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German Pages [107] Year 2015
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EDITION
Leidfaden
Hrsg. von Monika Müller
Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.
Isabella Hemmann
Das Alphabet der Trauer Mit Texten zum tieferen Verständnis von Verlusten
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über h ttp://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40248-2
Umschlagabbildung: sakhorn/shutterstock.com © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I Lesen und Schreiben im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Heilende Aspekte des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Verstehen verändert Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Ausflug an den Wörter-See . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II Erfahrungen aus der Praxis: Lesen und Verstehen als lebendige Auseinandersetzung mit Tod und Sterben . . . 29 Helene und die Liebesbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Peter und die preiswerte Einäscherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Jakob aus Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Caroline nimmt Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Gerald und die Erbtante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Roswitha entdeckt Neuland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III Texte und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Plötzlich nie wieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Das große Fehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Der Tod und die Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Der trauernde Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Die Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
6 Inhalt
Die Wut und der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Wo der Himmel ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Die Angst vor den Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Gestorben wird immer und überall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Der letzte Atemzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Der Tod und die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Du warst und bist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Kann der Tod auch heiter sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Ende und Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Die Liebe und der Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Vorbemerkung
Auch eine Lebensversicherung schützt uns nicht vor dem Verlust durch den Tod. Zeitlebens trennt nur ein Hauch von Nichts das Leben vom Tod und unentrinnbar läuft jedes Leben auf den Tod hinaus. Das wissen wir, und wenn wir in Sterbekummer oder Liebeskummer trauern, erleben wir den unermesslich großen Schmerz des Verlustes durch Liebe und Tod. Trauer kann alle Bereiche unseres Lebens erfassen. Wir können um eine Liebesbeziehung trauern, um vergangene Jugend, vertane Chancen, einen Menschen, unsere Gesundheit, verblühende Schönheit. Im Leben können wir alles verlieren, nichts ist sicher. In diesem Buch geht es auch um die Liebe, aber vornehmlich um Verständnis von Verlust, Tod und Trauer. Wenn wir nicht trauern, reden und lesen wir über den Tod oft als mediales Ereignis, etwa bei berichteten oder verfilmten Katastrophen oder Kriminalromanen. Wenn sie uns persönlich betreffen, sind Tod, Sterben oder Trauer keine Themen, über die wir leichthin sprechen oder denen wir ebenso zuhören. Jedes Tier lebt, wenn von Menschenhand unberührt, ein natürliches, intelligentes Leben ohne Bewusstsein des eigenen Todes in der Gegenwart. Unser Tod-Bewusstsein unterscheidet uns vom Tier. Wie gehen wir damit um? Im Allgemeinen sagen wir, dass das, was uns bewusst ist, auch verstanden, also klar ist, und wir keine Fragen mehr haben. Mir ist bewusst: Wenn ich ohne Schirm durch den Regen laufe, werde ich nass. Und der Tod? Wir wissen nicht wann und nicht wie. Nur dass. Also ist jeder Augenblick lebendig, alles, was wir haben, und von existenzieller Bedeutung. Ist uns das bewusst?
8 Vorbemerkung
Trauernd ahnen oder erleben wir, dass wir ein weltliches Leben führen, es aber eine nichtweltliche Seite in unserer Lebenserfahrung gibt. Es kann vorkommen, dass wir meinen, verstorbene Menschen zu sehen oder zu hören, dass wir Gespräche mit ihnen führen oder ihre Anwesenheit spüren – können wir dies im normalen Tagesgeschehen verlautbaren, ohne schief angesehen zu werden? Sehen wir uns vielleicht selbst schief an, wenn wir dies denken oder erleben? In Trauer erfahren wir uns selbst und das Leben von einer anderen Seite. Unsere Wahrnehmung ist roh, fremd, schmerzhaft, wie neu, anders als zuvor. In unserem größten Leid und Schmerz sind wir oft wacher und bewusster als im gewohnten Alltag. Wir können Phänomenen begegnen, die in einer modernen Wissensgesellschaft keine oder wenig Beachtung finden. Vielleicht gefährden wir eine bestehende Ordnung, weil wir plötzlich fast alles hinterfragen. Gerade weil wir Gewohntes in Frage stellen, ist der schmerzhafte und verwirrende Zustand der Trauer geeignet, Klarheit und heilsames Verständnis zu gewinnen. In den literarischen Texten im III. Teil dieses Buches geht es um fünfzehn verschiedene Aspekte und Erfahrungen in der Trauer. So verschieden die Erfahrungen, so vielfältig ist auch die Art, darüber zu schreiben. Im Lesen und Schreiben erleben wir uns selbst und unser Denken. Ein Buch, das uns vor zehn Jahren nichts sagte, kann uns von heute auf morgen zur inspirierenden Quelle werden. Was änderte sich? Das Buch oder unser Bewusstsein? Wie können wir uns, unser Denken und unser Bewusstsein verstehen? Bewusstsein ist keine Expertenangelegenheit, es geht uns alle an. Bewusstsein erleben wir jeden Tag. Es ist gut, einfach und klar darüber zu sprechen. Im Allgemeinen haben wir für das, was wir nicht wissen, auch kaum oder keine Worte. Bewusstsein ist nicht greifbar und nur in Auszügen sichtbar zu machen in seinem vielschichtigen Wirken. Gute Metaphern tragen uns weiter. Zum Beispiel: Bewusstsein ist wie ein Haus, das ich bewohne. Als Metapher für menschliches Bewusstsein in diesem Buch steht der »WörterSee«. Wasser fließt, auch unser Bewusstsein hat etwas Fließendes, es wird Bewusstseinsstrom genannt. Der Wörter-See ist der Ort
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des Verstehens, auch die innere Ruhe. Hier ruht unser Geist, also unser Bewusstsein. Wenn wir klar sind, können wir bis auf den tiefen Grund sehen. Das »Alphabet der Trauer« ist ein Lesebuch, ein Vorlesebuch, ein Handbuch und auch ein Textarbeitsbuch. Verwenden Sie es so, wie es für Sie sinnvoll ist. Im I. Teil des Buches geht es um das Lesen und Schreiben im Alltag und wie das Verstehen unser Bewusstsein verändert. In diesem Teil können Sie auch den Wörter-See entdecken. Im II. Teil sind ganz unterschiedliche Trauererfahrungen versammelt, in denen das Lesen und Schreiben wesentlich zum Verstehen beigetragen hat. Im III. Teil »Texte und Methoden« finden Sie in jedem Kapitel einen literarischen Text (in anderer Schrift) und den philosophischen »Gruß vom Wörter-See« (in kursiver Schrift), der einzelne Aspekte des Kapitelthemas beleuchtet: Mal geht es um das kreative Fließen, den so genannten Flow, mal um die Meditation, die Klarheit, die Wissenschaft oder die Herkunft von Wörtern. Jedes Kapitel ist in sich abgeschlossen. Grau unterlegte Texte richten sich direkt an Trauerbegleiter1. Wenn Sie kein Trauerbegleiter sind, aber mehr wissen wollen, werfen Sie einen Blick hinein. Sie finden dort weiterführende Fragen und praktische Methoden zum tieferen Verständnis. Die grau unterlegten Abschnitte kennzeichnen Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung. Sie finden Sie am Ende jedes Kapitels. Die unterschiedlichen Methoden kommen aus den Bereichen der Literatur, der Gestalttherapie und der Meditation. Oft gibt es mehrere Vorschläge zu einem Text, so dass Sie nach Neigung und individueller Situation wählen können. Konkrete Hinweise zu den einzelnen Methoden finden Sie im III. Teil des Buches.
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Für die bessere Lesbarkeit wird jeweils nur die grammatisch männliche Form verwendet, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind.
I Lesen und Schreiben im Alltag
Das geschriebene Wort ist eine jederzeit zugängliche Quelle von Trost und Verständnis. Durch den Brief eines nahestehenden Menschen, den wir immer wieder lesen können, fühlen wir uns verbunden und empfinden durch das Niedergeschriebene vielleicht eine gewisse Sicherheit. Das geschriebene Wort ist greifbar: Wenn wir etwas Schwarz auf Weiß haben, können wir auch das noch nicht Verstandene mit uns herumtragen und zu einem anderen Zeitpunkt weiter lesen und verstehen. Worte drängeln nicht, sie sind voller Geduld und für den Lesenden da, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Die Fähigkeiten des Lesens und des Schreibens sind uns so selbstverständlich, dass wir nur für jene Menschen ein Wort haben, die diese Fähigkeiten nicht besitzen: Analphabeten. Würden wir auf die Idee kommen, uns als Alphabeten zu bezeichnen? Das Lesen und Schreiben ist uns alltäglich, wir betrachten es nicht als etwas Kostbares, es sei denn, wir verlieren die Fähigkeit oder den Zugang. Es verhält sich mit dem Lesen und Schreiben wie mit dem Wasser, das aus der Leitung strömt, wenn wir den Hahn aufdrehen. Solange es da ist, machen wir uns kaum Gedanken darüber. Fehlt es, ist es plötzlich ein kostbares Gut. Ist es das vorher nicht? Wie sieht unser moderner Lesealltag also aus? Die Träger und Materialien sind längst nicht mehr nur Papier, Bleistift und Tinte. Natürlich lesen wir noch Zeitungen und Werbeprospekte, Postkarten und vielleicht auch Briefe. Wir lesen auch immer noch das Buch aus Papier. Und da wir eine moderne Industriegesellschaft von eher kranken als gesunden Menschen sind, lesen wir auch immer mehr Beipackzettel von Medikamenten. Wir lesen Anlei-
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tungen, Internetseiten und Formulare. Im beruflichen Alltag findet Lesen häufig an und mit Maschinen statt und auch privat lesen wir in elektronischen Büchern, am Computerbildschirm und auf Telefon-Displays. Viele Menschen sind in sozialen Netzwerken aktiv, darin findet Kommunikation überwiegend lesend und schreibend statt. Geräte und Technologien prägen mehr und mehr unser Leseerlebnis. Statt Kochbüchern liegen Telefone mit Online-Rezepten auf der Arbeitsplatte und statt eines Briefes schreiben wir vielleicht leichter eine E-Mail. Natürlich gilt dies nicht für jeden Leser. Wie sieht Ihr Lesealltag aus? Mit dem Mehr an Technik geht ein Weniger an gewohnter Sinnlichkeit einher. Lesen heißt, einen Text mit den Augen und dem Verstand zu erfassen. Neben unseren Augen wird der Träger des Textes, also das Buch, der Zettel oder der Bildschirm, aber auch mit allen anderen Sinnen wahrgenommen: Unsere Haut spürt Papier oder Plastik, unsere Nase nimmt den Duft oder den Geruch des Buches wahr, unsere Ohren hören das Rascheln des Papiers oder das Surren des Computers, das Kratzen oder Gleiten des Bleistifts auf Papier. Auch ein elektronisches Buch im Plastik- oder Metallgehäuse spricht unsere Sinne an, aber es raschelt nicht, wenn wir eine Seite umblättern, und wir können es nicht mit handgeschriebenen Notizen versehen. Bei einer Lesepause legen wir das Buch zur Seite oder denken über etwas nach, während wir die gerade gelesenen Worte tatsächlich noch in den Händen halten. Eigene Gedanken können Gestalt annehmen. Es ist ein ruhiger Prozess, auch wenn Erkenntnisse blitzartig sein können. Modernes Maschinenlesen ist schneller, distanzierter und kälter als das klassische Lesen auf Papier. Unsere Sinne nehmen dies wahr, auch wenn uns dies nicht immer bewusst ist. Das Lesen an und mit Maschinen ermöglicht vielen Menschen den Zugang zu Texten, der ihnen sonst verwehrt wäre. Wenn unsere Hände das Buch nicht mehr halten können, ersetzt uns ein Hörbuch den Vorleser. Das Lesen in elektronischen Medien findet selten exklusiv statt. Die Beharrlichkeit, mit der wir versuchen, effizient mehrere Sachen auf einmal zu erledigen, ist ein nachgewiesener Trugschluss und
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auch dem Lesen nicht zuträglich. In der versuchten Gleichzeitigkeit streuen wir unsere Aufmerksamkeit über mehrere Themen, statt sie auf ein Thema zu konzentrieren. Was geschieht, wenn wir während des Gehens eine Kurznachricht im Telefon lesen oder schreiben? Wir sind weder ganz bei der einen noch ganz bei der anderen Sache. Wurden vor der Alphabetisierung der Welt reisende Geschichtenerzähler noch mit großer Freude empfangen – weil eben nicht jeder lesen konnte –, so ist uns heute diese Fähigkeit so selbstverständlich, dass wir es im Wortsinne en passant erledigen. Wer kennt nicht das Bild des Menschen, der über sein Telefon gebeugt den Bürgersteig entlanggeht? Wir lesen an öffentlichen Orten, sei es in der Straßenbahn, im Auto, Zug oder Café, oft gestört und unter Druck. Der Ort ist wichtig für das, was beim Lesen geschehen kann. Sitze ich allein und ungestört? Bin ich unterwegs und muss auf meine Umwelt reagieren? Den konkreten Ort des Verstehens als solches gibt es nicht, Verstehen findet in unserem Bewusstsein statt. Wir können aber das Verstehen durch die Wahl unseres äußeren Leseortes unterstützen. Unsere Alltagswelt ist komplizierter geworden und braucht mehr Erklärungen, gleichzeitig sind unsere privaten Texte vielfach kürzer oder eher: flacher geworden. Sie sind mit bildhaften Symbolen durchsetzt, die unsere Gefühle mitteilen sollen. Im Alltag kommuniziert das Land der Dichter und Denker mit Abkürzungen wie »I like« und lächelnden oder weinenden Emoticons. Unser Lebensrhythmus ist schnell getaktet und von Effizienz und Erschöpfung untermalt. Wir wollen gern möglichst viel in möglichst wenig Zeit erreichen. Unsere Sprache ist von Abkürzungen, bildhaften Formatvorlagen und exotischen Wortneuschöpfungen durchsetzt. Verabredungen werden kurzfristig abgesagt oder verschoben, die passende Gefühlslage liefert eine Formatvorlage. Wer ohne Telefon, also ohne Lesegerät unterwegs ist, fällt auf. Das, was wir lesen, bezeichnen wir auch als geistige Nahrung oder Lesefutter. Von unserer körperlich-materiellen Nahrung sagen wir: Du bist, was du isst. Sind wir auch das, was wir lesen? Und wie sieht es mit den Inhaltsstoffen unserer geistigen Nahrung aus?
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Sind sie gehaltvoll? Handelt es sich um Schonkost? Jeder Mensch entscheidet selbst, was er in seiner Freizeit liest und hört. Schauen wir auf die Bücher, die sich gut verkaufen, finden sich immer wieder Kriminalgeschichten in den oberen Rängen. Tod und Sterben sind in unserem Lesealltag allgegenwärtig, in den Nachrichten, den Computerspielen und den Büchern. Im Lauf eines Lebens sehen wir unter Umständen viele Leichen im Fernsehen, erschießen, je nach Neigung, unzählige Figuren in Computerspielen und lesen von tödlichen Katastrophen auf der ganzen Welt – der Tod gehört sicher zu den Inhaltsstoffen unseres alltäglichen Lesens. Zucker ist ein häufig vorkommender Inhaltsstoff in unserer Nahrung, er ist ein so genannter schneller Energielieferant und ein beliebter Geschmacksverstärker. Essen wir Zucker, schießt unsere Energiekurve nach oben, um kurze Zeit später wieder abzufallen. Er entspricht der Neigung moderner Menschen zu bequemen Lösungen. Internationale Zuckerprodukte werden an jeder Großstadtecke feilgeboten – frisches Obst nicht. Obst enthält auch Zucker, wirkt aber weniger schnell und ist aufwendiger in Beschaffung, Zubereitung und Transport – und nachhaltiger in seiner Wirkung. Und was hat das mit unseren Leseinhalten im Alltag zu tun? Nach einem Arbeitstag lesen, sehen und hören wir vielleicht lieber leichte Kost als schwer verdauliche. Vielleicht lesen wir lieber einen Ratgeber, der verspricht, uns in fünf einfachen Schritten zum dauerhaften Glück zu führen, oder ein Heft mit einer sensationellen neuen Diät, die angeblich wirklich jedem hilft, das Wunschgewicht zu erreichen und zu halten. Vielleicht setzen wir uns auch vor den Fernseher und schauen die Formate, in denen Menschen zur Schau gestellt werden oder in denen Wissen abgefragt wird. Dieses Leseverhalten, also ein hoher Zuckeranteil unserer geistigen Nahrung, kann dazu führen, dass wir bestimmte Themen so lange meiden, bis sie sich nicht mehr vermeiden lassen. Die Inhalte unseres Alltagslesens werden von den verschiedensten Faktoren bestimmt – schließlich entscheiden wir selbst, ob das Radio oder der Fernseher läuft, ob wir uns ein Boulevardblatt oder eine Zeitung mit längeren Überschriften kaufen. Formate und
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Erscheinungsweise von Zeitungen, Zeitschriften und natürlich von den Sendungen in Fernsehen und Radio bestimmen mit, wie wir welche Inhalte lesen. Die beiden Wörter »gesteigertes Umweltbewusstsein« werden es nicht unbedingt auf die Titelseite eines Boulevardblatts schaffen – sie sind schlicht zu lang. Alltagstexte wie Werbung und Schlagzeilen sind zumeist kurz und oft reißerisch, sie wollen unsere Aufmerksamkeit an sich ziehen, und dies möglichst schnell. Durch die Wortschöpfung »Öko-Boom« gelingt dies schneller als durch den Ausdruck »gesteigertes Umweltbewusstsein«. Die Häufigkeit der Veröffentlichung eines Mediums, sei es minütlich, stündlich, täglich, wöchentlich oder monatlich, ist der Rhythmus, in dem Neuigkeiten gemeldet werden. Vor der Alphabetisierung der Welt und der Erfindung des Buchdrucks reisten Geschichten und Neuigkeiten langsamer. Wir hatten mehr Zeit, die Welt zu begreifen. Die Schnelllebigkeit einer modernen Gesellschaft sorgt für einen steten Fluss an Neuem. Konkurrenz belebt nicht nur das Geschäft, sondern auch das Reißerische vieler Texte. Die Betonung des Dramas und der Extreme gehört zum Alltagsgeschäft vieler Sende- und Leseformate und damit auch zu unserem Alltag. Was lesen und schreiben wir in unseren Beziehungen und Gefühlen? Wie viele Leser dieses Buches schreiben und erhalten Liebesbriefe auf Papier? Führen Sie ein Tagebuch oder ein Journal? Wie beenden wir unsere Liebesbeziehungen? In all unseren Beziehungen ist das Reden und Zuhören von essentieller Bedeutung. Hören wir zu? So ganz und gar, ohne gleichzeitig den Spargel zu schälen oder Nachrichten zu sehen? Wenn wir reden, reden wir dann mit dem Menschen vor uns oder mit unserer Mutter oder unserem Chef? Wenn unsere Mutter stets klagte, welch schweres Los sie hatte, wie reagieren wir dann auf einen anderen Menschen, der uns sein Leid erzählt? Hören wir dem Menschen zu oder denken wir an unsere Mutter und schalten ab? Wenn unser Chef Erfolge als seine Leistung ausgibt, Misserfolge aber uns zuschreibt, wie gehen wir dann mit diesem Thema bei anderen Menschen um? Sind wir noch frisch und klar, oder unterdrücken wir vielleicht ein Gefühl wie Wut? Wenn wir einen Streit mit einem Menschen hatten, denken wir
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immer daran, wenn wir ihn sehen, oder begegnen wir ihm jedes Mal neu? Wenn wir unsere Beziehungen in einem sozialen Netzwerk pflegen, sind wir vielleicht gleichzeitig mit Netzwerk-Freunden online und empfinden Nähe und Verbundenheit. Die relative Distanz des Mediums führt dazu, dass sich das Ende einer Freundschaft durch einen wortlosen Klick vollziehen kann. Nicht nur in den Verlustsituationen des Lebens ist es hilfreich, das eigene Innenleben wahrzunehmen und sich mit dem, was ist, auseinanderzusetzen. In der Trauer ist unsere Wahrnehmung der gewohnten Welt eine andere, manchmal empfinden wir sie roh und schmerzhaft, manchmal wie durch einen Tunnel und manchmal verstehen wir in unserer Trauer überhaupt nicht mehr, was die Welt so antreibt. Wir ringen um Worte, uns selbst und unseren Zustand auszudrücken oder den Schmerz zu lindern. Vielleicht suchen wir auch nach Worten, um etwas anderes zu verdrängen, das wir jetzt noch nicht wahrhaben können. Was wir selbst erfahren und vielleicht nicht ausdrücken können, haben auch andere erfahren und aufgeschrieben. In der Literatur der Welt finden wir uns und unsere Gefühle, unsere Sehnsüchte, Ängste und Träume wieder. Selbst das Ringen um Worte, der innere Kampf um den passenden Ausdruck, ist Motiv in der Literatur. Die Erforschung des Inneren, das Drama der menschlichen Existenz und menschlicher Beziehungen, Liebeskummer, unsägliche Trauer, Schwermut, Freude, Hoffnung – in den Figuren und Handlungen der Literatur können wir unser eigenes Inneres wiederfinden, und zwar sowohl das gelebte als auch das ungelebte Innere. Nicht jeder Zeitpunkt des Lebens eignet sich zum Lesen. Aber wenn der richtige Moment da ist, ist der große Schatz der Weltliteratur da. Lesen Sie. Im Schreiben und Lesen spiegelt sich die Dualität des Lebens: Wir können den Prozess und die Gegensätzlichkeit des Lesens und Schreibens als Metapher, also als Sprachbild, für den Prozess und die Gegensätzlichkeit von Annahme und Loslassen sehen. So wie wir das Leben annehmen, müssen wir es auch wieder loslassen. Mit der Geburt nehmen wir es an, im Tod lassen wir es los. Diese Metapher lässt sich erweitern auf das Hören und Sprechen. Im Hören
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nehmen wir an, im Reden lassen wir los. Waren Sie schon einmal ganz erfüllt von einem Vortrag, einem bestimmten Buch oder berührt von einer Geschichte, die Ihnen jemand erzählt hat? Das ist das Lesen, das Zuhören, das Annehmen. Es verändert uns. Haben Sie sich schon einmal ausgesprochen bei einem anderen Menschen, sich »etwas von der Seele geschrieben« oder Ihren Schmerz herausgeschrien? Das ist das Schreiben, das Reden, das Loslassen. In der Trauer können wir neben vielen anderen Gefühlen auch den Schmerz des Festhaltens erleben. Er ist oft so groß, dass wir keine Worte für ihn haben. Doch schon im Reden über die Wortlosigkeit verändert er sich. Finden wir keine eigenen Worte, lesen wir aber über eine ähnliche Erfahrung, können wir gegebenenfalls verstehen, was in uns vorgeht. Einmal geschriebene Worte sind geduldig, immer für den Leser da und in der Lage, zu außergewöhnlichen Begleitern zu werden. Dies gilt sowohl für Texte anderer Menschen als auch für unsere eigenen Worte. In dem Moment, da wir uns »etwas von der Seele schreiben«, können wir die heilsame Wirkung von Worten erfahren.
Heilende Aspekte des Lesens Was bedeutet das Wort »Heilung«? In unserem alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir diesen Begriff zumeist in einem medizinischen Zusammenhang – wenn unsere Gesundheit wiederhergestellt ist, nennen wir diese Wiederherstellung »Heilung«. Welche Bedeutung gibt es noch? Wie verwenden wir Begriffe wie »heil« und »Heilung«? Manchmal sind wir »heilfroh«, dann meinen wir damit, dass wir ganz und gar froh sind. Wir sagen »Die Tasse ist heil« und meinen damit, dass sie ganz und unversehrt ist. Wenn wir eine Pflanze als Heilpflanze bezeichnen, meinen wir damit, dass diese Pflanze Heilkräfte besitzt. Wir benutzen den Begriff »Heilung« und seine Ableitungen im Profanen und im Sakralen. Der Heilige Geist. Die Heilige Schrift. Vielleicht hat das Wort »Heilung« hier seinen Ursprung und hat sich dann in alle Lebensberei-
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che des Menschen ausgedehnt? Woher das Wort auch stammt, das Heilige und das Ganze sind überall in unserem Leben. Auch im erhellenden Verstehen, das uns etwas ganz verstehen lässt. Etwas, das noch nicht ganz verstanden wurde, ist unvollständig. Etwas wird vollständig, indem wir es ganz verstehen. Unverständnis ist ein dunkler Fleck, der durch Verstehen erhellt wird. Wenn wir verstehen, heilen wir. Zwei heilende Aspekte des Lesens sind besonders hervorzuheben: die Inhalte und die Art, wie wir lesen. Wenn wir trauern um etwas oder jemanden, wenn wir verzweifelt sind, wenn wir einsam sind, wenn wir ratlos sind – dann sind die Inhalte unseres Lesens von größter Wichtigkeit. Worte können wie ein weicher Kaschmirschal sein, der sich um unsere verwundete Seele schmiegt, oder wie ein grobes Schmirgelpapier, das uns verletzt. Worte können ein ahnendes Verstehen zu einem wirklichen Verstehen erblühen lassen oder uns leer und ratlos zurücklassen. Wenn wir um einen verstorbenen Menschen trauern, begegnen uns Worte auf vielen Wegen. Es gibt ausgesprochene Worte des Mitgefühls, vorgedruckte Beileidskarten, handgeschriebene Briefe, es gibt Abschiedsbriefe, letzte Worte und Testamente. Es gibt auch hier die Wortlosigkeit – sie kann einem Unvermögen, mit der Situation adäquat umzugehen, entsprechen oder eine tröstende gemeinsame Stille sein. Das Suchen nach heilsamen Worten ist ein Teil der Heilung, denn nur, wenn wir uns selbst auf den Weg machen, also für eine Veränderung bereit sind, kann etwas mit uns geschehen. Wenn wir uns unseren Kummer bei einem verständnisvollen Menschen von der Seele reden dürfen, erleben wir die heilsame Wirkung des Redens und Zuhörens, des Loslassens und des Anteilnehmens. Wenn wir einem verstorbenen Menschen einen Abschiedsbrief schreiben, können wir in diesem Schreiben den Prozess des Verstehens und Loslassens initiieren und unseren Schmerz ausdrücken. Wir können auch unser Unvermögen ausdrücken, eben das, was wir jetzt noch nicht können. Vielleicht schreiben wir dann zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal einen Brief.
