben reduzieren läßt.« Ebd., S. 168.
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Operationen wäre es sogar nicht einmal nötig, ihre Signale (die Buchstaben) zu benennen: o
:
u
=
a
:
ɯ
breit
eng
breit
hintere
hintere
hintere
eng hintere
gerundet
gerundet
ungerundet
ungerundet
Wollen wir die Stelle eines Phonems innerhalb des Systems bestimmen, reicht es nicht aus, es in Kontrast zu einem anderen zu stellen. Die Differenzierung erfolgt wohl nicht durch den Kontrast, sondern durch Wiederholung einer Opposition oder eines Unterschiedes. Der Unterschied zweier Phoneme bleibt eine bloße nicht-systematische Abweichung, solange er nicht imstande ist, andere, auch vom gegebenen verschiedene Phonempaare zu differenzieren. Die Oppositionen können zum System gehören, indem sie keine kontingenten »Schallunterschiede, sondern phonematische Unterschiede«,47 d.h. wiederholbar sind. Der Kontrast der breiteren und der engeren Bildung hat erst Unterscheidungswert, wenn er auch mit dem gegebenen Paar nicht identische, jedoch »in EINER Hinsicht gleich[e]«48 Elemente anderer Gegensätze voneinander unterscheiden kann. Der Unterschied von o : u ist an sich noch nichts; er ist auf den Unterschied von a : ɯ angewiesen und umgekehrt. Es sind nicht die Phoneme, die im System einander gegenüberstehen, sondern Oppositionen, die sich in einer iterativen Wiederholung wechselseitig legitimieren, die eine lässt die andere ins System eintreten. Die Gegensätze der Signale lassen sich wohl auch in eine andere Zusammenstellung ordnen, in der gleichzeitig mehrere Kontraste unregelmäßig auftreten. Bei der Dechiffrierung geht man aber nicht von den Signalen, sondern von Operationen aus, die das Funktionieren des Systems ermöglichen. Für die Codierung eines Kontrastes bildet die Basis die obere Grundformel, in der die Oppositionen alle drei Grundverhältnisse realisieren, in denen sie untereinander vorkommen können: das Verhältnis der Abweichung (gerundet/ungerundet), der Gleichheit (hintere Bildung) und der Wiederholung (breit/eng). Die binären Merkmale, die im Gegensatz zweier Signale entweder Kontraste oder identisch sind, können
47 Ebd., S. 165. 48 »[E]in wirkliches Oppositionsglied kann nicht ohne das andere Glied gedacht werden. […] Die mannigfaltigen Oppositionsbegriffe sind in EINER Hinsicht gleich: Die Begriffe Vater und Mutter, Tag und Nacht, teuer und billig, groß und klein setzen einander voraus.« Ebd., S. 167.
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also nur untereinander, in den erwähnten Verhältnissen oder einer Zweieropposition irgendwelchen Wert aufweisen. Es ist jedoch unmöglich, zwei Oppositionen ihre Unterscheidungswerte gleichzeitig zuzuweisen. Obwohl in den Oppositionsmerkmalen von /a/ : /ö/ = /ɯ/ : /ü/ eine Abweichung und zwei Wiederholungen zweier Merkmale vorhanden sind, ist nicht zu entscheiden, ob der jeweilige Unterschied zwischen den Teilen der Oppositionen der hinteren/vorderen oder der gerundeten/ungerundeten Bildung zu verdanken ist bzw. ob die doppelte Wiederholung in diesem Fall nicht als Gleichheit anzusehen ist. Zur Legitimierung des systematischen Wertes einer Merkmalopposition (z.B. breit/eng) muss sich auch ihre Abweichung als systembedingt erweisen: Die Abweichung als Möglichkeit der Wiederholung muss ihrerseits auch wiederholbar werden. Sind o : u und a : ɯ jeweils durch die Opposition breit/eng verschieden, muss der Unterschied der beiden Paare durch die Merkmale gerundet/ungerundet geklärt werden. Das Vertauschen der Gegenüberstellungen gibt das korrelative Gegenstück der Grundformel aus: o
:
a
=
u
:
ɯ
breit
breit
eng
eng
hintere
hintere
hintere
hintere
gerundet
ungerundet
gerundet
ungerundet
Die Abweichung des einen Merkmalpaars verwandelt sich in der Inversion in Opposition, und nun bildet die andere als bloßer Unterschied den Hintergrund der Iteration. In der Praxis muss man also Jakobsons theoretische Begriffe von Opposition und Kontrast vertauschen und verdoppeln: »die polaren Eigenschaften zweier Einheiten« oder der Kontrast können »in der Hörerfahrung in Erscheinung treten«,49 wenn sie in der Wiederholung keine Abweichung mehr, sondern eine Opposition bilden. Die Bedingung der Erscheinung einer Opposition ist dagegen jener Kontrast, der die Alterität des Wiederholten ausmacht. Dem Erkennen einer Opposition gehen Oppositionen identischer und abweichender Merkmale voran, die zwar zur Wiederholung eines Unterschiedes notwendig sind, aber zur gleichen Zeit nicht wahrgenommen werden können. Opposition und Abweichung wiederholen sich in einer Inversion oder einem iterativen Rahmen, der an sich weder wiederholbar noch wahrnehmbar ist. Die drei Oppositionsmerkmale des dargestellten Vokalsystems können jeweils in vier Konstellationen – in verschiedenen Rahmen anderer Merkmale – wiederholt werden. Um einen Unterscheidungswert zu besitzen, müssen sie nicht
49 R. Jakobson/M. Halle: Grundlagen der Sprache, S. 4.
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nur die Signale, sondern auch die anderen Merkmale differenzieren. Aber in dem Rahmen, in dem sie sich als wiederholbar und dadurch systematisch erweisen, können sie die anderen nicht gleichzeitig differenzieren. Um ihrem eigenen Hintergrund einen Wert zu verleihen, müssen sie auch selbst zur bloßen Abweichung werden oder in der Gleichheit untertauchen, wobei sie ihren früheren Wert verlieren. Die Abbildung der inversen Formeln in den oberen Beispielen ist deshalb fiktiv und irreführend. Denn sie setzt voraus, dass die Merkmale, die sich in der Reihe identisch wiederholen (hintere Bildung) und die, die voneinander bloß abweichen, mit der wiederholten Merkmalsopposition (in der ersten Formel die von breit/eng, in der zweiten die von gerundet/ungerundet) zur gleichen Zeit erscheinen. Werden die hinteren Merkmale in der Gleichheit unerkennbar bzw. dient die Abweichung jeweils dazu, die Wiederholten zu singularisieren, um sie dadurch zum Vorschein kommen zu lassen, müssen die Merkmalsreihen, die keine doppelten Oppositionen enthalten, notwendigerweise unbestimmt bleiben. Es ist nur in einer abstrakt theoretischen Abbildung vorzustellen, als nächster Schritt der Dechiffrierung eine Inversion durchzuführen. Sie ist nämlich in der Praxis der Entzifferung kaum zu verwirklichen, denn der Hintergrund als das Draußen desselben Systems muss immer unlesbar bleiben. Es ist folglich nicht einmal zu wissen, welche Merkmale zur ›Lösung‹ der Formel vertauscht werden sollen. Stellt man die möglichen Varianten und deren Inversionen in Formeln dar, scheinen die Stellenwerte der Phoneme berechenbar und die Oppositionen gleichzeitig repräsentierbar zu sein. Die abstrakte Repräsentation lässt somit die Triebfeder des Systems vergessen und verdeckt ihre eigentliche Bedingung: Das Aufrechterhalten des undarstellbaren Unterschiedes zwischen Abweichungen und Oppositionen. Technisch gesehen ist es wohl nötig, die Signale durch ein »Bündel von Merkmalen« oder – im jeweiligen Codierungssystem – durch Symbole als Einheiten zu identifizieren und die Unterschiede der abzählbaren Elemente im Voraus zu kodieren. Die Annahme der Darstellbarkeit der technischen Methode lässt dafür leicht zu, den Unterschied zwischen den binären Elementen und ihren Signalen abzuschaffen oder ihre Verbindung als motiviert und natürlich (in den physiologischen Eigenschaften der Lautbildungsorgane) aufzuweisen. Es sind aber nicht nur die Phoneme, die sich durch andere Symbole, Buchstaben oder Zahlen ersetzen lassen. Auch die binären Merkmale sind in einem anderen beliebigen System oder veränderten Zusammenstellung der Ordnung der Signale zuzuweisen. Das Modell der Codierung in binären Eigenschaften erlaubt die Folgerung und erweckt den Eindruck, manche Phoneme seien einander näher und ähnlicher als diejenigen,
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die keinen Kontrast zueinander bilden und deren Verhältnisse mehrere Oppositionen enthalten.50 Die Auslegung des Codes macht dabei das Signal und das Signal den Code lesbar. Es ist aber nicht zu vergessen, dass sich in alternativen Codierungssystemen andere Verwandtschaften zwischen den Signalen etablieren ließen. Trotzdem scheint die Annahme fast unvermeidbar, man könne aus den beliebig-historischen Apparaten der Codierung bereits auf das Funktionieren der Sprache folgern. Ein stochastischer Prozess zum Beispiel muss ebenso von den statistischen Eigenschaften der gegebenen Sprache ausgehen, wie die distinktiven Merkmale nach den verschiedenen phonologischen Systemen bestimmt werden.51 In Shannons erwähntem Experiment werden Buchstaben durch Wahrscheinlichkeitszahlen codiert, wobei die Symbolfolgen die statistische Struktur der gegebenen Sprache abbilden.52 Diese »Sprache« war aber bereits codiert, noch bevor »die Nachrichtenfolgen mit der richtigen Codierung in Signalfolgen überführt werden«53 konnten. Ist die Interzeptionspraxis statt Äquivalenzen auf der Suche nach Wiederholungen, sind ihre Aufmerksamkeiten in einer Hinsicht trotzdem gleich: auch wenn das Prinzip der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit das der Wahrscheinlichkeit (redundante und informative Verbindungen von Wörtern und Buchstaben) ersetzt, geht auch das letztere von der klassifizierenden Systematisierung der Wiederholbarkeit aus. Ob Signalverbindungen nach einem Code der Ähnlichkeit oder eben der Wahrscheinlichkeit zu messen und zu hierarchisieren sind, ändert nicht ihr Funktionsprinzip, Relationen in Vergleiche zu übersetzen. Der Prozess, der die Wahrscheinlichkeit der Aufeinanderfolge von
50 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 169. 51 »Wir denken eine diskrete Quelle als solche, die eine Nachricht Zeichen für Zeichen generiert. Sie wählt gemäß gewisser Wahrscheinlichkeiten aufeinanderfolgende Zeichen aus, die im allgemeinen ebenso abhängig von vorhergegangenen Auswahlen wie von den jeweiligen Zeichen selbst sind. Ein physikalisches System oder ein mathematisches Modell eines Systems, das eine solche Folge von Zeichen erzeugt, die von einem Satz von Wahrscheinlichkeiten bestimmt wird, bezeichnet man als stochastischen Prozeß.« C.E. Shannon: Eine mathematische Theorie der Kommunikation, S. 16. 52 »Der generelle Ausgangspunkt ist, dass durch die Kenntnis der statistischen Eigenschaften der Quelle die benötigte Kanalkapazität reduziert werden kann, indem man die Information auf geeignete Weise codiert. In der Telegraphie zum Beispiel bestehen die zu übertragenden Nachrichten aus Buchstabenfolgen. Diese Folgen jedoch sind nicht völlig zufällig. Im allgemeinen bilden sie Sätze und haben die statistische Struktur von, sagen wir, Englisch.« Ebd., S. 16. 53 Ebd.
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Elementen in Zahlenwerten codiert, schreibt seinerseits einen anderen Code, und zwar den der Alphabetsysteme, um. Was dabei auszurechnen und codierbar ist, sind Codes weiterer Codes, deren Schaltkreise allem Anschein nach nur in dem der Repräsentation abzubilden sind. Ist in der Selbstreferenz der Technikwelt der Code die Botschaft, erhebt sich die Frage, durch welche Automatismen Codes selber codieren können. Greifen wir das Funktionieren der Codierung bei den sogenannten Phonemsystemen auf, können wir nunmehr davon ausgehen, dass es keine Phoneme, Signal- oder Nachrichtenfolgen, sondern vielmehr korrelative Verhältnisse sind, die einander gegenüberstehen. Die technische Einstellung (das System bestehe aus binären Entscheidungen) lässt sich auf kompliziertere Operationen zurückführen: Statt einem einfachen Kontrast – dem einen oder dem anderen Pol der distinktiven Merkmale – müssen wir von der Wiederholbarkeit der Oppositionen ausgehen. Eine binäre Einheit realisiert sich – sich verdoppelnd – durch eine Abweichung und eine Gleichheit, die die Korrelation innerhalb und zwischen den Oppositionen bilden. Eine einzige distinktive Opposition (z.B. breit/eng) reicht noch nicht aus, zwei Phoneme (o : u oder a : ɯ) voneinander zu unterscheiden. Wird ihr in der Wiederholung (o : u = a : ɯ) einen Unterscheidungswert verliehen, muss es nun einen Unterschied zwischen den Wiederholungen geben. Die Wiederholung hat jedoch die Frage des Unterschiedes im Kontrast nicht gelöst, nur umgesetzt: Der Kontrast besteht nun zwischen den sich wiederholenden Oppositionen. Es entspricht ihren Funktionen folglich nicht, sondern widerspricht ihnen eher, nach dem Unterschied oder dem Verhältnis der Oppositionen zu fragen. Sie sind höchstens in ihrem iterativen Weiterschreiben, aber ohne die Möglichkeit einer gleichzeitigen Reflexion zu wiederholen. Das Gleichheitszeichen schafft in den Formeln jeweils eine Tautologie, deren Seiten nicht nur identisch (in der hinteren Bildung) und unterschiedlich (in gerundeter/ungerundeter Bildung) gleichzeitig, sondern auch Wiederholungen eines anderen Unterschiedes (der breit/eng Opposition) sind, die sich in jenen ununterscheidbar untermischen. Entscheidend sind nicht die Unterschiedlichkeiten zwischen den Elementen, sondern die Wiederholungen der Operationen, in denen sie sich differenzieren. Was wiederholt wird, sind keine Elemente oder Werte, sondern das inverse Vertauschen von Oppositionen und Abweichungen um die Achse identischer Merkmale. Das identische Erkennen einer Opposition wird nicht nur durch den Faktor der nichtwahrnehmbaren Abweichung untergraben. Es gibt nämlich immer Merkmale, die in der Gegenüberstellung zweier Oppositionen identisch bleiben und deshalb nicht registriert werden können. Es gibt dabei keine Kontrollinstanz zu entscheiden, welcher Pol des gegebenen Merkmalspaars den gemeinsamen Bezugsrahmen der Operationen bildet. Die identischen Merkmale der hinteren Bildung sind
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in den als Beispiel zitierten Formeln gegen die der vorderen auszutauschen, ohne die bisherigen Prozeduren an irgendeiner Stelle verändern zu müssen. Der Tausch würde jedoch zum symmetrischen Gegenstück des Vokalsystems führen, d.h. völlig andere Phoneme (ö : ü = e : i) ergeben. Die bedeutungsunterscheidende Rolle oder die »bedeutungsverleihende Unterscheidung«54 der Phoneme entpuppt sich dadurch als eine fiktive Einheit, die sich um ihre eigene Achse drehend ihre Bedingungen auf Anhieb als Funktionen weitergibt, die ihr deshalb nicht nur voraus, sondern gleichzeitig über sie hinausgehen. Die Phoneme verleihen ihre eigenen Ursachen in einem Prozess, in dem sie entleert und als »leere[…], negative[…] Grundeinheiten«55 der Sprache hinterlassen werden; sie sind der Dreh- und Angelpunkt des Systems, an dem die horizontalen Unterschiede in vertikale »Aufeinanderbezogenheit« übersetzt werden. Die Abbildung des Aufbaus oder der Code der Sprache einschließlich ihrer Materialitäten erweist sich somit als eine augenblickliche und beliebige Verbildlichung gleichzeitiger Operationen, die sich allerdings nicht stabilisieren lassen und deshalb die von ihnen motivierte Abstraktion, ihre Abbildung in Code wieder in Bewegung bringen, d.h. unweigerlich lesen müssen. Das Modell der phonematischen Codierung ist die Ausdehnung einer vorübergehenden Kontiguität, deren Bild selbst ›decodiert‹ und als ›historisches Faktum‹ gelesen werden muss. Der Prozess der Codierung, den Jakobson nirgendwo an sich, sondern jeweils in ihren Effekten – Differenzierung der Merkmale, Abgrenzung der Wörter und Bedeutungen usw. – diskutiert, entfaltet sich in einem Modell der rhetorischen Verbildlichung, dessen Motivation erst von der Figur der poetischen Funktion verstanden werden kann. Nichtpräsentierbare semiotische Vorgänge werden dabei durch poetische Figuren historisch-medialer Zusammenhänge ersetzt und alle weiteren Instanzen der Sprache von diesem Zusammenfallen der Zeichen und ihrer jeweiligen Medien abgeleitet. Die in Wahrheit figurativen Zusammenhänge solcher Codierungsmodelle können wohl in den literarischen Lesarten am effektivsten enthüllt und wieder mobilisiert werden. Auf diesen »selbstpräsentierenden Effekt der Lyrik« hat Zoltán Kulcsár-Szabó im poetologischen Zusammenhang aufmerksam gemacht, von dem her sich der auf sein Maximum erhöhte Abstand von Signal und Rauschen als eine ausgedehnte Figur der Selbstreflexion – »Ergebnis eines Fehllesens« – entpuppt, die deshalb eben nicht mit der Dichtung oder der Schriftkultur selbst, sondern nur mit ihren – ästhetischen – Effekten gleichzusetzen ist. Der Begriff der Selbstpräsentation, der im Gegensatz zu den Ideen der Selbstreflexion schon von der figuralen
54 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 166. 55 Ebd., S. 170.
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Illusion der sinnlichen Präsenz des Zeichens ausgeht, kann auch die Medialitätskonzepte in eine andere Beleuchtung rücken. Selbstpräsentierende Effekte (Ausgangspunkt der Frage nach der Codierung) sind nämlich viel mehr »Figuren als Medien«.56 Es wäre weiterhin kaum möglich, die ästhetisierenden Tendenzen der selbstpräsentierenden Effekte zu registrieren, ohne die im rhetorischen Lesen zu erschließenden Differenzen in Rechnung zu stellen, die im Vorhergehenden aufgewiesen wurden. Es ist also bei Weitem nicht sicher, dass sich sprachliche und weitere kulturelle Techniken der Codierung in den medialen Figuren unterscheiden, auf die sie einerseits angewiesen und in denen sie präsentierbar und die andererseits von ihnen bereits »dekodiert« oder besser: gelesen worden sind. Wie zu erwarten, sind die beschriebenen phonologischen Verhältnisse auch auf die ›semantischen Ebenen‹ umzusetzen und lassen dadurch das aufgebaute System der Hierarchie einstürzen. Man kann nämlich nicht umhin festzustellen, dass auch Wörter und Bedeutungen, Lautbilder und Vorstellungen an Chiasmen von Abweichungen und Oppositionen teilhaben müssen. Liest man den Unterschied von Signifikat und Signifikant in den Stellenwerten der doppelten Differenzen, kommt man wiederum bei dem von Saussure diskutierten sprachlichen Wert an. Von dem her zeigt sich der Kontrast der binären Merkmale als eine sich selbst genügende und jedoch fiktive Einheit oder ein vorausgesetztes Element, dessen Wert nicht bestimmt werden kann, »wenn man nur feststellt, daß es ausgewechselt werden kann gegen diese oder jene Vorstellung«57 oder eben Buchstaben. Der Unterschied der zwei Seiten des Zeichens wie der der Merkmale muss wiederholt, in den Kontext anderer Zeichen gesetzt werden; »man muß es auch noch vergleichen mit ähnlichen Werten, mit anderen Wörtern, die man daneben setzen kann«, denn »sein Inhalt ist richtig bestimmt nur durch die Mitwirkung dessen, was außerhalb seiner vorhanden ist.« Auch wenn die Elemente der Jakobsonschen und der Saussureschen Systeme nicht komplementär sind, geht es um die gleichen Prinzipien: Der Kontrast zweier Phoneme muss dem gleichen und doch abweichenden Unterschied anderer Phoneme entgegengestellt, der selbe in Verbindung mit einer anderen Abweichung wiederholt werden, um den Kontrast als ›wirkliche Opposition‹ zum Vorschein kommen zu lassen. Der Einwand, die zwei Modelle seien inkommensurabel, kann nach der Einsicht nicht mehr aufkommen, laut der es nicht die Verschiedenheiten oder Kontraste der Bestandteile, sondern allein ihr Nichtzusammenfallen mit den anderen ist, das die Prozeduren der Codierung vorschreiben. Es kommt hier aber nicht auf einen ins Leere stürzenden Unterschied, sondern auf eine Differenz
56 Z. Kulcsár-Szabó: Irodalmiság, S. 33. 57 F. de Saussure: Grundfragen, S. 137.
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zweier Verhältnisse an. Die Opposition der Merkmale ist auf die Abweichung anderer angewiesen, denn »es ist nicht einzusehen, warum die Beziehung, die zwischen den verschiedenen Stücken A, B, C, D usw. festgestellt wird, nicht verschieden sein sollte von derjenigen, welche besteht zwischen der Vorderseite und der Rückseite eines und desselben Stückes, also A/Aʹ, B/Bʹ usw.«58 Der Kontrast der Merkmale soll ebenso in der Abweichung zu anderen Kontrasten wiederholbar und oppositionär werden. Die Verbindungen von Lautbildern und Vorstellungen sind erst vor den Abweichungen ähnlicher Elemente wiederholbar und miteinander auszutauschen. Die beliebige Verbindung soll entweder in den materiellen Unterschieden der Wörter oder im Nichtzusammenfallen der Vorstellungen erkennbar werden. Erst nachdem die Bestandteile durch ähnliche Dinge zu ersetzen sind, sind sie auch auszutauschen. Aber da sich in der bloßen Abweichung kaum etwas Vergleichbares ergeben kann, sind Signifikat und Signifikant vielmehr nach einem Vertauschen der deswegen nur mutmaßlich ähnlichen Elemente, in der beschriebenen inversen Wiederholung auszutauschen. Dieser Prozess ist allerdings auch in einer anderen Hinsicht und Einstellung vorzustellen: Die weiter nicht erklärbare Abweichung von Lautbild und Vorstellung wird wohl auch vor Laut-Vorstellung-Abweichungen zur Opposition. Betrachten wir also die Verbindung von Signifikat und Signifikant als bloßen Kontrast (unähnlicher Dinge), sind die Oppositionen der Lautbilder oder die von Jakobson zitierten Beispiele der phonologischen Kontraste vor dem Hintergrund gewisser Idiome zu erkennen. Die phonologischen Oppositionen wie zum Beispiel »die bedeutungsverleihende Unterscheidung der palatalisierten Phoneme von den nicht-palatalisierten im Russischen«59 können demzufolge erst in der ununterscheidbaren Abweichung oder tautologischen Verbindung von Bezeichnendem und Bezeichnetem, d.h. in anagrammatischen Mustern zum Vorschein kommen. In der Korrelation von Verwechslung und Auswechslung geht es um nur teilweise symmetrische Bewegungen, deren Richtungen einander ausschließen. Obwohl der vertikale Austausch und die horizontale Vertauschung heterogen sind, gibt es keine von ihnen unabhängigen Bezugspunkte, die ihre Abfolge im Voraus codieren könnten. Der Wechsel der erwähnten Einstellungen wird eben dadurch möglich sein, dass sich die innere beliebige Verbindung innerhalb des Zeichens einerseits, die zwischen unähnlichen Dingen bestehe, und diejenige zwischen den Zeichen andererseits, die ähnliche Dinge vergleiche, nicht auseinanderhalten lassen. Treten die Kategorien der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit in der Kreuzung der Prozesse nachträglich hervor, können die
58 Ebd., S. 137. 59 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 166.
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ähnlichen Werte des gleichen Systems nicht verglichen, sondern höchstens verwechselt, vertauscht werden. Mit anderen Worten: Wollen wir die Sprache nicht »auf eine bloße Nomenklatur zurückführen«,60 dürfen wir keine dem System vorausgehenden Unterscheidungen zwischen der ähnlichen Natur der Reihe von Signifikaten und der der Signifikanten bzw. der Heterogenität der beiden treffen. In der Verwechselbarkeit der beiden Verhältnisse lösen sich die Konturen des Zeichens und damit die Möglichkeit ihrer Ausdifferenzierung aus den Prozessen ihres Zum-Vorschein-Kommens, des Rauschens, auf. Aus den inversen Wiederholungen der Merkmalsoppositionen konnte ersichtlich werden, dass selbst die Stellenwerte des abweichenden Hintergrundes und der erscheinenden Oppositionen ständig verwechselt werden müssen. Das vom Rauschen gereinigte Zeichen und eine den Alphabetsystemen eigene Codierung sind nachträgliche Konstruktionen, denn »die auf sich selbst gerichtete Nachricht basiert nicht auf dem Fehlen referentieller Verbindungen oder bestimmter Codierungen, sondern auf deren unorganisierter Kopräsenz.«61 Die Topografie und damit die Unterscheidung von Lautbild und Vorstellung sind ebenso den sie übertragenden Bewegungen ausgesetzt. Es gibt keine dem System vorangehenden Elemente, die entweder der Ordnung der singulären Abweichungen, der materiellen Hintergründe oder der der Oppositionen angehören. Entstehen die miteinander zu Vergleichenden erst in den einander kreuzenden – vertikalen und horizontalen – Operationen, sind auch die ›Bedingungen‹ der Codierung als nachträglich-zufällige Kontiguitäten aufzufassen. Zum Funktionieren eines Systems sind nur die Prozeduren des Aus- und Vertauschens, zweier korrelativausschließender Bewegungen, vorauszusetzen. Es ist jedoch kein Zufall, dass das doppelte Verhältnis innerhalb der Inversion, das als gleichzeitiger Austausch zweier Doppelheiten praktisch wohl kaum vorzustellen ist, bereits bei Jakobson in zwei heterogene Systeme, in eine immateriell-semantische Aufeinanderbezogenheit des Bezeichneten und des Bezeichnenden, ferner in ein gleichzeitiges Gegenüberstehen der Phoneme zerfällt. Die bedeutungslosen Grundsteine der Sprache unterbrechen den Prozess der Repräsentation und besitzen eine eigenartige Anwesenheit, denn sie »sind nicht ›Zeichen für ein Zeichen‹, wie zum Beispiel die chinesische Wortschrift, in der jeder Buchstabe ein Wort, also ein abwesendes Zeichen vertritt. Die Phoneme beziehen sich dagegen auf ein anwesendes Zeichen«.62 Wie auch immer der Unterschied zwischen den von Anwesenheit bzw. Abwesenheit geprägten
60 F. de Saussure: Grundfragen, S. 136. 61 Z. Kulcsár-Szabó: Irodalmiság, S. 30. 62 R. Jakobson: Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, S. 170.
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Verweisen zu begründen ist, Phoneme werden nicht nur durch ihre Anwesenheit, sondern auch durch ihren materiellen Charakter gekennzeichnet, der in der Saussureschen Semiose – so die gängige Kritik – in der Leere der Differenzen ein für allemal verloren gehe. Es ist nicht nur der Wirkungsgeschichte geschuldet, sondern hat auch sprachinterne Gründe, dass die Ausdifferenzierung der Materialität aus den immateriellen Verweisen des Sinnes immer noch ein Grundmuster der medientheoretischen Diskurse ist. Aus welchem theoretischen Gesichtspunkt sie auch das Nichthermeneutische wiederfinden, gelten die Zeichentheorien, die sich auf einen tropologischen Begriff der Differenz gründen, gleichermaßen als Tendenzen der Immaterialisierung der Zeichen, die durch ihre vergessenen materiellen Aspekte in einer Theorie entweder ergänzt oder modifiziert werden müssten. Die oft kontradiktorischen Versuche, eine Opposition des Hermeneutischen und Orte der Materialitäten zu lokalisieren, können an sich den Verdacht der Figuralität ihrer Grundlagen erwecken. Scheinen die auf Grenzen der Bereiche des Sinnes hindeutenden Paradoxien aus einer medienarchäologischen Perspektive immer noch in der interpretatorischen Tradition gefangen zu sein, können von einem philosophisch fundierten Standpunkt aus die immer virulenter zutage tretenden Tendenzen der Mediatisierung leicht zu der »fatale[n] Illusion« führen, »alles sei alles übersetzbar, transferierbar, mediatisierbar, konstruierbar.«63 Vorstellungen des ›digitalen Zeitalters‹, »deren Absolutes das Mathematische, der Algorithmus, die Syntax der Maschinenzustände ist«,64 manifestierten auf akute Weise »die Wut« der Überschreibung, wobei der affirmative Zug der Verkörperung in der mathematischen Relationalität der Codierbarkeit aufgehe. So argumentiert Dieter Mersch für eine positive und doch sich entziehende Konstitution der »Ex-sistenz«, deren streng genommen nichtpräsentierbare Präsenz durch mehrfache Paradoxien darzustellen wäre. Die Entscheidung über die Vorrangigkeit der Interzeption vs. Interpretation bzw. die Kritik an den symbolischen Ordnungen des Sinnes scheinen erst von den Diskursen her voreilig zu sein, die, wie auch der von Mersch, die widersprüchlichen sprachtheoretischen Konsequenzen einer solchen Kritik aufweisen und in denen deshalb »Verstehen und Nichtverstehen […] keine entscheidbare Alternative [bilden], sondern eine unentwirrbare Verflechtung.«65 Bei der Gegenüberstellung der Negativität der referentiellen Verweise und der Körperlichkeit des Dargestellten ist trotzdem nicht zu vermeiden, dass die doppelte Differenz der – die Zeichen austragenden – Prozeduren wieder in zwei Sphären – die der
63 D. Mersch: Paradoxien der Verkörperung, S. 50. 64 Ebd., S. 51. 65 D. Mersch: Orte der Bedeutung, S. 354.
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Relationalität und der Darstellung – aufgeteilt wird. In den »Paradoxien der Verkörperung« kehren sich nämlich nur die Verhältnisse des Jakobsonschen Musters um: nachdem »Zeichen […] durch zwei komplementäre Differenzen zerschnitten [werden], der Differenz der Relata innerhalb ihrer Funktion bzw. innerhalb der Stellen ihrer Matrix einerseits sowie der Differenz zwischen Bedeutung und Materialität andererseits«,66 müssen die »infinite Oberfläche« der Zeichenrelationen, auf der »Verweise einzig auf Verweise [verweisen]«67 und die die funktionalen und strukturalen Zeichenbegriffe prägten, durch den »affirmativen Zug« der Darstellung, den jene nicht zur Geltung brächten, ergänzt werden. »Denn die Materialität des Zeichens […] ist nicht Teil ihrer Funktion sowenig wie sie ein Element ihrer Struktur darstellt; vielmehr geht sie ihnen voraus.«68 Materialität und Ereignis werden aus der – gewissermaßen mangelhaften – Negativität der Verweise als »Akt des Setzens« oder Affirmation der Präsenz ausdifferenziert.69 Es geht um die Ergänzung der Leere der Differenz durch einen Akt, der selbst nicht weiter differenzierbar und aus den analysierten tropologischen Vorgängen ausgeschlossen, mit seinem eigenen Anderen nicht zu verwechseln und deshalb dennoch substanziell umgrenzt ist.70 Die Relationen der Zeichen enthalten jedoch – wie gezeigt wurde – bereits bei Saussure mindestens noch eine Differenz, die sich von jenen nicht abtrennen, sondern nur vertauschen oder vielmehr: allzu leicht verkennen lässt. In der Inversion der »Systeme« lassen sich weder die Gegenüberstellungen der Oppositionen noch die Abweichungen ihres »Hintergrundes« oder das Verhältnis der beiden auseinanderhalten.
66 Ders.: Paradoxien der Verkörperung, S. 43. 67 Ebd., S. 39. 68 Ebd., S. 43. 69 »Das Paradox der Referenz wird dann gewissermaßen durch seine strukturelle Modifikation in einen infiniten Regress transformiert. Analoges findet sich bei Saussure, wenn er von der vertikalen Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, die als formale Differenz fungiert und innerhalb der Theorie die weniger relevante bezeichnet, zur horizontalen Unterscheidung zwischen Sème und Parasème übergeht, um benachbarte Stellen zu markieren.« Ebd., S. 39. 70 »Die These wird sein, dass im dekonstruktiven Denken der Status des Performativen ungeklärt bleibt – oder, um genauer zu sein: dass Performativität allein von der Differenz her gedacht wird, nicht jedoch als Akt einer Setzung, als Ereignung. Diese erfordert eine Explikation über Differenz hinaus und weist auf Begriffe wie Präsenz, Augenblick und Materialität.« D. Mersch: Kunst und Sprache, S. 41.
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Man kann also kaum bestreiten, dass es im imaginären Zustand der Zeichen mehr als notwendig ist, die Gegenstücke des Selben zu verkennen.71 In der Verwechslung der Zeichen wird das Verkennen von Bezeichnendem und Bezeichnetem wiederholt, das allerdings ohne den Verdacht einer vorausgehenden Verwechslung kaum als ›Verkennen‹ bezeichnet werden kann. Die Verwechslung der Lautbilder und der Vorstellungen kompensiert oder eben vertieft das ursprüngliche Verkennen, welches Verkennen nur durch den unbeweisbaren Verdacht derselben Verwechslung ausgelöst und deswegen nie als falsches Erkennen erkannt werden kann. Aber wie dem auch sei, die Beschreibung der Differenzen muss auf einer Prolepse basieren: ein fiktiver Unterschied (zwischen ähnlichen und unähnlichen Dingen bei Saussure oder dem Imaginären und dem Realen bei Lacan) muss vorweggenommen und vorausgesetzt werden, um die Verbindungen im System erschließen und die Stellenwerte der Signale entschlüsseln zu können. Ist dabei im Idealfall von der Differenz zweier Verhältnisse auszugehen, ist andererseits auch klar, dass auf der Suche nach Wiederholungen und organisierenden Gesetzen das zu Bestimmende eher erschaffen und zustande gebracht oder besser: an bereits vorhandenen Figuren des Medialen gekoppelt statt beschrieben wird. Auswechslung unähnlicher Dinge innerhalb des Zeichens bzw. Vergleich ähnlicher Elemente desselben Systems: »Diese beiden Faktoren sind notwendig für das Vorhandensein eines Wertes«.72 Die scheinbare Geschlossenheit des Systems und die angebliche Einheit seiner Elemente entpuppen sich in ihrer Wechselbeziehung als Abstraktionen: Beide sind der nicht codierbaren oder unprogrammierbaren Verwechslung des anderen, einer konstitutiven Offenheit aufgrund ihrer Arbitrarität ausgesetzt. Der Code wird nicht zusätzlich eingeschaltet, um ein vorhandenes Material zu bearbeiten; er lässt sich nicht von den Zu-codierenden unterscheiden: System und Zeichen codieren, d.h. sie verleihen einander durch ihre Verwechselbarkeit gegenseitig die Möglichkeit ihrer Unterscheidungen. Es gibt allem Anschein nach zwei gesetzgebende Kräfte, wobei die eine die andere durch eine willkürliche Vorwegnahme in einem Stellenwert kodifiziert, und dieses Gesetz wird nachher durch die erstere wieder gespaltet, gelesen oder angewendet. Kontinuierliche und diskontinuierliche, motivierte und heterogene Verschiedenheiten, die die Operationen der Aus- und Verwechslung ermöglichen, müssen vorausgesetzt werden, während sie erst in diesen Prozessen entstehen. Erzeugen die Analysen der technischen Welt die überzeugendsten und transparentesten Metaphern und Übertragungen, können sie auch von ihren Diskonti-
71 Vgl. J. Lacan: Das Spiegelstadium. 72 F. de Saussure: Grundfragen, S. 137.
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nuitäten und Brüchen zeugen, deren Sprünge, in denen nicht einmal die Beschreibung und das zu Beschreibende zu vereinen sind, viel radikaler die Wirkung des Nicht-Symbolischen zutage bringen als die vorausgesetzte Unterscheidung von Alphabeten und Computercodes. Die – selbst unter Bedingungen einer gewissen Vorstellung der Technik gestellte – Frage nach dem Unterschied der technischen und der sprachlichen Codes ist allerdings nach wie vor unbeantwortet. Eins ist jedenfalls sicher: Kommunikationssysteme lassen sich nur im Rahmen ihrer eigenen Voraussetzungen oder nach der Annahme ihrer nicht weiter begründbaren und gewissermaßen willkürlich gesetzten Unterschiede (Hintergrund/Vordergrund; ähnliche/unähnliche Dinge) erklären. In den rhetorischen Verwechslungen der Sprache sind die Unterscheidungen der Technik und die Konturen ihres ›Materials‹ nicht mehr sicherzustellen. Wenn technische Systeme und ihre Analysen nicht zu vereinbaren sind, dann deswegen, weil diese jeweils noch eine Differenz enthalten, die jene weder im Immateriellen auflöst noch ihr vorausgesetztes Signal decodiert, sondern sie wieder in Bewegung bringt und das rhetorische Bild des Signals – in einem reflektierten Sinne – liest. In der Rückkopplung der Technik codieren Zahlen und Signale wiederum Signale, nicht das Reale. Gesetze der technischen Codierung werden deshalb wohl nicht in der Verschaltung oder Verbindung von Signalen und ihren Trägern eine Erklärung finden, sondern vielmehr in den Möglichkeiten, wie sie sich wiederholen und wiederholbar werden, wie etwa in der Selbstauflösung von binären Systemen.
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Auktoriale Godgames Die transgressive Selbst-Institutionalisierung literarischer Autorschaft in William Shakespeares Measure for Measure und Ben Jonsons Volpone W OLFRAM R. K ELLER
»The modern institution of authorship is, it seems, inseparable from notions of ownership.« So fasst Nora Johnson kurz den Forschungsstand zur Frage der Institution von Autorschaft in einer kürzlich veröffentlichten Monographie zur Autorschaftsfunktion und der Schauspielerei in der Frühen Neuzeit zusammen.1 Obwohl sich in den letzten Jahren zahlreiche Mediävisten und RenaissanceForscher intensiv mit dem Problem von Autorschaft vor der offiziellen Einführung einer Copyright-Gesetzgebung befassten, welche die Besitzrechte an geistigem Eigentum regelt,2 so beharren diachrone Studien zur Institutionalisierung von Autorschaft indes auf der Andersartigkeit vormoderner Autorschaft.3 Die gebetsmühlenartige Wiederholung der Thesen Michel Foucaults zu Transgression, Bestrafung und Autorschaft hatte letztlich zur Folge, dass in diesen Arbeiten vorsichtig von »vormodernen« Formen der Autorschaft gesprochen wird.4
1
N. Johnson: The Actor as Playwright, S. 16.
2
Siehe z.B. K. Wilson: Fictions of Authorship; R. Schlesier/B. Trînca (Hg.): Inspiration und Adaptation; A. Minnis: Fallible Authors; D. Hobbins: Authority and Publicity; A. Minnis: Medieval Theory of Authorship.
