Vater-Spuren-Suche: Auseinandersetzung mit der Vätergeneration in deutschsprachigen autobiographischen Texten von 1975 bis 2006 9783737001342, 9783847101345, 9783847001348


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Vater-Spuren-Suche: Auseinandersetzung mit der Vätergeneration in deutschsprachigen autobiographischen Texten von 1975 bis 2006
 9783737001342, 9783847101345, 9783847001348

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 13

Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte

Dominika Borowicz

Vater-Spuren-Suche Auseinandersetzung mit der Vätergeneration in deutschsprachigen autobiographischen Texten von 1975 bis 2006

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0134-5 ISBN 978-3-8470-0134-8 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine Dissertation, die im Dezember 2011 an der Philosophischen Fakultät II der Humboldt-Universität zu Berlin mit dem Gesamtprädikat magna cum laude verteidigt wurde. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Aus dem Privatbestand der Autorin: Meine Spurensuche in Lagos, Juli 2012 Portugal. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Moim Rodzicom: Barbarze und Waldemarowi Borowicz

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Väterliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Zur Gattung und Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

4. Die Motive des Suchens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

5. Zur Spur und Spurensuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

6. Spuren und ihre Medien in der Vatersuche . . . . . . . . . . . . . . .

133

7. Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche . . . . . . . . . . . .

187

8. Das Gefundene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

9. Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

269

Gespräche mit Autorinnen und Autoren Interview mit Ruth Rehmann . . . . Interview mit Sigfrid Gauch . . . . . Interview mit Hans Weiss . . . . . . Interview mit Martin Pollack . . . . . Interview mit Dagmar Leupold . . . . Interview mit Beate Niemann . . . . Interview mit Monika Jetter . . . . . Interview mit Jens-Jürgen Ventzki . .

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309 309 313 319 325 348 364 370 386

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393

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Danksagung

Bei meinem Doktorvater und Erstgutachter, Herrn Professor Erhard Schütz möchte ich mich für die Möglichkeit bedanken, diese Arbeit unter seiner freundlichen Leitung an der Philosophischen Fakultät II an der Humboldt Universität zu Berlin durchzuführen, sowie für die kritische Durchsicht bei der Abfassung der vorliegenden Schrift. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Professor Czesław Karolak für seinen Einsatz als Zweitgutachter dieser Arbeit und bei Herrn Professor Carsten Gansel für die fachlichen Ratschläge. Mein Dank gilt ebenso meinem ehemaligen Magistervater Herrn Professor Hubert Orłowski für die Anfangsbetreuung. Der Konrad-Adenauer-Stiftung und Herrn Doktor Detlev Preuße möchte ich ganz besonders danken. Ohne das Promotionsstipendium wäre die Arbeit an der Dissertation an der Humboldt Universität zu Berlin nicht möglich gewesen. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei den Autorinnen und Autoren: Sigfrid Gauch, Monika Jetter, Dagmar Leupold, (Kurt Meyer), Beate Niemann, Martin Pollack, Ruth Rehmann, Jens-Jürgen Ventzki und Hans Weiss, für deren Zeit, Bereitschaft und Offenheit, an den Interviews teilzunehmen, sowie für ihre geduldige Autorisierungsarbeit.

1. Einleitung

66 Jahre sind vergangen seit dem Zweiten Weltkrieg, seit dem Ende des Nationalsozialismus, seitdem die Welt vom Holocaust erfuhr. Seit dieser Zeit haben sich die Deutschen konsequent mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt und eine »politisch korrekte« Gedächtnispolitik angestrebt. Zahlreiche Diskussionen und Kontroversen brachten Deutschland schließlich auf den gegenwärtigen Stand des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit. Deutschland scheint einen angemessenen Weg der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sowie des Gedenkens gefunden zu haben, ohne dabei auf das eigene Nationalbewusstsein und Stolz auf die deutsche Identität verzichten zu müssen. Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹1 ist Teil der deutschen Identität geworden. Dieser lange Prozess der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ sowie der Etablierung der deutschen Gedächtnispolitik spiegelt sich indirekt in der deutschsprachigen Väterliteratur der Nachkriegszeit wieder. Der Begriff Väterliteratur bezeichnet Texte, in denen die Verstrickung der Väter in der Zeit des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der Söhne und Töchter ergründet wird. Die autobiographischen Texte, die aus persönlichen und offiziellen Dokumenten sowie privaten Erinnerungen zusammengestellt sind, werden in der Nachkriegszeit kontinuierlich veröffentlicht und zeigen somit an, dass die 1 Der diskutable Begriff »Vergangenheitsaufarbeitung« wird in der vorliegenden Arbeit im Sinne eines »zivilgesellschaftlichen Arbeitsprozesses«, eines »Arbeitsaufwands der Gesellschaft« unter Bezug auf Th. W. Adorno (Siehe: Adorno, Theodor W.: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? In: ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle. Frankfurt am Main 1971) bzw. Jürgen Habermas (Siehe: Habermas, Jürgen: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit heute? Bemerkungen zur »doppelten Vergangenheit«. In: Ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977 – 1992. Leipzig. 1992) benutz. Unter dem Begriff wird hier in erster Linie keine individuelle Auseinandersetzung mit der schuldhaften Vergangenheit gemeint, sondern die nachwirkende Bedeutung der Vergangenheit und der Umgang mit ihr in der Gegenwart auf der gesellschaftlichen Ebene (z. B. im Rahmen der Massenmedien, der Schulpädagogik, der Gedenkveranstaltung, der politischen Bildung, wissenschaftlicher, literarischer und politischer Öffentlichkeit, der Bürgerinitiative). Um die Differenzierung deutlich zu machen erfolgt eine Setzung des Begriffs in einfache Anführungszeichen.

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Einleitung

Auseinandersetzung mit der persönlichen und politischen Vergangenheit ein anhaltend aktuelles und Interesse weckendes Thema in der Öffentlichkeit darstellt. Ziel der vorliegenden Arbeit besteht in einer möglichst umfassenden Darstellung von Texten, die sich mit dem Terminus bzw. der Subgattung ›Väterliteratur‹ fassen lassen und die seit den 1970er Jahren bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem deutschsprachigen Büchermarkt erschienen sind. Dabei ist davon auszugehen, dass es gewissermaßen zwei Publikationswellen gab: eine erste Konjunktur von Texten ist Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre festzustellen, eine zweite nach der Jahrtausendwende (2003 – 2006). Weiterhin will die Arbeit einen Überblick über verschiedene Arten der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Elterngeneration sowie eine Übersicht über die Stationen der deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ nach 1945 geben. Von daher Zielt die Arbeit auf eine Gesamtdarstellung der Väterliteratur zwichen 1975 und 2006. Sie umfasst Vätertexte, die die Auseinandersetzung mit dem Vater sowohl im Sinne einer metaphorischen Suche, als auch in Form eines komplexen Verfahrens der Vater-Spuren-Suche realisiert. In literaturwissenschaftlichen Beiträgen wurden bisher primär einzelne Werke unter gesellschaftlich-geschichtlichem Aspekt, im Rahmen psychoanalytisch angesetzter Motivforschung sowie Gattungsanalyse bzw. im Rahmen der (Auto-)Biographieforschung behandelt. Zu den Standardwerken, die sich mit der Väterliteratur als einem literarischen Phänomen wissenschaftlich befasst haben, gehören unter anderem die Essaysammlung von Michael Schneider »Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke«2 (1981), die sich in ihrer Untersuchung auf deutschsprachige Texte aus dem Jahr 1977 bis 1980 konzentriert sowie Reinhold Grimms Publikation »Elternspuren, Kindheitsmuster. Lebensdarstellung in der jüngsten deutschsprachigen Prosa«3 (1982), die u. a. mit der Studie von Michael Schneider im Hinblick auf die Väterbücher polemisiert. Die seit den 1980er Jahren bis in das Jahr 2000 erschienenen wissenschaftlichen Beiträge4 zur 2 Schneider, Michael: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren. Darmstadt-Neuwied 1981. 3 Grimm, Reinhold: Elternspuren, Kindheitsmuster. Lebensdarstellung in der jüngsten deutschsprachigen Prosa. In: Grimm, Reinhold/Hermand, Jost (Hrsg.): Vom Anderen und vom Selbst. Beiträge zu Fragen der Biographie und Autobiographie. Königstein/Ts. 1982. 4 Ermert, Karl/Striegnitz, Brigitte (Hrsg.): Deutsche Väter. Über das Vaterbild in der deutschen Gegenwartsliteratur. Tagung vom 20. bis 22. Februar 1981 [Rehburg]. In: Loccumer Protokolle 6/1981; Faulstich, Werner/Grimm, Gunter E. (Hrsg.): Sturz der Götter? Vaterbilder im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1989; Türkis, Wolfgang: Beschädigtes Leben. Autobiographische Texte der Gegenwart. Stuttgart 1990; Gehrke, Ralph: Literarische Spurensuche. Elternbilder im Schatten der NS/Vergangenheit. Opladen 1992; Mauelshagen, Claudia: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre.

Einleitung

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Väterliteratur, u. a. von Wolfgang Türkis, Claudia Mauelshagen, Uvanovic Zˇeljko, Ralph Gehrke setzen sich grundsätzlich mit der Vatersuche sowie den Väterbildern der 1970 und 1980 Jahre auseinander, u. a. unter dem Aspekt der Abwesenheit des Vaters, der 68er-Generation, der autobiographischen Darstellung sowie des Vater-Sohn-Konflikts bzw., wie Regula Venske5 mit Männerbildern sowie der Vater-Tochter-Beziehung in der deutschsprachigen Väterliteratur von Frauen aus den 1970er und 1980er Jahren. Die vorliegende Arbeit hingegen untersucht die Väterliteratur des Zeitraums von 1975 bis hin zum Jahr 2006 in wissenschaftlich interdisziplinärem Kontext und deckt ein viel breiteres thematisches Spektrum ab. Dabei bietet sie zusätzlich als einen ergänzenden Teil Interviews mit Autoren der Väterbücher, die speziell für diese Arbeit durchgeführt wurden. Den Autoren wurden dieselben Fragen gestellt, die im Fokus dieser Studie und deren Auseinandersetzung mit den Vätertexten stehen. Damit wurde Ruth Rehmann, Sigfrid Gauch, Hans Weiss, Martin Pollack, Dagmar Leupold, Beate Niemann, Monika Jetter und Jens-Jürgen Ventzki6 in der Arbeit ihre persönliche Stimme gegeben, die für Objektivierung und Multiperspektivität sorgt und die These der Studie unterstützt, dass jede Vater-Spuren-Suche trotz ähnlicher Strukturmerkmale vom individuellen Charakter der jeweiligen Vater-Kind-Beziehung und deren persönlichen Auseinandersetzungsgeschichte geprägt wird. Die Texte, die aufgrund ihrer engen Verknüpfung mit dem Thema des Nationalsozialismus ein Phänomen des deutschsprachigen Raumes sind, wurden für diese Arbeit im Hinblick auf vier Kriterien ausgewählt: den autobiographischen Charakter der Texte, die Verstrickung der Väter in der Zeit des Nationalsozialismus bzw. des Zweiten Weltkriegs, die Korrelation von Fiktion und Faktizität sowie den Akt der Vater-Spuren-Suche, der jedes dieser Werke – auf durchaus unterschiedliche Weise – strukturiert. So wird das Verfahren der VaterSpuren-Suche in seiner ganzen Komplexität und Interdisziplinarität analysiert. In der Herangehensweise werden auch Erkenntnisse aus anderen Disziplinen (z. B. aus der Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Philosophie, kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung) berücksichtigt, um mit ihrer Hilfe die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Väterliteratur zu erforschen. Frankfurt am Main 1995; Zˇeljko, Unovic: Söhne vermissen ihre Väter. Misslungene, ambivalente und erfolgreiche Vatersuche in der deutschsprachigen Erzählprosa nach 1945. Marburg 2001. 5 Venske, Regula: Mannsbilder – Männerbilder. Konstruktion und Kritik des M ä nnlichen in zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur von Frauen. Hildesheim [u.a.] 1988. 6 Der Text »Seine Schatten, meine Bilder. Eine Spurensuche« (2011) von Jens-Jürgen Ventzki ist ein neues Vaterbuch auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt. Da die Doktorarbeit vor der Veröffentlichung des Buches abgeschlossen wurde, konnte sie den Text nicht mehr in die Analyse einbeziehen. Das Vaterbuch beweist aber, dass die Vater-Spuren-Suche im deutschsprachigen Kuturraum längst noch nicht abgeschlossen ist.

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Einleitung

Hierzu ermöglichen der thematische und interdisziplinäre Zugang sowie das komparative Vorgehen die Komplexität der jeweiligen Problemstellung in ihrer Breite und Tiefe zu erfassen. Die Untersuchung verläuft dabei auf zwei Ebenen: der inner- und außertextlichen. Auf der Textebene wird schrittweise die Rekonstruktion der VaterSpuren-Suche aus der Perspektive von Erzählfiguren durchlaufen: angefangen mit den Motiven des Suchens, den hinterlassenen und verfolgten Spuren und deren Medien, über den eigentlichen, theoretisch angesetzten Re-/Konstruktionsprozess der Lebensgeschichte der Väter und der Bewältigung der entstandenen Lebenslauf-Lücken, bis hin zu Ergebnissen der Suche. So wird die VaterSpuren-Suche bzw. der Rekonstruktionsprozess in seinen einzelnen Phasen analysiert. Das Kapitel »Die Motive des Suchens« erforscht anhand von psychologischen Erkenntnissen die Lebensumstände sowie Gründe, welche die Erzählfiguren zur Vatersuche bewegt haben. Dazu zählen sowohl die Unfähigkeit zu trauern, die Vaterentbehrung als auch unterschiedliche Arten von Schweigen. Demzufolge geraten die Mythos- bzw. Legendenbildung sowie Tabuisierung im Rahmen des Familiengedächtnisses und der Generationenkonflikt ins Zentrum der Untersuchung. Ferner werden im Kapitel »Spuren und ihre Medien in der Vatersuche« diverse für die Vatersuche spezifische Spuren mit deren Medien identifiziert und besprochen. Die Hinterlassenschaft des Vaters in Form von Texten (das Schriftliche und Mündliche), Bildern und Erinnerungen wird u. a. anhand von Konzepten der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung und der Oral History untersucht. Infolge der Spurenverfolgung werden im Kapitel »Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche«, am Beispiel von Primärtexten die einzelnen Etappen der mentalen und formalen Rekonstruktion, u. a. unter dem Aspekt der biographischen Sinngebung, Kontingenz und Kausalität analysiert, wobei Parallelen im Rekonstruktionsverfahren sowie in der Konstruktion der Vater-Erklärungskonzepte aufgezeigt werden. Letztendlich werden im Kapitel »Das Gefundene« die Suchergebnisse und die psychotherapeutische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf der Textebene ausgewertet sowie die Objektivität der historischen Wahrheit diskutiert. Auf der theoretischen, außertextlichen Ebene der Analyse werden zusätzlich die Väterbücher komparativ im Hinblick auf ihre kulturgesellschaftliche Prägung und Akzentsetzung sowie den Einfluss des politischen Zeitgeschehens untersucht. Es wird sowohl die persönliche Beziehung zum Vater als auch die deutsche Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus zeitlicher Distanz im sozialpolitischen Kontinuum erforscht. Hier wird die Väterliteratur durch die enge Verbindung der Literatur mit der deutschen Zeitgeschichte als wichtiger literarischer Beitrag zur deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ betrachtet. Sie vermittelt historische Fakten am Beispiel privater Geschichten, in der sich die große Geschichte mit ihren Brüchen und Konti-

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nuitäten erkennen lässt. So bildet die Verbindung von Fiktion und Faktizität im Rahmen der modernen (Auto-)Biographik und Erinnerungsliteratur den Untersuchungsgegenstand des Kapitels »Zur Gattung und Komposition«. Dabei wird auch auf die problematische gattungsspezifische Klassifizierung der jeweiligen Texte hingewiesen, da sich mehrere Texte aufgrund von mehreren Schlüsselmerkmalen den klassischen Gattungen nicht eindeutig zuordnen lassen. Trotz der immer neuen literarischen Verarbeitung bzw. Darstellung der Auseinandersetzung mit dem Vater, bleibt für die Vater-Spuren-Suche eine Puzzle-Komposition charakteristisch, die es erlaubt, in die Erzählprosa u. a. Dokumentenkopien, Tagebucheinträge, Briefausschnitte, Gedichte, Liedertexte, Zeitungsartikel etc. einzuflechten, wodurch die Gattungshomogenität gesprengt wird. Die vorliegende Zusammenstellung und Analyse der ausgewählten Vätertexte erlaubt zudem die Hauptmerkmale der Texte herauszuarbeiten, die ihren Status als Väterliteratur begründen. Damit skizziert die Arbeit die Entwicklung der Väterliteratur nach 1945 sowohl auf der Konstruktions- als auch der Inhaltsebene, die u. a. den Übergang von der Vatersuche der 1970er und 1980er Jahre zur Vater-Spuren-Suche nach der Jahrtausendwende sichtbar macht. Die hier festgestellte Entwicklung geht mit einem viel breiteren Verständnis der Spur von unterschiedlichen Medien einher, der aufgrund ihrer Mannigfaltigkeit eine größere Bedeutung in der Vatersuche beigemessen wird. Während in den Texten der ersten Publikationswelle die Vergangenheit der Väter grundsätzlich anhand von eigenen Erfahrungen bzw. von Erinnerungen des autobiographischen Gedächtnisses sowie von Ego-Dokumenten des Vaters ergründet wurde, wird im Falle der Vätertexte der Nachwendezeit genauso stark die vermittelte Erfahrung d. h. das kommunikative Gedächtnis (das Familiengedächtnis miteingeschlossen) sowie recherchiertes Bild- und Dokumentenmaterial mitberücksichtigt. So werden im Kapitel »Zur Spur und Spurensuche« sowohl die Spur als auch das Verfahren der Spurensuche disziplinübergreifend dargestellt. Dieser Paradigmenwechsel wirkt sich ebenfalls auf den Vorgang der Re-/ Konstruktion der Vergangenheit aus, der in den Väterbüchern seit der Jahrtausendwende viel bewusster durchgeführt wird und diese mit seinen unterschiedlichen Medien vorantreibt. Das Verfahren selbst wird im Sinne der Möglichkeit der Wahrheitsannährung reflektiert. Dies veranschaulicht eine noch engere Verbindung von Literatur und Zeitgeschichte, die u. a. durch die Form der Auseinandersetzung mit dem Vater, der Vater-Spuren-Suche, betont wird. Sie impliziert das kontrastive Vorgehen eines Historikers, der die im Rahmen der rekonstruierten Geschichte entstandenen Lücken mit recherchierten Informationen und Fakten auszugleichen sucht, indem er mehrere unterschiedliche Quellen heranzieht, sie miteinander vergleicht, ergänzt und ersetzt. Damit beschreibt die vorliegende Studie die Etablierung einer neuen