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Das Schreiben und Lesen so wie das Reden und Zuhören sind Ordnung und Struktur schaffende Handlungen. In ihnen verbinden wir uns miteinander oder erleben trennende Abgründe. Lapidare Sätze wie »Das wird schon alles wieder« oder »Nun, ja, sterben müssen wir alle« können uns in unserer Trauer außerordentlich schmerzen. Gleichzeitig ist es gut zu überlegen, wie wir als Gesellschaft mit trauernden Mitmenschen umgehen. Meiden wir sie, weil uns die richtigen Worte fehlen? Gehen wir ihnen aus dem Weg, weil ihr Leid uns an unser eigenes Sterben erinnert? Überlassen wir diesen Teil des Lebens den Trauerbegleitern? Lagern wir die Trauer aus? Der Tod ist auch in einer modernen Gesellschaft so lebendig wie eh und je, denn er gehört untrennbar zu unserer Existenz. In unserem Alltag hat er allerdings meist seinen natürlichen Platz verloren und mancherorts wird er gar totgeschwiegen, bis er sich nicht mehr verschweigen lässt. Für Trauernde besteht manchmal ein Mangel an Verständnis und Austausch oder schlichter Anteilnahme in dieser besonderen Zeit. Wer ist für sie da? Ein wachsendes Hospizbewusstsein hat vieles verändert und ist immer noch dabei. Die lebendige Auseinandersetzung mit Trauer, Tod und Sterben ist für jede Gesellschaft wichtig. Menschen, die in diesen Bereichen begleiten und wirken, unterstützen mit ihrer Arbeit nicht nur die direkt betroffenen Menschen, sondern wirken weiter. Nur in der Annahme und im Verstehen von Trauer, Sterblichkeit und Tod können wir das Leben ganz verstehen. Wenn wir keine Menschen um uns haben, die uns tröstend und verständnisvoll in unserer Trauer begleiten, können uns geschriebene Worte auf ihre Weise auch bei dem Heilungs- und Verstehensprozess der Trauer unterstützen. Erinnern Sie sich an dieser Stelle, wann Sie sich das letzte Mal bei einer Tätigkeit ganz vergessen haben. Sie waren hoch konzentriert und machten nichts anderes als das, was Sie gerade taten. Das kann beim Gärtnern oder Kochen gewesen sein, vielleicht auch beim kleinteiligen Zusammensetzen eines Motors, vielleicht haben Sie ein Bild gemalt oder im Chor gesungen. Vielleicht sind Sie sportlich und kennen das Gefühl, das alles fast wie von selbst geschieht und Sie mit Ihrem Fahrrad, dem Wasser, in dem Sie schwimmen,
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oder dem Berg, den Sie ersteigen, plötzlich eins sind. Wenn wir uns konzentriert in unsere jeweilige Tätigkeit versenken, geschieht etwas: Wir sind plötzlich im Hier und Jetzt, in der Gegenwart, in der es keine Zeit und auch keine Gedanken gibt. Es ist ein Zustand, den wir als sehr angenehm empfinden. In der Philosophie gibt es dafür eine Gleichung. Die Gegenwart bricht an, wenn der Träger, das Tragen und das Getragene eins werden. Die Gegenwart bricht an, wenn das Lesen, der Leser und das Gelesene eins werden. Die Gegenwart bricht an, wenn das Fahrrad, der Fahrradfahrer und das Fahrradfahren eins werden. Das klingt kompliziert? Dabei haben wir fast alle diese Erfahrungen schon gemacht, die Gegenwart ist ein so alltägliches Wunder wie die Geburt. Wir vergessen oder verdrängen sie zumeist. Wenn wir in der Gegenwart sind, gibt es kein Gestern und kein Morgen, es gibt nur den einen Moment, der gerade ist. Wir haben nie mehr als diesen einen Moment, denken aber oft, dass gerade dieser Moment schnell vorbeigehen möge, weil wir unsere Wünsche oder Hoffnungen auf die Zukunft richten. Oder wir leben in der Vergangenheit, weil wir dort vielleicht glücklich waren. Nehmen wir zum besseren Verständnis eine Metapher zu Hilfe: Wenn unser Leben ein Buch wäre, können wir es, um es ganz zu verstehen, nur Seite für Seite lesen. Wir verstehen es nicht, wenn wir von der Mitte zum Ende blättern und zwischendurch immer wieder an den verpassten Anfang denken. Wir können es nur ganz verstehen, wenn wir mit ganzer Konzentration eine Seite nach der anderen lesen. Manche Seiten sind spannend, andere dramatisch, und jede will gelesen werden. Was hat das mit der Gegenwart und den heilenden Aspekten des Lesens zu tun? Wenn wir jeden Moment annehmen und ihm unsere ganze Achtsamkeit widmen, beschenkt uns die Gegenwart mit innerer Ruhe, mit Klarheit und wachsendem Verständnis für das, was ist. Wie kommen wir nun lesend in die Gegenwart? Wenn wir unsere ganze Konzentration auf das richten, was wir gerade lesen, also die ganzen einhundert Prozent Konzentration, die uns im Idealfall zur Verfügung stehen, dann sind wir bereits da, in
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der Gegenwart. Dann werden wir eins mit dem Lesen, sind Leser, Gelesenes und das Lesen. Jeder Leser entscheidet selbst darüber, was und wie er liest. Zerstreuung in flachem Gewässer oder Konzentration im tiefen Ozean? Wenn wir uns bewusst sind, was wir tun, kann alles geschehen, was wichtig für uns ist.
Verstehen verändert Bewusstsein Lesen klärt. Es kann trösten, verbinden, erheitern und neu fokussieren. Wir können laut lesen oder ganz still. Die Tagebücher aus unserer Jugend lesen wir heute mit einem veränderten Bewusstsein – und wir können uns vielleicht rückwirkend sehr gut verstehen. Worte treffen immer auf das jeweilige Bewusstsein; was heute nicht verstanden wird, kann schon morgen eine Quelle der Erkenntnis sein. Auch Schreiben klärt. Wenn wir uns etwas von der Seele schreiben, fühlen wir uns erleichtert. Schreiben ist eine kreative, Ordnung schaffende Handlung. Wir lassen los und geben dem, was in uns ist, Gestalt und Ausdruck. Es ist nicht wichtig, dass dies in einer bestimmten literarischen Form geschieht, nur dass es geschieht, ist von Bedeutung. Wir können über unsere eigenen Worte reflektieren, also einen zweiten Blick auf unser Inneres werfen. Sind wir voller Vorwurf, weisen wir anderen Schuld zu? Klagen wir uns selbst an? Bereuen wir etwas? Versuchen wir im Schreiben und Lesen unsere Inneres zu erforschen, verändern wir uns und damit unser Bewusstsein. Was also ist Bewusstsein? Was macht es aus? Unser Bewusstsein ist bei allem wissenschaftlichen Forscherdrang noch wenig erforscht, es ist das Buch mit sieben Siegeln, von denen wir eines oder zwei geöffnet haben. Bewusstsein ist nicht wie unser Körper eine Ausdehnung in Zeit und Raum. Es ist alles und nichts, viel und wenig. Es lässt sich nicht greifen wie einen Stein und drehen und wenden. Es gibt bildgebende Verfahren, die die Wirkweise des Bewusstseins darstellen. Immer sind sie Hilfsmittel, eine Übersetzung in eine Sprache und in Bilder. Immer sind es nur Ausschnitte
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des Ganzen. Wir können unser Bewusstsein nicht anfassen, aber wir können es erfahren. Dazu müssen wir nicht studieren und auch keine Bücher lesen. Jeder einzelne Mensch erfährt das Bewusstsein an sich an jedem einzelnen Tag – wenn er oder sie will. Wir können unseren Atem wahrnehmen und spüren, wie er uns durchströmt. Wir können aber auch unser ganzes Leben ohne diese Wahrnehmung verbringen – also ohne einen einzigen bewussten Atemzug. Wir können uns bewusst sein, dass wir jeden Moment ein einziges Mal leben können, wir können aber auch ohne dieses Bewusstsein leben. Unser Bewusstsein konstituiert sich aus unseren Inhalten. Was sind unsere Inhalte? Es sind unsere Gedanken, unsere Ideen, unsere Glaubenssysteme. Welche können das sein? Hier sind einige Beispiele: Ich bin ein Mensch, der im Urlaub immer krank wird. Ich bin ein überzeugter Sozialist. Ich bin Demokrat. Ich werde immer betrogen. Meine Pläne scheitern immer im letzten Moment. Ich will so bleiben, wie ich bin. Ich bin ein erfolgreicher Architekt. Wenn wir als Kinder lernen, mit Messer und Gabel zu essen, verändert sich unser Bewusstsein. Wenn wir lernen, ohne Stützräder Fahrrad zu fahren, verändert sich unser Bewusstsein. Als Kinder nehmen wir diese Veränderungen an. Und als Erwachsene? Was geschieht, wenn sich etwas verändert, unser eingenommener Standpunkt ins Wanken gerät oder gar ganz gestürzt wird? Ich bin ein erfolgreicher Architekt. Was ist, wenn der Erfolg ausbleibt? Ich bin der starke Partner. Was passiert, wenn sich Schwäche zeigt? Bewusstsein verändert sich von Augenblick zu Augenblick. In einer modernen, konsumorientierten Gesellschaft ist das kleine Wort »neu« von großer Bedeutung, es findet sich in allen Lebensbereichen: neue Diagnoseverfahren, neue Mode, Neuigkeiten an sich, neue Techniken, neue Telefone, neue Rezepturen, neue Autos. Wir scheinen das Neue an sich zu schätzen. Wie sieht es mit Veränderungen aus? Schätzen wir sie auch? Die beiden Begriffe »neu« und »Veränderung« gehören zum gleichen Sinnzusammenhang: Wenn etwas neu ist, hat sich etwas verändert. Im Außen wollen wir scheinbar das Neue, denn wir konsumieren ja bevorzugt
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neue Dinge. Und in unserem Inneren? Wollen wir da auch das Neue? Lassen wir Veränderungen zu oder bleiben wir lieber auf den inneren Standpunkten stehen, die wir einmal eingenommen haben? Im Alltag verhält es sich mit dem Neuen und den Veränderungen so, dass wir etwas Neues gern annehmen, wenn es sich in unsere Komfortzone einfügt. Eine neue Kaffeevariation nehmen wir als Kaffeetrinker eher an, als von jetzt auf gleich zum Teetrinker zu werden. Ein neues Auto bringt keine tatsächliche Veränderung, sondern ist einfach wieder nur ein Auto. Das ewig Neue einer Konsumgesellschaft verspricht andauernde Ablenkung, Glück, Zufriedenheit – manchmal auch ein gutes Gewissen und Unterhaltung – aber keine Veränderung. Ein neuer Film, ein neues Spielzeug, ein neues Kleidungsstück – das so genannte Neue ist meist nicht mehr als eine Variation des Bekannten. Unsere Komfortzonen, die wir auch Denkmuster, Routine oder Gewohnheiten nennen können, machen vor allem eins: Sie halten uns unbewusst. In der Trauer wie in jeder leidvollen Erfahrung ist die innere Veränderung für uns unmittelbar spürbar, denn wir erfahren die Welt wirklich neu – jenseits aller Gewohnheiten und bequemen Lösungen – vielleicht als bedrohlich, traurig oder absurd. So schmerzhaft diese Erfahrungen sind, so markieren sie doch einen Zustand, in dem wir bewusster sind als beim Anschauen eines unterhaltsamen Kinofilms oder beim Kauf einer Regenwald rettenden Limonade. Veränderungen finden immer jenseits unserer Komfortzone statt. Es ist dieser Ausnahmezustand jenseits unseres gewohnten Denkens und Erlebens, der uns die größten Einsichten in unsere Existenz bringen kann. Was bedeutet verstehen? Wenn wir ein Anhänger einer bestimmten politischen Partei sind, verstehen wir dann einen Anhänger einer anderen Partei? Wenn wir eine bestimmte Musikrichtung mögen, verstehen wir dann, dass jemand eine ganze andere Musikrichtung bevorzugt? Wenn wir gern Fleisch essen, verstehen wir einen Vegetarier? Wenn wir unsere Pullover lieber neu kaufen, verstehen wir den Menschen, der seine Pullover selbst strickt? Im allgemeinen Sprachgebrauch nennen wir es verstehen, wenn unsere Ideen übereinstimmen.
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Wirkliches Verstehen findet jenseits unserer Komfortzone und unserer Ideen statt. Ist mir bewusst, dass die Wasservorräte unseres Planeten begrenzt sind? Ist mir bewusst, wie viel Wasser benötigt wird, um eine neue Hose herzustellen? Möchte ich das wirklich wissen? Könnte mir der Kauf einer neuen Hose weniger Freude machen, wenn ich weiß, wie sie produziert wird? Ist mir bewusst, wie das Tier, dessen Fleisch ich esse, gelebt hat und »für mich« gestorben ist? Möchte ich mir das überhaupt bewusst machen? Oder denke ich lieber nicht darüber nach und mache es mir in meiner Komfortzone mit der neuen Frühstückswurstvariation und der neuen Hose gemütlich? Dann werde ich jedes neue Fleischprodukt und jede neue Hose begrüßen, hingegen eine tatsächliche Veränderung, also weniger, anderes oder gar kein Fleisch mehr zu essen oder eben keine oder eine andere neue Hose zu kaufen, ablehnen. Unser Bewusstsein ist ein fulminantes Orchester, aber oft genug schlagen wir die Triangel und denken, wir sind ein Rockstar – oder ein Schlagerstar, ganz nach Gusto. Das geht gut, solange wir gesund sind und wir noch keine so genannten Schicksalsschläge erlebt haben. Und wenn doch? Dann ist es heilsam zu verstehen, dass wir und unser Bewusstsein mehr sind als ein bloßes Triangelspiel. Trauer in Liebe und Tod ist das Gefühl mit der größten Ich-Bezogenheit. Wir denken und fühlen: Niemand auf der Welt leidet so wie ich. In der Trauer sind wir hochsensibel, verletzlich und haben eine besondere Wahrnehmung. Wir können diesen Zustand ablehnen oder ihn annehmen. Nehmen wir ihn an, kann unsere Trauer erblühen wie eine Blume und auch ebenso verblühen. Was nach dem Verblühen bleibt, ist der bewusstere Mensch.
Ausflug an den Wörter-See Menschliches Bewusstsein nimmt ununterbrochen Gestalt an. Unser Bewusstsein zeigt sich in unseren Worten und Handlungen, in den Dingen, die wir schaffen, und in der Art, mit ihnen umzu-
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gehen, im Bild, das wir malen, in der Predigt, die wir halten, im Garten, den wir gestalten, im Song, den wir schreiben. Das, was da jede Gestalt annimmt, ist unser Bewusstsein. Bewusstsein ist schwer zu greifen, es verändert sich von Augenblick zu Augenblick, es ist überall enthalten, aber an sich nicht sichtbar. In der Literatur- und Geistesgeschichte der Welt wurden für das Bewusstsein schon viele Metaphern, also Sprachbilder, verwendet. Der irische Schriftsteller James Joyce etablierte den Begriff »stream of consciousness«, den Bewusstseinsstrom, in der Literatur. In Sanskrit-Schriften wird vom Bewusstsein als einem Ozean gesprochen, den es zu überqueren gilt, um alles zu verstehen. Auch das so genannte Flow-Erlebnis, das Fließen von Kreativität, ist ein Aspekt unseres Bewusstseins. Der Grieche Heraklit hat nicht über das Bewusstsein nachgedacht, sondern über die Welt an sich, doch seine Aussage »Alles fließt. Wir können nicht zweimal in denselben Fluss steigen« liefert auch eine treffende Beschreibung unseres Bewusstseins. In diesem Buch ist die große Metapher für unser Bewusstsein der Wörter-See. Der Wörter-See ist der fiktive Ort des Verstehens, unser bewusster Innenraum. Er ist eine Einladung an jeden Leser, sich eigene Gedanken zu machen, frei von Erwartungen, Vorschriften und Regeln. Er ist auch eine Einladung, sich mal gar keine Gedanken zu machen und einfach zu sein. Der Wörter-See ist poetisch und bar aller Zwänge. Hier können Sie sein, wie Sie wollen. Der Weg zum Wörter-See ist einfach. Sie müssen nur in sich gehen. Am Wörter-See können Sie sitzen, zur Ruhe kommen, schwimmen, zum Freischwimmer werden, still sein, sinnieren, meditieren. Sie können dem Wasser beim Wasser-Sein zusehen. Hier am See können Sie den Dingen auf den Grund gehen oder den Ursprung von Worten herausfinden; das ist auch im Alltag hilfreich. Das Wort »Mensch« ist ein gutes Beispiel. Können wir überhaupt sagen »der Mensch«? Gibt es denn den einen Menschen? Wer soll das sein? Ein Mann? Eine Frau? Ein Kind? Welche Farbe hat die Haut? Wie sieht er aus, der eine Mensch? Welche Nationalität hat er? Im Englischen heißt der Mensch »human being«, was
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mit »menschliches Sein« übersetzt werden kann. Ist es treffender, immer von Menschen oder Menschheit zu sprechen? Was würde sich verändern? Wären wir noch geizig oder einsam, wenn wir über uns selbst nicht mehr als Mensch sprechen würden, sondern nur noch über uns als Teil der Menschheit? Wie würden wir Trauer dann erfahren? Wie verhält es sich mit den Wörtern und der Wahrheit? Wörter sind eine Vereinbarung, jedes Wort ein Ding an sich, und, sei es noch so schön, dem Untergang geweiht. Worte sind immer Verweise, auch hübsche und inspirierende Träger, aber nie die Wahrheit selbst. Wahrheit offenbart sich in allen Sprachen hinter, zwischen und über den Worten. Diese Erfahrung können wir in der Literatur und grundsätzlich mit dem geschriebenen Wort machen. Die Bedeutung eines Textes offenbart sich jedem Leser auf individuelle Weise, vielleicht ändert sie sich auch über die Jahre. Manche Texte sind so außerordentlich, dass sie nach Hunderten von Jahren wirken, als wären sie gerade erst geschrieben. Das Wahrnehmen zwischen, hinter und über den Zeilen können wir auch auf andere Verhältnisse übertragen. Wir können es auf uns selbst und unsere Mitmenschen übertragen. Wir können einen Menschen anschauen, sehen ihm aber immer nur vor den Kopf, sehen das Äußere, das so wandelbar ist, wie es die Jahreszeiten sind. Was hinter der Stirn vorgeht, können wir aber trotz aller Verkleidung wahrnehmen – wenn wir klar bleiben und uns nicht blenden lassen. Dann können wir jenseits aller Kleidung und aller Worte einen Menschen wahrnehmen. Dies gilt natürlich auch für uns selbst. In leidvollen Zeiten nehmen wir grundsätzlich anders wahr, denn wir fallen aus unserem gewohnten Wahrnehmungsraster heraus. Wir verhalten uns vielleicht nicht, wie von uns erwartet, und dies offenbart uns Wege, Leben in allen Aspekten unverstellt wahrzunehmen und so auch zu verstehen. Die Erfahrungen, die wir in der Trauer machen können, sind oft jenseits von dem, was Worte auszudrücken vermögen. Nicht jede geistige Erfahrung findet ihre Entsprechung im Reich der Worte, weil unser Inneres von uns noch nicht vollständig erfahren wurde.
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In der Meditation können wir unser Inneres erleben. Erfahren wir vielleicht zum ersten Mal einen neuen geistigen Zustand, ist der Versuch, diesen Zustand zu benennen, nicht unbedingt sinnvoll. Denn in dem Moment, da wir eine wortlose Erfahrung versprachlichen, geschieht etwas. Durch die Versprachlichung werden Erlebnisse manchmal so unschön geschreddert wie der unter Wasser silbrig hell schillernde Fischschwarm von einem stählernen Fangseil. Wir ziehen unseren Fang an Land, aber der Zauber der unmittelbaren Lebendigkeit ist dahin, übrig bleibt das Wort. Ein toter Fisch. Worte können lebendig und inspirierend oder zerstörend sein. Gehen wir achtsam mit ihnen um, können wir uns an ihrer Wirkung erfreuen und sie auch dort weglassen, wo sie fehl am Platz sind. Gemeinsames Schweigen kann sehr entspannt sein. In leidvollen Zuständen können wir aber auch neue Worte für uns erfinden, wenn wir nicht ganz sprachlos bleiben wollen. Diese kreative Freiheit haben wir natürlich immer, überlassen sie aber in den nicht leidvollen Zeiten oft den Kindern und den Künstlern. Wie ist es also, am Wörter-See zu meditieren, einfach zu sitzen und zu schweigen? Was geschieht mit mir? Zunächst geht mir allerhand durch den Kopf, ein Gedanke jagt den nächsten, da kann es in meinem Kopf zugehen wie unter Wasser, wenn sich silbrige Fischschwärme in Windeseile von hier nach da bewegen. Wenn ich sie einfach lasse, ohne jeden einzelnen Fisch fangen und benennen zu wollen, zieht der Schwarm vorüber. Dann ist das Wasser klar. Mein Geist ist ruhig und ich kann den Zustand des Nicht-Denkens genießen. Sobald ich aber Worte für diesen Zustand suche, ist er auch schon wieder dahin, der schöne Zustand. Vielleicht ist es aber auch so, dass ich am Wörter-See sitze und trotz bester Absicht immer wieder die Fische, also meine Gedanken, benennen und festhalten will. Dann ist das so. Vielleicht ist es beim zweiten und beim dritten Mal anders. Wenn ich auch dies einfach wahrnehme, wie es ist, ohne es als ein Versagen zu bezeichnen, ist es einfach nur der nächste Schritt zu einem klaren Geist. Ein leidvoller Zustand wie Trauer ist ein guter Ausgangspunkt für die meditative Innenschau, denn unsere Wahrnehmung ist jenseits des Alltäglichen, wir sind
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hochsensibel und können uns jenseits aller Worte vielleicht direkter und einfacher wahrnehmen als in den geistigen Komfortzonen unseres Alltags. Im Verlauf dieses Buches werden Sie immer wieder vom Wörter-See lesen können. So verschieden die Themen sind, immer ist der »Gruß vom Wörter-See« eine Einladung zu Freiheit und Verständnis, zu Kreativität und Lebendigkeit.
II Erfahrungen aus der Praxis: Lesen und Verstehen als lebendige Auseinandersetzung mit Tod und Sterben
Die folgenden Fallbeispiele geben einen Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten des Verstehens, die uns das Lesen und Schreiben, das Erzählen und Zuhören in der Trauer und der Begleitung geben können.
Helene und die Liebesbriefe Die Mutter von Helene starb mit 79 Jahren an Herzversagen. Helene suchte das Gespräch mit mir, als die Restfamilie, bestehend aus einem älteren Bruder und dem Vater, nach dem Tod der Mutter immer weniger miteinander sprach und sie selbst nicht mehr wusste, wie sie mit ihren widersprüchlichen Gefühlen für ihre Mutter umgehen sollte. Helene hatte eine Ausbildung als Zahntechnikerin gemacht und war während der Ausbildung schwanger geworden. Ihre berufliche Entwicklung lief mit Kind und alleinerziehend anders ab, als die Mutter es sich gewünscht hatte. Helenes Sohn studiert mittlerweile in einer anderen Stadt, Helene lebt allein und unterstützte ihre Eltern in den letzten Jahren viel in der Bewältigung des Alltags. Helene sagte gleich bei unserem ersten Gespräch: »Meine Mutter hat mich ihr Leben lang nicht akzeptiert, egal, was ich alles für sie getan habe, und jetzt, da sie tot ist, vermisse ich sie! Ist das nicht schrecklich?« Der Vater war einige Wochen zuvor in ein Altersheim gezogen und die Geschwister standen vor der Aufgabe, das Elternhaus aufzulösen und zu verkaufen. »Mein Bruder und ich stehen uns
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nicht besonders nah und jetzt habe ich das Gefühl, er drückt sich vor den schweren Aufgaben, alles bleibt an mir hängen, wie immer. Ich möchte ja auch nicht die Kleider meiner Mutter aussortieren, aber einer muss es doch machen. Und niemand fragt mich, wie ich das schaffe. Wie immer.« Bei diesem Treffen schimpfte sie viel über ihre Familie. Sie wollte nicht, dass ich irgendetwas sagte, sie betonte: »Ich will diesen ganzen Druck und diese Wut endlich mal rauslassen, sonst platze ich noch!« Es war ein langer Fluss von Anklagen gegen den Druck und die Erwartungen der Mutter in Bezug auf ihre Karriere und Lebensführung und die Enttäuschung über den frühen Enkel. Helene fühlte sich immer zweitrangig und hatte das Gefühl, dem Bruder wurde immer mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht und ihm gegenüber auch mehr Zugeständnisse gemacht. Nach einer Weile rief sie wieder an und war sehr aufgeregt, sie wollte über einen Fund sprechen. Als sie kam, sah sie sehr traurig und verwirrt aus. Schweigend legte sie einen kleinen Stapel Briefe auf den Tisch und fing an zu weinen. Nach einer Weile konnte sie wieder sprechen und sagte: »Ich weiß nicht, ob das richtig war, aber ich habe sie alle gelesen. Es tut mir so leid.« Sie erzählte, dass sie diese Briefe gut versteckt in einem alten Koffer der Mutter gefunden hatte. Erst wollte sie sie auf keinen Fall lesen, aber eines Nachts konnte sie sich nicht mehr beherrschen. Die Briefe waren jene, die ihr Vater ihrer Mutter in der Zeit ihres Kennenlernens geschrieben hatte, sie datierten bis zur Verlobung. Was Helene so verwirrt hatte, war der offensichtliche Zustand ihrer Mutter. Aus den Briefen ging klar hervor, dass sie vor der Hochzeit schwanger war, dieses Kind gar nicht wollte und Helenes Bruder entgegen allen Behauptungen nicht das eheliche Wunschkind war, das ihre Mutter Zeit ihres Lebens aus ihm gemacht hatte. »Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass sie sehr zufrieden mit ihrem Leben sei und ihren Beruf gern für ihre Familie aufgegeben hatte. Aber ehrlich gesagt, habe ich meine Mutter immer als unzufriedene Frau erlebt. Meine Eltern passten gar nicht richtig zusammen.« Immer wieder wurde Helenes Erzählen von Weinen unterbrochen. »Meine Eltern haben nur wegen meines Bruders geheiratet.«
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Sie schwieg nun eine ganze Weile. Irgendwann stand sie auf und ging unruhig im Raum hin und her. Als sie sich wieder zu mir setzte, sprachen wir weiter. Ich fragte sie, ob sie ihre Mutter verstehen könnte, denn in der Jugendzeit ihrer Mutter war ein uneheliches Kind noch etwas ganz anderes als heute. Helene rang mit sich und meinte, ihre Mutter hätte ja zumindest irgendwann mal mit der Wahrheit rausrücken können. Oder ihr Vater hätte mal etwas sagen können. »Vielleicht hat Ihre Mutter es irgendwann nicht mehr gekonnt. Vielleicht hat sie sich auch geschämt. Wenn sie ein ungewolltes Kind doch zur Welt bringt und einen Mann heiratet, der nicht ganz passt, ist ihr das Verleugnen der Wahrheit vielleicht zur zweiten Natur geworden.« »Meine Mutter war ganz anders, als ich immer gedacht habe. Ich finde es grauenhaft, dass ich das jetzt weiß. Was soll ich denn jetzt machen? Meinem Bruder sagen, dass er nicht der Prinz ist, für den er sich hält? Meinem Vater sagen, dass ich seine Briefe gelesen habe? Hab ich alles falsch gemacht?« Bei diesem Treffen wollte Helene nicht mehr viel reden. Als sie ging, war sie gefasster als bei ihrer Ankunft und versprach, sich bald zu melden. »Für irgendetwas muss das ja alles gut sein, oder?« Es war bei diesem dritten Treffen, dass wir über ihre Trauer, ihre Wut und ihre neue Sicht auf die Mutter sprechen konnten. Helene wollte unbedingt, dass die Briefe einen Sinn hatten. »Ich schäme mich, dass ich sie gelesen habe, aber ich bin auch froh. Meine Mutter hat sich ihr ganzes Leben lang belogen, aber vielleicht hatte sie gar keine andere Wahl. Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, als lerne ich sie jetzt erst richtig kennen. Ich weiß nicht mal, ob ich sie jetzt lieber mag, aber ich kann sie besser verstehen.« Ich sprach sie auf ihre eigene Rolle in der Familie an. Sie antwortete sofort: »Ich sollte leben, wie sie nicht konnte, davon bin ich überzeugt. Wie schrecklich. Sie hat mich nie mein eigenes Leben führen lassen. Aber jetzt kann ich mir denken, wie sie sich fühlte, als mein Max geboren wurde. Als wenn sich alles wiederholt.« Nach einer Weile sprach sie wieder: »Ich bin so traurig über alles. Dass sie tot ist, dass wir nie gesprochen haben, dass sie mich nie akzeptiert hat. Und dass mein Vater so zurückgezogen war, eigentlich immer. Und trotzdem bin
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ich jetzt auch froh, dass sie die Briefe aufgehoben hat und ich sie gelesen habe. Es ist wie eine heimliche Verbindung zwischen uns.« Nach einigen Monaten meldete sich Helene nochmals bei mir und erzählte mir, dass sie ihren Vater im Heim besuchte hatte und das erste Mal das Gefühl hatte, ihm wirklich zu begegnen. Nein, er sei wie immer, aber sie könne jetzt anders damit umgehen.