3 4
Siehe z.B. M. Rose: Authors and Owners. Die Entstehung des modernen Autors, so Andrew Bennett, ist nur erklärbar durch die Ablösung höfischer Kultur, den aufkommenden Merkantilismus und die Drucktechnologie: »It is only with a reduction in the prestige, status and financial and political
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Neuen Auftrieb hat die Frage nach der Institutionalisierung literarischer Autorschaft durch ein erneutes Interesse an Institutionalisierungsprozessen in der Frühen Neuzeit sowie durch die Konkretisierung eines bislang eher vagen Begriffs von Institution erfahren.5 Die englische und amerikanische Forschung widmet sich nun zunehmend der Frage nach der Institutionalisierung von Autorschaftsmodellen jenseits der Frage nach der Institutionalisierung des Theaters und hat sich von der dem New Historicism geschuldeten Grundannahme verabschiedet, dass das frühneuzeitliche Theater bzw. frühneuzeitliche Autorschaft lediglich ein Nebenprodukt des Machtapparats oder eines sich liberalisierende Marktes gewesen sei.6 In diesem Zusammenhang ist auch die Besitzstandsproblematik erneut in den Blick geraten. Das erneute Quellenstudium des sog. Stationer Register, eines von der Gilde der Stationers – die das Monopol über das frühneuzeitliche Publikationswesen innehatten – geführten Registers, in dem im Namen der Krone die Rechtsinhaber von Veröffentlichungen verzeichnet wurden, hat ein
power of the court, a reduction that goes along with the growth of the mercantile classes and the increasing financial opportunities made available by print technology, that the profession of authorship, that authorship as a profession, can emerge.« A. Bennett: The Author, S. 48. 5
»By contrast, the approach to institutional analysis associated with New Historicism often seemed to add up to little more than secondhand Foucault instilled by a process of intellectual osmosis from other criticism, almost invariably with no extended theoretical discussion, little detailed attention to specific examples and very little apparent agreement about what an institution actually is. […] As a result, when the word ›institution‹ appears on the surface of a discussion, it almost always reveals the extent to which the underlying intellectual and political tensions that accompanied the emergence of this idea in the 1980s still affect our work.« E. Sheen: Shakespeare, S. 1.
6
Während in Greenblatts Version der Institutionalisierung des Theaters Shakespeare immerhin noch als ein Handelnder erscheint (wenngleich in erster Linie in der Verfolgung ökonomischer Interessen), verfolgen andere – dem New Historicism folgende – Darstellungen der Institutionalisierung des frühneuzeitlichen Theaters die These, das Theater sei subsumiert in andere institutionelle Diskurse (Theater als politisches Machtmittel, Theater als Bestandteil der Institutionalisierung von kapitalistischen Wirtschaftsmodellen), ohne freilich zu eruieren, wie Erica Sheen moniert, inwieweit Individuen in ihrer Anbindung an eine bestimmte Institution von Werten und Interessen anderer institutioneller Kontexte bestimmt werden. Siehe St. Greenblatt: Shakespearean Negotiations; J.-C. Agnew: Worlds Apart; D. Bruster: Drama and the Market; aber vgl. E. Sheen: Shakespeare, bes. S. 6-7.
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sehr komplexes Bild eines vormodernen Copyright ergeben: schon seit den 1550er Jahren wurde dieses Register offenbar auch zur Aufdeckung von Plagiatsfällen verwendet, um unerlaubten Raubdrucken Einhalt zu gebieten. Aus der gleichen Zeit sind bereits Fälle belegt, in denen das Register auch Namen von Autoren als Rechtsinhaber verzeichnet – meist handelte es sich hier um Urheber gelehrter Werke, die augenscheinlich einen so mageren Absatz fanden, dass die Krone sicherstellen wollte, dass die Autoren einen Verdienst an ihren Werken hatten. Spätestens seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts finden sich allerdings auch Namen literarischer Autoren.7 Was die Frage nach der Institutionalisierung von Autorschaft kompliziert, ist allerdings der Stellenwert, den Autoren gedruckten Werken beimessen, und damit einhergehend die verschiedenen »Publikationspraktiken«: seit der Öffnung der Theater Mitte des 16. Jahrhunderts setzten einige Autoren ausschließlich auf die Bühne, wobei die zugrunde liegenden Texte meist in Manuskriptform zirkulierten, andere Autoren verschrieben sich der sog. Amateurdichtung und der privaten Manuskriptzirkulation, die noch weit bis in das 17. Jahrhundert andauerte. Andere Autoren wiederum sahen sich in der Rolle staatstragender Dichter, die sog. Laureates, von denen viele mit dem immer populärer werdenden öffentlichen Theater nichts zu tun haben wollten.8 In diesem Umfeld konkurrierender Publikationsformen mussten sich Dichter wie William Shakespeare und Ben Jonson behaupten, was Auswirkungen auf die jeweils in den Stücken zur Schau gestellten Autorschaftsmodelle hatte, die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Das Autorschaftsmodell Shakespeares bzw. die Frage, ob er bewusst auf ein auf Ruhm ausgelegtes (aber diese Ambition gleichsam verschleierndes) Karrieremodell setzte, hat im letzten Jahrzehnt zu Turbulenzen in der ShakespeareIndustrie gesorgt. Konkret ging es – und geht es – um Shakespeares (vermeintliche) Institutionalisierung des Modells eines ovidischen Dichter-Dramatikers, der seinen Anspruch auf literarischen Ruhm zu verschleiern weiß – eine veritable Form der (nationalen) Gegen-Autorschaft. Während Dichter-Dramatiker wie Christopher Marlowe sich ganz am antiken Vorbild Ovids orientierten, kommen neuere Arbeiten zu dem Schluss, Shakespeare habe dieses ovidische Paradigma von Marlowe geerbt und letztlich – zweckentfremdet – dazu genutzt, seinen Versuch der literarischen Selbstkrönung als englischer Nationaldichter zu ka-
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John Feather ist daher der Ansicht, dass bereits zu diesem Zeitpunkt von Copyright gesprochen werden kann: »Here we have, all but in name, the concept of copyright«. Siehe J. Feather: From Rights in Copies, S. 197.
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Siehe u.a. A.F. Marotti: The Transmission, S. 21-41. Siehe auch A. Kernan: Shakespeare’s and Jonson’s View.
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schieren. Shakespeare habe somit das Modell Spensers, der auf den vergilischen Ruhm staatstragender Dichter hinarbeitete, und das ovidische Modell Marlowes produktiv synthetisiert und fortan institutionalisiert. Nach einer kurzen Darstellung dieser Thesen wende ich mich Shakespeares kurz nach der Thronbesteigung Jakobs I entstandenen Measure for Measure [dt. Maß für Maß; im Folgenden Measure] zu – einem Stück, das in der Form eines sog. Godgame das Konzept eines sich verschleiernden Dichter-Dramatikers inszeniert. In einem weiteren Schritt vergleiche ich Shakespeares Stück mit Ben Jonsons Volpone [dt. Der Fuchs], in dem letzterer explizit auf Shakespeares Measure Bezug nimmt, aber die Struktur des Godgames aus der in Shakespeares Stück imaginierten institutionellen Verortung herauslöst und gleich mehrere Godgames in einer Wettbewerbssituation auf die Bühne bringt. Abschließend hoffe ich anhand dieses Vergleichs aufzuzeigen, inwieweit die beiden Versuche, sich in die rivalisierenden literarischen Diskurse der Zeit einzuschreiben und somit ein Autorschaftsmodell zu institutionalisieren, von der Verortung in spezifischen Institutionen und einer imaginierten Öffentlichkeit abhängig sind. Andererseits kann, wie im Fall Jonsons, eine aggressive und transparente Form des Selbstkrönens und einer damit einhergehenden generischen und ethischen Transgression zu einer Selbst-Institutionalisierung des sich selbst druckenden DichterDramatikers führen.
1. Es ist ein Gemeinplatz, dass Shakespeare als Schauspieler und Dramatiker ein Mann des Theaters gewesen ist. Vor allem in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Shakespeare-Forschung auf Aspekte der Aufführungspraxis kapriziert und somit Shakespeare als Dramatiker und Schauspieler institutionalisiert.9 So spricht auch Stephen Greenblatt, der wohl bekannteste Shakespeare-Forscher dieser Tage, in der Einleitung zur Standard-Werkausgabe von Shakespeare als »the working dramatist«.10 Shakespeare wird zudem eine Sonderrolle in der Institutionalisierung des Theaters überhaupt zugedacht, eine Annahme – vornehmlich von Kritikern des New Historicism –, die streng genommen auf einem Zirkelschluss beruht (den Shakespeares Werke zugegeben selbst nahelegen). Dass Shakespeare ausschließlich ein Mann des Theaters gewesen sein soll, der
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Siehe P. Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright, S. 21-23.
10 St. Greenblatt: The Norton Shakespeare, S. 1.
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keinerlei Interesse an literarischem Ruhm gehabt habe, ist allerdings kürzlich von Lukas Erne und Patrick Cheney bezweifelt worden. In einer 2003 erschienenen Monographie hat Erne eine Kontroverse in der Shakespeare-Forschung mit der These provoziert, Shakespeare habe nach literarischem Ruhm gestrebt.11 Dies setzt letztlich eine durchgeplante literarische Karriere voraus, mit deren Ergründung sich Cheney intensiv beschäftigt hat. Cheney kommt zu der Überzeugung, dass sich Shakespeares Griff nach literarischem Ruhm in einer Synthese verschiedener Karrieremodelle äußert. Basierend auf in mehreren Monographien vorliegenden intertextuellen Studien sowohl von Shakespeares Dramen als auch seiner oft von der Literaturkritik als sekundär erachteten Gedichte, argumentiert Cheney, Shakespeare habe ein revolutionäres Karrieremodell institutionalisiert, das eines »self-concealing poet-playwright« – eines sich verschleiernden Dichter-Dramatikers.12 Der Dichter-Dramatiker ist keine Erfindung der Frühen Neuzeit, sondern geht auf ein antikes, römisches Paradigma zurück.13 Das Konzept ist vor allem mit den Werken Ovids verbunden und steht im Gegensatz zu einem rivalisierenden Modell literarischer Autorschaft, das auf Vergil zurückgeht und dem römischen Imperium Vorschub leistete. Die Progression von der Pastoraldichtung zum Epos in den Werken Vergils war in der Frühen Neuzeit vor allem Vorbild für die Laureate-Dichter wie Edmund Spenser, die – Vergil folgend – Dichtung als staatstragende Institution im Zentrum der Macht verorten wollten. Der Trias Vergils tritt ein Rekurs auf das erwähnte ovidische Karrieremodell entgegen, das sich nicht nur hinsichtlich der nationalen Relevanz von Dichtung, sondern auch generisch anders ausnimmt. Denn die Werke Ovids wurden in der Renaissance nicht nur mit einem Freiheitsbegriff verbunden, der imperialistische Ambitionen konterkarierte, sondern auch mit den Gattungen des Theaters, war doch Ovid – im Gegensatz zu Vergil – Dichter und Dramatiker gewesen, auch wenn seine Medea nicht überliefert war. In den 1590er Jahren tritt das Modell des DichterDramatikers erneut in Erscheinung, was im Lichte der Wiedereröffnung der
11 L. Erne: Shakespeare as Literary Dramatist. 12 Cheney hat sich zunächst intensiv mit den Karrieremodellen Spensers und Marlowes beschäftigt, bevor er sich mit den intertextuellen Bezügen Shakespeares auf diese beiden Vorgänger und Konkurrenten auseinandergesetzt hat: Siehe P. Cheney: Spenser’s Famous Flight; ders., Marlowe’s Counterfeit Profession; ders., Shakespeare, National Poet-Playwright; ders., Shakespeare’s Literary Authorship; ders., Did Shakespeare Have a Literary Career. 13 Für die frühneuzeitliche Rezeption der rivalisierenden Karrieremodelle Ovids und Vergils siehe u.a. die Zusammenfassung in Ph. Hardie: Contrasts.
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Theater in den 1560er und 1570er Jahren kaum als Zufall gelten kann.14 Mit dem Aufblühen des Theaters waren Literaturschaffende gezwungen, Autorschaftsmodelle zu generieren, die den konkurrierenden literarischen Diskursen – Theater, Amateurdichtung, Laureate-Dichtung – gerecht wurden, und dies zu einer Zeit, in der sich der oft skeptisch beäugte Buchdruck rasant entwickelte.15 Das Modell des Dichter-Dramatikers schien bestens geeignet, um den sich verändernden Bedingungen gerecht zu werden. Die dringende Frage aber war, wie genau sich ein solches Autorschaftsmodell ausgestalten könnte. Marlowe entfaltete als erster frühneuzeitlicher englischer Autor vollends das Potential des ovidischen Dichter-Dramatikers: er betätigte sich nicht nur erfolgreich im Theater, sondern produzierte auch die erste volkssprachige Übersetzung von Ovids Amores und präsentierte sich so als englischer Ovid. Er tat dies im direkten Gegensatz zu seinem Widersacher Spenser, der sich in vergilischer Manier selbst als Nationaldichter zu krönen gedachte (und nicht viel für das Theater übrig hatte). Marlowe machte somit das ovidische Modell eines Dichter-Dramatikers für seine Zeitgenossen verfügbar.16 Shakespeare gehörte zu denjenigen Zeitgenossen, die sich intensiv mit den Karrieremodellen seiner direkten Vorgänger und zeitgenössischen Konkurrenten sowie Ovids auseinandergesetzt haben. In geradezu zwanghafter Weise, so Cheney, bringe Shakespeare Charaktere auf die Bühne, die das Modell des Dichter-Dramatikers verkörpern und die Diskurse von Dichtung und Theater miteinander verschränken. Diese Obsession spricht allerdings nicht nur für Shakespeares Interesse an diesem Karrieremodell, sondern spiegelt auch eine gewisse Ambivalenz wider, an die sich die Frage knüpft, wie tragfähig eine solche Konzeption von Autorschaft wohl sein könne, insbesondere hinsichtlich des erstrebenswerten literarischen Ruhmes.17 Die Dichter-Dramatiker, die Shakespeares Werke bevölkern, adaptieren das Marlow’sche Modell, allerdings nehmen sie dabei häufig auf vergilische Topoi
14 P. Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright, S. 25. 15 Ebd., S. 28: »Shakespeare’s generation was the first to consolidate this new type of author, when it capitalizes upon the complex cultural dynamic that includes the emergence of both a print and a theatre culture.« Für die divergierenden Konzeptionen von Autorschaft im England der Frühen Neuzeit siehe ferner W. Wall: Authorship. 16 P. Cheney: Shakespeare, National Poet-Playwright, S. 41: »It was in opposition to Spenser that Marlowe presented himself as the Ovid of England. Probably in the mid1580s he produces the first complete translation of the Amores into any European vernacular language. Thereby, he makes the counter-Virgilian Ovidian career fiction available to English contemporaries.« 17 Ebd., S. 34-35.
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Bezug, die sich vorwiegend in intertextuellen Anspielungen auf Werke Spensers manifestieren. Hierin liegt Cheney zufolge die Innovation Shakespeares: im Versuch der Institutionalisierung eines Marlowe (und Ovid) entlehnten DichterDramatiker-Paradigmas, das letztlich aber lediglich den Griff zum vergilischen Ruhm verschleiert: »Shakespeare forges his career in the following way: onto a fiction of Spenser’s Virgilian pastoral and epic, he superimposes a fiction of Marlowe’s Ovidian poetry and drama. Repeatedly, that is, characters sing songs and perform roles along a narrative path connecting court and country. This intertextual representation forms the primary frame for 18
Shakespeare’s attempt to authorize himself as one of England’s leading authors.«
Shakespeare kann somit geradezu als Gegen-Autor gelten, da er nicht nur an poetischer Unsterblichkeit und Ruhm interessiert ist, sondern paradoxerweise letzteren ausgerechnet durch das Verschleiern des Modells und seiner Intentionen erzielt.19 Als erster Dichter und Dramatiker, der bewusst vermeide, sich selbst in seinen Werken zu repräsentieren, bemühe sich Shakespeare um die Institutionalisierung des Modells einer Gegen-Autorschaft: »If Shakespeare is the first major author in the Western tradition who conspicuously avoids presenting himself, we might come to speak of his ›counter-authorship‹. Counterauthorship is an oblique literary form of self-presentation that allows the author to hide behind the veil of his fictions, while allowing us to follow him, through tracks he himself leaves – in his diction, images, myths, and so forth – some of them presumably ›conscious‹ but hardly all of them.«20
Wie genau sich Shakespeare das Modell eines sich verschleiernden, nach literarischem Ruhm strebenden Gegen-Autors im literarischen Kontext der Zeit vorstellt, deutet sich in vielen seiner Stücke an, besonders deutlich in seinem Measure.
18 Siehe ebd., S. 44. 19 »[W]e might come to see Shakespeare positioning himself in another European economy besides that of the theatre: the economy of a literary career, designed principally to secure the high cultural authority of poetic immortality.« Ebd., S. 213. 20 P. Cheney: Shakespeare’s Literary Authorship, S. 14.
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2. Während Shakespeare die Konzeption des Dichter-Dramatikers in vielen – wenn nicht in den meisten – seiner Dramen in verschiedenen Formen inszeniert, gibt es nur wenige Stücke, in denen dieses Modell umfassend zur Darstellung kommt. Zu diesen Stücken gehören Measure und The Tempest [dt. Der Sturm]. Beide Dramen sind deshalb im Zusammenhang mit Shakespeares Autorschaftskonzeption besonders interessant, da die Protagonisten – der Herzog von Wien und der Insel-Herrscher Prospero – nicht nur Dichter-Dramatiker sind, sondern sich von Anbeginn verschleiern, um sich erst am Ende des Stückes durch die Enthüllung ihrer wahren Identität selbst zu rehabilitieren. Die gewählte Form der Verschleierung hat in den letzten Jahren vermehrt Interesse geweckt und wurde griffig als Godgame bezeichnet, wobei der Aspekt der Verschleierung bisher nicht mit Modellierungen literarischer Autorschaft zusammengedacht wurde. Der Begriff des Godgame ist einem 1976 erschienen Roman von John Fowles, dem Magus, entliehen, in dem Fowles das Godgame als Gattungskategorie einführt.21 R. Rawdon Wilson hat es sich zum Anliegen gemacht, diese Gattung, deren zeitgenössische Vertreter Filme wie The Game (1997) oder The Truman Show (1998) sind, genauer zu definieren. Ein Godgame ist demnach eine spielähnliche Situation, in der ein Magister ludi eine Illusion mit eigenen Spielregeln kreiert, die den »Mitspielern« allerdings nicht bekannt sind. Der Magister ist also mit einer gottesähnlichen Macht ausgestattet, da er von einer übergeordneten Position aus das Geschehen lenken kann.22 Während sich dies zunächst eher
21 »If there was some central theme beneath the (more Irish than Greek) stew of intuitions about the nature of human existence – and of fiction – it lies perhaps in the alternative title, whose rejection I still sometimes regret: The Godgame. I did intend Conchis to exhibit a series of masks representing human notions of God, from the supernatural to the jargon-ridden scientific; that is, a series of human illusions about something that does not exist in fact, absolute knowledge and resolute power.« Siehe J. Fowles: The Magus, S. 10. 22 »A godgame signifies a gamelike situation in which a magister ludi knows the rules (because he invented them) and the character-player does not. A godgame occurs in literature when one or more characters create an illusion, a mazelike sequence of false accounts, that entraps other characters. The entrapped character becomes entangled in the threads of (from his point of view) an incomprehensible strategy plotted by another character who displays the roles of both a game-wright and a god. The master of the game is godlike in that he exercises power, holds an advantageous position, will probably be beyond detection (even understanding), and may even be like Oberon or
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modern bzw. postmodern ausnimmt, zeigt Wilson, dass es Godgames zu allen Zeiten gegeben hat, auch in der Frühen Neuzeit; die beiden genannten Stücke werden hier explizit als Beispiele angeführt.23 Was das Godgame von anderer Illusions-Unterhaltung unterscheidet, ist die Zielsetzung, die mit der simulierten Wirklichkeit verfolgt wird: ein Godgame wird nicht zum Vergnügen oder gar zum Selbstzweck inszeniert, sondern richtet sich speziell an das oder die Opfer. Die Opfer des Godgame sollen die Möglichkeit haben, sich rückblickend selbst zu beobachten und ihr eigenes Verhalten zu beurteilen24; in diesem Sinne sind die meisten Godgames didaktisch.25 Sowohl Measure als auch Jonsons Volpone sind Godgames. In beiden Stücken (wie vermutlich auch in anderen Vertretern dieser Gattung) dient die Godgame-Struktur in erster Linie der Verhandlung literarischer Autorschaft. Shakespeares Measure beginnt mit einem kurzen Gespräch zwischen dem Herzog von Wien, Duke Vincentio, und Lord Escalus, in dem der Herzog seinen Berater um seine Meinung in einer Staatsangelegenheit bitten möchte, da letzterer bestens mit den Institutionen Wiens vertraut ist:
Ariel in Shakespeare’s plays invisible. In this respect, the god of the godgame recalls the callous behavior of the gods toward human victims in certain ancient myths.« R.R. Wilson: In Palamedes’ Shadow, S. 123-124. 23 Wilson bezeichnet das Godgame daher als eine transhistorische Kategorie, ebd., S. 141. Andere Beispiele aus der Weltliteratur sind u.a. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, die Detektivgeschichten von Arthur Conan Doyle, viele Science FictionRomane, wie z.B. Arthur C. Clarkes Childhood’s End oder Ursula K. Le Guins City of Illusions, Kafkas Schloss, Joseph Hellers Catch-22 sowie Werke zahlreicher moderner Autoren wie Hermann Hesse, Jorge Luis Borges und Thomas Pynchon (ebd., S. 126-132). 24 »In certain respects the godgame recalls other common illusions of Renaissance literature. It has affinities with both topoi of the enchanted garden and castle and with the trickster motif. The godgame, however, is significantly different from either of these. Unlike the enchanted garden […], the godgame seems to be created neither for its own sake nor for giving pleasure. Furthermore, it need not take any specific form. The godgame is created solely for the victim and then only for the purpose of observing his [sic] behavior.« Ebd., S. 141. 25 Schon Wilson spricht von »educational godgames« (ebd., S. 129). Der didaktische Aspekt wird ferner erörtert von Elisabeth A. Frost und Martin Kuester. Siehe E.A. Frost: The Didactic Comus; M. Kuester: Comus; ders., Godgames in Paradise.
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»The nature of our people, Our city’s institutions, and the terms For common justice, y’are as pregnant in As art and practice hath enriched any That we remember …«26 (1.1.9-13)
Die einleitenden Worte dienen dem Zweck, Lord Escalus zu befragen, ob Angelo die Geschicke Wiens während der Abwesenheit des Herzogs gut leiten könne. Escalus stimmt dem vorbehaltlos zu, während Angelo selbst eigentlich lieber erst auf die Probe gestellt werden möchte, was dann – ohne sein Wissen – letztlich auch passiert. Der Herzog verlässt nämlich nur scheinbar die Stadt. Als Ordensbruder verkleidet bleibt er zurück, um Angelos »Herrschaftskunst« aus nächster Nähe zu beobachten. Die Maskerade verfolgt zwei Ziele: Einerseits kommen die strikten moralischen Gesetze der Stadt schon seit Jahren nicht mehr zur Anwendung – mit anderen Worten: der Herzog wendet die Gesetze nicht an, hofft nun aber darauf, dass Angelo dies tun wird, wie er einem Priester anvertraut: »[…] Therefore, indeed, my father, I have on Angelo impos’d the office; Who may strike in th’ambush of my name strike home And yet my nature never in the fight To do in slander.« (1.3.39-43)
Auf der anderen Seite weiß der Herzog bestens um Angelos potentielle Schwächen im Bereich der Selbstkontrolle: »[…] Lord Angelo is precise; Stands at guard with Envy; scarce confesses That his blood flows; or that his appetite Is more to bread than stone. Hence shall we see If power change purpose, what our seemers be.« (1.3.49-54).
26 W. Shakespeare: Measure for Measure.
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Letztlich geht es in diesem Godgame also um die moralische Bewertung Angelos.27 Und die Befürchtungen des Herzogs sind, wie sich schnell zeigt, mehr als berechtigt. Angelos erste Amtshandlung besteht darin, einen jungen Gentleman namens Claudio zum Tode zu verurteilen, da er gegen die Ehegesetze Wiens verstoßen hat. Sein Vergehen besteht darin, dass er Juliet geschwängert hat, bei er es sich allerdings um seine Verlobte handelt. Das veranlasst Angelo allerdings keinesfalls, Gnade walten zu lassen. Claudios Schwester, die angehende Ordensschwester Isabella, versucht zu intervenieren, erwirkt aber lediglich, dass Angelo sich in sie verliebt und ihr vorschlägt, er würde Claudio nicht töten lassen, wenn Isabella sich ihm hingäbe. Dieses unmoralische Geschäft lehnt Isabella vehement ab, auch wenn sie sich die Entscheidung nicht leicht macht. Der verkleidete Herzog beginnt nun aktiv in das Geschehen einzugreifen. Und er tut dies, indem er zunächst die Handlung von seiner Warte aus dichtend kommentiert; seine Verkleidung und Schauspielerei wird nun ergänzt durch Dichtung – durch Zeilen, in denen er sich als das Spiel gestaltender Dichter-Dramatiker inszeniert. In seiner Identität als »Spielleiter« betont der Herzog sodann dem Publikum gegenüber auch seine gottesgleiche Macht – und nimmt dabei Bezug auf das Schwert des Himmels, das zu einem früheren Zeitpunkt mit dem Halbgott »Autorität«, dem »demi-god, Authority«, gleichgesetzt wurde (siehe 1.2.124): »He who the sword of heaven will bear Should be as holy as severe: Pattern in himself to know, Grace to stand, and virtue, go …« (3.2.254-57)
Seine Verkleidung als Mönch erlaubt es dem Herzog, Isabella davon zu überzeugen, zum Schein auf Angelos Angebot einzugehen und sich mit ihm an einem dunklen Ort zu verabreden, um sich ihm dort hinzugeben. An ihrer Stelle soll allerdings Mariana zu ihm gehen und mit ihm schlafen – Mariana war einst mit Angelo verlobt, wurde aber von ihm verstoßen, weil Angelo ihre Mitgift als zu gering empfand. Der Austausch der Frauen klappt perfekt und Angelo bemerkt nichts. Trotz seines Versprechens, im Gegenzug Claudios Leben zu retten, gibt
27 »[T]he illusion is a test of human nature, its effects must be observed, and the revealed nature must be judged and either rewarded or punished.« R.R. Wilson: In Palamedes’ Shadow, S. 129.
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er letztlich aber die Anweisung, die Hinrichtung wie geplant durchzuführen. Der Herzog weiß auch dies zu verhindern, ohne dass Angelo Verdacht schöpft. Ermöglicht wird dies erneut durch einen Austausch von Personen, denn anstelle von Claudios Körper wird Angelo ein toter Mithäftling präsentiert, der zufällig am gleichen Tag eines natürlichen Todes gestorben ist. Das Stück endet mit der offiziellen Rückkehr des Herzogs, dessen letzte Inszenierung in einem Gerichtsprozess besteht, in dem Angelo öffentlich seiner Vergehen überführt werden soll. Um sicherzustellen, dass Angelo seine Lektion lernt, soll er selbst über seine Taten richten, während der Herzog selbst, immer noch verkleidet, zunächst einen Platz im Publikum einnimmt:28 »Do you not smile at this, Lord Angelo? O heaven, the vanity of wretched fools! Give us seats. – Come cousin Angelo, In this I’ll be impartial: be you judge Of your own cause …« (5.1.165-169)
Im weiteren Verlauf des Gerichtsprozesses tritt der Herzog auch noch als Zeuge auf, bevor er sich schließlich als Herzog zu erkennen gibt und für Gerechtigkeit sorgt: Angelo muss schließlich doch nicht für das Töten Claudios hingerichtet werden, wie es der Herzog zunächst mit Verweis auf die Bergpredigt und den Titel des Stückes verlauten lässt: »and Measure still for Measure« (5.1.409). Angelo muss aber Mariana ehelichen. Isabella erfährt zu ihrer großen Freude, dass ihr Bruder noch lebt. Und zu guter Letzt beschließt der Herzog, Isabella zu heiraten, die sich ja eigentlich dem klösterlichen Leben verpflichtet hatte.
28 Nach seiner »offiziellen« Ankunft bedankt sich der Herzog zunächst bei Angelo und Escalus für deren gute Regierungsarbeit, von der er gehört habe. Er tut dies mit einer intertextuellen Anspielung auf Ovids Metamorphosen 15.871: »O, but your desert speaks loud, and I should wrong it / To lock it in the wards of covert bosom, / When it deserves with characters of brass / A forted residence ’gainst the touch of time / And razure of oblivion« (5.1.10-14). Siehe W. Shakespeare: Measure for Measure, Anm. zu S. 125-126.
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Aufgrund seiner dramaturgischen Eingriffe ist der Herzog häufig als Stellvertreter für Shakespeares dramatisch-poetisches Programm gelesen worden.29 Nichtsdestotrotz hinterlassen die Handlungen des sich verschleiernden DichterDramatikers einen schalen Beigeschmack. Vor allem die Maskerade des Herzogs wirft problematische Fragen auf, einerseits bezüglich der Gerechtigkeit der Strafe, andererseits aber auch hinsichtlich der Anmaßung des Herzogs, über andere zu richten.30 Shakespeares sich verschleiernder Dichter-Dramatiker, der mit seinem Publikum spielt und für sich selbst moralische Richtkompetenz beansprucht, wird so zu einem ethisch bestenfalls problematischen Paradigma für literarische Autorschaft. Ben Jonson greift die problematischen Aspekte der meta-dramatischen Fragen aus Shakespeares Stück in seinem Volpone auf und rückt diese noch expliziter in eine literarische Welt, in der zahlreiche rivalisierende Dichter-Dramatiker sich gegenseitig das Leben schwer machen. Dies ist natürlich nicht nur als direkte Replik auf Shakespeares Stück zu verstehen, sondern zeigt darüber hinaus deutlich, wie wichtig der Theaterszene der Zeit die Reflexion verschiedenster Karrieremodelle – vorwiegend jedoch des ovidischen Dichter-Dramatikers – gewesen ist.
3. Ben Jonsons Volpone wurde im Jahre 1606 von den King’s Men im GlobeTheater im Vergnügungsviertel auf der Südseite der Themse aufgeführt und gilt allgemein als eine seiner besten Komödien.31 Auf Überschneidungen von Jonsons Volpone und Shakespeares Measure ist in der Literatur mit Bezug auf Gattung (Komödie), Handlungsorte (Wien und Venedig bzw. nicht England), Handlungsstruktur (insbesondere die versuchten Vergewaltigungen und die abschließenden Gerichtsverhandlungen) sowie sprachliche Echos verschiedentlich hingewiesen worden. Auch dass Jonson sich in seinen Theaterstücken mit Shakespeare direkt auseinandersetzt, ist prinzipiell nichts Neues. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts tobte der sog. Krieg der Theater, in dem sich vor allem John
29 »Like Angelo and Isabella, the Duke is a virtuous absolutist. He is in fact a kind of comic dramatist: a man trying to impose the order of art upon a reality which stubbornly resists such schematization« A. Barton: Introduction, S. 581. 30 Siehe hier bes. V.O. Lobsien: Richtet nicht, bes. S. 321, S. 334, S. 338-42. 31 Die Quarto-Ausgabe ist auf das Jahr 1607 datiert; die aufführende Kompanie ist eng verbunden mit den Namen Richard Burbages und Shakespeares.
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Marston, Thomas Dekker, Jonson (aber auch Shakespeare) gegenseitig in ihren Dramen satirisch darstellten, vor allem mit dem Ziel, die eigenen Vorstellungen von Theaterkunst zu propagieren.32 James Tulip ist überzeugt, dass Jonsons dramatische Arbeiten aus den Jahren 1605 und 1606 explizit (und parodistisch) auf Shakespeares Dramenkonzeption verweisen, besonders auf Shakespeares Measure: »What Jonson did in Volpone late in 1605-6 was to exploit the circumstances of the King’s Men presenting his play on the Globe stage in order to create a series of ironic effects recognizable to a Shakespearian audience and given point by actors at the peak of their professional maturity in presenting Shakespeare’s plays. Elements in Volpone such as Volpone’s ›dying‹, Corvino’s ›heroic‹ passions, Celia’s dropping of her handkerchief, and the general pitch and resonance of the play’s style and humour all look in Shakespeare’s direction. In part they salute his success; in part they satirise what Jonson presumably felt was an inadequate connection between ›reason‹ and ›drama‹ in 33
Shakespeare’s world.«
Eine wesentliche Überschneidung zwischen Volpone und Measure, die meines Erachtens von Relevanz hinsichtlich der Institutionalisierung von Autorschaft ist, wurde allerdings bisher nicht diskutiert: Beide Stücke verhandeln Fragen der Autorschaft bzw. des Dichter-Dramatikers in der Form von Godgames. Jonson verwendet einige Mühe darauf, seine Quellen – insbesondere Petronius’ Satyricon und die Merkur-Pluto-Episode aus den Totengesprächen des Lukian – zu einem poetologischen Godgame umzugestalten.34 Allerdings belässt es
32 Für diese Überschneidungen sowie für die Beziehungen zwischen Jonson und Shakespeare generell siehe S. Musgrove: Shakespeare and Jonson; A. Kernan: Shakespeare’s and Jonson’s View; R. McDonald: Shakespeare and Jonson; R. Dutton: Ben Jonson, Authority, S. 140-162; K.E. Maus: Inwardness, S. 128-181; J.P. Bednarz: Shakespeare & the Poets’ War; vgl. auch J. Shapiro: Rival Playwrights. Für den Einfluss Jonsons früher Komödien auf Shakespeares Measure siehe M. Krieger: Measure for Measure. 33 J. Tulip: Volpone, Othello and Measure for Measure. Parallelen zwischen Volpone und Shakespeares Othello werden diskutiert in B.F. Tyson: Ben Jonson’s Black Comedy. 34 Petronius’ Satyricon, der Quelltext für die Haupthandlung, ist zwar an Strategien der Verstellung und Verheimlichung interessiert, die mit den Erbschleichern und ihrem Handeln eng verbunden sind, aber es ist kein Godgame. Auch die Merkur-Pluto Episode in den Totengesprächen Lukians weist zwar Godgame-ähnliche Strukturen
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Jonson nicht bei einem Godgame. Vielmehr »übertrumpft« er Shakespeare, indem er die sich verschleiernde Autorenfigur Shakespeares in eine Wettbewerbssituation versetzt und somit mehrere synchron ablaufende, von rivalisierenden und göttergleichen Dichter-Dramatikern inszenierte Godgames auf die Bühne bringt. Volpone, der Fuchs, ist der erste »Gott«, der verschiedene andere Charaktere in ein Godgame verwickelt. Er ist ein alter venezianischer Nobelmann, der sich todkrank stellt, was drei Erbschleicher auf den Plan ruft. Der Winkeladvokat Voltore, der alternde Gentleman Corbaccio und der Händler Corvino buhlen unabhängig voneinander um Volpones Erbschaft und offerieren ihm großzügige Geschenke, um als Alleinerbe in seinem Testament geführt zu werden. Volpone muss somit die Illusion seiner Krankheit dauerhaft aufrechterhalten, kann dies aber nicht ohne die Hilfe seines Parasiten, Mosca (die Fliege). Wie auch der Herzog in Shakespeares Measure, nimmt Volpone für sich eine gottgleiche Position in Anspruch, wobei seine Macht, wie er in seiner Auftaktrede beteuert, sich am Markt (und nicht, wie bei Shakespeare am Staat) orientiert: »Good morning to the day; and next, my gold! / Open the shrine, that I may see my saint« (1.1.1-2).35 Ein paar Zeilen später verschwindet die Grenze zwischen Heiligtum und Reichtum, die sich nun zu dem Gott verbinden, der, Volpone zufolge, den Menschen die Sprache beschert hat – Reichtum: »Dear saint, / Riches, the dumb god, that giv’st all men tongues« (1.1.21-22). Alle anderen Tugenden werden materiellem Reichtum untergeordnet: Geld verschafft »virtue, fame, / Honour and all things else! Who can get thee, / He shall be noble, valiant, honest, wise –« (1.1.25-27). Dabei ist Volpone eigentlich am Vermögen selbst weniger interessiert als an der Art der Beschaffung, die mit den gewöhnlichen Anstrengungen des Arbeitsmarktes wenig gemein hat: »[…] since I gain No common way: I use no trade, no venture; I wound no earth with ploughshares; fat no beasts To feed the shambles; have no mills for iron, Oil, corn, or men, to grind ’em into poulder; I blow no subtle glass; expose no ships To threat’nings of the furrow-faced sea;
auf – die Götter entwickeln hier eine Strategie, um die Erbschleicher zu bestrafen –, aber das Erschaffen einer lebensweltlichen Illusion spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. 35 Zit. nach B. Jonson: Volpone.
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I turn no moneys, in the public bank; Nor usure private –« (1.1.32-39)
Es ist diese »ingeniöse Arbeit«, die ein Kritiker zurecht mit den Schilderungen des »Goldenen Zeitalters« der Metamorphosen Ovids vergleicht, mit der Volpone und Jonson ihren »Lohn« erwirtschaften.36 Dieser besteht sowohl für Volpone als auch für Jonson in erster Linie im Applaus und der Anerkennung des Publikums. Und dennoch sieht sich Volpone auch als ein Mensch, der große Opfer für das Godgame erbringt, da er ja letztlich mit dem (vermeintlichen) Ziel agiert, das Verhalten der Erbschleicher bestrafen und reformieren zu wollen: »All which I suffer, playing with their hopes, And am content to coin ’em into profit, And look upon their kindness, and take more, And look on that; still bearing them in hand, Letting the cherry knock against their lips, And, draw it, by their mouths, and back again.« (1.1.85-90)
Dieses Unterfangen, dessen moralisches Anliegen schon zu Beginn als zweifelhaft gelten darf, rückt offensichtlich in weite Ferne, als Volpone davon hört, dass es sich bei Celia, der Ehefrau Corvinos, um eine äußerst attraktive Dame handelt. Zunächst verkleidet er sich als fliegender (Medizin-)Händler, um Celia selbst zu Gesicht zu bekommen. Daraufhin wird Mosca beauftragt, den krankhaft eifersüchtigen Corvino davon zu überzeugen, doch seine Frau für eine sexuelle Dienstleistung zur Verfügung zu stellen; nur durch eine solche sei
36 »Volpone’s description of a life without labour would seem to correlate with the preindustrial Golden Age of Ovid rather than the folk culture of Bakhtin or Locke: he exults that his material needs are met without working.« A. Brunning: In his gold, S. 6. Brunning zufolge handelt es sich bei Volpones Arbeit um »ingeniöse Arbeit«, wie dies in jakobischen Komödien üblich war: »art was seen as a form of ingenious labour. Art or artifice is also used to describe cunning and trickery. The craftsman transforms matter into valuable commodity, to be sold for gold. The crafty man in these plays uses the language of the imagination to create a golden world; he is, like Sidney’s poet, a creator. However unlike the poet the trickster has no positive transformative function; his art is Meer Craft.« Ebd., S. 24.