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Einleitung

literarischen Form der Auseinandersetzung mit der schuldhaften Vergangenheit, die nach der Jahrtausendwende immer öfter auch in den sog. Mütter- und Elternbüchern angewandt wird. Die vorliegende Arbeit versucht das Phänomen der Väterliteratur zu erfassen, indem sie darauf hinweist, wie die Texte von den Einflüssen des damaligen politischen Zeitgeschehens, den kulturwissenschaftlichen Strömungen, öffentlich-gesellschaftlichen Debatten sowie Entwicklungen aus anderen Wissenschaftsbereichen im Verlauf der Jahrzehnte unterlagen. Sowohl thematisch als auch strukturell lassen sich an den Texten Spuren des Mainstreams in der aktuellen wissenschaftlichen Forschung sowie des öffentlichen Geschehens erkennen. Die erste Publikationswelle wurde viel deutlicher durch Impulse aus dem soziologischen Bereich geprägt und ist daher im Kontext des Aufstands gegen die Väter und des Generationenkonflikts auf der sozialen Ebene zu betrachten, wogegen der Vater in den Texten nach der Jahrtausendwende, trotz seiner als repräsentativ für die Generation gesehenen Rolle, sehr individuell behandelt wird. Die jüngsten Väterbücher werden durch neue Erkenntnisse aus dem Bereich der Psychologie, wie der Traumaforschung sowie der Forschung zur Kriegskindergeneration und der im weiteren Sinne verstandenen Abwesenheit des Vaters beeinflusst. Davor wurden die Texte durch die Forschung zu Täterkindern und Holocaust geprägt. Neben den Täterkindern, tritt nun eine weitere Erinnerungsgruppe, die Kriegskindergeneration, auf. Zusätzlich durch den Einfluss der historischen Forschung, die der Frau nun ebenfalls eine aktive politische Rolle im Nationalsozialismus zuschreibt, wird die Bedeutung der Mutter z. B. hinsichtlich der Mythisierung und Tabuisierung der Vergangenheit in der familiären Konstellation deutlicher gemacht. So ist für die Texte der ersten Publikationswelle das Leben mit einem Vatermythos, der grundsätzlich durch dessen Schweigen oder Kriegserzählungen von ihm selbst kreiert wird, zu beobachten, während in den späteren Texten die Söhne und Töchter es eher mit der Tradierung der Vaterlegende als einer Koproduktion aller Familienmitglieder zu tun haben. Während die Texte der 1970er und 1980er Jahre weitgehend den Einfluss der »Neuen Subjektivität« aufzeigen, ist nach der Jahrtausendwende eine authentizitätsorientierte Entwicklung zu beobachten. Die Studie konturiert, dass die früheren Väterbücher sich viel intensiver als die neusten Texte mit der Frage nach der eigenen Identität beschäftigten. Daher rührt auch die emotionalisierte und kompromisslose Abrechnung mit dem Vater, die viel stärker im Kontext der Abgrenzung vom nationalsozialistischen Erbe der Väter behandelt wurde. In der neusten Väterliteratur findet dagegen kein Bruch mit der Vergangenheit statt, sondern es werden Kontinuitätslinien sowohl auf der persönlichen als auch historischen Ebene gezogen. Die Auseinandersetzung mit dem Vater erfolgt mehr im generationellen Zusammenhang, wodurch sie grundsätzlich als Dialog

Einleitung

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zwischen Generationen und als Versuch einer Versöhnung mit der Vergangenheit zu verstehen ist. Diese distanziertere Einstellung wurde vor allem durch einen größeren zeitlichen Abstand und die persönliche Erfahrung der Söhne und Töchter durch die Post-68er-Perspektive erreicht, die ihre eigene Identität nun unabhängig von der 68er-Generation nicht mehr zu verteidigen sieht. Diese Generation hat mittlerweile ihre sichere und ausgewogene Position im öffentlichen Diskurs gefunden. Es ist wohl die letzte literarische Wortmeldung dieser Generation von Söhnen und Töchtern, die sich im Gegenteil zu den Vertretern der ersten Welle erst nach 30 Jahren mit ihrer Auseinandersetzung mit dem Vater in der Öffentlichkeit positioniert und damit auch das Schlusswort ihrer Generation in den Väterbüchern formuliert. Die vorliegende Arbeit versucht an einem spezifischen Aspekt den Übergang des kommunikativen Gedächtnisses ins kulturelle darzustellen, und zeigt, wie sich der Inhalt und die Art der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Vater – sowie mit der deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ innerhalb von Jahren verändert hat. Die Texte werden als Sprachrohr ihrer Zeit verstanden, ihr Narrativ und Darstellungsweise als ein Spiegelbild der Zeitgeschichte. So machen vor allem die Kapitel »Väterliteratur« und »Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche« auf die Spuren der Gedächtnispolitik in den neusten Väterbüchern aufmerksam, in deren Narrativ bzw. Rhetorik ein Paradigmenwechsel, u. a. im offiziellen Umgang mit der Opferfrage sichtbar wird, der aus dem Kompromiss zwischen der privaten und offiziellen Perspektive resultiert. Die Studie veranschaulicht, dass die Texte kollektiv den Weg der deutschen Auseinandersetzung mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges nach 1945 sowohl in persönlicher als auch gesellschaftlicher Dimension skizzieren. Sie setzt sich mit dem Phänomen der Väterliteratur als einem literarischen Beitrag zur deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ auseinander, die durch ihre transgenerationelle Verankerung sowie die Perspektive von unten zum Verständnis des jeweils individuellen Verhaltens jenseits von Pauschalisierungen beiträgt, indem sie zwischen Gut und Böse, Schwarz und Weiß die Schattierungen herausarbeitet und erkennen lässt. Damit schreiben sich die Vätertexte in das Verständnis der Demokratie ein: Mit dem persönlichen Recht auf eine eigene individuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, bieten sie zugleich kollektiv eine Vielstimmigkeit, die mehrere subjektive Wahrheiten impliziert und übernehmen gleichzeitig stellvertretend für die Väter die Verantwortung für ihre Vergangenheit.

2. Väterliteratur Mein Leben lang wollte ich mich an meinen Vater erinnern. Ich konnte es nicht. Es war da etwas nach seinem Tod, das heute noch wehtut. Ein Geheimnis? Ich wusste, eines Tages kommt es zu mir zurück.7

Unter der Bezeichnung »Väterbücher« versteht man autobiographische Texte der Erinnerungsliteratur8, in denen sich die Autoren mit der Verstrickung ihrer Väter in der Zeit des Nationalsozialismus bzw. des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzen. Die Texte verstehen sich in der Regel als persönlicher Beitrag zur deutschen Geschichtsaufarbeitung im Rahmen des kulturell-gesellschaftlichen Gedächtnisdiskurses. Sie vermitteln historische Fakten am Beispiel persönlicher, privater Geschichten, in denen sich die große Geschichte mit ihren Brüchen und Kontinuitäten erkennen lässt. Die Väterliteratur ist auf dem deutschsprachigen9 Büchermarkt seit der Mitte der 1970er Jahre bis in die Gegenwart durchgehend häufig vertreten. Dieses anhaltende Interesse an den Väterbüchern liegt darin begründet, dass es einerseits immer neue Variationen der literarischen Darstellung gab, andererseits die Auseinandersetzung mit der schuldhaften Vergangenheit auf politisch-gesellschaftlicher und persönlicher Ebene immer bedeutsamer wurde. Dabei lassen sich zwei zeitliche Publikationswellen festmachen, in denen es zu einer hohen Auflage von Väterbüchern kam: Die Väterliteratur gewann besonders 7 Ligocka, Roma: Die Handschrift meines Vaters. Verräter oder Held? – Ein Jahr der Suche. München 2007, S. 7. 8 Siehe zur Problematik und zum Genre der Erinnerungsliteratur sowie zur Bedeutung von »Post memory«: Gansel, Carsten: Formen der Erinnerung in deutschsprachiger Literatur nach 1989. In: Gansel, Carsten/Zimniak, Pawel (Hrsg.): »Das Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2009, S. 17 – 34. (Reihe: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien. Hrsg. von Carsten Gansel und Hermann Korte, Bd. 3). 9 Damit sind vor allem die Werke der bundesdeutschen und österreichischen Autoren gemeint. Einer der wenigen DDR-Autoren, der sich literarisch mit der NS-Väter(-Generation) in den 1970 und 1980 Jahren auseinandergesetzt hatte, war Klaus Schlesinger mit dem Text »Michael« (Schlesinger, Klaus: Michael. Rostock 1971) [in der Schweiz 1972 unter dem Titel »Capellos Trommel« erschienen]. Zur Auseinandersetzung mit dem »DDR-Vater« dagegen sind u. a. die Texte von: Boom, Pierre: Der fremde Vater. Der Sohn des Kanzlerspions Guillaume erinnert sich. Berlin 2004 sowie Havemann, Florian: Havemann. Frankfurt am Main 2007 bekannt.

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Väterliteratur

Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre an Bedeutung. In den 1970er Jahren erschienen die ersten bekannten Texte10 : von dem österreichischen Schriftsteller Peter Henisch »Die kleine Figur meines Vaters«11 (1975), von Bernward Vesper »Die Reise«12 (1977) sowie von Paul Kersten »Der alltägliche Tod meines Vaters«13 (1978). Die Werke, die im Jahr 1979/1980 erschienen sind, markieren den Beginn der ersten Väterbücherwelle: 1979 veröffentlichen Ruth Rehmann »Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater«14, Sigfrid Gauch »Vaterspuren. Eine Erzählung«15 und ein Jahr später Christoph Meckel »Suchbild. Über meinen Vater«16, Peter Härtling »Nachgetragene Liebe«17, Günter Seuren »Abschied von einem Mörder«18, Barbara Bronnen »Die Tochter«19 und die österreichische Schriftstellerin Brigitte Schwaiger »Lange Abwesenheit«20. Zwar werden auch weiterhin ähnliche Texte publiziert, z. B. 1986 »Ordnung ist das ganze Leben. Vaterroman«21 von Ludwig Harig, 1987 »Der Vater. Eine Abrechnung«22 von Niklas Frank, 1998 »Geweint wird, wenn der Kopf ab ist. Annäherungen an meinen Vater –›Panzermeyer‹, Generalmajor der Waffen-SS«23 von Kurt Meyer oder 1999 »Requiem für einen Vater«24 von Ulrich Kadelbach, doch treten solche Publikationen in diesen Jahren eher sporadisch auf. Die literaturwissenschaftlichen Studien zu Väterbüchern beschränken sich häufig eher auf die 1970er bis 1980er Jahre und analysieren die Werke nach wie vor unter Verwendung von psychoanalytischen Paradigmen, beispielsweise dem Ödipuskomplex oder dem historisch-gesellschaftlichen Kontext des Generationenkonflikts. Die zweite Publikationswelle von Väterliteratur beginnt mit dem Jahr 2003. In den darauf folgenden Jahren werden, u. a. die Texte von: Uwe Timm »Am Beispiel meines Bruders« (2003)25, Wibke Bruhns »Meines Vaters 10 Es werden hier Texte exemplarisch angeführt, um die Kontinuität der Publikationen im deutschsprachigen Raum vorzuzeigen, dies geschieht ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Auflistung. 11 Henisch, Peter : Die kleine Figur meines Vaters. Roman. Frankfurt am Main 1975. 12 Vesper, Bernward: Die Reise. Romanessay. Jassa 1977. 13 Kersten, Paul: Der alltägliche Tod meines Vaters. Erzählung. Köln 1978. 14 Rehmann, Ruth: Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater. München 1979. 15 Gauch, Sigfrid: Vaterspuren. Eine Erzählung. Königstein 1979. 16 Meckel, Christoph: Suchbild. Über meinen Vater. Düsseldorf 1980. 17 Härtling, Peter : Nachgetragene Liebe. Darmstadt 1980. 18 Seuren, Günter : Abschied von einem Mörder. Erzählung. Reinbek bei Hamburg 1980. 19 Bronnen, Barbara: Die Tochter. Roman. München 1980. 20 Schwaiger, Brigitte: Lange Abwesenheit. Wien/Hamburg 1980. 21 Harig, Ludwig: Ordnung ist das ganze Leben. Roman meines Vaters. München 1986. 22 Frank, Niklas: Der Vater. Eine Abrechnung. München 1987. 23 Meyer, Kurt: Geweint wird, wenn der Kopf ab ist. Annährungen an meinen Vater – »Panzermeyer«, Generalmajor der Waffen-SS. Freiburg 1998. 24 Kadelbach, Ulrich: Requiem für einen Vater. Stuttgart 1999. 25 Der Text von Uwe Timm ist hier als Ausnahmefall zu verstehen, da im Zentrum des Werkes der große Bruder der Erzählfigur und nicht der Vater selbst steht. Im Zuge der Auseinan-

Väterliteratur

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Land. Geschichte einer deutschen Familie«26 (2004), Monika Jetter »Mein Kriegsvater. Versuch einer Versöhnung«27 (2004), Dorothee Schmitz-Köster »Der Krieg meines Vaters. Als deutscher Soldat in Norwegen«28 (2004), von dem Österreicher Martin Pollack »Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater«29 (2004), Dagmar Leupold »Nach den Kriegen«30 (2004), Hans Weiss »Mein Vater, der Krieg und Ich«31 (2005), Beate Niemann »Mein guter Vater. Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täter-Biographie«32 (2005), Roma Ligocka »Die Handschrift meines Vaters. Verräter oder Held? – Ein Jahr der Suche«33 (2005), Ute Althaus »NS-Offizier war ich nicht. Die Tochter forscht nach«34 (2006), Ute Scheub »Das falsche Leben. Eine Vatersuche«35 (2006) und zuletzt von JensJürgen Ventzki »Seine Schatten, meine Bilder. Eine Spurensuche«36 (2011) veröffentlicht.37 Damit gewann der Forschungsbereich zu den Väterbüchern eine neue Dimension, die weitere Untersuchungsmöglichkeiten bietet. Im Rahmen der ersten Väterbücherwelle haben sich hauptsächlich die Söhne zu Wort gemeldet. Die Sekundärliteratur hat die geschlechtsspezifische Perspektive38 noch stärker konturiert, indem sie sich vor allem auf dem Vater-SohnKonflikt konzentrierte und diesen auf das theoretische Erklärungsmuster vom

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dersetzung mit dem Bruder wird aber gleichzeitig, die mit dem Vater vorgenommen, der einen enormen Einfluss auf alle Familienmitglieder ausgeübt hat. Die Auseinandersetzung mit dem Bruder bietet den Zugang zur Auseinandersetzung mit der Figur des Vaters. Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003. Bruhns, Wibke: Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie. Berlin 2004. Jetter, Monika: Mein Kriegsvater. Versuch einer Versöhnung. Hamburg 2004. Schmitz-Köster, Dorothee: Der Krieg meines Vaters. Als deutscher Soldat in Norwegen. Berlin 2004. Pollack, Martin: Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater. Wien 2004. Leupold, Dagmar : Nach den Kriegen. Roman eines Lebens. München 2004. Weiss, Hans: Mein Vater, der Krieg und ich. Köln 2005. Niemann, Beate: Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täter-Biographie. Teetz 2005. Ligocka, Roma: Die Handschrift meines Vaters. Verräter oder Held? – Ein Jahr der Suche. München 2007. Althaus, Ute: NS-Offizier war ich nicht. Die Tochter forscht nach. Gießen 2006. Scheub, Ute: Das falsche Leben. Eine Vatersuche. München 2006. Ventzki, Jens-Jürgen: Seine Schatten, meine Bilder. Eine Spurensuche. Innsbruck 2011. Andere Werke zur Thematik: Day, Ingeborg: Geisterwalzer. Salzburg 1983; Kessler, Matthias: Ich muss doch meinen Vater lieben, oder? Frankfurt am Main 2002; Breznik, Melitta: Das Umstellformat. Erzählung. München 2002; Welsch, Marion: Sprich mit mir. Auf der Suche nach der Vergangenheit meiner Familie. München 2003; Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder. Roman. München 2003; Medicus, Thomas: In den Augen meines Großvaters. München 2004; Schirach, Richard von: Der Schatten meines Vaters. München 2005; Senfft, Alexandra : »Schweigen tut weh.« Eine deutsche Familiengeschichte. Berlin 2007. Solche Unterscheidung findet sich beispielsweise bei Durzak, Manfred: Nach der Studentenbewegung. Neue literarische Konzepte und Erzählentwürfe in den siebziger Jahren. In Barner, Wilfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 1994, S. 602 – 659.

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Ödipuskomplex im Sinne Erich Fromms zurückführte. Im Zentrum seiner Auslegung befindet sich nicht die freudianische sexuelle Wunschbeziehung zwischen Mutter und Sohn, sondern das Konkurrenzverhältnis bzw. der Kampf gegen den Vater, vor allem auf der sozialen Ebene, der sehr stark im Verhältnis zwischen den heimgekehrten Vätern und ihren Söhnen (oft späteren Wortführern der 68er Bewegung) im Nachkriegsdeutschland zum Ausdruck kam. In der Auflehnung gegen die Autorität sowie patriarchalische Stellung des Vaters in der Familie und Gesellschaft äußerte sich die Identitätssuche der Söhne, deren psychische Entwicklung durch die Abwesenheit des Vaters lange beeinträchtig war. Zwar haben auch in den 1970er und 1980er Jahren Autorinnen publiziert, doch ihre Werke wurden im Zuge der literarischen »Intimisierung« häufiger im Rahmen der Frauenliteratur analysiert und ihr Aufstand gegen die Väter mehr als Ausdruck der sexuellen Emanzipation39 denn als Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Vaters interpretiert. Dagegen ergreifen bei den neusten Veröffentlichungen überwiegend die Töchter das Wort, die ihre beschädigte Vater-Kind-Beziehung grundsätzlich im Kontext der Vaterlosigkeit und des Generationenkonflikts analysieren. Die Differenzen zwischen den zwei Publikationswellen können nur teilweise auf die Generationenzugehörigkeit der Autoren zurückgeführt werden, da Autoren derselben Alterskohorte zu unterschiedlichen Zeitpunkten publiziert haben. So veröffentlichen beispielsweise Peter Härtling (Jahrgang 1933) und Christoph Meckel (Jahrgang 1935) im Jahr 1980, während Wibke Bruhns (Jahrgang 1938) erst nach der Jahrtausendwende ihren Vatertext publiziert. Ähnlich Peter Henisch (J. 1943) und Sigfrid Gauch (J. 1945), die ihre Bücher circa 20 Jahre früher veröffentlichen als die Vertreter und Vertreterinnen derselben Generation: Monika Jetter (J. 1940), Uwe Timm (J. 1940), Beate Niemann (J. 1942) und Martin Pollack (J. 1944). Dabei kann man am Beispiel von Peter Henisch und Martin Pollack beobachten, dass diese Unterschiede ebenfalls österreichische Autoren betreffen. Viel entscheidender für den Zeitpunkt der Veröffentlichung erweist sich hier die Bereitschaft sich auf die Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater und den Familientabus einzulassen. Der Zeitpunkt, in dem die jeweilige Lebensgeschichte literarisch bzw. therapeutisch verarbeitet wird, ist individuell bedingt. Zudem wird die Väterliteratur zusätzlich von der Generation der Nachkriegskinder vertreten, z. B. Hans Weiss (Österr.; 1950), Dagmar Leupold (1955), Ute Scheub (1956), die über keine eigenen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus verfügen (kann). Sowohl bei den Kriegskindern als auch bei den nach 1950 Geborenen erweist sich die emotionale Bindung mit der Elterngeneration trotz fehlender direkter

39 Als Beispiele sind hier die Werke von Ruth Rehmann oder Brigitte Schwaiger zu nennen.

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Kriegserfahrung als präsent.40 Die Identifikation mit den Eltern erfolgt im Rahmen der diachronen Übertragung von unverarbeiteten Schuldgefühlen und ungelösten Konflikten, die von Christian Schneider mit dem psychoanalytischen Begriff des »Konformitätscontainers« bezeichnet wird.41 Ulrike Jureit zufolge kann die für die »Erlebnis-Generation« typische Symptomatik auch die zwei folgenden Generationen betreffen, da es sich nicht um das Kriegserlebnis als Ereignis selbst, das generationell aufgeladen wird, handelt, sondern um seine Verarbeitung und Deutung.42 Nach Aleida Assmann und Ute Frevert war es gerade die Generation, »die selber über keinerlei biographische Erfahrungen des NS verfügte«, die durch die Auseinandersetzung mit der Tätergeneration zum persönlichen Charakter der Erinnerungen an die nationalsozialistische Vergangenheit beigetragen hat.43

Väterliteratur im Mainstream Die untersuchten Texte und ihre Problematik scheinen daher weniger von Geschlecht sowie Generationalität der Autoren als vom aktuellen Mainstream beeinflusst worden zu sein. Dies wird vor allem am Beispiel der Texte der Nachwendezeit sichtbar, in denen sich neue Impulse aus den Forschungsbereichen der Literaturwissenschaft (die Authentizitätserzeugung) und Psychologie bzw. Psychotherapie (Kriegstraumatisierung und Kriegskindergeneration) erkennen lassen.