Peter und die preiswerte Einäscherung Der Vater von Peter starb nach einer plötzlichen Erkrankung und er hatte, wie es seine lebenslange Angewohnheit war, alle diesbezüglichen Angelegenheiten lange vor seiner Erkrankung geregelt. Er ließ in der Familie keinen Zweifel aufkommen, wie er zur letzten Ruhe kommen wollte: »Ich will verbrannt werden, und zwar so billig wie möglich. Ich hab im Leben mein Geld nicht zum Fenster rausgeworfen und ich werde im Tod nicht damit anfangen. Wenn ich tot bin, bin ich tot. Mit meinem Geld könnt ihr nachher machen, was ihr wollt. Und mit meiner Asche auch.« Der Kummer in der Familie war groß, es starb ein geliebter Mensch. Sie weinten viel und hemmungslos und hielten sich an seine Anweisungen. »Es hat mir und uns so viel Halt gegeben, zu wissen, was er wollte und in seinem Sinne handeln zu können. Ganz ehrlich, keiner von uns war in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Wir mussten noch mitten im Weinkrampf mit dem Bestatter reden.« Peter erzählte mir von der absurden Situation beim Bestatter, der ihnen die verschiedenen Ausstattungsmöglichkeiten anbot, und wie ihm die offensichtlich wohlhabende Familie unter Tränen immer wieder einstimmig beschied: »Nein, nein, so billig wie möglich.« Ich hatte seinen Vater einmal kurz kennengelernt und ihn als angenehmen, sehr humorvollen Familienmenschen erlebt. Ich erinnerte mich an eine abfällige Bemerkung, die er während unseres Gespräches über die Kirche machte. Ich fragte Peter: »Habt ihr eine Trauerfeier organisiert? War er zum Ende der Kirche gegenüber milder gestimmt?« Peter schüttelte den Kopf. »Kein Geld zu
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viel, keine Kirchenfeier. Mir fiel das schwer, aber schließlich ging es ja um ihn, nicht um mich. Wir haben uns einfach an seinen letzten Willen gehalten.« Er erzählte, wie die Familie schließlich verfahren war. »Wir wollten ihm seinen Lieblingsanzug anziehen und waren baff, dass wir das nicht durften. Wir mussten tatsächlich so ein schreckliches Kunststoffhemd kaufen. Aber natürlich das preiswerteste. Ich weiß wirklich nicht, wann ich je so viel geweint und gelacht habe. Wir waren so traurig. Mein Vater hat schon einen sehr speziellen Humor gehabt. Obwohl er das mit dem Geld ernst meinte, es sollte uns dienen und nicht für einen teuren Sarg ausgegeben werden. Er wusste ja immer, dass wir ihn lieben. Und weißt du, was er zum Schluss immer sagte? ›Ihr werdet noch oft an mich denken. So einen wie mich gibt es nur einmal.‹ An Selbstbewusstsein hat es ihm nie gefehlt.« Während er erzählte, machte Peter gleichzeitig einen traurigen und auch gelösten Eindruck auf mich, ich ließ ihn weiter erzählen. »Die preiswerteste Einäscherung gibt es in den Niederlanden. Er hatte ja sogar schon die Broschüren organisiert. Das haben wir also alles gemacht. Aber keiner von uns wollte bei der Einäscherung dabei sein, ich weiß auch nicht. Vielleicht lag es daran, dass er so ein Familienmensch war. Er war am liebsten zu Hause, bei der Familie, in seinem Garten. Und wir wollten zu diesem Zeitpunkt keinen Menschen sehen, das war so eben so. Wir haben einfach gemacht, was wir wollten. Kann gut sein, dass wir viele vor den Kopf gestoßen haben. Aber wir haben uns im engsten Familienkreis zu Hause versammelt, als er in den Niederlanden eingeäschert wurde. Wir haben tatsächlich zusammen gefrühstückt. Das war immer seine liebste Mahlzeit. Wir haben nicht wirklich viel gegessen, aber trotzdem fühlte es sich richtig an. Es regnete die ganze Zeit und irgendwann hörte es auf und wir gingen spazieren, eine Runde über das Feld.« Mein Freund schaute mich an. Er zögerte kurz bevor er weitersprach: »Weißt du, dass dann etwas Unglaubliches passierte?! Genau um die Zeit, als seine Einäscherung vorbei war, riss der Himmel auf und die grauen Wolken machten dem blauen Himmel
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Platz. Es war wie ein Zeichen, als ob die ganze Welt und der ganze Himmel Anteil nahmen. Und es war auf einmal alles so weit und groß und wir haben wieder geheult wie die Schlosshunde. Und mussten trotzdem lachen.« Eine Zeitlang schwiegen wir. »Und wie ist es jetzt in der Familie? Du hast doch noch Geschwister, wie geht es ihnen? Und deiner Mutter?« Peter sah mich an und meinte: »Insgesamt haben wir das alle ganz gut verkraftet, glaube ich. Wir weinen nicht mehr so viel. Aber jetzt, nach fast einem halben Jahr, kommen andere Themen hoch. Was wir am Anfang alles verdrängen konnten, nämlich die Erwartungen der anderen und unsere eigenen Vorstellungen von der Trauerfeier, das alles ist, wie soll ich sagen, ist noch nicht harmonisch oder friedlich. Manchmal streiten wir sogar darüber. Meine beiden Schwestern finden es schwer, mit den Reaktionen unserer Freunde und Verwandten klarzukommen. Das ist etwas schwierig zurzeit.« »Redet ihr innerhalb der Familie darüber?« Mein Freund nickte. »Auf jeden Fall. Aber wir sind am Ende unserer Weisheit. Wir können nicht allen gerecht werden und jeder von uns hat eigene Vorstellungen, wie mit den anderen umzugehen ist. Sybille, das ist meine jüngere Schwester, meinte sogar, wir müssten noch irgendetwas machen. Aber was, weiß sie auch nicht so genau. Hast du eine Idee?« Ich zögerte mit meiner Antwort. »Ihr seid ja mit der Bestattung eures Vaters euren ganz eigenen Weg gegangen und das war ja offensichtlich richtig für euch, in diesem Moment.« Peter nickte vehement. »Unbedingt. Das finden wir alle immer noch. Wir reden auch oft davon und fühlen uns sehr wohl damit. Aber eben, na ja, die anderen. Sie sind uns ja wichtig und wir haben sie verletzt. Wir hatten sie einfach ausgeblendet.« »Wenn ihr alle den Wunsch habt, da noch etwas, na ja, nachzuarbeiten, dann veranstaltet doch eine besondere Trauerfeier zum ersten Todestag. Ich mache euch einen Vorschlag: Setzt euch als Familie zusammen und schreibt auf, jeder für sich, was bei dieser Trauerfeier für jeden Einzelnen von euch wichtig ist und was ihr für die anderen tun wollt – und auch, was nicht. Euren Vater habt ihr in seinem Sinne verabschiedet. Jetzt seid ihr dran. Und alle, die euch am Herzen liegen. Ihr seid euren
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eigenen Weg gegangen mit eurem Vater als Wegweiser. Jetzt geht ihr den Weg weiter und habt nicht nur euren Vater, sondern auch euch und die anderen im Blick.« Peter schwieg eine ganze Weile. Dann endlich sagte er: »Das ist eine tolle Idee. Ich sehe uns schon am Tisch sitzen und gucken, dass keiner vom anderen abschreibt. Ich glaube, ich möchte gerne erzählen, wie seine Bestattung war. Und ich weiß jetzt schon, dass auf Sybilles Liste Blumen an oberster Stelle stehen werden. Jutta wird bestimmt schöne Karten verschicken wollen. Das wird bestimmt eine lange Liste, die wir da zusammen schreiben.« Wir ließen es an diesem Tag dabei bleiben und verabschiedeten uns. Nach vier Monaten erhielt ich eine Einladung von Peter zur Trauerfeier seines Vaters. Die Familie hatte, zuerst schriftlich und dann in großer Diskussionsrunde, zu einer außergewöhnlich schönen Feier gefunden. Sie stand der Einzigartigkeit der ersten in nichts nach und war, wie Peter mir später erzählte, blumengeschmückte Basis etlicher Versöhnungen und half, einige Verständnisschwierigkeiten von Freunden und Verwandten aus dem Weg zu räumen. Zum Schluss verriet er mir, dass die Familie nur auf eine Sache nicht verzichten wollte: alles so preiswert wie möglich zu gestalten. Das sei ihr Vater ihnen allen wert gewesen.
Jakob aus Hamburg Ich traf Jakob nach einer Lesung zum Thema »Verlust« in Hamburg. Ich packte meine Sachen zusammen, als er plötzlich vor mir stand: ein älterer Herr mit gerader Haltung und akkurat geschnittenen Haaren. Seine braunen Augen funkelten. »Haben Sie Hunger?« Ich war so perplex, dass ich nur nickte. Ich hatte tatsächlich Hunger. »Sehen Sie, das habe ich mir gedacht. Sie haben ja auch den ganzen Abend ohne Punkt und Komma geredet. Ich lade Sie zum Essen ein und dann erzähle ich Ihnen mal, was man noch so alles verlieren kann. Und dann wie Phönix aus der Asche auferstehen kann.« Ich wusste nicht, worauf ich mich da einließ, aber ich
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sagte sicherheitshalber, ich hätte nur eine Stunde Zeit. »Reicht. Zeit satt«, sagte er knapp. Wir gingen in ein gutbürgerliches Lokal ein paar Straßen weiter und kaum hatte ich bestellt, legte er los. Seinen Namen hatte er mit unterwegs verraten: Jakob. Seine Geradlinigkeit und seinen klaren Wunsch, mir an diesem Abend seine Geschichte zu erzählen, fand ich, neben seinem Pragmatismus, beeindruckend. Ich ließ mich gerne ein. »Sie müssen auch nichts sagen, Sie haben ja heute schon genug geredet. Sie können essen und ich erzähle.« Unsere Rollen hatte er klar verteilt. »Ich höre Ihnen zu.« Jakob rutschte ein wenig auf seinem Stuhl hin und her und räusperte sich. »Ich bin jetzt achtzig und ich habe fast alles verloren, meine Frau, meine Heimat und meine Illusionen. Wissen Sie, als Inge starb, das ist jetzt schon neun Jahre her, da lebten wir auf Mallorca. So, wie wir das immer gewollt hatten. Wir haben keinen Kinder, Inge und ich. Wir hatten nur uns und das hat immer gereicht. Mallorca war schon schön, das muss ich sagen, aber eben Spanien, wissen Sie. So richtig warm geworden bin ich mit denen auf Dauer nicht. Und als Inge krank wurde, fing der ganze Schlamassel an. Wir hatten uns schon vorbereitet, also, wir waren versichert und alles. Aber niemand will in Spanien in ein Krankenhaus, wenn er das nicht muss.« Er trank einen Schluck Wasser. »Sie starb einfach so. Sie siechte einfach weg. Ich bin fast wahnsinnig geworden damals.« Jakob machte eine Pause und ließ seine Augen über die Menschen im Lokal wandern. Dann sah er mich an. »Sie sind ja noch jung, Sie haben das alles noch vor sich. Schön ist das nicht, aber es gehört zum Leben wie der Müll, den wir produzieren. Wissen Sie, die Spanier lassen alles liegen, wo es eben landet. Nicht so wie bei uns, alles picobello, sauber gefegt und nass gereinigt. Da war auch das Sterben anders. Ich wollte mich umbringen, zuerst. Aber Inge hätte das nicht gewollt. Also hab ich es auch nicht gemacht. Ich bin geblieben. Erst mal.« Jetzt musste ich ihn doch etwas fragen. »Haben Sie denn alles mit sich allein ausgemacht? War niemand für Sie da?« Ich erntete einen strengen Blick von Jakob. »In der Not ist selten jemand da. Immer gut, wenn Sie sich selbst helfen können. Aber ich will jetzt
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mal weiter erzählen. Wir haben ja auch nicht alle Zeit der Welt.« Ich ließ Jakob also weiter erzählen. »Den ganzen formalen Kram erspare ich Ihnen jetzt mal. Die Rückführung und das alles. Ich habe Inge hier in Hamburg beerdigt, das hatten wir so ausgemacht. Und dann bin ich zurück. Und dann fing das Elend erst richtig an. Vorher war ich wie ein Roboter, hab alles gemacht, wie wir das besprochen hatten, und ich hatte gedacht, na ja, lebst schon so lange auf der Insel, das ist jetzt deine Heimat.« Jakob sah mich an und sagte langsam und deutlich: »Pustekuchen.« Ich schob meinen leeren Teller zur Seite und bestellte einen Kaffee. »Ich komm jetzt mal zum Thema ›Heimat‹.« Ich nickte. »Als Inge tot war, war alles, alles schwerer. Wäre mir hier genauso ergangen. Hat nix mit Spanien zu tun. Wissen Sie, was mir passiert ist? Und das habe ich bisher noch nicht vielen Leuten erzählt, das glauben Sie mal.« Er machte eine kurze Pause und blickte mich kritisch an, ob ich dieses Vertrauen auch verdiente. »Wir sind ja gerne wandern gegangen, Inge und ich. Und nach ihrem Tod bin ich weiter gewandert, mal alleine, mal mit ein paar Wanderfreunden. Und einmal, da hab ich mich eben mal verlaufen, kann ja mal passieren, nicht wahr. Und ich hab mich nicht mehr zurechtgefunden. Ich konnte diese vermaledeiten Karten nicht mehr lesen, die vermaledeiten Spanier nicht mehr verstehen und schon gar nicht mehr nach dem Weg fragen. War alles weg. Ich konnte nichts mehr verstehen. Als wäre irgendetwas plötzlich einfach weggegangen oder ausgegangen, wie ein Licht oder ein Schalter. Ging nicht mehr. Das Ende vom Lied war, dass ich schließlich mit einem Taxi nach Hause gefahren bin. Nach Hause.« Er machte wieder eine Pause. »Das war schrecklich. Nicht nur die Niederlage. Das war, wie soll ich das sagen, es war mehr das Erkennen von, na ja, dass ich da gar nicht hingehöre. Von wegen Heimat. Ich habe die einfach nicht mehr verstehen können. Keine einzige Wegbeschreibung habe ich mehr verstanden, verstehen Sie? Und wir sind ja freiwillig dahin. Fanden wir ja schön. War alles vorbei.« Wieder machte Jakob eine Pause und ließ seine Augen durch das Lokal wandern. Er sah mich herausfordernd von der Seite an
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und sagte: »Können Sie noch? Bin gleich fertig.« Dieser alte Herr hatte eine sehr klare Vorstellung, was er heute Abend alles sagen wollte. »Zuhören können Sie ja, das muss ich jetzt mal sagen. So, ich erzähle jetzt, wie es weiter ging. Und dann sind wir fertig.« Er trank wieder einen Schluck Wasser. »Ich weiß nicht, was da passiert ist, als ich die Spanier nicht mehr verstanden habe. Ich meine, natürlich habe ich noch etwas verstanden, aber eben nicht mehr so wie früher. Und als ich in unserer Wohnung saß und mich so umsah, nach draußen sah und eben alles so wahrgenommen habe, wie es war, habe ich festgestellt, dass ich da nicht mehr hingehöre. Dieses ganze Mallorca-Theater war eine Illusion. Vielleicht braucht es ja zwei, um so etwas zu leben, aber ich hatte auf einmal gar nichts mehr. Keine Heimat und auch nicht mehr die Illusion, auf Mallorca glücklich zu sein. Und Inge eben auch nicht mehr. War alles weg. Ich konnte mich selbst nicht mehr verstehen, wie ich mir eingebildet habe, das alles so weiterzumachen.« Jakob seufzte tief und sah mich an. »Ich glaube, das war die schrecklichste Zeit in meinem Leben. Nein, das stimmt gar nicht. Als ich mich entschlossen habe, nach Deutschland zurückzukehren, da wurde es noch schlimmer.« Er sah mich unbewegt an. »Ich hab es überlebt. Aber am Anfang war es die Hölle. Vielleicht war das ja auch alles noch Trauer. Würden Sie bestimmt jetzt sagen, nicht wahr? Als ich also zurückkam, da stellte ich fest, dass hier alles anders geworden war, wir waren ja fast fünfzehn Jahre weg gewesen. Die Stadt hat sich verändert. Und die alten Freunde sind auch nicht mehr alle am Leben. Die Reihen lichten sich. Ist halt so. Da ging es mir wieder schlecht, das kann ich nicht leugnen. Aber immerhin konnte ich nach dem Weg fragen, wenn ich mich in meiner Stadt mal wieder nicht auskannte. Muss man ja dankbar sein.« Jakob legte plötzlich seine von Altersflecken gemusterte Hand über meine und tätschelte sie. »Ich bin gleich fertig. Es ist dann nämlich noch was passiert, das war sehr schön. Das hat alles wieder geändert. Aber erst mal musste ich eine Wohnung finden, die Wohnung auf Mallorca hab ich verkauft, aber hier kriegt man für den Preis ja mal höchstens ein Fischbrötchen. Ich hab mir eine
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grauenhafte Wohnung gemietet, so als erste Station. Und dann hab ich mir gedacht, ich reiß das Ruder nochmal herum. Ich wollte nicht in Einsamkeit sterben, mitten in Hamburg. Und dann hab ich diese Annonce gelesen: Veteranen-WG sucht Verstärkung, hieß es da. Zeitung habe ich immer gerne gelesen, auch die Todesanzeigen. Alles eigentlich.« Er machte eine Pause, um seinen Worten den richtigen Raum zu geben. Mit einem gewissen Stolz sagte er: »Ich bin jetzt ein Veteranen-Wohngenosse. Mit lauter anderen alten Knackern. Und einem Pflegedienst, für die, die es brauchen. Ich ja noch nicht. Und vor ein paar Monaten, da habe ich in einem Café gesessen, meine Zeitung gelesen und hörte, was die Leute so erzählten, war natürlich eine Menge Unsinn dabei, aber wissen Sie, ich verstand alles und habe zugehört und auf einmal war ich ganz zufrieden. Nicht glücklich. Nur richtig zufrieden. Und das ist eigentlich viel besser. Heimat ist jetzt anders. Ich weiß auch nicht, wie genau. Finde ich vielleicht ja noch heraus.« Der alte Herr faltete seine Hände und lehnte sich mit einem zufriedenen Ausdruck zurück. Ich dankte ihm für das Essen und seine Geschichte und stellte die vielen Fragen nicht, die ich ihm hätte stellen können. Nur eine Frage hatte ich zum Schluss: »Sie haben mich doch zum Essen eingeladen, damit ich beschäftigt bin und nicht rede, oder?« Da lachte Jakob ein sehr akkurates kurzes Lachen. »Habe ich mit Inge auch immer gemacht. Wer mit Frauen reden will, muss sie beschäftigen.« Dann wurde er wieder ernst. »Wenn ich das mit der Heimat verstanden habe, oder vielleicht habe ich ja auch mal eine Frage dazu, dann kann ich Ihnen ja vielleicht mal schreiben.« Wir tauschten unsere Adressen und verabschiedeten uns. Nach zwei Wochen begannen wir, uns zu schreiben. Manchmal waren es Postkarten, manchmal kurze Briefe. Auf einer Postkarte stand: »Wie haben Sie früher Heimat definiert? Was ist Heimat heute? Ein Ort? Ein Zustand? Das Verstehen der Sprache?« Ein anderes Mal schrieben wir uns zum Tod seiner Frau Inge, einmal auch zur Bedeutung der plötzlichen Orientierungslosigkeit auf Mallorca. Ich fragte ihn, ob er einen Zusammenhang zwischen Innen und Außen sehen würde – also der inneren und äußeren
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Orientierungslosigkeit auf Mallorca. Er erstaunte mich mit seiner Gegenfrage, ob er vielleicht aufgrund seiner Trauer plötzlich nichts mehr verstanden hatte, weil etwas in ihm ihn vielleicht besser leitete, als seine Ideen es konnten. Meine Fragen knüpften immer an einen Punkt seiner langen Erzählung in Hamburg an. Stets waren seine Antworten so akkurat formuliert, wie er auch im Umgang war. In unserem Briefwechsel entwickelte er nach und nach ein Verständnis für sich selbst, das mich sehr rührte. Seine Briefe wurden auch mir zu einer Quelle des Verstehens.
Caroline nimmt Abschied Carolines Mann war im Jahr zuvor bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Als sie das Gespräch mit mir suchte, war sie sehr blass und still und begann nur zögerlich zu sprechen. Sie wusste nicht recht, wo sie anfangen sollte, und ich bat sie, mir einfach chronologisch zu erzählen, was geschehen war. Sie sah mich an und begann zu weinen. Nach einer Weile trockneten die Tränen und sie begann mit ihrer Geschichte. »Mein Mann Klaus ist letzten November tödlich verunglückt. Ein LKW war zu schnell und ist ihm im Stau hinten drauf gefahren. Er war sofort tot.« Sie hielt inne und presste die Lippen aufeinander. »Einfach so. Er war einfach sofort tot.« Sie unterbrach sich, schaute mich mit großen Augen an und stieß fast vorwurfsvoll hervor: »Ich bin jetzt Witwe! Witwe! Und ich will das gar nicht sein. Ich will bloß meinen Klaus zurück. Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich vermisse ihn von morgens bis abends und könnte allen Leuten den Hals umdrehen, die mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe. Muss ich mich denn irgendwie verhalten? Ich weiß gar nichts mehr. Nur, dass Klaus nicht mehr da ist. Und ich keine Witwe sein will. Ich hasse das Wort.« Jetzt putzte sie sich energisch die Nase und rieb daran herum, bis sie rot war. Ich bat sie, mir von ihrem Mann zu erzählen, wie er war, was er beruflich gemacht hatte. Sie seufzte tief. »Ach, Klaus. Klaus war der tollste Mann. Als wir geheiratet haben, hat er die romantischsten
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Sachen veranstaltet, nur für mich. Er war gar nicht so romantisch, aber er hat es für mich getan. Und als wir verheiratet waren, da auch immer noch. Wissen Sie, er hat gekocht für mich, den Tisch schön gedeckt und sogar Kerzen angezündet. Nicht immer, das ist ja klar, aber eben wenn es ging und er Zeit hatte. Für mich. Jetzt muss ich die Kerze selbst anzünden neben seinem Bild und mir zittern jedes Mal die Hände. Jeden Abend. Immer zittern sie.« Caroline stand abrupt auf und ging ans Fenster. Mit verschränkten Armen starrte sie auf die Straße. Ohne mich anzusehen sagte sie leise: »Ich will ihn zurück. Ich vermisse ihn so. Ohne ihn ist alles leer und kalt und wie, wie, wie in einem Museum. Ich fasse gar nichts mehr an, aus Angst, ich könnte seine letzten Spuren verwischen.« Schniefend zog sie die Nase hoch und wandte sich wieder mir zu. »Ohne Tod ist das Leben schöner«, sagte sie mit Überzeugung. Sie erzählte erst weiter, als ich sie fragte, welchen Beruf ihr Mann hatte. »Klaus war Programmierer und hatte einen guten Job. Er konnte sogar manchmal zu Hause arbeiten. Bei mir geht das ja nicht, als Sekretärin muss ich vor Ort sein. Sonst dreht mein Chef durch.« Sie lächelte plötzlich. »Wir haben manchmal davon geträumt, uns vielleicht selbstständig zu machen, irgendwann mal. War nur so eine Spinnerei. Klaus war alles andere als ein Spinner, er war total diszipliniert und pflichtbewusst. So herumgesponnen haben wir nur für uns, wissen Sie. Jetzt hab ich niemanden mehr zum Spinnen. Und manchmal habe ich das Gefühl, er kommt noch mal zurück. Das ist ganz komisch. So, als wäre das alles nicht wahr und er würde eines Tages vor der Tür stehen und mich überraschen.« Ich fragte sie nach ihrem Arbeitsplatz, den Kollegen und wie sie sich dort fühlte. »Das geht eigentlich. Ich bin wie eine Maschine und mache meinen Job. Gott sei Dank haben wir so viel zu tun, dass ich genug Ablenkung habe. Ich bin dann wie früher.« Ich fragte, ob sie sich denn wohl fühle als Maschine. Empört funkelte sie mich an. »Natürlich nicht. Ob ich mich wohl fühle! Sehe ich aus, als ob ich mich wohl fühle? Ich mache das, damit ich nicht durchdrehe.« Ich fragte sie, ob sie etwas anderes versuchen wollte, um nicht durchzudrehen. Sie sah mich kritisch an. »Jetzt versuchen Sie bloß nicht, mir so eine
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alberne Selbsthilfegruppe aufzuschwatzen. Womöglich lauter Witwen. Auf gar keinen Fall. Dann arbeite ich lieber, bis ich umfalle.« »Was halten sie denn davon, wenn Sie Ihrem Mann jeden Tag oder dann, wenn Sie es wollen, einen Brief schreiben? Sie können aufschreiben, was Sie erlebt haben, wie es Ihnen geht und wo er Ihnen fehlt.« Sie sah mich fast mitleidig an. »Und wohin soll ich den Brief schicken? In den Himmel? Ans Straßenverkehrsamt?« »Wissen Sie, es gibt Briefe, die müssen nicht verschickt werden, die wollen aber vielleicht geschrieben werden. Entscheiden Sie das selbst. Sie können, aber Sie müssen nicht.« Sie verabschiedete sich bald darauf und versprach wiederzukommen. Als ich sie wiedersah, begann sie vorwurfsvoll das Gespräch, noch bevor sie sich setzte. »Und was das soll, das weiß ich wirklich nicht. Ich habe mir gedacht, ich versuche das mal, aber das geht nicht. Immer wieder habe ich angefangen und immer wieder ging es nicht. Immer wieder hab ich alles zerrissen und geheult, das ist ja schlimmer als vorher. Er ist viel zu schnell gegangen, ich kann das alles gar nicht aufschreiben, was ich ihm sagen will.« »Ich habe Ihrem Mann auch geschrieben.« Ich reichte ihr einen Bogen Papier, auf dem ich geschrieben hatte, dass ich seine Frau kennengelernt hatte und wie traurig sie über seinen plötzlichen Tod sei. Und dass sie versuchen würde, von ihm Abschied zu nehmen, und dies noch eine Weile dauern könnte. Mit Tränen in den Augen gab Caroline mir den Brief zurück. »Das ist genau das, was ich nicht konnte, Abschied nehmen. Es ging doch alles so schnell. Und am Grab konnte ich das nicht. Alle haben mich angeguckt.« Plötzlich nahm sie mir den Bogen Papier aus der Hand und zerknüllte ihn. »Ich will das selbst machen. Ich will ihm schreiben. Ich will mich von ihm verabschieden und ich will ihn auch noch weiter haben.« Ich bot Caroline an, in meiner Anwesenheit zu schreiben, und erklärte, dass ich kein Interesse hätte, zu lesen, was sie geschrieben hatte, es sei denn, sie wollte es. Wieder einmal schaute sie mich kritisch und abschätzend an. Schließlich sagte sie: »Ich kann es ja mal versuchen. Aber ich lasse nichts hier. Ich nehme mit, was ich schreibe.« Ich bot Caroline einen Platz am Fenster an und gab ihr
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Stift und Papier. Dann ließ ich sie allein. Nach einer Stunde kam sie mit verweinten Augen zu mir. »Das hat wehgetan. Das Schreiben, meine ich. Aber auch gut getan. Ich komme wieder.« Die letzten Worte betonte sie mit Nachdruck. Und Caroline kam wieder. Nachdem sie einmal angefangen hatte zu schreiben, konnte sie nichts mehr aufhalten. Wir sprachen über das, was sie schrieb, wenn sie es so wollte. Manchmal hatte sie Fragen, manchmal wollte sie etwas vorlesen. Sie schrieb alles mit der Hand, kaufte sich sogar einen schönen Füller und besonderes Papier. Sie wollte auf keinen Fall an ihre Arbeit im Büro erinnert werden, sagte sie. Wir sprachen viel über das Abschiednehmen. Sie erzählte nach einiger Zeit, dass sie jetzt das kleine Büro ihres Mannes geputzt habe und an seinem Schreibtisch schreibe. »Wissen Sie, am Anfang hätte ich Sie ja am liebsten aus dem Fenster geworfen, als Sie mir das mit dem Schreiben vorschlugen. Und als Sie dann auch noch selbst an meinen Mann schrieben! Aber da haben Sie sich wahrscheinlich etwas bei gedacht, was?« Ich fragte sie, wie sie denn das Schreiben jetzt empfinde. »Wie eine Befreiung«, sagte sie spontan. Und setzte sofort nach: »Das heißt nicht, dass ich mich von Klaus befreie. Ich werde ihn halten, so lange es geht. Aber ich habe das Gefühl, ich kann mich jetzt von ihm verabschieden. Ich weiß gar nicht, ob das der richtige Ausdruck ist. Vielleicht meine ich ja auch ›Auf Wiedersehen sagen‹. Aber es ist noch etwas ganz anderes. Ich bin ihm so nahe, wenn ich schreibe. Es ist nicht, dass ich denke, er kommt zurück, na ja, ich wünsche mir das, aber ich weiß auch, dass es nicht so ist. Aber ich bin ihm nahe. Und er mir. Und ich kann ihm schreiben, was ich ihm nicht mehr sagen konnte. Das ist schön. Auch wenn ich weinen muss. Und meine Tränen auf seinen Schreibtisch tropfen. Aber ich habe mich auch schon dabei erwischt, dass ich ihm Sachen schreibe, über die er genauso lachen würde wie ich, wenn er da wäre. Und dann lachen wir manchmal gemeinsam. Ist das nicht komisch?« Caroline schrieb noch viel und mit jedem Brief, den sie schrieb, wandelte sich ihre Trauer. Viele Themen kamen auf, manche wurden ignoriert und viele wahrgenommen, es gab Höhen und Tie-
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fen. Caroline schrieb an ihren Mann, so lange es wichtig für sie war. Mit jedem Brief änderte sich das Verhältnis zu ihrem verstorbenen Mann und sie nahm in ihrem eigenen Tempo Abschied von ihm.