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Volpone heilbar und bleibe Corvino günstig gewogen. Volpone nämlich, so spinnt Mosca weiter, habe von Voltore bei einem Händler (nämlich dem verkleideten Volpone selbst) eine Substanz gekauft, die offensichtlich eine Besserung erzielt habe. Die Ärzte, die nun vereint nach Volpones weiterer Besserung strebten, stimmten darin überein, dass er, um endgültig geheilt zu werden, mit einer jungen Frau schlafen müsse. Mosca hat mit dieser unglaublichen Geschichte Erfolg: Corvino stellt schließlich – in der Hoffnung auf entsprechende Gratifikation – seine Frau zu den anvisierten Zwecken zur Verfügung. Als Celia dann vor Volpones Bett steht, ohne allerdings mit dem Plan auch nur im Entferntesten einverstanden zu sein, scheint sich das Geschehen zu verselbständigen und sich Volpones Kontrolle zu entziehen – ausgerechnet indem Volpone, der sich schon als Spielleiter und Schauspieler betätigt, zum ovidischen Dichter-Dramatiker wird. Um die unwillige Celia zu verführen, wird Volpone zum Dichter: er rezitiert ein (der Dichtung Catull entlehntes) Carpe Diem-Gedicht, das Jonson später in seiner Gedichtanthologie The Forrest (1616) erneut abdrucken wird.37 Als dieses Gedicht seinen Zweck verfehlt, transformiert Volpone die Metamorphosen Ovids zu einer Art mythologischem Kamasutra: »Whilst we, in changed shapes, act Ovid’s tales, Thou, like Europa now, and I like Jove, Then I like Mars, and thou like Erycine, So, of the rest, till we have quite run through And wearied all the fables of the gods. Then will I have thee in more modern forms.« (3.7.221-26)
Wie Anne Barton in einem anderen Kontext beobachtet: Hier gibt es keinen Vergil, keinen Augustus, keinen Horaz, der diese Form der literarischen und
37 Das »Gedicht für Celia« (3.7.166-74) ist eine sehr textnahe Übersetzung der 5. Ode des Catull, in welchem die oberflächliche Erotik mit sehr viel gewichtigeren ethischen Anliegen korreliert. Es handelt sich, wie Raphael Lyne bemerkt, um ein Werk eines Dichters, der nicht mit einer gar so deutlichen unmoralischen Reputation kämpfen muss, wie dies bei Ovid der Fall war. Das Gedicht erscheint auch als fünftes Gedicht in Jonsons The Forrest. Siehe R. Lyne: Volpone, S. 186. Richard Dutton weist auf kleine, aber gewichtige Veränderungen im Wiederabdruck hin. Siehe R. Dutton: Ben Jonson, Authority, S. 109.
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ethischen Travestie unterbinden könnte.38 Und daher darf es Volpone nicht gelingen, Celia ins Bett zu bekommen: Jonson lässt Bonario, den Sohn Corbaccios, zur rechten Zeit intervenieren. Bonario war von Mosca einbestellt worden, damit er mit seinen eigenen Augen sehen könne, wie sein Vater ihn zu Gunsten Volpones enterben würde; allerdings erscheint er zu einem für Mosca und Volpone ungünstigen Zeitpunkt und kann Celia vor Volpone retten. Volpones Spiel, seine Inszenierung eines Godgames für die Erbschleicher, scheint enttarnt. Für einen rivalisierenden, sich ebenfalls verschleiernden Dichter-Dramatiker, für Mosca, geht es jetzt allerdings erst richtig los. Er ist in der Lage, die Dinge in der im Anschluss stattfindenden Gerichtsverhandlung, in welcher Volpone beschuldigt wird, so zu drehen, dass plötzlich Bonario und Celia als Lügner und Intriganten dastehen, die sodann und für ihre »Betrügereien« (und ihr vermeintliches Ziel, Volpone zu schaden) ins Gefängnis wandern. Im Gegensatz zu Volpone, der erst im Laufe des Stückes auch die Rolle eines Dichters annimmt, wird Mosca von Beginn an als Dichter-Dramatiker vorgestellt; allerdings bleibt zunächst verborgen, dass auch er seine Intentionen verschleiert (und zwar sowohl Volpone als auch dem Publikum gegenüber). Im ersten Akt inszeniert Mosca mit Hilfe von Volpones »Angestellten« ein (parodistisches) Theaterstück über die Seelenwanderung des Pythagoras und wird gleich darauf zu einem Dichter. Er singt ein Lied,39 das auf zynische Weise deutlich macht, dass er sich keine bessere Arbeit vorstellen kann, als Volpone bei seinem Godgame zu unterstützen: »O, who would not be / He, he, he?« (1.2.81-82). Moscas sehr selbstbewusstes Auftreten gegenüber seinem »Chef« und sein ständiges Eigenlob deuten bereits seine Macht an.40 Als Volpones sexuelle Gelüste
38 »[…] there is now no Virgil, no Augustus or Horace to rescue the myths from their travesties.« A. Barton: Ben Jonson, S. 107. 39 Lyne betont die poetologisch-ethische Rolle von Jonsons Darstellung der Seelenwanderung, die eng verbunden ist mit seinem Kulturpessimismus: »Volpone models culture as a kind of Pythagorean metempsychosis, with an essence, like a soul, passing from body to body: a burlesque version, of course, in which for the bodies in question become less and less worthy, but the transferred essence gains value (though not enough true value).« R. Lyne: Volpone, S. 184. 40 In den Anfangszenen wird Dutton zufolge schnell klar, dass Mosca kein besonders loyaler Diener ist: »[This] is the first opportunity that an alert audience has to spot that Mosca is not the loyal and unquestioning lieutenant that he pretends to be. He too is an actor, though more subdued than his master; Volpone only recognises when it is too late that he has failed throughout to appreciate his parasite’s long-running performance – a fatal lapse of attention which begins here, with his failure to appreciate the
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schließlich dem Spiel ein Ende zu setzen drohen, lässt Mosca seinem Spott freien Lauf. Das Machtgefälle zwischen den beiden »Göttern« entwickelt sich zu Ungunsten Volpones.41 Mosca läutet sodann den Wettbewerb auch mit einer höhnischen Kampfansage ein: »So well, would I could follow you in mine, / With half the happiness; and, yet, I would / Escape your epilogue« (2.4.32-34).42 Von nun an muss Mosca ebenso als potentieller meta-dramatischer Stellvertreter für ein Jonson’sches Autorenmodell gelten wie Volpone, dem die Literaturkritik diese Rolle gemeinhin zugesteht (s.u.). Dies wird dadurch unterstrichen, dass auch Mosca eine fiktive Identität annimmt, die sich lückenlos in die Tierfabel integrieren lässt – um Corvino zur Prostitution seiner Frau zu überreden, muss er einen Arzt erfinden, den er Lupo nennt; »Mosca’s invention parodies Jonson’s own«.43 Im zentralen dritten Akt des Stückes wird so gleichzeitig der Abstieg eines Dichter-Dramatikers mit dem Aufstieg eines anderen Dichter-Dramatikers inszeniert. Folgerichtig beginnt der dritte Akt mit einem Monolog Moscas, der in seiner Selbstbezogenheit Volpones Eröffnungsmonolog des ersten Aktes parodiert: »I fear, I shall begin to grow in love With my dear self, and my most prosperous parts, They do so spring, and burgeon; I can feel A whimsy i’ my blood: I know not how, Success hath made me wanton. I could skip Out of my skin, now, like a subtle snake,
shrewd character assessment (and contempt?) that has gone into his effort to entertain him.« R. Dutton: Ben Jonson. To the First, S. 65-66. Den anfänglichen Betrug der Erbschleicher wertet er als seinen Erfolg, nicht den seines Herren: »’Las, sir , heaven knows, / It hath been all my study, all my care, / (I e’en grow grey withal) how to work things –« (1.4.119-121). Des Weiteren wird Mosca nicht müde, anderen zu erläutern, wie sie ihre Intentionen verschleiern können, und dies u.a. mit Bezug auf den von Jonson so geschätzten Horaz (1.5.22-23; vgl. Horaz: Satiren, 2.5.103, B. Jonson: Volpone, Anm. zu S. 37). 41 A. Barton: Ben Jonson, S. 116. 42 Die Beziehung von Mosca und Volpone kann als ein Wettbewerb zwischen rivalisierenden Künstlern aufgefasst werden. Siehe hierzu auch A. Leggatt: Ben Jonson, S. 2829. Leggatt sieht Volpone als den klaren Gewinner dieses Wettbewerbs, da dieser es vermag, sein »Stück« nach eigenem Belieben zu beenden. 43 B. Jonson: Volpone, Anm. zu S. 65.
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I am so limber.« (3.1.1-7).44
Nachdem er seinem Herren im Gerichtsprozess durch geschicktes Manövrieren einen Freispruch bescheren kann, hat Mosca gar die Stirn, sich über den mangelnden Enthusiasmus seines Herren zu beschweren: »You are not taken with it, enough, methinks?« (5.2.9-11). Da er sich jetzt als Sieger wähnt, schlägt er vor, die Gunst der Stunde zu nutzen, um Volpones Godgame zu beenden (5.2.12-14). Dies wiederum missfällt Volpone, der sich anschickt, seinen Zenith zu überschreiten: er inszeniert seinen eigenen Tod und setzt Mosca als seinen Alleinerben ein, um die Erbschleicher an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu bringen. Dadurch bietet er aber letztlich Mosca nur erneut die Gelegenheit, Volpone zu überflügeln und sich dessen Reichtum einzuverleiben. Die »Fliege« fühlt sich als sicherer Sieger: »My Fox / Is out on his hole, and, ere he shall reenter, / I’ll make him languish in his borrowed case, / Except he come to composition, with me« (5.5.6-9). Mosca betitelt sein Godgame mit »Fox-trap« (5.5.18), womit Jonson direkten Bezug auf die »Mausefalle« in Shakespeares Hamlet nimmt.45 Schlussendlich schlagen beide Godgames fehl und sowohl Mosca als auch Volpone fliegen auf, werden vor Gericht gestellt und bekommen harte Strafen für ihr unethisches Spiel. Zu den beiden poetologischen Godgames im Stück gesellt sich ein weiteres: das vom Autor selbst inszenierte Godgame – David Bevington spricht in einem anderen Zusammenhang von Jonsons Theater generell als »con-game«.46 Der Autor tritt im Prolog selbst in Erscheinung und ruft Gott als Muse an. In seiner späteren Werkausgabe nimmt Jonson dann unbescheiden den Platz Gottes selbst ein und macht sich buchstäblich zum Spiel inszenierenden Gott: »Now, luck God send us, and a little wit / Will serve, to make our play a hit« wird zu »Now, luck yet send us, and a little wit / Will serve, to make our play a hit« (Pro. 1-2, meine
44 Im weiteren Verlauf des Monologs wird Mosca auf die bescheidenen Verhältnisse seines (parasitären) Aufwachsens eingehen, welchen er mithilfe seiner »Tales for men’s ears« entkam (bes. 3.1.17). Des Weiteren berichtet er, dass ihm die Kunst der Verkleidung, des ständigen Wechsels von nach außen zur Schau getragenen Identitäten, quasi in die Wiege gelegt wurde (3.1.28-33). Diese fiktive Biographie lässt freilich auch Jonsons eigene Vita mit anklingen. 45 Siehe A. Leggatt: Ben Jonson, S. 28. 46 D. Bevington: The Major Comedies, S. 85.
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Hervorhebung).47 Am Ende des Stückes dann, schreitet der frisch verurteilte Volpone an den Bühnenrand, um sich für seine (Jonsons) Vergehen (am Publikum) zu entschuldigen: »The seasoning of a play is the applause. Now though the Fox be punished by the laws, He, yet, doth hope there is no suffering due, For any fact, which he hath done ’gainst you; If there be, censure him: here he doubtful stands. If not, fare jovially, and clap your hands.« (5.12. 152-57)
Dies rückt Jonson unwiderruflich in die Nähe Volpones – und Moscas. Dass Volpone für Jonsons Verständnis von Autorschaft einsteht, ist oft konstatiert worden. Die Frage nach der ethischen Bewertung dessen drängt sich indes auf. Anne Barton stellt fest, dass der Fuchs ja generisch immer viel interessanter ist als seine Opfer, auch wenn er in der Regel kein positiver Charakter ist. Wenn Volpone am Ende an den Bühnenrand tritt, um sich für seine Vergehen zu entschuldigen, würde ihm das Publikum schon nachsehen.48 Robert Evans verweist in seiner Zusammenfassung der divergenten kritischen Stimmen zur ethischen Bewertung Volpones auf die bleibenden Ambivalenzen, die durch die Entschuldigung im Epilog keineswegs aufgehoben werden.49 Alexander Leggatt bringt die Problematik auf einen wichtigen Punkt: letztlich goutiert der Applaus nach dem Schlusswort Volpones dessen Überschreitung jeder Regel eines ernsten moralischen Schemas, auf welchem Jonsons Gesamtwerk vermeintlich fundiert. Jonsons Bewunderung des Einfallsreichtums Volpones zeige Jonsons Freude an
47 Dutton sieht Volpones Hauptsünde darin, dass er sich »as a kind of god« aufspiele. Siehe R. Dutton: Ben Jonson. To the First, S. 66. 48 »[T]he Fox […] can rely on the spectators to acquit him of any crime committed against the spirit of comedy, for having been predictable, unimaginative or tedious.« A. Barton: Ben Jonson, S. 107, S. 119. 49 R.C. Evans: Jonson’s Critical Heritage, S. 191. »Volpone himself is seen by some as perverse, cold, narcissistic, vacuous, and morally sick, but by others as witty, energetic, vital, and imaginative – as an artist whom Jonson partly admired. His ambiguous relations with Mosca are often emphasized, as are the ironic portraits of the play’s lawyers, judges, and families (including Volpone’s freakish ›children‹)«. A. Leggatt: Ben Jonson, S. 29.
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derselben: eine Freude, die allerdings die kritische ethische Bewertung zu überschatten drohe.50 Wenn es sich also bei Volpone selbst um ein Godgame handelte, dann fiele es leichter, die uncharakteristische Schärfe der Satire zu erklären. Der Versuch der Vergewaltigung sowie die harten Strafen am Ende des Stückes stehen in der Tat in einem gewissen Widerspruch zu den Gattungskonventionen, denen zufolge eigentlich niemand zu Schaden kommen sollte. Die Intentionen des Autors – eventuell gar mit einer Anspielung darauf, dass hier mit einem anderen Maß gemessen wird als in Shakespeares Measure – scheinen eigentlich genau diese Konventionen zu evozieren: »Whose true scope, if you would know it, / In all his poems, still, hath been this measure, / To mix profit with your pleasure« (Pro. 3-8). Dass Volpone am Ende dann auf diese generischen Transgressionen explizit verweist, unterstreicht den Godgame-Charakter »seines« Stückes. Was allerdings das Godgame auf der extra-diegetischen Ebene von denen auf der intradiegetischen Ebene unterscheidet,51 ist die Verhüllung auktorialer Intentionen. Denn Jonson belässt es nicht nur bei einem Prolog, sondern fügt seinem Stück des Weiteren noch einen Brief hinzu, in dem er ausführlich zu seinem Kunstverständnis (und dessen kritischer Rezeption bei seinen Kollegen) Stellung bezieht – auch zu Sinn und Zweck des Volpone. Dieser Meta-Kommentar ist sehr hilfreich, um Jonsons poetologische Auseinandersetzung mit dem Shakespeare’schen Autorenmodell eines sich verhüllenden Dichter-Dramatikers zu kontextualisieren.
50 »If the audience applauds – and it will – it is registering its approval of a character who has broken rule after rule in a serious moral scheme that lies beneath the entire Jonson canon. That Jonson allows this shows he is willing to identify Volpone with his own delight in artistic creation, a delight that supplements and at times overrides his critical judgement of the character.« Ebd. 51 Vgl. R. Dutton: Ben Jonson. To the First, S. 64: »Since the play itself is about a whole succession of ›make-believes‹, it is implicit from the outset that there is a parallel between the experience of the characters within the play and our own experience as its readers/audience. It is through that parallel that Jonson involves us in the moral issues of the play.«
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4. Die meta-dramatische Dimension von Jonsons Volpone wird in der Literatur häufig diskutiert. Zahlreich wurden allegorische Auslegungen hinsichtlich der Theaterszene der Zeit hervorgebracht, und eine ganze Reihe von allegorischen Auslegungen beleben das Geschäft. Jonsons Darstellung von künstlerischer Rivalität könnte beispielsweise seinem Neid auf Shakespeare geschuldet sein, eine Lesart, die Dutton zu Recht ein wenig naiv vorkommt.52 Um ein Vielfaches wahrscheinlicher ist es, dass die Jonson’sche Rivalität mit Shakespeare eingebettet ist in seine offensichtliche Kritik an den öffentlichen Theatern, die er auch in Volpone auf die Bühne bringt (s.u.).53 Die Konkurrenz mit Marlowe, mit Marston und/oder Dekker sind ebenfalls als mögliche Motivation für die meta-dramatische Rivalität in Volpone ins Feld geführt worden. Auch Jonsons Angst vor künstlerischer Zusammenarbeit könne durchaus eine Rolle gespielt haben.54 Ebenfalls mit Blick auf die im Stück repräsentierten Rivalitäten sieht Gregory Chaplin hierin Jonsons Plädoyer für Einzelautorschaft, denn nur als Alleinautor kann Jonson die absolute Kontrolle über die Ausgestaltung seiner Werke ausüben.55 In der Tat scheint es mir nur scheinbar um die Frage von künstlerischer Zusammenarbeit zu gehen, denn schließlich sind die Dichter-Dramatiker Volpone und Mosca – aber auch der in einer Nebenhandlung ein Godgame inszenierende Peregrine – letztlich Einzelautoren, die ihre eigenen »Dramen« alleinig entwerfen und Kontrolle über die Konzeption zu behalten versuchen. Genau dieses Problem wirft seitens der im Stück repräsentierten Autoren die Frage nach dem Publikum bzw. der Öffentlichkeit auf, der gegenüber künstlerische Intentionen kommuniziert oder verschleiert werden sollen. Und hier kommt auch wieder Shakespeare ins Spiel, dessen Name untrennbar mit den öffentlichen Theatern der Zeit verbunden war und ist. Wenn man davon ausgeht, dass es vielleicht weniger um Rivalität speziell mit Shakespeare als um
52 R. Dutton: Ben Jonson. Authority, S. 144. 53 Siehe hierzu bes. D. Bevington: Major Comedies, S. 73. 54 R. Lyne: Volpone, S. 178. 55 »As a poet and single author, he can claim absolute control over his poem. He makes the end rather than letting it develop through chance. Thus Jonson as the author becomes the antithesis of his main characters, and his ability to control and plot is the antithesis of their abilities. Beginning with Volpone, the reckless, competitive energy of collaboration becomes the subject of his plays rather than the context in which they are produced; Jonson becomes the individual author – serious, moral, absolute, and alone« G. Chaplin: Divided amongst themselves, S. 77.
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die Frage nach Möglichkeiten der Institutionalisierung des von Shakespeare propagierten Modells des Dichter-Dramatikers geht, dann erscheint es umso plausibler, dass erst erprobt werden muss, unter welchen institutionellen Voraussetzungen ein solches Modell überhaupt in der Praxis tragfähig ist. Der Applaus, den Volpone am Ende des Stückes einfordert, ist der Applaus eines Publikums in einem öffentlichen Theater, dem Globe-Theater. Die Truppe, die Volpone zum ersten Mal inszeniert, sind die King’s Men – also Shakespeares Truppe. In dieser Öffentlichkeit fühlt sich Volpone offensichtlich genauso wenig wohl wie Jonson selbst. Im Stück selbst scheut Volpone generell die Öffentlichkeit. Nachdem Mosca ihn in der ersten Gerichtsszene gerade noch einmal vor Schlimmerem bewahrt hat, drückt Volpone seine Erleichterung folgendermaßen aus: »Well, I am here; and all this brunt is past: I ne’er was in dislike with my disguise, Till this fled moment; here, ’twas good in private, But, in your public—Cavé, whilst I breathe.« (5.1.1-4)
Auch Jonson macht eine ganz bewusste Unterscheidung zwischen der Domäne der Privattheater und der öffentlichen Bühnen. Er unterschreibt den bereits erwähnten Brief, in dem er seine künstlerischen Absichten erläutert, mit den Worten »From my house in the Black-Friars«, und bei Blackfriars handelt es sich um das Herz der »privaten« Theater. Wenn ein Dichter-Dramatiker wie Jonson den Typ des sich verschleiernden Autors auf die Bühne bringt, dann zeigt er eben nicht nur die ethische Problematik des Maskierens emphatisch auf, sondern er muss sich auch – so muss man wohl den Epilog und den Brief verstehen – für seine Transgressionen entschuldigen und diese langatmig gleich in diversen Paratexten erläutern. Shakespeare kommt offensichtlich ohne solche Paratexte aus und muss augenscheinlich auch seine Überschreitungen in Measure nicht näher explizieren.56 Dass dies nicht vonnöten ist, liegt an seiner langjährigen und exklusiven Verortung in einem spezifischen institutionellen Zusammenhang: dem Globe-Theater und den Chamberlain’s Men, die sich nach der Thronbesteigung Jabobs I. in King’s Men umbenennen, und bei denen Shakespeare auch
56 Für Shakespeares – im Vergleich mit Jonson – sehr viel weniger herablassende und aggressive Haltung gegenüber dem Publikum, die Shakespeare in verschiedenen Stücken auf der Bühne zur Darstellung bringt, siehe A. Kernan: Shakespeare’s and Jonson’s View.
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noch Shareholder war. Innerhalb dieser institutionellen Verortung konnte er über mehrere Stücke hinweg thematische und formale Kontinuitäten entwickeln, seine eigene Formsprache institutionalisieren, während für Jonson Sheen zufolge jedes Stück ein geschlossenes (meta-)dramatisches System darstellt. Seine Dramen können somit bestenfalls über den kritischen Apparat miteinander in Beziehung gesetzt werden.57 Shakespeares langjährige, exklusive institutionelle Verortung spiegelt sich auch in seinem Measure wider: der Herzog ist nicht nur ein sich maskierender Dichter-Dramatiker,58 sondern einer, der an prominenten Stellen des Stückes juristische Maximen äußert, die direkt aus dem meist diskutierten Buch des beginnenden 17. Jahrhunderts stammen, aus Basilikon Doron – Empfehlungen zum richtigen Regieren von keinem geringeren als König Jakob selbst, dem Förderer und Namensgeber von Shakespeares Truppe.59 Da die Überschreitungen des Herzogs, die in der Kritik viel diskutiert werden,60 letztlich schon a priori durch die politische Rolle des Herzogs sanktioniert sind, kann Shakespeare gut ohne Verteidigungen seiner (wie auch immer gearteten) Transgressionen leben. Diese sind des Weiteren ebenso über Shakespeares institutionelle Anbindung an das Globe-Theater, seine Truppe und schließlich auch das Königshaus abgesichert und operieren schlimmstenfalls als regulated transgression, als das System letztlich stabilisierende Überschreitung. Die sich für Volpone und Jonson als potentiell gefährlich darstellende Öffentlichkeit ist für Shakespeare lediglich ein Hinterzimmer, in dem er bestens zu unterhalten versteht. Jonson als Sohn eines verarmten Edelmanns und gelernten Maurers, der über keinerlei Landbesitz oder reiche Eltern verfügte, Jonson als jemand, der die unangenehme Eigenschaft hatte, hin und wieder einen anderen Schauspieler oder Freund um die Ecke zu
57 E. Sheen: Shakespeare, S. 132. 58 In der gängigen Forschungsliteratur wird der Herzog fortwährend mit Shakespeare selbst verglichen, am eindringlichsten von Richard Fly, der ihn als »obvious surrogate playwright« bezeichnet. R. Fly: Shakespeare’s Mediated World, S. xiv. 59 W. Shakespeare: Measure for Measure, S. lvii. 60 Richtigerweise wird man sagen müssen, dass es sich bei ihm um einen PoetPlaywright handelt, der zugleich eine politische Funktion hat, was Rückschlüsse auf Shakespeares eigene institutionelle Verortung zulässt (s.u.). Trotz aller möglicher metaphorologischer Überschneidungen mit Shakespeare selbst bleibt die kritische Reaktion auf den Herzog eher verhalten: auch wenn er letztlich alles zu einem guten Ende führen kann und die meisten Charaktere geloben, ihre schlechten Eigenschaften abzulegen, ist dies nur durch Lügen und Tricks möglich – und vor allem seine Verschleierung findet in der Kritik nicht einhellig Zustimmung.
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bringen und sich dabei erwischen zu lassen, Jonson, als ein Mensch, der ständig im Konflikt mit den Autoritäten stand, und schließlich Jonson, der dank seiner relativen Verarmung jeden Pfennig brauchte und so in jedem literarischen Segment der Zeit tätig war61 – dieser Jonson befand sich, was öffentliche Transgressionen anbetrifft, in einer sehr viel weniger komfortablen Lage als Shakespeare. Jonsons viele Überschreitungen staatlicher, rechtlicher und literarischer Grenzen musste er auch schon vor Volpone selbst sanktionieren; und in der Verteidigung seiner Transgressionen imaginiert bzw. generiert er auch immer eine andere, alternative Öffentlichkeit. Prinzipiell hat Jonson mit der Idee des ovidischen Dichter-Dramatikers keine Probleme. Jenseits aber vom Schutze der Macht und der Beliebigkeit des Marktes für die öffentlichen Bühnen, die Jonson sicherlich in seinem Volpone kritisiert, kann eine Verhüllung auktorialer Intention keine Option sein. Jonson sucht also abseits des Shakespeare’schen Theaters nach einer Institutionalisierung des Poet-Playwright – und wird in den folgenden Jahren wieder und wieder die Selbstverschleierung ovidischer Dichter-Dramatiker inszenieren und die Transgressionen dieser in seinem paratextlichen Apparat vergilisch erläutern und entschuldigen.62 Im gleichen Atemzug wird er dann auch immer wieder betonen, dass seine Dramen eigentlich doch eher Gedichte sind. So ist es am Ende dann eher die transgressive Natur der Texte selbst – und weniger die Transgression des Autors –, die letztlich nach ihrer eigenen Institutionalisierung strebt.63 Der sog. »tribe of Ben« – Dichter-Dramatiker, die Jonsons Vorbild eines sich exzessiv selbstkrönenden ovidischen Poet-Playwright imitieren – sind eine Konsequenz dieser wiederholten Inszenierung. Ein viel wichtigeres Ergebnis ist die 1616 (im Todesjahr Shakespeares) erscheinende Ausgabe seiner Workes. Zum ersten Mal in der Geschichte der englischen Literatur gibt ein Autor zu seinen Lebzeiten eine Ausgabe seiner Werke heraus – eine Werkausgabe, die sowohl seine Dramen als auch seine Gedichte, aber eben auch den extensiven paratextlichen Apparat vereint.64 Jenseits vom Shakespeare’schen Theater institutionalisiert Jonson dasjenige Autorschaftsmodell, das für den Rest des 17. Jahrhunderts (und darüber hinaus) in der englischen Litera-
61 Mit der Zirkulation seiner Dichtung sowohl in gedruckter Form als auch in Manuskripten unterscheidet sich Jonson von anderen Dichtern seiner Zeit. Siehe hierzu G. Bond: Rare poemes. 62 Für die Rolle des sich etablierenden Buchdrucks für Jonsons Kontrolle über die Rezeption seiner Werke siehe auch R.C. Newton: Jonson, sowie A.F. Marotti: The Transmission, S. 35. 63 Siehe hier auch K. Dunn: Pretexts, S. 1-16, bes. S. 10. 64 Zu Jonsons Werkausgabe siehe u.a. J.A. Riddell: The Printing.
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turgeschichte den Ton angeben wird. Paradoxerweise ist es just dieses Jonson’sche Modell der sowohl Dichtung als auch Dramen vereinenden Werkausgabe, das letztlich zur Entdeckung von Shakespeares Autorschaftsmodell führte.
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Die Unruhe des Gastes Zu einem Roman Wilhelm Raabes zwischen Institution und Ereignis E VI F OUNTOULAKIS
I. Dass zur Beschreibung der Instituierung eines literarischen Werkes und der damit einhergehenden Welt immer wieder auf die theologische Schöpfungsmetapher rekurriert wird, legt eine der Literatur intrinsische Spannung offen, oszilliert sie doch fortwährend zwischen einer metastabilen Institution und dem Ereignis ihrer Setzung: während sie einerseits eine kohärente Ordnung mit einer ihr immanenten Gesetzmäßigkeit und einem eigenen Erwartungshorizont schafft, schöpft sie ihre Kraft auch gerade aus einer Durchbrechung etablierter Muster; und während sie sich einerseits in existierende, realweltliche Institutionen und Konventionen einschreibt, transformiert sie diese zuweilen bis ins Unkenntliche und tritt in unvorhersehbarer Singularität auf.1 Zwischen dem Anschluss an Instituiertes und Instituierung von Neuem, zwischen Gesetzesentwurf und Gesetzesverstoß spannt sich das auf, was man mit Maurice Blanchot als »Raum des Literarischen« bezeichnen kann.2 Die Kraft zur Subversion ist nun nicht etwa trotz, sondern gerade aufgrund eines Verhältnisses zur Institution gegeben. Differenz und Wiederholung gehören ebenso unwiederbringlich zusammen wie Ereignis
1
Vgl. J. Derrida: This Strange Institution, S. 44: »There are ›in‹ the text features which call for the literary reading and recall the convention, institution, or history of literature.«
2
Vgl. M. Blanchot: L’espace littéraire.
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und Institution. Diese Spannung im Kern des Literarischen selbst ist bereits im Medium der Sprache angelegt, deren Verständlichkeit sich der Iterierbarkeit verdankt.3 Durch den Bezug auf das Gesetz, die Norm oder die Konvention entsteht erst die Wiederholung, der somit ein Institutionscharakter innewohnt. Derrida nennt dieses Verhältnis von Institution, die sich der Wiederholung verdankt, und Singularität in »This Strange Institution Called Literature« »Kontamination«: »[A]ny work is singular in that it speaks singularly of both singularity and generality. Of iterability and the law of iterability […]. What happens is always some contamination. The uniqueness of the event is this coming about of a singular relation between the unique and its repetition, its iterability. The event comes about, or promises itself initially, only by thus compromising itself by the singular contamination of the singular and what shares it. It comes about as impurity – and impurity here is chance.4«
Dem Ereignis entspricht also »ein bestimmter Modus der Iterabilität […], ein besonderes Verhältnis von Singularität und Generalisierbarkeit«:5 zugleich verändert, parasitiert6 und kontaminiert die Iterabilität das, was sie identifiziert und zu wiederholen erlaubt.7
3
Vgl. J. Derrida: This Strange Institution, S. 62: »But an idiom is never pure, its iterability opens it up to others. If my own ›economy‹ could provoke other singular readings, I would be delighted. That it should produce ›effects of generality‹ here or there, of relative generality, by exceeding singularity, is inscribed in the iterable structure of any language […].«
4
Ebd., S. 68f.
5
Th. Khurana: »… besser, dass etwas geschieht«, S. 240.
6
Zum Präfix »para-« und zum Terminus »Parasit« vgl. J. H. Miller: The Critic as Host, S. 453: »A thing in ›para,‹ moreover, is not only simultaneously on both sides of the boundary line between inside and out. It is also the boundary itself, the screen which is a permeable membrane connecting inside and outside.«
7
Vgl. J. Derrida: Limited Inc a b c …, S. 33: »L’itérabilité altère, elle parasite et contamine ce qu’elle identifie et permet de répéter; elle fait qu’on peut dire (déjà, toujours, aussi) autre chose que ce qu’on veut dire, on dit autre chose que ce qu’on dit et voudrait dire, comprend autre chose que … etc. En termes classiques, l’accident n’est jamais un accident.« (»Die Iterabilität verändert, sie parasitiert und kontaminiert das, was sie identifiziert und zu wiederholen erlaubt; sie macht, dass man (immer schon, immer, auch) etwas anderes sagen kann, als was man sagen will, dass man etwas
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Derrida formuliert in »Das Gesetz der Gattung« ein »Gesetz des Gesetzes der Gattung«, das sich durch dieselben Merkmale auszeichnet, nämlich durch »ein Prinzip der Kontamination, ein Gesetz der Unreinheit, eine Ökonomie des Parasitären«.8 Wenn jede Gattung, jedes Gesetz aufgrund der Unmöglichkeit stabiler, undurchlässiger Grenzen9 bereits durch ihr eigenes Anderes kontaminiert ist, lassen sich Institutionen vielleicht als Versuch denken, derartiger Kontamination zu wehren, was ihnen nur vorübergehend gelingt; und selbst dieses zeitweilige Gelingen verdanken sie dem opportunistischen Gebrauch dieser Kontamination.10 Am Beispiel der Metapher der Falte zeigt sich diese Doppelung des (versuchten) Ausschlusses bei gleichzeitiger Kontamination durch das Exkludierte, da sie keine klare Grenze zwischen Innen und Außen zu ziehen vermag, sondern in diesem ambivalenten Zugleich verbleibt. Die »fiktive Institution« der Literatur positioniert sich dabei als diejenige, welche die Erfahrung der Grenze ermöglicht, da sie die Überschreitung ihrer eigenen Grenzen bzw. ihrer Diskursregeln erlaubt.11 Sie vermag dabei einerseits Grenzüberschreitungen zu markieren, z.B. indem ein einzelner Text Genregrenzen in Frage stellt, kann aber auch andererseits selbst von Grenzüberschreitungen handeln. Das ist unter anderem dann der Fall, wenn Figuren der Liminalität wie beispielsweise der Gast in Szene gesetzt werden.12 ›Gastliche‹ Verhältnisse liegen jedoch auch vor, wenn Texte in einem intertextuellen Geflecht interagieren, indem sie beispielsweise durch Zitate, Anspielungen und Variationen auf andere Texte Bezug nehmen und ihnen somit ›hospitieren‹.13 Im Folgenden soll
anderes sagt, als was man sagt und sagen wollte, etwas anderes versteht als … etc. In klassischen Begriffen: der Zufall ist nie ein Zufall.« Übers. E.F.) 8
J. Derrida: Das Gesetz der Gattung, S. 252.
9
Vgl. M. Foucault: Vorrede der Überschreitung, S. 325: »Eine Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent[.]«
10 Stellvertretend für die zahlreiche Forschungsliteratur zur Grenze und weiteren Begriffen der Liminalität sei hier auf den einen hervorragenden Überblick bietenden Aufsatz von Rolf Parr: »Liminale und andere Übergänge« verwiesen. 11 Vgl. N. Bolz: Qu’est-ce qu’un auteur?, S. 322. – So auch Derrida: This Strange Institution, S. 36: »The space of literature is not only that of an instituted fiction but also a fictive institution which in principle allows one to say everything. […] The law of literature tends, in principle, to defy or lift the law. It therefore allows one to think the essence of the law in the experience of this ›everything to say.‹ It is an institution which tends to overflow the institution.« 12 Zur Figur des Gastes als Grenzfigur vgl. G. Mein: Gäste. 13 Vgl. z.B. J.H. Miller: The Critic as Host, S. 459.
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das Verhältnis von Grenzen und ihrer Kontamination am Beispiel einer literarischen Gastbegegnung untersucht werden.
II. Figuren der Ambivalenz oder der Kontamination ähnlich derjenigen, die das Verhältnis von Institution und Ereignis aufweist, finden sich auch in Wilhelm Raabes Roman »Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum«.14 Als biologische Kontamination sind diese einerseits thematisch explizit und treten auf der Handlungsebene als Geschichte einer Ansteckung zum Vorschein; sie treten aber auch metaphorisch zutage, einerseits insofern der Text das »Säkulum«, das säkularisierte 19. Jahrhundert, im Untertitel, in der Erzähler- und Figurenrede zwar wiederholt zu seinem Bezugspunkt erklärt, aber insbesondere durch seine intertextuellen Beziehungen ein ambivalentes Verhältnis dazu aufzeigt, andererseits im Spiel mit den Gattungskonventionen des Romans, was besonders in publikationshistorischem Kontext wirksam wurde. Der Roman Raabes, der durch seinen Untertitel gleichsam als paradigmatischer Roman seiner Zeit – und somit des Realismus – angepriesen wird, inszeniert zahlreiche dichotomische Oppositionen, um sie zu unterwandern. Dieses mehrschichtige ›Straucheln auf der Schwelle‹,15 vor dem die Protagonistin des Romans warnt, bzw. Raabes Spiel mit den Grenzen unterschiedlichster Ebenen soll im Folgenden untersucht werden. Raabes Roman beginnt mit einem Besuch des Protagonisten Veit von Bielow, Professor der Staatswissenschaften, weltgewandter Tourist und Gast in einem mondänen Kurort, bei seinem ehemaligen Studienfreund Prudens Hahnemeyer. Dieser lebt mit seiner nonnenhaften Schwester Phöbe in einem abgelegenen Bergdorf und leitet die dortige Pfarrei. Der Pfarrer steht gerade vor einem unlösbar scheinenden Problem, als der Gast aus dem »Säkulum« in dem abge-
14 W. Raabe: Unruhige Gäste, S. 179-337 (nach dieser Ausgabe wird unter Verwendung der Sigle BA bzw. im Lauftext unter Angabe der Seitenzahl zitiert). Die als Fortsetzungsroman in der Gartenlaube erschienene Erstpublikation trug den – handschriftlich korrigierten – Untertitel »Ein Roman aus der Gesellschaft« (vgl. den Kommentar ebd., S. 558), der das Säkulum wohl im Sinne von »bürgerliche Gesellschaft im Gegensatz zur Kirche und der Geistlichkeit« eindeutschte (vgl. den Eintrag »Säkulum« in Meyers Konversationslexikon, Bd. 14, 1885-1892, S. 207), während die Erstausgabe und alle weiteren zu Lebzeiten Raabes erschienen Auflagen den Untertitel »Ein Roman aus dem Saekulum« führen. 15 BA 16, S. 205.