Authentizitätserzeugung Die Väterbücher der 1970er und 1980er Jahre weisen weitgehend den Einfluss der sogenannten »Neuen Subjektivität«44 auf. In den 1990er Jahren und dann im Jahr 2000 lässt sich mit jedem weiteren Werk eine authentizitätsorientierte Entwicklung beobachten, die ihren Höhepunkt mit Beate Niemanns Bericht »Mein guter Vater«45 erlangt, deren Vaterspurensuche nachfolgend ebenfalls als 40 Vgl. Jureit, Ulrike: Generationenforschung. Göttingen 2006, S. 76 f. 41 Vgl. Ebd., S. 76 f. Siehe dazu: Schneider, Christian: Noch einmal Geschichte und Psychologie. Generationengeschichte als Modell psychohistorischer Forschung. Teil 1. In: Mittelweg 36. Heft 6/1997, S. 83 – 92. 42 Ebd., S. 48. 43 Assmann Aleida, Frevert Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 291. 44 Siehe dazu: Mauelshagen, S. 85 – 92. 45 Niemann, Beate: Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täter-Biographie. Teetz 2005.

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Dokumentarfilm fixiert wird und damit dem Text zusätzlich Glaubwürdigkeit verschafft. Die neuen Texte der Väterliteratur schreiben sich viel stärker in die Konjunktur des Authentischen ein. Die Autoren bedienen sich in der Darstellungsweise Strategien der Authentizitätserzeugung, indem sie in die Texte neue wissenschaftliche Erkenntnisse einbringen, die an gegenwärtige Weltereignisse (z. B. an den Krieg im Irak und Afghanistan, an den 11. September) sowie politisches Zeitgeschehen anknüpfen. Die Werke erhalten Züge eines wissenschaftlichen Textes: Es werden Autoren von historischen, soziologischen und psychologischen Standardwerken zitiert und Quellen auch in Form einer Bibliographie angegeben. Zusätzlich, durch den Trend der Zeitzeugenbefragung beeinflusst, werden Recherchen, Dokumente sowie andere authentische Zeugnisse in die Erzählebene eingebracht. Oft werden Fotografien und Dokumente abgelichtet oder der Text als Bericht konstruiert, um das Persönliche mit Fakten zu belegen. Die Texte präsentieren einen individuell verankerten Zugang zum Historischen und tragen somit ihren Teil zur deutschen Gedächtniskultur bei. Sie bieten durch die (in-)direkte Zeugenschaft eine Betrachtung des Nationalsozialismus bzw. des Zweiten Weltkrieges von unten46 und korrespondieren damit mit der »Letztmaligkeits-These« Reinhart Kosellecks. Diese ist angesichts des Schwindens der Augenzeugengeneration als Warnung vor unpersönlicher Geschichtswahrnehmung und -schreibung zu verstehen: »Bald schon, […] werde aus der ›erfahrungsgesättigten, gegenwärtigen Vergangenheit der Überlebenden … eine reine Vergangenheit‹, ohne Erfahrung, ohne Empirie, ohne ›politisch-existentiellen Bezug‹.«47 Die Zeitzeugenperspektive gewinnt seit den 1980er Jahren durch zunehmend populär werdenden Zeitzeugenseminare, -tagungen, -konferenzen, -selbsterfahrungsgruppen, -Medien-Dokumentationen und -Textpublikationen sowohl auf der regionalen als auch auf der gesamtdeutschen bzw. internationalen Ebene an Dynamik. Weltweit werden authentische Lebensgeschichten durch Videoaufnahmen von Zeitzeugenbefragung im Rahmen der Oral History durch Institutionen (z. B. »Survivors of the Shoah Visual History Foundation«, »Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies«, »United States Holocaust Memorial Museum in Washington«, »Yad Vashem« sowie »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«) dokumentiert. Die Väterbücher bieten zwar nicht direkt Zeitzeugeninterviews an, sind aber als Vergegenwärtigung von persönlichen Erfahrungen, durchgeführten Recherchen 46 Laut Lutz Niethammer vermied die Geschichtswissenschaft lange Zeit die Perspektive von unten bezüglich des Nationalsozialismus »um innenpolitische Auseinandersetzungen um Mittäterschaft bei politisch und kulturell Verantwortlichen zu vermeiden.« Niethammer, Lutz (Hrsg.): Einführung. In: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Frankfurt am Main 1980, S. 7 – 26. 47 Koselleck, Reinhart: Nachwort. In: Beradt, Charlotte: Das Dritte Reich des Traums. Frankfurt am Main. 1994, S. 117. Zitiert nach: Assmann, Aleida/ Frevert, Ute, S. 282.

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sowie mündlichen und schriftlichen Zeugnissen zu sehen, die einen exemplarischen Zugang zum komplexen historischen Geschehen eröffnen. Kollektiv bilden die Väterbücher eine vielstimmige Erinnerung an die Krieg- und Nachkriegszeit im deutschsprachigen Raum sowie ein Zeugnis der Auseinandersetzung der Kindergeneration mit dem Nationalsozialismus.

Kriegskindergeneration Die Texte der neuen Väterliteratur etwa von Ute Scheub und Monika Jetter unterscheiden sich von den älteren u. a. durch die Problematisierung der Kriegstraumatisierung sowie der deutschen Kriegskindergeneration. Diese zwei Forschungsschwerpunkte aus dem Bereich der Psychologie konnten sich in der Literatur vor allem im Rahmen des Opferdiskurses etablieren. Das deutsche »Opfernarrativ«48 verdankt seinen »medialen Schub« teilweise der Veröffentlichung des Bestsellers »Im Krebsgang«49 (2002) von Günter Grass, dem jedoch Helga Hirsch eine tabubrechende Rolle im engeren Sinne abspricht: Günter Grass schließlich war mit seiner Novelle »Im Krebsgang« ganz sicher kein Tabubrecher mehr. Aber sein Buch bewirkte den Durchbruch. Wenn dieser Linke, der stets vor neuen deutschen Großmachtträumen gewarnt und sich der Wiedervereinigung entgegengestellt hatte, das Ausblenden des Themas als »bodenloses Versäumnis« empfand und nun Empathie für Vertreibungsopfer zuließ, dann wollten auch Zaudernde nicht mehr bestreiten, dass sich das Bekenntnis zu deutscher Schuld und die Trauer über deutsches Leid nicht widersprechen müssen, sondern zwei Seiten einer Medaille sind.50

Das Opfernarrativ wurde außerdem seit der Gründung des Projekts (1999) und der Stiftung (2000) »Zentrum gegen Vertreibung« durch erinnerungspolitische Kontroversen in der breiten Öffentlichkeit präsent gehalten. Im Jahr 2002 wurde hinzukommend das Buch von Jörg Friedrich »Der Brand«51 publiziert, welches die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte in den 1940er Jahren kritisch 48 Hier wird eine Verschiebung im deutschen Erinnerungsdiskurs verstanden, in dem das Schicksal des deutschen (Täter-)Volks aus der Opferperspektive dargestellt wird. Siehe dazu: Kapitel »Die ›Vergangenheitsaufarbeirung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche«, S. 254 – 267. Vgl. Sabrow, Martin: Heroismus und Viktimismus. Überlegungen zum deutschen Opferdiskurs in historischer Perspektive. In: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien 43/44. Potsdam 2008. 49 Grass, Günter : Im Krebsgang. Göttingen 2002. 50 Hirsch, Helga: Flucht und Vertreibung. Kollektive Erinnerung im Wandel. Aus Politik und Zeitgeschichte B40 – 41/2003, S. 14. [Stand: 10. 10. 2009]. 51 Friedrich, Jörg: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 – 1945. München 2002.

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behandelt. Damit wurde die politisch-mediale Aufmerksamkeit auf die deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges gelenkt. Zwar waren die Motive von Bombenkrieg sowie Flucht und Vertreibung schon seit der Gründung der BRD und der DDR in der bundesdeutschen Erinnerungsgeschichte präsent, doch fanden sie seit der Wiedervereinigung Deutschlands verstärkt das Interesse der Medien und Politiker.52 Die ersten Ansätze der literarischen Thematisierung von Flucht und Vertreibung sowie der literarischen Verklärung der »kleinen Heimat« zeigten sich bereits in den 1990er Jahren. Diese haben im neuen Jahrtausend zahlreichen Nachschub durch weitere Publikationen bekommen. Die neuen Väterbücher thematisieren im Rahmen des deutschen Opferdiskurses sowohl die deutschen Vertriebenen, die deutschen Ausgebombten, die deutschen Soldaten als auch die deutschen Kriegskinder. Die letzten wurden nämlich in der Forschung bislang kaum berücksichtigt. Weder in Psychologie, Medizin, Geschichte noch Literatur fand die Ruinenkindheit bzw. die vom Zweiten Weltkrieg traumatisierte Kriegsgeneration Beachtung. Der Psychoanalytiker Hartmut Radebold konstatiert in seiner Studie, einen lückenhaften »quantitativen« sowie »qualitativen Forschungsstand« in praktisch allen Disziplinen hinsichtlich jener Problematik.53 Zwar gab es schon 1954 in Deutschland Untersuchungen u. a. von Carl Coerper, Wilhelm Hagen und Hans Thomae zu »Deutschen Nachkriegskindern,«54 doch entweder fehlte die Berücksichtigung von Kriegsfolgen oder sie waren eher praxisorientiert und zwar auf die heimgekehrten Soldaten bezogen. In den 1970er Jahren wurde das Thema der deutschen Kriegskinder als »Flakhelfergeneration« in den Medien angesprochen,55 wurde aber nur sporadisch von der Forschung aufgegriffen. Sowohl der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter als auch Sabine Bode sehen den Grund für die ausgebliebene Untersuchung im damaligen Umgang mit der Vergangenheit: Man wollte sich im Rahmen der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ nicht gleichzeitig zu demselben Zeitpunkt mit den Holocaustüberlebenden und den deutschen Opfern beschäftigen, um nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle die deutsche Schuldfrage relativieren oder sogar im Zuge des Opfer-Konkurrenz52 Das Thema war in den Medien, u. a. im Fernsehen durch die Produktionen Guido Knopps, im Film (z. B. Badura, Ute: Schlesiens Wilder Westen. Dokumentarfilm. Deutschland 2002) in Talkshows, Seminaren und bei Podiumsdiskussionen stets präsent. Siehe dazu: Hirsch, B40 – 41/2003, S. 14. [Stand: 10. 10. 2009]. 53 Vgl. Radebold, Hartmut: Abwesende Väter und Kriegskindheit. Fortbestehende Folgen in Psychoanalysen. Göttingen 2004, S. 177. 54 Siehe dazu: Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2004, S. 200 f. sowie Coerper, Carl/ Hagen, Wilhelm/Thomae, Hans: Deutsche Nachkriegskinder. Methoden und erste Ergebnisse der deutschen Längsschnittuntersuchungen über die körperliche und seelische Entwicklung im Schulkindalter. Stuttgart 1954. 55 Vgl. Bode, S. 68.

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Kampfes ausblenden. So zeigt sich die Mehrheit der Publikationen der 1980er Jahre in ihrer Ausrichtung täterorientiert. Die Täterkinder sowie die »Nachkommen von Belasteten und Mitläufern aller Schattierungen«56 sind zwangsläufig in den Fokus der damaligen psychotherapeutischen und autobiographischen Literatur geraten. Ihre Kindheit wurde im Rahmen der nationalsozialistischen Vergangenheit der Väter behandelt. Damit überkreuzte sich hier die »Nazivergangenheit« mit der »Kriegsvergangenheit«57, die nach Micha Brumlik, dem Holocaustforscher, dazu führte, dass das Leiden der deutschen Kriegskinder von den Naziverbrechen überschattet wurde: Ich glaube, es hat diese Generation, sofern sie politisch bewußt war, ihre ganze psychische Kraft gekostet, diesen moralischen Blick gegen die zum Teil verbrecherische Elterngeneration aufzubieten, und diese Kraft konnte wahrscheinlich nur dadurch mobilisiert werden, daß das eigene Leiden verdrängt worden ist.58

Die Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegserfahrungen fand bei der Kriegskindergeneration lange nicht statt. Die verbrecherische Vergangenheit ihrer Väter hatte sie ihrer »identitätsstiftenden Komponente« beraubt.59 Dagegen sieht Ulrike Jureit gerade in der nationalsozialistischen Vergangenheit der Elterngeneration den Bezugspunkt der Kriegsgeneration, aus der sich Ende der 1960er Jahre die rebellierenden Studenten der Außerparlamentarischen Opposition rekrutierten.60. So vermutet sie, dass es sich im Falle der Kriegskindergeneration nicht um eine neue Generationenbildung handelt, sondern um eine sekundäre »generationelle Selbstbeschreibung […], die zwar vom anklagenden zum selbstreferentiellen Gestus gewechselt hat, die aber am Nationalsozialismus als genrationelles Bezugsereignis unbeirrt festhält.«61 Eine Trennung in das Nazi- und das Kriegsdeutschland läuft aber Gefahr, dass zwei Bilder von derselben Gesellschaft und derselben Geschichte entworfen werden, obwohl sich die zwei Bereiche gegenseitig bedingt haben. So wäre für den Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser die Trennung zwischen der Nazivergangenheit und der Kriegsvergangenheit weder praktisch noch theoretisch denkbar, da er in seiner psychotherapeutischen Praxis […] das eine mit dem anderen verknüpft [sieht]. Er sieht ebenfalls […] die Einflußfaktoren wie Not, Angst, Verlassensein, Verstrickung, Schuld, die sich gegenseitig steigern – zum Beispiel das Hungern und der SS-Vater, der 56 Westernhagen, Dörte von: Die Kinder der Täter. Das Dritte Reich und die Generation danach. München 1987, S. 99. 57 Vgl. Bode, S. 27. 58 Micha Brumlik zitiert nach: Bode, S. 276 f. 59 Vgl. ebd., S. 30. 60 Vgl. Jureit, S. 52. 61 Ebd., S. 52.

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sich nach dem Krieg versteckt hielt und auf keinen Fall durch ein falsches Wort verraten werden durfte.62

Seit 1999/2000 wird den deutschen Kriegskindern und vor allem ihren Leiden – strenge Erziehung, Arbeitsdienst an der Heimatfront ferner Bombardierungen, Kinderlandverschickung, Flucht und Vertreibung, Aufbau einer neuen Existenz sowie permanente Vaterlosigkeit und die Neu-Selbstdefinierung im Nachkriegsdeutschland – eine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Forschung hat sich nach langer Zeit des Wartens dieser, laut Horst-Eberhard Richter, »verschwiegenen, unentdeckten Welt, von einer wenig untersuchten und wenig aufarbeiteten Seite der Geschichte [der deutschen] Bevölkerung«63 zugewandt, was mehrere (wissenschaftliche) Publikationen mit Fallbeispielen und Zeitzeugeninterviews64 belegen. Die Siegener Gruppe, die mit Jürgen Zinnecker, um historische Kindheitsforschung im 20. Jahrhundert bemüht ist, verfügt mittlerweile über eine rasch wachsende Sammlung von Dokumenten aus und von autobiographischen Erinnerungen an die Kriegskindheit. Das Textkorpus beläuft sich jetzt schon auf circa 600 publizierte Autobiographien und wird wahrscheinlich in den nächsten zehn Jahren auf bis zu 1500 steigen, was von der Bildung einer großen Erinnerungsgemeinschaft in Selbstzeugnissen zeugt.65 So konnte sich die Kriegskindergeneration durch breitangesetzte Aktivität und Initiativen den Weg in den öffentlichen Erinnerungsdiskurs viel stärker bahnen als manche viel schwacher vertretene Opfergruppen des Nationalsozialismus, die in der Öffentlichkeit häufig übergangen wurden, z. B. Sinti und Roma. Damit wird zwar weiterhin keine Relativierung der Leiden der Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen verfolgt, doch immerhin lässt sich eine Akzentverschiebung im Opfernarrativ beobachten: Die Opfer des Nationalsozialismus 62 Siehe dazu: Bode, S. 99. 63 Horst-Eberhard Richter zitiert nach: ebd. S. 68. 64 Zum Beispiel: Friesen, Astrid von: Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generation deutscher Vertriebener. Gießen 2000; Radebold, Hartmut (Hrsg.): Kindheit im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen, Psychosozial, 26. Jahrgang. Heft II, 92/2003, S. 9 – 16; Radebold, Hartmut: Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen, Göttingen 2004, Radebold, Hartmut: Abwesende Väter. Folgen der Kriegskindheit in Psychoanalysen, Göttingen 2000, Kriegsbeschädigte Biografien und öffentliche Vergangenheitsbeschweigung (Hrsg. Evangelische Akademie Bad Boll), Dokumentation der Tagung »Kriegskinder gestern und heute« vom 17. bis 19. April 200; Adler, Bruni: Bevor es zu spät ist. Begegnungen mit der Kriegsgeneration. Tübingen 2004; Büttner, Christian u. a. (Hrsg.): Kinder aus Kriegs- und Krisengebieten. Lebensumstände und Bewältigungsstrategien. Frankfurt am Main 2004; Roberts, Ulla: Starke Mütter, ferne Väter. Über Kriegs- und Nachkriegskindheit einer Töchtergeneration. Gießen 2003. 65 Vgl. Zinnecker, Jürgen: Kinder und Luftkrieg. In: Ulrich, Bernd (Hrsg.): Wir Kriegskinder. Kriegskindheit in Deutschland. Original-Vorträge. 7 Vorträge, gehalten u. a. auf dem Kongress »Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa sechzig Jahre nach Kriegsende.« Frankfurt 14.–16. April 2005. MP3-CD. Müllheim/Baden 2008.