Gerald und die Erbtante Als ich Gerald zum ersten Mal traf, begegnete mir ein wütender Mann, der seine Ausweglosigkeit in heftige Worte kleidete. »Ich sollte mich ja eigentlich freuen, dass meine Tante mir das ganze Geld vererbt hat, aber ich tue es nicht. Ich bin richtig wütend auf sie. Wie konnte sie mir so etwas antun!« Ich sah ihn fragend an. »Ist es schlimm, dass Sie geerbt haben? Ist eine Bedingung an das Erbe geknüpft?« »Nein, sie hat es mir einfach so vererbt. Das viele Geld. Das ist es ja, was mich so rasend macht. Und was ich jetzt bei einer Philosophin soll, weiß ich auch nicht. Es ist eher eine Glaubensfrage.« Gerald fluchte laut und schüttelte den Kopf. »Sie hat mich richtig ausgetrickst, ich fühle mich wie, ach, ich weiß auch nicht. Es gibt kein Wort für meine Situation. Es ist ein richtiges Dilemma.« Gerald hielt inne und schaute mich zweifelnd an. »Wissen Sie, Sie können ja auch nichts dafür. Ich sage Ihnen jetzt mal, worin mein Dilemma besteht. Oder besser, ich sage Ihnen, was für eine Frau meine Tante war.« Ich nickte. Gerald fragte nach einem Kaffee und nachdem er mit dem Getränk ausgestattet war, begann er. »Sie heißt Hedwig, meine Tante. Als Kind habe ich sie die Zaubertante genannt.« Er lächelte schief. »Als ich klein war, war ich oft bei ihr. Sie war meine Lieblingstante. Die anderen konnten ihr nicht das Wasser reichen. Also, meine anderen Tanten, meine ich. Ich hab tatsächlich fünf davon. Aber sie war die beste von allen.« Wieder lächelte er in Erinnerung. »Bis zu ihrem Tod hat sie fünfzig Jahre in derselben Wohnung gelebt. Stellen Sie sich das vor! Ein Altbau mit hohen Decken und Erkern und knarrendem Parkett. Als Kind habe ich darauf meine Spielzeug-Autos fahren lassen. Sie ist mit dreiundneunzig Jahren gestorben, aber für mich war sie immer schon alt. Jedenfalls, als ich als achtjähriger Knirps die
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Nachmittage bei ihr verbracht habe, gab es immer Apfelkuchen und Kakao, so viel ich wollte. Allein dafür habe ich sie geliebt. Sie war so nachsichtig mit mir. Wenn ich etwas kaputt gemacht hatte, sagte sie immer, dass wir das mal schön für uns behalten würden, denn wenn meine Mutter das erfahren würde, gäbe es bestimmt noch Ärger für uns beide. Dann lachte sie immer.« Er trank einen Schluck Kaffee und ich sagte: »Da haben Sie anscheinend eine ganz zauberhafte Tante gehabt.« Gerald seufzte. »Ach, ja, meine Zaubertante. Wissen Sie, Tante Hedwig hatte einen Spleen. Sie war sehr fromm und hat jeden Tag ihre große schwarze Bibel an irgendeiner Stelle aufgeschlagen und sich diesen Zufallsspruch zu Herzen genommen. Sie lächelte dann immer sehr zufrieden. Einmal, da war ich noch sehr klein, fragte ich sie, ob das ein Buch mit Zaubersprüchen sei. Und da lachte sie laut und nickte. Ja, sagte sie, das ist mein Buch mit Zaubersprüchen, sie wirken immer. Und von da ab war sie meine Zaubertante. Als Kind habe ich das natürlich so hingenommen. War eben ihr Zauberbuch und sie war meine Zaubertante. Manchmal hat sie mir auch einen Spruch vorgelesen. Aber wissen Sie, als ich älter wurde, da fand ich das albern und so blöd fromm.« Er unterbrach sich und meinte, er müsse jetzt mal an anderer Stelle weitermachen, sonst würde ich die ganze Geschichte nicht verstehen. Ich nickte. »Sehen Sie, ich habe mich von meiner ganzen Familie ziemlich entfernt, nicht nur räumlich. Ich arbeite vor Schottland auf einer Bohrinsel und komme nur sehr selten nach Deutschland. Aber das ist eher nebensächlich. Ich war als Zwanzigjähriger echt wütend auf meine ganze Familie, sie haben dauernd gestritten und zu Weihnachten und Ostern sind sie in die Kirche gegangen. Fand ich richtig scheinheilig. Ich habe ihnen halt zeigen wollen, was gradlinig ist, und bin aus der Kirche ausgetreten. Ich bin ja schließlich nicht freiwillig eingetreten. Das hat einen ganz schönen Aufstand gegeben. Und das fand ich noch scheinheiliger.« Er sah mich an. »Und meine Zaubertante hat nichts gesagt, gar nichts. Sie hat bloß gemeint, ein Schritt ist ein Schritt. Kann ich zurückgehen oder auch vor. Ich habe das nie richtig verstanden. Aber vielleicht meinte sie ja, ich könnte auch wieder in die Kirche
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eintreten. Jedenfalls habe ich mich dann von allen zurückgezogen und bin gereist, habe im Ausland gejobbt, dann studiert und jetzt bin ich halt fast ganz weg. Und dann stirbt meine fromme Zaubertante und hinterlässt mir das ganze Geld. Ich will es gar nicht haben, obwohl ich es so gut brauchen könnte.« Ich hakte nach: »Ihre Tante wusste doch, dass Sie aus der Kirche ausgetreten sind, oder? Für sie war es doch anscheinend kein Problem. Habe ich das richtig verstanden?« Gerald nickte. »Ja, ja, das wusste sie schon. Aber jetzt habe ich halt meine ganze Familie am Hals, die mir Vorhaltungen macht und mir unterstellt, ich hätte mich immer nur deshalb bei ihr und nicht bei ihnen gemeldet, weil es da etwas zu erben gab.« Er stöhnte leise auf. »Wenn ich mal in Deutschland war, habe ich sie, also Tante Hedwig, fast immer besucht. Und über den Quatsch mit der Bibel habe ich immer weggesehen. Wissen Sie, sie hat mich nicht gequält und ich hab sie nicht gequält. Eigentlich ganz einfach. Aber innerlich habe ich sie belächelt, so von oben herab von meiner gottlosen Kanzel. Gucken Sie sich doch mal die Kirche an, Lug und Betrug und Gewalt und alles, was keiner braucht. Und sie hat bis zum Schluss immer diese Bibel gelesen. Ich hab sie still verurteilt. Und das hab ich jetzt davon. Ich brauche das Geld und will es nicht. Und meiner Familie will ich es auch nicht in den Rachen werfen.« Wütend stand Gerald auf und marschierte durch den Raum, während er weiterredete: »In meiner ganzen Wut auf diese hanebüchene Situation kann ich nicht mal richtig traurig sein! Ich weiß tatsächlich nicht mehr weiter. Verzichte ich auf das Geld, ist mein schlechtes Gewissen beruhigt und mir fehlt das Geld, das ich wirklich gut gebrauchen kann. Nehme ich es an, werde ich es aus lauter Scham nicht ausgeben können. Und meine Familie bekommt auf keinen Fall etwas. Diese scheinheiligen Vertreter!« Plötzlich hörte Gerald auf, den Raum immer wieder mit langen Schritten abzumessen und setzte sich. »Ich glaube, für heute habe ich genug. Ich komme morgen wieder. Ich muss mich erst mal beruhigen.« Nach einem knappen Abschiedsgruß verschwand Gerald so schnell, wie er aufgetaucht war. Aber schon am nächsten Tag kam er wieder. Diesmal war seine Wut etwas gemildert und
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er erzählte, dass er nach seinem Besuch bei mir am Grab seiner Tante gewesen sei. »Ich habe fast das Gefühl, sie hat mir mit diesem Erbe eine Aufgabe gegeben. Ich muss immer an ihren Kommentar zu meinem Kirchenaustritt denken: Du kannst einen Schritt vorgehen und einen zurück. Nicht, dass ich vorhabe, diesen Schritt rückgängig zu machen. Aber irgendetwas muss ich machen.« Ich fragte ihn, ob die Wohnung seiner Tante schon aufgelöst worden war. Er nickte. »Alles weg. Ich hab ein paar Kleinigkeiten behalten, aber den Rest hat der Entrümpler mitgenommen. Und meine Familie durfte sich etwas aussuchen.« Ich nickte. »Haben Sie die Bibel Ihrer Tante behalten?« Meine Frage erntete einen entgeisterten Blick. »Was soll ich denn damit wohl anfangen? Ich habe ein paar Bilder von ihr und eine schöne Teekanne. Aber mit diesem Buch kann ich nichts anfangen.« »Halten Sie Ihre Tante für eine Frau mit gesundem Menschenverstand?« Wieder dieser Blick. »Von allen Geschwistern meiner Mutter war sie die mit dem gesündesten Verstand, würde ich sagen. Sie hat mir als Kind so viel Verständnis und Liebe entgegengebracht. War nicht umsonst meine Zaubertante.« Behutsam tastete ich mich vor. »Sie möchten Ihren Konflikt ja lösen, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Was halten Sie denn davon, es mit den Methoden Ihrer Tante zu versuchen?« Gerald sah mich verständnislos an. »Sie wollen mir allen Ernstes vorschlagen, mit dem Finger in der Bibel einen Ausweg aus meinem Dilemma zu suchen? Auf gar keinen Fall.« Aufgebracht stand Gerald auf und verschränkte demonstrativ die Arme. Ich sprach weiter: »Sehen Sie, Ihre Tante hat da zeitlebens etwas sehr Kluges gemacht. Wenn uns etwas beschäftigt und wir nach einer Lösung suchen, ist der Moment des Innehaltens so wichtig wie der frische Blick auf unsere Situation. Mit einem Text haben Sie inspirierende Unterstützung. Vielleicht inspiriert er ja auch nur die Weisheit oder Klarheit, die schon in Ihnen ist. Die Bibel ist ein Buch, das Sie überall lesen können, innerhalb und außerhalb der Kirche. Das wäre zumindest eine Möglichkeit, dieses Dilemma mit den Augen Ihrer Tante anzusehen. Vielleicht würde sie sogar herzhaft lachen, wenn sie Sie mit dem Finger in der Bibel sähe.« Plötzlich lachte Gerald
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lauthals. »Tante Hedwig würde sich biegen vor Lachen. Und mir auf jeden Fall sofort Kakao und Apfelkuchen anbieten.« Gerald wurde wieder nachdenklich und verabschiedete sich dann sehr schnell von mir, nicht ohne mir zu versichern, er komme wieder. Drei Tage später kam Gerald wieder. Er schien wütend zu sein, wirkte aber anders wütend als bei seinem ersten Besuch. Er hatte eine Aktentasche dabei, die er neben den Sessel lehnte. Wieder verlangte er nach einem Kaffee und fing erst an, als die Tasse dampfend vor ihm stand. »Ganz ehrlich, ich kam mir vor, als würde ich heimlich Frauenkleider anprobieren. Ich habe sogar die Vorhänge zugezogen.« »Sie meinen, Sie haben tatsächlich die Bibel zu Rate gezogen? Wie mutig von Ihnen! Ich meine das ohne jegliche Ironie. Es ist mutig.« Gerald sah mich mit unbewegtem Gesicht an. »Ich habe das Gefühl, ich muss mich davon erst einmal erholen. Das Unheimliche ist ja, dass es funktioniert hat. Nicht beim ersten Mal, aber beim zweiten Versuch hatte ich eine Stelle erwischt, die mir tatsächlich weitergeholfen hat. Ich verstehe das gar nicht, aber es ist mir auch egal. Ich habe mir diese Stelle bestimmt vier oder fünf Mal laut vorgelesen, aber dann ist der Groschen plötzlich gefallen. Und es hatte gar nichts mehr mit dieser Bibelstelle zu tun, sondern eher damit, dass ich nicht mehr wütend war. Glaube ich zumindest.« Ich fragte nach, wovon diese Bibelstelle denn handelte. Nachdenklich sah Gerald mich an. »Es war eine Stelle aus dem Johannesevangelium und es ging um Kreuzigung, Schuld und die Vollmacht zu kreuzigen. Und ich habe mich dabei erwischt, dass ich über meine eigenen Urteile nachgedacht habe, über die gegen meine Tante und meine Familie. Und wahrscheinlich auch die gegen mich selbst. Meine Tante hat mich nie verurteilt, egal, was ich gemacht habe. Ich habe das alles schön selbst erledigt.« Er griff seine Aktentasche und reichte mir ein alte Fotografie. »Das ist meine Zaubertante. Da war sie so alt wie ich. Ich wollte gerne, dass Sie sie mal sehen.« Ich fragte, ob er zu einer befriedigenden Entscheidung gekommen sei. Er nickte. »Auf jeden Fall. Ich nehme das Erbe an. Und denke jetzt ein bisschen anders über meine Tante. Sie war ja nicht nur fromm, sie war ja auch eine tolle Frau. Geht ja vielleicht doch beides. Muss
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ich nicht mehr verurteilen. Bei ihr jedenfalls. Jetzt vermisse ich sie richtig, aber irgendwie ist sie auch lebendiger geworden.« Wir ließen es so stehen. Über seine weitere Familie wollte er nie reden und so ist dieser Teil der Familie nie zum Thema geworden. Gerald hatte keinen Klärungsbedarf mehr und nahm das Erbe seiner Tante ohne Schuldgefühle an.
Roswitha entdeckt Neuland Roswitha war eine kleine, grauhaarige Frau, die ihre große Liebe verloren hatte. Kurt und Roswitha hatten eine fünfzig Jahre währende Ehe miteinander verbracht. Kurz nach der goldenen Hochzeit wurde bei ihrem Mann ein Hirntumor festgestellt und Kurt starb drei Monate später. Zu Beginn unserer Begegnung sprach sie kaum, sie saß einfach nur eine Weile schweigend da. Manchmal weinte sie, manchmal betrachtete sie stumm den Raum. Ich ließ sie. Bei ihrem dritten Besuch brach sie unvermittelt ihr Schweigen. »Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Ich kann mit niemandem reden. Nur mit Kurt. Ich habe Angst, dass ich komisch werde.« Sie brach ab und rutschte im Sessel hin und her, stand schließlich auf und ging im Raum auf und ab. »Wenn ich mich bewege, fällt mir das Sprechen leichter.« Ich schlug ihr vor, einen Spaziergang zu machen, und sie stimmte zu. Dies war der erste von vielen Spaziergängen mit Roswitha. Sobald wir unterwegs waren, begann sie zu reden. Oft ging sie einen Schritt vor mir, so dass ich sie beim Sprechen nur von der Seite sah. Ich bat sie, mir von sich und ihrem Mann zu erzählen. Sie erzählte von ihren vielen gemeinsamen Studiosus-Reisen und von dem Kegelverein, in dem Kurt Ehrenmitglied war. Ihre Ehe war kinderlos, aber nie langweilig, wie sie betonte. »Kurt ist meine große Liebe. Wir waren fünfzig Jahre verheiratet und immer glücklich miteinander. Und jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, wie ich bin. Ich bin ganz anders ohne ihn. Er fehlt mir so.« Die letzten Worte brachen schluchzend aus ihr hervor. »Und ich bin auch so dankbar, dass ich ihn hatte, Sie können sich gar nicht vorstellen,
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wie dankbar. Und ich bin auch dankbar, dass er nicht lange leiden musste. Was sind ein paar Monate gegen ein Leben? Aber ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll. Ohne ihn. Wissen Sie, Sie sind die Erste, mit der ich überhaupt rede. Sonst rede ich nur mit Kurt. Und er ist doch tot. Und mir passieren Sachen, die ich ganz komisch finde, und ich kann ihn immer noch riechen und manchmal besucht er mich. Immer dann, wenn ich ganz traurig bin. Ist das alles nur Einbildung? Werde ich eine komische Frau?« Sie sah mich fragend an. Ich erklärte ihr, dass wir in unserer Trauer auch ganz außergewöhnliche Erlebnisse haben können. Erlebnisse, die neu und seltsam und ungewohnt seien können. »In der Trauer gibt es keine Norm und keinen Standard, wie Sie zu sein oder zu fühlen haben. Und wenn ein geliebter Mensch stirbt, den wir so lange um uns gehabt haben, dann haben wir seinen Duft manchmal noch in der Nase oder in unserer Erinnerung. Manchmal sehen wir ihn auch noch. Das ist nichts Seltsames. Auf mich machen Sie nicht den Eindruck einer komischen Frau. Sie wirken sensibel und traurig. Sie wirken wie eine Frau, die Ungewöhnliches erlebt. Was ist denn für Sie eine komische Frau?« Roswitha schien etwas beruhigt. »Die Tochter einer Kegel-Freundin ist so eine Esoterische, wissen Sie. Die spricht mit Engeln. Das finde ich äußerst befremdlich. Dauernd spricht sie von der Welt, die wir nicht sehen können. Und, na ja, dass ich mit Kurt spreche, das ist irgendwie noch fast normal, oder? Jeder Hundebesitzer spricht mit seinem Tier und fast jeder führt mal Selbstgespräche. Aber da ist noch mehr.« Roswitha seufzte tief. »Manchmal sehe ich Sachen, die es gar nicht gibt. Und für die ich auch keine Begriffe kenne. Und ich habe auch körperliche Empfindungen, die mir ganz fremd sind. Und Kurt besucht mich halt regelmäßig. Immer, wenn ich ihn brauche.« Sie blieb abrupt stehen und blickte über die Wiese, an der wir entlang gingen. »Wissen Sie, ich finde seine Besuche, also jetzt nach seinem Tod, auch ganz normal. Wir waren ja immer zusammen. Und wir haben immer gesprochen, wenn es etwas zu sprechen gab. Und ich sage Ihnen noch was. Es tut sehr gut, darüber zu reden, ohne dass jemand sofort seinen Senf
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dazu gibt. Es fühlt sich gar nicht mehr so seltsam an. Ist ja mein Kurt, der mich besucht. Aber diese anderen Sachen, also, die verstehe ich nicht. Mir fehlen sogar die Worte. Ich weiß gar nicht, wie ich mich ausdrücken soll.« »Sie sind doch mit Ihrem Mann so viel gereist. Ich bin mir sicher, da haben Sie auch das ein oder andere Neue entdeckt, oder?« Roswitha nickte. Ich fuhr fort: »Manchmal gibt es kein Wort für das, was ist. Das liegt an unserer Sprache und wie wir damit umgehen. Und wenn wir Neuland betreten, können wir Dingen oder Situationen begegnen, für die wir keine Worte haben. Das ging schon den ersten Weltreisenden so. Auf einer Reise nach Thailand habe ich zum Beispiel festgestellt, dass die Thais ein unbekanntes Gemüse auf der Speisenkarte schlicht und erfinderisch mit dem Begriff ›noname‹ bezeichnet haben. Sie wussten nicht, was es war, hatten kein eigenes Wort dafür, also haben sie es ›noname‹, also ›Kein-Name‹, genannt. Sie konnten ›nonames‹ bestellen, frittiert oder gebraten.« Jetzt sah mich Roswitha nachdenklich an. »Trauer ist auch Neuland, wollen Sie sagen?« »Manchmal schon. Wenn Sie Ihre Erlebnisse einfach nur wahrnehmen, kann das schon reichen. Aber wenn Sie lieber ein Wort dafür haben wollen, dann können Sie für eine unbekannte Erfahrung auch ein neues Wort erfinden.« »Ich habe aber seltsame Sachen erlebt. Und erlebe sie noch. Auch ganz tolle, eigentlich.« »Vielleicht möchten Sie diesen seltsamen und tollen Sachen ja auch tolle Namen geben? Oft zerstören wir etwas, wenn wir es in ein System eingliedern wollen, aber wenn Sie gerade ein neues Wort brauchen, erfinden Sie eins. Das kann ja auch nur für Sie sein.« »Sie finden das nicht komisch?« »Nehmen Sie einfach wahr, was ist. Sie sind sensibel, nicht komisch. Sie haben eine große Liebe mit Kurt. Vielleicht passt er ja ein wenig auf Sie auf? Vielleicht begleitet er Sie noch ein Stück Ihres Weges? Es gibt vieles, das wir uns nicht erklären können, was es aber nicht davon abhält, zu sein.« Wir gingen schweigend weiter. Bei unserem nächsten Spaziergang erzählte mir Roswitha dann von den Erlebnissen, die sie so beeindruckt hatten. »Also, wissen Sie, das ist schon seltsam alles. Nach unserem Gespräch war Kurt wieder da und ich fand das toll. Ich fühlte mich total wohl. Ich weiß,
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dass er tot ist, da gibt es mal kein Argumentieren. Aber ich habe ein tolles Wort gefunden für das, was passiert, wenn ich ihn ganz wahnsinnig vermisse. Liebesregen. Finden Sie das gut?« »Wenn Sie das Wort richtig finden, ist es ein gutes Wort. Ist das denn so? Wie ein Liebesregen?« Roswitha nickte entschieden. »Ja. Es hat was mit Energie zu tun, aber ganz ehrlich, das könnte diese Esoterische machen. Regen ist ja auch wie Energie, oder? Manchmal wird mein Herz ganz weich und warm und wenn ich in den Himmel gucke, dann sind da so, so Dinger eben, die sind rötlich und umgeben mich. Wie unsere Dusche zu Hause. Nur ohne Wasser. Wissen Sie, wir haben einen Regenwaldduschkopf im Bad. Daran hat mich das erinnert.« Im Laufe unserer Spaziergänge erfand Roswitha noch ein paar Wörter, wenn sie sie brauchte. Ihre Empfindungen und Erlebnisse kamen ihr nicht mehr fremd vor und sie fragte mich nicht mehr, ob sie eine komische Frau sei. »Wissen Sie, bei einer so einzigartigen Liebe wie zwischen Kurt und mir, da können eben auch einzigartige Sachen geschehen. Das kann einfach nicht jeder verstehen. Hauptsache ist ja, ich kann es. Und Kurt hilft mir immer noch dabei.« Sie stellte fest, dass diese besonderen Erlebnisse kamen und gingen, sich wandelten, so wie sie auch. Zum Schluss erzählte sie mir fast strahlend, dass sie bei einer verwitweten Kegel-Freundin vorsichtig nachgefragt hatte, wie es denn bei ihr so gewesen war, direkt nach dem Tod ihres Mannes. »Und wissen Sie, was? Die hatte ganz ähnliche Erlebnisse. Aber nur ähnliche, denn mein Kurt ist einzigartig. So einen Liebesregen kann nicht jeder.«
III Texte und Methoden
Fünfzehn literarische Texte zu fünfzehn Erfahrungen in der Trauer. Es geht um die Wut und die Dinge, um den Mut und die Angst, um das Vermissen und das Leugnen. Trauer zeigt sich auf vielfältige Weise – und dem begrenzten Umfang dieses Buches ist die Tatsache geschuldet, dass nicht noch mehr Themen aufgenommen wurden. Das Alphabet der Trauer umfasst die fünfzehn häufigsten Themen der Trauer. In jedem der folgenden Kapitel steht der literarische Text in anderer Schrift und darunter ein philosophischer »Gruß vom WörterSee«. In welcher Reihenfolge Sie die einzelnen Kapitel lesen, steht Ihnen frei, jedes einzelne ist in sich abgeschlossen.
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Am Ende eines jeden Kapitels stehen grau unterlegt Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung. Sie können alle literarischen Texte vorlesen oder per Download ausdrucken und kopieren und mitgeben (rufen Sie dazu diesen Buchtitel auf der Website www.v-r.de auf und klicken Sie auf den entsprechenden Download-Link unter der Rubrik »Mediathek«). Wie Sie die literarischen Texte konkret einsetzen, ist natürlich von Ihrer individuellen Arbeitsweise abhängig. Die Vorschläge für die Trauerbegleitung haben verschiedene Schwerpunkte, so dass die Methoden aus der literarischen, der meditativen und der gestalttherapeutischen Praxis auch unterschiedlichen Neigungen entsprechen können. Entscheiden Sie sich für die, die am ehesten zu dem oder den Menschen passt, den oder die Sie begleiten. Entscheidend ist natürlich auch, wie sehr Sie sich selbst von der jeweiligen Methode angesprochen fühlen. Wenn Ihnen die in einer Übung erwähnten Materialien nicht zusagen oder sie keinen Zugang haben, nehmen Sie die, die Ihnen passen. Wenn Sie Naturmaterialien verwenden wollen, können diese zuvor auch gemeinsam gesammelt werden. Ein Bild kann aus allem entstehen: Farbe, Blättern, Steinen, Zeitungsschnipsel, Linsen. In den Vorschlägen und Methoden steht manchmal »Frage an den Trauernden« oder »der verstorbene Mensch«. Immer ist der individuelle Mensch gemeint, ob Mann oder Frau.