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schiedenen Dorf auftaucht: Die Frau des aus der Dorfgemeinschaft verbannten Wilddiebs Volkmar Fuchs ist nach schwerer Typhuserkrankung gestorben. Dieser verweigert nun aus Trotz die Freigabe des Leichnams zur Beerdigung. Die Dorfgemeinschaft wollte die Frau nicht unter sich, als sie noch lebte, nun soll die Frau ihr im Tode nicht auf dem Friedhof ausgesetzt sein. Veit von Bielow, der sich der zur Vermittlung aufgebotenen Phöbe anschließt, findet einen überraschenden Ausweg, indem er für sich als Außenstehenden bzw. Fremden und für Phöbe, die die kranke Frau Fuchs bis zu ihrem Tode betreut hat, die beiden angrenzenden Grabstätten erwirbt. Damit wird einerseits Anna Fuchs von der übrigen Dorfgemeinschaft abgeschirmt, während die beiden nicht verwandten Phöbe und Veit sich gegenseitig im Tode verpflichten. Das Begräbnis der Frau Fuchs findet statt, doch aus der vermeintlich harmlosen Einmischung des Gastes in den Sterbefall und die Begräbnisfrage entstehen weitreichende Folgen: Veit erkrankt nach seinem Besuch auf der Vierlingswiese an Typhus und wird während seiner Krankheit von Phöbe in einem verlassenen Seuchenhaus betreut; nach seiner relativen Genesung flüchtet er mit seiner nunmehr angetrauten, ebenfalls welterfahrenen Frau Valerie vor seiner Krankheit und dem nahenden Tod immer weiter in den Süden. Der Roman endet mit einem Brief Veits aus Palermo, der von einem Dankgeschenk an Phöbe, einer frühchristlichen Grablampe, begleitet ist. Der Roman, das einzige Werk Raabes mit dieser Gattungszuschreibung,16 wurde seit seinem Erscheinen verschiedentlich hinsichtlich seiner auf zahlreichen Ebenen aufscheinenden Polaritäten gedeutet, so vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von »Säkulum« und nicht-säkularisierter, archaischer Zeit und Gesellschaftsform (oder, je nach Lesart, ontologischer Zeit), wie es sich vornehmlich an den beiden Protagonisten Phöbe und Veit in antagonistischer Weise zu manifestieren scheint.17 Auch die noch vor seinem Erscheinen von Alfred Kröner, dem Verleger der Gartenlaube, gehegte Befürchtung, der Roman berge die Gefahr, dass die Gartenlaube seinetwegen als ›fromm‹ aufgefasst werden könne, hat ihre Berechtigung in den zahlreichen biblischen Anspielungen, welche bereits ausführlich untersucht worden sind, wodurch dem historischen Kontext bestenfalls eine sekundäre Bedeutung zugemessen wurde.18 Der Roman, dessen Untertitel »Roman aus dem Säkulum« (Herv. E.F.) nicht zuletzt als das (eigene) Jahrhundert interpretierbar ist, greift jedoch auch zeitgebundene Themen auf: Infektionskrankheiten stellten im medizinischen Bereich einen wichti-
16 Vgl. J. Pfeiffer: Tod und Erzählen, S. 86. 17 Vgl. dazu ausführlich H. Detering: Theodizee und Erzählverfahren, S. 92-140. 18 Vgl. den Kommentar im Anhang zu BA 16, S. 547; G. Höhler: Unruhige Gäste.
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gen Forschungsgegenstand dar, der in schneller Folge neue Erkenntnisse zutage förderte19 und in dessen Sog die »Ansteckung«20 Ende des 19. Jahrhunderts zu einem bedeutsamen Schlagwort wurde; so konnte beispielsweise erst im Entstehungsjahr von Raabes Roman nachgewiesen werden, dass der Erreger des Typhus bakterieller Art ist.21 Medizinische beziehungsweise die Gesundheit betreffende Themen gehörten ebenfalls zur inhaltlichen Ausrichtung des Publikationsorgans Die Gartenlaube, wie bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der Ausgabe zeigt, in welcher die in Fortsetzungen erscheinenden »Unruhigen Gäste« abgedruckt wurden. Während also zahlreiche Themen, Subtexte und Intertexte in diesem an Zitaten und Anspielungen reichen Roman bereits Gegenstand intensiver Forschung bildeten, wurde die »mythologische Dimension« – mit einem Ausdruck Leo Lensings –22 bislang marginalisiert. Zwar wird gelegentlich auf Raabes Spiel mit den mythologischen Namen verwiesen, doch hatte der Umgang mit der antiken Mythologie bislang eher Fußnotencharakter.23 Dabei lässt sich die im Roman aufgeworfene Begräbnisproblematik gewissermaßen als Verkehrung des Antigone-Stoffes lesen, worauf die Forschung nur kurz verweist;24 auch wird mit
19 »Kein Kapitel aus der ganzen Medizin hat in neuester Zeit so viele Bearbeitung und Änderung erfahren wie die Lehre von der A[nsteckung] und den ansteckenden Krankheiten; jeder Versuch einer Gesamtübersicht kann nur Geltung beanspruchen für den Tag, an dem er niedergeschrieben ist.« Meyers Konversationslexikon, S. 619. 20 »Ansteckung« ist »die Übertragung eines eigentümlichen, nach Art eines Giftes wirkenden Stoffs von außen her auf den tierischen Organismus« (ebd., S. 618), was auch die Metaphorisierung des Typhus als Gift in »Unruhige Gäste« erklären mag. Vgl. auch N. Binczek: Das Ding hat seine Haken, Sporen, S. 88, Anm. 53. 21 Vgl. ebd., Anm. 59. 22 L.A. Lensing: Naturalismus, Religion und Sexualität, S. 161. 23 Die mythologische Dimension berücksichtigen u.a. R. Böschenstein: Mythologie zur Bürgerzeit, S. 28, Anm. 55; allerdings wird die ›mythologische‹ Inschrift des Textes nur in einer Fußnote angedeutet; L.A. Lensing: Naturalismus, Religion und Sexualität, v.a. S. 161-163. 24 Vgl. N. Binczek: Das Ding hat seine Haken, Sporen, Anm. 16; J. Pfeiffer: Tod und Erzählen, S. 93. Wie Attila Simon in seinem Beitrag zum Gesetz in Sophokles’ Antigone festhält, erlaubt der nomos die Bestattung der Angehörigen, verbietet aber für bestimmte Vergehen die Beisetzung auf attischem Gebiet. Bei Raabe hingegen gestatten die Bürger des Dorfes bzw. ihre behördlichen Vertreter die Bestattung nicht nur, vielmehr verlangen sie sie unter Androhung von Sanktionen. Überdies soll
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der Namenswahl »Phöbe« die Ambivalenz der weiblichen Hauptfigur – die aufgrund der sehr spät erfolgten Namenszuschreibung der Protagonistin umso auffälliger ist –25 eine zusätzliche Interpretationsebene eröffnet, welche die gängige, tendenziell eindimensionale Lesart der Figur als »lutherische Nonne«26 erweitert. Es erstaunt daher, dass die Figur der Kontamination in der Forschungsliteratur zu den »Unruhigen Gästen« nicht stärker berücksichtigt worden ist, zumal sie erlaubt, auf exemplarische Weise Handlungs- und poetologische Ebene vergleichend nebeneinander zu stellen beziehungsweise sich überschneidende Diskurskonstellationen aufzuzeigen. An diesem Roman, geschrieben 1884, 1885 erstmals in der Zeitschrift Die Gartenlaube publiziert, sollen nun folgende drei ambivalente Figuren bzw. Verhältnisse untersucht werden: Erstens sind die am Fremden bzw. am Gast praktizierten Ein- und Ausschlussverfahren, welche den Verstoß gegen das Bestattungsgesetz innerhalb des Romans zu beruhigen haben, zu untersuchen, wobei sich die vermeintlich ›normalisierenden‹ Strategien selbst als beunruhigend herausstellen; diese Fragen werden aus dem Blickwinkel des Gastdiskurses thematisiert. Zweitens sind die Vermittlungsversuche der Passagenfiguren Veit und Phöbe in der Figur des Boten bzw. der Botin (und deren Verhältnis zu Immunität und Neutralität), d.h. der Botendiskurs im Roman, hervorzuheben. Als Drittes gehe ich auf die die beiden erstgenannten Aspekte verbindende Interpretationskategorie der Kontamination (einerseits als Infektion, andererseits als Immunisierung) bzw. den Ansteckungsdiskurs ein, welcher erlaubt, den Gastdiskurs von der Handlungs- auf die Textebene zu ›übertragen‹.
die Bestattung ordnungsgemäß auf dem örtlichen Friedhof stattfinden und nicht außerhalb, im ›Exil‹ bzw. in der Quarantäne der Familie Fuchs im Waldgebiet. 25 Erst mit den Korrekturen, zu welchen die Durchsicht der Handschrift geführt hat, erhält die weibliche Hauptperson, die bis dahin Marie hieß, den Namen Phöbe (vgl. Anhang zu BA 16, S. 552). 26 BA 16, S. 274.
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Die Beunruhigung des Gastes 27 Welche Beunruhigung oder Verunsicherung das unerwartete Einbrechen eines Gastes herbeiführen kann, zeigt sich bereits in der Herkunft und Verwandtschaft des Wortes Gast und – noch deutlicher – in der Etymologie des lateinischen Begriffs hostis, das in klassischer Zeit neben der ursprünglichen Bedeutung ›Fremder‹ auch die Bedeutung ›Feind‹ gewinnt.28 Die Ambivalenz bzw. antithetische Natur von hostis zwischen Fremdem und Feind verunmöglicht eine klare Polarisierung und somit Unterscheidung; der Riss, die Oszillation ist bereits dem Wort selbst inhärent.29 Auch die Etymologie von hospes – ein von hostis abgeleitetes Kompositum – unterläuft den Versuch, mittels Sprache Ordnung in die gastliche Begegnung zu bringen, insofern, als hospes sowohl für den ›Gast‹ als auch den ›Gastgeber‹ steht; das ist beispielsweise auch im davon abgeleiteten französischen hôte der Fall.30 Das nhd. Wort Gast, sowohl mit lat. hostis wie lat. hospes verwandt, nimmt im Germanischen bereits früh die Bedeutung des
27 Die bereits im Titel vorkommende Grundmetapher des Romans »Unruhige Gäste« bezieht sich einerseits auf die Figuren, dient aber zugleich als Metapher für das irdische Leben, d.h. für das Gastsein auf Erden. Es ist auch wiederholt von den Figuren, die zu Gast sind, als unruhigen Gästen die Rede, aber mehrfach auch von der Unruhe der Gäste auf Erden, vgl. z.B. BA 16, S. 264, 267, 270, 289, 324, 325. Sie ist überall schon mit ihrer Endlichkeit, mit dem Tod konfrontiert, wie in der Frage nach dem Beerdigungsritus und des Todesrisikos der Ansteckung deutlich wird; der Tod wird als Gast des Abschieds schlechthin dargestellt. Gastlichkeit wird hier nicht nur als Konvention verhandelt, sondern zwischen dem Dreieck existenzieller Hilfe, Heirat und Tod aufgespannt, mit anderen Worten »unter der Bedrohung der Endlichkeit und der Liebe« gedacht (vgl. A. Dufourmantelle: Einladung, S. 143). 28 Während hostis im archaischen Sprachgebrauch lateinischer Autoren zunächst nichts anderes als ›Fremder‹ bedeutet (vgl. Émile Benveniste: Indoeuropäische Institutionen, S. 76) differenziert sich in den in klassischem Latein verfassten Texten sein Gebrauch: es wird zur Opposition von civis ›Bürger‹, folglich zu dem von den Bürgerrechten ausgeschlossenen ›Feind‹ (vgl. O. Hiltbrunner: Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, S. 14). 29 Mit den Worten J.H. Millers: »A host is a guest, and a guest is a host. A host is a host.« Vgl. ders.: The Critic as Host, S. 454. Host und guest stammen von derselben idg. Protowurzel ghost-i ab. 30 Vgl. M. Mauss: Die Gabe, S. 23ff.
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›bewirteten Fremden‹ an, doch hält sich bis ins Mittelhochdeutsche auch die Bedeutung mhd. gast ›Krieger‹.31 Wie als Folge dieser semantischen Uneindeutigkeit ist die vorübergehende Aufnahme des Gastes oft eine bedingte Gastlichkeit,32 die an bestimmte Regeln, Konventionen – genannt ›Gesetze der Gastfreundschaft‹ – gebunden ist, die erlauben, dem Gast einen (bestimmten) Platz in der Gemeinschaft zu geben bzw. zuzuweisen, um dem zuvorzukommen, was der Gast in Frage stellt, zum Vorschein bringt, bewirkt, subvertiert, oft in der Rolle des Zeugen, Beichtvaters, Richters, aber auch als Vermittler und Bote.33 Die Beunruhigung, die der Gast mit sich bringt, scheint nicht zuletzt räumlich fassbar zu sein: damit er ankommen kann, muss ihm ein Raum eröffnet werden; doch stillstellen lässt der Gast sich auch über die üblichen Strategien – etwa den Versuch der Integration oder der Ausgrenzung – nicht, soll er nicht in etwas anderes verwandelt oder gar getilgt werden. Die Unruhe des Gastes bleibt also trotz der Versuche, seine Identität festzustellen, ihn einzuordnen (zu verorten) und ihm bestimmte Rituale angedeihen zu lassen, bestehen. Diese Unruhe verdankt sich dem Umstand, dass der Gast sich als ein Versprechen gibt, dessen Inhalt sich erst nachträglich erschließt; wie Simmels ›Fremdem‹ wohnt auch ihm potenziell die Möglichkeit inne, als Figur des Dritten zu vermitteln und zu urteilen, eine ordnende oder beunruhigende Funktion einzunehmen, selbst Teil einer Lösung oder eines Problems zu werden. Diese unsichere Gabe macht die Figur Veit in Raabes Roman ersichtlich, wenn sie zu Beginn ihres Besuchs von ihrer nicht-antizipierbaren Wirkung (Vermächtnis) spricht: »Wissen Sie, Fräulein, dass ich doch vorhin wahrhaftige Furcht hatte, den Fuß von der Landstraße – aus meiner Welt in den Frieden dieses Kirchen- und Fliederschattens zu setzen?« »Warum?« »Weil Sie immer wissen, was Sie zu den Leuten bringen, in deren Türe Sie treten. Ich aber weiß nicht, was ich zu Ihnen getragen, bei Ihnen zurückgelassen haben werde, wenn ich den Fuß von neuem auf die Chaussee setze, auf die Sie mich vorhin hinwiesen.«34
31 Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 400. 32 Vgl. J. Derrida: Von der Gastfreundschaft. 33 Vgl. G. Simmel: Exkurs über den Fremden. 34 BA 16, S. 188f.
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Die Zeitlichkeit des Gastes im Zeichen des künftigen Abschieds, aber auch die Möglichkeit einer Transformation der Ordnung durch den Außenstehenden, wird von Veit selbst vorweggenommen: Der Gast antizipiert seinen Abschied und die Zeit, die vergangen sein wird, im Futur II. Die »Frage des Fremden« in der Unmöglichkeit ihrer Vorwegnahme (was bringt der Gast?), die gastliche Gabe im Sinne einer möglichen Transformation des Vorfindlichen wird – wenn überhaupt – nur nachträglich zu beantworten sein.35 Veit, der ankommende Fremde, der sich erst später als alter Studienfreund des Bruders zu erkennen gibt, wird von Phöbe ohne jeden Identifikationsversuch bewirtet; seine Ankunft, obschon unerwartet, wird (noch) nicht als Ereignis wahrgenommen. Der erste Fremde, der dem Leser zunächst begegnet, der erste Gast als Ankommender, dessen Einbruch in den Dorfalltag einen Aufruhr verursacht und der nicht empfangen werden kann, ist vielmehr an ganz anderer Stelle zu finden; es ist Anna Fuchs, die zu Beginn des Romans soeben an Typhus Verstorbene. Sie ist die erste Fremde, der erste Gast, der ankommend keinen Platz findet – weder in der Krankheit noch im Tode. Als Kranke bestimmt die räumliche und soziale Ausgrenzung ihr Dasein. Als Tote soll sie nun in die Sozietät des Dorfes re-integriert werden, indem ihr nachträglich der zuvor verweigerte Platz eingeräumt wird. Das Bestehen auf einer Bestattung auf dem dörflichen Friedhof hat freilich noch einen weiteren Grund: den der schnellen und sicheren Bannung der Krankheit,36 um gewissermaßen der Heimsuchung durch die Tote zu entgehen. So kommen denn rechtliche (Totenschein, Gesundheitspolizei), sittliche (christliches Gebot des Begräbnisses37) wie auch medizinische Gründe (Exklusion des Krankheitsherdes) zusammen, welche die Bändigung des »Dorfgespenst[es]« – wie Veit die Familie Fuchs nennt38 – verlangen. In der Folge dieses Ereignisses wird Phöbe gebeten, Fuchs zur Herausgabe der Toten zu bewegen, nachdem Dorfvorsteher, Pfarrer und Arzt von ihm grob abgewiesen worden sind. Ihre Stellung als Passagenfigur, die zwischen der Gemeinde und den Ausgestoßenen vermitteln soll, wirkt offensichtlich anste-
35 Die Selbstwahrnehmung des Gastes gibt ihm (sich selbst) die Rolle des »Störenfried[s] und Aufdringling[s]« (BA16, S. 203) – Der Ereignischarakter spricht sich in beinahe schon Derrida’schen Worten aus:
ein
»zugleich
von (absoluter)
Vergangenheit und (absoluter) Zukunft, von dem aus sich ein Geschehen zeitigt und entfaltet«. Vgl. Th. Khurana: »›… besser, dass etwas geschieht‹«, ebd., S. 247. 36 Vgl. ebd., S. 197, 200f. 37 Ebd., S. 196. 38 Ebd., S. 232.
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ckend auf Veit, der sich mit ihr zu diesem Botengang verpflichtet.39 Die Gemeinde (personifiziert durch Pfarrer und Vorsteher) empfindet dieses Engagement des Gastes als – vorübergehenden – ›Eintritt‹40 in die Gemeinde. Im Folgenden möchte ich mich auf diese zentrale Szene, den Besuch Veits und Phöbes bei Volkmar Fuchs, konzentrieren, auf dem aufbauend ich die drei genannten Diskurse – denjenigen des Gasts, des Boten und der Ansteckung – zusammenführen werde. Als Veit und Phöbe bei Fuchs eintreffen, ist dieser mit der Dekorierung der Leiche beschäftigt; Phöbe bringt ihr Anliegen vor (er möge die Tote zum Begräbnis freigeben), worauf Fuchs dem Gast (Veit) vorwirft, sich aus Langeweile an seiner Trauer zu bereichern, und ihm gewitzt einen »besseren Spaß« vorschlägt (S. 237f.), nämlich mit ihm ein wildes Grab im Wald zu schaufeln. Veit erhalte die Ehre als Außenstehender, der »aus der Fremde kommt und nichts mit der Schufterei rundum zu schaffen hat«41. Doch Veit entzieht sich dem mit einem konkreten Vorschlag: »Hat die Anna Fuchs in ihrer letzten Stunde gerufen, dass sie nicht zwischen ihren Feinden liegen möge, so wird sie nichts dagegen einzuwenden haben, allein gebettet zu werden mit einem freien Platz zur Rechten und zur Linken, wenn nicht für ihren Mann, den Räkel, und ihre Jungen, so für ihre Freunde – die Phöbe Hahnemeyer und den Veit von Bielow zum Beispiel! Haben Sie, Phöbe, etwas dagegen einzuwenden, dass wir beide der Armen zu einer Schutzwehr dienen – nicht gegen ihre stillen Nachbarn dort auf jenem ruhigen Gartenfleck, sondern gegen den bellenden Zorn und verstockten, kindischen Groll dieses unzurechnungsfähigen Menschen?«42
39 Vgl. ebd., S. 223-228. Veit folgt dem Vorschlag des Vorstehers, Phöbe zur Vierlingswiese zu begleiten, und will auch selbst zum Tischler, denn er glaubt ein »Bekanntschaftsrecht in hiesiger Gemeinde« (S. 226) erworben zu haben. In einem Akt der Substitution übernimmt Veit die Rolle des Pfarrers, seines machtlosen Studienfreundes, und rückt dadurch schon vor in die Geschwisterschaft mit Phöbe. Gemeinsam soll nun die Bekehrung Fuchs’ versucht werden, obschon Phöbe den Gast zunächst von einer Teilnahme am Besuch bei der Familie Fuchs abzubringen versucht (S. 232). Veit will Phöbe die – (von ihm) ironisch gemeinte – »Ehre der Gefahr« (ebd.) nicht alleine überlassen; Phöbe lässt erkennen, dass es weder um Ehre noch Anerkennung gehe. Aber der Gast soll sich nicht wegen der Schicksalsgemeinschaft des Dorfes, zu der Veit nicht gehöre, in Gefahr bringen (ebd.). 40 Ebd., S. 226. 41 Ebd., S. 238. 42 Ebd., S. 239.
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Zunächst scheint es sich nur um eine rationale Lösung zu handeln, die sowohl Fuchs’ als auch der Gemeinde Bedingungen erfüllt: Anna könnte auf dem Friedhof begraben werden, denn Phöbe und Veit würden einen Schutzwall bilden, indem sie dereinst neben Anna bestattet würden und sie somit von der übrigen Gemeinde abgrenzen würden. Phöbe erschrickt43 zunächst ob diesem Angebot, wobei offen bleibt, ob sie es als sündhaften Verstoß (als Anmaßung gegen die göttliche Providenz) oder als bloßen Konventionsbruch betrachtet. Auch Veit zeigt sich ob sich selbst überrascht: »›[N]ehmen Sie es auch bloß als ein Symbol, Phöbe, dass wir uns im Grunde unserer Seele zu ein und demselben Sehnen nach ein und demselben Reiche der ungestörten Ruhe, des ewigen Friedens bekennen. […] Ich möchte Ihnen diesmal zu Hülfe kommen, um den Unmündigen zu helfen auf dieser schmerzenreichen Erde, auf der teilnahmslos in der Sommermorgensonne lachenden Vierlingswiese. Wollen Sie meine Hand dazu annehmen, Phöbe Hahnemeyer?‹ ›Ja!‹ sagte die Schulschwester aus Halah nach einem nochmaligen kurzen Zögern vollkommen in ihrer gewohnten Ruhe und Sicherheit. Der Gastfreund streckte ihr die Hand zu, doch vergebens. Das junge Mädchen legte die ihrige auf die verhüllte Leiche ihr zur Seite; aber der Zuchthäusler, der Wilddieb, der Ausgestoßene der Gemeinde, Volkmar Fuchs, hielt die seinige her […].«44
Bei näherer Betrachtung findet hier mehr statt als nur ein Lösungsvorschlag für die Bestattung. Zunächst evozieren die Szene und Veits Sprechakt alle Konventionen einer Trauung: die Frage nach möglichen Einwänden wird gestellt; Trauzeugen sind vorhanden; und die Hand wird erbeten, was »üblicherweise eine Hilfeleistung oder eine Heirat [symbolisiert]«.45 Veits »Symbol« – seine Handreichung – besteht somit in einem ›Eheversprechen‹ in der Ewigkeit, außerhalb
43 Erschrecken oder Erstarren ist die erste Reaktion Phöbes, Prudens’ und Valeries, wenn sie von Veits Lösungsvorschlag erfahren. Zum Erschrecken als Zeichen des Ereignisses vgl. A. Dufourmantelle: »Einladung«, S. 117f.: »Wenn wir einen unbekannten Ort betreten, verspüren wir fast immer eine undefinierbare Unruhe.« »[Der] Schrecken […], den das Betreten eines unbekannten Ortes in uns auslöst, dessen Fremdheit uns zunächst erstarren lässt, bevor wir uns nach und nach an ihn gewöhnen.« 44 BA 16, S. 240. 45 »Hier wird es die Hand des Todes sein.« (vgl. J. Derrida über Don Juan, zitiert nach A. Dufourmantelle: Einladung, S. 142f.)
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der Zeitlichkeit, womit eine irreversible Verbindung hergestellt wird,46 also eine Verlobung als im biblischen Sinne (rechtlich) bindende Eheabsicht (im Tode). Mit ihrem emphatischen »Ja!« nimmt Phöbe das Versprechen zu dieser symbolisch-symbolträchtigen Verbindung an. Angesichts der Umstände ist dieses irdische ›Sich-ins-Jenseits-Versprechen‹ nicht so sehr ein leibliches, erotisches,47 sondern in christlicher Auffassung ein seelisches; es handelt sich nicht um eine irdische Ehe, sondern um eine ›Ehe in der Ewigkeit‹. Dieser singuläre Akt der Hingabe ist vielleicht die größte Gabe: Veit und Phöbe geben sich selbst, riskieren ihr Leben mit diesem Gang auf die Vierlingswiese, bis hin zum Tod. Zugleich zeigt sich die Komplexität dieser Konstellation, indem Phöbe zwar einwilligt, aber die dargereichte Hand zunächst nicht annimmt, sondern nur dem Sprechakt des Versprechens zustimmt; indem sie ihre Hand auf die Leiche legt, verbindet sie sich symbolisch mit ihr48 und signalisiert, dass es sich um ein Versprechen im Interesse der Toten handelt und nicht eine persönliche Bindung ihrer selbst.49 In dieser Handreichung scheint sie die Tote zugleich als einen Dritten, einen Zeugen anzurufen, und damit auf den verbindlichen, unendlichen Charakter dieses Versprechens hinzuweisen. Ihr »Ja!« weist auf den Tod – personifiziert durch Anna Fuchs – hin, in dessen Namen das Versprechen gegeben wird. Veit hingegen muss sich mit Fuchs’ Hand (als die Hand des anderen Zeugen) zufriedengeben.
46 »Und wie es um das Eigentum und den Besitz auf Erden stand, das war ihm auch nie so deutlich geworden wie jetzt, wo die Aufregung der vorigen Minuten sich gelegt hatte und er sich bei voller Besinnung für alle Zeit als ihr Eigentumsteilhaber und Grund- und Bodennachbar gebunden empfand.« (BA 16, S. 242). – Es wäre noch zu untersuchen, inwiefern die hier in Anschlag gebrachten Eigentumsbegriffe über die das Recht begründende Landnahme bzw. das damit verbundene Gesetz (nomos) (vgl. dazu C. Schmitt: »Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung«) mit der bei Raabe verkehrten Antigone-Thematik zu verbinden wäre. 47 Vgl. auch G. Opie: Having the Last Word, S. 97-105. 48 BA 16, S. 240. 49 Vgl. zu diesem Aspekt auch G. Opie: Having the Last Word, S. 101: »As she and Veit return to the village from the quarantine hut, Phöbe takes her companion’s proffered hand as he helps her across a stream and does not withdraw it immediately but allows him to retain it ›ohne Scheu‹ (S. 242). Shortly before, by Anna’s corpse, she had refused to take Veit’s hand, laying her hand instead on the dead body to emphasise that her agreement should not be interpreted as a personal commitment to Veit.«
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Veit realisiert auf dem Rückweg von der Vierlingshütte seine Verbundenheit mit Phöbe »für alle Zeit«50 und bietet ihr nochmals die Hand (ob zur Hilfestellung bei der Überbrückung des Flusses oder nicht, macht die Erzählerrede nicht eindeutig fest), die sie diesmal annimmt und fast bis ins Dorf hinein festhält.51 Dass sie ihm dennoch, wenn auch erst bei dem zweiten ›Antrag‹ die Hand reicht, ist insofern ein bemerkenswerter Punkt, als sich die Frage stellt, wie Veit sich mit Typhus ansteckt; über Fuchs’ Hand? Oder über Phöbes Hand? Die Erzählung gibt keine eindeutige Antwort darauf – die Übertragung von Typhus »durch unmittelbaren Kontakt […] mit Erkrankten« ist selten, aber möglich, genauso wie es möglich ist, Träger des Erregers zu sein, ohne selbst zu erkranken.52 Die skurrile Hochzeitsmetapher – ›Hadeshochzeit‹ – gewinnt Gültigkeit: als Veits möglicher Tod nach seiner Typhusinfektion nicht eintritt, gehen er und Phöbe auseinander; nach seiner relativen Genesung wird die implizite Vereinbarung, dass das Leben eine ausgedehnte Verlobungszeit darstelle, die erst im Tode zur Eheschließung wird, auf unbestimmbare Zeit aufgeschoben, und Veit nimmt an Stelle der »Anverlobten« Phöbe die weltliche Valerie zur Frau (siehe auch den Brief am Ende des Romans). Im Roman wird das Verlobungsversprechen folglich nur teilweise eingelöst: die Grabstätten werden erworben, aber nicht bezogen. Der Vollzug des ›negativen Eheversprechens‹ bleibt aus.
Vermittlungsversuche Dass Phöbe zwischen dem Eigenen und dem Fremden vermittelt, zeigt sich über diese Szene und den Umgang mit der ausgestoßenen Familie Fuchs hinaus beispielsweise auch darin, dass sie in einem Heim für schwachsinnige Kinder gearbeitet hat (das den Namen eines biblischen Exilortes, Halah, trägt), dessen
50 BA 16, S. 242. 51 »Er bot ihr nun nochmals seine Hand beim Überschreiten des kleinen Wasserlaufes auf der Wiese, und sie nahm sie jetzt und ließ ihm ohne Scheu in tiefen Gedanken die ihrige bis unter die einzelnen Tannen dem Dorfe zu.« (BA 16, S. 242) Dass aber das versprochene Verhältnis kein irdisches sein soll, macht sie deutlich, indem sie Veit dem Tischler, der den Sarg zimmern soll, als »Jugend- und Universitätsfreund meines Bruders« (S. 244) vorstellt. 52 »[D]ie Übertragung erfolgt meist durch Trinkwasser und kontaminierte Lebensmittel, auf denen die Salmonellen bei mangelnder Hygiene die zur Infektion erforderliche relativ hohe Keimzahl erreichen, selten durch unmittelbaren Kontakt (Schmierinfektion) mit Erkrankten.« (»Typhus«, Brockhaus Enzyklopädie Online, 9. Juni 2010).
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Bewohnern auch der letzte Satz des Romans gilt; dass sie den wegen seiner kommunistischen Überzeugungen von der Dorfgemeinschaft marginalisierten Tischler Spörenwagen zu ihren Freunden zählt; und dass sie Veit während seines ›Exils‹ bzw. Quarantäne im Seuchenhaus beisteht. Ihre Hauptfunktion besteht also darin, dass sie Relationen stiftet bzw. »zwischen heterogenen Welten [vermittelt]«, womit sie gewissermaßen zur Botin wird, einer Botin notabene, die vor einer ›ewigen Verpflichtung‹ nicht zurückschreckt.53 Doch Phöbes Botencharakter – der Bote als derjenige, der nicht berührt werden soll von dem, was er ver-/übermittelt,54 der ›diplomatische Immunität‹ genießt55 – ist ihr vom Text auch anders eingeschrieben, wie die folgende Textstelle – dem Beginn des Romans entnommen – verdeutlicht, als Veit Phöbe bei ihrem Namen nennt (ohne dass sie ihn ihm eröffnet hätte): »Ja, und so sind auch wir beide im Grunde schon recht alte, gute Bekannte. Es ist eine ziemliche Reihe von Jahren her, seit ich in Ihres Bruders Dachstube hinaufstieg und den lieben Namen in einem Briefe von Ihnen oder an Sie fand. Mir klang er damals nur hold hellenisch, und so rief ich ihn fröhlich der Mondsichel über den Dächern in der deutschen Frühlingsnacht zu. Doch Ihr Bruder schlug mir sein Neues Testament auf und zeigte mir, dass auch jene, die den Brief des Apostels Paulus von Korinth nach Rom trug, Phöbe hieß. Da nahm ich denn die hübsche Gelegenheit wahr, mir eine historische Tatsache möglichst fest einzuprägen. O ich habe die Stelle noch ziemlich genau im Gedächtnis: ›Ich befehle euch aber unsere Schwester Phöbe, welche ist im Dienste der Gemeinde zu Kenchrea, dass ihr sie aufnehmet und tut ihr Beistand in allem Geschäft, darinnen sie euer bedarf!‹«56
53 Vgl. S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 110, 114 – Phöbes ›Auftraggeber‹ allerdings bliebe zu eruieren (mit Schopenhauer gelesen, könnten ihre Beweggründe in der Anwendung des »wahren ›Geist[es] und Kern[es] des Christenthums‹« liegen). Die Hypothese, dass Schopenhauers Texte als Hypotexte auch der »Unruhigen Gäste« fungieren, führt Fauth detailliert aus, vgl. S. R. Fauth: Metaphysischer Realismus, S. 133. 54 Phöbes Beschreibungen bis zu Veits Einmischung reichen an die Personifikation der Ruhe heran: »ruhig«, »sicher und gelassen« (S. 184), »ihre Augen […] ruhig nach dem wolkenlosen Abendhimmel gerichtet«, »mit demselben gelassenen Schritt, mit dem sie gekommen war« (S. 185), »trotz aller kühlen, klaren Ruhe« (S. 186), »die gelassenen, klugen Augen« (S. 188), »sagte Phöbe ruhig« (S. 193) usw. 55 Im Falle von Phöbe nicht nur diplomatische, sondern auch gesundheitliche Immunität. 56 BA 16, S. 190.
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Die Namen der Figuren sind von vorrangiger Bedeutung, da sie im System einer bestimmten Ordnung begriffen sind; besonders virulent – das lässt sich in einem Roman, in dem es von Infektionen wimmelt, sicherlich sagen – wird das im Falle von Phöbe und Veit.57 Prudens Auslegung des Namens Phöbe lässt ihn vom bloßen Namen zur Bedeutung im Hinblick auf die Figur avancieren bis zur Handlungsanweisung:58 in christlich-biblischer Auffassung hat die Botin des Paulusbriefes Hilfe geleistet und nun selbst Hilfe nötig.59 Phöbe wird zugleich wie ihre christenheidnische Namensschwester zur Diakonissin stilisiert, die den ungeheuren Gang zum typhusverseuchten Haus unternimmt.60 Dieser Figurentypus scheint zunächst mit der hellenisch-mythologischen Vorstellung Veits zu konkurrieren, in der er Phöbe als Mondsichel anruft. Doch die Betonung der hellenischen Konnotationen erhellt mehrere Phänomene: sie markiert Phöbes Status als Passagenfigur nicht zuletzt an dieser Namensschwelle zwischen Mythologie und Christentum, die die Forschungsliteratur oft zu Gunsten einer christlich-pietistischen Lesart Phöbes gewertet hat. Phöbe (oder Phoibe) ist nicht nur der Name einer Titanin, sondern vor allem der »[p]oetische Name« der jungfräulichen Göttin Artemis und der römischen Diana.61 Diana ist die göttlich-›glänzende‹ Jägerin und stählerne Jungfrau, auch Mondgöttin, deren Kult vor allem in Sizilien gepflegt wurde (wie auch Sizilien der Zufluchtsort Veits am Ende der Erzählung ist).62 Artemis ist die Jägerin63 und reine Schwester, die mit Apollo ein anderes Geschwisterpaar evoziert, deren
57 Bezeichnenderweise trug die Figur Phöbe in der Erstfassung Raabes den Namen ›Marie‹ (vgl. Anm. 25), doch war dies zusammen mit den Attributen des Erzählers (zum Beispiel »lutherische Nonne«, S. 274) und der Figuren (»geistige Pfarrmutter«, S. 221, »Begine«, S. 280, usw.) womöglich zu »plakativ, vielleicht im Hinblick auf das diakonische Engagement Phöbes zu unspezifisch« (H. Detering: Theodizee und Erzählverfahren, S. 110, Anm. 42). 58 Vgl. dazu ebd., S. 110. 59 Röm 16,1-2. 60 »Phoebe […] heißt Dienerin der Gemeinde in Kenchreä (gr. diákonos); falls das Wort schon eine offizielle Amtsbezeichnung war (Diakonisse), würde hier der erste Beleg für die Existenz eines weiblichen Amtes in der Kirche vorliegen.« (»Phoebe«, in: Biblisch-historisches Handwörterbuch, Bd. 3, S. 1463.) 61 Vgl. den Eintrag »Phoibe«, in: Der Neue Pauly. 62 Der kleine Pauly, S. 795. 63 Als Göttin der Jagd und Herrin der Tiere schützt Artemis auch den guten Jäger (Hom. Il. 5,51), wie es auch Phöbe im Falle des Jägers (bzw. des Wilddiebs) Fuchs tut.
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beider bezeichnende Prädikate ›rein‹ und ›heilig‹ lauten,64 doch im Falle von Artemis »nicht ohne erotische Spannungen«65. Eine gewisse Analogie zur Romanfigur Phöbe lässt sich deutlich erkennen, denn Phöbe haftet eine wiederholt vom Erzähler, aber auch der Figurenrede festgehaltene reine, jungfräuliche Aura an,66 die ihre Relationen allesamt als ›schwesterliche‹ prägen;67 und dennoch scheint ihre Verstörung über Veits Einbruch in ihre Welt über geschwisterliche Gefühle hinauszugehen; ihr mehrmaliges »Erschrecken« als »archaischste Instinktreaktion« auf den Einbruch des ganz Anderen (in der
64 Über das Geschwisterpaar Apollon und Artemis schreibt W.F. Otto: »Beide sind ausgezeichnet durch das Prädikat der Reinheit und Heiligkeit. Artemis ist von allen himmlischen Gottheiten die einzige, die bei Homer das Beiwort agne erhält, das rein und heilig zugleich bedeutet. Dem Apollon geben Aschylus und Pindar dasselbe Prädikat. So hat man im Altertum auch den berühmten Namen Phoibos verstanden, der schon bei Homer nicht nur in Verbindung mit Apollon, sondern auch allein für sich den Gott bezeichnet. Beide halten sich in geheimnisvoller Unnahbarkeit und Ferne, auch wenn sie nicht im eigentlichen Sinne entrückt sind, so wie es von Apollon in Delphi heißt, daß er in den Wintermonaten in dem fabelhaften Lande der Hyperboreer weile, bei dem heiligen Volk, das weder Krankheit noch Alter kennt. Auch von Artemis sagte man, daß sie zu Zeiten in die Ferne entschwinde.« (W.F. Otto: Theophania, S. 93). 65 Vgl. Der Neue Pauly. 66 Nur zu Beginn ist von »eine junge Frau, oder was es war« (S. 183), was sich auf den Status als »Frau oder […] Fräulein« (S. 184) bezieht, und »das junge Weib« (S. 185) die Rede, bis der Erzähler richtigstellt, dass es sich um »die junge Schwester – nicht Frau – des Pfarrherrn« (S. 186) handelt, ansonsten überwiegen Bezeichnungen wie junges/liebes/kleines Mädchen (S. 195, 202, 206, 250, 324), »[…]nonnenhaft« (S. 231), »junge[…] Schulschwester« (S. 261), »die junge lutherische Nonne« (S. 274), »Gestalt im grauen, nonnenhaften Kleide« (S. 296), »Mädchen aus Halah« (S. 312), »das Kind« (S. 324) usw. 67 Am deutlichsten tritt die ›Schwesterlichkeit‹ Phöbes im abschließenden Brief Veits an Prudens zum Vorschein: Vgl. »Deine[…] und – meine[…] Schwester« (S. 332), die Grablampeninschrift, die Veit als brüderlich Anverlobten Phöbes kennzeichnet, sowie Valeries wiedergegebene Rede (S. 334), »unsere[…] liebe[…] Schwester Phöbe« (S. 334), »unsere[…] Schwester« (S. 335); aber auch der Erzähler spricht von der »Schwester aus Halah«, S. 257.