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fungieren in der Regel als Opfer von »Nazis«, während die deutschen Kriegskinder oder die deutschen Kriegstraumatisierten als Opfer des Krieges dargestellt werden. Damit werden Nationalsozialismus und Krieg, trotz ihrer immer wieder erwähnten Kausalitätsabhängigkeit, voneinander getrennt. Die Folge davon ist, dass die Opfer des Nationalsozialismus dadurch nicht gleichzeitig als Opfer des Zweiten Weltkrieges betrachtet werden, obwohl sie dementsprechend als doppelt traumatisiert gelten müssten.

Die Kriegstraumatisierung Im Zentrum vieler neuer Texte stehen nicht mehr die Väter-»Täter«, mit denen in den Publikationen der 1980er Jahre abgerechnet wird, sondern traumatisierte Soldaten – »Opfer des Militarismus« und ihre Kriegskinder. Beide sind durch dieselben Faktoren belastet: die Umstände des Krieges und die drakonischen Erziehungsmaßnahmen ihrer Väter. Die Traumata der Vätergeneration werden grundsätzlich, wie auch in den früheren Vätertexten angedeutet, auf die strengen preußisch-deutschen Erziehungsmaßnahmen, auf die sogenannte »Schwarze Pädagogik« sowie den militärischen Drill in nationalsozialistischen Bildungsanstalten zurückgeführt. Die Traumatisierungen kamen im Alltag Nachkriegsdeutschlands u. a. durch die Bindungsschwierigkeit, die emotionale Distanzierung sowie durch den sozialen und familiären »Autismus« der Väter zum Ausdruck und wurden durch die gestörten Familienbeziehungen auf die nachfolgende Generation übertragen. In mehreren der neuen Vätertexte wird zusätzlich die Kriegstraumatisierung der Väter betont. Diesen Paradigmenwechsel verdanken die Texte der sich etablierenden Traumaforschung, die sich infolge der neuzeitlichen Kriege und militärischen Auseinandersetzungen (Krieg in Tschetschenien, im Irak, im Kosovo, im Nahen Osten) immer mehr in der Psychotherapie durchsetzt und in der neuen Väterliteratur Anwendung findet. Zwar ist schon seit dem 19. Jahrhundert die Symptomatik von »besonders schwerwiegenden Erfahrungen«66 bekannt, doch erst im Jahr 1980 wurde »die medizinisch-psychiatrische Diagnose der Post Traumatic Stress Disorder (PTSD67) in den psychiatrischen Diskurs eingeführt.«68 In Deutschland kam das 66 Fuchs, Barbara: Psychische Traumatisierung als sonderpädagogische Kategorie? Erkundungen zu Genese, Diagnostik und Förderung. Aachen 2009, S. 34. 67 Früher auch unter anderen Bezeichnungen gängig: Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg – Soldatenherz (»soldier’s heart«), nach dem I Weltkrieg – Granatenschock (»shell shock«), nach dem 2. Weltkrieg – Kriegsmüdigkeit (»war fatigue«), nach dem Vietnamkrieg – Gefechtsstress (»combat stress«). Vgl. Langendonck, Gert van: Der Krieg kommt nach Hause. In: Die Zeit. [Stand: 19. 01. 2006].

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Thema in den 1990er Jahren im Zuge der neuen Flüchtlingswelle wieder auf. Man befasste sich sowohl in den Medien als auch in der breit angesetzten Forschung mit den Kriegserfahrungen und den posttraumatischen Belastungsstörungen auf dem Balkan und verglich sie mit der deutschen Flüchtlingssituation am Ende des Zweiten Weltkrieges, deren Folgen bei den Betroffenen immer noch anhalten. Mit der Etablierung des medizinisch-psychiatrischen Fachgebietes Kinderpsychotraumatologie sowie dem weltweit wachsenden Interesse am Phänomen Kriegstrauma in der medizinisch-psychologischen bzw. psychoanalytischen Forschung versuchte man die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg im Nachkriegsdeutschland zu übertragen. Dies eröffnete weitere Forschungsmöglichkeiten, die in der Vergangenheit versäumt worden waren. Außerdem eröffnete es die Möglichkeit, die Erfahrungen der deutschen Kriegskinder im »kosmopolitischen Gedächtnis«69 der Kriegstraumatisierten zu kontextualisieren.

Vaterlosigkeit Eine weitere Akzentverschiebung ist in der Thematisierung der Problematik Vaterlosigkeit festzustellen. Während in den Texten der 1970er und 1980er Jahre die Vaterlosigkeit auf der sozialen Ebene im Sinne von Margarete und Alexander Mitscherlich diskutiert worden ist, wird sie nach der Jahrtausendwende im persönlichen Rahmen als Abwesenheit des Vaters und Vaterverlust innerhalb der Familie behandelt. Dies wird durch die neusten psychologischen Erkenntnisse unterstützt. Die durch die 68er-Bewegung geprägten Publikationen der ersten Welle haben die Vaterlosigkeit im Sinne der »vaterlosen Gesellschaft«70 gedeutet. Die Vätergeneration, durch den Vater-Hitler entmündigt, konnte sich nach seinem Verlust in der neuen Realität nicht zurechtfinden. Die Väter haben in den 1960er Jahren aufgrund ihrer fehlenden Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit an Glaubwürdigkeit und an Autorität verloren. Die strengen Erziehungsmaßnahmen, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg angewandt hatten, um ihre Familienposition wiederzuer68 Fuchs, Barbara, S. 49. 69 Daniel Levy und Natan Sznajder sprechen am Beispiel der Holocausterinnerungen vom »kosmopolitischen Gedächtnis«, das mit seinem Deutungsmonopol über den Nationalstaat hinausgeht. Siehe dazu: Levy, Daniel/Sznaider, Natan: Erinnerungen im globalen Zeitalter : Der Holocaust. Frankfurt am Main 2001. 70 Der Ausdruck »die vaterlose Gesellschaft« ist ursprünglich auf den Titel der programmatischen Schrift des Psychoanalytikers Paul Federn zurückzuführen. Vgl. Petri, Horst: Guter Vater – Böser Vater. Psychologie der männlichen Identität. Bern/München/Wien 1997, S. 109.

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langen, haben nur die Aufsässigkeit der Kinder gegen die Elterngeneration verstärkt. Die zu Schweigen und Gehorsam erzogenen Kinder haben in den 1960er Jahren das Wort ergriffen und gegen sie gerichtet. Trotz der spektakulären Ablehnung der Vergangenheit und der Väter sieht Götz Aly emotionale und in mancher Hinsicht auch ideologische Ähnlichkeiten zwischen den beiden Generationen.71 Beide wollten sich von ihren »schwachen« Vätern befreien, verloren sich dabei aber in ihrer Radikalität und schließlich in der Gewalt. Im Rahmen der Forschung zu Täterkindern hatte man vor allem die Auswirkung von ( übertragenen) Schuld- und Schamgefühlen auf ihre Entwicklung untersucht. Dazu wurde grunds ätzlich, wie bei den Kindern der Opfer, psycho-somatische Symptomatik mit berücksichtigt. Außerdem wurde die spezifische Beziehung zu den Tä tereltern analysiert, die sich durch einen zwiespä ltigen Charakter ausgezeichnet hatte. Die Elterngeneration erschien wie »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, mit zwei getrennten Seiten ihres Doppellebens und dadurch auch suspekt. Daher erkl ärt sich auch der Slogan der Studentenbewegung : »Trau keinem über drei ßig.« In den Texten der ersten Publikationswelle trug die Auseinandersetzung mit der Vaterlosigkeit einen rebellischen Charakter. Es wurde vor allem die persönliche sowie kollektive Schuldfrage und ihre Verleugnung von den Vätern reflektiert. Das Schweigen der Elterngeneration führte in der Öffentlichkeit der 1960er Jahre und in der Abrechnungsliteratur der 1980er Jahre zum Aufstand gegen die Väter und Ablehnung ihrer Vergangenheit. Die gegenwärtigen Texte erforschen viel stärker die Umstände und Beweggründe, die dazu führten, dass die Vätergeneration sich für den Nationalsozialismus begeistern ließ. Die Vaterlosigkeit wird im Kontext einer massenhaften kriegsbedingten Abwesenheit der Väter und deren psychischer Folgen analysiert. So bemerkt Peter Heinl: Das Problem besteht nicht nur darin, daß Millionen von Vätern im Krieg ums Leben kamen. Ein vergleichbar gravierendes Problem ist das der emotionalen Vaterlosigkeit. Denn selbst wenn Väter Krieg und Gefangenschaft physisch überlebt hatten, konnte die väterliche Kompetenz aufgrund der erlittenen psychischen Traumatisierungen so in Mitleidenschaft gezogen sein, da ß von einer lebendigen und kindgerechten Vaterrolle nicht mehr die Rede war.72

So wird in den neusten Texten der Väterliteratur sowohl die Kriegstraumatisierung als auch das Trauma der deutsch-preußischen Erziehungsmaßnahmen 71 Götz Aly sieht Parallelen zwischen der Revolte und dem Elitedenken der Studentenbewegung mit dem revolutionären Aufbruch der nationalsozialistischen Jugend in den 20er Jahren. Siehe mehr dazu: Aly, Götz: Unser Kampf 1968. In: Cicero. Magazin für politische Kultur. [Stand: 12. 06. 2008]. 72 Heinl, Peter : »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg …« Seelische Wunden aus der Kriegskindheit. München 1994. Zitiert nach: Bode, S. 217.

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transgenerationell dargestellt. Zusätzlich wird die Problematik der Täterkinder um die der deutschen Kriegskinder ergänzt und korrelativ dargestellt. Dabei setzt sich die Kindergeneration sowohl mit dem eigenen Schicksal im (Nach-) Kriegsdeutschland als auch mit dem Vater als dem Prototypen seiner Alterskohorte auseinander. Seine Geschichte wird als Kausalkette recherchiert und sein Verhalten auf strenge traditionsgebundene Maßnahmen zurückgeführt. Demzufolge wird der Generationenkonflikt nicht mehr zwischen dem Kind und dem Vater, sondern zwischen den Nachgeborenen und der ganzen Generationenkette der Väter ausgetragen. Es ist nicht mehr der Aufstand gegen die Väter, sondern die Auflehnung gegen die deutsche Vergangenheit und preußische Mentalität, die hervorgehoben wird.

Die Väterliteratur in medialem sowie in erinnerungspolitischem Zusammenhang Ein weiteres Element, das man im Hinblick auf den Charakter der neusten Werke der zweiten Publikationswelle nicht außer Acht lassen sollte, bilden die (subjektiven) Marktbedingungen. Beide Väterbücher-Wellen sind im Zusammenhang einer dynamischen Entwicklung zu sehen, die vor allem durch die Nachfrage des Publikums, die literarischen Moden, die in den und durch den Medieneinsatz unterstützt werden, sowie die aktuellen politisch-gesellschaftlichen Debatten zur ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ beeinflusst werden. So war der erste Väterbücher-Boom stark durch die Stimmung der 68er-Bewegung und den Aufstand gegen die Väter geprägt. Die Publikationswelle der 1970er und 1980er Jahre ist als Folge der starken Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der deutschen Väter-Täterschaft zu sehen. Die neusten Texte schreiben sich in die Auseinandersetzung mit der NS-Thematik aus den Jahren davor sowie zusätzlich in den Diskurs der 1990er Jahre ein, der weitgehend durch eine bewusst betriebene Gedächtnis- bzw. Identitätspolitik charakterisiert ist. Eine Vielzahl von Medienereignissen spiegelt diese thematische Schwerpunktsetzung wider. In den Jahren 1978/1979 wurde die US-Fernsehserie »Holocaust« ausgestrahlt, in der das Schicksal einer fiktiven jüdischen Familie in der Zeit des Nationalsozialismus dargestellt wurde. Damit begann die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der breiten Öffentlichkeit, in der die Medien eine öffentliche Plattform für das Austragen von politisch-gesellschaftlichen Diskussionen boten und somit eine zentrale Rolle in der Gestaltung der deutschen Erinnerungskultur einnahmen. Die TV-Serie erfreute sich einer starken Popularität, gab den Anlass für eine mehr oder weniger öffentliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, sorgte aber auch für

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Brisanz73, indem sie mittelbar die Frage der Legitimität einer Fiktionalisierung des Holocaust aufwarf. Zu demselben Zeitpunkt ist die erste Publikationswelle von Väterbüchern (1979 u. 1980) zu verorten, deren zentralen Auseinandersetzungspunkt die nationalsozialistische Täterschaft und die Judenvernichtung ausmachten. Im gleichen erinnerungsmedialen Kontext folgten weitere Medienbeiträge mit lebensgeschichtlichem Rückblick, wie beispielsweise Anfang der 1980er Jahre der Zyklus »Meine Schulzeit im Dritten Reich« in der Tagespresse74 (Frankfurter Allgemeinen Zeitung) mit Texten von prominenten deutschen Schriftstellern wie Günter Grass, Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Marcel ReichRanicki, Horst Krüger. Im Jahr 1985 wurde der Filmessay »Shoah«75 von dem Franzosen Claude Lanzmann gezeigt. Das emotional beladene Dokument – diesmal aus europäischer Sicht – bestand aus zusammengetragenen HolocaustZeitzeugeninterviews. Es berichtete über Konzentrations- und Vernichtungslager, ohne Archivmaterial einzubringen, wobei sowohl die Opfer als auch die Täter zu Wort kamen. Die schmerzhafte Erinnerungsarbeit in der Bildersprache von Lanzmann stieß beim deutschen Publikum auf große Resonanz (Besprechungen in der Presse, Zuschauerstimmen) und bildete den Auftakt zu anderen medialen Inszenierungen der Folgezeit, die Holocaust und Nationalsozialismus thematisierten. Die nächsten Jahre zeichneten sich durch zahlreiche heftige Diskussionen über den (politisch) korrekten Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aus. Mit dem sogenannten Historikerstreit wurde die deutsche Vergangenheitsaufbereitung seit 1986/1987 wieder zum öffentlichen Thema. Der Streit,76den hauptsächlich der Historiker Ernst Nolte77 und der Philosoph Jürgen Habermas um die Interpretation und die Einzigartigkeit der nationalsozialis73 Es ging unter anderem um den angeblich kommerziellen Charakter der Serie und die Anpassung der Fakten an die Erwartungen der Zuschauer. 74 Siehe näheres dazu: Grimm, Reinhold, S. 170. 75 Die französische Produktion wurde in Polen sehr kritisch aufgenommen. Man warf dem Regisseur vor, Polen als antisemitisch darzustellen. Die Beiträge wurden später von ReichRanicki in Form eines Buches herausgebracht: Reich-Ranicki, Marcel: Meine Schulzeit im Dritten Reich. Erinnerungen deutscher Schriftsteller. Köln 1982. 76 Zum Historikerstreit: Augstein, Rudolf: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987. 77 Die für Kontroversen sorgende Rede des Geschichtsprofessors: »Vergangenheit, die nicht vergehen will« wurde in der FAZ publiziert (zuvor war die bei den Frankfurter Römerberggesprächen verboten worden). Sie fungierte als Anlass für die Diskussion um die Deutung der Geschichte und die deutsche Identität sowie historische Relativierung. Zu den von Habermas gebrandmarkten Historikern gehörten neben Nolte, Andreas Hillgruber, Michel Stürmer und Klaus Hildebrand. In seiner Kritik wurde er u. a. von: Hans Mommsen, Eberhard Jäckel, Rudolf Augstein, Wolfgang J. Mommsen, Heinrich August Winkler und Kurt Sonheimer unterstützt. Zur Opposition schlossen sich u. a. Joachim C. Fest, Hagen Schulze, Karl Dietrich Bracher, Horst Möller, Thomas Nipperday zusammen.

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tischen Judenvernichtung sowie ihre historische Einordnung führten, wurde medial ausgetragen und schloss mehrere Wissenschaftler in die Diskussion um die Geschichtspolitik mit ein. Zur selben Zeit meldete sich anlässlich der Museumsgründung des Deutschen Historischen Museums (DHM) mit dem Schwerpunkt »Deutsche Geschichte« der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl zu Wort. Auch anlässlich dieses Ereignisses entflammte eine Debatte mit einhergehender Medienaufmerksamkeit über die nationale deutsche Erinnerungspolitik und gleichzeitig über die Frage nach der deutschen Identität und dem Nationalstaat. Den Höhepunkt in dieser brisanten Zeit bildete 1988 die Jenninger-Rede,78 welche die Begeisterung der deutschen Bevölkerung für den Nationalsozialismus in der Vergangenheit zu erklären suchte, jedoch durch ihren emotionalen Stil für einen Eklat sorgte. Die im Deutschen Bundestag von dem Bundestagpräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 gehaltene Rede wurde von dem versammelten Publikum als wenig distanziert empfunden. Sie stellte einen Fauxpas im öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus dar und wurde zum Teil der Antisemitismusdebatte, die jahrelang im Brennpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit blieb.79 Mit den 1990er Jahren begannen sowohl die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als auch die deutsche Erinnerungskultur einen präziser umrissenen Kurs zu bekommen. Mit der »Ära Kohl« lässt sich der (parlamentarische) Paradigmenwechsel in der Einstellung zur nationalsozialistischen Vergangenheit und der »bewußt betriebenen Gedächtnispolitik«80 beobachten. Mit der Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten fing, laut Michel Klarmann der Umbau der Erinnerungspolitik, d. h. die Einleitung der »Politik des Schlußstrichs« ohne das Wort »Schlussstrich«81 zu verwenden, an, welche die nationale Identität sowie die »innere Einheit« des nun vereinten Deutschlands in den Fokus stellte. Im Rahmen der neuen Gedächtnispolitik wurde von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl die Neugestaltung der Gedenkstätte »Neue Wache« in Berlin initiiert und diese »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft«82 umgewidmet. Helmut Kohl plante damit eine zentrale Gedenkstätte des wiedervereinten Deutschlands als Symbol der deutschen Einheit zu errichten. Sowohl das Denkmal-Projekt als auch die Leitidee des Gedenkens stießen u. a. wegen der historisch nicht eindeutigen Inschrift auf 78 Siehe dazu: Dubiel, Helmut: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestags. München/Wien 1999, S. 215 – 218. 79 Siehe dazu: ebd., S. 215 – 218. 80 Ebd., S. 190. 81 Vgl. Klarmann, Michel: Umbau der Erinnerungspolitik. In: Telepolis. 25. 11. 2004. [Stand: 03. 07. 2008]. 82 Seit 1993 ist dies die Inschrift der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland »Neue Wache.«

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Kritik. Es wurde Helmut Kohl vorgeworfen, in der Erinnerungskultur damit den deutschen Opferdiskurs angestoßen zu haben.83 Die neue Profilierung des Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit wurde 1995 durch die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung: »Die Verbrechen der Wehrmacht – Vernichtungskrieg 1941 – 1944«84 in Frage gestellt, da sie an dem Mythos der sauberen Wehrmacht und ihrem Ostfront-Einsatz rüttelte. Die Wanderausstellung in Form von Fotos und Dokumenten aus den osteuropäischen Archiven rief eine heftige Debatte, nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs und in der breiten Öffentlichkeit, sondern vor allem in privaten, familiären Kreisen hervor, in denen das Bild der »unbefleckten« Wehrmacht gepflegt und an die Nachkommen weiter vermittelt worden war. Die Enttabuisierung der Wehrmacht verursachte einen Einschnitt in die bislang betriebene Erinnerungspolitik und wirkte gesellschaftlich stark polarisierend, was ebenfalls im deutschen Bundestag85 zum Ausdruck kam. Es kehrte die Diskussion aus den 1960er Jahren wieder, in deren Mittelpunkt die Tabuisierung der Vergangenheit durch die Elterngeneration gestanden hatte: Ungewöhnlich war an dieser Debatte vor allem die Sichtbarkeit eines generationsspezifischen Konflikts. Die inzwischen selbst zu Macht und Status gelangte Nachkriegsgeneration diskutierte mit der abtretenden Kriegsgeneration über die Hypotheken, die diese hinterläßt. Es war keineswegs das erste Streitgespräch zwischen diesen beiden Generationen. Schon dreißig Jahre zuvor war mit der richtenden Unerbittlichkeit der 68er die lange verleugnete Geschichte der Nazi-Zeit in den intimen Binnenraum westdeutscher Familien eingebrochen. Im M ä rz 1997 hatte sich diese Konstellation eigentümlich verdreht. Jetzt weitete sich die familiäre Intimität zum Raum parlamentarischer Öffentlichkeit.86

Die Dokumentation zur Wehrmacht wurde umso heftiger diskutiert, da sie vor Augen führte, wie viele Deutsche in die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie engagiert waren. Zusätzlich zu dem Buch »Hitlers willige Vollstrecker«87 von Daniel Goldhagen unterstützte sie die These von der kollektiven Schuld der gesamten deutschen Gesellschaft, d. h. einschließlich der (Heimat-) Front und der einfachen Soldaten. Das Werk des US-Politologen erschien im Jahr 1996. Seine Problematik, die Affirmation des nationalsozialistischen Regimes 83 Näheres in: Thünemann, Holger : Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas: Dechiffrierung einer Kontroverse. Berlin-Hamburg-Münster 2002. 84 Siehe dazu: Hartmann, Christian: Verbrecherischer Krieg – verbrecherische Wehrmacht? In: Bracher, Karl Dietrich/Schwarz, Hans-Peter/Möller, Horst: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Jahrgang 52. Heft 1/2004, S. 1 – 75. 85 Siehe Näheres dazu: Dubiel, S. 23. 86 Ebd., S. 22. 87 Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996.