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Plötzlich nie wieder »Ihr Mann ist gestorben«, hatte er ihr gesagt und unglücklich geschaut. Und: »Es war ein Unfall. Er war sofort tot. Es tut mir leid.« »Nein«, hatte sie gesagt, »mein Mann ist bei der Arbeit, das geht nicht.« Er hatte ihr ein Glas Wasser gebracht und noch hilfloser geschaut, als sie es nicht trinken wollte. Irgendwann war er wieder gegangen und hatte mit seinem Fortgehen auch alles mitgenommen, was lebendig in ihr war. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, sie stand starr in der Küche und schüttelte den Kopf. Nein. Immer wieder hallte dieses eine Wort stumm in ihr. Nein. Auf Beinen, die nicht ihr gehörten, ging sie zur Haustür und schloss sie ab, dann gingen diese Beine zur Terrassentür und fremde Hände verriegelten sie. Nein. Die Beine gingen auch die Kellertreppe hinunter, wo die Hände die Kellertür verschlossen. Ihr »Nein« wurde immer lauter und lauter in ihr, bis sie es endlich hinausließ aus ihrem tauben Körper. Ihr Kopf drehte sich von rechts nach links, während sie ihr »Nein« hinausstieß wie ein wildes, gefährliches Tier, das sie aus ihrem Haus vertreiben wollte. Immer wieder, immer wieder. Ihr »Nein« schluchzte, schrie und wand sich nach draußen. Es wurde getrieben, geschrien und geflüstert. Sie schlang die Arme um sich selbst und ihr »Nein« weinte sich salzig hinaus, sie hielt sich selbst so fest sie konnte und stampfte ihr »Nein« mit den Füßen heraus. Es kam wieder. Es blieb. Und irgendwann musste sie das »Nein« nicht mehr aussprechen, denn es hatte sich wie die scharfe Ausdünstung eines verängstigten Wildtieres über ihr ganzes Haus gelegt, hineingeschlichen, nicht zu vertreiben, nicht zu ertragen. Als es schon langsam dunkel wurde, aber noch so viel Licht da war, dass sie den Brunnen im Garten erkennen konnte, hatte ihr »Nein« längst Verstärkung geholt, hinter ihm marschierten ganze Sätze wie eiserne Soldaten in den Krieg. Sie sprach jetzt zu sich und zu ihm, der nicht da war und doch noch da war, solange sie das »Nein« ertragen konnte. »Du kannst noch nicht weg sein, du musst doch noch den Gartenschlauch aufrollen, das machst doch immer du. Wie kannst du mich
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Texte und Methoden
denn alleine lassen, ohne dich zu verabschieden? Wir wollten doch am Wochenende nach Kassel fahren, wie kannst du jetzt gehen? Wie kannst du gehen, wenn ich nicht weiß, wo du bist? Du kannst nicht tot sein, ich will das nicht.« Sie hielt ihn an diesem ersten Tag unerträglich fest, denn solange sie nicht akzeptierte, was war, war er noch da. Irgendwie. Im Laufe der nächsten Tage, da waren die Türen nicht mehr verriegelt, hatte sich ihr »Nein« gewandelt und wurde zu einem nicht minder schrecklichen »nie wieder«. Ihr wurde langsam bewusst, dass er nie wieder den Gartenschlauch aufrollen würde und dass sie nie wieder gemeinsam nach Kassel fahren würden. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, bis sie dachte, alles Salz hinausgeweint zu haben, aber sie konnte immer weiter weinen und weinen, das Salz in ihr nahm kein Ende. Ihre Tränen liefen und keine einzige von ihnen konnte den brennenden Schmerz lindern.
Gruß vom Wörter-See Im tiefen Schock einer unerwarteten Todesnachricht erfahren wir die unvermeidbare Konsequenz des Lebens. Diese Erschütterung, die uns auf körperlicher, seelischer und geistiger Ebene treffen kann, ist entsetzlich schmerzhaft und gleichzeitig ein Lebensspender, eine heilsame Starre, in der wir verharren, bis sich etwas einstellt, was die aktuelle Situation erträglicher macht. Dies kann von menschlicher Zuwendung bis zur Zeit, die verstreicht, fast alles sein. Es gibt einen natürlichen Schock über den plötzlichen Tod eines Menschen, es gibt aber auch die alltägliche seelische Erschütterung über den Tod und das Sterben an sich. Je weniger wir über den Tod und das Sterben als natürliches Ende unseres Lebens sprechen und nachdenken, umso schockierender und unvorbereiteter trifft uns der Tod eines Menschen und auch unsere eigene Sterblichkeit. Ist uns bewusst, dass wir sterblich sind und wir nicht wissen, wann wir sterben? Ist uns bewusst, dass wir jeden Moment nur ein einziges Mal leben können? Verbringen wir unser Leben damit, Tod und Sterblichkeit zu verdrängen? Haben wir Angst? Wenn wir den Tod verdrängen, weil wir das Thema aus lauter Angst nicht weiter vertiefen möchten, können wir das tun. Die Angst
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bleibt und kann mit jedem Geburtstag weiter wachsen. Wenn wir diese Seite des Lebens verdrängen, leben wir immer in einer gewissen Unvollständigkeit, denn der Fluss des Leben hat zwei Ufer: Geburt und Tod. Die Verdrängung des Todes kann dazu führen, dass unser ganzes Leben zu einem einzigen Ausweichmanöver wird. Dann vermeiden wir das Thema, verweigern vielleicht auch unseren Alterungsprozess, der in modernen Gesellschaften nicht mehr der Fingerzeig zukünftiger Weisheit, sondern der Hinweis auf zukünftige Gebrechlichkeit und Tod ist. Vielleicht vermeiden wir sogar den Umgang mit älteren Menschen. Wenn wir unser Leben durch Angst steuern lassen, stehen wir jeden Tag unter Schock, wir merken es nur nicht mehr. Der Schock über einen plötzlichen Tod ist natürlich und er markiert einen tiefen Einschnitt, nicht das Ende von allem. Nach dem Schock geht es weiter, die Trauer geht weiter und das Leben auch. Nur wenn wir im alltäglichen Dauerschock der Verweigerung existieren, geht nichts weiter. Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Das Thema ist der Schock und auch die Kontinuität. Der literarische Text ist geeignet für die Zeit nach einem Schock. Ein geschockter Mensch ist nicht in der Lage, das Thema zu reflektieren. Die Erfahrung der Kontinuität, also das Weitergehen sowohl des Lebens als auch der Trauer, kann helfen, den Sinn eines Schocks zu verstehen. Ziel der Übungen ist das Schockverständnis. Vorschlag 1: Frage an den Trauernden: »Wie würden Sie den literarischen Text oben fortsetzen?« Dies kann der Trauernde zu Hause allein schriftlich oder bildlich umsetzen oder in Ihrer Anwesenheit. Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Finden Sie eigene Worte oder Bilder für Ihren Schock.« Je nach Neigung kann geschrieben oder gezeichnet oder gemalt werden. Und: Vielleicht möchte ein Mensch seinen Schock ganz anders ausdrücken. Es gibt viele Ausdrucksformen, Wort und Bild sind nur zwei davon.
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Das große Fehlen Es war diese besondere Zeit, kurz bevor das Restaurant für den Abend wieder öffnete. Bis vor kurzem noch hatte Lucia Mantera in dieser Stunde die Tische kontrolliert, welke Blumen aus den kleinen Vasen gezogen und durch frische ersetzt, Falten in den Tischdecken mit einer fließenden und doch energischen Handbewegung glattgezogen und den Raum in kurzer Zeit zu einem Ort gemacht, der sich auf die Gäste zu freuen schien. Jetzt kontrollierte Francesco Mantera die eingedeckten Tische. Behutsam tasteten seine großen Hände über die von Lucia angenähte Spitze an den rot und weiß karierten Tischdecken, strichen Falten nicht glatt, sondern schienen sie vielmehr zu liebkosen. Immer wieder strich seine Hand über die Spitze, als wäre es ihr Arm, den er unter seinen Händen spüren konnte. Lucia. Drei Monate schon kontrollierte er die Tische ohne sie. Der anfängliche Schock hatte einer dumpfen Traurigkeit Platz gemacht, die nur die drei Enkel vertreiben konnten, wenn sie ihm jubelnd um den Hals fielen. Aber wenn er allein war, versank alle Freude in ihm, fast so, als wären die Kinder seine Schwimmflügel, die ihn durch den hohen Wellengang der Wochen danach trugen. Wenn die Enkel nicht da waren, war er wie ein Ertrinkender, der mühsam den Kopf über Wasser hielt. Lucia hätte gewusst, was zu tun wäre. Sie hätte ihre warme runde Hand auf seinen Rücken gelegt und allein diese Berührung hätte gereicht. Niemand berührte ihn mehr und an manchen Abenden fühlte er sich wie ein Verstoßener, wenn er sich auf seiner Bettseite hin und her wälzte, ihre leere Hälfte neben ihm klaffend wie eine Wunde. Er hatte einen ganzen Monat gebraucht, eher er seiner Tochter zugestanden hatte, das Bett frisch zu beziehen. Wie konnte er ihren letzten Duft einfach weggeben? Er würde nie wieder kommen. Es war, als werfe er ihn weg. Seine Lucia war immer eine wohlduftende Frau gewesen, aber das hatte er ihr viel zu selten gesagt. Er konnte über seinen Schmerz und seine innere Leere kaum sprechen, er war es nicht gewohnt, sein Inneres nach außen zu kehren wie eine ausgehöhlte Tomate. Da er sich nicht anders zu helfen wusste, hatte er angefangen, wie sie, mit den Geranien am Küchen-
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fenster zu sprechen, und letztendlich waren es diese Geranien, die zu seinen intimsten Zuhörerinnen wurden. Anfangs schämte er sich, er war ein Mann, der mit Blumen sprach, aber wer konnte ihn sehen oder hören? Er war allein. Er war einsam. Lucias Geranien brauchten wie er täglichen Zuspruch, auch sie vermissten Lucia, da war er sicher. Alle Berührung, die ihm fehlte, ließ er den Geranien angedeihen. Manchmal nahm er einen Blütenkopf in beide Hände und hielt ihn so nah an sein Gesicht, dass die zarten Blüten seine Haut streiften, und dann gab er sich dem Gefühl hin, sie wäre für einen Moment noch da. Francesco Manterna schrak aus seinen Gedanken auf, als er hörte, wie an der Tür geklopft wurde. Mühsam stand er auf und öffnete dem Weinlieferanten die Tür. Er hatte viel zu lange am Tisch von Lucia geträumt. Francesco flüchtete sich in eine wortreiche Begrüßung und lächelte den Lieferanten an, als wäre es ein schöner Tag.
Gruß vom Wörter-See Wenn eine menschliche Beziehung besonders lebendig und innig ist, wird der Tod eine Leere hinterlassen. Diese Leere offenbart sich in vielen Facetten: Stimme, Duft, Lachen, Handlungen, Geräusche. Der lebendige Mensch fehlt in vielen vertrauten Situationen und manchmal fehlen die Worte für sie oder ihn. Fehlen ist das retrospektive Wahrnehmen dessen, was den Menschen ausmachte. In ihm offenbaren sich die reichhaltigen Spuren und das Wirken dieses Menschen. Aus dem Fehlen kann wieder der lebendige Reichtum werden, aus dem das Fehlen überhaupt erst entstanden ist. Dann wird das Fehlen wieder zu dem Schatz, der den lebendigen Menschen ausmachte und der auch nach seinem Tod weiter wirken kann. Es gibt Aspekte des Fehlens, die untrennbar mit dem Menschen verbunden sind und niemals wiederkommen – die Wärme der Haut, der Duft. Es gibt aber auch Aspekte, die weiter leben und wirken können. Vielleicht hatte der Verstorbene einen besonders kreativen Umgang mit bestimmten Alltagsproblemen. Vielleicht stellen wir fest, wie weise eine bestimmte innere Haltung des Verstorbenen war, und überneh-
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men, vielleicht auch nur zur Probe, diese innere Haltung. Das Fehlen ist die Schattenseite des Lichts, das einmal von diesem Menschen ausgegangen ist. Solange wir noch im Schatten stehen und trauern, erleben wir nur diese eine Seite des Ganzen. Wenn wir aus dem Schatten heraustreten und beide Seiten als zusammengehörend wahrnehmen, wird das Fehlen wieder zum Reichtum, zu dem, was den Menschen auszeichnete und uns weiter begleitet. Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Das Thema ist das Fehlen und die Reichhaltigkeit der Spuren, die ein Mensch im Leben anderer hinterlässt. Ziel der Übungen ist die Entdeckung des Schatzes, der sich im Fehlen verbirgt. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie auf, wie und wo Ihnen der Verstorbene konkret fehlt.« Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie alles, was fehlt, jeweils auf einen Zettel.« Legen sie diese geschriebenen Zettel offen hin. Frage: »Was ist untrennbar mit dem Menschen verbunden und was bleibt?«
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Der Tod und die Dinge Interview mit einer Sammlerin Moderator: Frau Reinhardt, Sie sind nun ganz offiziell die Frau mit der größten Eulensammlung im Land. Wie fühlen Sie sich? Frau R.: Wie soll ich mich fühlen? So wie vorher auch. Es ist vielleicht schön, dass es jemand mal anerkennt. Moderator: Haben Sie also mit einem bestimmten Ziel gesammelt? Wie fing Ihre Sammelleidenschaft denn an? Und warum Eulen? Frau R.: Wissen Sie, mein Mann, Gott hab ihn selig, brachte mir die erste von einer Geschäftsreise aus Athen mit. Eine kleine Glaseule. Und dann bekam ich eine geschenkt, warten Sie, von meiner Nichte. Das war eine aus Ton. Und da habe ich gedacht, ich kann sie ja auch sammeln, mal sehen, wie viele ich zusammenbekomme. Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Es sind mittlerweile über fünftausend. Moderator: Eine sehr beeindruckende Sammlung! Was ist beim Sammeln denn Ihr besonderes Erlebnis? Das Suchen oder das Finden? Und sammeln Sie methodisch oder spontan? Frau R.: Ach, am Anfang habe ich alle genommen. Gekauft wie eine Besessene, aber das mache ich schon lange nicht mehr. Ich nehme nur noch die schönsten Eulen. Ich habe ja überall Eulen, auf Kissen, auf dem Teegeschirr und den Handtüchern. Aber das habe ich eingeschränkt. Jetzt suche ich nur noch nach besonders wertvollen Eulen. Man wird ja anspruchsvoller mit der Zeit. Als Kinder essen wir auch fast alles, aber als Erwachsener werden wir wählerischer, nicht wahr? Moderator: Sie meinen, Sie sind mit dieser Sammlung gewachsen? Haben Sie besondere Erkenntnisse gewonnen? Frau R.: Es hat mich vor der Einsamkeit bewahrt. Ich hatte immer etwas zu tun. Die Eulen haben mich immer schön auf Trab gehalten: sammeln, sortieren, tauschen, abstauben, so eine Sammlung macht viel Arbeit. Und als mein Mann starb, Gott hab ihn selig, da hatte ich natürlich noch mehr Platz für die Eulen. Moderator: Sammeln Sie noch mit der gleichen Begeisterung wie am Anfang? Werden Sie irgendwann aufhören? Frau R.: Ich hab nun fast alles gesehen, was Eule ist, wie gesagt,
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ich bin wählerischer. Und aufhören? Wenn ich nicht mehr kann, also, wenn ich nicht mehr laufen kann, aber dann kaufe ich vielleicht übers Internet, das geht ja auch. Es hält mich in Bewegung und vor allem beschäftigt. Es gibt Leute, die haben drei Fernseher und fünf Telefone, ich hab halt meine Eulen. Und jetzt, mit dem Titel der größten Eulensammlung, können meine Erben sie nach meinem Tod ja gewinnbringend verkaufen. Moderator: Sie werden Ihre Sammlung vererben? Frau R.: Was soll ich sonst machen? Wenn ich sterbe, nehme ich sie ja nicht mit, dann können meine Nichten und Neffen sehen, was sie damit machen. Das interessiert mich jetzt nicht. Moderator: Vielen Dank für das Gespräch.
Gruß vom Wörter-See In einer Konsumgesellschaft wird den Dingen des Lebens oft eine Bedeutung jenseits ihrer Funktionalität zugewiesen. Dann kaufen oder verkaufen wir ein Produkt, das uns beim Verwenden zu einem neuen Menschen machen soll, einen sorglosen Abend oder ein gutes Gewissen verspricht. Wir kaufen viel. Wir bestellen im Internet. Wir kaufen vor Ort. Wenn wir sterben, bleiben unsere Dinge zurück. Während wir leben, sind wir oft in Sorge um sie. Wir sorgen uns, Dinge zu verlieren, und sorgen uns, Dinge nicht zu bekommen. Wir nennen sie unsere Habseligkeiten und halten sie fest. Aber macht ihr Haben auch selig? Was ist die Natur der Dinge? Die Natur der Dinge ist das Kommen und das Gehen. Das gilt für die Plastiktüte vom Supermarkt und für das goldene Armband. Sie kommen und gehen, wie auch wir kommen und gehen. Wir kommen und gehen ohne Dinge. Dazwischen sind wir da und die Dinge sind auch da. Wir können sie nutzen und uns an ihnen erfreuen. Wir akzeptieren jeden Wandel und halten nichts fest. Das ist eine Möglichkeit, mit den Dingen umzugehen. Unser Verhältnis zu den Dingen ist oft sehr emotional und von Abhängigkeiten geprägt. Eine Jacke ist keine Jacke, sondern die Jacke, die ich zum Geburtstag von Tante Ingrid bekommen habe. An jedem
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Ding hängen eine Geschichte und ein Bündel Gefühle. Wir sind manchmal so sehr mit unseren Dingen verbunden und verhaftet, dass wir denken, die Dinge seien existenzieller Bestandteil von uns. Oder wir denken, Dinge haben eine besondere Magie und können unsere Träume glücklich Wahrheit werden lassen. Manchmal denken wir, wenn wir die Dinge der Vergangenheit loslassen, verlieren wir auch unsere Vergangenheit. Es ist sinnvoll, Klarheit darüber zu gewinnen, welche Macht, wenn überhaupt, wir den Dingen zuteilen wollen. Ein Möbelstück oder ein Fotoalbum kann an einen Menschen erinnern und im weiteren Leben eine Bereicherung sein. Wenn wir Dinge festhalten, werden wir zu den Bediensteten unserer Dinge. Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Dinge spielen in einem modernen Leben meist eine große Rolle. Halten wir an den Dingen fest, können sie zu einer Belastung werden. Dinge können aber auch ein Geschenk sein, an dem wir uns erfreuen und das wir loslassen können, wenn es Zeit ist. Ziel ist der Übungen es, zwischen Bürde und Geschenk zu unterscheiden und Einsicht in die Natur der Dinge zu erlangen. Vorschlag 1: Frage an den Trauernden: »Wenn Sie nur fünf Dinge des Verstorbenen in einen imaginären Koffer packen könnten, welche wären das?« Diese Übung kann viele Formen annehmen, sowohl Koffer als auch Dinge können aufgeschrieben, gezeichnet oder durch Symbole ersetzt werden. Je nach Situation kann die Frage »Was sollte mit den restlichen Dingen geschehen?« zum Schluss gestellt werden. Vorschlag 2: Frage an den Trauernden: »Stehen diese Dinge für etwas? Verbinden Sie eine besondere Geschichte mit einem Ding? Lassen Sie dieses Ding in der Ich-Form diese persönliche Geschichte erzählen, also zum Beispiel: Ich bin die Brille von M…«
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Der trauernde Körper Montag: Mein erster Tag im Seniorenheim Waldesruh! Wer denkt sich solche Namen aus? Ich nenne es das Strandhaus, weil sie alle irgendwie hier gestrandet sind, sogar das Personal. Wenn ich das in meinen Praktikumsbericht schreibe, fliege ich wahrscheinlich raus. Es ist viel schöner und viel schlimmer, als ich gedacht habe. So viele alte Menschen auf einen Schlag, das ist schon komisch, wenn man sie verteilen würde, wäre es bestimmt besser. Ich durfte den Teewagen bedienen und habe Frau K. im Rollstuhl in den Garten gefahren. Erst habe ich ihr vorgelesen, aber das hat sie gelangweilt, also hab ich sie gefragt, was sie so erlebt hat. Sie ist doch echt in ihrer Jugend geflogen! Ganz allein. Propellermaschinen und so. Eine tolle Frau. Sie riecht auch gut. Das kann ich nicht von allen sagen! Dienstag: So viele welke Körper! Heute war allgemeines Waschen angesagt oder vielleicht war ich auch nur heute mal dabei. Die sagen mir ja auch nicht alles. Manche sind schön welk, ganz weich und entspannt, und das Tollste sind die Augen von Frau W., leuchtend blau. Aber ehrlich gesagt, tun mir die meisten leid. Sie wirken, als wenn sie jemand abgeschoben hätte ins Strandhaus. Die vielen Körper sind ganz unterschiedlich. Ein paar sind wie alte Surfbretter, ganz verwittert und steif, als ob etwas in ihnen vertrocknet ist. Manche sind wie eine Luftmatratze ohne Luft und manche sind richtig grau. Ich weiß nicht, ob Alter was für mich ist. Oder ist das etwas anderes? Manchmal denke ich, die vermissen bloß was. Die Familien und die Männer, denn es sind ja echt mehr Frauen als Männer hier, und vielleicht vermissen sie auch noch etwas anderes. Mittwoch: Frau K. hat mir erzählt, dass sie bis zum Tod von ihrem Mann immer tolle braune Haare hatte. Und als er starb, ist sie vor lauter Kummer weiß geworden. Geht das? Sie ist ja noch klar und ziemlich lebendig, aber ich finde, das ist echt krass, von jetzt auf gleich weiße Haare! Frau K. ist die Muschel im Strandhaus. Wenn ich ihr zuhöre, dann höre ich das Wasser rauschen, wie bei einer echten Muschel. Sie hat so tolle Sachen erlebt. Es gibt aber auch Glasscherben, die schon ganz stumpf sind. Haben die auch jemanden oder
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etwas verloren oder ist das einfach das Alter? Vielleicht trauern sie ihrem vergangenen Leben hinterher. Ich möchte nicht, dass mir das auch so geht. Ich hoffe, ich finde das vorher noch raus. Donnerstag: Fast jeder Tag ist gleich, kein Wunder, dass die meisten Strandhausbewohner so dumpf gucken. Wenn ich jeden Tag das Gleiche machen würde, würde ich durchdrehen! Die bewegen sich hier alle so wenig. Mein Körper ist mein Leben! Morgen bringe ich mal Musik mit, mal gucken, was geht. Frau K. ist krank und liegt im Bett. Sie guckt ganz traurig. Freitag: Ein guter und ein schlechter Tag. Gut: Die Musik war genau richtig. Es war keine richtige Strandparty, wäre ja auch zu viel verlangt, aber es kam definitiv Leben in die Surfbretter, auch die Glasscherben hatten so etwas wie ein Leuchten in den Augen. Vielleicht habe ich es mir ja auch nur eingebildet. Jedenfalls habe ich für alle getanzt. Schlecht: Frau K. geht es nicht gut. Mir zerreißt es das Herz. Ich hab ihr vom Fliegen erzählt und von anderen Sachen, aber sie kümmert so vor sich hin. Samstag: Großer Besuchstag. Das ganze Strandhaus wurde wuselig, alle hatten etwas zu tun! Ein bisschen wie samstags mit Papa in den Baumarkt fahren. Jedenfalls haben einige auch tatsächlich Besuch bekommen, ich glaube, die anderen sind morgen dran. Frau K. ist immer noch krank. Ihr Körper ist ganz schlaff. Ich habe ihre Hand gehalten und ihr erzählt, was im Strandhaus los ist. Ich werde traurig, wenn ich lange bei ihr bin. Ich fühle mich selbst schon ganz grau. Das ist doch nicht normal. Sonntag: Nochmal großer Besuchstag. Ein paar von den Besuchern könnten auch gleich zu Hause bleiben. Sehen aus, als ob sie gezwungen wären, hierher zu kommen. Und mehr als eine Stunde bleiben die auch nicht. Und das ist dann der Höhepunkt der Woche! Kein Wunder, dass manche von den alten Hasen so komisch werden. Die sind traurig und einsam, weil sie keiner mehr richtig will. Armes Strandhaus. Ich werde sie vermissen, meine Surfbretter und die Luftmatratzen, die Glasscherben und die schöne Muschel. Die suchen hier noch Ehrenamtliche, für Frau K. würde ich das glatt noch machen.
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Gruß vom Wörter-See Unser Körper existiert in der Gegenwart und sendet uns zumeist klare Signale wie Hunger, Durst, Müdigkeit, Frische oder Verspannung. Trotzdem essen wir ohne Not jenseits des Hungers und arbeiten jenseits der Müdigkeit. Ein Tier wird seine körperlichen Bedürfnisse innerhalb seiner Möglichkeiten umsetzen wollen. Bei Kälte, bei Wärme und bei Hunger wird es sich entsprechend verhalten. Tiere leben in der Gegenwart, sie haben nach unseren Erkenntnissen kein Bewusstsein ihrer eigenen Sterblichkeit. Und wir? Wir wissen, dass wir sterblich sind. Wie denken wir darüber? Im abendländischen Denken haben viele politische, philosophische, religiöse und wissenschaftliche Strömungen ihre Spuren hinterlassen. So vielfältig die Prägungen, so klar sticht eine Besonderheit hervor: Unser Denken ist geprägt von trennenden Gegensätzen. Wir trennen nicht nur sorgfältig unseren Müll. Wir trennen auch Geist von Körper, Energie von Materie, Leben vom Tod, Gut von Böse. Gehen wir an dieser Stelle davon aus, dass sich Körper und Geist in stetem Zusammenspiel befinden, dass das eine auf das andere einwirkt. Dann hätten Trauer wie Freude große physische Auswirkungen. Trauer ist ein Zustand, der sich mit jedem Tag verändert, und wir mit ihr. In der Trauer wirkt unser gewohnter Alltag vielleicht plötzlich fremd und absurd. So schmerzhaft Trauer sein mag, ist sie doch ein guter Ausgangspunkt, neu auf unser Inneres und unseren Körper zu schauen. Wir können unseren Körper als Rückzugsort und auch als Sicherheitsanker in der Gegenwart wahrnehmen. Es gibt eine Instanz in uns, die wissenschaftlich nicht gänzlich erforscht ist, aber Verbindungen zwischen Körper und Geist vermuten lässt: Intuition. Wer seine Intuition wirken lässt, schätzt sie und ihre Ergebnisse sehr. Sie wird auch Bauchgefühl oder innere Stimme genannt. In der Intuition nehmen wir etwas wahr, das sowohl im Geist als auch im Körper stattzufinden scheint. Von seiner Bedeutung her ist das Wort Intuition verwirrend: Intuition wird als ahnendes Verstehen, als direktes Wahrnehmen ohne Denken bezeichnet. Wissenschaftlich kaum nachweisbar und doch: Intuition trägt uns bei hohem Wellengang, wenn wir kurz ruhig werden und auf diese innere Stimme
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oder auf unser Bauchgefühl hören. Körper und Geist heben für einen Augenblick den trennenden Vorhang zwischen sich. Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Die Beziehung zwischen Geist und Körper kann sich in Ausnahmesituationen besonders deutlich zeigen. Beide nehmen wechselseitigen Einfluss aufeinander, beide bieten die Möglichkeit, das jeweils andere wahrzunehmen und zu harmonisieren. Die Intuition kann zu einem stabilisierenden Bindeglied zwischen Körper und Geist werden. Ziel der Übungen ist es, das Zusammenspiel von Körper und Geist wahrzunehmen und gegebenenfalls Einfluss darauf zu nehmen. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Erinnern Sie sich einige Minuten an die traurigen Momente mit dem Verstorbenen. Wie fühlt sich ihr Körper an? Denken Sie dann einige Minuten an die freudigen Momente. Wie fühlt sich Ihr Körper dann an?« Dies ist eine meditative Übung, die im Sitzen oder Liegen stattfinden kann. Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie ein Körper-Geist-Wahrnehmungsjournal. Schreiben Sie täglich auf, wie Sie Körper und Geist spüren, welche Empfindungen da sind: Trauer, Freude, Wut, Verzweiflung, Müdigkeit, Erschöpfung, Verspannung.« Vorschlag 3: Bitte an den Trauernden: »Fragen Sie Ihren Körper nach seinen Bedürfnissen und seinem Zustand. Antworten Sie spontan und direkt.« Für diese Übung kann sich der Trauernde abwechselnd auf zwei verschiedene Stühle setzen, einen Stuhl für die Fragen des Geistes und einen für die Antworten des Körpers.