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Person Veits) wird jedoch von zunehmender Vertrautheit abgelöst, um am Ende in ambivalenter Suspension zu verbleiben.68 Doch vor allem ist Artemis die »Göttin der Übergänge« und die »Göttin der Passagen zw[ischen] den Extremen von Wildheit und Kultur«.69 So stilisiert Veit Phöbe nicht nur im Leben zur Schwellenfigur, sondern auch im Übergang in den Tod bzw. im Tode; infiziert von Phöbes Vermittlungstätigkeit, schließt er sich im gemeinsamen Grabkauf gleich mit ein, denn »[k]aum etwas ist so gut übertragbar wie die Botenfunktion des Übertragens«.70 Als Schutzwälle der Anna würden Veit und Phöbe auch im Tode eine Grenze zwischen ihr und der Dorfgemeinschaft bilden, doch wird mit dieser Überlegung übergegangen, dass sie auch Figuren der Berührung (wie im Fall der ›Falte‹) darstellen. Bei aller idealisierten Neutralität kann bei dieser Überbrückung keine Immunität gewährleistet werden; Trennung und Verbindung sind in dieser Grenz(wall)lage unweigerlich miteinander verbunden.71 Und so wie der Göttin Artemis die Ambivalenz zwischen Retterin72 und Todesgöttin73 innewohnt, könnte auch Phöbe über Immunität gegenüber dem Typhus verfügen, aber Veit dennoch angesteckt haben. Die Gefahr der Kontamination, die aber immer schon latent gegeben ist, soll nun noch als letzter Punkt angesprochen werden.74
68 Vgl. A. Dufourmantelle: Einladung, S. 117: »Eine neue Vertrautheit tritt an die Stelle des Erschreckens, das der Einbruch des ›ganz Anderen‹ in uns ausgelöst hatte« als »archaischste Instinktreaktion«. 69 Vgl. »Artemis«, in: Der Neue Pauly. 70 Vgl. S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 121. 71 Vgl. ebd., S. 111: »Der Bote überbrückt Abstände, aber er beseitigt sie nicht. Vermittlung und Trennung greifen in der Botenfigur ineinander.« 72 Im privaten Bereich war Artemis vor allem Nothelferin, vgl. Der Neue Pauly. 73 »Wie Apollon trägt sie den Bogen, mit dem sie nicht nur jagt, sondern Frauen jeden Alters unerwartet tötet: Neben der sichtbaren Krankheit steht A[rtemis’] unsichtbares Geschoß als denkbare Todesursache (Od. 11,172; 15,410). Hera, die Beschützerin der Ehefrauen, nennt sie ›Löwin der Frauen‹ (Il. 21,483f.). Die Männer tötet Apollon (Il. 24,606; Od. 15,410), außer jenen, die sich A. persönlich zur Feindin gemacht haben, wie z.B. Orion, Aktaios, Oineus (Il. 9,533-40) oder später alle Ungerechten (Kall. h. 3,122-4).« Vgl. Der Neue Pauly. 74 Verfolgt man die Spur mythologisch-intertextueller Verweise noch einen Schritt wieter, so fällt nicht nur die Nähe zu Phöbe-Artemis auf; die Hadeshochzeit verweist auf eine weitere Verknüpfung: In einer Verkehrung der Rollen stilisiert sich Veit – mit Hilfe des Erzählers – unausgesprochen zum »Adonis« des Romans, und Phöbe als »Persephoneia«, wie er sie in seinem Brief anruft. (Zum Adonismythos vgl. das Lexi-
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Infektionsgefahr Wenn im Folgenden von der Ansteckung die Rede ist, so nicht zuletzt in der Auffassung einer Bedrohung des Eigenen durch das Fremde, »welches in das Innerste eindringt und das Eigene entfremdet, transformiert und korrumpiert«.75 Als Schutzmechanismus kann die Abwehr durch Exklusion dienen, die aber niemals vollständig erreicht werden kann, wenn das Gesetz des Parasitären dem
kon der Antike, S. 77: »Die ursprüngl. Trennung in Winter- und Sommerhalbjahr wird im Mythos damit erklärt, daß Persephone und Aphrodite sich den jugendlich schönen A. teilen, der 6 Monate in der Unterwelt und 6 Monate auf Erden weilen darf.« Zur Beschreibung Veits als »Adonis« vgl. BA 16, S. 183, zu Valerie als Aphrodite, »schönste […] und geistreichste […] Bekannte« S. 259, welche mit ihrer Antagonistin Persephone in der Begegnungszone zwischen den Toten und den Lebenden, auf dem Friedhof, »über [Veit] verhandelten«, S. 276.) Phöbe fiele in dieser Lesart zugleich die Rolle einer todbringenden Unterweltsherrscherin zu, die Anspruch auf Veit in der einen Hälfte der Zeit erhebt (im mythologischen Kontext beträgt der jeweilige Zeitraum bekanntlich eine Jahreshälfte, in Raabes Anlage scheint es sich eher um die Zeit des irdischen Lebens und des Todes zu handeln). Denn was Phöbe als Herrscherin des Schattenreichs schon in der ersten Begegnung mit Veit vorausgeht, ist, wie Lensing bereits festhält, ihr »Schatten« (Lensing: »Naturalismus, Religion und Sexualität«, S. 163). Hier wird eine von zahlreichen Stellvertretungen des Textes – die zugleich auch Wiederholungen, aber in Variationen darstellen – durch den ansonsten sehr zurückhaltenden Erzähler insinuiert, welche den mythologischen Hypotext noch einmal stärken: Phöbe und Valerie scheinen sich mehrfach zu substituieren bzw. sind durch zahlreiche Analogien gekennzeichnet; so gibt es für jede der beiden weiblichen Figuren eine Handreichungsszene mit Veit, die jeweils einen Anspruch markieren, wobei vor allem Valerie aktiv die Verbindung zu suchen scheint; zweitens soll Phöbe zwar die zukünftig neben Veits Leichnam liegende Tote im Grab sein, doch es ist Valerie, die, als sie von diesem seltsamen Begräbnishandel hört, erstarrt und »bewegungslos« wird, sich somit gewissermaßen tot und damit an Phöbes vereinbarte Stelle stellt (S. 260). Gemäß Erzählerrede scheint es schließlich bei der Begegnung der beiden weiblichen Figuren, »als seien die Rollen […] zwischen den beiden ausgetauscht« (S. 274). Die beiden weiblichen Figuren werden in die Nähe von Gastgeberinnen bzw. Vertreterinnen unterschiedlicher Welten gerückt, zwischen denen der »Adonis« des Romans zirkuliert; mit dem irdischen, vorübergehenden Aufenthalt bei Valerie, der Flucht aus Phöbes »Nebelheim-Schatten« (S. 331), substituiert er sich bei seiner »Persephoneia« (S. 334) durch die Grablampe. 75 M. Schaub/N. Suthor: Einleitung, S. 12.
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Gesetz immer schon inne wohnt.76 So kann es sich nur um den Versuch der Immunisierung handeln, um einer Kontamination durch den Gast oder das Fremde vorzubeugen.77 Doch auch Immunisierung setzt den Kontakt mit dem Erreger voraus, wenn auch in kontrollierter Form. Der immunisierende Angriff ruft eine Gegenreaktion hervor, in deren Verlauf das Fremde dem Eigenen einverleibt wird und in der Verarbeitung dieser Übertragung (oder Tradition) produktiv etwas Neues darstellt. Zugleich dient die Schutzimpfung dazu, den Erreger »heimisch« werden zu lassen, »so dass der gattungsmäßige Spalt zwischen infiziertem und nichtinfiziertem Organismus sich schließt, die pathogene Unterscheidbarkeit zwischen beiden nicht mehr möglich ist und damit eine Übertragung ausgeschlossen wird«.78 (Führt der Versuch, sich das scheinbar Fremde buchstäblich vom Leib zu halten, nicht bereits zur vollkommenen Infiltration?) Der Roman spricht unterschiedliche Kontaminationsfiguren an, die sich vor allem in den beiden Protagonisten Veit und Phöbe manifestieren; so dient ihr gegenseitiges Verhältnis zur Darstellung der Unruhe des Säkulums, der ›Ungleichzeitigkeit‹ zwischen Dorf und Stadt (um eine der offensichtlichsten Oppositionen zu nennen), die der Untertitel des Romans suggeriert und die zur allegorischen Lektüre anregt;79 Phöbe agiert wiederum als Passagenfigur, denn sie scheint zu vermitteln, obschon die dörfliche Gemeinschaft bereits vor dem Eintreffen des Gastes brüchig ist.80 Die Doppeldeutigkeit der textuellen
76 Vgl. J. Derrida: Das Gesetz der Gattung, S. 252. 77 Zur Immunität und besonders zu ihrem Verhältnis zum Recht vgl. R. Esposito: Immunitas, Kap. I. 78 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 143. 79 Die Unruhe des Säkulums – die unruhigen Gäste als Erdenbewohner werden explizit allegorisiert – wird in der ›Ungleichzeitigkeit‹ (oder, topologisch, als Eindringen der Stadt in das Land) dargestellt; aber auch auf dem Land findet sich beispielsweise kein intakter religiöser Kult mehr, und der mondäne Kurort hat bereits den Fuß des Bergdorfes erreicht, von woher vereinzelte Figuren (Fräulein Lili und ihre Begleitung zu Beginn, Valerie später im Roman, allen voran natürlich Veit, aber selbst der zwischen Kurort und Dorf pendelnde Dr. Hauff) immer wieder in die – ironisch zu verstehende – Dorf-›Idylle‹ vordringen. Der »Frieden dieses Kirchen- und Fliederschattens« im Gegensatz zu »[s]einer [Veits] Welt« (S. 188) wird spätestens mit dem Eintreffen des Gemeindepräsidenten als Illusion entlarvt. 80 Oder, in einer anderen Lesart, selbst als ›Mythos‹ entlarvt wird – z.B. durch das kommunistische Gedankengut Spörenwagens, die Aussiedlung der Familie Fuchs oder den nicht akzeptierten Pfarrer.
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Infizierungen tritt bereits zu Tage, wenn Veit sich von ›seiner Welt- oder Zeitlichkeit‹ löst81 und sich Phöbe in ›brüderlicher‹ Weise anschließt. Der Text lässt anfänglich offen, wie weit der Tourist, den die »Neugier« auf Reisen getrieben hat, sich von der Betroffenheit infizieren lässt, wie weit er zur Gemeinschaft beitragen will, in der sein Jugendfreund Prudens gescheitert ist, den er aber in diesem Akt der Einmischung bereits supplementiert; beim Überschreiten der »unheimlichen Schwelle« von Fuchs’ Hütte scheint die ›seelische Infektion‹ Veits bereits vollzogen.82 Er will nicht außenstehender Tourist bleiben, der die Kuriosität des Vorfalls als unterhaltsames apperçu zu würdigen weiß, sondern die Entwicklung der Geschichte beeinflussen bzw. ›mitschreiben‹. Das Dorf wird (noch ein letztes Mal?) durch die Vermittlung der »lutherische[n] Nonne« und des Gastes83 zusammengehalten. Veits Eindringen in das Dorf wird auch als Einbruch der Rationalität, des Säkulums, präsentiert, doch bringt er zugleich die Ordnung des Dorfes durcheinander, indem er unerwartete Verbindungen bzw. Verbindlichkeiten schafft, wie beispielsweise die Gräber als natürlich-genealogische Familienruhestätten zu unterwandern und somit in ›wahlverwandtschaftliche‹ umzuwandeln. Und doch wird Veit gerade durch eine vermeintlich außenstehende Position als ›Dritter‹ zur Hilfe, Vermittlung aufgefordert, in deren Folge er sich, wie sein Namenspatron der Hl. Vitus, als Nothelfer gegen den ›Veitstanz‹ von Fuchs anbietet (wenn man dessen Aufbegehren gegen die dörflichen Gesetze so nennen kann), vielleicht in der Erwartung, dass er als Außenstehender immun sei gegen die Beunruhigung, ob diese sich nun in Form des gesetzwidrigen Verhaltens Fuchs’ oder in der Erkrankung dessen Frau finde. Dabei wird übergangen, dass der Immunität die Aussetzung vorausgeht; dem sozialen Gesetzesbruch Fuchs’ kann Veit seine juristisch geschulte Rhetorik gegenübersetzen,84 doch das Nichtmentale, Körperliche vermag auch er nicht zu kontrollieren. Vielleicht steckt dahinter die Hoffnung oder der Anspruch, unversehrbar zu sein, wie es sich in
81 Veit hat keine Familie mehr und bietet sich in dem Akt der Begleitung als Phöbes ›Bruder‹ an, vgl. BA 16, S. 232. 82 »[…] der Gastfreund trat ihr nach, nun doch mit dem Herzen in der Kehle, nicht aus Scheu vor dem Schrecken da drinnen, nicht aus Besorgnis um das eigene Dasein, sondern in Ehrfurcht und aus Freude. Aus stolzer menschlicher Freude an dem selbstlosen, unbewußten Heldenmut, der ihm hier den Weg zeigte.« Ebd., S. 235. 83 Veit als Tourist gemahnt beinahe schon an Maxim Gorkis Sommergäste, aber im Gegensatz zu diesen macht Veit sich nützlich (und seine Beziehung verschiebt sich von Prudens zu Phöbe). Vgl. H.-D. Bahr: Die Sprache des Gastes, S. 56. 84 Vgl. BA 16, S. 232.
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archaischen Gesellschaften für den Gast gehörte, dessen Gastgeber für die Unversehrbarkeit zu sorgen bzw. zu bürgen hatte, oder immun zu werden. Auch Phöbe hat die Kranke schließlich gepflegt, ohne selbst Symptome zu entwickeln.85 Veit steckt sich folglich mit der Krankheit an, die auszumerzen er sich gewissermaßen zur Aufgabe gemacht hatte: durch die erhoffte Immunisierung sollte das Beunruhigende (hier in der Form des Typhus) gefestigt werden. In der Absicht, der an Typhus verstorbenen Anna einen bestimmten Platz zu geben, ohne der Verbreitung der Erreger Vorschub zu leisten, anerbietet Veit sich selbst als Pharmakon – als ›Geschenk‹, das die Verbreitung ›leibhaftig‹ aufhält, das zum ›Gift‹ wird, dem er selbst erliegt.86 Doch das Parasitäre nistet sich im Versuch seines Ausschlusses auf besonders perfide Weise ein: Denn die Funktion einer Passage, Schwelle oder Grenze zwischen zwei Entitäten, Organismen usw. ist eine doppelte: zu trennen und zu verbinden; sie setzt also die Berührung des zu Trennenden voraus. Ansteckung (Kontamination) bedeutet nichts anderes, als dass ein Zustand durch Berührung (Kontakt) von einem Ort an einen anderen übergeht. Der räumliche Kontakt ist hier »auch ein Gegenentwurf zu mentalistischen oder rationalistischen, also zu ›entkörpernden‹ Konzepten der Erklärung von Beeinflussung«.87 Dort, wo die Grenze definiert wird – und dies betrifft v.a. die Figur Veits, der den Vorschlag erbringt –, wird das Auszuschließende erst geschaffen. Durch die vermeintlich trennenden Gräber wird dereinst auch Berührung zustande kommen, womit Anna nicht als von der Dorfgemeinschaft getrennt, sondern gleichermaßen als mit ihr verbunden betrachtet werden kann.
85 Bei Phöbe, die als mögliche (latente) Erregerträgerin in Frage kommt, die Veit ansteckt, ist somit eher eine Immunisierung zu vermuten. 86 Vgl. »Pharmakon«, Brockhaus Enzyklopädie Online, 11. Juni 2010. – Der Gabencharakter, der hier schon fast Opfercharakter hat, wird auch durch den Wunsch Valeries unterstrichen: Sie wünscht sich einen »frischen Luftzug«, unterstellt dann Veit, einen »Hauch« als »Mitbringsel« von seiner Reise zurückbringen zu wollen, den er in Form des Typhus (gr. typhos: Rauch, Dampf, Dünkel) buchstäblich mitbringt, BA 16, S. 254. 87 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 158.
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III. Grundidee dieser kleinen Textanalyse war, das Verhältnis von Institution und Ereignis am Beispiel dreier Figuren der Ambivalenz bzw. Kontaminationsfiguren in Raabes »Unruhige Gäste« zu untersuchen. Im Vordergrund stand die These, dass die tote Anna Fuchs ein Moment der Fremdheit verkörpert, das durch einen anderen Fremden, Außenstehenden, einen Dritten – Veit von Bielow – beruhigt und durch die von ihm verkörperte Rationalität reintegriert werden soll. Die Bannung der Fremdheit wird dabei durch den Rückgriff auf die Institution, in Bezug zum Dritten, zur Wiederkehr des Gesetzes, versucht. Das Gesetz fungiert als Neutralisator des Befremdenden; mit der gesetzmäßigen Bestattung Annas könnte das Dorf seine Ordnung wiedererlangen. Zugleich aber bringt Veit als Gast selbst ein Moment der Beunruhigung mit; die im Augenblick seines unkonventionellen Lösungsvorschlags eingegangene Bindung mit der anderen Passagenfigur, Phöbe, verlangt ebenfalls nach der Beglaubigung durch den Dritten, der diesmal durch die Tote repräsentiert wird (man erinnere sich, dass Phöbe ihr und nicht Veit die Hand reicht – buchstäblich ›nach dem Gesetz‹ – in Form des Dritten, des Zeugen greift). Dieses Versprechen – dessen schwierigen Status als Gabe zwischen Veit und Phöbe ich zu zeigen versucht habe, das sich aber zugleich als für die ganze Gemeinschaft gegebenes gibt – nimmt Bezug auf die Zukunft, und soll in Abwendung von dem Beunruhigenden und Unvorhersehbaren, in Zuwendung zum Gesetz und zur Institution, Rettung bringen. Auch hier wird der Umweg über den Dritten genommen, das Versprechen – das durch die Dritten, die Zeugen, zum Vertrag, zum Gesetz stilisiert wird – verspricht selbst die Neutralisierung der Verstörung. Indem Veit sich selbst als Grenze bzw. Trennlinie instituiert, kommt auch die dem Gesetz eingeschriebene Kontamination zum Vorschein: im Moment des Versprechens geschieht auch die Ansteckung, welche zur Folge hat, dass Veit nicht mehr trennt, sondern auch verbindet; er wird selbst zum Gastgeber des Parasiten, des Typhuserregers (allegorische Lesart erlaubt)88 – eine schöne Figur für die Unbedingtheit der Gastfreundschaft, die sich ohne Gesetz und Restriktion versteht. Doch welche textuellen Grenzen werden etabliert und inwiefern werden sie kontaminiert? Am deutlichsten lässt sich das am Verhältnis von säkularem ›Zeit-
88 Dass die disjunktiven Codes der Ausschließungssysteme im Roman durch narrative Strategien, insbesondere Tempuswechsel der entsprechenden Szenen, durchbrochen bzw. unterlaufen werden, hat J. Pfeiffer für die Allegorie der Landschaften festgestellt. Vgl. J. Pfeiffer: Wahnsinn, Typhus, Tod.
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geist‹ und mythologischen Intertexten aufzeigen. Auf die zahlreichen mythologischen Hypotexte des Romans wurde bereits verwiesen, d.h. auf eine ›Kontamination‹ durch Raabes intertextuelles Verfahren. Intertextualität an sich ist aber nicht ausreichend, um hier als besonderes Merkmal zu dienen; vielmehr fällt sie hier auf, weil sie erstens durch Texte erfolgt, die in der ›Bürgerzeit‹ besonders in der Kritik stehen, da sie eine Abweichung vom ›Wirklichen‹ des Realismus darstellen, und dies zweitens in der ›modernsten‹ bzw. der Realismusprogrammatik am stärksten unterworfenen Gattung, dem Roman,89 der Fall ist – in »Unruhige Gäste« ist dieser Umstand von besonderer Prägnanz, da es sich um den einzigen Raabe-Text mit dieser expliziten Gattungszuschreibung handelt. Dabei dient dieses Verfahren einer Erweiterung des Repertoires, der Assoziationen bzw. um Stimmen als Mehr- oder Vielstimmigkeit, die sich gegenüber den ihnen auferlegten Grenzen bzw. Gesetzen subversiv verhalten. Der Text fungiert durch das ›gastliche‹ – bzw. mit Miller gesprochen ›parasitäre‹ – Verhältnis zu Intertexten selbst nicht als Bestätigung – weder seiner Gattung noch seiner ›Zeit‹, wie der Untertitel angibt, sondern vielmehr als Infragestellung und Beunruhigung des (scheinbar) Feststehenden. Ohnehin werden Brüche mit Genrekonventionen mehrfach inszeniert; so verspricht beispielsweise die geschilderte Landschaft wiederholt vermittels des Erzählers, aber auch der Figuren eine Idylle.90 Verstärkt wird diese Deutung durch Anspielungen auf antike und neuzeitliche Hirtendichtung;91 doch die schönste Sonnenscheinromantik, eine Szene, die zugleich mit erotischen Motiven spielt, anerbietet sich letztlich, wie ich zu zeigen versuchte, als Ansteckungsszene.92 Auch der vieldiskutierte offene Schluss des Romans ist nur die konsequente Weiterführung dieses Programms; die bis zum letzten Moment vom Herausgeber der Gartenlaube gewünschte Eindeutigkeit – »mit einem einzigen Sätzchen die Dissonanz am Schluß des Romans lösen«93 – hat Raabe konsequent abgelehnt; nicht nur die zeitgenössischen Leser fühlten sich am Ende im Stich gelassen,94 es scheint, dass es auch in der Forschung manchem so ergangen sei, und der durch Motive angedeutete nahende Tod Veits als eindeutig vorweggenommen wurde.
89 Vgl. R. Böschenstein: Mythologie zur Bürgerzeit, S. 8-10. 90 BA 16, S. 198, 254. 91 Ebd., S. 281. 92 Ebd., S. 233ff. 93 Ebd., S. 548. 94 »[D]ie große Mehrzahl hat Sie gegen den Schluß nicht mehr verstanden und klagt darüber«, ebd., S. 549.
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Dass »Unruhige Gäste« indes keine bloß motivische Fingerübung ist, sondern einen zeitdiagnostischen Anspruch hat, belegt der Untertitel des Romans.95 Einen Roman über das Säkulum hat Raabe geschrieben, einen Roman über jenes lange, neunzehnte Jahrhundert, in der die verschiedenen Modernisierungsschübe immer wieder Anlass zu Faszination wie für Schrecken waren, zur Anziehung wie zur Immunisierung. Raabe hat jedoch auch, wie der Untertitel nahelegt, einen Roman aus dem Säkulum geschrieben. Die Grenze zwischen Säkularem und Religiösem wird – so könnte man den Titel verstehen – erst von der Position des Säkularen und aus ihr heraus gezogen. Wer das Fremde, Mysteriöse oder Numinose hineinbittet, tut das in der Moderne immer schon unter säkularen Bedingungen. Gleichwohl ist es eben jene eindeutige Verankerung in einem säkularen Diesseits, das sich gegen das Vormoderne so scheinbar erfolgreich immunisierte, die in dem Roman immer wieder unterlaufen wird (auf der Handlungsebene des Romans dadurch illustriert, dass Veit als Verkörperung der Zeitlichkeit angesteckt wird). Das Archaische kontaminiert die rationalen Grenzziehungen immer wieder und drängt sich als ungebetener Gast auf (als Parasit, hier als Salmonellentyp bzw. Erreger des Typhus); ebenso stellen sich im Herzen des Realen immer wieder unwirkliche, surreale oder phantastische Ereignisse ein (durch die mythologischen Hypotexte, insbesondere aber durch die mythologische ›Hadeshochzeit‹)96. Dass die Literatur stets zwischen Institution und Ereignis schwankt, zwischen Affirmation und Beunruhigung des Vertrauten, das hat wohl kein literarischer Stil so sehr ins Zentrum gerückt wie der poetische Realismus.
95 Bei genauer Betrachtung geht es bei Raabe nicht um das eine Säkulum, wie der Untertitel des Romans suggeriert, sondern um einen Zeitriß innerhalb des Säkulums – das Säkulum wird nicht umfasst, sondern vielmehr durchbrochen; dargestellt wird eine ›Ungleichzeitigkeit‹ (vgl. Anm. 72). Es wird nicht »das Säkulum« porträtiert, sondern mehrere Säkula. Neben dem Untertitel und den Intertexten wird dies an der Figur Phöbes am deutlichsten: Ihre Vermittlungstätigkeit wurde bereits aufgezeigt, doch ist auch sie eine Zeitfigur (und nicht nur Veit, dem der Erzähler wiederholt Zeitlichkeit attribuiert): An der Figur Phöbes manifestiert sich das Hineinragen in eine andere Zeit, d.h. sie ist auch in diesem Sinne als Passagenfigur zu verstehen, indem sie als Diakonisse, Begine, lutherische Nonne, mythologisch inspirierte Vermittlerin (Artemis), aber auch als Todesbotin über ihre Verbindung zu Persephone auftritt. 96 Die umso mehr an Bedeutung gewinnen, als sie hier unmarkiert, als Anspielungen erscheinen, und nicht, wie bei Raabe überwiegend, als »offene Zitat[e]«, deren »Überdeutlichkeit […] die Relevanz des Ausgesagten [entschärft]«, vgl. R. Böschenstein: Mythologie zur Bürgerzeit, S. 21.
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Science/Fiction: Institutions of Knowledge in Thomas Pynchon’s Mason & Dixon G ÁBOR T AMÁS M OLNÁR »There’s a word in Italian. Dietrologia. It means the science of what is behind something. A suspicious event. The science of what is behind an event.« »I’m an American. I go to ball games,« he said. »The science of dark forces. Evidently they feel this science is legitimate enough to require a name.« »People who need this science, I would make an effort to tell them we have real sciences, hard sciences, we don’t need imaginary ones.« DON DELILLO: UNDERWORLD »Die Merkmale der Klarheit und Deutlichkeit, die Descartes der Evidenz zuspricht, sind nur unter der metaphysischen Bedingung, die aus seinem Zweifelsversuch resultiert, systematisch zu plazieren; sonst – so ist mit Recht bemerkt worden – sind sie ebenso gut die Merkmale des in der Paranoia Gegebenen« HANS BLUMENBERG: WIRKLICHKEITSBEGRIFF UND MÖGLICHKEIT DES ROMANS
The primary aim of my article is to investigate the curious relationship between scientific and literary discourse in Thomas Pynchon’s Mason & Dixon, his 1997
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novel set in the second half of the eighteenth century. In other words, I will discuss the interrelatedness of separate yet connected institutions. Pynchon’s novels have often been read and analyzed for their critical representation of institutions – political, scientific and other. It is a well known fact that the author’s training in the technical sciences and his tireless research of primary sources has allowed him to provide more detailed and more creditable criticism of the institutions of modern scientific technology than most literary authors can dream of. The question of his attitude towards institutions of literature, however, has been asked less frequently. One of his most original critics has been Friedrich Kittler; working somewhat outside the established institutions of literary criticism, he has argued that reading Pynchon as »the literary experts« do, ignoring »the scope and exactitude of the research« Gravity’s Rainbow incorporates, »masks a level of information« in the book, and makes the work »as harmless […] as a narrative novel.«1 And this is of course exactly how »They« would want us to read it. Kittler’s analysis highlights, on the one hand, the necessity of taking Pynchon’s scientific and historical research seriously (his snide remarks about »literary experts« seems to neglect the fact that many critics have indeed done so) and on the other, the need to critically investigate the capacity of literary discourse to offer an earnest criticism of scientific theories. To ask this question is to evoke an incredibly rich tradition of arguments concerning the »seriousness« of literature which goes back to Plato and the popular Renaissance genre of the defensio. One of the best known, relatively recent developments of this tradition has been the debate surrounding John Austin’s description of »parasitic utterances« as it relates to theatrical performances and literary works, where utterances may be quoted or imitated in a »non-serious« manner. Jacques Derrida’s famous critique of a purportedly systematic speech act theory has demonstrated, among other things, that the citational quality (or iterability) of such utterances cannot be confined to the stage or to literature; it in fact it permeates all forms of discourse and, in a sense, is a condition of possibility of »serious« speech acts as well.2 This criticism, while it can serve as a basis of a modern »defense of poetry« against a unilaterally science-minded attitude, does not in itself explain (nor is it Derrida’s intention to explain) how a literary work can ever offer an interpretation of the world that may compete with scientific theories – even in the limited sense of pointing out the shortcomings of scientific theories or scientific institutions that science itself must remain blind to.
1
F. Kittler: Media and Drugs, pp.106-107.
2
See J. Derrida: Signature, pp. 325-326.
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In my reading, I will attempt to demonstrate that Pynchon’s novel may be regarded as an answer to this question. This means that the novel must challenge certain attitudes of what »literature« is and how it relates to more »serious« forms of discourse such as science and historiography. To risk stating the obvious, Mason & Dixon belongs to the genre of »historiographic metafiction,«3 and it uses certain narrative devices familiar to readers of that genre (frame tales, multiple and unreliable narrators, interpolated narratives, anachronisms, etc.),4 some of which will feature prominently in this reading. The originality of the work is to be found in the poignancy of these devices vis-à-vis the main historical themes of the novel. In one of the most theoretically sound analyses of Mason & Dixon, Cindy L. Burns draws attention to the »parallactic« nature of the narrative,5 meaning that Pynchon – taking his cue from an astronomical procedure described within the novel – carefully layers eighteenth- and late twentieth-century themes on top of each other, constantly measuring the distance but also the proximity of the two temporal frameworks. For this paper, one of the most important themes of this type is the very institution of the modern novel, famously described by Ian Watt as »rising« in the eighteenth century.6 The fact that the novel is an emergent, not yet established form of discourse in the period is also ironically stressed in the novel itself, as will be discussed later in more detail. This self-conscious irony is tied into the parallactic narrative strategy, modifying it to an extent, as the irony reveals historical differences concerning problems such as fictionality and the authority of literature. These differences accentuate the founding anachronism of the novel, the attempt to provide a novelistic account of a primarily scientific venture. The two temporal layers (the second half of the eighteenth century and the end of the twentieth) thus juxtaposed may be said to represent a prenovelistic (or pre-literary) and a post-novelistic (or post-literary) stage, and they envelope the great age of literary representation in Western thought. Michel Foucault claimed that the modern concept of literature was invented to compensate for the nineteenth-century reification of language in philology,7 whereas Pynchon’s account suggests a correlation between the emergence of an
3
See for example, F.C. Rodríguez: Mason & Dixon and E.J.W. Hinds: Introduction,
4
Ch. Clerk: Mason & Dixon & Pynchon, pp. 87-124.
p. 18. 5
See M. Huehls: The Space, p. 25.
6
I. Watt: The Rise of the Novel; for relatively recent criticism see W.B. Warner:
7
M. Foucault: The Order, pp. 48-49, 326-327.
Licensing Entertainmant, pp. 1-45, esp. pp. 31-32.
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autonomous literary discourse and the growing acceptance of a scientificobjectivistic view of the world that purges alternative interpretations and thus marginalizes creative imagination. The relative autonomy of literature, and the license of polysemy is the price to pay for the loss of »seriousness« in terms of epistemological value.8 I would argue that Pynchon’s work is an attempt to assess the degree of authority that imaginative discourse may (re)gain with regard to the natural sciences, without losing sight of the paradoxes that such an attempt entails. Pynchon’s work points to the historicity of concepts such as the novel, literature, and also fictionality, stressing the institutional character of literature itself. This means that while scientific and techno-political institutions (from the Royal Society through the East India Company to the USA) bear the brunt of his critique, such criticism can never arrive from the outside (of institutions). The question – and this is a real question given the well-known anti-establishmentism of the author – is whether the logic of institutionality may be transcended or at least damaged by going from science and technology to literature and the arts. One of the main questions the novel poses is what happens when theoretical authority is replaced by narrative authority,9 and how this switch affects the capacity to critique established institutions. If literature is considered an institution, then authority and institutional power are never fully removed – several direct addresses to the reader underscore this even in Gravity’s Rainbow, flaunting the reader’s helplessness against the authority of the narrator. It is not entirely clear, however, what is meant by the institutional character of literature. Taking into account Peggy Kamuf’s warnings of an all-too-simple identification between literature and social institutions,10 it can be argued that the recognition of the institutional qualities of literary representation does not have
8
»Die Heimatslosigkeit der Metapher in einer durch disziplinierte Erfahrung bestimmten Welt wird am Unbehagen fassbar, dem alles begegnet, was dem Standard der auf objektive Eindeutigkeit tendierenden Sprache nicht genügt. Es sei denn, es qualizifiere sich in der entgegengesetzten Tendenz als ›ästhetisch‹. Dieses Attribut gibt die letzte, darum völlig enthemmende Lizenz für Vieldeutigkeit.« Blumenberg: Ausblick, p. 199.
9
»[Mason & Dixon is] a profoundly heterological novel, concerned with the strangeness of its own authority in a world founded upon the displacements of limits. Pynchon’s is a discourse without its own discourse because even this registration of the arbitrariness of authority resonates with the violence it finds so strange.« St. Mattesich: Lines of Flight, p. 242.
10 P. Kamuf: Catachresis, esp. pp. 9-11.
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to (and should not) lead to a reduction of literary discourse to its institutional contexts. The double-bind linking literature to social institutions makes literature, in Derrida’s sense, an institution that »tends to overflow the institution.« This draws attention to the duality that inhabits the reading I will attempt to outline here. The power of literature that allows one »to say everything, in every way«11 exemplifies an important thematic juncture in Pynchon’s work. Since fiction by definition has the power to create worlds that may be scientifically counterfactual, a fictional critique of a restrictive scientific worldview (or »reductive certainty of rational culture«12) has to contain a certain tautology – a piece of fiction asserting the potentiality of fiction at the expense of established factuality. Such a work must, by necessity, attempt to disclose its own tautological structure if the critique is to be taken at all seriously. Of course, even such a foregrounding of narrative devices will not always be accepted as a legitimate means of establishing critical authority. Science-minded scholars of the analytical tradition, insisting on the logical separation of fictional »possible worlds« from the actual world verifiable by science, often balk at the metafictional games of certain types of literature. Such self-conscious works have been accused of ruining the neat analytical distinction and either spoiling the supposedly harmless aesthetic experience of reading novels13 or confounding the rational process of employing fictional worlds as cognitive models.14 Instead of going straight into the overt metafictional devices (these have of course been analyzed previously by other critics), I will first focus on the novel’s treatment of geometry – more specifically, the emphasis on various lines. As will be seen, this is a rather obvious theme but it may have far-reaching consequences for someone interested in the cognitive ramifications of reading the novel. I will argue that the various lines featured in the narrative may be related to the operations of cognition on various levels, especially as they can be
11 Both quotations are from J. Derrida: This Strange Institution, p. 36. 12 Z. Kolbuszewska: The Poetics, p. 205. 13 L. Doležel: Heterocosmica, pp. 162-163. 14 »Flaunting the alleged narrative impotence of its own medium, postmodern fiction by and large does not stray from home (first class) in modeling terms. No wonder that shopping for cognitive ›meat‹ most readers avoid the postmodernist deli, fixated on novel ways to slice yesterday’s turkey, and turn to nobrow or popular storytellers instead.« P. Swirski: Of Literature, p. 61. Swirski’s analogy between literature and mathematics is very instructive in that it allows for the displacement of terms such as »realism« but the fact that he largely ignores the hermeneutic tradition of making sense of literary texts makes his arguments rather suspect.
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seen as hinting at different effects of figuration at work in both the reading of the novel and the cognition of the world envisioned by it. It appears that a mode of reading informed by, but not necessarily limited to, deconstructionist strategies is well suited to demonstrate how these various effects and various levels of figuration are interrelated in the novel, and serve to underscore the latter’s contribution to the debates surrounding the epistemological or cognitive »seriousness« of literary institutions. My interpretation is thus organized primarily around the metaphor of the line – a fairly easy choice since the two title characters, Mason and Dixon, are known for surveying and drawing the East-West line in the 1760’s that came to separate the states of Maryland and Pennsylvania. The line, lengthened in later years, became the symbolic boundary separating slave-holding Southern (Confederate) states from industrial Northern (Federal) ones. Even viewed strictly historically, the line thus invokes not only Enlightenment scientific discourse and the colonization of the American continent but also prefigures the American Civil War, and in a more general sense, embodies concepts of freedom and slavery, which predictably play an important role in many plot elements and dialogues. In what follows, however, I will attempt to restrict myself to theoretical observations on the importance of lines as metafigurative components of the novel; that is, figures that point to the inevitability (and untenability) of figuration itself. Such emphasis on figuration as constitutive of both the sensual and the diegetic world is inseparable from the relationship between literature and science. The primary aim of an analysis of this problem is to demonstrate, once again, the stunning complexity of Pynchon’s narrative discourse, and to point out how the conspicuous metafictional devices in the novel are connected on different narrative levels to perhaps more subtle hints at themes of profound theoretical significance. Problems of signification, cognition and perception are constantly returned to in the work, in a manner that necessitates a recursive reading – since the novel rarely allows us to forget that it is a novel, the problems of how the reader’s experience of the novelistic space-time is produced should be kept in the foreground. The fictive Mason and Dixon are closely related to the historical personages, even though their personalities are contrasted for novelistic effect. Mason is a melancholic and private personality, a career-driven and upward-looking »StarGazer« also mourning his lost wife. Dixon, on the contrary, is a land surveyor who is much more extroverted, his gaze fixed horizontally on his surroundings, a Quaker insisting on peace but also on social justice. The characterization already suggests that the novel’s thematic emphasis on lines finds its equivalences in narrative methods. The relationship between the two title characters highlights at
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least three aspects of how the reader’s experience of the novel is grounded in simple geometrical figurations. First, the narrative must establish divisions between characters for them to be recognizable. The novel further accentuates this exigency by often reversing it – such as when Mason and Dixon pose as one another in front of the surveying team, or when another important character, Captain Zhang, appears identical to his nemesis, the Jesuit Father Zarpazo. (Peripheral characters are rarely individuated in any detail.) Recognizable identity, it appears, is dependent on contradistinction, which in turn presupposes the division between the self and the other. If the recognition of personal identity depends on such distinctions, then this implies the presence of the other within the self before the establishment of a proper identity. However, when the stability of such a division is called into question, can that be taken as a promise of an identity that is as-yet-unaffected by isolation from its others?15 Second, the two characters may also be said to correspond to two of the main stylistic registers of the novel. Slapstick comedy, buffoonery, outrageous thematic and structural anomalies (or, what Joakim Sigvardson calls the »rhizomatic stratum« of the novel) may be associated with the »Dixon side« of the work, whereas Mason stands for the quiet, inward and lyrical side that Sigvardson calls the »acosmic stratum.« Sigvardson contrasts the two »strata« and, true to his phenomenological preference for immanence over transcendence, claims that the acosmic is more important in the work – also making Mason the more important character.16 The interpretation presented henceforth is indebted to Sigvardson’s attentive and theoretically consistent reading; I will nonetheless try to correct this lopsided assessment. While the inverse alphabetical order of the names in the title is telling, so is the ampersand connecting them. William Gass’s interpretation of this symbol states that if it is indeed »a slovenly corruption of ›and per se and‹« then it is used »to upset any implied balance or equality in favor of the leadoff term,« making the second term a sort of »addition« to the first one.17 This supports Sigvardson’s argument to an extent,
15 »Phenomenologically, the transcendental we is not something other than the transcendental Ego. The latter’s acts, even when they seem mandated by an ideal community, do not cease to be irreducibly those of a monadic ›I think.‹« J. Derrida: Edmund Husserl’s Origin, p. 61. 16 J. Sigvardson: Immanence, esp. p. 70. 17 W.H. Gass: »and«, p. 167. See also S. Cohen: Mason & Dixon, pp. 277-278. Cohen claims that the sign indicates the simultaneous division and connection between the characters.