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und der Bereitwilligkeit der Deutschen zu den nationalsozialistischen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges, wurde zunächst unter Experten, dann aber in der breiten Öffentlichkeit besprochen. Ende der 1990er Jahre fand anschließend der Streit um die Politik des Gedenkens zwischen den Schlussstrichbefürwortern und den Holocaust-Erinnernden statt. Die Friedenspreisrede von Martin Walser, am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche88, in der er für das Erinnern sowie Gedenken und damit auch für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im persönlichen Rahmen plädierte, entfachte zur sogenannten »Walser-Bubis-Debatte.« Darin beschuldigte der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, Walser in seiner Rede zum Anlass des 60. Jahrestages der Reichpogromnacht der »geistigen Brandstiftung«, da er zur einer öffentlichen deutschen Distanzierung von den nationalsozialistischen Verbrechen auffordere und somit einen Schlussstrich unter dem Kapitel: »Das Dritte Reich« ziehen wolle.89 Weiteren Konfliktstoff schuf das Projekt des Holocaust-Mahnmals in Berlin (2003 – 2005). Diesmal wurde von den Opfern des Nationalsozialismus untereinander diskutiert: Nicht alle Opfergruppen fühlten sich gleichgestellt, da sich u. a. durch das Denkmal – das vor allem den jüdischen Opfern gewidmet wurde – die Sinti und Roma übergangen fühlten, die den Holocaust-Opfer-Status auch für sich beanspruchten.

Die Jahrestage und die Rolle der Medien Die ›Aufarbeitung‹ der NS-Vergangenheit sowie ihr Konfliktpotenzial stellten in den Nachkriegsjahren ein attraktives Thema in der Öffentlichkeit dar. Die Medien suchten die jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Stand- und Erinnerungsschwerpunkte zu vermarkten, indem sie immer neue Formen und Möglichkeiten der Darbietung fanden. Diese Entwicklung ist beispielsweise an den Väterbüchern zu beobachten, die seit den 1990er Jahren immer neue literarische Darstellungsformen90 erfuhren. Dabei erlebte die öffentliche Erinnerungsarbeit in den Medien anlässlich von Jahrestagen, wie dem offiziellen deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus,91 dem Jahrestag der Niederlage 88 Siehe dazu beispielsweise: Frindte, Wolfgang: Moralkeulen, Schlussstriche und Tätersuche – vom Faszinosum antisemitischer Skandale im neuen Deutschland. In: Frindte, Wolfgang: Inszenierter Antisemitismus. Eine Streitschrift. Wiesbaden 2006, S. 104 – 121. 89 Vgl. Luttmer, Karsten: Die Walser-Bubis-Kontroverse. In: Shoa.de. Zukunft braucht Erinnerung. [Stand: 9. 07. 2008]. 90 Siehe dazu: Kapitel »Zur Gattung und Komposition«. 91 Die Gedenkveranstaltung am 1996 fand auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog statt. Dabei wurde die symbolische Bedeutung dieses Feiertages betont. Als

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von Stalingrad sowie des Kriegsendes, dem Jahrestag der Bundesrepublik Deutschland und dem Gedenktag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee (am 27. Januar) immer wieder ihren Höhepunkt. Anlässlich des 50. und dann des 60. Jahrestags der Niederlage von Stalingrad erschien eine Unzahl von Beiträgen92 in diverser Form: Rezensionen, Zeitungsartikel, (Fernseh-)Dokumentationen, Talkshows, Reportagen, Sachbücher, Sonderhefte, Interviews, Alben, Berichte, Fernsehsendungen und (Dokumentar)Filme.93 Viele der zu diesem Zeitpunkt publizierten Beiträge korrespondierten mit dem seit den 1990er Jahren sich immer stärker durchsetzenden Opfernarrativ und nahmen an den Erinnerungskonkurrenzen und Deutungskämpfen um die neuere deutsche Geschichte, die sich seit den 1990er Jahren herauszukristallisieren begannen, teil. Dies würde teilweise erklären, warum dem Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs in den Medien keine so große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dabei entdeckte die Erinnerungskultur seit den 1990er Jahren, neben (Auto)Biographien,94 (authentischen) Dokumenten,95 Tagebüchern,96 Feldpostbrief-Sammlungen und Hörbüchern,97 zusätzlich den

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»DenkTag« sollte er zur Reflexion über die Vergangenheit mit ihren Konsequenzen und zugleich über die Zukunft anregen und somit historisch-gesellschaftlich präventiv wirken. Beispielweise: Wette, Wolfram/Überschär, Gerd R. (Hrsg.): Stalingrad. Frankfurt am Main 1997; Zank, Horst: Stalingrad. Kessel und Gefangenschaft. Berlin 2001; Walsh, Stephen: Stalingrad. Die Hölle im Kessel – 1942/43. Klagenfurt 2001; Zentner, Christian: Stalingrad. Wie es wirklich war. Rastatt 2001; Beevor, Antony : »Stalingrad«. Die Hölle im Kessel von Stalingrad von. Niederhausen 2002; Schüddekopf, Karl: Im Kessel. Erzählen von Stalingrad. München 2002; Pätzold, Kurt: »Stalingrad und kein zurück.« Wahn und Wirklichkeit. Leipzig 2002; Ebert, Jens (Hrsg.): Feldpostbriefe aus Stalingrad. Göttingen 2003; Spiegel TV Reportage: Stalingrad – ein deutsches Drama. Reportage. Deutschland 2003. Zum 60. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad präsentierte 2003 – 2004 das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlhorst eine Sonderausstellung: »Stalingrad erinnern«. Stalingrad im deutschen und russischen Gedächtnis. In dieser Ausstellung wurden Dokumente zu Stalingrad und seiner Deutung in der Vergangenheit in Architektur, Film, Literatur, Geschichtsschreibung und bildender Kunst zusammengestellt. Beispielsweise: Klemke, Christian: Stalingrad. (Tl. 1.: Der Rattenkrieg, Tl. 2.: Der Kessel.). RBB Dokumentarfilm. Deutschland 2002. Zum Beispiel: Fest, Joachim C.: Hitler. Frankfurt am Main/Berlin 1995; Ray : Leni Riefenstahl: Die Macht der Bilder. (The Wonderful, Horrible Life of Leni Riefenstahl). DokumentarBiographie-Film. Deutschland/England/ Belgien 1993. Unter anderem: Taylor, Telford: Die Nürnberger Prozesse. München 1996; Dressen, Wolfgang: »Aktion 3.« Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung. Berlin 1998. Es erschiene u. a.: Klemperer, Victor : Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1945. Berlin 1995; Reuth, Georg (Hrsg.): Joseph Goebbels. Tagebücher. München 1992; Anissimov, Myriam: Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Eine Biographie. Berlin 1999. Beispielsweise: Deutschland Radio Berlin: Geschichte zum Hören. 1945. Audiobook. Köln 2004; Walter Kempowski/Walter Adler : Echolot. Der Krieg geht zu Ende. Chronik für Stimmen – Januar bis Mai 1945. 7 CDs. München 2005; Tondokumente zur deutschen Geschichte: 8 Mai 1945 – Kriegsende. Sieben Faksimiles und eine CD. Braunschweig 2005.

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Spielfilm98 als äußerst wirksames Medium für die Einbeziehung des Publikums in die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bzw. mit dem Zweiten Weltkrieg

Der Spielfilm als neues Medium der Erinnerungskultur Den Auftakt für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Spielfilm bildete die amerikanische Verfilmung des Romans »Schindler’s Ark«99 von Thomas Keneally im Jahr 1993. Dieser Film über einen sudetendeutschen Industriellen, der während des Zweiten Weltkrieges Hunderte von Juden vor dem Tod gerettet hatte, regte erneut die Debatte zur filmischen Fiktionalisierung von Holocaust an, in der man auf die Gefahr der Banalisierung der Judenvernichtung durch das Nachspielen der Verbrechen hinwies sowie die Möglichkeit deren wahrheitsgetreuen bzw. nicht-subjektiven Widergabe in Frage stellte. Trotz Kritiken am Film wurde das Werk und damit auch die Darstellungsweise von Steven Spielberg, vor allem wegen der Betonung der Selbstverantwortung jedes Deutschen in der Zeit des Dritten Reiches, anerkannt und ausgezeichnet. Für die Verfilmung von »Schindlers Liste« erhielt er 1998 vom Bundespräsidenten Roman Herzog das große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland in Berlin. Der Spielfilm sollte eine Alternative zu den immer knapper werdenden Zeitzeugenberichten, zum Verlust der Erinnerung darstellen und somit einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis leisten. Eine ähnliche Diskussion wurde auch wenige Jahre später 1998 über den Film »Das Leben ist schön«100 von Roberto Benigni (im Original: »La Vita ¦ bella«) geführt. Das italienische Holocaust-Drama wurde für seine spezifisch ironische Schilderungsweise der Judenvernichtung mehrere Male international prämiert,101 was von der weltweiten Akzeptanz des Mediums Kinofilm zur Vermittlung der Holocaust-Geschichte zeugt. 98 In den Jahren 1989 – 1990 entstand eine deutsch-französisch-polnische Koproduktion unter der Regie von Agnieszka Holland: Holland, Agnieszka: Hitlerjunge Salomon/Europa Europa. Spielfilm. Deutschland/Frankreich/Polen 1989. (Der Spielfilm orientiert sich an der Autobiographie des Juden Sally Perel mit dem Titel »Ich war Hitlerjunge Salomon.«); Im Jahr 1996 wurde der Film von Ruth Beckermann: »Jenseits der Kriege« (Beyond War) ausgestrahlt: Beckermann, Ruth: Jenseits der Kriege (Beyond the War). Dokumentarfilm. Österreich 1996. 99 Spielberg, Steven: Schindlers Liste (Schindler’s Ark). Spielfilm. USA 1993. 100 Benigni, Roberto: Das Leben ist schön (La Vita ¦ bella). Spielfilm. Italien 1997. 101 1998 Italienischer Filmpreis »David di Donatello« für den besten italienischen Film, 1998 »Großer Preis der Jury« sowie 1999 »Spezialpreis des Publikums der Internationalen Filmfestspiele von Cannes«, 1998 Europäischer Filmpreis für den besten Film und den besten Hauptdarsteller, 1999 »Academy Award Oscar« für den besten fremdsprachigen

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Im Jahr 1993 erschien der Spielfilm »Stalingrad«102 von Joseph Vilsmaier, der das Drama der 6. Armee auch im Opferdiskurs präsentierte. Acht Jahre später wurde die deutsch-irisch-englische Koproduktion »Duell – Enemy at the Gates«103 veröffentlicht, in der Jean Jacques Annaud die Schlacht aus einer personalisierten Perspektive vorführte und dadurch dem Film Kritik für Geschichtsfälschung und -banalisierung einbrachte. Mit dem Jahr 2003 beginnt der »Gedenkmarathon« mit medial stimulierten Erinnerungen bzw. inszenierten Zeiträumen wie »60 Jahre Stalingrad« und »60 Jahre Ende des Zweiten Krieges«, der sich bis in das Jahr 2005 hinzog. Sowohl in den Inhalten von Texten104 als auch in den visuellen Medien war teilweise das Opfernarrativ zu finden. Im Jahr 2003 präsentierte Sönke Wortmann in seinem Film »Das Wunder von Bern«105, die Geschichte vom überraschenden Sieg Deutschlands bei den Fußballweltmeisterschaften im Jahr 1954 und somit der Wiederbelebung des deutschen Nationalgefühls. Gleichzeitig thematisierte er am Beispiel einer Vater-SohnBeziehung das Thema der deutschen traumatisierten Kriegsheimkehrer. Ein Jahr später feierte der Film »Der Untergang«106 von Oliver Hirschbiegel große Erfolge, der die letzten Tage des Dritten Reiches darstellte. Der Film gewann mehrere Preise: den Bayerischen Filmpreis, den deutschen Medienpreis »Bambi« sowie die Nominierung für den »Oscar«. Die Platzierung der Figur von Adolf Hitler in den Mittelpunkt des Filmes, konnte den Eindruck erwecken, der Führer wäre der einzig Verantwortliche für den Nationalsozialismus und die nationalsozialistischen Verbrechen, was erneut die deutsche Kollektivschuld-Frage zur Diskussion stellte. Ein weiterer thematisch ähnlicher Film von Dennis Gansel, der ein

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Film, die beste Musik eines Dramas und den besten Hauptdarsteller, 1999 »Deutscher Filmpreis« für den besten ausländischen Film, 1999 französischer »C¦sar«, britischer »BAFTA«, 2000 spanischer »Goya« Filmpreis, 1999 Preis der amerikanischen Schauspielergewerkschaft »Screen Actors Guild Award« für den besten Hauptdarsteller. Vilsmaier, Joseph: Stalingrad. Spielfilm. Deutschland 1993. Annauds, Jean-Jacques: Duell – Enemy at the Gates (Enemy at the Gates). Spielfilm. USA/ Deutschland 2001. Beispiele anderer in dieser Zeit publizierten Texte: Röhl, Klaus R.: Verbotene Trauer. Ende der deutschen Tabus. Tübingen 2002; Burgdorff, Stephan/Habbe, Christian: Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg in Deutschland. München 2003; Bahnsen, Uwe/ Stürmer, Kerstin: Die Stadt, die sterben sollte. Hamburg im Bombenkrieg. Juli 1943. Hamburg 2003; Brunswig, Hans: Feuersturm über Hamburg. Die Luftangriffe auf Hamburg im 2. Weltkrieg und ihre Folgen. Stuttgart 2003; Grassmann, Ilse: Ausgebombt. Ein Hausfrauen-Kriegstagebuch Hamburg 1943 – 1945. Hamburg 2003; Fuchs, Thorsten/Wittke, Stephan/Bothe, Karl-Heinz: Zwischen Angst und Alltag – Bomben auf Hannover – Sommer 1943. Wartberg Verlag 2004; Grayling, A. C./Schmidt, Thorsten: Die toten Städte. Waren die alliierten Bombenangriffe Kriegsverbrechen? München 2007. Wortmann, Sönke: Das Wunder von Bern. Spielfilm. Deutschland 2003. Hirschbiegel, Oliver : Der Untergang. Spielfilm. Deutschland 2004. Die Basis bildet das von Joachim Fest verfasste gleichnamige Werk und die Erinnerungen Hitlers Sekretärin Traudl Junge (beide Werke wurden 2 Jahre davor veröffentlicht). 2005 auch als TV-Version in ARD und ORF ausgestrahlt.

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Jahr später in den deutschen Kinos unter dem spektakulären Titel »Napola – Elite für den Führer«107 erschien, erzählte die Geschichte über eine Freundschaft zwischen zwei aus verschiedenen Milieus stammenden Zöglingen der nationalpolitischen elitären Erziehungsanstalt und machte dabei auf den extrem militärischen Drill und die ideologische Abrichtung von deutschen Jugendlichen im Dritten Reich aufmerksam. Auch in diesem Fall erfreute sich das Thema großer Resonanz und wurde neben deutschen Filmpreisen108 auch 2006 auf dem Internationalen Filmfestival von Pjöngjang (Nordkorea) ausgezeichnet.

Die neue Väterliteratur als Medium der Erinnerungskultur Jubiläumsdaten wie der 50. und 60. Jahrestag des Kriegsendes waren nicht ohne Bedeutung für die Veröffentlichung der Väterbücher. Im Jahr 2003 erschienen die Texte von Uwe Timm, Ulla Hahn109 sowie die aktualisierte Auflage von Peter Henischs »Die kleine Figur meines Vaters.« Ein Jahr danach veröffentlichten, u.a: Wibke Bruhns, Monika Jetter, Dagmar Leupold, Martin Pollack sowie 2005 Beate Niemann, Hans Weiss, Roma Ligocka, Richard von Schirach110 und Sigfrid Gauch legte seine erweiterte Ausgabe von »Vaterspuren« vor. In diesen Vaterbüchern111 wurde die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auf einer persönlichen Ebene gehalten, was beim breiten Publikum einen bemerkbaren Anklang fand. So schreiben sich die neuen Werke der Väterliteratur in die sich seit den 1990er Jahren etablierende Erinnerungskultur ein. Während in der Vergangenheit die Unvereinbarkeit von Privatem und Offiziellem für die Explosivität der Veröffentlichungen sorgte, scheinen die Texte die nach der deutschen Wiedervereinigung erschienen sind, ihre Stärke gerade in der Angleichung an den politisch-öffentlichen Diskurs zu finden. Sie bieten eine viel versöhnlichere und verständnisvollere literarische Bearbeitung der Annährungsversuche an eigenen Vater als in den rebellischen Jahren zuvor. Die älteren Publikationen, haben sich stärker in der Opposition zum offiziellen Diskurs profiliert. Sie zeichnen sich durch einen offensiveren und provokativeren Charakter aus. Die neusten Vätertexte bringen Inhalte auf den Plan, die im sozial-politischen Rahmen längst präsent sind sowie gesellschaftlich akzeptiert werden und den Erwartungen der breiten Öffentlichkeit entgegen kommen. Davon zeugen vor allem die Rezeption und die große Popularität dieser The107 108 109 110 111

Gansel, Dennis: Napola – Elite für den Führer. Spielfilm. Deutschland 2004. Deutscher Filmpreis (2004) und Bayerischer Filmpreis (2005). Hahn, Ulla: Unscharfe Bilder. Roman. München 2003. Schirach, Richard von: Der Schatten meines Vaters. München 2005. Zu den Texten wurden die bibliographischen Angaben bereits am Anfang des Kapitels angeführt.