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Die Anderen Erst gestern hatte die Beerdigung stattgefunden. Das Haus war leer, kein einziges Geräusch war zu hören. Er wusste nicht, ob er die Stille mögen oder fürchten wollte. Sie war einfach da, so wie er. Er saß in seinem Sessel, den Kopf angelehnt und starrte in den Raum. Seine Hände schlossen sich so fest um die Teetasse, als könnte ihm dieses Festhalten einen Halt geben. Er bewegte sich nicht, er schaute nur und hielt die Tasse. In seinem müden Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock, nachdem Kinder mit langen Stöcken darin herumgestochert hatten. Er schüttelte den Kopf, der ganz leer und auch ganz voll war, wie um die Gedanken loszuwerden, und der heiße Tee schwappte über. Er merkte es nicht. Seine Gedanken waren aufgebracht, in unablässiger Bewegung, voll von allem Gesagten: Die Zeit heilt alle Wunden. Wenn sie viel schläft, geht die Zeit schneller vorbei, bis sie stirbt. Mein Beileid. Da musst du jetzt durch, Kopf hoch, das schaffst du. Also, als mein Mann starb, da hatten wir einen richtigen Leichenschmaus, wie es sich gehört. Herzliches Beileid. Dass heutzutage überhaupt noch jemand begraben wird, einäschern ist doch viel umweltfreundlicher. Du wirst sehen, in ein paar Wochen sieht die Welt schon anders aus. Kann ich dir helfen? Ruf an, wenn du Hilfe brauchst. Statistisch gesehen hätte sie ja noch ein paar Jahre gehabt, schade eigentlich, aber so ist das Leben. Stecken wir nicht drin. Du siehst schlecht aus. Meinst du, du wirst das Haus verkaufen? Ist ja zu groß für eine Person. Wir suchen gerade, die Kinder brauchen ihre eigenen Zimmer. Sag Bescheid, wenn du soweit bist. Mein aufrichtiges Beileid. Nur belegte Brötchen finde ich ja ein bisschen wenig, was sollen denn die Leute denken. Hast du gesehen, wie groß der Kranz vom Verein war? Landet doch eh alles auf dem Kompost, wozu also? Mein herzliches Beileid. Es tut mir Leid. Sie war eine so lebenslustige Frau. Was machst du denn jetzt, so ganz allein? Mein Beileid. Brauchst du eigentlich das zweite Fahrrad jetzt noch? Die Grabpflege wird dir zu viel, das kann ich dir jetzt schon sagen. Herzliche Anteilnahme. Kommst du nächste Woche mal zum Essen? Ruf an, wenn es dir passt. Mein Beileid.
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Gruß vom Wörter-See Andere können uns zu jeder Zeit unterstützen, belasten, begleiten oder allein lassen, Druck ausüben und Erwartungen aussprechen, trösten oder schockieren. Sie können Vertraute oder Fremde sein, nah oder fern. Das, was zwingend zu den anderen gehört, ist das Ich. Nur das Ich kann den anderen als solchen wahrnehmen. Andere sind sowohl Spiegel unserer selbst als auch Ablenkung vom Ich: Ich gucke auf alle anderen, damit ich mir selbst nicht begegnen muss. Und in der Trauer? Trauer ist ein stark ichbezogener Zustand. Wir leiden entsetzlich. Im Sterbe- wie im Liebeskummer dreht sich die ganze Welt um das unfassbare Leid unseres Ichs. Unser Herz scheint unheilbar gebrochen und Traurigkeit die weitere Aussicht. Unser Ich ist ein zerbrechliches Konstrukt, heute sind wir schön und glücklich, morgen schon ganz anders. Ein Ich lebt meist in Extremen, ist zu Tode betrübt oder himmelhochjauchzend. Im Selfie genannten Ich-Bildersturm dreht sich die ganze Welt um dieses Ich. Wenn ich trauernd oder beklommen oder verzweifelt an einem Steg des Wörter-Sees sitze und mein Spiegelbild im Wasser sehe, ist dies auf den ersten Blick auch ein Selfie, ein wässriges Selfie. Je länger ich konzentriert auf mein Gesicht im Wasser schaue, desto mehr sehe ich und desto mehr löst sich mein Gesicht auf. Ich sehe meinem Ich ins Auge. Mein Kopf ist voller Gedanken, die nach meiner Aufmerksamkeit verlangen. Sie wollen gedacht und weitergedacht werden. Ich höre nicht hin und bleibe konzentriert bei meinem wässrigen Abbild, das auch bloßes Wasser und Licht ist. Die Gedanken werden weniger, auch weniger laut, einige hartnäckig wiederkehrend. Ich verweigere die Aufmerksamkeit, ich bleibe konzentriert schauend, nicht denkend. Ohne dass ich es merke, ist auf einmal Ruhe da. Der See ruht still. Ich ruhe in meiner Mitte, das Ich schweigt. Plötzlich ist alles gut und richtig. Nichts zählt, auch die anderen nicht. Dann denke ich, ohne es zu merken, und schon gibt es die ersten Wellen auf der Oberfläche, ein paar Gedanken tanzen an. Ausatmen. Konzentrieren. Ins Wasser gucken. Das Ich schwindet. Die anderen schwinden. Übrig bleibt ein ungewohntes ruhiges Wohlbefinden und ein Gefühl der Klarheit. Ist alles, was ich im Außen suche, in mir?
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Texte und Methoden
Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Ich und der Rest der Welt – dieses Verhältnis kann uns nicht nur in einer Trauerzeit belasten. Klarheit entsteht, wenn wir erkennen, welche Rolle wir dabei spielen. Ziel dieser Übungen ist es, Klarheit sowohl über die Gleichzeitigkeit von tröstlichen und verletzenden Aussagen zu haben als auch über die eigene Freiheit, jederzeit neu mit den anderen und ihren Aussagen umzugehen. Vorschlag 1: Dies ist eine Übung für Gruppen. Sie können die Teilnehmer zuvor bitten, solche Kommentare von anderen aufzuschreiben und zu sammeln, die besonders verletzend oder tröstend waren. In der Gruppe können diese dann ausgesprochen und reflektiert werden. Bei Kommentaren, die noch auf eine Gegenantwort warten, kann diese in der Gruppe gefunden werden, oder auch der Mut, etwas klar zu formulieren. In dieser Übung können die Rollen des Ich und des anderen nach Neigung von den Gruppenteilnehmern übernommen werden. Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie auf, was Sie alles gesagt bekommen. Was und wer tröstet Sie?« Vorschlag 3: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie einen tröstenden Brief an einen fiktiv trauernden Menschen. Was gehört unbedingt dazu? Was würde Ihnen Trost schenken?«
Die Wut und der Tod
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Die Wut und der Tod Vandalismus auf dem Südfriedhof Am Wochenende kam es zu einem Zwischenfall auf dem städtischen Südfriedhof. Am späten Nachmittag beobachteten Besucher des Friedhofs, wie eine Frau laut schimpfend frisch gepflanzte Blumen aus einem Grab riss. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um das Grab ihres eigenen Mannes. Die Besucher benachrichtigten umgehend die Friedhofsverwaltung. Als diese eintraf, ließ sich die Frau jedoch nicht davon abbringen, weitere Blumen aus dem Grab zu rupfen. Erst mit vereinten Kräften gelang es Besuchern und Friedhofsangestellten, die Frau vom ihrem Vorhaben abzubringen. Sie schrie und wehrte sich heftig und schlug dabei einem Besucher die Brille von der Nase. Erst die kurze Zeit später eintreffenden Polizisten konnten sie ruhigstellen. Später gab die Frau zu Protokoll, der Grabpflegedienst habe die falschen Blumen gesetzt und diese Blumen hätte ihr Mann nie gemocht. Weiter gab sie zu Protokoll, dass sie ihre Wut über die falschen Blumen in diesem Moment nicht hatte kontrollieren können. Die Friedhofsverwaltung sah von einer Anzeige ab.
Gruß vom Wörter-See Der Tod eines Menschen kann unsere gesamte Gefühlswelt aufwühlen wie ein Tornado eine scheinbar idyllische Landschaft. Wut auf den Tod an sich, auf die Reaktionen der Mitmenschen und die Anforderungen des Alltags können sich ganz unterschiedlich äußern. Es gibt auch die Wut darüber, dass das Leben für andere einfach weitergeht. Vielleicht unterdrücken wir die Wut auch, weil wir denken, es ist ein unpassendes Gefühl. Wut ist ein Zustand höchster Erregung und in Trauer oft der Gipfel der ängstlichen Verzweiflung an uns selbst und dem, was das Leben uns zumutet. In dieser Verzweiflung können wir auch auf den verstorbenen Menschen wütend sein, denn sein Tod hat uns in diese schmerzliche Situation gebracht, denken wir. Vielleicht sind wir auch wütend auf banale Kommentare.
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Texte und Methoden
In Trauer kann sich unsere Wut an kleinen Funken entzünden. Wenn wir unsere Wut wahrnehmen, wie sie ist, ohne uns zu verurteilen, können wir sie durchschauen und entdecken, dass sie von Angst und Schmerz befeuert wird. Schmerz gehört zum Leben wie die Freude. Trauerschmerz ändert sich, er bleibt nicht gleich, er wandelt sich und wird blasser. Mit der Angst verhält es sich anders. Sie wächst meist mit den Jahren. Für viele Menschen ist Angst ein Lebensbegleiter. Alles und nichts kann uns Angst machen: Tod, Krankheit, Spinnen. Ob es existenzielle Ängste oder die kleineren, nicht weniger belastenden Ängste des Alltags sind, Angst an sich macht uns immer unbewusst. Wir vergessen dann das, was wir wissen. Was ist die Tatsache, dass Menschen nicht zum Beuteschema einer Spinne gehören, gegen Spinnenangst? Viele Menschen haben Angst vor dem Sterben und seiner Gefolgschaft, dem Tod, dem Schmerz, der Trauer, dem Zurückbleiben. Und wenn der Fall der Fälle eintritt, kann aus der großen Angst und dem akuten Schmerz schnell Wut werden. Die meisten Ängste haben mit unserem Denken und unseren Gefühlen zu tun. Wenn ich eine Angst konkret benenne, tritt sie aus dem grauen Schatten, der mich umgibt, und ich kann sie mir genauer ansehen. Ich habe Angst, das alles nicht zu schaffen. Ich habe Angst, niemals wieder glücklich zu sein, allein zu bleiben, einsam zu sein, nur noch traurig zu sein, auch bald zu sterben. Eine konkrete Angst zu formulieren ist ein Anfang. Vielleicht stelle ich fest, dass es vielen anderen auch so geht. Ich verstehe etwas. Vielleicht wandelt sich meine Wut in Mitgefühl für mich selbst und andere.
Die Wut und der Tod
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Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Die Wut kann ein Zeichen der Ablehnung, der Überforderung oder der blanken Angst sein. Gefühle warten nicht auf den passenden Augenblick, sie sind einfach da. Ziel ist es, Wut als Traueräußerung zu akzeptieren und Verständnis für das eigene Empfinden zu erlangen. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie einen kurzen Brief an den Menschen, auf den Sie wütend sind.« Dieser Mensch kann auch der Verstorbene selbst sein. Und wenn ein Mensch auf den Tod oder auf Gott wütend ist, kann auch dem Tod oder Gott geschrieben werden. Vorschlag 2: Frage an den Trauernden: »Wäre Ihre Wut ein Bild, wie sähe es aus?« Das Wut-Bild hat viele Möglichkeiten, Gestalt anzunehmen. Es kann gemalt, gezeichnet oder geklebt werden. Dieses Bild kann zu Hause entstehen oder während eines Treffens.
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Texte und Methoden
Wo der Himmel ist Constanze stieß sich mit den Füßen vom Boden ab und schaukelte. Auf der Schaukel neben ihr saß ihre Großmutter ganz still und lehnte den Kopf an die Eisenkette. Sie schnüffelte an der Kette. »Riecht noch so wie in meiner Kindheit. Unsere Hände rochen immer nach Metall.« Constanze schaukelte weiter. Beide waren jenseits des offiziellen Spielplatzalters und bis auf ein paar vergessene Spielzeuge allein. »Als du klein warst, hast du immer geschaukelt, bis dir schlecht wurde. Opa musste dich immer wieder auf die Schaukel heben. Oder auf die Rutsche. Und jetzt bist du schon bald Studentin.« Constanze hörte auf zu schaukeln. »Oma? Was meinst du, wo er jetzt ist?« Ihre Großmutter ließ ihren Blick über die kärglichen Büsche am Rande des Platzes schweifen. »So ganz sicher bin ich mir nicht. Weißt du, er wohnt in meinem Herzen, aber das hat er immer schon getan, mein Heinrich. Manchmal spricht er mit mir, so von innen, weißt du. Aber ob das jetzt seine Seele ist oder meine Erinnerung oder meine Liebe zu ihm? Das weiß ich nicht genau.« »Hm. Das ist aber schön. Da hast du einen Mitbewohner.« Ihre Großmutter lächelte sie an. »Und was ist mit dir? Du willst wissen, wo dein Opa ist, nicht wahr? Ich glaube, wenn wir tot sind, können wir an mehreren Orten gleichzeitig sein. Weil er ja in deinem Herzen auch wohnt, oder?« Constanze nickte. »Opa ist immer da. Aber das mit der Seele und dem Himmel finde ich ein bisschen schwierig. Ist Himmel ein realer Ort oder ein Zustand?« Ihre Großmutter blickte überrascht auf. »Ob der Himmel ein Zustand ist? Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Aber vielleicht ist das ja so. Es ist sogar eine schöne Vorstellung.« Constanze stieß sich mit den Füßen vom Boden ab und brachte ihre Schaukel in Bewegung. »Oma?« »Was spukt dir im Kopf herum, Constanze? Du warst so ein wissbegieriges Kind! Kaum konntest du richtig sprechen, wolltest du alles wissen. Erinnerst du dich daran?« Ihre Enkelin lächelte abwesend und nickte. »Also, das mit der Seele, weißt du, ich habe letztens im Physik-Unterricht so eine Idee gehabt, aber ich habe sie noch niemandem erzählt. Soll ich?« »Ja, erzähl mir
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deine Idee. Aber nur, wenn wir jetzt von diesen Schaukeln aufstehen und eine Runde um den Spielplatz gehen. Meine Hüfte ist schon ganz steif.« Die beiden gingen vorsichtig über den feuchten Sand und dann den gepflasterten Weg entlang. »Also, ich erzähl dir das mal, ja? Du weißt, dass Wasser in drei verschiedenen Formen oder Zuständen existiert, ja? Fest, flüssig und gasförmig.« Ihre Großmutter nickte. »Und wir bestehen doch auch aus ganz viel Wasser, richtig?« Wieder nickte ihre Großmutter zustimmend. Constanze hob ein liegengebliebenes Plastikförmchen auf und presste Sand hinein. »Also, wenn wir, also unser Körper, das Förmchen sind, dann sind wir aus Sand und Wasser, alles schön fest am Anfang. Mit der Zeit trocknet der Sand und wir bröseln schon etwas. Wenn das Wasser ganz getrocknet ist, geht der Sand ganz leicht aus dem Förmchen, richtig?« Ihre Großmutter blickte irritiert. »Du meinst, ich brösel schon?« Erschrocken hielt Constanze inne. »Oh, Oma, so war das nicht gemeint. Ich meine doch das Wasser. Also, das Wasser geht zwar weg aus dem Förmchen, aber trotzdem ist es ja noch da, wenn es verdunstet. Nur in einem anderen Zustand. Also erst flüssig und dann gasförmig. Und wenn unsere Seele auch so ist wie das Wasser, dann wären die Seelen noch da, nur in einem anderen Zustand, oder? Und eine Seele, also das Wasser, würde für den Zusammenhalt des Körpers sorgen. Ich weiß nur nicht, wie ich das Gefrorene in meine Theorie einbauen soll.« Schweigend gingen sie eine Weile weiter. »Und vielleicht suchen wir uns so lange ein neues Förmchen, bis wir keins mehr brauchen. Das wäre dann die Erleuchtung. Vielleicht.« Die Großmutter betrachtete ihre Enkelin nachdenklich. »Und der Himmel wäre dann was in deiner Förmchen-Theorie?« »Der Himmel ist der gasförmige Zustand des Wassers. Aber dann wäre ja auch die Seele der Himmel, weil die ja auch irgendwann gasförmig ist. Vielleicht ist der Himmel voller Seelen auf der Suche nach einem neuen Förmchen.« Jetzt lachte ihre Großmutter schallend. »Auf so eine Idee muss erst mal jemand kommen. Weißt du, du solltest das mal aufschreiben. Ich finde es gewagt, aber schön. Mein Heinrich ist die Luft, die ich atme.«
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Gruß vom Wörter-See Es gibt weder Sicherheit noch Erfahrungen von dem, was nach dem Tod ist. Nachweisbare Aussagen über unsere Existenz nach dem Tod zu machen, ist unmöglich. Das öffnet dem Zweifel und der Hoffnung über den Aufenthaltsort verstorbener Menschen und schließlich auch unser selbst gleichermaßen die Tür. Gibt es den Himmel? Wenn es eine Seele gibt, wohin geht sie nach dem Tod? Geht sie denn überhaupt irgendwohin? Es gibt Menschen, die es nicht interessiert, was nach dem Tod geschieht oder nicht geschieht. Für alle, die neugierig sind und mehr wissen wollen, gibt es viele Möglichkeiten, sich mit der Verortung des Himmels auseinanderzusetzen. Innerhalb und außerhalb einer religiösen Zugehörigkeit gibt es genug Menschen und Bücher, die uns einer Antwort näher bringen können. Für Mitteleuropäer ist der Himmel meist das konzeptionelle Gegenstück von Erde und Hölle. Himmel und Erde. Himmel und Hölle. Stünden andere Konzepte hinter unserem Denken, würde vielleicht das Wortpaar »Himmel und Sonne« so viel bei uns auslösen, also eine emotionale und konzeptionelle Jenseitsvorstellung für uns sein, wie das Wortpaar »Himmel und Hölle«. Liegt das Himmelreich in unserem Denken? So wie die Sonne viele Namen auf der Welt hat, so hat auch der Himmel viele Namen. Ewigkeit, Jenseits, Nirwana, die andere Seite des Flusses, ewige Seligkeit und Königreich Gottes sind nur einige. Wie also ist der Himmel für Sie? Ist er wie die Erde – nur schöner? Beziehen wir einen Platz im Himmel entsprechend unserer irdischen Verdienste? Gibt es da eine Verhandlungsbasis? Welche Farbe hat er? Sehen wir unsere Toten wieder? Ist der Himmel ein Ort oder ein Zustand? Wenn er ein Zustand ist, können wir ihn dann auch lebend erlangen? Was ist mit den verschiedenen Religionen und Nationen, hat da jeder seinen eigenen Himmel oder heben sich alle Trennungen und Gegensätze nach dem Tod auf? Der Himmel hat viele Fragen. Kreativität ist eine Möglichkeit, Antworten oder Lösungen in himmlischen Fragen zu finden. Wenn wir kreativ sind, sind wir Schöpfer. Fast jeder Mensch kennt Kreativität. Wenn wir kreativ sind, gibt es in unserem Inneren einen Führungswechsel. Nicht mehr das bekannte
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Ich, sondern etwas Neues in uns macht, malt, schreibt, denkt, rührt, singt und schneidet. Zu diesem Zeitpunkt gibt es schon keine Gedanken und keine Zeit mehr und wir können den Zustand des Fließens erleben. Wir müssen es nicht so nennen, es gibt auch andere Ausdrücke dafür. Es ist bekannt als Flow oder als etwas, das heraus will oder getan werden will. Es ist das Nichts, das schon alles ist. Manchmal sagen wir dazu: Dieses Stück Holz hatte das Objekt schon in sich, ich musste es nur noch herausarbeiten. Oder: Die Pflanze wollte genau an der Stelle stehen. Oder: Ich wollte gar keine Vase töpfern, aber sie wollte getöpfert werden. Oder: Dieses Lied war einfach da. Mit welchem Träger oder Thema wir uns auch beschäftigen, Kreativität schafft etwas Neues. So wie der Wörter-See in diesem Buch eine neue Metapher für unser Bewusstsein ist, kann auch der Himmel Metapher für unser Bewusstsein und unser Denken sein. Das ist eine Möglichkeit, den Himmel zu verorten. Wie ist Ihr Himmel? Trägt er Sie? Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Ob wir in einer religiösen Gemeinschaft verankert sind oder nicht, Fragen nach dem Himmel oder dem Jenseits können oft nicht rückhaltlos beantwortet werden. Ziel ist die Entwicklung einer Himmelsvorstellung, die den Trauernden auch trägt. Vorschlag 1: Frage an den Trauernden: »Wie sieht Ihr Himmel aus? Beschreiben Sie den Himmel beziehungsweise den Ort für den Toten in eigenen Worten.« Der eigene Himmelentwurf kann so beschrieben werden oder auch als Zeichnung oder als Collage entstehen. Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Denken Sie an den Begriff Himmel und geben Sie dem Begriff einen Ton. Summen Sie den Ton und lassen Sie daraus eine Melodie entstehen. Was löst das in Ihnen aus?«
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Die Angst vor den Tatsachen Liebe Katrin, zum ersten Mal in meinem Leben diktiere ich einen Brief. Die Leute hier im Hospiz sind so freundlich und schreiben alles für mich auf. Ich habe das Bedürfnis, Dir etwas zu sagen, über das wir hier nie sprechen konnten. Ich habe es versucht, aber Du warst so entschlossen, nicht darüber zu reden. Mir fehlte die Kraft, dagegen anzugehen. Aber jetzt habe ich nur noch wenig Zeit. Ich habe keine Angst mehr vorm Sterben. Ich hatte Angst, wie jeder Mensch, aber meine Krankheit hat mich demütig gemacht. Ich nehme jetzt an, was sie mir bietet. Und ich weiß, dass Du damit nicht zurechtkommst. Mein Sterben ist auch Dein Sterben. Meine Hässlichkeit ist Deine Hässlichkeit. So wie es mir jetzt ergeht, wird es Dir auch irgendwann ergehen. Sicher nicht so unerwartet, ich hoffe, Du wirst noch lange leben! Aber das wissen wir nie, dafür gibt es keine Garantie. Ich hoffe, Du heiratest wieder! Ich weiß, dass du nichts davon wissen willst, das kann ich verstehen, aber in ein paar Jahren vielleicht? Es würde mich glücklich machen. Ich sehe meinem Ende fast gelassen entgegen und das wundert mich sehr. Vor wenigen Jahren hätte ich dies nie von mir behauptet! Und jetzt fühle ich mich schwach und sterblich und gleichzeitig klar und lebendig. Ich möchte dies alles mit Dir teilen, aber Du lehnst ab. Auch mein Zustand ist Leben. So ist mein Leben eben jetzt. Vielleicht ist es immer so, dass unser Leben voller Tod ist, nur besser verdeckt. Bei mir liegt der Tod bloß, er ist offen und wund und macht mich hässlich. Aber der Tod ist keine Krankheit, sondern Teil des Lebens. Manchmal denke ich, dass ich erst jetzt, auf den letzten Metern meines Lebens, die Dinge durchschaue. Nicht alle, aber zum Beispiel unsere Fixierung auf die Jugend und das Schönsein. Wir reden über alles, aber über nichts Wesentliches. Ich war ja auch so. Hier im Hospiz ist es schön, was das angeht. Der Tod ist Alltag. Und weißt Du, was mir richtig gefällt? Sie sind so entspannt damit. Sterben ist für sie profan und heilig zugleich. Sie lachen und sie sind ernst, sie lassen mich eben sterben und leben. Ist wie ein heiliger Ausschnitt aus dem Leben hier, weil alles zum letzten Mal sein könnte. Das letzte
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Frühstück, das letzte Schmerzmittel, die letzte Partie Schach. Sterben ist natürlich und ich habe mir hier sagen lassen, dass wir nicht mal viel davon mitbekommen. Nimm mich an, wie ich bin, lebend und sterbend, und wenn Du mich nicht mehr sehen kannst, dann schreib mir. Dein Hendrik.