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but he himself mentions the one instance in the novel when the order of the characters is almost reversed.18 While he claims that the playfulness in Pynchon’s work »thinly disguise[s] a sustained earnestness,«19 I would argue that the playful »Dixon« side of the novel relates to the earnest »Mason« side as a deconstructive critique would relate to a phenomenological theory: supplementing it from the inside, so to speak. Just as the potential nonseriousness of »iterable« utterances is a condition of possibility of felicitous speech acts, the playful paradoxes of Mason & Dixon are inevitable components of the earnest philosophical contributions of the novel. Third, the contrast between the upward gaze and the horizontal one points to the importance of intersecting lines in the novel’s world. The surveying team also has to work on several intersecting lines to measure the geographical boundary they are hired to establish. Intersecting lines form a roster that foregrounds questions concerning the divisibility of the world, of time and space. The intersection of the vertical and the horizontal also brings into play the novel’s concern with social stratification, manifested in domination, oppression and slavery. To complete the line, for example, the surveyors continue it into the territory of Ohio, and they also have to cross another boundary running along the Allegheny ridge, which, according to the 1763 Royal Proclamation, separated British colonies from those territories acquired from the French and left (for the time being) in the possession of Treaty Indians. The surveyors thus create one boundary by violating another – which indicates that division is often made possible by the erasure or the subdivision of previous divisions. The treaty line, predating the Mason-Dixon one, appears to protect a pre-colonial status quo, an apparently »pre-lapsarian«20 condition of the American wilderness and its original inhabitants. It is worth noting, however, that such a condition is only made possible by its differentiation from the colonial one. Differentiation is meant here in a spatial as well as a temporal sense, as the existence of the treaty line marks a spatial boundary of this supposedly boundless state, while the known date of the proclamation also discloses its historicity. Another example of the strange intersection of vertical and horizontal lines is found in episodes where the title characters discuss political matters with colonial Americans. In one instance, Dixon argues that the fledging claims for American independence are counterbalanced by the way Americans treat Native
18 J. Sigvardson: Immanence, p. 2n1. 19 Ibid., p. 49. 20 Z. Kolbuszewska: The Poetics, p. 205.
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Americans and black slaves (p. 568), whereby the division between freedom and subjection is made more complicated – Americans claim to be dominated but they themselves are guilty of an even greater offense. In another scene, Mason is engaged in a debate with Americans that concerns the relationship between slavery and industrial wage labor, and whether any form of continuity may be posited between them. In response to an interlocutor throwing in the term »Degrees of Slavery,« Mason says indignantly: »I have encounter’d Slavery both at the Cape of Good Hope, and in America, and ’tis shallow Sophistry, to compare it with the condition of a British Weaver.« (p. 407)
His opponent, however, contests this absolute distinction, and emphasizes the similarities between various forms of oppression. The two intersecting lines here are a (vertical) geographical division between Great Britain and North America, and a (horizontal) division between rulers and the oppressed. Mason here highlights the vertical line (separating weaver from slave) whereas his American opponent insists on the horizontal one, emphasizing the abstract similarity (here expressed in very specific terms of bodily pain) of social oppression: »You’ve had the pleasure of Dragoons in your neighborhood? They prefer rifle-butts to whips – the two hurt differently – what otherwise is the difference in the two forms of Regulation?« (ibid.)
The novel’s insistence on the intersection of lines draws attention to the parallels between the cartographic mapping of physical space and the imaginary (re)constitution of fictive worlds. The reader, in other words, is encouraged to measure the fictive world’s characteristics in a manner reminiscent of the title characters’ quest. The boundaries that have to be drawn in this way are of course not always physical even in the sense of relating to an imagined timespace, and thus the divisions enacted by the reader result in a potentially multidimensional »space« (some of whose dimensions are temporal and spatial, whereas others are psychological, ethical or political) that cannot close upon itself and that baffles the imagination. But more on this later.21 The insistence on intersecting lines draws parallels between the geographical mapping of physical space and the mental operations required to imagine a novelistic space. Such parallels between physical and mental mapping are
21 See M. Huehls: The Space, p. 44n8.
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frequently pointed out in the novel. The title characters’ venture itself requires a physical marking of the Earth’s surface, but it must be previously planned on paper, and also has to be re-presented on a map after the physical survey is completed. »Their task has shifted, from Direct Traverse upon the Line to Penand-Paper Representation of it, in the sober Day-Light of Philadelphia« (p. 687). The problem of such representation is a central concern in the novel, and the frequent puns involving the ambiguity of the term representation (its political meaning and its wider mental or aesthetic functions) point to a problem affecting our understanding of how the novel is structured. Since the novel’s central plotline is about an enterprise aimed at the structuring of space, it is of little surprise that the novel’s own fictive space is also structured by lines that divide representational and nonrepresentational fields of discourse. It must be stressed that the novel’s own awareness of this problem creates structures of such complexity that they will be almost impossible to reproduce in this essay. First of all, the difficulty of conveying a spatial experience by novelistic means is one that must be addressed – a difficulty treated earlier by such authors as Beckett (Imagination Dead Imagine) or Robbe-Grillet (In the Labyrinth). What makes Pynchon’s treatment of it in this novel peculiar is the fact that the difficulty must be addressed in conjunction with a criticism of modern scientific rationalism, one of whose central achievements is the introduction of a radical disjunction between scientific fact and human experience, a »gap between the human mind and Nature«22 that necessitates the reliance on both increasingly sophisticated instruments of observation to access areas beyond the reach of human sense organs and abstract calculations that do not require the intervention of human imagination. Pynchon’s novel, similarly to Gravity’s Rainbow, points to the »dark side« of such rationalism by emphasizing the historical links between the advent of such scientific technology and the brutality of modern history, including the perfection of destructive military technology, colonization, slavery, and a general sense of historical developments controlled by forces inaccessible to ordinary human beings – even rank-and-file scientific laborers such as the Mason and Dixon of the novel. »Someday, someone will ask, How did a baker’s son get to be the Assistant to the Astronomer Royal? How’d a Geordie Land-Surveyor get to be his Second on the most coveted Star-gazing Assignment of the Century? Happen ’twas my looks …? thy charm …? Or are we being us’d, by Forces invisible even to thy Invisible College?« (p. 73)
22 W. Iser: The Fictive, p. 94.
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It is, among other things, this sense of paranoia that connects Mason & Dixon to Pynchon’s earlier work and enables a reading of the novel critical of Enlightenment rationalism. Such a reading is commonplace in Pynchon studies, and as such it is unnecessary to further elaborate it here. What interests me, however, is the juxtaposition of such a critical attitude with the novel’s awareness of its own literariness and the concomitant awareness of the problems of representation and writing. One of the difficulties of surveying is brought about by the shape of the line that Mason and Dixon are hired to run. The novel, borrowing heavily from Mason’s own journal, illustrates the technical problems attending their tasks: »Owing to the error in taking Bearings, that ever accompanies the running of a real Arc upon the not quite perfectly spherickal Earth, the Sector will never be set up exactly in the Latitude of the true Line. So Off-sets are figur’d at each Mile, ranging from zero at the eastern end, to whatever the difference in Latitude might prove be, at the other. These offsets must then be added to the purely geometrical differences, at each Mile, between the ten minutes of Great Circle actually run, and its Chord, – the Line itself, – each time increasing from zero to about twenty-one feet at the halfway point, then decreasing again to zero.« (p. 461)
The Line, as all lines of latitude and longitude, looks straight when viewed from the surface of the Earth or on a two-dimensional map. From a geometrical perspective, however, it is parabolic curve. The difference between the two shapes invokes the difference between a human point of view and a superhuman one. The perhaps most important figure of the novel – and this may be familiar from Gravity’s Rainbow – is a geometrical metaphor that connotes the cosmic insignificance of human existence, the negligible restrictiveness of human perspective for the broader claims of scientific truth. The descriptions accompanying the entire venture, including the opening sentence of the novel (»Snow-Balls have flown their Arcs« (5)) and the two transits of Venus enveloping the American adventure, emphasize the importance of the abstract form of the geometrical parabola, the comparative imperfections of actual geographical space (»the not quite perfectly spherickal Earth«) and the incompatibility of an Earth-bound human perspective with the objective calculations of the mathematical sciences. Geometrical abstraction and physical experience appear mutually exclusive. But is not such a conclusion also a result of abstraction? My thesis is that the novel’s metafigurative and metafictional devices serve to underscore the complexity of literary representation – not only that of challenging scientific
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problems or multifaceted socio-historical issues but also that of human experience in the most basic sense. In terms of its physical or sensual components, the latter appears almost more difficult to encapsulate in a fictional narrative simply because the physical conditions of perceptibility are themselves missing in the »monomedium institutionalized as a literature of mere printed words.«23 The rise of the modern novel as a primary genre of this monomedial literature is a development occurring in the period fictionalized in Mason & Dixon and, as suggested previously, the work thematizes some of the implications of this institutional shift. A few of these implications are closely linked to the critique of scientific rationalism, since they involve the distinction between sensual (perspectival) experience and abstract truth, and also a modern concept of fictionality that is sanctioned by its other24: factual or scientific truth.25 This concept of fictionality is explored throughout the novel through devices such as: the unreliable intradiegetic narrator (the Rev’d Wicks Cherrycoke) and a sometimes corrective extradiegetic narrative voice; scenes and an entire chapter (Ch. 73) written explicitly in the »subjunctive« mood (as in »what could have happened«); the ridiculous combinations of known historical facts and excesses of fantasy creating a sort of science-fiction in the past; the ubiquity of pseudohistorical pseudo-literary works such as The Ghastly Fop read by various characters; and of course discussions concerning the nature of truth in relation to religion, science, history and literature. One such discussion takes place in the frame narrative, concerning the Reverend’s account of Mason and Dixon. Uncle Ives, one of his listeners, supports the assumption of a single truth of history, albeit for very practical reasons, for as he says, »Time on Earth is too precious. No one has time, for
23 K.L. Pfeiffer: The Protoliterary, p. 321. 24 Just as the Mason-Dixon line sanctions slavery by allowing freedom for slaves North of the line in the imagined future of the novel. »Right in the way of the Visto some evening at Supper-time will appear the Lights of some complete Village, down the middle of whose main street the Line will clearly run. Laws continuing upon one side, – Slaves, Tobacco, Tax Liabilities, – may cease to exist upon the other, obliging Sheriffs and posses to decide how serious they are about wanting to cross Main Street. ›Thanks, Gentlemen! Slaves yesterday, free Men and Women today! You survey’d the Chains right off’em, with your own!‹« (p. 708) 25 This abstract importance of the concept of the line has been noted by F.C. Rodríguez: Mason & Dixon, p. 80. »The remarkable combination of the above-mentioned devices forces the reader […] to reflect on the line that separates truth from falsehood, historicity from fiction, and on the way we construct our interpretations of reality.«
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more than one Version of the Truth« (p. 350). Members of the company then compare an inauthentic version of history to the theater and the novel, and Uncle Ives cries out: »I cannot, damme I cannot I say, energetically enough insist upon the danger of reading these storybooks, – in particular those known as ›Novel‹. Let she who hears, heed. Britain’s Bedlam even as the French Salpêtrière being populated by an alarming number of young persons, most of them female, seduced across the sill of madness by these irresponsible narratives, that will not distinguish between fact and fancy. […] ›Romance‹, pernicious enough in its day, seems in comparison wholesome.« (p. 351)
The self-commentary of the narrative26 opens up several levels of interpretation. The reference to the explosion of the reading market in the late eighteenth century, the increase in female readership and the resultant fear of the ill effects of novel consumption invokes well-documented debates about a certain »intensity« of reading associated with a new type of literature. This reading, with its emphasis on immersion and interiorization rather than learned discussion27 is a symptom of the institutionalization of literature, whereas the institutionalization of consumers reflects on the necessity to renegotiate the boundaries between fact and fiction. Historically, the statement refers to an intermediate historical stage before the Romantic discovery of »enthusiastic« reading, with a resultant justification of immersion into fiction: »[t]hrough enthousiasme, readers open themselves to the possibilities of experience offered by art and literature; they are ready to transport themselves into these worlds, instead of ›enjoying‹ them.«28 For Uncle Ives, such justification is not yet available, which explains his disparagement of the novel even compared to the romance. Pynchon’s novel thus offers a potential historical interpretation of this scene, which fits into the reading of Pynchon’s novel itself as a work thematizing the Gothic, with its frequent foregrounding of its own textuality.29 What makes the picture even more complicated is that to arrive at this conclusion, one has to verify the (literary) historical references of Mason & Dixon, which again brings to the fore the problem of the division between factuality and fictionality. Comparing the
26 »The form and purpose of the novel itself seems to be the subject when the characters in the Cherrycoke frame argue about truth and fiction.« R.L. McLaughlin: Surveying, p. 190. 27 Cf. R. Wittmann: Was There …? 28 H.U. Gumbrecht: Phoenix from the Ashes, pp. 156-157. 29 Z. Kolbuszewska: The Poetics, pp. 189ff.
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following excerpt from an essay on Pynchon’s own novel with Uncles Ives’ (admittedly much more sanguine) criticism of the novel as a genre makes the similarities between them quite apparent. »Considering the constant barrage of anachronisms both minor and hilariously blatant. […] Instead of the facts adding authenticity to the fantasy, the fantasy corrupts the facts and disrupts the whole retelling of history, infecting it with the uncertainty of fiction.«30
Uncle Ives appears to prefigure some readers’ reactions to the novel in which he is but a character – one of the many instances of »strange looping« 31 in the work. More such loops are to be found, including the one involving the Gothic novel interpolated with the plot of Mason & Dixon. The fictional series entitled The Ghastly Fop is read by younger members of the Cherrycoke family (among others), but on the primary diegetic level Mason himself is also seen reading one of these storybooks (just a few pages before Uncle Ives’s aforementioned diatribe). This coincidence is not yet truly disturbing given that the frame narrative and the primary narrative take place at different times but probably on the same epistemological level – that is, neither is »fictive« with regard to the other. Later on, however, there is a quite surprising development. Chapter 54 (pp. 526ff.) begins with the story of a novice, but is interrupted within two pages by the Reverend Cherrycoke’s children, who discuss the story, also mentioning the popularity of The Ghastly Fop. This is where the reader realizes that the novice’s narrative must represent an intradiegetic level, a novel-within-the novel. In the embedded story, the novice escapes from captivity by the Jesuit known as »the Wolf of God,« assisted by a young Chinaman called Zhang. When not much later, the fugitive Eliza and Zhang encounter the surveyors, the reader is bound to perceive this as an anomaly, since they are characters from different levels of fiction. This narrative metalepsis presupposes the confusion of »possible worlds,« heterogeneous in principle, and consequently contradicts the assumption underlying narrative embedding, which would label a given level intra- or extradiegetic,32 and the corresponding possible world »fictive« with regard to another. The device thus exemplifies the erasure of a boundary, and thereby also the contingency of any hierarchy of alternative world models.
30 David Foreman quoted in E.J.W. Hinds: Introduction, p. 18. 31 The phrase is of course Douglas Hofstadter’s in Gödel, Escher, Bach. For its implications on reading and interpretation, see W. Iser: The Range, pp. 107-109. 32 G. Genette: Narrative Discourse, p. 228.
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However, the structure is ambiguous, in that the metalepsis also points to the artificial character of the discourse producing it. By this move it also deprives, to a certain extent, the literary text of the authority necessary for drawing ideological conclusions based on its manner of presentation. The only conclusion one can draw with any certainty is that the difference between various levels of fictionality can be collapsed within a discourse marked by fictionality. Metalepsis, therefore, is a device that simultaneously erases and posits boundaries: it eliminates the line separating the primary diegetic level from the embedded narrative, but in doing so, it marks off a discourse disclosing its own fictionality from a historical or natural reality intangible by such discursive means. The difference between sign and referent, though displaced, cannot be eliminated.33 The performative institutionality of literature, its potential to state and contest, is ambivalent in the sense that it is necessarily marked by an as if. My argument here is that the strange looping in Mason & Dixon produces a feedback mechanism that may be taken as a sign of the novel’s own awareness of the ambivalence regarding the fictional critique of scientific epistemology. I fully agree with the interpretation claiming that anomaly – structural or thematic – is not pursued for its own sake in the novel. 34 However, my understanding is that the »earnestness« of the novel is a product of the reader’s attempts to »normalize« such anomalous instances. Such attempts will result in a cognitive remapping of a world inaccessible by methods of representation that rely on structures capable of being closed off by the imagination. The emphasis on as if – that Iser identifies as the trademark of self-disclosing literary fictionality35 – is also an important feature in debates concerning the cognitive potential of aesthetic or literary theory, e.g., debates centered on the interpretation of Kant’s definition of reflective judgment in the Third Critique. The passage refers to human understanding and its relationship to universal laws of nature – a relationship severely ruptured in Mason & Dixon. »[A]s universal laws of nature have their ground in our understanding, which prescribes them to nature (although only according to the universal concept of it as nature), so particular empirical laws, in respect of what is in them left undetermined by these universal
33 Z. Kolbuszewska: The Poetics, p. 130. (The reference there is to Gravity’s Rainbow.) 34 J. Sigvardson: Immanence, pp. 81ff. 35 W. Iser: The Fictive, pp. 12-17. It is worth noting that Iser sees self-disclosure as a feature of all literary fiction. Metaleptical looping, then, would be an augmentation or amplification of a quality already present in every literary narrative, even purportedly realistic ones.
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laws, must be considered, in accordance with such a unity as they would have if an understanding (although not our understanding) had furnished them to our cognitive faculties, [als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen […] gegeben hätte] so as to make possible a system of experience according to particular laws of nature. Not as if, in this way, such an understanding must be assumed as actual [Nicht, als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte] (for it is only our reflective judgement to which this idea serves as a principle – for reflecting, not determining); but this faculty thus gives a law only to itself, and not to nature.«36
The as if in this paragraph is highlighted and insisted upon by commentators such as Samuel Weber and Peggy Kamuf who aim to defend aesthetic reflection from recent accusations that such reflection only promotes the self-constitution of the subject in a sort of narcissistic circularity. In Kamuf’s interpretation, the difference between subjective understanding and the assumed universality of natural laws is doubled and reflected in the subjunctive assumption of an understanding other than that of the subject. To insist on the as if is to underscore that the principle of reflective aesthetic judgment – indispensable for the understanding of the ambiguous finality of nature (Zweckmässigkeit ohne Zweck) is dependent on a device curiously similar to those employed by novelists. »For that is indeed what is happening here: some unknown other appears, singular, without concept, undeterminable by the laws already given to our understanding. It is all a question then […] of knowing how to judge, and therefore of knowing what one cannot know without concept. According to Kant, it is then that judgment must give itself a law, 37
but it can do so only by passing through the other in a fiction of reflection.«
The similarity between the principle of reflective judgment and the principle of modern fiction may serve as a point of departure for an interpretation that claims that scientific theory in itself is insufficient to furnish an understanding of the world without the intervention of hypotheses in the subjunctive mood. This claim, of course, does not have to lead to a thesis of universal fictionality, much less to an assumption of the »social construction« of scientific facts. What it does entail, however, is that understanding – as distinct from empirical knowledge – depends on a subjunctive moment. And it is a lack of understanding, not
36 I. Kant: Critique of Judgment quoted in P. Kamuf: Catachresis and Institution, p. 32. 37 Ibid., p. 33. Last emphasis added.
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the lack of empirical data that causes Mason and Dixon’s paranoia. In Pynchon’s world, the subject-less understanding inherent in Kant’s universal laws reveals its threatening side as an Other that is only accessible by fiction – moreover, it is a fiction that does not succeed in masking its own fictionality, and thus the reflective reassurance of one’s understanding cannot be achieved. The possible ramifications of this problem are manifold in Mason & Dixon. First, it creates a frame in which the penetration of the empirical world by fiction as a means of accessing it becomes a central theme. The problem of the emergence of literary institutions is placed within the larger framework of Enlightenment epistemology. In a scene very close to the one in which Uncle Ives denounces novels, Wicks Cherrycoke explains the difference between a heretofore undomesticated America and an enlightened England. From the Reverend’s point of view, this division is made understandable by an overarching temporal change: »As God has receded, as Deism has crept in to make the best of this progressive Absence …« (p. 358). The following description makes the irony of the contrast between various forms of light apparent. America is home to various sects of »Illuminati« and instances of »American Illumination« – Cherrycoke’s example is a story of Peter Redzinger who tells tales (reported to Cherrycoke by his wife) of »rapture by beings from somewhere else […] and always at the center of the Relation, unwise to approach, an unbearable Luminosity.« (ibid.) England, on the other hand, is enlightened: »These times are unfriendly towards Worlds alternative to this one. Royal Society members and French Encyclopaedists are in the Chariot, availing themselves whilst they may of any occasion to preach the Gospels of Reason, denouncing all that once was Magic, though too often in smirking tropes upon the Church of Rome, – visitations, bleeding statues, medical impossibilities, – no, no, far too foreign. One may be allowed an occasional Cock Lane Ghost, – otherwise, for any more in that Article, one must turn to Gothick Fictions, folded acceptably between the covers of Books« (p. 359).
The repeated emphasis on effects of light associated with mock-UFO sightings and semi-religious epiphanies adumbrates the irony of the phrase – here only implied – of the light of Reason. The dominant trope is chiasm: not only may light be transferred from one concept to its polar opposite (reason-unreason), but proponents of rationalism and religious skeptics also preach Gospels. The skeptics’ reason for dispelling miraculous events, attributed to them by the Reverend, is as suspect as was Uncle Ives’ reference to lack of Time in rejecting alternative versions of history – the offhand refusal to accept events »far too foreign« indi-
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cates that the phrase »Worlds alternative to this one« may be taken in a culturalgeographical as well as in an ontological sense. This leads to some difficulty in deciding the order of cause and effect. What Cherrycoke’s clever presentation leaves open is whether Western European scientists and philosophers of the Enlightenment reject other cultures because their worldviews are incompatible with enlightened rationalism, or whether such rationalism is a byproduct of xenophobia (since nothing appears to be wrong with a Cock Lane Ghost). Also, the closing reference to »Gothick Fictions« puts literary representation on the same level with religious or mythological interpretations of the world (neglecting all the historical and textual problems associated with the as if). The immediate question, of course, is whether the Reverend’s ironic treatment of the Enlightenment has any authority within the novel. Given his forgetfulness and his tendency to fabricate (revealed by his listeners in the frame tale), the obvious answer would be no. Since we are dealing with the very problem of epistemological value, such a straightforward answer would probably prove to be overhasty. I will not go into detail as regards the narrator’s precise role, as this has been discussed by many critics.38 What is of interest for this paper is that the oppressive relationship between scientific rationalism and »possible worlds« is given sufficient treatment in other strands of the novel as well. Robert L. MacLaughlin, for instance, has pointed out that the very structure of Pynchon’s narrative, with the title characters’ disagreement as to who ultimately controls their venture, the novel’s multiple contesting frames, the very unreliability of the narrator, and the strange loop discussed above, all point to a multiplicity of stories as opposed to a single narrative.39 Some thematic junctures may also provide guidance, pointing to interpretations of the world alien to rational science. Dixon’s master, William Emerson, is claimed to have had arcane knowledge of »Ley-Lines,« ancient alternative routes of communication, and also to have taught his disciples to fly. There are many passages referencing the »hollow Earth« theory that has found perhaps its most popular expression in the novel Journey to the Center of the
38 The first such analysis was given by Ch. Clerk: Mason & Dixon & Pynchon, pp. 8790. Sigvardson emphasizes the somewhat paradoxical coziness, »stability« and »unbroken self-certainty« of the narrative »despite the perpetual self-uncertainizing of story and text« J. Sigvardson: Immanence, p. 88. Huehls carefully investigates what Cherrycoke may or may not know regarding particular instances of the narrative, and he concludes that there may be, in fact, two Cherrycokes. M. Huehls: The Space, p. 38. 39 R.L. McLaughlin: Surveying, p. 190.
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Earth by Jules Verne.40 If the inside of the Earth is at least partially hollow rather than completely dense, there may be pathways through it, connecting distant lands with each other. Well after their American adventure, Mason visits Dixon in Scotland, and they share the other adventures they have each had since their separation. Dixon tells of a journey to the inside of the Earth – in his version, the world below is upside down, with the people inhabiting it (identified by surfacedwellers as gnomes or dwarfs) living on the inner side of the spherical surface, with their heads pointing towards the center. These gnomes complain that with the advent of modern science (including the data collected by our heroes) their habitat will dwindle and disappear and they may have to move to the surface. »›Once the solar parallax is known,‹ they told me, ›once the necessary Degrees are measur’d, and the size and weight and shape of the Earth are calculated inescapably at last, all this will vanish. We will have to seek another Space‹« (p. 741). This passage is similar to the one quoted from Cherrycoke in that here there is another reversal of cause and effect. The alternative world ceases to exist when its impossibility is discovered and proven by scientists – science, therefore, is presented as a force actively shaping the Earth instead of merely registering what is »out there.« The passage may be »translated« into the history of science by saying that the hollow Earth theory was discredited by calculations based on observations of the transits of Venus. In the novel’s world, however, the possibility of the performative nature of such theoretical acts is raised: what if interpretations of how the world is actually modify the state of the world, and what if the discrediting of rival interpretations also means the destruction of states that these interpretations entail? This mode of questioning comes close to an interpretation of »possible worlds« by David Lewis, for whom »possible worlds are parallel worlds, autonomous ›foreign countries‹ with their own laws and with an actuality of their own.«41 (Let us remember Cherrycoke’s remark of the xenophobia of rationalists, and of course the constant emphasis on connections of scientific ventures to slavery and colonization.) The difference, here, is again that Pynchon’s work is markedly imaginative, and therefore remains within the subjunctive mood that theories (even of possible worlds) may not claim for themselves. The continuation of this episode, however, allegorizes
40 Underworld tunnels and channels are an important feature in V. (Benny Profane goes alligator hunting) and Gravity’s Rainbow (Slothrop drops his harmonica into the toilet). They become even more dominant in Against the Day (the Chums of Chance travel through the Earth). 41 R. Ronen: Possible Worlds, p. 22.
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this problem a little further, and points to the complexity of the novel’s own performative possibilities. A subterranean gnome contemplates his kind’s chances of survival if scientific discoveries force them to move to the surface of the Earth: »How many of us, I wonder, could live the other way, the way you People do, so exposed to the Outer Darkness? Those terrible Lights, great and small? And wherever you may stand, given the Convexity, each of you is slightly pointed away from everybody else, all the time, into that Void that most of you seldom notice. Here in the Earth Concave, everyone is pointed at everybody else, – ev’rybody’s axes converge, – forc’d at least to acknowledge one another, – an entirely different set of rules for how to behave.« (p. 741)
Many motifs, previously touched upon in my paper, are brought together in this witty and thoughtful allegory. The recognition of the shape of the Earth enables the gnome to draw conclusions that go beyond human perception42 – ordinarily we do not notice that we are »pointed away« from each other (»into the Void most of you seldom notice«). The divergence or convergence of lines becomes, in this allegory, a figure for interpersonal relationships, which can again be traced back to the original function of the Mason-Dixon line as a mark of division. It is noteworthy that the narration previously presents the concave, subterranean world by saying that there are no property lines there (see p. 233). Instead of focusing on possibilities of objective knowledge or its technological consequences, the novel’s conclusion focuses on moral and anthropological problems arising for the dominance of the scientific worldview. What is also remarkable, however, is that the figures for interpersonal relationships and anthropological issues are still the same figures of geometry that were used to describe the technical difficulties of surveying. The convergence of bodies’ vertical vectors inside the Earth and their divergence on the surface are imperceptible, and can only be recognized by the same post-Copernican science that eventually causes the destruction of the concave world presented as more protective and humane than the convex one. If possible worlds such as the subterranean one may be taken as figures for the possible worlds of modern fiction, then the episode may be said to reflect on the very possibility of a novel
42 »Part of the consciousness of the Enlightenment is that for the first time it has become aware of the fact that man lives ›only on the surface of [i.e., »superficially« on] the earth‹ and that this is perhaps an indication that in general he exists and orients himself to what is only the surface of a hidden reality.« H. Blumenberg: The Legitimacy, p. 408.
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presenting a world before or without science. It has been argued that Pynchon’s critique of science never offers any real possibility of a nostalgic return to a prerationalist belief system.43 His clever hybridization of moral considerations with problems of historical representation and geometrical figuration is suggestive of a view of literature that is itself indebted to a mode of representation retraceable to geometry as a pseudo-foundation. It has been argued that for the modern novel to emerge, a concept of reality »as a result of a realization«44 was required. This concept, much more dynamic and contextual than previous notions, demanded that the novel »no longer simply represent objects of the world, or the world as reconstructed, but rather realize a world.«45 If this demand runs somewhat counter to the rationalist insistence of a unified worldview, the scientific revolution and the modern possibility of the creation of fictional worlds nevertheless share the same historical root in a concept of reality that is no longer guaranteed from a higher source but must be developed. »Reality as a context realizing itself is a limit concept [Grenzbegriff] related to the always ideal togetherness of subjects, a confirmation of the experience and world-development [Weltbildung] taking place in intersubjectivity.«46 The simultaneity of the self-realizational and developmental nature of this concept with its compulsoriness seems to be pregnant with ambiguity. It is not possible here to do justice to the extent Blumenberg’s work on conceptual history may be useful for a reading of Pynchon’s novel. The one aspect that should be stressed regarding the allegory of concave and convex worlds is that the passage makes clear how our understanding of multiple fictional worlds is dependent on our grasp of »limit concepts« or »absolute metaphors« such as light, space and time. Pynchon’s use of geometrical figures points to the mutual dependency between the imaginative multiplicity of possible worlds and the intersubjective communicability of geometrical concepts. There
43 »Pynchon’s take on science and anti-science […] is complex, contextualized, and riddled with conflict. I believe he both is and is not a Luddite […] At moments […] when Enlightenment reason appears to lead only to the lies of the corporate state, a form of Luddism may be the only sane response. But Pynchon’s fascination with the physical sciences is too pervasive and too deep, too integral to the intellectual underpinnings of each book, to be compatible with technophobic or pastoral Luddism.« W.B. Millard: Delineations of Madness, p. 92. 44 H. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff, p. 52. 45 Ibid., p. 61. Emphases in the original. 46 Ibid., p. 52. Emphases in the original.
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is apparently a limit (albeit historically renegotiable) as to what possible worlds one may even envision, and that limit may be found in mathematical axioms which regulate our access to experiential reality. Such axioms (or »logically necessary truths«) »are not elements of furniture [ammobiliamento] in a world but the formal conditions of the constructability of its matrix.«47 Worlds in which such conditions do not hold true may be easily named [nominati] but the furnishing of alternative rules is a different task altogether. The anti-scientific allegory in Pynchon is also dependent on simple rules of geometry: the vectors of lines traveling through the center of a circle converge when pointing toward the center, and diverge when away from the center. However, the thematic emphasis on the multiplicity of narrative levels, imaginative worlds and the looping structures that create spaces not directly accessible to the imagination disable a simple reintegration of Pynchon’s work into the rationalistic frameworks of »possible world theory.« The looping structures reinforce the disjunction between human perception and »objective« geometrical space, just as the geometrical figures allowing us to understand the »convexity allegory« remain imperceptible to people actually interacting on the surface of the Earth. It is only as readers, as inhabitants of a made-up and abstract geography, that we may actually see the diverging and converging lines. As human beings interacting with each other, we may be aware (after reading the novel) of the infinitesimal tangential difference by which we point away from each other, but this is abstract knowledge that does in no way derive from actual physical experience. The truth of a fictional or literary work is always already figurative, which means that there are always abstract or mechanical operations at work in the creation of meaning. This may encourage us to draw an analogy between literature and maps, an analogy perhaps too obvious given that both are systems of signs. This analogy is, I suggest, actively pursued in Mason & Dixon, with the added problem that while a map only represents and structures a space, the novel must also render some sort of experience (physical or psychological) to the territory represented. If it is true that »[t]he relationship of language to what it denotes resembles that of a map to the territory it charts,«48 then the problems of cartographic representation discussed within the work must be reinscribed into the novel’s own strategies of signification. First, we have a description of Jeremiah Dixon perfecting his cartographic skills, which unmistakably identifies Dixon as a fictionalizer.
47 U. Eco: Lector in fabula, p. 150. 48 W. Iser: The Fictive, p. 248.
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»Levigating, elutriating, mixing the gum-water, pouncing and rosining the Paper to prevent soak-through, – preparation he would once rashly have hurried ’round or in great part omitted, was now necessary, absolutely necessary, to do right. He must, if one day call’d upon, produce an overhead view of a World that never was, in truth-like detail, one he’d begun in silence to contrive, – a Map entirely within his mind, of a World he could escape to, if he had to. If he had to, he would enter it entirely but never get lost, for he would have this Map, and in it, spread below, would lie ev’rything, – Mountain of Glass, Sea of Sand, miraculous springs, Volcanoes, Sacred Cities, mile-deep Chasm, Serpent’s Cave, endless Prairie … another Chapbook-Fancy with each Deviation and Dip of the Needle.« (p. 242)
Dixon is afraid of open spaces, and must learn cartography in part to overcome his fears. This is the period when he also conquers his social inhibitions by acquiring a certain »Matiness« »at great effort, a word, a Gesture at a Time« (ibid.), and becomes an expert story-teller. The ability to produce fiction takes on a rather pragmatic aspect. These changes in his personality may be traced back to his perfection of his skill of »internal cartography,« so to speak. The phrase »overhead view« suggests that Dixon’s ability to produce fiction, and his subsequent improvement in social skills is a result of his laborious efforts at mapmaking, making a certain discipline – with its seemingly external formalities – essential for success. The context suggests that even the imitation of gestures is co-dependent on the disciplining of the young man’s fantasy, stressing the semiotic (figurational) character of the human body. Now if this is taken as an emblem of the power of fiction, then it appears that discipline and structure is shown here as a prerequisite of unbounded flights fancy. Could this be translated to mean that meaningful fiction, however fanciful, requires the careful observation of rational science? The other episode I can briefly read here represents a crux that the Rev’d Cherrycoke often refers to – the similarity between the parsonical line of work and mathematics. Towards the end of the novel, he states that many parsons have an interest in mathematics, especially fluxions – the fascination of the infinite and the infinitesimal owing, of course, to the desire to find God (p. 721). The precise extent to which these potential links between transcendence and science are to be taken seriously is of course open to debate. The reference to the infinite and the infinitesimal suggests that we are dealing with problems of perceptibility (mainly visibility and invisibility). In a much earlier episode, a character named DePugh reports on a sermon he heard in a congregation of German Mystics. In this account, the sermon »might
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have been a lecture in Mathematics,« the parson describing Hell as a »collapsing sphere, Heaven as an expanding one,« »[thus] may each point of Heaven be mapp’d, or projected, upon each point of Hell, and vice versa, And what intercepts the Projection, about mid-way (reckon’d logarithmickally) between? why, this very Earth, and our lives here upon it. We only think we occupy a solid, Brick-and-Timber City, – in Reality, we live upon a Map. Perhaps even our Lives are but representations of Truer Lives, pursued above and below, as to Philadelphia correspond both a vast Heavenly City, and a crowded niche of Hell, each element of one faithfully mirror’d in the others.« (p. 482)
The identification of the world with a map is presented here in a somewhat ironic manner. The reference to truer lives evokes images of a »Platonic beyond«, whereas the technical description of the logarithmic calculation of the Earth’s position seems to relate the three spheres to each other in a homogeneous space. The most obvious question, of course, is whether all of these phrases are attributable to the same narrator, or whether this passage is an amalgam of the mystic’s, DePugh’s, Cherrycoke’s and the extradiegetic narrator’s positions. Either way, the world as map is readable, and this adumbrates the novel’s treatment of the textuality of experience. It should not be forgotten, moreover, that the German mystic speaking here is undoubtedly right in a particular sense: namely, that the world he refers to, the fictional world of Mason & Dixon, is a representation indeed. Taken therefore as an allegorical mise en abyme of Pynchon’s novel itself, the world’s »logarithmic midway« position between Heaven and Hell may also reference the dilemmas of historical representation. The world of Enlightenment rationalism presented by Pynchon is neither »the best of all possible worlds,« nor is it a total destruction of a preexistent order and unity – if for no other reason than because such an order and unity is by large inaccessible to literary as well as scientific discourse. When glimpses of such an alternative, pre- or anti-scientific order are presented, such presentation is often linked with geometrical figures – which begs the question whether non-rational modes of existence are only accessible by rational means. Fictional worlds presented to our gaze are as much subject to this problem as the world of sensual experience. Pynchon’s critique of Enlightenment rationalism is also a critique of the power of modern fiction, which means that a certain »theoretical attitude« must be a prerequisite of having access to the world presented. This world of fictional objects behaves »as some thing that is accessible and available in general and first for a regard or gaze. The worldly image of gaze would not be the unnoticed model of the theoretical attitude of pure consciousness but, on the
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contrary, would borrow its sense from that attitude.«49 The fact that the fictional world to be gazed at is dependent on language for its constitution only makes the situation more obvious. There are a number of motifs in the novel which relate to this problem more or less directly. We have seen how the imperceptibly parabolic curve of straight lines reappears at various levels of the narrative. Similar problems of visibility, perceptibility and light also abound in the novel – including a »Mechanickal Duck« that comes alive, acquires consciousness, and is capable of flying at such speed that it becomes invisible. These themes are related to the surveyors’ own dependence on mathematical operations to make their observations: »the realities that underlie these observations and give them substance are not themselves visible. They belong to an invisible domain of numbers, geometric theory, and calculations.«50 Operations inaccessible to the senses shape and structure the world of experience, which mirrors and stresses the way language shapes and structures the world of the novel. No wonder that, in some instances, this »sheer negativity«51 of mathematical signs is directly related to the operations of language and the linguistic constitution of logical structures: »›…Therefore, –‹ Emerson’s notorious ›therefore,‹ – intended, Dixon has at length discover’d, to bully his students into believing there must have been some train of logic they fail’d to see …« (p. 224, emphasis added)
The geometrical figure of the »train of logic,« along with the lack of the students’ ability to see the logic in which they are expected to believe, stresses the negativity of both mathematical and linguistic signs in relation to the phenomenal world to which they provide access. This negativity is often linked with finitude and death,52 a nexus which curiously appears in the novel in the incident of the first mortality during the expedition, when a falling tree kills two lumberjacks, one of whose names is accidentally entered in the logbook, »to be follow’d by a trailing Line over to a row of Zeros, for Days work’d in the week« (p. 672). If the trailing line represents death, the zeros add a touch of tragic irony for having to mark what is not there. The problem of the »zero«, obviously prevalent in Gravity’s Rainbow, is indissociable from the negativity of language, especially as regards the designation of a world that never was.
49 J. Derrida: Edmund Husserl’s Origin, p. 64. 50 J. Sigvardson: Immanence, p. 45. 51 Ibid., p. 105. 52 Cf., G. Agamben: Il linguaggio, esp. pp. 4-5.