Die neue Väterliteratur als Medium der Erinnerungskultur

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menauffassung auf dem Büchermarkt, die Birgit Neumann folgendermaßen erläutert: Ob ein literarischer Text von einer Gemeinschaft affirmativ, d. h. als Bestätigung ihrer Vergangenheitsauslegung, oder subversiv, also als Inszenierung von Gegenerinnerungen gelesen wird, hängt […] nicht nur von inhaltlich-formalen Aspekten ab, sondern auch von soziokulturellen Kontexten sowie Rezeptionspraxen. Hinzu kommt, dass natürlich auch Literatur in sozialsystematische Zusammenhänge eingebettet ist und ihre Rezeption von gesellschaftlichen Formen der Institutionalisierung wie die Verleihung von Literaturpreisen und anderen Kanonisierungsprozessen gesteuert werden kann. Auch die Deutung literarischer Texte und ihre potenzielle kulturelle Wirksamkeit unterliegen damit dem gesellschaftlichen Streit um Erinnerungen.112

Die zeitliche Distanz zum Dritten Reich sowie zahlreiche öffentliche Debatten zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus haben zu einem breiter angesetzten Umgang mit den Schattenseiten der deutschen Vergangenheit beigetragen. Die neuen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zum Dritten Reich sowie frische Impulse aus anderen Bereichen, vor allem der Psychotherapie sowie der Erinnerungskultur haben die Autoren der zweiten Väterbücherwelle weitgehend inspiriert. Trotz einer gewissen thematischen und handwerklichen Einheitlichkeit, die allen Väterbüchern zugrunde liegt, lassen sich doch Unterschiede und Akzentverschiebungen bemerken, die auf die jeweils aktuellen zeitgeschichtlichen Einflüsse zurückzuführen sind, die in vorangehenden Abschnitten besprochen worden sind. Hervorzuheben ist, dass mit der neuen Publikationswelle generell nicht mehr angeklagt und bewertet, sondern reflektiert und beschrieben wird. Die Texte sind als Annäherungsversuche zu begreifen, die durch das Verstehenlernen zum Dialog zwischen Generationen und der Versöhnung mit der Vergangenheit führen sollen.

112 Neumann, Birgit: Literarische Inszenierungen und Interventionen: Mediale Erinnerungskonkurrenz in Guy Vanderhaeghes The Englishman’s Boy und Michael Ondaatjes Running in the Family In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar : Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin 2004, S. 215.

3. Zur Gattung und Komposition Si fingat, peccat in historiam; si non fingat, peccat in poesin113

Das Thema der Auseinandersetzung mit dem Vater und seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges scheint sich in der deutschsprachigen Literatur auf Dauer verankert zu haben. Mittlerweile gehört es fest zur literarischen Landschaft der Nachkriegszeit. Die Thematik selbst, in ihren Grundzügen unverändert geblieben, wird durch unterschiedliche literarische Darstellungsarten stets neu dargeboten. Zu einer beliebten Form gehört die Vatersuche und im Falle der Texte der zweiten Publikationswelle, die VaterSpuren-Suche, die in der Regel allen Texten der Väterliteratur zugrunde liegt. Die Väterliteratur bildet einen Teil der Erinnerungsliteratur, deren Entstehung Aleida Assmann als »Antwort auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« nach 1945 sieht betrachtet: In diesem Genre sind die Grenzen durchlässig geworden zwischen autobiographisch inspirierten Lebenszeugnissen und hoch elaborierten literarischen Fiktionen. Historisches – sei es in autobiographischer, biographischer oder dokumentarischer Form – spielt eine große Rolle in der Erinnerungsliteratur. Die Bedeutung dieser Gattung besteht dabei darin, die zerstörerische Wucht der großen Geschichte in ihrem Niederschlag auf Einzelgeschichten und individuelle Schicksale zu vergegenwärtigen und sich dabei vornehmlich auf jene Erfahrungen zu konzentrieren, die weder in die historischen Darstellungen noch in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft eingegangen sind.114

Seit den 1980er Jahren wurde die Väterliteratur als Phänomen des deutschsprachigen Büchermarktes mehrmals in der literaturwissenschaftlichen Forschung auf ihre Gattungszugehörigkeit115 hin geprüft. Zu den bekanntesten 113 »Wer erfindet, versündigt sich an der Geschichte; wer nicht erfindet, versündigt sich an der Poesie.« Alsted. 17. Jh. Zitiert nach: Hahn, S. 229 u. S. 279. 114 Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? Vom Umgang mit Fakten und Fiktionen in der Erinnerungsliteratur. Vortrag zum XIII. Literarisch-politischen Symposium der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Humboldt Universität. Berlin 10.12. 2009, S.5. 115 Hier wird die Gattung im Sinne von Lejeune verstanden, der die »literarische Gattung [als] das variable, komplexe Zusammentreten einer gewissen Anzahl unterschiedlicher

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Zur Gattung und Komposition

Studien,116 welche die Väterliteratur untersuchen, zählen, u. a. Texte aus den 1980er Jahren von Michael Schneider und Reinhold Grimm, die wissenschaftlichen Beiträge aus den 1990 Jahren von Ralph Gehrke, Jochen Vogt und Claudia Mauelshagen sowie die kurz nach der Jahrtausendwende erschienenen Arbeiten von Zˇelijko Uvanovic´ und Barbara Kosta. So rechnet, beispielsweise Michael Schneider die Vätertexte, die von 1970 bis 1980 erschienen sind (u. a. von Ruth Rehmann, Sigfrid Gauch, Christoph Meckel, Peter Härtling) grundsätzlich den Väter- respektive Autobiographien117 zu, während Reinhold Grimm sie mehr als »eine neue Unter- und Mischgattung [betrachtet], in der das Biographische und Autobiographische zu einer Art Einheit verschmelzen.«118 Aleida Assmann bespricht in ihrem Text »Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur« die Väterbucher im Kontext der Erinnerungsliteratur, wobei sie zwischen ihren zwei Subgattungen unterscheidet: der »Väterliteratur«, die sie den 1970er und 1980er Jahren zuordnet und den »Familienromanen«, die sie den 1990er Jahren und der Zeit nach der Millenniumswende zuschreibt.119 Zwar sieht sie den gemeinsamen Nenner dieser Texte in der »Fokussierung auf ein fiktives oder autobiografisches Ich, das sich seiner/ ihrer Identität gegenüber der eigenen Familie und der deutschen Geschichte vergewissert,«120 doch differenziert sie im Hinblick auf die »Formen dieser Selbstvergewisserung«:

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Merkmale [definiert], die zunächst synchron, innerhalb des allgemeinen Lekt ü resystems einer Epoche, und dann analytisch, durch die Aufspaltung in multiple Faktoren mit wechselndem Stellenwert erfaßt werden müssen.« Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994, S. 8. Zu den wissenschaftlichen Beiträgen, die Väterliteratur zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen, gehören u. a.: Schneider, Michael: »Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren«. Darmstadt 1981; Gehrke, Ralph: Literarische Spurensuche. Elternbilder im Schatten der NS-Vergangenheit. Opladen 1992; Vogt, Jochen: Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt … Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher. In: Braese, Stephan/Gehle, Holger/Kiesel, Doron/Loewy, Hanno (Hrsg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, S. 385 – 399; Briegleb, Klaus/ Weigel, Sigrid (Hrsg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Bd. 12. München 1992; Mauelshagen, Claudia: Der Schatten des Vaters. Deutschsprachige Väterliteratur der siebziger und achtziger Jahre. Frankfurt am Main 1995; Uvanovic´, Zˇelijko: Söhne vermissen ihre Väter. Misslungene, ambivalente und erfolgreiche Vatersuche in der deutschsprachigen Erzählprosa nach 1945. Marburg 2001; Kosta, Barbara: Väterliteratur, Masculinity, and History : The Melancholic Texts of the 1980. In: Jerome, Roy (Hrsg.): Conceptions of Postwar German Masculinity. New York 2001, S. 219 – 242; Gehrke, Ralph: Literarische Spurensuche. Elternbilder im Schatten der NS-Vergangenheit. Opladen 1992; Komfort-Hein, Susanne: »Flaschenposten und kein Ende des Endes«. 1968: Kritische Korrespondenzen um den Nullpunkt von Geschichte und Literatur. Freiburg 2001. Schneider, Michael, S. 8 u. 54. Vgl. Grimm, Reinhold, S. 177. Vgl. Assmann, Aleida: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. Wien 2006, S. 26. Vgl. ebd., S. 26.

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Während die Väterliteratur im Zeichen des Bruchs steht – ihr thematisches Zentrum ist die Konfrontation, die Auseinandersetzung, die Abrechnung mit dem Vater, steht der Familienroman im Zeichen der Kontinuität – hier geht es um die Integration des eigenen Ich in einen Familienzusammenhang, der andere Familienmitglieder und Generationen mit einschließt. Im Familienroman gewinnt die Identitätssuche eine historische Tiefe und Komplexität, die in der Väterliteratur noch nicht angelegt ist. Das schlägt sich auch in der Schreibweise der Texte nieder, die im Falle des Familienromans immer stärker von Recherchen angetrieben und mit Materialien des Familienarchivs und anderen Dokumenten durchsetzt sind.121

Die Assmann’sche Differenzierung bezieht sich aber auf zwei miteinander nicht vergleichbare Ebenen: die Begriffe (Väter)Literatur und (Familien)Romane stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Die Gattung Roman stellt eine Untergruppe der Literatur dar. Der Begriff Väterliteratur definiert dagegen keine Gattungszugehörigkeit. In Abgrenzung zu Assmanns terminologischer Differenzierung wird in der vorliegenden Untersuchung die Väterliteratur als Sammelbegriff verstanden, der sowohl Erzählungen,122 (Täter-)Biographien123 als auch Romane124 (Familien- bzw. Generationenromane) mit einschließt. Trotz der Formvielfalt, und den jeweils spezifischen inhaltlichen Merkmalen, weisen alle analysierten Texte drei Grundmerkmale auf, nach denen in dieser Arbeit Väterbücher definiert werden: 1) Der Akt der Vatersuche bzw. der Vater-SpurenSuche, 2) ein autobiographischer Kern 3) die Korrelation von Fiktion und Faktizität.

Vater-Spuren-Suche Die Texte der Väterliteratur werden durch den Akt der Vater-Spuren-Suche strukturiert, wobei die Frage nach dem Vater inhaltlich den Ausgangs- und Endpunkt dieser Texte bildet. Generell lässt sich ein Verlaufsschema der VaterSpuren-Suche feststellen, das aus zwei gleichzeitig verlaufenden Handlungssträngen besteht. Der erste dieser Handlungsstränge bezieht sich auf die Gegenwart, in der die biographische Recherche und die Rekonstruktion der Vergangenheit des Vaters durchgeführt werden. Er bildet den dynamischen Teil des Hier und Jetzt. Der zweite Strang verläuft parallel zu dem ersten und veranschaulicht den Erinnerungsprozess des Erzählers. Die zwei Ebenen treffen im 121 Ebd., S. 26 f. [Hervorhebung: A. A.] 122 Sigfrid Gauch: »Vaterspuren. Eine Erzählung.« [Hervorhebung: D.B.] 123 Beate Niemann: »Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine TäterBiographie.« [Hervorhebung: D.B.] 124 Peter Henisch: »Die kleine Figur meines Vaters. Roman.« u. Dagmar Leupold: »Nach den Kriegen. Roman eines Lebens.« [Hervorhebung: D.B.]

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Verlauf der Handlung hin und wieder auf einander und ergänzen sich. So findet die Vatersuche einerseits auf der Ebene der Interaktion mit der Außenwelt und andererseits in dem Suchenden selbst statt. Die Vatersuche beginnt in der Regel mit einer Nachricht über den Tod des Vaters oder einer bisher nicht bekannten Information aus seinem Leben, welche die Spurensuchenden zur biographischen Recherche bewegt. Die Erzähler werden mit der Hinterlassenschaft des Vaters konfrontiert. Hauptsächlich anhand von Erinnerungen und schriftlichen Dokumenten versuchen sie den Lebenslauf des Vaters zu rekonstruieren. Dabei sammeln sie Informationen in Archiven und anderen Institutionen, in Gesprächen mit den Zeitzeugen sowie an Orten, an denen sich der Vater in der Vergangenheit aufgehalten hat. Dieses Verfahren wird vor allem in den neusten Vätertexten deutlich, in denen die Vatersuche durch die differenziertere Komponente der Spur eine viel komplexere Gestalt annimmt. Die Erinnerung an den Vater wird um andere Spuren unterschiedlicher Quellen bereichert. In den Vätertexten der Nachwendezeit wird die Polyphonie der Texte zusätzlich durch die Einbindung von Expertenstimmen aus dem Bereich der Zeitgeschichte125 (zur Problematik des Dritten Reiches und der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹), Psychologie bzw. Psychotherapie und Soziologie erreicht. Auszüge (und Statistiken) aus wissenschaftlichen Beiträgen erfüllen eine referenzielle Funktion. Sie unterstützen den Rekonstruktionsprozess, indem sie das Recherchematerial ergänzen und belegen. In der Analyse der Zeugnisse des Vaters wird an andere Texte, die sich auf den Aufgabenbereich des Vaters im Dritten Reich beziehen sowie an persönliche Dokumente126 und Lebensläufe127 anderer Personen, die eine ähnliche Funktion im Dritten Reich ausgeübt haben, angeknüpft. Parallelen werden auch in der Auseinandersetzung anderer Erzähler mit ihrem Vater gesucht. Die Erzählerin Monika Jetter128 erwähnt in diesem Kontext Bernward Vespers »Die Reise«, 125 Beate Niemann bespricht beispielsweise ihre Fragen persönlich mit zeitgenössischen Historikern. u. a. mit: Dr. Messerschmidt vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg; Christoph Graf – Leiter des Berner Bundesarchivs; Gestapo-Forscher KlausMichael Mallmann; Dr. Johannes Tuchel – Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand; französischen Gestapo-Experten: Beate Klarsfeld, Rita Thalmann, Jacques Delarue; Dr. Hermann Simon – Leiter der Stiftung »Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum«, Historiker Franz Weisz aus Wien (dieser wird auch von Hans Weiss erwähnt). 126 Uwe Timm bezieht sich, beispielsweise auf das Kriegstagebuch der SS-Totenkopfdivision sowie das Tagebuch von General Heinrici. Oft werden die Soldaten-Väter mit den kaltblütigen Soldaten Ernst Jüngers verglichen (Ernst Jünger wird in mehreren Werken erwähnt). Kurt Meyer liest das Werk seines Vaters (Kurt Meyer : »Grenadiere.«) sowie andere Publikationen über Vater, u. a.: B.J.S. Mcdonald: »The Trial of Kurt Meyer ;« Tony Foster : »Meeting of Generals.« 127 Pollack vergleicht den Lebenslauf seines Vaters, mit dem seines Bruders, mit dem von Ernst Kaltenbrunner sowie mit der juristischen Laufbahn von Dr. Werner Braune. 128 Vgl. Jetter, S. 22.

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Christoph Meckels »Suchbild« (auch von Kurt Meyer genannt), Peter Härtlings »Nachgetragene Liebe« sowie Brigitte Schwaigers: »Vaterspuren,«129 von denen sie sich inspirieren ließ. Ähnlich ist es bei der Erzählfigur Ute Scheub, die ihre Vatersuche folgendermaßen schildert: Recherchiert, bei verschiedenen Archiven angefragt, Dokumente zusammengetragen habe ich seit Jahren, in immer neuen Anläufen, aber dann habe ich die Papiere doch wieder beiseite gelegt. Für das Niederschreiben brauchte ich die konstante Ermutigung und Freundinnen. Und literarische Vorbilder, die die Verstrickung ihrer Eltern oder Großeltern in den Nationalsozialismus zu ihrem Thema gemacht hatten.130

Hier wird die Rekonstruktion der Vergangenheit des Vaters, wie in der historischen Forschung, als ein kontrastives Vorgehen verstanden, das der Annährung an die »Wahrheit« über den Vater dienen soll. In den Fällen, in denen im Zuge der Vater-Spuren-Suche vordergründig das biographische Profil des Vaters – eines mutmaßlichen NS-Täters erstellt wird, kommen die Texte zugleich einer modernen Täterbiographie nahe, ein Konzept, das auf den Anfang des XVIII. Jahrhunderts, auf das Werk »Causes c¦l¦bres et int¦ressantes (Berühmte und interessante Gerichtsfälle)«131 von Francois Gayot de Pitaval zurückgeht. Der Akt der Spurensuche gleicht dann oft einer retrospektiven Fallgeschichte, die in ihrer Struktur den »Pitaval«-Geschichten ähnelt.132 Der Suchvorgang besteht, wie in den prototypischen Fallgeschichten, aus einer Vorgeschichte, Hintergrundinformationen, einer Reise, dem Tathergang, Reflexion und, in wenigen Fällen, der Hinrichtung. Anders als in herkömmlichen Kriminalerzählungen bildet den Ausgangspunkt in der Vater-SpurenSuche nicht die Verübung der Straftat, sondern, wie in den »Pitaval«-Geschichten, die Schilderung der Vorgeschichte und Kindheit des mutmaßlichen Täters mit seinen psychischen Voraussetzungen.133 Im Mittelpunkt stehen nicht ausschließlich das Verbrechen und der mutmaßliche Täter selbst, sondern seine Motivation und die Umstände, die ihn zur Tat verleitet haben. Die Merkmale, die Alexandra Krieg in Bezug auf die »Pitaval«-Fälle herausarbeitet überschneiden sich im großen Maße mit den Elementen einer Vater-Spuren-Suche, die sich auf mutmaßliche nationalsozialistische Täter (z. B. bei Beate Niemann) bezieht: Die Täterbiographie, wie man es heute bezeichnen würde, konstruiert sich über authentische Tagebuchaufzeichnungen, lenkt das Interesse des Lesers psychogrammartig auf […] innere Motivation [des Täters] und balanciert zwischen Außen- und Innen129 Wahrscheinlich wird hier der Text von Schwaiger: »Lange Abwesenheit« gemeint. 130 Scheub, S. 256. 131 Vgl. Krieg, Alexandra: Auf Spurensuche. Der Kriminalroman und seine Entwicklung von den Anfängen zur Gegenwart. Marburg 2002, S. 12. 132 Vgl. Krieg, S. 12. 133 Vgl. ebd., S. 14 f.