Gruß vom Wörter-See Zur menschlichen Existenz gehören eine ganze Reihe von Tatsachen: die Sterblichkeit, die Möglichkeit, krank zu werden, das Alter, der Tod und die Ungewissheit unserer Zukunft. Es gibt noch mehr Tatsachen des Lebens. Die natürlichen Ressourcen der Erde sind endlich, nicht unendlich. Wenn wir uns nicht ausreichend bewegen, können wir krank werden. Das Bild des lachenden Schweins auf der Wurstverpackung entspricht nicht den tatsächlichen Bedingungen der Tierhaltung. Wenn wir für den Frieden kämpfen, haben wir keinen Frieden in uns. All dies sind unsere Tatsachen. Akzeptieren wir sie? Weichen wir aus? Was ersehnen wir? Was ist uns wichtig? Diese Fragen können wir nur für uns selbst beantworten. Wenn wir Klarheit ersehnen, werden wir uns unseren Tatsachen stellen. Wenn wir eine bequeme Lösung bevorzugen, werden wir verdrängen. Und was ist mit dem Tod? Kaum ein Mensch sieht dem Tod gelassen entgegen und der Tod eines nahestehenden Menschen führt uns auch die eigene Sterblichkeit vor Augen. Tod und Sterblichkeit sind gewaltige Themen, die nicht bei jeder besseren Gelegenheit leichthin vertieft werden. Wir reden nicht gern über unseren Tod. Wir leben in einer modernen Gesellschaft, in der hässliche Fakten oft hinter bunten Türen und in hübschen Verpackungen wohnen, keine Umgebung also, die den Mut des klaren Hinsehens unterstützt. Wenn wir es schon in vielen Dingen des Alltags nicht schaffen, unsere Tatsachen zu akzeptieren, ist es verständlich, dass wir auch vor den großen Themen zurückweichen. Dies zu erkennen ist wichtiger, als in Scham zu leben oder sich mit Gewissensbissen zu quälen. Sich selbst zu verzeihen, ist ebenso wichtig wie die Einsicht, dass wir Fehler im
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Umgang mit uns selbst und anderen Menschen machen. Wenn wir unseren Fakten immer wieder ausweichen, kann unser ganzes Leben zu einem einzigen Ausweichmanöver werden. Dies zu ertragen ist auf Dauer mühselig und zehrt an den Kräften. Schauen wir hin und akzeptieren unsere Fakten, kann sich das einstellen, was als Ganzwerdung bezeichnet wird. Wir sehen das Leben als Ganzes, in all seinen Facetten, den dunklen wie den hellen, den angenehmen wie den unangenehmen. Verdrängen wir unsere Fakten, werden sie nicht weniger oder verschwinden gar ganz. Sie sind da und warten darauf, dass wir sie wahrnehmen. Sie gehen nicht weg. Sie sind dann wie ein Ball, den wir unter die Wasseroberfläche drücken. Von der Oberfläche ist er vielleicht verschwunden, aber wir brauchen sehr viel Energie, um ihn auf Dauer unten zu halten. Irgendwann schwinden unsere Kräfte, oder wir sind unachtsam oder das Leben geht in eine unvorhergesehene Richtung. Dann wird der Ball mit einer Wucht nach oben schnellen, die uns deutlich mehr treffen kann als die bloße Tatsache seiner Existenz.
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Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Der Umgang mit den Tatsachen steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Wenn die Angst vor den Tatsachen sehr groß ist, ist ein achtsames Annähern sinnvoller als ein lebenslanges Ausweichmanöver, das jede Angst vergrößert. Ziel ist es, sich behutsam mit allen Tatsachen auseinanderzusetzen und gegebenenfalls eigenes Fehlverhalten als Hilflosigkeit zu verstehen und zu verzeihen. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Wenn es etwas gibt, das Sie gern noch gesagt hätten, schreiben Sie einen Brief.« Der Trauernde entscheidet, ob er über die Inhalte sprechen möchte oder ob ihm das Schreiben an sich bereits genügt. Der Brief kann an ein fließendes Gewässer gebracht werden und symbolisch oder tatsächlich auf die Reise geschickt werden. Diese Übung eignet sich für Trauernde, die dem Verstorbenen nicht mehr alles sagen konnten, was noch zu sagen war, Ziel ist hier auch die nachträgliche Entlastung. Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie die Tatsachen, vor denen Sie ausweichen, und die Tatsachen, die Sie akzeptieren, jeweils auf eine Karte und legen Sie sie verdeckt vor sich hin.« Die Karten werden gemischt, der Trauernde hat die Möglichkeit, eine gezogene Karte zurückzulegen und neu zu wählen.
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Gestorben wird immer und überall Als wir an Land gingen, wussten wir nicht einmal genau, wohin uns das Schicksal getrieben hatte. Wir waren froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und vielleicht unsere Vorräte auffüllen zu können. Nichts bereitete uns auf das vor, was wir dann erlebten. Der Kapitän und die Mannschaft hatten sich bewaffnet und gingen vor uns an Land. Die Küste wirkte friedlich, gleich hinter dem schmalen Strand streckte sich uns dichter Urwald entgegen. Schreie von Vögeln und anderen Tieren waren zu hören. Ansonsten Stille. Als die Männer wie von Geisterhand plötzlich vor uns auftauchten, war ich dankbar, dass kein einziger Schuss fiel, denn die Dschungelmänner erwiesen sich als friedlich. Sie waren dunkelhäutig und kleinwüchsig, manche schmal wie Knaben und sprachen in einer Sprache auf uns ein, in der ich einiges Spanische auszumachen vermochte. Sie wiesen uns an, ihnen zu folgen, und ich war Abenteurer genug, es mit ganzem Herzen zu tun, während der Kapitän erfahren genug war, sein Messer nicht aus der Hand zu geben. So folgten wir ihnen zu ihrem Dorfplatz, ich muss es wohl so nennen, denn es gruppierten sich sieben oder acht Hütten um eine Art Zentrum, das sich wie ein seltsamer Brunnen ausnahm. Es herrschte eine besondere Atmosphäre, ich kann es nicht anders sagen. Wir erfuhren bald, was es damit auf sich hatte. Wir waren wohl mitten in eine Bestattungszeremonie geraten, aber in keinem Detail dergestalt, wie ich sie kannte. In einer Hütte lag die Sterbende, es war eine alte Frau, und diese Hütte war voller Kinder, die um sie herum saßen und spielten und sie allerlei fragten. Die Sterbende antwortete nicht, aber die Kinder störte dies wohl nicht. Geschmückt war diese Hütte mit einer Vielzahl an Blüten und dem Geruch nach zu urteilen wurden hier auch Harze verbrannt. Es hatte sich mir ein Mann zur Seite gestellt, der versuchte, meine Fragen zu beantworten, und wir konnten uns mit Händen und Füßen auf einer spanischen Vokabularbasis halbwegs verständigen. Ich schrieb eifrig mit, denn es schien mir wert, alles festzuhalten. So waren die Kinder wohl bei der Sterbenden, um recht viel Weisheit von ihr mitzubekommen. Ich fragte,
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wie dies denn ohne Worte geschehen könnte, und erhielt die Antwort, so ich sie richtig deutete, dass ein Sterbender besondere Fähigkeiten besitze, da er sowohl hier als auch nicht hier sei. Ich übersetzte dies im Stillen mit »sowohl tot als auch lebendig«, was mir aber gleich falsch vorkam. Nun, ein Sterbender hatte bei ihnen jedenfalls einen besonderen Status. Diese Primitiven hatten nun sicher keinen Geistlichen im Dorf, und doch fragte ich nach Zeremonie und Gebet, wie ich es kannte. Der verständnislose Blick des Primitiven machte mir nur allzu deutlich, wie es um die Zivilisation hier bestellt war. Statt einer Antwort erklärte er mir, was jeder Einzelne der Dorfbewohner für den sterbenden Menschen tat. Die Kinder also spielten bei ihm oder ihr, stellten Fragen und anscheinend atmeten sie auch mit den Sterbenden. Ich vermutete eine Art Meditation, konnte aber nicht weiter fragen, denn er sprang in seinem Bericht schon zu den Frauen des Dorfes. An den Tagen des Sterbens kochten die Frauen eine Art Suppe, die aus allem bestand, was die Natur an Essbarem hergab. Wenn ich es richtig verstand, sollte dies das Leben darstellen. Vielleicht meinte er damit die vielen Aspekte des Lebens? Wichtiger erschien mir die Tatsache, dass die Frauen während der Zubereitung vom Leben des Sterbenden erzählten. Anscheinend wurde so lange gekocht, bis die ganze Lebensgeschichte erzählt war. Dem Lachen der Frauen nach zu urteilen war die Sterbende eine Alte mit Humor gewesen. Da ich kaum Männer im Dorf sah, fragte ich nach. Da zog mich mein Vermittler am Hemdsärmel durch einen schmalen Dschungelpfad zu einem abgelegenen Strand. Dort waren alle Männer des Dorfes damit beschäftigt, eine Art Verbrennungshochsitz zu bauen. Auch hier roch es nach dem Harz der Sterbehütte. Dieses Dorf verbrannte also seine Toten. Was mir nun endlich auffiel, war die Abwesenheit von bedrückten Mienen, von Tränen und Wehklagen. Ich schrieb es einem Mangel zu, wusste aber nicht direkt, welchem. Gleichzeitig musste ich den Dorfbewohnern eine große Natürlichkeit und Freundlichkeit zugestehen, denn ich wurde mehr als gastfreundlich aufgenommen. Zu meinem großen Bedauern konnte ich meine Erforschung der Dorfbewohner und ihrer Gebräuche nicht zu einem befriedigenden
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Ende führen, da mich der Kapitän kurze Zeit später fast an Bord zerrte. Ich beschloss also, diese Insel noch einmal aufzusuchen. Davon wird in späteren Berichten zu lesen sein.
Gruß vom Wörter-See Überall auf der Welt ist der Tod unveränderlicher Bestandteil des Lebens. Wie wir damit umgehen, hängt nicht nur von uns selbst, sondern auch von unserer gesellschaftlichen Entwicklung und Kultur ab. Sie entscheidet mit, welche Farben wir tragen, wie und wann beerdigt wird, welche Zeremonien dazugehören und ob wir überhaupt innerhalb einer größeren kulturellen und religiösen Gemeinschaft bestatten. Ein Kennzeichen einer hoch entwickelten Gesellschaft ist eine Neigung zum Künstlichen und eine Verdrängung des Natürlichen. Der Tod und das Sterben sind sehr natürliche Bedingungen der menschlichen Existenz. So wie im letzten Jahrhundert die Geburt noch ein sehr natürliches, auch höchst schmerzhaftes Ereignis sowohl der Schwangeren als auch der näheren Gemeinschaft war, so sehr ist sie heute ein Krankenhausereignis der Einzelnen und der anhängenden Kleinstfamilie. Familien- und Gemeinschaftssinn sind goldene Fäden, die uns nicht nur in leidvollen Zeiten zusammenhalten lassen und uns Halt geben. Heute werden diese Fäden seltener gesponnen. Dort, wo sie noch bestehen, ist Leben als Ganzes erfahrbar, mit allem, was dazu gehört: der sterbende Onkel, das warme Essen, die helfenden oder sich einmischenden Hände, und Geburt und Tod sind eben auch immer dabei. Trauer auch. In diesem Kontext können viele gut trauern. Trauer ist ein guter Anfang, nicht nur zu trauern, sondern auch zu leben, wie wir wollen.
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Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
In diesem Kapitel geht es um die kulturelle Bestimmtheit des Trauerns und die individuellen Empfindungen. Ziel ist das Wahrnehmen und Erkennen der eigenen Trauerbedürfnisse. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie auf, wie Sie gerne trauern würden. Was fehlt und was tut Ihnen gut?« Im folgenden Gespräch kann geklärt werden, ob und wie die eigenen Bedürfnisse umgesetzt werden können. Vorschlag 2: Frage an den Trauernden: »Wie wollten Sie von anderen betrauert werden? Haben Sie ein Testament gemacht, indem Sie darüber verfügen?« Je nach Situation kann der Trauernde darüber sprechen oder schreiben.
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Der letzte Atemzug Ich habe viele Namen. Atem. Atman. Pneuma. Seelenhauch. Odem. Lebensgeist. Luft. Weltseele. Puste. Inspiration. Geist. Der unsterbliche Teil. Seitdem Menschen denken können, geben sie mir neue Namen und suchen eine Erklärung für mich. Und was wisst ihr schon? Was weißt du über mich? Du und ich, wir sind ein lebenslanges Paar, denn mit mir beginnt und endet deine Reise. Was wärst du ohne mich? Ich bin dein erster Schrei und dein letzter Atemzug. Dazwischen liegt lebendiges Bewusstsein, das du als dein Leben bezeichnest. Ist es das? Dein Leben? Ohne mich wäre es nicht, ist es also unser Leben? Meist missachtest du mich, du lässt dich von mir atmen, ohne dir dessen bewusst zu sein, erst wenn ich rassle, keuche, stocke oder pfeife, dann denkst du vielleicht an mich. Wenn der Schrecken dich durchfährt, dann nennst du dich atemlos. Ich bin immer. Ich verbinde dich mit allem anderen, ich verbinde das Außen und das Innen, den Körper mit dem Geist. Ist dir das bewusst? Erzähl mir nichts. Ich weiß es schon. Ich bin dein bester Freund, in guten wie in schlechten Zeiten. Ich atme dich. Weißt du, was geschieht, wenn du dich ganz auf mich einlässt? Ich nehme dir die Unruhe und schenke dir Ruhe, ich kläre deinen Geist und deinen Körper. Ich beruhige dein rasendes Herz. Ich ordne deine verworrenen Gedanken. Ich bin in jeder Zelle. Ich atme dich. Nenne mich, wie du willst. In allen Zeiten und allen Kulturen bin ich etwas Besonderes, das Leben, die Weltseele, die Heilung, der heilige Hauch, die Puste, die du nicht mehr hast. Ich war ein Konzept und ein System, wurde verworfen und atmete weiter alles Lebendige. Es gibt Menschen, die sagen, dass Gott mich dir eingehaucht hat. Wenn ich dich im natürlichen Rhythmus verlasse, gehe ich mit jedem Hauch etwas mehr, du lässt mich langsam los und nimmst mich nicht mehr ganz in dir auf. Jeder einzelne Teil von dir haucht mich aus. Bis zum letzten Atemzug.
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Gruß vom Wörter-See Er atmet! Er lebt! – Die beiden Sätze könnten in verschiedenen Situationen ausgesprochen werden: bei einer Geburt, einem Unfall, einer allgemeinen Krisensituation. Sie vermitteln sowohl die vergangene Angst und den Schrecken darüber, das Leben könnte vorbei sein, als auch Freude und Erleichterung über das Leben an sich. Er atmet! Er lebt! Leben scheint einfach zu sein. Einatmen. Ausatmen. Immer wieder. Dieses Atmen geht wie von selbst, ohne Technik und ohne Methode. Was ist, wenn wir wieder stabil atmen und die Krise vorüber ist? Wie machen wir weiter? Freuen wir uns des Lebens? Atmen wir bewusst? Finden wir, dass das Leben eine leichte Angelegenheit ist? Ein veritabler Freudentanz? Es sieht nicht so aus. Aus der einfachen Angelegenheit Leben machen wir zumeist eine komplizierte, erschöpfende Geschichte für alle Beteiligten. Wir verstricken uns in nicht enden wollende Dramen im Außen und vergessen und vermeiden den Blick nach Innen. Unser Atmen ist innen, alles, was uns ausmacht, ist in uns, nicht um uns herum. Wenn wir, vielleicht wieder einmal, in einer vitalen Krise stecken, erlernen wir manchmal Techniken und Methoden, um aus den komplizierten Spannungsverhältnissen unseres Lebens kurzfristig zu entfliehen, um also aufatmen zu können. Einatmen, ausatmen. Braucht Leben eine bestimmte Technik? In Bezug auf unsere geistige Bewusstheit sind Techniken und Methoden dazu geeignet, die Dinge weiter zu verkomplizieren. Die direkte Wahrnehmung meines Atems macht mich von jetzt auf gleich bewusster, das geht ohne Methode in jedem Augenblick. Das Erlernen einer Technik vermittelt mir als Lernenden: Es ist mir fremd, es gehört nicht zu mir, ich muss es im Außen erwerben. Techniken brauchen Zeit und halten uns im steten Prozess des Werdens gefangen. Dann denke ich: Ich atme erst dann bewusst und richtig, wenn ich es gelernt habe. Wenn ich diese Technik beherrsche, dann wird es mir gutgehen. Die Essenz allen Werdens durch Lernen heißt: Jetzt nicht. Morgen vielleicht. Wenn wir nicht im Jetzt sein können, wo sollen wir dann hin? Atmen findet jetzt statt. Das Jetzt, also die Gegenwart, ist die einzige Zeit, die wir haben. Sind wir nicht in ihr, sondern in künstlichen Morgen oder Gestern, eilen wir atemlos werdend hin und her.
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Dieses Zusammenspiel lässt sich in vielen Lebensbereichen erkennen. So ist in modernen Industrieländern das einfache Ernähren, also Essen und Trinken, eine höchst komplizierte Angelegenheit, bei der wir dauernd Hilfe suchen. Zwischen Ratgebern, Fastfood, Diäten und Kochshows werden wir immer kränker. Atmen, Essen und Trinken sind vitale und schlichte Angelegenheiten. Sie sind wichtig, und je natürlicher wir damit umgehen, umso einfacher und entspannter werden wir sein. Wenn wir komplizierte Methoden anwenden, werden wir ein kompliziertes Leben führen. Atmen ist einfach. Machen wir auch nur wenige bewusste Atemzüge am Tag, verändern wir uns. Diese Veränderung erleben wir durch das eigene Tun. Einatmen. Ausatmen. Wie zum ersten Mal. Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Die Wahrnehmung unseres Atems verändert sofort jede Situation. Atem verbindet uns miteinander und ist gleichzeitig eine fast intime Angelegenheit. Je häufiger Atem wahrgenommen wird, desto entspannter können wir werden. Ziel der Übungen ist die differenzierte Wahrnehmung des Atems. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Setzen oder legen Sie sich entspannt hin und nehmen Sie fünf Minuten nur Ihren Atem wahr.« Diese Übung ist sinnvoll, wenn sie wiederholt werden kann und der Trauernde so eine Veränderung in sich feststellen kann. Dies kann sein: mehr Ruhe, weniger Gedanken, mehr Atembewusstsein. Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Machen Sie täglich fünf bewusste Atemzüge. Schreiben Sie abends auf, wie Ihr Tag war.« Diese Übung kann sich über eine bis mehrere Wochen ziehen, je nachdem, wie der Trauernde damit zurechtkommt. Vorschlag 3: Frage an den Trauernden »Wenn Ihr Atem eine Person wäre, wie sähe er aus?« Die Antwort darauf kann ein Bild oder auch etwas Geschriebenes sein.
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Der Tod und die Zeit Sie hatte auf diesen Anruf gewartet und ihn stets als stille Erlösung deklariert. Das Telefon hatte genau um zehn Uhr und neun Minuten geklingelt. Die Kinder waren längst in der Schule, ihr Mann im Büro. Die Dame aus dem Heim war sehr nett gewesen und hatte gesagt, dass ihre Tante in der Nacht friedlich verstorben war. Dann war wieder einmal alles auf einmal geschehen, der Postbote hatte geklingelt, die Nachbarin kam kurz danach, um etwas wegen der Mülltonnen zu fragen. Das Telefon hatte wieder geschellt, ein Anruf wegen der Tennisstunden, sie hatte auf die Uhr gesehen und überlegt, ob sie das Mittagessen umdisponieren sollte, denn wenn sie jetzt schnell ins Heim fahren würde, hätte sie kaum Zeit zu kochen. Auf dem Rückweg könnte sie vielleicht etwas Fertiges mitbringen. Sie suchte ihre Handtasche, überlegte, was sie auf dem Rückweg noch erledigen könnte, und öffnete die Haustür. Die Bewegung schreckte eine junge Amsel auf, die mit dem Aufwühlen des Blumenbeets beschäftigt gewesen war, und der Vogel flog mit einem aufgeregten Zwitschern davon. Was es nun genau war, das sie innehalten ließ, hätte sie nicht sagen können. Tatsache war, dass sie stehenblieb und sich laut fragte: »Was mache ich hier eigentlich?« Sie stand einen Moment unschlüssig vor der Tür und ging dann wieder hinein. Sie legte ihre Handtasche auf den kleinen Tisch im Flur und sagte wieder laut zu sich selbst: »Tante Inge, das machen wir anders.« Dann, als wüsste sie nun ganz genau, was zu tun wäre, schaltete sie die Türklingel ab, legte den Hörer neben das Telefon und stellte ihr Mobiltelefon aus. In der Küche goss sie sich ein Glas Wasser ein und ging damit in den rückwärtigen Garten. Sie sah sich um. Der hintere Teil des Gartens war so gut wie uneinsichtig. Sie holte sich eine Gartenliege und ließ sich drauf nieder. Jetzt atmete sie tief durch und schloss die Augen. Es fühlte sich an, als hätte sie sich aus der äußeren Zeit geschlichen. Jetzt hatte sie innere Zeit. Sie lächelte mit geschlossenen Augen und dachte an ihre Tante. Sie ließ Begegnungen ihrer Kindheit Revue passieren, dachte an die unglaublichen Kleider, die diese stets zur Aufregung
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aller anderen Familienmitglieder getragen hatte, und an die Reiselust, die ihre Tante erst im hohen Alter aufgeben musste. Oben auf dem Speicher lag eine Sammlung von Postkarten aus aller Welt. Ihre Tante hatte sich niemals ein Reiseziel ausreden lassen, stets hatte sie ihren eigenen Kopf durchgesetzt und war immer heil zurückgekehrt, den Koffer voller Souvenirs, den Kopf voller neuer Geschichten. Sie hatte fremde Gewürze mitgebracht, einmal sogar einen Mann, der zwar nicht lange blieb, aber trotzdem für viele Jahre in den Gesprächen über Tante Inge weiterlebte. Sie ließ ihren Gefühlen und Gedanken allen Raum und alle Zeit, die sie wollten und brauchten, und ließ das lebendige Bild ihrer Tante zu einem ganzen Film werden, der voller Farben und Gefühle und Aromen war. Sie wusste nicht, wie lange sie auf der Liege gelegen hatte, sie war anscheinend eingeschlafen, denn als sie die Augen öffnete, hatte sich die Sonne ein gutes Stück bewegt. Sie stand auf und schritt über den Rasen zur Terrasse. Jetzt konnte Tante Inges Reise weitergehen.
Gruß vom Wörter-See Was wissen wir über die Zeit? Wie gehen wir mit ihr um? Wann steht die Zeit still? Können wir Zeit gewinnen, so wie einen Rohstoff? Gibt es nur eine Zeit, für alle gleich? In modernen, industrialisierten Gesellschaften gibt es zwei Zeiten, eine natürliche und eine künstliche. Die natürliche Zeit ist eine treue Freundin aus evolutionär überwundenen Dschungel- oder Höhlentagen, leben wir mit ihr, ist sie wie ein steter lebendiger Fluss in uns. Unser Leben folgt dann einem natürlichen Rhythmus. Morgen und Abend. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang. Tag und Nacht. Aktion und Ruhe. Jugend und Alter. Geburt und Tod. So geht die Zeit. Wenn wir ausschließlich in diesen natürlichen Zeitrhythmen leben, geht es uns gut, wir leben in der Gegenwart. Alles fließt, die Zeit, das Leben, der Atem. Die Frage ist natürlich: Wer lebt so? In einer industrialisierten Gesellschaft haben wir nicht nur die natürliche Zeit, die wir genauso häufig ignorieren wie ersehnen, sondern eben auch die künstliche Zeit, deren Schöpfer wir sind. Die erste Uhr, der pünktliche Zug, die
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Industrialisierung und Trennung unserer Lebens- und Arbeitsprozesse, die Idee der Sommerzeit, das vage Versprechen, das jeder alles erreichen kann. Das Werden im Morgen taktet längst unser Leben durch. Diese Zeit ist eine künstliche, ein unbarmherziger Maschinenrhythmus, nach dem wir uns innerlich ausrichten und manchmal tanzen wie dressierte Tanzbären, die später Ballerina, Fußballer oder Rentner werden wollen. Ein wichtiger Aspekt dieser Zeit ist: Wir haben keine Zeit mehr. Keine Zeit zum Kochen, Zeit für Kochshows. Keine Zeit für Freunde, Zeit für viele Freunde in sozialen Medien. Keine Zeit für den Tod, Zeit für viele Tote in allen Unterhaltungsformaten. Wir haben keine Zeit mehr. Wir haben das ewige Morgen, die Zukunft und die Vergangenheit. Sie machen uns zumeist Angst und unfrei. Können wir uns vorstellen, ohne Uhr oder ohne Telefon zu leben? Drei Tage lang? Eine Woche? Einen Tag? Hat ein Mensch schon einmal seinen Fuß in die Zukunft oder die Vergangenheit gesetzt? Vielleicht geeignete Motive für Literatur und Film. Taugt die andauernde Gegenwartsverdrängung als Lebensmotiv? Dauerhaft in künstlich geschaffenen Zeiträumen zu verbleiben, scheint unserem körperlichen und geistigen Wohlbefinden nicht zuträglich zu sein. Wie sieht es mit mentaler und körperlicher Stabilität und Gesundheit der Menschen in Industriegesellschaften aus? Haben wir Zeit oder haben wir Rücken? In moderner Gesellschaft besteht eine beliebte Entspannungsvorstellung aus Variationen zum Grundthema »Sonnenuntergang mit Hängematte«. Schwelgen und ruhen im Rhythmus natürlicher Zeit. Wir haben immer nur diesen einen Augenblick. Ein Moment, der vorüber ist, noch ehe ich ihn zu Ende gedacht habe. Mehr nicht. Ein Augenblick ist wie ein Tropfen. Jeder einzelne macht das Meer aus. Wenn ich mich in jeden Tropfen versenke, ob salzig oder süß, schöpfe ich aus dem Vollen. Einen einzigen Augenblick verpassen?
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Texte und Methoden
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Das Thema ist »Zeit und Gegenwart«. In der Gegenwart haben wir das, was es nur in der Gegenwart gibt: Zeit. Die Erfahrung von Gegenwart ist angenehm und auf vielfältige Weise möglich. Ziel der Übungen ist die Wahrnehmung der Gegenwart und die Erfahrung von Selbstbestimmtheit über die Zeit. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Schreiben Sie auf, wofür Sie gern mehr Zeit hätten.« Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Nehmen Sie sich eine kurze Auszeit von der Trauer.« Diese Auszeit kann eine Zeitspanne von fünfzehn Minuten oder zwei Stunden sein, das ist abhängig von der jeweiligen Situation. Ziel ist es, eine kleine Ruheinsel zu schaffen, die allein dem Trauernden gehört. In dieser Zeit geschieht, was der Trauernde möchte.
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Du warst und bist Es war dieser eine Moment – der nun gar kein außergewöhnlicher Moment war, denn er stellte gerade ein Buch zurück ins Regal –, in dem das Denken an sie nicht mehr wehtat. In diesem Moment schmerzte nichts, sie ruhte in seinem Herzen, blickte durch seine Augen, hörte mit seinen Ohren und berührte die Welt mit seinen Händen. Es war, als wäre sie aus einer schmerzreichen, fremden Gegend zurück zu ihm gezogen. Er hielt sie an diesem Tag ganz für sich, wie einen geheimen Schatz, überließ seinen Angestellten die Buchhandlung ein wenig früher als üblich und machte mit ihr einen Abendspaziergang. Immer wieder hörte er in sich hinein, ob sie noch da sei oder wieder fortgegangen. Sie blieb. Sie lächelte ihn an, als er wie üblich in seinen Taschen nach dem Taschentuch suchte. Sie sah die Nachbarn im Streit sich aufreiben und schüttelte sanft den Kopf. Er ging an seinem Haus vorbei, vorbei an den verdutzten Nachbarn, nur um mit ihr die schöne Abendstimmung noch ein wenig länger genießen zu können. Er ging mit ihr. Spontan kaufte er für das Abendessen ein und ließ ihre Augen über Gemüse und Gewürze, Käse und Süßes gleiten. Es tat nicht weh. Er lächelte, als er ihren Lieblingskäse in den Einkaufswagen legte, immerhin, er könnte ihn ja jetzt endlich mal probieren. Er kaufte auch seinen Lieblingsaufschnitt und fühlte, wie sie verschmitzt in seinem Herz schaukelte. War das nicht ein alberner Gedanke? Konnte sie in seinem Herzen schaukeln? Nun ja, sie war es gewesen, die ihm immer mit einer Hollywoodschaukel in den Ohren gelegen hatte, eine ganz und gar untypische Anwandlung für sie. Musste er sich am Ende eine solche Schaukel in den Garten stellen? Darüber reden wir noch, sagte er stumm zu ihr. Ich muss erst sehen, was noch so alles geschieht. Ich bin ja nicht du. Er war selig auf eine ungewohnte Art, als er mit den Einkäufen nach Hause schlenderte. Zum ersten Mal schrak er nicht vor dem Öffnen seiner Haustür zurück. Er nickte dem Unkraut zu, das unter ihren Händen längst verschwunden gewesen wäre, und versprach, es gleich morgen früh des Beetes zu verweisen. Er verstand plötzlich, dass ihr Ordnungssinn alles mit Schönheit und nichts mit
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den Nachbarn zu tun hatte. Wieso hatte er das früher nicht erkannt? Tut mir leid, Sybille, aber du siehst, ich fange an, dich zu verstehen. Beim Kochen erinnerte er sich an ihre geübten Handgriffe und übernahm sie zur Probe, fand sie gut oder weniger gut für sich selbst und hatte während des Zubereitens das wohlige Gefühl, sie passe auf ihn auf. Als ihm der Duft des frischen Korianders seifig in die Nase stieg, blieb sein Herz kurz stehen, seine Augen füllten sich mit bewegungslosen Tränen, weil er ihren Duft plötzlich so schmerzlich heiß ersehnte wie noch nichts zuvor in seinem Leben. Dann beruhigte sich sein Herz, die Tränen kamen in Bewegung, liefen einfach seine Wangen hinunter, und er ließ es geschehen, weil Sybille schon wieder da war und es nicht schlimm war, dass er sie nicht berühren konnte.