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To quote just one last example, the association of Mason and Dixon’s paranoia with a tendency to see »Line(s) of Text« (e.g. pp. 293, 487, 497) in a world they do not understand underscores the political intricacies of the pseudohistorical world they inhabit. This motif also points to the survival of the old tradition of the »book of the World« in the Enlightenment, whereby the difference between »book« and »text« emphasizes the incompleteness of the world that such reading make accessible. At the same time, these passages may also highlight the fact that these Mason and Dixon are creatures of fiction, and that their world is truly riddled with »cryptic intestinal commentary« (p. 487). As a result, »what is thrown into relief is the textuality of the spatial component of the chronotope of Pynchon’s novel.«53 The ultimate irony is that the admission of fictionality does not completely cancel out the novel’s capacity for historical representation, precisely because the figures used by Pynchon may remind us how tropes suggestive of »the legibility of the world« were indispensable also for Enlightenment science and philosophy. One only needs to recall the project of the French Encyclopedia to understand that the rationalist endeavor also entailed a reinterpretation of the old trope of »the book of Nature,« and that this required a rethinking of the potential links between the production of experience and the »unnoticed negative actions«54 performed during reading. The conclusion then must be that the instances where the novel discloses its own fictionality or textuality are necessarily connected to its critique of the rational/geometrical constitution of the modern world, and that the related historical as well as novelistic difficulty of re/constructing a world which is not conditioned by such an objectifying and restrictive geometry. The strange loops observable at various levels of the narrative also serve to underscore this difficulty, especially by the construction of patterns which require a reference to spatial structures. These are, however, paradoxical structures in which space itself becomes a problem of cognition instead of remaining one of the »transcendental realities«55 that condition our understanding from the outside, as it were. One such structure is, of course, the Moebius strip, which is evoked specifically, and quite humorously, in the novel.56 Mitchum Huehls offers the
53 Z. Kolbuszewska: The Poetics, p. 187. 54 H. Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, p. 188. 55 J. Derrida: Edmund Husserl’s Origin, p. 42. 56 »He sets his Lips as for a conventional, or Toroidal, Smoke-Ring, but out instead comes a Ring like a Length of Ribbon clos’d in a Circle, with a single Twist in it,
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model of the Klein bottle with its potential of »mutual invagination,« and its capacity to function as a container despite its seemingly paradoxical relationship to space.57 In my paper, I hope to have offered a few suggestions how this analogy may be further developed with regard to the novel’s treatment of cognitive structures and the historical representation of scientific rationalism. Needless to say, such looping structures necessitate a recursive reading strategy because each reading has to renegotiate its own foundational conditions. This means that to read Mason & Dixon means to constantly prepare for a definitive reading which remains always to come.
W ORKS C ITED Primary sources: DeLillo, Don: Underworld (1997), New York etc.: Scribner 2003. Pynchon, Thomas: Against the Day (2006), New York: Penguin 2006. — Gravity’s Rainbow (1973), New York/London: Penguin 1995. — Mason & Dixon (1997), New York, Henry Holt and Co. 1997.
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possessing thereby but one Side and one Edge …« Th. Pyncon: Mason & Dixon, p. 345. 57 M. Huehls: The Space, p. 45n10.
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Zeugenschaft, Performanz und Öffentlichkeit in Rechnitz (Der Würgeengel)1 B EATRIX K RICSFALUSI Nein, Sie selbst müssen nichts wahrnehmen, denn Wahr und Falsch gibt es auch nicht mehr, es gibt auch hier nur noch ein Dazwischen. (85)
I. Ganz gewagt wäre es sicherlich nicht zu sagen, dass Elfriede Jelinek zu den SchriftstellerInnen gehört, deren Schreibweise dem Postulat, die Literatur sei »jene Institution der Fiktionalität, die einem im Prinzip die Macht verleiht, alles zu sagen«2, konsequent Rechnung zu tragen versucht. Dieser Eindruck stellt sich zumindest nach einem kursorischen Blick auf die publizistische, politische und teilweise auch wissenschaftliche Rezeption ihrer Werke vor allem in Österreich ein, die größtenteils eine Irritation über ihre vermeintlich politisch-provokative Grundgeste bekunden. Unterzieht man die Rezeption einer gründlichen Untersuchung, drängt sich sogar der Verdacht auf, dass Jelineks Einschätzung als »agent provocateur« – neben der Fehlleistung der prägnanten, aber äußerst widersprüchlichen Selbstinszenierung in den populären Medien in den Anfangsjahrzehnten ihrer Karriere – auf der systematischen Verkennung des obigen Postulats und auf der daraus resultierenden unreflektierten Durchsetzung einer naiv-referentiellen Lesart beruht. Am aufschlussreichsten ist dies an der
1
Die Arbeit an diesem Beitrag wurde durch das Ungarische Eötvös-Stipendium finanziell gefördert.
2
J. Derrida: »Diese merkwürdige Institution namens Literatur«, S. 91.
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Rezeptionsgeschichte der Jelinek-Texte zu beobachten, denen es darum geht, gedächtnispolitische blinde Flecken der österreichischen Gesellschaft zu erleuchten, und mit denen sie sich den Namen »Nestbeschmutzerin« und den blinden Hass der Politik verdiente. Seitdem sie 1982 mit dem Stück Burgtheater – welches erst 3 Jahre später, nur in Bonn und nicht in der noblen benannten Institution uraufgeführt werden konnte – »die heiligste Kuh der Österreicher«, den Burgschauspieler, schlachtete, und sich 1986 für den Heinrich-Böll-Preis in einer Rede mit dem skurrilen Titel In den Waldheimen und auf den Haidern bedankte, steht Elfriede Jelinek mit der »offiziellen Kulturpolitik« in Österreich auf Kriegsfuß. Ein Jahrzehnt später trat die öffentliche Diskussion über Jelineks Schreibweise erneut in eine heftige Phase, die wieder konkrete politischgesellschaftliche Ereignisse reflektierende Texte wie Stecken, Stab und Stangl (1996) oder Ein Sportstück (1998), zugleich aber auch geschmacklose Kontroversen um den Büchner-Preis (1988)3 mit sich brachte. Die Hetzkampagne der FPÖ-Politiker und Kronen-Zeitungs-Journalisten während Claus Peymanns Burgtheater-Intendanz gegen »NestbeschmutzerInnen« wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek führte letztendlich dazu, dass diese für ihre Stücke ein zeitweiliges Aufführungsverbot in Österreich erließen. Für den hier zu behandelnden Theatertext gelten weiterhin selbstauferlegte Aufführungseinschränkungen seitens der Autorin, die – wegen schlechter Erfahrungen mit der außer-theatralen Rezeption ihrer früheren Stücke in dem prekären Themenbereich der Erinnerungskultur und der Gedächtnispolitik – ausgerechnet österreichische Theaterhäuser betreffen. Es ist die Rede von Rechnitz (Der Würgeengel), in dem »Botinnen und Boten« – so steht es bei Jelinek – versuchen, ein verschwiegenes historisches Ereignis zur Sprache zu bringen, damit dieses verstummte Ereignis dadurch wieder zum Sprechen gebracht wird.4 In Jossi Wielers Inszenierung an den Münchner Kammerspielen (Premiere am 28.11.2008) sprechen zwei Botinnen und drei Boten den auf ein gutes Drittel gekürzten, massiven Textschwall. Gestrichen wurden sinnigerweise die für das Münchner Publikum entweder unverständlichen oder eben uninteressanten spezifischen Österreich- und Ungarnbezüge sowie der Epilog, eine Engführung von Johann Friedrich Kinds Libretto zu Carl Maria von Webers Der Freischütz
3
Siehe hierzu Ivan Nagels Laudatio anlässlich des Büchner-Preises: »Mehr Feindschaft hat wohl, außer den deklarierten Staatsfeinden totalitärer Regime, kein Schriftsteller dieser zweiten Jahrhunderthälfte auf sich gezogen.« I. Nagel: Lügnerin und WahrSagerin, S. 60.
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Der dramatische Text wird mit Seitenangaben im fortlaufenden Text nach der folgenden Ausgabe zitiert: E. Jelinek: Drei Theaterstücke.
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und den Chat-Protokollen des sogenannten »Kannibalen von Rotenburg«, der zuvorderst für den Eklat von Hermann Schmidt-Rahmers Düsseldorfer Inszenierung verantwortlich sein sollte. Entstanden ist somit eine Textvorlage, die genauso gut dem Regisseur Jossi Wieler und der Dramaturgin Julia Lochte als Ko-AutorInnen wie Jelinek selbst zugeschrieben werden kann. Im Weiteren – wenn nicht anders angegeben – ist mit Rechnitz (Der Würgeengel) die als Resultat einer Kollektivarbeit entstandene Münchner Fassung gemeint.5
5
Auch für die anderen bis dato gezeigten Inszenierungen schienen der nicht-dramatische Charakter und die sprachlich-rhetorische Machart des Jelinekschen Textes schon von der Länge her die größte Herausforderung zu bedeuten: Die Textgrundlagen der meisten Theaterarbeiten entstanden zumeist auch als Folge massiver Reduktionen. Hermann Schmidt-Rahmer gestaltete am Düsseldorfer Schauspielhaus mit acht Darstellern eine dreistündige Aufführung (Premiere am 9. Oktober 2010), die die entdramatisierte und entpersönlichte Wortlawine durch Aktionsreichtum einerseits und die visuelle Konkretisierung der historischen Referenz andererseits doch in die Richtung des Dramatischen verschob. Leonhard Koppelmann arbeitete in der Schweizerischen Erstaufführung mit einer einzigen Schauspielerin, dafür aber mit mehreren Spielorten: es wurde nämlich nicht auf der Bühne des Schauspielhauses, sondern an wechselnden Schauplätzen in Zürich (Foyer, Kassenhaus und Wagenvorfahrt des Theaters, Bus, Werkstatt) gespielt (Premiere am 19. Dezember 2009). Diesmal waren es die topographische Re-Lokalisierung der Geschichte – denn die Busfahrt mag als eine imaginäre Reise nach Rechnitz gelten – und die phänomenologische Reduktion der inhärenten Mehrstimmigkeit des Textes auf eine einzige Schauspielerstimme, die der Inszenierung vielmehr den Charakter des Dramatischen zu verleihen vermochten. Nur Marcus Lobbes entschied sich für die ungekürzte Fassung des wortgewaltigen Textes und brachte so am Theater Freiburg eine Aufführung von viereinhalb Stunden zustande, die dem nicht-werkhaften Konstruktionscharakter des Jelinekschen Textsubstrats dadurch doch noch Rechnung trug, dass dem Zuschauer der ohne Pause konzipierte Theaterabend erlaubte – wenn er nicht gerade diese Rezeptionsweise erzwang –, sich beliebig in die loopartig zurückkehrenden Diskursstränge einzuschalten (Premiere am 4. Dezember 2010). Des Weiteren ist eine szenische Lesung der freien Theatergruppe HoppArt am 9. März 2010 im Budapester »Trafó« – Haus für zeitgenössische Kunst zu erwähnen. Unter der Leitung des Regisseurs Csaba Polgár arbeitete das Kollektiv in der hervorragenden Übersetzung von Zoltán Halasi mit der Münchner Fassung als Ready-Made, wodurch man sich mit einer wahrhaft selbstentlarvenden Geste des dramatischen Produktionsvorgangs einen wichtigen Schritt des Inszenierungsprozesses, nämlich die Arbeit an der Textgrundlage ersparte.
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Es gehört zu den beliebtesten und weitverbreitetsten Missverständnissen der gängigen Rezeption zu sagen, dass dieser Text »monologisch« sei, wobei er durch den Rückgriff auf das prä-dramatische Mittel6 des Botenberichts den Versuch darstellt, sich der Logik des Dramatisch-Dialektischen, die der Figurenund Handlungsdramaturgie eigen ist, zu entziehen. Mein Vorschlag wäre, bei dem mittlerweile zu dem Rang einer Gattungsbezeichnung erhobenen Begriff der Sprachfläche zu bleiben, der von Jelinek selbst geprägt und spätestens seit Wolken.Heim. (1988) zum distinktiven Strukturmerkmal ihrer Theatertexte wurde.7 Gemeint ist damit die Unterbrechung – durchaus im Sinne Benjamins – des gattungskonstitutiven Verhältnisses der Figuren zu ihrem eigenen Sprechtext, die in dem deutschsprachigen Drama eigentlich wesentlich früher, nämlich 1977 mit Müllers HAMLETMASCHINE in Erscheinung trat. Aus der Preisgabe der Figurenrede folgen in formaler Hinsicht zunächst das Verschwinden des Dialogs und die Strukturierung des dramatischen Textes in eine homogene Sprachfläche. Die Abschaffung der Rollenfigur führt zum Aufkommen eines nicht-repräsentationalen Theaterformats, in dem dem Schauspieler statt der Figurendarstellung eine völlig andere Aufgabe zukommen soll. Im Gegensatz zum dramatischen Sprechtheater, wo die Korporalität des Schauspielers das reibungslose Funktionieren der »doppelte[n] Fiktion einer sprachlich erfundenen und szenisch beglaubigten Person«8 garantiert, vollzieht sich im postdramatischen Sprachtheater durch die »Zerlegung theatralen Sprechens in seine rhetorischen und korporalen Bestandteile«9 ein Funktionswandel des Schauspielers, der scheinbar stark an die Theateravantgarde, besonders an deren Tendenz zur Dehumanisierung erinnert. Von dem »Schmutzflecken Schauspieler«10 – um eine provokative Bezeichnung aus Jelineks theaterästhetischem Essay Ich möchte seicht sein zu übernehmen – wird nicht mehr die Verkörperung einer
6
Zur Unterscheidung von Prä-dramatischem, Dramatischem und Postdramatischem siehe H.-T. Lehmann: Theater und Mythos.
7
Aufgetaucht ist der Begriff bei P.v. Becker: Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz, S. 4. In die Forschungsliteratur wurde er zuerst von G. Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 204, eingeführt, dann von H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 14, übernommen. Jedoch hat schon Ulrike Haß auf die Flächigkeit der Jelinekschen Figuren hingewiesen, vgl. U. Haß: Grausige Bilder, S. 28.
8
E. Annuß: Elfriede Jelinek, S. 26.
9
Ebd., S. 27.
10 E. Jelinek: Ich möchte seicht sein, S. 160; vgl. ferner »Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.«, dies.: Sinn egal. Körper zwecklos., S. 9.
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fiktiven, textuell-konturierten Figur, die nämlich als Folge von rhetorischen Operationen der Sprache sowieso schon aufgelöst wurde, sondern lediglich die Verlautbarung des Textes gefordert.11 »Was [das Theater] zeigt,« so Jean-Luc Nancy, »ist das verkörperte Wort oder das Wort ›aus‹ Körper.«12 Hierin zeigt sich die Problematik der rhetorischen und phänomenologischen Bedingtheit postdramatischen theatralen Sprechens, die sich mit Evelyn Annuß wie folgt formulieren lässt: »An die Stelle der Phänomenalisierung personaler Referenz durch den Körper auf der Bühne, die das dramatische Theater als Identifikationsangebot liefert, tritt die offene Frage, wer da in wessen Namen und zu welchem Zweck spricht.«13 Diese fundamentale Frage nach dem phänomenalen und personalen Ursprung der Rede gewinnt weiter an erkenntnistheoretischer Prägnanz im Phänomen der Zeugenschaft, wo gerade die Integrität und Wahrhaftigkeit der Person des Zeugen seine Glaubwürdigkeit grundiert. Ausgehend von Sybille Krämers Überlegungen zum Boten als mediale Reflexionsfigur und Hans-Thies Lehmanns Grundlegung der spezifischen Diskursform des prä-dramatischen Theaters als Aus-Sprache der Akteure in der Gegenwart einer dritten Instanz14 unternehme ich im Folgenden den Versuch,15 das zu beweisen, was viele schon als Vermutung formuliert haben, dass nämlich Rechnitz (Der Würgeengel) »ein Stück über die Frage der Vermittlung«16 sei.
11 Aus einem Gespräch, das während der ungewöhnlich langen und turbulenten Probezeit der HAMLET⏐MASCHINE 1990 zwischen den Schauspielerinnen (Margarethe Taudte, Bärbel Bolle, Margarita Broich, Margit Bendokat, Dagmar Manzel) und Heiner Müller stattgefunden hat, stellt sich eindeutig heraus, wie hilflos sie alle – einschließlich des Autors selbst, der diesmal Regie führen musste – dem Text gegenüberstanden. Vgl. ›Bietet doch mal was an‹, S. 135-136. 12 J.-L. Nancy: Theaterereignis, S. 326. 13 E. Annuß: Elfriede Jelinek, S. 29; zu der Frage von ›Wer spricht‹ siehe außerdem St. Kratz: Undichte Dichtungen, bes. S. 202-220. 14 Vgl. H-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 44f. 15 Keime dieses Ansatzes bzw. seine erweiternde Ausarbeitung in die Richtung des Orgiastischen finden sich schon bei M. Meister: Jelineks Botenbericht, S. 282f. 16 Vgl. Uta Nysen in einem Gespräch in: P. Janke/T. Kovacs/Ch. Schenkermayr: Die endlose Unschuldigkeit, S. 427; sowie P. Janke: ›Herrschsucht, ja, haben wir‹, S. 243.
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II. Als Einstieg ist nun eine kurze Zusammenfassung der diesem polyphonen Theatertext zugrunde liegenden historischen Ereignisse sowie deren realen und fiktiven Nachlebens vielleicht nicht fehl am Platz.17 Mit Rechnitz (Der Würgeengel) versucht Elfriede Jelinek den verschwiegenen und daher vom historischen Vergessen bedrohten Massenmord an rund 200 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern zu vergegenwärtigen, und zwar mit der offenbaren Absicht, ihn in das kollektive Gedächtnis der Österreicher einzugraben. Ende 1944, als die Rote Armee sich der östlichen Grenze des damaligen Großdeutschen Reiches näherte und der Bau der Reichschutzstellung, des sog. »Südostwalls«, verordnet wurde, begann der Transport der jüdischen Zwangsarbeiter aus Budapest nach Kőszeg (Güns), von wo aus sie – zumindest diejenigen, die trotz schlechter Bedingungen und Misshandlungen in dem Sammellager überlebt hatten – auf verschiedene Bauabschnitte aufgeteilt wurden. Im März des nächsten Jahres kamen erneut ca. 1.000 Zwangsarbeiter per Bahn in Burg an, von denen ca. 180 als arbeitsunfähig eingestufte Zwangsarbeiter ausgesondert und im Kreuzstadl bei Rechnitz untergebracht wurden. In der Nacht vom 24. auf den 25. März fand ein Gefolgschaftsfest im Schloss der Familie Batthyány statt, zu dem ranghohe NSDAP-Mitglieder, Funktionäre der Kreisleitung und Mitglieder der Hitlerjugend eingeladen wurden. »Um ca. 23 Uhr versammelt [der Ortsgruppenleiter Franz] Podezin, nach einem Telefonanruf, ca. 14 bis 15 Gäste des Festes im Magazinraum des Schlosses und teilt ihnen mit, dass sie an einer Liquidierung mitwirken werden. Die Waffen werden ausgegeben, und die Täter begeben sich zum Kreuzstadl, wo sie die ca. 180 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter ermorden. Danach kehren sie zum Schloss zurück, wo sie nach Angaben von Zeugenaussagen bis in die frühen Morgenstunden ausgelassen feiern.«18 Am darauf folgenden Tag wurden zudem die 18 Zwangsarbeiter getötet, die das Massengrab der Opfer noch in der Mordnacht zuschaufeln mussten, während Gräfin Margit Batthyány (geb. Thyssen-Bornemisza, Tochter von Heinrich Thyssen und Margit Bornebmisza) zusammen mit ihrem Mann Iván Batthyány, ihrem Gutsverwalter und damaligen Liebhaber Hans Joachim Oldenburg und dem Ortsgruppenleiter Podezin in Richtung Westen floh. Ihre Endstation war die Schweiz, wo die Gräfin bis zu ihrem Tod als ehrenvolles Mitglied der adligen Gesellschaft und Hobby-Pferdezüchterin lebte.
17 Die chronologische Zusammenfassung der bekannten Geschehnisse siehe ausführlich bei T. Kovacs: Chronik der Ereignisse. 18 Ebd., S. 32-33.
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Bereits im April, nach dem Ende der Kampfhandlungen in Rechnitz, kommt das Massaker ans Licht, da Offiziere der Roten Armee unter Mitarbeit der Rechnitzer Bürger das Massengrab öffnen, die Leichen untersuchen und sie dann wieder zuschaufeln ließen. Im Laufe der Untersuchungen für Gerichtsverhandlungen kam es in den Jahren 1945-46 noch zu zwei weiteren Graberöffnungen in der Gegenwart von mehreren Zeugen. Nach drei Jahren Vorbereitung, die zuvorderst durch die mutmaßliche Ermordung von drei geständnisbereiten Zeugen geprägt wurde, brachte der Prozess im Juli 1948 eigentlich keine greifbaren Ergebnisse. Wegen der abgeschwächten, widersprüchlichen, vielmals geänderten und widerrufenen Aussagen der Zeugen und Angeklagten konnte das Gericht nicht zweifelsfrei klären, was im Einzelnen in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 in Rechnitz vor sich gegangen ist. Das Verfahren endete durch die Konstatierung des Massenmordes auch ohne die corpora delicti einerseits und durch die scheiternde Feststellung der persönlichen Verantwortung andererseits mit einem sowohl im juristischen als auch im moralischen Sinne unbefriedigenden Urteil, das eher nur Zweifel an der Möglichkeit der Gerechtigkeit überhaupt aufkommen und zugleich die Grenzen der Rechtsprechung hervortreten ließ. In mancher Hinsicht – sozusagen von der Kehrseite her – vermögen die Auswirkungen dieses Rechtsverfahrens Agambens Warnung vor der »stillschweigende[n] Vermengung juristischer und ethischer Kategorien«19 und seine These zu bekräftigen, nach der die Prozesse »doch zur Verbreitung der Vorstellung bei[trugen], das Problem sei bereits bewältigt«20. Denn »[e]s kam zu keiner einzigen Verurteilung auf Grund aktiver Täterschaft. Da das Verbrechen als erwiesen galt, wurden auch keine Anstrengungen unternommen, die Massengräber der ermordeten Juden zu finden.«21 Die Hauptverdächtigten Podezin und Oldenburg konnten nicht einmal ausfindig gemacht und vor Gericht gestellt werden. In Ermangelung konkreter, benennbarer Täter, die zumindest im juristischen Sinne für den Massenmord zur Verantwortung hätten gezogen werden können, scheint jetzt die moralische Schuld die ganze Gemeinde Rechnitz zu belasten, die in den letzten 65 Jahren – wahrscheinlich aus Angst vor weiteren Repressalien – eine Schweigemauer um sich herum bildete. Dieser Eindruck stellt sich zumindest nach dem Ansehen des Dokumentarfilms Totschweigen22 ein, der die Suchgrabungen nach dem Massengrab auf Bitte der Angehörigen der Opfer und Initiative der Israelitischen Kultusgemein-
19 G. Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 15. 20 Ebd., S. 17. 21 W. Manoschek: Rechnitz, März 1945, S. 64. 22 Totschweigen (AT/DE/NL 1994, R: Margareta Heinrich/Eduard Erne).
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de Wien begleitet. Vergeblich fragten die Filmemacher Margareta Heinrich und Eduard Erne zusammen mit Isidor Sandorffy, der schon an vielen Orten im Burgenland Opfer der Zwangsarbeit gefunden und exhumiert hatte, nach der Lage des Grabs in Rechnitz herum. Ziel der Suche nach 65 Jahren war jedoch nicht die Täter, sondern die sterblichen Überreste der Zwangsarbeiter auffindbar zu machen, damit sie nach jüdischem Gebrauch bestattet werden können. Trotzdem stießen die Suchenden überall auf Ablehnung, auch wenn viele noch persönliche Erinnerungen an jene Nacht hatten und einige sogar gerne darüber sprachen. Nur der Ort des Massengrabs bleibt als streng gehütetes Geheimnis bis heute verschwiegen. Einerseits setzt sich die Rechnitzer Bevölkerung immer wieder den neuen Such- und Grabungsaktionen gerade dadurch aus, dass sie die topographische Lokalisierung der Opfer und damit die Erbringung eines eindeutigen Sachbeweises für die Mordtat zu sabotieren scheint. Wegen der Unzuweisbarkeit von persönlicher Schuld und Verantwortung mag andererseits in der Gemeinde mit dem Auftauchen der corpora delicti das Erbringen eines eindeutigen, materiellen Beweises ihrer kollektiven Schuld verbunden sein.23 Abgesehen von einem Fahndungsersuchen des Wiener Stadt- und Landesgerichts vom 24. August 1948 zur Verhaftung Podezins, in dem der Name Margit Batthyánys als Mitschuldige angegeben, aber am darauf folgenden Tag per Handschrift wieder gestrichen wurde,24 geriet die Rolle bzw. die persönliche Verantwortung der Gräfin nie in den Mittelpunkt der Untersuchungen. Es war erst der britische Journalist David R. L. Litchfield, der während seiner Arbeit an der Chronik der Familie Thyssen auf die dubiose Episode in Margit Batthyánys Leben aufmerksam wurde. Den Ergebnissen seiner »Recherchen« – die höchstens im Sinne des Enthüllungsjournalismus diesen Namen verdienen – widmete er gerade einmal vier Seiten in seinem 600-seitigen Buch,25 die womöglich ihrem Stellenwert entsprechend rezipiert worden wären, wenn es nicht eine detailliertere Entfaltung im Oktober 2007 zunächst im Independent, dann in der F.A.Z. mit den etwas »sensationshaschenden« Überschriften »The killer countess: The dark past of Baron Heinrich Thyssen’s daughter«26 und »Die
23 Zu der ausführlichen Dokumentierung der Suche nach dem Massengrab siehe G. Holzinger: ›… daß mit relativ geringen Mitteln …‹ sowie R. Peticzka: Rechnitz. 24 Das Fahndungsersuchen ist abgedruckt in: P. Janke/T. Kovacs/Ch. Schenkermayr: »Die endlose Unschuldigkeit«, S. 68-69. 25 D.R.L. Litchfield:
The
Thyssen
Art
D.R.L. Litchfield: Die Thyssen-Dynastie. 26 Ders.: The killer countess.
Macabre;
deutschsprachige
Ausgabe:
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Gastgeberin der Hölle«27 gegeben hätte. Stark von dem vulgären Stil der Boulevardberichterstattung geprägt, konzentrierte sich Litchfield zumeist auf Margit Batthyánys außereheliches Liebesleben: es ist die Rede von einem »voracious sexual appetite« sowie von ihrem »obvious sadistic pleasure« beim Beobachten von Judenmisshandlungen. Die Geschichte des Massenmordes sowie die Frage nach der juristischen und moralischen Verantwortung der Gräfin geraten durch diese pikante Darstellung in den Mittelpunkt des Medieninteresses, welche zusammen mit ihrer Diskussion im Feuilleton als Hypotext sogar in Jelineks Sprachfläche hineinfließt.28 Dies mag der Grund dafür sein, dass Rechnitz (Der Würgeengel) in vieler Hinsicht die Rezeptionsgeschichte des Burgtheaters (1982/85) zu wiederholen scheint, in der es hauptsächlich um die angebliche Diffamierung und »Verunglimpfung« der Wessely-Hörbiger-Schauspielerdynastie ging. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aufdeckung der genauen Umstände des Massenmordes überwiegend an dem Widerstand der Rechnitzer Bevölkerung gescheitert ist. In Ermangelung umfassender Grundlagenforschungen besteht nicht einmal unter Historikern Konsens darüber, was im Einzelnen in diesen paar Tagen direkt vor dem Einrücken der Sowjetarmee in Rechnitz passierte und wie die 200 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter ums Leben kamen. So konnten im Laufe der Litchfield-Debatte sogar Stimmen wie die von Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, hörbar werden, der in aller Öffentlichkeit behauptete, der Fall wäre in den historischen Forschungen bisher gar nicht bekannt gewesen. Ferner drückte er seinen Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Geschichte über die Partybelustigung mit Judenmord anhand von geschichtswissenschaftlich kaum verifizierbaren Argumenten aus: »Am 24. März 1945 hatten auch die ganz unentwegten Fanatiker eigentlich anderes im Sinn, nämlich ihre Haut zu retten.«29 Durch das Fehlen des eigentlichen historischen Faktes sowie der Opfer und der Täter stellt der Massenmord in Rechnitz ein Kapitel des Holocaust dar, das die ineinander verschränkten Problemkomplexe der Zeugenschaft und der Übertragung aufwirft. Jelineks Bearbeitung schließt sich gleichsam in mehrerer Hinsicht dem erinnerungspolitischen Diskurs an, indem sie eine ganze Reihe der dichotomischen Begriffs- und Denkschemata in Bezug auf den Holocaust näher zu erleuchten, manche sogar zu destabilisieren vermag. Zu denken ist vor allem
27 Ders.: Die Gastgeberin der Hölle. 28 Zur ausführlichen Darstellung der Litchfield-Debatte siehe Ch. Schenkermayr: Die ›Litchfield-Debatte‹. 29 W. Benz/Ch. Schmitz: Lauter ›Geraune und Hörensagen‹.
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an die Behandlung der Shoah als Teil einer globalen Gedächtniskultur im Gegensatz zu ihrer Verortung in den lokalen Erinnerungen; an die Behandlungsmöglichkeiten von Traumata im Spannungsfeld von Aussprechen und Verschweigen; an die Gegenüberstellung der rechtlichen und moralischen bzw. der individuellen und kollektiven Verantwortung für den Völkermord; an die epistemologische und strukturelle Differenz der zwei Arten von Zeugenschaft, wie sie von Giorgio Agamben als Unterscheidung von testis und superstes erfasst wurden30, oder an die langanhaltende Ausschließlichkeit der Opfergegenüber der Täterperspektive. Da aber im Kontext der österreichischen Erinnerungs- bzw. Vergessenskultur »Rechnitz […] als der paradigmatische Ort einer ›Verschwörung zum Schweigen‹«31 gilt, scheint die Signifikanz von Jelineks Theatertext in Jossi Wielers Inszenierung auch darin zu liegen, dass er sich intensiv mit der Möglichkeit der sprachlichen Erzählbarkeit und der theatralen Darstellbarkeit der Verbrechen des NS-Regimes auseinandersetzt.
III. In Rechnitz (Der Würgeengel) verweist nur die Hälfte des Titels auf dieses konkrete historische Ereignis, ansonsten enthält der Text nur loopartig zurückkehrende Hinweise auf reale Personen und Geschehnisse: »Frau Gräfin und ihre beiden Günstlinge, die Herren P. und O., ihre Geliebten« (117); »Na gut. Dann schweigt sie halt, die Frau Gräfin. Alles schläft, einsam wacht, aber schweigt. Sie schweigt in der Schweiz.« (158); an einer Stelle steht sogar der Name »Frau Gräfin Margit« (110). Die andere Titelhälfte ruft Luis Buñuels El ángel exterminador (1962) in Erinnerung, von dem nicht nur das Szenario eines auf unheimliche Weise geschlossenen Raumes übernommen wird. Bei Buñuel wird die surreale Handlung des Films in einer Villa in Gang gesetzt, in der eine vornehme Gesellschaft das Abendessen nach dem gemeinsamen Theaterbesuch genießt, auf einmal kann aber aus unerklärlichen Gründen niemand mehr den Salon nicht mehr verlassen, während das Personal aus dem Haus flüchtet. Jelineks Text ist nämlich – wie schon eingangs angemerkt – ein Botenbericht, in Jossi Wielers Inszenierung verteilt auf fünf SprecherInnen, die zunächst in Abendgarderobe erscheinen und als fröhliche Partygäste den Zuschauern zur Begrüßung winken, dann ziehen sie sich bis auf die Unterwäsche aus, um sich schließlich scheinbar als Mitglieder der Dienerschaft zu verkleiden.
30 Vgl. G. Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 14f. 31 R. Misik: Dialektik des Schweigens.
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Durch das Ersetzen der Abendgarderobe durch Arbeitsbekleidungen verschiedenster Art wird aber nicht nur eine eindeutige (referentielle) Identitätszuschreibung der SprecherInnen unterminiert und zugleich die Vermengung der verschiedenen Redeweisen und Perspektiven auf einer visuellen Ebene vollzogen, sondern auch das Wort »Bote« in seinen beiden Bedeutungsfeldern – als »Sendbote«, »Engel«, »Gesandter« einerseits, und als »Diener«, »Dienstbote« andererseits – aktualisiert. Letztere verweisen zunächst einmal auf die dubiose Stellung der Diener in Buñuels fiktiver Welt, während ihre außertextuelle Referenz in der ausschlaggebenden Rolle der Diener des Batthyány-Schlosses als potentielle Zeugen des Verbrechens bestehen kann. Der Titel Rechnitz (Der Würgeengel) gibt also ziemlich genau an, worum es in dem Stück geht, obwohl – so meine These – nicht primär im Sinne der Thematisierung eines konkreten, verschwiegenen historischen Vorfalls, sondern im Sinne der Vermittelbarkeit eines »Ereignisses ohne Zeugen«32 überhaupt. Die spezifische Leistung von Jelineks Theatertext besteht also darin, dass er durch das mannigfaltige InsSpiel-Bringen des Botenmodells die Idee der Medialität als Übertragung (mit besonderer Rücksicht auf den Übertragungsvorgang von Wissen durch Zeugenschaft) – wie sie von Sybille Krämer ausgearbeitet wurde – mit der medialen Eigenartigkeit eines nicht-dramatischen Theaters zu verbinden vermag. Zur Verdeutlichung meiner These gehe ich zunächst davon aus, dass Jelineks Boten einerseits auf exemplarische Weise als Verdeutlichung der fünf Dimensionen (Distanz, Heteronomie, Drittheit, Materialität, Indifferenz) gelten können, die Krämer in ihrer medienphilosophischen Studie als die »Funktionslogik des Boten«33 aufzeigte. Eine ausführliche Analyse aller fünf Attribute würde den Rahmen dieses Beitrags sicherlich sprengen, daher wird im Folgenden ausführlich zunächst nur auf die »Heteronomie als Sprechen mit fremder Stimme« und die »Indifferenz als Selbstneutralisierung« eingegangen, zumal sie sich im Zusammenhang erstens mit Jelineks intertextuellen Textherstellungsverfahren, zweitens mit dem entpsychologisierten und entpersonalisierten szenischen Sprechen der Schauspieler in Wielers Inszenierung und drittens mit den medialen und erinnerungspolitischen Dimensionen der Holocaust-Zeugenschaft als besonders relevant erweisen. Andererseits kann aber Jelineks als mehrstimmiger Botenbericht konstruierter Text mit elementarer Kraft unsere Aufmerksamkeit auf einen blinden Fleck des sonst triftigen medienphilosophischen Botenmodells lenken. Gemeint ist die ambivalente Stelle, wo sich gerade die Fremdgesteu-
32 D. Laub: An Event Without Witness. 33 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 118.
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ertheit des Boten und seine »diskursive Ohnmacht«34, die aus seiner Indifferenz angesichts der von ihm überbrachten Botschaft folgt, mit dem Authentizitätsprinzip der Grammatik der Zeugenschaft kreuzt. In einem zweiten Schritt soll daher diese epistemologische Grauzone näher beleuchtet werden.35 Ein kursorischer Blick auf die Textgestalt von Rechnitz (Der Würgeengel) reicht um festzustellen, dass Jelineks Text im Gegensatz zu einem Drama aus keinen psychologisch oder soziologisch motivierten, als Individuen erkennbaren Figuren und ihrem dialogischen Sprechen besteht, das letztendlich sogar eine kausallogische Handlung ergibt, sondern eine Sprachfläche aus »Sprachhaltungen und Redeweisen«36 darstellt. Der Bericht der Boten setzt sich aus vielen verschiedenen, auf den Fall Rechnitz bezogenen »Äußerungsformen wie Zeugenaussagen, Erinnerungen, Erzählungen, Beschreibungen, HistorikerAnalysen, Interviews, Statements, Kommentare[n], Medien-Debatten, Fernsehberichte[n], Gerüchte[n], Vorurteile[n], Alltagsgeschwätz«37 zusammen. Als wäre die Fremdbestimmtheit ihrer Rede nicht schon wegen ihrer ausgestellten Zitathaftigkeit offensichtlich genug, werden die Boten nicht müde immer und immer wieder zu betonen, dass sie im Auftrag eines anderen sprechen und handeln. Dies erfährt in Wielers Inszenierung wiederum eine visuelle Bekräftigung durch die Polyfunktionalität der Kopfhörer als Requisiten, durch die eingangs das musikalische Leitmotiv der Aufführung, eine Variation der Ouvertüre des Freischütz von Carl Maria von Weber, zu ertönen scheint. Dann sieht es aber so aus, als würde den Boten dadurch die Sprache eingeflüstert, die sie dann nur noch wiederholen müssen wie etwa in einem Sprachlabor: »Das Ende soll unser aller Grabmahl sein, soll ich Ihnen ausrichten, habe aber vergessen, von wem.« (58) – so der »informative« Satz, der gleich nach dem erstmaligen Abnehmen der Kopfhörer vom Boten geäußert wird. Schließlich, wenn es hinter den Kulissen zur Schießerei kommt und die eindringenden Geräusche eindeutig als Schüsse zu identifizieren sind, fungieren die Kopfhörer als Gehörschutz, wie man ihn unter anderem vom Schießplatz kennt. Dadurch, dass die Boten sich nach der Schießerei von den Kopfhörern/Gehörschützern frei machen und gleichzeitig die nicht näher zu bestimmende Fremdbestimmtheit ihrer Rede bekunden – »Sie hörten soeben unsere tägliche Sendung von der Banalität des Bösen, Sie kennen sie eh schon, und zwar von gestern und
34 Ebd., S. 119. 35 Zur Weiterentwicklung des Botenmodells durch die gründlichere Entfaltung der Problematik der Zeugenschaft siehe S. Krämer: Vertrauenschenken. 36 P. Janke: ›Herrschsucht, ja haben wir‹, S. 246. 37 Ebd.