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Zur Gattung und Komposition

ansicht des Verbrechers hin und her. […] Mit der Darstellung der Tathintergründe beginnt der fiktionale Teil der Geschichte. Die Autoren beginnen vom dokumentarischen weg, hin zum produktiven Vorgang des Erzählens abzuweichen und fügen dem Fall eigene hypothetische Interpretationen hinzu.134

Des Weiteren lassen sich in den Väterbüchern, in denen der Vater eines nationalsozialistischen Verbrechens verdächtigt wird, Vorgehensweisen auffinden, die charakteristisch für das kriminalistische Suchverfahren einer Fallgeschichte sind: die Erstellung des »Täter«-Profils, die Überprüfung des Beweismaterials, die Durchführung der Datenerhebung, der Milieu-Ermittlung und der Gedankenstudie zum mutmaßlichen Täter, die Bewältigung von Hindernissen im Laufe des Ermittlungsprozesses sowie die Berücksichtigung der Vielfalt von Möglichkeiten in der Spurendeutung. Dabei stellt der Puzzlecharakter der Vätertexte, so typisch für Kriminalromane im goldenen Zeitalter135 der Gattung, ein zentrales Merkmal jeder Vater-Spuren-Suche dar.

Darstellungsmodalitäten der Vater-Spuren-Suche In jedem der hier analysierten Texte begibt sich die Erzählfigur auf die Suche nach ihrem Vater, indem sie die gefundenen Spuren zusammenstellt, bewertet und kommentiert. Jeder Autor konstruiert die Suche auf seine eigene Art und Weise, welche die Bedeutung der »subjektiven Haltung des Autors zum Erzählen« unterstreicht: »Spannend daran ist weniger der Stoff, den man grosso modo als bekannt voraussetzten darf, als vielmehr die Art, wie ein Autor sich dazu ins Verhältnis setzt – Haltung also statt Enthüllung.«136 Auch das Verständnis und der Stellenwert der Spur variiert von Text zu Text. Der Suchverlauf wird, trotz der einheitlichen Grundstruktur, je nach Text unterschiedlich literarisch ausgearbeitet und zeichnet sich durch verschiedene thematische Schwerpunktsetzungen aus, was zur Spezifik der Darstellungsweise beiträgt. So wird die Vater-Spuren-Suche in Sigfrid Gauchs Text von zwiespältigen Gefühlen gegenüber dem Vater geprägt. Sie oszillieren zwischen Annahme und Verurteilung, zwischen Liebe und Unverständnis, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Monika Jetter verfasst die Spurensuche aus dem Blickwinkel der (Nach-)Kriegskindergeneration, mit der sich die Erzählfigur solidarisiert und über die Wir-Perspektive identifiziert. Sie hebt in ihrem Text den Aspekt der 134 Ebd. 135 Die literarische Epoche des Goldenen Zeitalters, zu der u. a. Agatha Christie gehört, bildete die Blütezeit des Detektivromans auf dem anglo-amerikanischen Büchermarkt in den 20er/ 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. Vgl. ebd., S. 37 u. 49 f. 136 Magenau, Jörg: Die schrecklichen Kriegsväter. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen. Heft 12/2004, S. 70 f.

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nationalsozialistischen Erziehungsmaßnahmen, der Situation der Ruinenkinder sowie der Kriegstraumatisierung hervor, wobei sie sich vor allem auf psychoanalytische bzw. psychotherapeutische Fach-Literatur bezieht (genauso wie Ute Scheub, wenn sie die Problematik der Täter- und Opferkinder sowie der transgenerationellen Trauma-Übertragung beschreibt). Kurt Meyer analysiert die Vaterfigur durch das Prisma der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und orientiert sich in der Vatersuche weniger chronologisch als vielmehr thematisch.137 Die Annährung an den Vater wird unter mehreren thematischen Aspekten der Problematik des Dritten Reichs138 sowie der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ unternommen. Sein Text überwindet in den 1990er Jahren das bisherige Modell der Auseinandersetzung mit dem Vater, indem er durch das Anführen von historischen Beiträgen und Publikationen von Experten einen wissenschaftlichen Duktus aufweist. In Härtlings »Nachgetragener Liebe,«139 besitzt der Titel eine leitmotivische Bedeutung. Die Erzählung wird in ihrer Semantik von Nachträglichkeit geprägt und ist als nachträgliche schmerzvolle Annährung an den Vater zu verstehen, wobei sich die Beziehung zum Vater im Laufe des Erzählens wandelt. Der vorwurfsvolle Ton der Erzählfigur gegenüber dem Vater schwindet proportional zu der Annährung an ihn. Je weniger den Beiden der Erzähl-Zeit für einander bleibt, desto versöhnlicher und vertraulicher wird der Ton. Je mehr sich die Erzählfigur ihrer Ausgangsposition, der Gegenwart, annähert, desto bewusster wird sie sich der Überlegenheit ihres Alters, desto mehr Verständnis kann sie gegenüber der Vergangenheit aufbringen: Der Vater könnte ihr jüngerer Bruder sein. Dabei wird die Rekonstruktion des Vergangenen ausschließlich auf der Basis von Kindheitserinnerungen durchgeführt: Ich will das Kindergedächtnis in meinem Kopf nicht festlegen. Ich will mich mit Daten nicht gegen die Verstörung wehren, gegen die durcheinandergeratene Zeit, die nur in Bildern genau ist. Wir, du und ich, haben noch fünf Jahre vor uns, und ich möchte 137 Nachdem Ute Scheub den Lebenslauf des Vaters in fast nur einem Kapitel zusammenfasst, sind die darauf folgenden Kapitel auch eher thematisch geordnet. 138 Das Verständnis von Pflicht, Gehorsam und Moral, die Bevölkerungs- bzw. Rassenpolitik in Osten, die LTI-Sprache, die Mythisierung der deutsch-preußischen Geschichte (die Mythisierung von Friedrich dem Großen und der preußische Prinzipien), die NS-Verbrechen (mit Nachdruck auf Konzentrationslager, z. B. Groß Rosen, Dachau, Sachsenhausen, Auschwitz), die 68er-Bewegung, Flucht und Vertreibung, das Problem der historischen Wahrheit sowie Tabuisierung der Verbrechen des III Reiches. Er behandelt die Tabu-Frage bezüglich des Umgangs mit den Verbrechen des III. Reiches im Nachkriegsdeutschland. Unterstreicht die bis in das Ende der 1980er Jahre verschwiegene Rolle der Journalisten, Juristen, Ärzte, Industrie sowie der Kirche im Dritten Reich. Er rechnet mit Nachkriegsdeutschland und der SS als Alibi der ganzen Nation ab, indem er darauf hinweist, dass sein Vater genauso ein Verbrecher war wie die ganze deutsche Gesellschaft und wirft dem Vater vor allem das fehlende Erwachen nach dem Krieg vor. 139 Härtling, Peter : Nachgetragene Liebe. Darmstadt. 1980.

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Zur Gattung und Komposition

schon aufgeben, das Kind aus meiner Erinnerung vertreiben, denn meine alt und schlau gewordene Sprache widersetzt sich seiner Sprachlosigkeit.140

Peter Härtling entblößt schon in den 1980er Jahren die brutale Realität der Heimatfront: die pathologischen Verhältnisse innerhalb der sich auflösenden Familien, den Alltag der sogenannten »Kinder ohne Heimat,« das Bunkerleben während der Bombardierung von deutschen Städten sowie Flucht vor den Rotarmisten. Daneben schildert er die Diskriminierungsmaßnahmen gegen Nicht-Mitläufer und Juden und gibt einen Einblick in die Situation der Tschechen im Protektorat Mähren und Böhmen. In Uwe Timms Werk wird der Vater am Beispiel des Bruders analysiert. Über seine Person kommt die Erzählfigur dem Vater näher, der für das Erzählte als graue Eminenz das Zentrum darstellt. Er steht scheinbar nicht im Mittelpunkt des Textes, dennoch ist er die Figur, die auf alle Familienmitglieder und ihre Lebensgeschichten Einfluss ausübt und sie miteinander verbindet. Der Text von Ruth Rehmann versucht durch die Spurensuche sowohl das in der Familie vorherrschende Tabu Sexualität, die Funktion von Stereotypen als auch das etablierte Vaterbild zu revidieren. Dabei wird das Erzählte aus drei Perspektiven zusammengesetzt, die auf die soziale Rolle des Vaters zurückzuführen sind und es dadurch ermöglichen, zwischen unterschiedliche Bildern des Vaters zu differenzieren. In den persönlichen Kindheitserinnerungen der Erzählfigur fungiert er als »(mein) Vater,« im Kontext seiner Lebensgeschichte wird er mit dem Vornamen Reinhold genannt, wieder in den Textpassagen, in denen seine Gemeindearbeit sowie politische Haltung zur Sprache kommt, wird er als »Pfarrer« bezeichnet. Der Erzähler Peter Henisch rekonstruiert die Geschichte des Vaters, u. a. aus Tonbandaufnahmen, auf die der Vater seine Lebensgeschichte noch zu seiner Lebzeit gesprochen hatte. Im Rahmen der Vater-Spuren-Suche beschäftigt sich der Sohn zugleich mit dem Schreibprozess über den Vater. Über ihn verläuft nämlich die Identifizierung der Erzählfigur mit der Vaterfigur, wobei an manchen Stellen sogar eine Überschneidung beider Identitäten stattfindet, wenn der Sohn in die Rolle des Vaters schlüpft. Der Erzähler setzt sich vor allem mit dem politischen Opportunismus seines Vaters auseinander, der symbolisch mit dem Balancieren eines Seiltänzers141 veranschaulicht wird: 140 Ebd., S. 36. 141 Ruth Rehmann bedient sich auch des Symbolisch-Metaphorischen, während sie das Thema Sexualität anspricht. Außerdem wird das Phänomen des Gedächtnisses in Metaphern reflektiert und das Verdrängte von Meyer und Scheub als Dachboden dargestellt. Er symbolisiert die Tiefen des Gedächtnisses in denen man »unordentliche Familienangelegenheiten« (Scheub, S. 9) zu verbergen sucht, die trotz des Zeitvergehens nicht verstummen wollen. So Scheub: »Die Tür zum Dachboden ist immer noch die Geheimnistür meiner Kindheit. Auch damals hat sie wie ein Gespenst aufgeheult, wenn ich sie geöffnet habe.« (Ebd., S. 9). So üben in fast allen Texten beschriebenen Träume (sie sind sowohl in dem Text

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Du musst wissen, mein Sohn, eigentlich ist das alles halb so wild. Es kommt darauf an, ruhig Blut zu bewahren, ob du dann als Jud übers Seil gehst oder als Nazi oder als Kommunist, ist im Grund egal. Solang die Balancestange – und die Balancestange ist natürlich auch ein Gradmesser deiner inneren Balance – solange die Balancestange waagrecht bleibt, brauchst du nichts anderes zu machen als hinter ihr herzugehen, denn die Balancestange führt dich.142

Die österreichischen Autoren der zweiten Publikationswelle setzen sich mit den Vätern auseinander, indem sie gleichzeitig die Entwicklung des Nationalsozialismus auf den ehemaligen Gebieten der habsburgischen Monarchie schildern: Hans Weiss auf der regionalen Ebene eines Dorfes143 und Martin Pollack am Beispiel der deutschen Minderheit in den slowenisch-österreichischen Grenzgebieten (Gotschee, Tüffer, Laibach). Hans Weiss schildert in seinem Vaterbuch nationalsozialistische Propaganda und Repressalien im kleinen Dorf des Vaters, in dem sich die Spaltung der österreichischen Gesellschaft schon auf der lokalen Ebene zeigt: die Dorfbewohner teilten sich in Braune (Nazis) und Schwarze (ihre katholischen Gegner) – »Rote« haben sich nicht bemerkbar gemacht – angesichts der Anfänge der Bewegung. Der Bericht von Martin Pollack wird nach dem Prinzip der umgekehrten Pyramide (inverted pyramid),144 die typisch für Nachrichtensendungen ist, dargeboten. Er wird mit der Information über einen Leichenfund im Bunker am Brenner eröffnet. Der Ermordete wird als Pollacks Vater identifiziert. Darauf wird, u. a. die Geschichte der Vorfahren, der Lebenslauf des Vaters mit Hintergrund- bzw. Nebeninformationen geschildert, bis der Erzähler am Ende des Textes zur Aufschlüsselung des Mordfalls kommt. Somit wird die Geschichte nach dem charakteristischen Muster der journalistischen Nachrichtenmeldung konzipiert, die nach der Hauptmeldung (dem Kern von Sigfrid Gauch, Ute Scheub als auch dem von Uwe Timm von Bedeutung) auch eine ähnliche Funktion aus. Sie verbildlichen die Ebene des Unterbewusstseins. 142 Henisch Peter : Die kleine Figur meines Vaters. Roman. München 1980, S. 233. Das Motiv des Seiltänzers kommt auch bei Georg Heym in seinem Gedicht »Die Seiltänzer« vor. Siehe: Heym, Georg: Die Seiltänzer. In: Schneider, Karl Ludwig (Hrsg.): Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Bd. I. München 1964, S. 435. Georg Heym als Friedrich-NietzscheLeser hat dieses Motiv wahrscheinlich dem Werk »Also Sprach Zarathrusta« entliehen. Bei Picasso verkörpert der Seiltänzer den Frieden (in seinem Bild mit demselben Namen betitelt). Das Motiv inspirierte auch andere Künstler, wie beispielsweise: Paul Klee und sein Kunstdruck »Der Seiltänzer«, August Macke und sein Bild »Seiltänzer«, Siegfried Ulmer und seine Installation »Seiltänzer«, Trak Wendisch und seine Kunstinstallation im Innenhof des Berliner Auswärtigen Amtes sowie Jerzy Ke˛dziora und seine Skulptur in Bromberg unter dem Namen »Man crossing the river« bekannt. 143 Ein Bauerndorf im Westen Österreichs (der Name des Dorfes wird nicht verraten). Zusätzlich behandelt Weiss das Thema der polnischen und russischen Zwangsarbeiter sowie die Abtransporte der Behinderten. Ähnlich wie Beate Niemann weist er auf die nicht abgeschlossene Entnazifizierung im öffentlichen Dienst in Österreich hin. 144 Siehe Näheres zum Prinzip der umgekehrten Pyramide: Weischenberg, Siegfried: Nachrichten-Journalismus. Anleitungen und Qualitäts-Standards für die Medienpraxis. Wiesbaden 2001, S. 79 – 81.

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Zur Gattung und Komposition

des Berichts, dem sogenannten Aufmacher), zuerst mehrere nebensächliche Informationen anführt und somit Spannung aufbaut, bis schließlich der Kern wieder aufgegriffen und damit die Kreiskonstruktion geschlossen wird.145 Dagegen ist der dokumentarische Beitrag von Beate Niemann hauptsächlich auf die politische Situation der nationalsozialistischen Verbrecher in Haft, in der DDR, auf die Stasi-Tätigkeit und die damit verbundene gegenwärtige (politische) ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ fokussiert. Sie übernimmt die Rolle einer Dokumentaristin, die ihre Forschung zur Person des Tätervaters im Rahmen einer wissenschaftlichen Recherche und Archivarbeit anstellt. Im Zentrum ihrer Spurensuche steht grundsätzlich der Vater als Akteur der Zeitgeschichte, den sie jedoch an manchen Textstellen, unerwartet für sich selbst, mit ihrer eigenen Person in Verbindung bringt: »Das unvermittelte Auftauchen der Bilder ist ein furchtbarer Moment. Aus der Person der Zeitgeschichte wird plötzlich mein Vater. Ich verliere die Fassung.«146 Im Rahmen der Vater-Spuren-Suche von Christoph Meckel, in der der Erzähler näher auf die literarische innere Emigration – das Milieu seines Vaters eingeht, wird das bisherige Vaterbild hinterfragt und neu konstruiert. Neben Infinitivkonstruktionen, substantivischen Aufzählungen und Wiederholungen ist Ironie eines der Merkmale von Meckels lyrischer Prosa, mit der Distanz zu der Haltung des Vaters geschaffen wird. Zu demselben Zweck wird dieses Stilmittel in Ute Scheubs Text147 verwendet. Sowohl die Handlung als auch die tragische Figur des Vaters werden immer wieder, im Stil von Günter Grass, ins Lächerliche gezogen: »Widmen wir uns also dieser jungen Liebe. Ich bitte die Regie um Geigenmusik und niederschwebende Rosenblätter. Tiefe Blicke, ein schüchternes Lachen, ein gemeinsamer Spaziergang, vielleicht bei Vollmond.«148 Neben der Empörung, »Mich hält die Wut gepackt. Eine uralte Wut«149 ist Spott das einzige, was die Erzählerin für die Vaterfigur übrig hat: »Beruhigen Sie sich doch bitte, Herr Manfred Augst Freiherr von Möchtegern Goethe.«150 Sarkasmus und Ironie werden zur Veweigerungsstrategie, zur Waffe gegen die Vergangenheit des Vaters und der Art mit ihr umzugehen. Damit werden die Gegenposition und die Abneigung gegen die Vaterfigur zum Ausdruck gebracht sowie die persönliche Betroffenheit überspielt. Scheub macht ein anderes literarisches Werk und dessen Autor zum leitmotivischen Bezugspunkt ihres Textes: Günter Grass und die Auszüge aus seinem 145 Vgl. ebd., S. 79 – 81. 146 Niemann, S. 30. 147 Charakteristisch für Scheubs Prosa sind ebenfalls Wortspiele: »Wie ein Verrückter hat mein Vater damals Texte produziert. Als ob er sich im gesunkenen Schiff Nationalsozialismus hätte ab-dichten müssen gegen aufkommende moralische Zweifel.« Scheub, S. 152. 148 Ebd., S. 357. 149 Ebd., S. 51. 150 Ebd., S. 181.