Gruß vom Wörter-See Die einzigen Sicherheiten des Lebens sind der Tod und der ewige Wandel. Alles ändert sich dauernd. Wir könnten dies in Stein gemeißelt mit uns herumtragen, würde es etwas an unserem ängstlichen Möge-alles-so-bleiben-wie-es-ist-Mantra ändern? Diese innere Haltung, oder Festhaltung, richtet sich gegen den natürlichen Fluss der Zeit, gegen ihre Kontinuität. Alles ändert sich, alles bleibt anders. Würden wir mit Heraklit, dem griechischen Philosophen, in den Fluss des Lebens steigen, sagte er uns: Wir können niemals zweimal in denselben Fluss steigen. Trotz großer Umgebungsweisheit verharren wir in moderner Un-Weisheit: Wir wollen unbedingt den Fluss anhalten und machen vielleicht zuerst einmal ein beeindruckendes Foto, während das Leben ohne uns weitergeht. Der Lebensfluss wandelt alles, was rechts und links des Ufers gedeiht und verdirbt. Geburt und Tod sind immer mit im großen Strom, sie machen Leben lebendig. Könnten wir ohne Tod oder Geburt lebendig sein? So wie dieser metaphorische Fluss verläuft unser Leben meist nicht. Im Gegensatz zum lebendigen Fließen in andauerndem Sein stecken wir im andauernden Werden fest. Wir wollen etwas werden, unbedingt, vielleicht reich, glücklich, berühmt, gesund, mäch-
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tig, erfolgreich oder zufrieden. In Zukunft wollen wir viel sein. Aber alles, was wir jemals sind, ist hier, zwischen dem, was wir gestern waren und was wir morgen sein werden. Alles ist genau dazwischen. Die Kontinuität der Zeit entfaltet sich zwischen dem Einatmen und dem Ausatmen. Jeder geatmete Moment ist wie ein Tropfen Zeit des Lebensflusses. Wenn wir jeden Tropfen auskosten, tauchen wir ein in den Tropfen und auf im Meer. Das innere Sehnsuchtsbild »Sonnenuntergang mit Hängematte« müssen wir dann nicht mehr malen, unser Geist ruht auf der Mental-Matte der Gegenwart, dem andauernden Jetzt, und ist entspannt während, vor und nach Sonnenuntergang. Die natürliche Zeit ist immer da, das Tor zu ihr ist zwischen den Wänden des Gestern und des Morgen. Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Alles ist in andauernder Veränderung, Auch die Bedeutungen und Beziehungen eines Menschen unterliegen diesem Wandel, im Leben und im Tod. Ziel der Übungen ist es, dem Verstorbenen einen neuen Platz oder eine neue Rolle im Leben zu geben. Vorschlag 1: Frage an den Trauernden: »Haben Sie etwas Ähnliches wie dieser Mann erlebt? Wie verändert sich Ihre Beziehung zum Verstorbenen?« Die Antworten können im Gespräch erfolgen oder aufgeschrieben werden. Vorschlag 2: Frage an den Trauernden: »Wie würden Sie einem Kind Ihre Beziehung zu dem Verstorbenen erklären? Auf welche Weise nimmt der Verstorbene an Ihrem Leben teil?« Vorschlag 3: Vorschlag an den Trauernden: »Ich biete Ihnen das Wort ›verinnern‹ für den Umgang mit Ihrem geliebten Menschen an. Welche Assoziationen haben Sie?«
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Kann der Tod auch heiter sein? Dies ist mein Testament und letzter Wille Ich weiß nun nicht, ob dies die richtige Form ist, aber Schwester Annabelle meinte, auch da gibt es keine feste Regel, es muss nur klar sein. Du bist meine einzige Angehörige, also bekommst Du alles, was nach der Bestattung übrig bleibt. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, es hat wirklich viel mit dem Ort hier und Annabelle zu tun, sie arbeitet hier auf der Station und hat mir mein Herz so leicht gemacht. Noch nie wurde ich mit so viel Güte und Würde behandelt! Ich konnte es am Anfang gar nicht annehmen. Und jetzt ist es, als ob alles Strenge und Harte aus meinem Leben gehen möchte und ich lasse es zu. Sie ist noch so jung und hat mir von Johannesburg erzählt, von der Schönheit des Tafelbergs und ihrer großen Familie. Sie sagt immer, dass jeder Moment voller Leben ist, egal ob hier oder irgendwo anders auf der Welt. Wir haben viel gesprochen und ich habe auch viel geweint. Nicht über mein Sterben, das ist nun natürlich in meinem Alter, aber über das, was ich aus meinem Leben gemacht habe, und das, was unsere Kindheit ausgemacht hat. Weiß Du, ich habe einfach das fortgesetzt, was unser Vater uns eingebläut hat. Die Härte gegen mich selbst, die Geringschätzung, die Strenge, immer wieder die. Du bist nun rechtzeitig weggegangen von uns, eine Flucht, die Dir hoffentlich gut bekommen ist. Annabelle hat versprochen, Deine Adresse in Erfahrung zu bringen. Ich vertraue darauf, dass sich zum Schluss alles fügt. Ich habe in letzter Zeit gelebt wie nie zuvor in meinem Leben und das verdanke ich ja doch dem Tod. Würde ich nicht bald sterben, läge ich nicht hier. Ich versuche, jeden Tag zu genießen, und bin von einer Gelassenheit und Heiterkeit, die Annabelle mein gutes zweites Leben nennt. Sie sagt, ein gutes Leben hat keine Zeit, und wenn wir heiter sind, haben wir keine Wolken an unserem Seelenhimmel. Wenn ich keine Schmerzen habe, bin ich sogar fast albern! Wie viele Schläge hätten wir für albernes Benehmen bekommen? Es ist, als ob die dunklen Wolken vor meinem Herzen verschwunden wären, und ich fühle mich klar und leicht. Wolkenlos. Nein, das bewirken nicht die Schmerzmittel, dieser Zustand ist fast immer da.
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Nun zu meinem letzten Willen. Ich erfülle mir einen Herzenswunsch und möchte, dass Du mich auf hoher See bestattest! So richtig mit allem, was dazugehört. Ich wollte immer eine Seereise machen, fand mich aber eines solchen Luxus immer unwürdig. Und jetzt fühle ich mich fast frivol, dass ich mir dies zum Schluss gönne! Ich bin aufgeregt und freue mich auf etwas, das ich gar nicht mehr erleben werde! Es ist ein wenig absurd, ich weiß. Ich habe anfangs viel über mein verschwendetes Leben getrauert, das ich wie eine Maschine gelebt habe. War das ein Leben? Ich hätte früher mit dem Alten abschließen sollen, aber ich habe es Zeit meines Lebens nicht geschafft und mit mir gehadert, aber der nahe Tod ist ein guter Lehrmeister, erst recht, wenn er von einer Schwester Annabelle begleitet wird. Egal, was wir erleben, der nächste Tag fängt neu an. Ohne Wolken von gestern. Wie viel Zeit ich noch habe, weiß ich nicht. Vielleicht geht es von hier in ein Hospiz, vielleicht sterbe ich auch hier. Sterben müssen wir nun alle, aber gut leben können wir alle. Das ist es vielleicht, was mich jeden Tag heiter sein lässt, jetzt, als alte Frau. Jeder Tag ist ein Geschenk.
Gruß vom Wörter-See Wir können den Tod auf viele Weisen erleben: leicht oder schwer, dramatisch, abrupt oder willkommen, traurig oder heiter. Wir können den Tod auf so viele Weisen erleben, wie wir leben können. Was, wenn wir heiteren Gemüts sterben? Was bedeutet das Wort »Heiterkeit«? Die indogermanische Wurzel des Wortes bedeutet »leuchtend«. Leuchten wir, wenn wir heiter sind? Aufheitern bedeutet wolkenlos werden. »Wolken am Himmel« ist eine beinahe klassische Metapher für das Verhältnis von Gedanken und Bewusstsein. Jeder Gedanke ist eine Wolke an unserem Bewusstseinshimmel. Folgt er seiner Natur, zieht er weiter, halten wir den Gedanken fest, bewölkt sich unser innerer Himmel. Der Himmel erinnert sich nicht an alle Wolken, die ihn je durchzogen haben, wir schon. Vor lauter Wolken werden wir dann unklar. Große Bewölkung, keine Spur von Heiterkeit.
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Heiter angesichts des Todes bedeutet also, dass unser Bewusstsein klar ist. Der stumme Wunsch vieler Menschen ist, schnell und schmerzlos zu sterben. Ist das gleichzeitig auch der Wunsch nach möglichst tiefer Bewusstlosigkeit in Sachen Tod? Als Sterbliche kommen wir nicht am Tod vorbei, er gehört zu uns wie der Atem. Schauen wir uns den Kollegen Tod jenseits einer akuten Trauerzeit genauer an, verliert er viel von seinem fremden Schrecken. Wenn wir viele Gedanken im Kopf haben, ist unser Blick getrübt, wir können nicht richtig erkennen. Wolken, also Gedanken, können sich zu imaginären Schreckensbildern formen. Wenn wir zwischendurch immer wieder loslassen, sammelt sich nicht so viel an. Da verhält es sich mit unserem Inneren wie mit dem Außen: Kläre und ordne ich mein Haus regelmäßig oder lasse ich alle paar Jahre den großen Container kommen? Innere und äußere Klarheit ist außerordentlich entspannend, sowohl für uns selbst als auch die anderen.
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Wenn wir pausenlos denken, trübt sich unsere klare Wahrnehmung. Die innere Wolkenlosigkeit, also die Gedankenfreiheit, ist ein Zustand höchster Klarheit, ihr Ausdruck die gelassene Heiterkeit. Wir haben Gedanken, aber wir sind nicht unsere Gedanken. Ziel der Übungen ist das Erkennen von wiederkehrenden und belastenden Gedanken und die Entwicklung eines neuen Verhältnisses zu ihnen. Vorschlag 1: Bitte an den Trauernden: »Setzen oder legen Sie sich entspannt hin und betrachten Sie Ihre Gedanken wie Wolken an Ihrem inneren Himmel. Lassen Sie sie vorüberziehen, halten Sie nichts fest. Lassen Sie Ihren Himmel frei von Wolken werden.« Diese Übung kann zehn oder fünfzehn Minuten dauern, ein in Meditation ungeübter Mensch wird sie vielleicht zunächst anstrengend finden, ein anderer sofort höchst entspannend. Wiederholungen der Himmelsschau sind möglich und sinnvoll. Vorschlag 2: Bitte an den Trauernden: »Führen Sie ein Wolken-Journal. Schreiben Sie täglich auf, was Ihnen durch den Kopf geht.«
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Ende und Anfang Wie jeden Freitag um halb zwölf machte sich Anton auf den Weg in den »Goldenen Ochsen«. In allen Zeiten, den guten wie den schlechten, hatte er diesen Gang gemacht. Als sein Vater starb und auch als Maria von ihm gegangen war; freitags um halb zwölf war er in den »Goldenen Ochsen« gegangen. Er ging auch am Sonntag in die Kirche, was blieb ihm übrig, der Pfarrer lief ihm fast täglich über den Weg, also hatte er sich gesagt, dass eine Stunde in der Kirche in der Woche nicht so anstrengend sein würde, wie der Versuch, dem Pfarrer ständig aus dem Weg zu gehen. Und immerhin, der Pfarrer hatte an Marias Beerdigung schön gesprochen, hatten sie gesagt. Er wusste das nicht, denn er hatte auf ihren Sarg gestarrt und die Tränen mühsam kontrolliert. Er hatte gar nichts gehört, erst als die große Orgel eingesetzt hatte, war er aus seiner Starre erwacht. Seitdem versorgte er sich mehr schlecht als recht, war einsam und wusste am Abend oft nicht, wie er die Stunden herumbringen sollte. Es war schon der dritte Frühling ohne sie, ohne dass er etwas anderes getan hatte, als das, was er immer tat, nur eben ohne sie. Seine Tochter hatte ihm letzten Sonntag einen Reiseprospekt aufgedrängt, weil sie meinte, eine Ortsveränderung würde ihn auf andere Gedanken bringen. Dabei dachte er eigentlich nichts Verkehrtes, dachte er. Was sollte er anderes denken? Und warum sollte er allein verreisen? Da war er lieber zu Hause allein. Er drückte die Tür zum Gastraum auf und begrüßte Sonja, die Bedienung hinter der Theke. Sie kannte ihn besser als der Pfarrer, denn sie kam und stellte ein Glas Hauswein und eine Flasche Wasser auf seinen Tisch. Er saß meist am selben Tisch, störte sich aber auch nicht, wenn der besetzt war. Sonja empfahl das Schollenfilet und bedachte ihn mit einem wohlwollenden Blick. Sie wusste, dass er ihre Rückseite betrachten würde, wenn sie zurück zur Theke ging. Wenigstens etwas, dachte sie, und gab seine Bestellung an die Küche weiter. In diesem Moment wurde die Tür zum Restaurant wieder aufgedrückt. Eine fremde Frau betrat den Raum, ging zur Theke, wechselte einige Sätze mit Sonja und wurde dann an seinen Nachbartisch ver-
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wiesen. Die Frau nickte ihm freundlich zu, setzte sich und studierte die Speisenkarte. Anton hatte gegrüßt und seinen Blick nicht von ihren Haaren lassen können. Eine Farbe war das! Sie leuchtete wie poliertes Holz. Sonja kam mit einem großen Tablett zu ihm und lud Schollenfilet samt Beilagen bei ihm ab. Anton versuchte nicht daran zu denken, dass die fremde Frau mit dem schönen Haar in seiner direkten Nähe saß, und widmete sich seinem Essen. Er wusste nicht, ob er mit ihr reden wollte oder nicht. Und worüber sollte er mit ihr sprechen? Doch die Fremde machte seine zweifelnden Überlegungen zunichte. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche, aber ist das Schollenfilet auf Ihrem Teller? Und können Sie das empfehlen? Es duftet ja gut.« Zu seinem Ärger wurde Anton tatsächlich rot, als er ihr antwortete: »Scholle. Sehr zu empfehlen.« Hätte er nicht etwas Netteres sagen können? Maria hatte seinen Charme immer geliebt. Er hörte, wie Sonja ankam und die Bestellung aufnahm. »Möchtest du noch etwas, Anton?« Anton schüttelte den Kopf und lächelte. Bloß nichts Verkehrtes sagen. Er blamierte sich ja bis auf die Knochen. Er aß sein Filet, trank seinen Wein, und als Sonja das zweite Filet brachte, hatte er sich alle möglichen Gedanken gemacht, was er dieser fremden Frau Nettes sagen konnte, ohne dass es peinlich wirken würde. Als er den letzten Bissen gegessen hatte, wischte er sich mit der Serviette über den Mund und drehte sich zu ihr um. »Wissen Sie, als Sie eben reinkamen, da habe ich gedacht, so schöne Haare habe ich lange nicht mehr gesehen. Wie poliertes Holz. Schneiden Sie die bloß nie ab.« Die Frau sah ihn erstaunt an und legte dann ihr Besteck auf den Tellerrand. »Das ist aber ein Kompliment. Seit mein Mann gestorben ist, hat mir niemand mehr gesagt, dass ich sie nicht abschneiden soll. Ich verspreche, ich werde es auch nicht tun.« Sie lächelte ihn an und aß weiter. Anton wusste nun nicht mehr, was er weiter erzählen sollte, denn von Maria konnte er schlecht anfangen, oder? So also verabschiedete er sich nach einer Weile, ging zu Sonja an die Theke und zahlte. Draußen dachte er, dass irgend etwas anders war, etwas war gegangen und etwas war gekommen. Er wusste nicht, was. Aber vielleicht könnte er das ja herausfinden, so ganz unverbindlich. Anton drehte sich um und betrat erneut den »Goldenen Ochsen«.
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Gruß vom Wörter-See Haben wir einen bestimmten Plan von unserem Leben oder dem unserer Kinder? Gibt es genaue Erfüllungsvorgaben für die eigene Biografie? Wenn wir exakte Pläne und Ideen für unser Leben haben, kann uns das Leben jederzeit in die Quere kommen. Wir wollten ein Picknick machen, jetzt regnet es. Ich wollte eine Familie, aber mein Mann will keine Kinder. Ich wollte gern zu Hause sterben, aber das gibt es ja jetzt nicht mehr, jetzt lebe ich im Altenheim. Die andauernden Veränderungen des Lebens schließen nichts aus, vom Banalen bis zum Existenziellen wird alles dem ewigen Wandel unterworfen. Nichts ist sicher, Leben ist ein stetes Ende und ein steter Anfang. Alles, was wir machen, machen wir zum letzten Mal so, weil wir beim nächsten Mal schon ein ganz anderer Mensch sind. Unser Bewusstsein und unser Körper verändern sich in jedem Augenblick. Unser biochemischer Haushalt, unsere Hormonlage, unsere Nerven und Muskeln, alles ist in ständiger Bewegung und Veränderung, in ständigem Austausch miteinander. Alle Sensoren und Rezeptoren in unserem Körper sind auf Senden und Empfangen eingestellt, sie nehmen wahr und stellen sich ein. Da dem Wandel und dem ewigen Ende und Anfang nichts entgegenzusetzen ist, scheint es sinnvoll, den Wandel zu akzeptieren. Machen wir das? Wandel bringt sowohl den Verfall als auch die Erneuerung. Wie halten es Menschen in hoch industrialisierten Gesellschaften mit dem eigenen körperlichen Verfall? Akzeptieren wir ihn oder halten wir dagegen? Achten wir alte Menschen für die potenzielle Weisheit oder scheuen wir ihren Anblick als lebendige Erinnerung an das Ende? Verzerrt das Dagegenhalten sowohl unsere Gesichter als auch den Blick auf die Wirklichkeit? Blicken wir in ewiger Angst vor Verfall und Tod wie hypnotisierte Kaninchen ewig auf das Neue? Kann uns das ewig Neue erlösen? Wenn dem so wäre, wäre jede moderne Gesellschaft eine Wohlfühl-Oase ohne Angst. In modernen Gesellschaften ist Leben eher in einer ängstlichen Gewinn-und-VerlustGleichung zu Hause als im ewigen Wandel des Endes und Anfangs. Wenn wir mit dem Leben handeln wollen, können wir das tun. Das Leben kann uns immer einen Strich durch die Rechnung machen.
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Wenn unser Kopf klar ist und wir die Welt nicht in Gewinne und Verluste teilen, sondern als Ganzes, stetiges Verändern wahrnehmen, werden die Übergänge zwischen den schmerzhaften oder schockierenden Lebensmomenten zu den schönen und friedvollen weicher und harmonischer. So oder so kommen wir am Wandel nicht vorbei. Vorschläge für die praktische Trauerbegleitung
Ein neuer Anfang. Zum Ende der Trauer muss dieser Anfang nicht gleichbedeutend mit einer neuen Beziehung sein. Es ist eine neue innere Haltung. Ziel der Übungen ist das Bewusstsein, wieder im Leben und nicht mehr nur in Trauer zu sein. Vorschlag 1: Frage an den Trauernden: »Wie sieht Ihr Neuanfang aus? Gibt es einen Herzenswunsch?« Vorschlag 2: Frage an den Trauernden: »Was sehen Sie, wenn Sie Ihr Leben sieben Jahre weiter denken? Beschreiben Sie das Bild. Sind Sie selbst in diesem Bild? Wenn nicht, gehen Sie in das Bild hinein. Sind da andere Menschen? Was hören, riechen, schmecken Sie?«
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Die Liebe und der Tod Sehr geehrte Damen und Herren, viele Freunde und Bekannte haben uns immer wieder nach dem Geheimnis unserer Liebe gefragt. Nach fünfzig Jahren Ehe waren wir so glücklich wie am ersten Tag. Und jetzt fragen mich viele: Wie machst du das? Jetzt, da Karl-Heinz tot ist. Trauerst du gar nicht? Doch, ich habe getrauert. Zwei Wochen hatten wir uns immer versprochen. Aber wissen Sie, wir können ja nicht um einen Zustand über Monate oder ein Leben lang traurig sein, der so vorhersehbar und unausweichlich ist, nicht wahr? Karl-Heinz hat ganz am Anfang gesagt: Hilde, wenn du vor mir stirbst, dann trauere ich zwei Wochen um dich, danach lebe ich mit deiner Liebe weiter. Und du machst das auch. Einverstanden? Und ich habe Ja gesagt und es war gut. Und so haben wir es immer gehalten. Vielleicht ist das ja ein Teil unseres Glücks. Wir haben immer Ja zueinander gesagt. Immer. Und wir haben immer miteinander geredet. Aber das tun viele andere ja auch. Ich glaube, das, was ich jetzt nach seinem Tod merke, ist, wie soll ich sagen, die Zeitlosigkeit oder Körperlosigkeit unserer Liebe. Wir hatten nun beide unsere Eltern früh verloren und waren also schon in jungen Jahren mit dem Tod vertraut. Und was wir halt immer gemacht haben, das war einfach, den Tod immer im Gepäck zu haben. Nicht auf so eine morbide Art, wissen Sie, wir waren ja immer sehr fröhlich. Aber ganz am Anfang, da haben wir viel über den Tod und das Sterben gesprochen, das war seltsam zuerst. Aber wenn Sie den Tod einmal richtig angesehen haben und wissen, was er macht, dann leben Sie einfach anders. Nach vielen, vielen Jahren hat mir mal eine Freundin erzählt, dass diese Art zu leben »gegenwärtig« heißt. War mir neu, aber ich lerne immer gerne dazu. Karl-Heinz und ich, wir haben immer überlegt, wenn einer jetzt stirbt, ist dann alles gut zwischen uns? Und irgendwann wurde es uns so selbstverständlich, immer gut miteinander umzugehen, so dass der Tod zwar da war, aber nicht mehr bedrohlich. Eher so, wie jeder Tag zu Ende geht, wissen Sie. Und dann sind Sie für jeden neuen Tag, an dem Sie aufwachen und einatmen, dank-
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bar. – Ist das klar oder rede ich Unsinn? Was ich meine, ist, wir wollten uns im Leben und nach dem Tod lieben, das Trauern wurde bei uns nicht großgeschrieben. Zwei Wochen war immer die Zeit, danach war gut. Und jetzt ohne Karl-Heinz ist es fast so, als ob er noch da wäre. Nein, ich sehe ihn nicht neben mir stehen, aber natürlich steht er jetzt da, auf eine Art und Weise, die ich nicht in Worte kleiden kann. Wir haben uns natürlich vorgestellt, wie es ist, in diesem Himmel. Wissen Sie, mein Karl-Heinz und ich, wir haben uns den Himmel auf Erden geschaffen und jetzt ist es mir nicht mehr so wichtig, ob meine Himmelsvorstellung für andere richtig oder falsch ist. Ich habe immer noch den Himmel auf Erden, weil ich jetzt, durch die Praxis des Todes weiß, dass Liebe kein Ende kennt …
Gruß vom Wörter-See Liebe kennen wir als großes Gefühl. Diese Liebe kann unser Herz entflammen. Wir können an dieser Liebe leiden und zerbrechen. Von dieser Liebe hören, lesen und sehen wir andauernd. Diese Liebe füllt unzählige Songs, Bücher, Filme und andere Ausdrucksformen unseres Geistes. Liebeskummer ist für viele Menschen der gewaltigste Kummer. Kennen wir Liebe auch als Zustand? Liebe als Gefühl ist gebunden. An einen Menschen, ein Lebewesen, ein Gegenstand, an eine bestimmte Situation, bestimmte Rahmenbedingungen. Liebe als Gefühl ist immer ein Tausch, ein Handel. Wir geben etwas und wollen etwas anderes dafür. Bewusst ist uns die Bedingung der Liebe als Gefühl nicht immer, fast immer aber leben wir danach. Liebe als Zustand ist frei. Sie ist an nichts gebunden, an keinen Menschen, an keine Situation und an keine Bedingung. Sie überwindet die Lücke zwischen dem Geben und Nehmen und dehnt sich dort aus. Das Sehnen nach Liebe ist ein Impuls, der zu Liebe als Zustand führen kann. Liebe als Zustand kommt nicht von außen, sondern ist jederzeit in uns. Wenden wir uns in unserer Suche nach innen, werden wir fündig, suchen wir im Außen, finden wir nichts. Die Entdeckung des Inneren ist die größte Entdeckungsreise, die wir unternehmen können. An keinem Ort der Welt finden wir die Liebe, die in
uns ruht. Solange wir einen anderen Menschen dazu brauchen, ist es die Liebe als Gefühl. Wenn wir uns auf uns selbst konzentrieren und immer wieder nach innen schauen, kann Liebe als Zustand erwachen, gelöst vom Tod, ein andauerndes wortloses Gebet.
Schlussbemerkung
Etwas von Hilde und Karl-Heinz ist in jedem Menschen. Wenn es da ist und leuchtet, fühlen wir uns manchmal fast magnetisch angezogen. Wenn wir der Liebe in Menschen begegnen, fühlen wir uns oft beschenkt oder wohl, geborgen oder erleichtert, inspiriert oder geheilt von kleinen oder großen Blessuren. Hilde und Karl-Heinz haben viele Namen und viele Gesichter. Sie leben auf ganz unterschiedliche Arten überall auf der Welt. Bürgerlich. Unbürgerlich. Unkonventionell. Konfessionell, unkonfessionell. Sie sind alt und jung, hell und dunkel, groß und klein, Männer und Frauen oder Hermaphroditen. Sie sind Kinder. Ein Kind ist ein guter Wegweiser zu Liebe als Zustand. Die Musik ist es auch. Es gibt viele Wegweiser. Die Gegenwart ist immer da, wir müssten nur mal kurz innehalten. Wenn ein Mensch gestorben ist, wünschen wir ihm manchmal: Ruhe in Frieden. Das ist auch für das Leben ein schöner Wunsch: rest in peace. Friede und Liebe vertragen sich ausgezeichnet, wo der eine ist, ist der andere nicht weit. Der Weg zu ihnen ist so individuell wie wir. Und immer geht der Weg zuerst nach innen. Der Tod ist der Punkt hinter dem Satz des Lebens. Ein Satz nach dem anderen. Bis alles gesagt ist.