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vorgestern, und jetzt wieder Musik.« (99) – gerät im Inszenierungstext der Uraufführung die Fremdgesteuertheit der Boten mit der epistemischen Kompetenz als Grundvoraussetzung der Zeugenschaft in Konflikt. Es ist in dieser Szene nämlich nicht zu entscheiden, ob dieses Bühnenrequisit ein Medium darstellt, durch das die Wahrheit aus einer fremden Quelle an die Boten zur Weitergabe übermittelt wird, oder eben ein Mittel, das durch die Verhinderung der Wahrnehmung (d.h. das Verschließen der Ohren) ihnen gerade den Zugang zur Wahrheit versperrt. Das Ausstellen dessen, dass die Boten immer in fremdem Auftrag handeln und zugleich über die Person ihres Auftraggebers fortwährend im Unklaren lassen, wird in Rechnitz (Der Würgeengel) neben den zahlreichen verunsichernden Bemerkungen über die Herkunft ihrer Rede auch dadurch ad absurdum geführt, dass die Boten sich gelegentlich als Sprachrohr der Autorin bekannt geben. Ein etwas längeres Zitat soll diese bei Jelinek seit Ein Sportstück (1998) gewohnte Geste der ironischen (Selbst)Inszenierung der auktorialen Persona verdeutlichen: »Eine total von sich eingenommene Frau hat […] mir [alles, was ich berichten soll] eingetrichtert. Ein Glück, daß sie Ihnen so unsympathisch ist! Und ich hab mir eh nicht alles gemerkt. […] Mir geht es hier nicht in erster Linie um eine ideologische Linie, wie Sie mir und dieser Frau, die wiederum mir meinen Text eingesagt hat, immer unterstellen, sondern um die Menschen und ihr Verhalten, schon weil die meisten Leute widersprüchlich handeln und weil sich ihre Einstellungen mit den Jahren situationsbedingt ändern. Also die Leute sollen ihre Einstellungen ruhig ändern, von mir aus, aber ich als Berichterstatter habe diese Einstellung […] also für Sie bereits kalibriert nach dem Willen einer Frau, der aber zum Glück nicht zählt, und Sie können sie übernehmen, diese Einstellung, so, wie ich sie Ihnen gebe, von mir aus, meinen Charakter können Sie auch noch haben, denn mein Charakter ist dauerhafter als meine Meinung, die ich ohnedies nicht in den Bericht einfließen lassen darf, das hat mir die Frau eigens aufgetragen, obwohl sie gar nicht kochen kann und daher auch nie etwas aufträgt, man geht immer hungrig von ihr fort. Ständig unterstellen Sie mir, daß ich nur Eingelerntes aufsage, genau wie Sie dieser Frau unterstellen, daß sie nur Eingelerntes von sich gibt, und was habe ich davon? Sie hat ihren Schirm, meinen Unterstand, zurückverlangt! Und wie stehe ich jetzt da? Wo soll ich mich jetzt unterstellen? Denn diese Einstellung hatte ich mir von der Frau ja ursprünglich nur geborgt und mußte sie schon zurückgeben, bevor ich mir meinen Ursprung auch nur einmal in Ruhe anschauen konnte.« (78-79)
Ersichtlich werden an diesem Zitat neben den häufigsten kritischen Bemerkungen in Bezug auf ihre Schreibweise auch die bekanntesten und – dies muss leider
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gleich hinzugefügt werden – unproduktivsten Fehllektüren, die Jelineks außerwissenschaftliche Rezeption bis dato dominieren. Gemeint ist die Lesart, die den literarischen Text nicht als Leistung der figurativen Macht der Sprache anerkennt, die zugleich ihren Urheber auslöscht, sondern für einen quasi illokutiven Akt hält, der zwangsläufig auf ein Aussagesubjekt, d.h. auf seine(n) Autor(in) zurückverweist. Doch gerade der Auslöschung der Spuren des Ursprungs und der Depersonalisierung der Rede kommt in der Struktur dieses Botenberichts eine ausschlaggebende Rolle zu. Da es hier um die sprachliche Wiedergabe eines Verbrechens geht, stellt sich die Frage nach dem Unbeteiligtsein der Boten gleich in doppelter Hinsicht. Dass sie sich indifferent gegenüber dem Inhalt ihrer Erzählung verhalten,38 sollte einerseits auf Grund ihrer loopartig zurückkehrenden, distanzierenden Aussagen39 und ihres grundsätzlich ironischen Verhältnisses zu den durch sie übertragenen Diskursfragmenten, die zumeist durch die rhetorischen Strategien der Paronomasie und des Kalauers entstellt werden, außer Zweifel stehen. Doch die Performanz dieser Neutralisierungsverfahren, verstärkt durch das fortwährend starre Lächeln, das das Sprechen der Akteure begleitet, schlägt gerade in ihr Gegenteil um und hinterlässt den Eindruck ihrer persönlichen Involviertheit, vielleicht sogar ihrer Komplizenschaft angesichts der grauenhaften Geschehnisse. Unser sich nach einer gründlichen Textlektüre einstellender Eindruck, dass Jelineks Sprecher ein wichtiges Attribut des Botenamtes, nämlich die aus ihrem Mediencharakter folgende Abschwächung ihres Selbst zugunsten der Botschaft verfehlen, gewinnt durch die Spielweise der Schauspieler im postdramatischen Theater eine zusätzliche Verstärkung. Denn die Forderung der Indifferenz, die Sybille Krämer als »Fremdvergegenwärtigung durch Selbstneutralisierung«40 erklärt, ist im Grunde genommen nichts anderes als die Funktionslogik des dramatischen Rollenspiels. Im Gegensatz dazu wird im postdramatischen Theater die Sprecheridentität nicht aus dem Rollentext an dem zu einer semiotischen Zeichenfläche neutralisierten Körper des Schauspielers hergestellt, sondern sie wird durch das dominante Hervortreten des phänomenalen Schauspielerkörpers als Verkörperung des Sprechtextes hervorgebracht. AUSNAHMEBOTEJUNG, BOTESCHMAHL, BOTEKREMER, BOTEBÜRKLE und BOTESCHARF – wie
38 Vgl. S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 118. 39 Vgl. »Wie oft soll ich noch sagen: Wir berichten nur.« (145); »… meine Meinung zählt hier nicht, die eigene Meinung hat in einem Botenbericht nichts zu suchen.« (187) 40 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 118.
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die Sprechinstanzen in der Münchner Fassung heißen41 – unterscheiden sich in ihrem Charakter nicht zuvorderst durch ihren Sprechtext, der in allen fünf Fällen dem gleichen monolithischen Textblock entrissen wurde, sondern durch die je verschiedene persönliche Verfassung der sie verkörpernden Schauspieler (André Jung, Hildegard Schmahl, Hans Kremer, Katja Bürkle und Steven Scharf). Die Entscheidung darüber, ob die Boten – und damit bin ich schon bei der konkreten Problematik der Zeugenschaft – persönlich am Tatort zugegen waren, d.h. als Augenzeugen gelten, oder das, was sie berichten, nur vom Hörensagen wissen, stellt den Rezipienten vor eine weitere Herausforderung. Auf ihre eigenen Aussagen kann er sich wieder nicht verlassen, da sie sich bereits auf den ersten Blick als widersprüchlich erweisen. An einer Stelle scheinen die Boten nämlich ihre Anwesenheit und Eigenwahrnehmung bekunden zu wollen, deren sie sich dann doch nicht ganz sicher sind: »Ich habe mit eigenen Augen, zumindest nehme ich an, daß es meine waren, da waren so viele!, und später dann keine mehr, ich habe es selbst gesehen und auch gehört, wie diese Männer ergriffen wurden, während keiner der Gäste und keiner der Diener aus dem Dorf und keiner der Forstwarte im Wald und keine der Lilien auf dem Felde davon ergriffen wurde […]« (161)
An einer anderen Stelle versuchen sie sich mit der gleichen Entschlossenheit unter Berufung auf den andersartigen juristischen Status des Augenzeugen der Mitverantwortung für das Verbrechen zu entledigen: »Ich als Bote hätte Ihnen selbstverständlich gern einen Beweis in Gestalt eines Zeugnisses gegeben, aber dadurch wäre ich ja Zeuge geworden, nicht Bote, und hätte mich womöglich selber strafbar gemacht, weil ich sowas auch nur mit angesehen hätte, wobei die Betonung auf mit liegt, denn es waren auch andre da, Sie sehen es ja selbst, daß auch andre sich das angesehen haben, und zwar Leute, die angesehener waren als Sie!« (185)
Die temporale Logik ihrer Berichterstattung gibt ebenso wenig Aufschluss darüber, ob ihre Informationen aus erster oder zweiter Hand kommen. Der permanente Wechsel zwischen den Tempora führt in der Rede der Boten zu einer Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart und zu einer Unentscheidbarkeit, ob es hier – dramaturgisch gesprochen – tatsächlich um einen Botenbericht, also um eine Erzählung vergangener Vorgänge fremder oder zumindest ungeklärter Herkunft geht oder eher um eine Teichoskopie, d.h. das
41 Vgl. J. Lochte: Totschweigen, S. 419-421.
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gleichzeitige Berichten von dem, was man mit eigenen Augen sieht. Ersterer wirft nämlich das erkenntnistheoretische Dilemma der Übertragung von Wissen, aber nicht das der Augenzeugenschaft auf, während die Mauerschau, wenn man sie buchstäblich liest, durch die Aktualisierung der Metapher der »Schweigemauer« und den Verweis auf den Südostwall – hier in der ursprünglichen Bedeutung des Walls als »Erdaufschüttung«, »Erderhöhung« – den erinnerungspolitischen und topographischen Dimensionen des Vernichtungsprojekts Rechnitz einen zusätzlichen dramaturgischen Ausdruck verleiht. Aus der Hinsicht der Zeugenschaft zeigt sich die Signifikanz der Teichoskopie doch vielmehr darin, dass sie durch ihre etymologische Verwandtschaft das Eingeschriebensein von Skepsis in das Beobachten zum Vorschein kommen lässt. Die Boten von Rechnitz entlarven nicht nur ihre eigene epistemische Inkompetenz als Zeugen, sondern sie wecken auch einen generellen Zweifel an der inhärenten Verschränkung von Sehen und dem Wissen der Wahrheit, d.h. an der Möglichkeit der Zeugenschaft überhaupt:42 »Ich kann nicht sagen, was sein wird, nur, was ich gesehen habe, also was war. Nicht, was wahr ist.« (186)43 Im Licht der vorangegangenen Überlegungen drängt sich erneut die Frage nach den Dilemmata der Zeugenschaft auf. In den bisherigen Ausführungen ging es darum nachzuweisen, dass das Stimmengewirr der Boten ein Sprechen darstellt, das »unaufhörlich den Status der Sprechenden«, und – man muss prompt hinzufügen – zugleich des Be-/Gesprochenen »in Frage stellt und damit die Referenz auf eine Wahrheit verunmöglicht«44. Daher scheint die Frage angebracht, worin dann die Leistung der Boten bestünde, wenn sie dadurch, dass »die Integrität [ihres] eigenen Personseins«45 einer permanenten Dekonstruktion unterzogen wird, ihre Glaubens- und Vertrauenswürdigkeit als Zeugen bewusst aufs Spiel setzen und damit zugleich den epistemologischen Stellenwert ihrer Botschaft bzw. des bezeugten Ereignisses in Zweifel ziehen. Die Antwort gründet in der Engführung von Sybille Krämers Medienphilosophie der Botenschaft mit der rhetorischen und phänomenologischen Bedingtheit prä- und postdramatischen Sprechens. Ulrich Baers Verständnis des Holocaust »als eine tiefgrei-
42 Vgl. hierzu Felmans Einschätzung des Holocaust als »an historical assault on seeing«; Sh. Felman: The Return of the Voice, S. 209. 43 Vgl. demgegenüber die geläufige Definition des Zeugen: »Der Zeuge ist der, der schlicht sagt, was war und was wahr ist, und der dabei nicht nach den Folgen seiner Aussage fragt.« S. Schmidt/R. Voges: Einleitung, S. 11. 44 M. Meister: Jelineks Botenbericht, S. 278. 45 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 250.
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fende historische Krise der Zeugenschaft«46 aufgreifend und in Anlehnung an Dori Laubs Bestimmung der Zeugenschaft als »provid[ing] an independent frame of reference«47 erklärt Krämer den Akt des Bezeugens als einen Prozess, in dem die Perspektive eines Dritten – die einer Beobachterperspektive gleichzusetzen wäre – entsteht und der Überlebende sich dadurch dem Universum des Konzentrationslagers, verkürzt auf die binäre Opposition von Opfer und Täter, entreißen kann. Die Performativität der Holocaust-Zeugenschaft – wie es auf beispielhafte Weise durch das Yale Oral Testimony-Project oder Claude Lanzmanns Shoah vor Augen geführt wird – besteht demnach nicht in dem Konstativen als Inhalt der Zeugenaussagen, sondern darin, dass der Überlebende im Akt des Zeugnis-Ablegens seine Identität und Integrität eben dadurch wiederherstellen kann, dass er »den Hörer zum Medium seiner Aussage macht, ihn also selbst in einen Zeugen verwandelt«48. »Das, was an diesen Berichten zählt«, so Krämer, »ist weniger der bezeugte Sachverhalt, als der Vollzug des Bezeugens selbst.«49 Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, warum gerade das postdramatische Theater der »besondere[n] Zeugnis-Struktur des Überlebenszeugen«50 zu einer wirkungsvollen ästhetischen Inszenierung verhelfen kann. Mit der Ausschaltung der Funktionslogik des Dramatischen eignet sich nämlich das Theater immer mehr die besondere Signatur der Performancekunst an, die gerade darin gründet, die Zuschauer zum Zeugen eines singulären Geschehens zu machen, dessen Wirkung sie sich nicht entziehen können.51 Zugleich wird damit der szenische Diskurs zu seinen prä-dramatischen Wurzeln als öffentliche »Aus-Sprache der Figuren«52, als »Kopräsenz von Stimmen«53 in der dauernden Anwesenheit des Chors zurückgeführt: »die ästhetische Notwendigkeit des Chors für den tragischen Diskurs [besteht] gerade darin«, wie Hans-Thies Lehmann es ausgedrückt hat, »daß es kaum einen Dialog auf der Szene zwischen den Akteuren geben kann, ohne daß eine dritte Instanz anwesend ist.«54 In Jossi Wielers Inszenierung von Rechnitz (Der Würgeengel) wird diese Struktur derart modifiziert, dass die
46 Ebd., S. 248. 47 D. Laub: An Event Without Witness, S. 81. 48 S. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 252. 49 Ebd., S. 251. 50 Ebd., S. 252. 51 Vgl. S. Krämer: Zuschauer zu Zeugen machen, S. 16-19. 52 H-T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 44. 53 Ebd., S. 45. 54 Ebd., S. 48f.
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fünf Akteure die im antiken Theater noch bestehende Differenz zwischen Einzelschauspielern – von denen ursprünglich der Deuteragonist der Bote war – und Chor tilgen und ihre Aus-Sprache zugleich als An-Sprache des Publikums inszenieren. Sie kommen augenzwinkernd auf die Bühne, treten an die Rampe und über sie hinweg sprechen sie fortwährend direkt zu den Zuschauern mit der Absicht, sie in eine Menge von Augen- und Ohrenzeugen ihres Berichtens zu verwandeln. Wichtig ist allerdings, den Unterschied zwischen dem wahren Überlebenszeugen – den es in dem historischen Fall Rechnitz nur als Leerstelle gibt – und dessen szenischer Verwirklichung durch Jelineks Boten zu sehen, die eigentlich als Verkörperungen sowohl der fehlenden Opfer als auch der fehlenden Täter zu betrachten sind. Aber gerade indem sie in ihrem Diskurs die Opferund Täter-Sprache miteinander vermischen, machen sie die Zuschauer zu Zeugen eines Massenmordes gleich aus beiden Perspektiven.55 Die ästhetische Faszination des Theaterabends Rechnitz (Der Würgeengel) ergibt sich demnach aus der Tatsache, dass er die Zuschauer im Vollzug der Übertragung der Zeugenschaft nicht nur zu Zeugen eines unerhörten Ereignisses, sondern zugleich zu Mitverantwortlichen für das berichtete Ereignis machen kann. Die zentrale Idee von Jossi Wielers Regiedenken ist es, in einer requisiten- und handlungsarmen Inszenierung die Darstellung des Massakers allein der paronomasien- und kalauerreichen, zugleich aber subjektlosen Sprache anzuvertrauen, d.h. das gewaltige Verbrechen als Wort-Gewalt auszustellen. Vollzogen wird dies – um Jean-Luc Nancys Beschreibung des Theaterereignisses zu übernehmen – durch die Verschaltung des Zuschauers in das Wort, »von einer Figur zu einer anderen und vom Ensemble der Figuren zu einem Publikum«56. Anders als eine kalkulierte politische Provokation – ein Vorwurf, der vielfach geäußert wurde und zumeist als Resultat einer naiven, intentionalen Lesart literarischer Texte entsteht – stellt Jelineks Theatertext nur in diesem Sinne eine »Pro-vokation«57 dar.
IV. Zum Schluss sei mir ein persönliches Wort bezüglich meiner eigenen Erfahrung als Zeuge erlaubt. Als Zuschauerin hatte ich im Oktober 2009 die Gelegenheit, der Aufführung der Münchner Kammerspiele im Rahmen eines Gastspiels beim
55 Zur
Funktion
der
Multiperspektivität
der
Holocaust-Zeugenschaft
(victims,
perpetrators, bystanders) in Shoah siehe S. Felman: The Return of the Voice, S. 207f. 56 J-L. Nancy: Theaterereignis, S. 326. 57 Ebd.
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Budapester Herbstfestival beizuwohnen. In einem Land also, wo der Fall Rechnitz – trotz Ungarns Betroffenheit durch die Opfer und vielleicht sogar durch die ungeklärte Rolle einer der renommiertesten Adelsfamilien – außerhalb von Historikerkreisen kaum bekannt ist. Am deutschsprachigen Theater zeigt in Budapest ein beschränkter Kreis von engagierten Zuschauern Interesse, daher sieht man bei Gastspielen überall dieselben Gesichter, man kennt sich mittlerweile. Bei Rechnitz (Der Würgeengel) war es jedoch sofort ersichtlich, dass diesmal im Budapester Thalia-Theater nicht nur das übliche Festival-Publikum anwesend war. Ich selbst nahm im Theatersaal zwischen Zuschauern Platz, die schon wegen ihres Alters und Gesundheitszustandes – einige konnten sich nur mit Gehrahmen oder in Begleitung jüngerer Familienmitglieder bewegen – nicht mehr zu der kleinen Insider-Gruppe der regelmäßigen Theaterbesucher und/oder zu den bekennenden Fans des deutschen Gegenwartstheaters gehören konnten. Mir wurde sofort klar, dass sie sich diesmal auch nicht von dem Namen des ästhetisch führenden deutschsprachigen Theaterhauses, des jungen ShootingStar-Regisseurs Jossi Wieler und nicht einmal der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek angesprochen und hingelockt fühlten, sondern von der Möglichkeit, im Rahmen einer ästhetischen Inszenierung Zeugnis über die Freunde und Verwandten abzulegen und ihnen dadurch zu der Wahrheit ihres Lebens und Todes zu verhelfen, von denen sie bis heute nur ahnen können, dass sie im Massaker von Rechnitz getötet worden sind. Meine Vermutungen haben sich während des anschließenden Publikumsgesprächs vollkommen bestätigt, als ein älterer Mann sich zu Wort meldete und zugab, er sei gekommen, um sich endlich die Geschichte seines Onkels und der anderen Opfer anzuhören, die er anderswie und anderswo in der Öffentlichkeit nicht zu Gehör bekomme.
L ITERATUR Primärliteratur Jelinek, Elfriede: Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere: Drei Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009, S. 55205. — »Ich möchte seicht sein«, in: Christa Gürtler (Hg.), Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1990, S. 157-161.
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— »Sinn egal. Körper zwecklos.«, in: Dies., Stecken, Stab und Stangl. Raststätte oder Sie machens alle. Wolken.Heim. Neue Theaterstücke, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 7-13.
Sekundärliteratur »›Bietet doch mal was an‹«, in: Suschke, Stephan: MÜLLER MACHT THEATER. Zehn Inszenierungen und ein Epilog, Berlin: Theater der Zeit 2003, S. 135-136. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Annuß, Evelyn: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, München: Fink 2005. Becker, Peter von: »›Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz‹«. Gespräch mit Elfriede Jelinek, in: Theater heute 9 (1992), S. 1-9. Benz, Wolfgang/Schmitz, Christoph: »Lauter ›Geraune und Hörensagen‹«, Ein Gespräch am 18.10.2007, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/682854/. Derrida, Jacques: »Diese merkwürdige Institution namens Literatur«, in: Jürn Gottschalk/Tilmann Köppe (Hg.), Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie, Paderborn: Mentis-Verlag 2006, S. 91-107. Felman, Shoshana/Laub, Dori: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York/London: Routledge 1992. — »The Return of the Voice: Claude Lanzmann’s Shoah«, in: Sh. Felman/D. Laub, Testimony, S. 204-283. Haß, Ulrike: »Grausige Bilder. Große Musik. Zu den Theaterstücken Elfriede Jelineks«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Elfriede Jelinek, München: edition text + kritik 1993, S. 21-30. Holzinger, Gregor: »›… daß mit relativ geringen Mitteln mit einem erfolgreichen Abschluss der Suche gerechnet werden kann.‹ Das Massengrab von Rechnitz: Eine Suche nach dem Stecknadel im Heuhaufen«, in: P. Janke/T. Kovacs/Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 114-122. Janke, Pia/Kovacs, Teresa/Schenkermayr, Christian (Hg.): Die endlose Unschuldigkeit. Elfriede Jelineks ›Rechnitz. (Der Würgeengel)‹, Wien: Praesenz Verlag 2009.
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— »›Herrschsucht, ja, haben wir‹. Die Täter in Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel)«, in: P. Janke/T. Kovacs/ Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 239-254. Kovacs, Teresa: »Chronik der Ereignisse«, in: P. Janke/T. Kovacs/ Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 28-44. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. — »Vertrauenschenken. Über Ambivalenzen der Zeugenschaft«, in: dies./ Sybille Krämer/Ramon Voges (Hg.), Politik der Zeugenschaft, S. 117-140. — »Zuschauer zu Zeugen machen. Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Performanz, Medien und Performance Künsten«, in: E.P.I Zentrum Berlin – Europäisches Performance Institut, 13. Performance Art Konferenz. Die Kunst der Handlung 3, Berlin, 2005, S. 16-19. Kratz, Stephanie: Undichte Dichtungen. Texttheater und Theaterlektüren bei Elfriede Jelinek. Dissertation, Köln 1999, http://kups.ub.uni-koeln.de/1035/1/undichte_dichtungen.pdf Laub, Dori: »An Event Without Witness: Truth, Testimony and Survival«, in: Sh. Felman/D. Laub, Testimony, S. 77-92. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren, 1999. — Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: Metzler 1991. Litchfield, David R. L.: Die Thyssen-Dynastie. Die Wahrheit hinter dem Mythos, Oberhausen: assoverlag 2008. — The Thyssen Art Macabre, London: Quartet Books 2006. — »Die Gastgeberin der Hölle«, F.A.Z. vom 18.10.2007, S. 37. — »The killer countess: The dark past of Baron Heinrich Thyssen’s daughter«, The Independent vom 7.10.2007, http://www.independent.co.uk/news/people/profiles/the-killer-countess-thedark-past-of-baron-heinrich-thyssens-daughter-395976.html. Lochte, Julia: »Totschweigen oder die Kunst des Berichtens. Zu Jossi Wielers Uraufführungsinszenierung von Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel)«, in: P. Janke/T. Kovacs/Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 411-425. Manoschek, Walter: »Rechnitz, März 1945. Taten und Täter«, in: P. Janke/T. Kovacs/Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 51-74 Meister, Monika: »Jelineks Botenbericht und das Orgiastische. Anmerkungen zum Text Rechnitz (Der Würgeengel)«, in: P. Janke/T. Kovacs/ Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 278-288.
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Misik, Robert: »Dialektik des Schweigens«, Die Tageszeitung vom 30.10.2007, http://www.taz.de/1/politik/europa/artikel/1/dialektik-des-schweigens/. Nagel, Ivan: »Lügnerin und Wahr-Sagerin. Rede zur Verleihung des BüchnerPreises an Elfriede Jelinek am 17. Oktober 1998«, in: Theater heute 11 (1998), S. 60-63. Nancy, Jean-Luc: »Theaterereignis«, in: Nikolaus Müller-Schöll (Hg.), Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld: transcript 2003, S. 323-330. Peticzka, Robert: »Rechnitz – Technische Aspekte der Suche«, in: P. Janke/T. Kovacs/Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 123-131. Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext, Berlin/New York: de Gruyter 1997. Schenkermayr, Christian: »Die ›Litchfield-Debatte‹ – Chronik der medialen Kontroverse«, in: P. Janke/T. Kovacs/ Ch. Schenkermayr (Hg.), Die endlose Unschuldigkeit, S. 74-96. Schmidt, Sybille/Krämer, Sybille/Voges, Ramon (Hg.): Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld: transcript 2010. — /Voges, Ramon: »Einleitung«, in: S. Schmidt/S. Krämer/R. Voges (Hg.), Politik der Zeugenschaft, S. 7-20.
Autorinnen und Autoren
István M. Fehér, Prof. Dr., Professor für Philosophie, Loránd- Eötvös-Universität Budapest, Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität Budapest. Studium der Anglistik, der Italianistik und der Philosophie; 1979 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über den Positivismusstreit, 1985 Habilitation über Heidegger. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, phänomenologisch-hermeneutische Philosophie, Heidegger, Gadamer, Lukács, Sartre. Buchveröffentlichungen u.a.: Jean-Paul Sartre (Budapest 1980); Martin Heidegger (Budapest 1984, 2., stark erw. Aufl. 1992); (Hrsg.) Wege und Irrwege des neueren Umganges mit Heideggers Werk. Ein deutsch-ungarisches Symposium (Berlin 1991); (Mithrsg. mit Wilhelm G. Jacobs) Zeit und Freiheit: Schelling, Schopenhauer, Kierkegaard, Heidegger. Akten der Fachtagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft (Budapest 1999); (Hrsg.) Kunst, Hermeneutik, Philosophie: Das Denken HansGeorg Gadamers im Zusammenhang des 20. Jahrhunderts. Heidelberg 2003; Schelling – Humboldt: Idealismus und Universität. Mit Ausblicken auf Heidegger und die Hermeneutik, Frankfurt a.M. – Berlin – New York 2007; (Mithrsg. mit Peter L. Oesterreich) Philosophie und Gestalt der europäischen Universität, Stuttgart – Bad Cannstatt 2008. – Zahlreiche Aufsätze zu den o.g. Themen. Evi Fountoulakis (lic. phil.) ist wissenschaftliche Assistentin in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Studium der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, der Englischen Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der Allgemeinen Sprachwissenschaft in Basel, Madrid und Melbourne. Zur Zeit schreibt sie eine Promotion zur Narratologie des Gastes an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 19. Jahrhunderts, Erzähltheorie und Gastlichkeit. Jüngste Publikation: E. Fountoulakis/ B. Previsic (Hg.): Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur. Bielefeld 2011.
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Achim Geisenhanslüke, geb. 1965. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Romanistik in Berlin und Paris. Promotion 1995 an der Freien Universität Berlin, Habilitation 2000 an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Seit 2004 Lehrstuhl für Deutsche Philologie/Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie, Klassisches Drama, Lyrik und Roman der Moderne, Gegenwartsliteratur. Veröffentlichungen: Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung, Opladen 1997; Goethe, Iphigenie auf Tauris. Interpretation, München 1997; Sophokles, Antigone. Interpretation, München 1999; Le sublime chez Nietzsche, Paris 2000; Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von Bunyan zu Nietzsche, München 2003; Einführung in die Literaturtheorie, Darmstadt 2003 (4. Auflage 2007); Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2007; Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault, Heidelberg 2008; Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift, Bielefeld 2008; Dummheit und Witz. Poetologie des Nichtwissens, München 2011 sowie Aufsätze zur Theorie und Geschichte der europäischen Literaturen. Hajnalka Halász, geb. 1984. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und der Ungarischen Literatur und Kultur an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Ab 2008 Arbeit an der Promotion im Graduiertenprogramm Allgemeine Literaturwissenschaft zu »Figuren des Nichthermeneutischen«; Mitglied der Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft (www.aitk.hu). Ab 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin (Fachgebiet Ungarische Literatur und Kultur). Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik, Dekonstruktion, nicht-hermeneutische Ansätze. Publikationen u.a.: Az ontológiai differencia elkülönböződő foglalata. Martin Heidegger: Identität und Differenz [Die differierende Verfassung der ontologischen Differenz. Martin Heidegger: Identität und Differenz] In: Heidegger & Derrida – filozófia mint de(kon)strukció [Heidegger&Derrida – Die Philosophie als De(kon)struktion], M. Nyírő Hg., Budapest 2011 (im Druck); Text-Körper / Hörensagen. Über Anna Édes von Dezső Kosztolányi, Berliner Beiträge zur Hungarologie 2010, Band 15 (http://www.slawistik.hu-berlin.de/institut/fachgebiete/ungarlit/BBH); Diskurzusok referenciája a referencia diskurzusaiban. A zaj fogalma a kommunikációelméletben [Die Referentialität der Diskurse in den Diskursen der Referentialität. Der Begriff des Rauschens in der Kommunikationstheorie], Irodalomtörténet [Literaturgeschichte] 2007/4.
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Endre Hárs (geb. 1965), Ph.D., Studium der Germanistik, Komparatistik und ungarischen Sprach- und Literaturwissenschaft an der ELTE Budapest und der Georg-August-Universität Göttingen (DAAD); Promotion 1999; Univ.-Dozent im Institut für Germanistik der Universität Szeged; 2001-2003 Mitarbeiter des FWF-Forschungsprojekts »Herrschaft, ethnische Differenzierung und Literarizität. Fremd- und Selbstbilder in der Kultur Österreich-Ungarns (1867-1918)«; 2004 Research Fellow im IFK Wien; 2005-2007 Humboldt-Forschungsstipendium an der Universität Konstanz; seit 2009 Stellvertretender Institutsleiter am Institut für Germanistik der Universität Szeged; Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und Kulturwissenschaften, Literatur und Anthropologie des 18. Jahrhunderts, Habilitationsprojekt zu Figuren des Dritten um 1800. Zoltán Kékesi, geb. 1976 in Budapest, ist Dozent am Lehrstuhl für Kunsttheorie und kuratorische Studien der Universität der Künste Budapest und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsprojektes »Ereignis – Medium – Öffentlichkeit« an der Philosophischen Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität (Budapest). Er promovierte 2008 mit einer Dissertation über »Ikonotexte. Literatur, Bild und Medientechnologien in der Avantgarde«. Derzeit arbeitet er an einem Buch über Holocaust-Erinnerung und Politik des Archivs in der zeitgenössischen Kunst. Sein Aufsatz »Das neugeordnete Archiv: Nachleben der Bilder in Harun Farockis Aufschub« steht in deutscher Sprache unter Veröffentlichung. Wolfram R. Keller ist Juniorprofessor am Institut für Anglistik und Amerikanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin; Arbeitsschwerpunkte: spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur Englands sowie die Rezeption der Antike in der viktorianischen Literatur. Kürzlich erschienen sind Other Nations: The Hybridization of Medieval Insular Mythology and Identity, hg. mit W. M. Hoofnagle und Bi-directionality in the Cognitive Sciences, hg. mit M. Callies und A. Lohöfer (beide 2011). Beatrix Kricsfalusi, Dr. phil, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Debrecen (Ungarn). Studium der Anglistik und Germanistik in Debrecen, Promotion 2010 mit einer Arbeit über die Spielarten der dramatischen Selbstreflexion im zeitgenössischen deutschsprachigen Drama. Seit 2003 Mitglied der Forschungsgruppe Allgemeine Literaturwissenschaft Budapest, seit 2007 Redaktionsmitglied des Jahrbuchs der ungarischen Germanistik. Foschungsschwerpunkte: Theorie und Ästhetik des Dramas und Theaters, Performance und Performativität, Phänomenologie der Körperlichkeit, Medialität und Theatralität. Publikationen (Auswahl): »Csinálni jobb, mint
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érezni«. A Lehrstück és a brechti médiaarchívum, in: Bónus, T./Eisemann, Gy./Lőrincz, Cs./Szirák, P. (Hg.): A hermeneutika vonzásában. Kulcsár Szabó Ernő 60. születésnapjára, Budapest 2010. [»Tun ist besser als Fühlen«. Das Lehrstück und das Brechtsche Medienarchiv]; Das Theater als Bedürfnisanstalt. Metadramatische und metatheatralische Selbstreflexion in Marlene Streeruwitz’ New York. New York, in: A. Bombitz (Hg.): Brüchige Welten. Von Doderer bis Kehlmann, Szeged/Wien 2009; Die erbarmungslose Welt der Text(il)arbeit. Elfriede Jelinek: »Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, oder die Stützen der Gesellschaften«, in: K. Kovács (Hg.): Ideologie der Form, Frankfurt a.M. 2006; »Nie ist die Mimin sie selbst«. Textualität, Performativität, Identitätskonstruktion in Elfriede Jelineks Burgtheater, in: Hammer, E./Sándorfi, E. M. (Hg.): »Der Rest ist – Staunen«. Literatur und Performativität, Wien 2006. Ernő Kulcsár Szabó, geb. 1950 in Debrecen (Ungarn), Studium der Hungarologie und Germanistik an der Universität Debrecen; 1978 Promotion (Weltsicht und epische Gestaltung in den Romanen von László Németh); 1995 Habilitation an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest (Paradigmen der ästhetischen Erfahrung in der ungarischen Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts); 1979-1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Literaturwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften; 1984-1988 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Bayreuth; 1995 Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Loránd-Eötvös-Universität Budapest; 1996-2005 Professor für Hungarologie an der Humboldt-Universität zu Berlin; ab 2006 Direktor des Instituts für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Buchveröffentlichungen (u.a.): A magyar irodalom története 1945-1991, Budapest 1993 (2. Aufl. 1994) [Geschichte der ungarischen Literatur 19451991]; Beszédmód és horizont, Budapest 1996 [Modalität und Horizont. Formationen in der literarischen Moderne]; A megértés alakzatai, Debrecen 1998 [Verstehensfiguren]; Irodalom és hermeneutika, Budapest 2000 [Literatur und Hermeneutik]; Szöveg – medialitás – filológia, Budapest 2004 [Text – Medialität – Philologie]; Megkülönböztetések. Médium és jelentés az irodalmi modernségben, Budapest 2010 [Unterscheidungen. Medium und Bedeutung in der literarischen Moderne]; Hg. mit M. Szegedy-Maszák: Epoche – Text – Modalität. Diskurs der Moderne in der ungarischen Literaturwissenschaft, Tübingen 1999; Hg. mit Cs. Lőrincz und G. T. Molnár: Spielarten der Sprache. Transgressionen des Medialen in der Literatur, Budapest 2004; Hg. mit D. Oraić-Tolić: Kultur in
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Reflexion. Beiträge zur Geschichte der mitteleuropäischen Literaturwissenschaften, Wien 2008; Hg. mit P. Kelemen und Á. Tamás: Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg 2011. Zoltán Kulcsár-Szabó lehrt seit 1995 Literaturtheorie und Komparatistik am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-EötvösUniversität Budapest. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der modernen Lyrik, Literatur- und Kulturtheorie. Zuletzt veröffentlichte er Tetten érhetetlen szavak (2007; über Sprache und Geschichte bei Paul de Man) bzw. Tükörszínjátéka agyadnak (2010; über das lyrische Werk des ungarischen Dichters Lőrinc Szabó). Csongor Lőrincz (geb. 1977) studierte Hungarologie und Germanistik an der Babes-Bolyai-Universität Klausenburg, Promotion 2004 im Graduiertenprogramm »Allgemeine Literaturwissenschaft« am Institut für Ungarische Literaturund Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität in Budapest, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im NFS eikones Bildkritik an der Universität Basel (2005-2008), seit 2009 Leiter des Fachgebiets Ungarische Literatur und Kultur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Literaturtheorie, Ästhetik, Theorie und Geschichte der modernen Lyrik. Jüngste Veröffentlichungen: Das lyrische Bild (Hg. mit R. Simon und N. Herres), München 2010; Az olvasás ismétlése. Materialitás és kultúrtechnikák az irodalmi szövegben, Budapest 2011 [Wiederholungen des Lesens. Materialität und Kulturtechniken im literarischen Text]. Gábor Tamás Molnár ist Dozent am Institut für Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft der Loránd-Eötvös-Universität Budapest. Forschungsschwerpunkte: Theorie des modernen Romans, Interpretationstheorie, Literaturunterricht. Jüngste Publikationen: Philologie, Pädagogik und »kritisches Denken« in der Literaturtheorie, in P. Kelemen/E. Kulcsár Szabó/Á. Tamás (Hg.): Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg 2011; A Tristram Shandy és a posztmodern próza kommunikációs modelljei: Sterne, Calvino, Pynchon, Budapest 2011 [Kommunikationsmodelle des Tristram Shandy und der postmodernen Prosa: Sterne, Calvino, Pynchon]. Helmut Pfeiffer ist seit 1993 Professor für Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin; 1981 Promotion (in Konstanz) mit einer Arbeit zum französischen Roman um die Mitte des 19. Jahrhunderts, 1991 Habilitation (ebendort) mit einer Arbeit über
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»Selbstkultur und Selbsterhaltung« in der französischen und italienischen Renaissance. In seinen Publikationen (Herausgebertätigkeit und zahlreiche Aufsätze sowie selbständige Veröffentlichungen) beschäftigte er sich mit der Funktionsgeschichte der Literatur, der Fiktions- und Diskurstheorie, dem Verhältnis von Literatur und Anthropologie sowie der Literaturgeschichte der Renaissance, der Aufklärung und des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine Interessensund Forschungsschwerpunkte sind (u.a.) Aufklärung; Literatur und Kunst des Fin de siècle; Lyrik der Spätmoderne; Literatur, Medien und Gewalt; Autobiographie im 20. Jahrhundert. Auswahl wichtiger Publikationen der letzten Jahre: Hg. mit K. W. Hempfer: Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, Stuttgart 2002; Hg. mit I. Albers: Michel Leiris – Szenen der Transgression, München 2004; Hg. mit R. Galle: Aufklärung, München 2007. Attila Simon (geb. 1968), ist Dozent an der juristischen Fakultät der Universität Debrecen; lehrt politische Philosophie, Ethik und Argumentation. Studium der Gräzistik, Latinistik und Philosophie an der Universität Debrecen. PhD: 1999, an der Universität Debrecen (Der Rezipient in der Poetik des Aristoteles). Habilitation 2008 ebendort (Dionysos-Inszenierungen. Studien über die kulturellen Techniken der Vermittlung in der antiken Literatur und Philosophie). Forschungsschwerpunkte: praktische Philosophie und Ästhetik in der Antike, griechisches Drama. Veröffentlichungen: Az örök feladat. Antik tanulmányok, Debrecen 2002 [Die ewige Aufgabe. Studien zur Antike]; Dionysos színrevitele. A közvetítés kulturális technikái az antik irodalomban és filozófiában, Budapest 2009 [Dionysos-Inszenierungen. Studien über die kulturellen Techniken der Vermittlung in der antiken Literatur und Philosophie]. Übersetzungen: Platón: Phaidrosz, Budapest 2005 [Platon: Phaidros. Überarbeitung der Übersetzung von Dénes Kövendi, Kommentar und Nachwort]; M. T. Cicero: A törvények, Budapest 2008 [M. T. Cicero: Die Gesetze. Übersetzung und Kommentar]. Die letzte deutschsprachige Publikation: »Die sinnliche Tradition der Antike«. Karl Kerényi und »das Problem des Buches«, in: P. Kelemen/E. Kulcsár Szabó/ Á. Tamás (Hg.): Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg 2011. Susanne Strätling: Studium der Slavistik und Germanistik in Münster, Volgograd, Moskau; 2003 Promotion mit einer Arbeit über Medienrhetorik des russischen Barock; seit 2004 Wissenschaftliche Assistentin am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie am OsteuropaInstitut der Freien Universität Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Rhetorik, Schrifttheorie, Poetik und Poiesis; ausgew. Publikationen: Allegorien der Imagination.
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Lesbarkeit und Sichtbarkeit im frühen russischen Barock, München 2005; Rhetorik als kulturelle Praxis, Hg. v Renate Lachmann, Riccardo Nicolosi und Susanne Strätling, München 2008; Aesthetics of the Tool. Special Issue of Configurations. A Journal of Literature, Science, and Technology. Ed. by Jocelyn Holland and Susanne Strätling. Volume 18, Number 3, Spring 2010.
Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Oktober 2011, 380 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7
Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Februar 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4
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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Februar 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Roger Lüdeke (Hg.) Kommunikation im Populären Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen Oktober 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1833-4
Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6
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Lettre Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende Februar 2012, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800 November 2011, 336 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1884-6
Astrid Henning Die erlesene Nation Eine Frage der Identität – Heinrich Heine im Schulunterricht in der frühen DDR Oktober 2011, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1860-0
Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald August 2011, 314 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1
Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« April 2012, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit September 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5
Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der Schriftsteller Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 August 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Heide Reinhäckel Traumatische Texturen Der 11. September in der deutschen Gegenwartsliteratur Januar 2012, 264 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1953-9
Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett Februar 2011, 244 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9
Norbert Wichard Erzähltes Wohnen Literarische Fortschreibungen eines Diskurskomplexes im bürgerlichen Zeitalter Januar 2012, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1899-0
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