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Roman »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« werden regelmäßig in den Hauptteil des Werkes miteingeflochten. In Wibke Bruhns »Meines Vaters Land« werden die Familienmitglieder im Erzählverlauf zu Figuren einer Chronik. Sie fungieren im Text unter ihren Namen, wobei der Vater öfters mit Initialen HG: Hans Georg abgekürzt wird. Auf diese Weise wird die Außenperspektive hinsichtlich einer vergangenen anderen Welt betont. Im chronikalischen Erzählvorgang übernimmt die Erzählfigur die Rolle des Zuschauers, der die Figuren unsichtbar begleitet. Schritt für Schritt verfolgt er ihre Spuren, wird langsam in ihr Leben eingeweiht und wandelt sich zum Insider, der nicht nur Zeugnisse der vergangenen Zeit sichtet, interpretiert oder hinterfragt, sondern sich immer mehr in der Handlung engagiert, häufig spontane Kommentare in Umgangssprache hinzufügt, erlebte Rede einsetzt und somit den Erzählstil bricht: Ich schleiche um meinen Computer herum seit Tagen. Ich kann nicht weiterschreiben. Ich fürchte mich vor den nächsten Eintragungen in HGs Tagebuch. Habe ich mir nicht wieder und wieder vorgebetet, ich kann ihn mir nicht backen anders als er ist? Es ist sein Leben. Er hat dafür bezahlt. Ich muß mich raushalten. Ich bin Chronistin. Aber ich begleite ihn jetzt schon so lange.151

Die emotionale Haltung der Erzählfigur wird durch die wiederkehrende Anteilnahme an dem Geschehen sichtbar. Sie kann sich ihren belehrenden Ton nicht verbieten, wenn sie gegenüber ihren Protagonisten kritisch wird: »Muß das sein?«152 Die Geschichte wird wie ein Schauspiel verfolgt, in dem die Figuren für Emotionen und Sympathien sorgen und in dem an das Gute geglaubt wird: »Mir steigen die Tränen auf, wenn ich sehe, dass Else nicht verzeihen kann – sie hat doch so oft verzeihen müssen! Else – bitte! – noch ein einziges Mal!«153 Sie hat ihren eigenen Verlauf, dem die Protagonisten ausgeliefert sind: Ich möchte mich jetzt am liebsten verabschieden aus dieser Geschichte, einfach aufhören und sie unvollständig lassen. Ich möchte so tun, als hätte ich es in der Hand, ob sie weitergeht oder nicht. Ich habe es nicht in der Hand, und nirgendwo steht geschrieben, daß ich mich wohl fühlen soll mit dem, was ich erzählen muß. Die anderen, damals, haben es sich auch nicht aussuchen können.154

Die Erzählerin fühlt mit und erlebt nach. Sie präsentiert sich dabei als allwissend155 und ist dadurch ihren Figuren überlegen: »Kurt kann nicht wissen, daß 151 152 153 154 155

Bruhns, S. 245. Ebd., S. 221. Ebd., S. 343. Ebd., S. 368. Monika Jetter nutz ebenfalls ihr Wissen, um Spannung im Erzählprozess aufzubauen. Sie macht Andeutungen, blickt voraus, fragt, schiebt aber gleichzeitig die Antworten hinaus, wenn sie sagt: »Damals konnte ich nicht wissen, dass ich mich eines Tages an seine Fragen erinnern sollte« oder »Wie er zu dieser Sprache kam, erfuhr ich auch erst später.« Jetter, S. 44 f. Peter Henisch macht das Gegenteil, er verwendet Rückgriffe bzw. Flash-backs. Den

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Zur Gattung und Komposition

[…],«156 »viel später wird er sagen […],«157 »davon kommt noch. Später«158, »aber eins nach dem anderen,«159 »Ich kann HG nicht folgen. Will ich auch nicht. Ich weiß doch, wohin das führt. HG weiß das nicht, damals.«160 Die Erzählfigur wird zum Vermittler, die den Leser zum Dialog einlädt: »Geht uns das nicht allen so?«161 Ebenfalls unter Initialen, fungiert der Vater R.L.: Rudolf Leupold in Dagmar Leupolds Roman, in dem sich zwei Teile unterscheiden lassen: Der erste schildert das Familienleben in der Nachkriegszeit und kommt daher einem Familienroman nahe, der zweite Teil beschreibt die Lebensgeschichte des Vaters und ist im Stil der Auseinandersetzung mit dem Vater aus den 1970er und 1980er Jahren gehalten. Dabei tragen die einzelnen Kapitelüberschriften: »Krambambouli,«162 »Ruppertsklamm,«163 »Blaue Stunde,«164 »Ich bin ein heiliger Reiter,«165 »Sich abfinden und gelegentlich aufs Wasser sehen,«166 »Seid aber Täter des Worts,«167 »Mimosen,«168 referenziellen Charakter und verweisen häufig auf andere Werke.

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Ausgangspunkt des Textes bildet die offizielle Verleihung des Anerkennungszeichens der Landesregierung für Verdienste um das Land Wien. Zu diesem Anlass wird in Kürze der Lebenslauf von Walter Henisch präsentiert, in dem eine Lücke in der Zeit des Nationalsozialismus zu bemerken ist. Danach folgt im Text ein Rückgriff auf die Ereignisse vom Vortag. Bruhns, S. 70. Ebd., S. 83. Ebd., S. 141. Ebd., S. 158. Ebd., S. 271. Ebd., S. 158. »Krambambouli« ist ein Studentenlied. Dagegen: »Krambambuli« ist der Titel der Erzählung von Marie von Ebner-Eschenbach aus dem im Jahr 1883 veröffentlichten Zyklus »Dorfund Schlossgeschichten«. Wanderweg bei Lahnstein. »Blaue Stunde« ist ein dichterischer Begriff für die Zeit der Dämmerung. Es ist ebenfalls der Titel eines Gedichts von Gottfried Benn aus dem Jahr 1950. Siehe: Benn, Gottfried: Blaue Stunde. In: Benn, Gottfried: Sämtliche Gedichte. Stuttgart 1998, S. 246 f. »Der Heilige Reiter« (Auszug aus dem Krieg 1914) ist ein Gedicht von Rudolf. G. Binding. Siehe: Binding, Rudolf G.: Gesammeltes Werk. Band 1. Mit einem Geleitwort von Rudolf Bach. Hamburg 1954, S. 474. »Sich abfinden und auf Wasser sehen«, gab der späte Gottfried Benn als stoische Parole aus, als die politische Katastrophe des Nationalsozialismus zu bewältigen war. Heidbrink, Ludger/Leggewie, Claus/Welzer, Harald: Von der Natur- zur sozialen Katastrophe. In: Die Zeit 01. 11. 2007. Nr. 45. [Stand: 12. 10. 2008]. »Seid aber Täter des Wortes und nicht allein Hörer, die sich selbst betrügen.« Luther, Martin (Übers.): Jak. 1,22. In: Die Bibel nach Übersetzung M. Luthers mit Konkordanz, Leipzig, 1991, S. 283. Ebenfalls die Bezeichnung von empfindlichen Menschen.

Das Autobiographische

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Das Autobiographische Den zentralen Bestandteil aller Vätertexte macht das Autobiographische aus, das von Philippe Lejeune folgendermaßen definiert wird: »Rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.«169 Dabei nennt er stichpunktartig die wichtigsten Merkmale auf mehreren Textebenen, die für die Kategorie zwingend sind: 1 a) b) 2. 3.

Sprachliche Form: Erzählung in Prosa Behandeltes Thema: individuelles Leben, Geschichte einer Persönlichkeit. Situation des Autors: Identität zwischen dem Autor (dessen Namen auf eine tatsächliche Person verweist) und dem Erzähler. 4. Position des Erzählers: a) Identität zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur b) rückblickende Erzählperspektive.

Eine Autobiographie ist jedes Werk, das sämtliche Bedingungen in jeder einzelnen Kategorie erfüllt. Die Nachbargattungen der Autobiographie erfüllen nicht alle diese Bedingungen: – Memoiren: (2) – Biographie: (4a) – Personaler Roman (Ich-Roman): (3) – autobiographisches Gedicht: (1b) – Tagebuch: (4b) – Selbstporträt oder Essay : (1a und 4b).170

Diese Schlüsselmerkmale können variiert und mit unterschiedlicher Ausprägung eingesetzt sein, jedoch bleibt laut Lejeune die Übereinstimmung der Identität des Autors mit der Erzählfigur (ferner mit der Hauptfigur) für die Autobiographie unabdingbar. Dies ist in den Väterbüchern zu erkennen. Die Identifizierung der Erzählfigur verläuft meistens aufgrund mehrerer Indizien problemlos, obwohl nicht sie selbst, sondern der Vater im Vordergrund des Textes steht. Trotzdem kommt sie immer wieder zum Vorschein und sorgt mit ihrer Präsenz für ein Spannungsverhältnis zur Hauptfigur. Nicht sie selbst befindet sich im Zentrum der Analyse, sondern ihre Identitätsbeziehung zum Vater. Während der Autor und zugleich der Erzähler die Biographie seines Vaters 169 Lejeune, S. 14. 170 Ebd., S. 14. (In Klammern jeweils die nicht erfüllte Bedingung)

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Zur Gattung und Komposition

(re-)konstruieren, gibt er gleichzeitig Informationen aus seinem eigenen Lebenslauf preis, so dass der Text mindestens autobiographische Färbung erhält. Er schreibt generell in der ersten Person, was nach G¦rard Genette von einer »autodiegetischen Narration«171 zu sprechen erlaubt. Die Erzählfiguren der Texte kommen in der ersten Person zu Wort, die gelegentlich zur dritten wechselt. Dies passiert hauptsächlich an den Textstellen, in denen über ihre Kindheit erzählt wird (z. B. wird bei Ruth Rehmann die dritte Person angewandt, wenn sie sich in ihre Kindheitserinnerungen begibt und sich zu sich selbst, dem Kind distanziert172). So wird zwischen der Gegenwart in Ich-Form und der erinnernden Vergangenheit in der dritten Person differenziert. Das »Ich« betreibt die Recherche, um sich im Moment der Kindheitserinnerungen zurückzuziehen und »das Kind« sprechen lassen. Das Oszillieren zwischen beiden Formen wird besonders im Laufe der Erzählung von Ruth Rehmann sichtbar : »Das Kind« geht im Zuge des Erwachsenswerdens über das »Sie« bis hin in das gegenwärtige »Ich« über. Gleichzeitig widerspiegelt die Identitätsspaltung den Prozess der Entfremdung des Kindes vom Vater: vom kindlichen »Es« bis zum immer souveräneren »Ich«. Dies trifft auch auf die Erzählperson von Dagmar Leupold zu, die durch die Bezeichnungen »das Kind« und dann »die Tochter« für das erzählende Ich die Lebensphasen markiert. Helmut Heißenbüttel sieht in dem Perspektiven-Übergang ein stimulierendes Narrationsmittel, das eine gewisse Spannung und Dynamik schafft: Wechselnde Perspektiven, veränderte Distanzen und eingeschaltete Reflexionen sorgen für die gewünschte Diskontinuität und »Entfabelung«, inszenieren ein Spiel von Nähe und Distanz, das beim Leser Anteilnahme oder Verweigerung wachrufen mag. In jedem Fall wird dem Leser das Bewußtsein gegeben, daß hier spielerische Annäherungen erfolgen, die jedoch auch ihren tieferen Sinn haben, da sie als »Entwurf neuer Realitätszusammenhänge« zu verstehen sind.173

In Härtlings »Nachgetragener Liebe« verläuft der Perspektivenwechsel zwischen dem Kind und dem Ich-Erzähler sehr fließend. Die Kindheitserlebnisse werden hier um die Erfahrung eines erwachsenen Mannes bereichert, der die vergangene Zeit mit Distanz zu erklären weiß, doch immer noch die Träume des Kindes träumt. Der Erwachsene kämpft gegen das Kindes Gedächtnis an. Dadurch erfährt das »Kindes-Ich« im Erzählvorgang allmählich die Annährung an den Vater, der mit jedem Satz dem Sohn vertrauter und näher wird. Mit jedem Satz 171 Vgl. Lejeune, S. 16. Ferner : Genette, G¦rard : Figures III. Paris 1972. 172 Es ist ebenfalls typisches Verhalten für ein Kind in seiner frühen Entwicklung von sich selbst in der dritten Person zu sprechen und sich beim Vornamen zu nennen. 173 Heißenbüttel, Helmut: Über Literatur. Aufsätze. München 1970, S. 195 – 204. Zitiert nach: Scheuer, Helmut: Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung. In: Grimm, Reinhold/Hermand, Jost (Hrsg.), S. 20.

Das Autobiographische

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gewinnt der Erwachsene in »Nachgetragener Liebe« mehr Raum, bis die gespaltene Identität eins wird und die Erinnerung die Gegenwart erreicht: »Ich bin zehn. Ich schreibe: Ich bin zehn, was auch bedeutet, daß ich mich nähere, daß ich spüre, wie zwei Erinnerungen, zwei Körper sich ineinanderschieben. Ich nähere mich mir und bin sechsunddreißig Jahre von mir entfernt.«174 Die Auseinandersetzung mit dem Vater und seiner Vergangenheit wird außerdem in Form eines Pseudo-Dialogs konstruiert. Dies trifft hauptsächlich auf die Publikationen zu, die vor der Jahrtausendwende erschienen sind. Sowohl Peter Härtling, Peter Henisch, Sigfrid Gauch als auch Kurt Meyer lassen hin und wieder ihre Erzählfiguren den Vater mit »Du« ansprechen. Das intime Zwiegespräch trägt den schmerz- und vorwurfsvollen Charakter eines emotionalen Annährungsversuchs. Der bei Gauch in unabgeschickten Briefen geführte Wunschdialog mit dem Vater wird durch den immer wiederkehrenden Satzbeginn »Du« deutlich gemacht. Sigfrid Gauch strukturiert seinen Text, indem er die Kapitel auf unterschiedliche Weise nummeriert. Damit differenziert er zwischen zwei sich abwechselnden Erzählebenen. Die Kapitel, die den aktuellen Standpunkt des Ich-Erzählers schildern, markiert er mit arabischen Ziffern, Kapitel, die in der Du-Form die Erinnerungsarbeit präsentieren, werden dagegen im römischen Zahlensystem nummeriert. Außerdem wird jedes Kapitel mit einer These über den Vater eröffnet, die der Erzähler zur Diskussion stellt, (z. B. »In Wahrheit seist du ja ein Drückeberger gewesen, hat es geheißen.«175) Diese tritt zwischendurch mehrmals mit Syntax-Abwandlungen quasi als das Leitmotiv auf (»Du seist ja in Wahrheit ein Drückeberger gewesen, hat einmal jemand über dich gesagt. Ich weiß auch, wer es war, aber du brauchst es nicht zu erfahren. Dieser Satz hat sich in mir festgefressen«176 und »Du sollst ein Drückeberger gewesen sein. Ich hätte dich gerne danach gefragt. Ich habe dich nie danach gefragt.«177) Den für die 1970er und 1980er Jahre typischen anklagenden Ton übernimmt ausnahmsweise178die Erzählfigur von Ute Scheub, die die jahrelang unterdrückten Emotionen dem Vater gegenüber durch die Du-Anklage freilässt: »nicht mal einen anständigen Abschiedsbrief hast du hingekriegt.«179 Ferner : »Nicht mal einen anständigen Suizid hast du hinbekommen, du ewiger Versager. Du warst nur lächerlich. Dein ganzes Leben lang.«180 In den Texten der zweiten PublikationsHärtling, S. 109. Gauch (1979), S. 14. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Der anklagende Ton war typisch für die früheren Werke (Siehe: Kapitel »Väterliteratur«), die Texte der zweiten Publikationswelle charakterisieren sich durch einen viel versöhnlicheren Ton. 179 Scheub, S. 12. 180 Ebd., S. 13.

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Zur Gattung und Komposition

welle wird der Vater nur ganz selten direkt angesprochen. In Monika Jetters »Versuch einer Versöhnung,« wendet sich das erzählende Ich erst in dem die Suche abschließenden Brief an den verstorbenen Vater: Ich sehe es heute so, dass Du eine Chance für Dein Leben gesucht und Dich dabei verloren hast. Ich hätte Dir eine bessere Chance, eine echte Chance für Dein Leben gewünscht. Eine, die wirklich den Menschen zum Menschen führt. Dann hätten auch wir eine gehabt, Du und ich, mein Vater.181

Genauso tut es die Erzählfigur von Wibke Bruhns, die ihr Abschlusswort an ihren Vater richtet. Des Weiteren drückt sich der autobiographische Identitätsparameter laut dem »autobiographischen Pakt« vor allem in der Namensnennung bzw. der Namensübereinstimmung des Autors, Erzählers und des Protagonisten aus: In diesem Namen ist die ganze Existenz des sogenannten Autors enthalten: Er ist im Text die einzige unzweifelhaft außertextuelle Markierung, die auf eine tatsächliche Person verweist, die dadurch verlangt, man möge ihr in letzter Instanz die Verantwortung für die Äußerung des gesamten geschriebenen Textes zuweisen. In vielen Texten beschränkt sich die Anwesenheit des Autors im Text auf diesen einzigen Namen. Aber der Stellenwert, der diesem Namen zugewiesen wird, ist ausschlaggebend: er hängt damit zusammen, daß aufgrund einer gesellschaftlichen Konvention eine tatsächlich existierende Person die Verantwortung übernimmt.182

Durch die Namensangabe wird der Autor überprüfbar. Seine Authentizität und Glaubwürdigkeit wird durch andere Publikationen und Interviews sowie seine frühere schriftstellerische Arbeit bestätigt. Die meisten Autoren der VaterSpuren-Suche erwähnen im Laufe des Textes neben ihrem Namen ihre journalistische (Martin Pollack), literarische (Christoph Meckel) oder wissenschaftliche Tätigkeit (Hans Weiss). Die außertextuelle Referenz, der Wahrheitsanspruch sowie der ästhetisch-literarische Übermittlungsvorgang, der u. a. durch den Titel183 suggeriert wird, variieren von Text zu Text, jedoch bleiben alle »autobiographisch fundierte Texte.«184 181 Jetter, S. 221 f. [Hervorhebung: M.J.] 182 Lejeune, S. 23 f. [Hervorhebung: Ph.L.] 183 Die Autoren bekennen sich, wenn nicht schon im Titel, dann zu Beginn ihres Werkes, zu ihrer und des Vaters Identität. So weisen die Personalpronomen im Titel von Hans Weiss (Weiss, Hans: Mein Vater, der Krieg und ich), Peter Henisch (Henisch, Peter : Die kleine Figur meines Vaters. Roman), Christoph Meckel (Meckel, Christoph: Suchbild. Über meinen Vater), Kurt Meyer (Meyer, Kurt: Geweint wird, wenn der Kopf ab ist. Annährungen an meinen Vater – »Panzermeyer«, Generalmajor der Waffen-SS), Beate Niemann (Niemann, Beate: Mein guter Vater. Mein Leben mit seiner Vergangenheit. Eine Täter-Biographie), Martin Pollack (Pollack, Martin: Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater), Uwe Timm (Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders) auf die autobiographischen Züge ihrer Werke hin. Neben dem Anführen von biographischen Fakten, werden fast alle Väter

Fiktion und Faktizität

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Sobald man [die Titelseite] mitsamt dem Autorennamen einbezieht, verfügt man über ein allgemeines textuelles Kriterium, nämlich über die Namensidentität (Autor-Erzähler-Protagonist). Der autobiographische Pakt ist die Behauptung dieser Identität im Text, die letztlich auf den Namen des Autors auf dem Umschlag verweist. Die Formen des autobiographischen Pakts sind sehr vielfältig: Sie zeugen jedoch alle von der Absicht, dieser Signatur gerecht zu werden. Der Leser kann die Ähnlichkeit bekritteln, aber niemals die Identität.185

Fiktion und Faktizität Die Väterliteratur wird zur Synthese der wichtigsten historisch-gesellschaftlichen Ereignisse und Momente der (Vor-) und (Nach-)Geschichte des Dritten Reiches. Dies geschieht allein schon durch die Rolle und den Aufgabenbereich der Väter : vermeintlicher Täter186 (Im Text von Beate Niemann, Martin Pollack, Sigfrid Gauch), Mitglied der Waffen-SS187 (im Text von Kurt Meyer) oder der SSTotenkopfdivison188 (in Uwe Timms Werk), Wehrmachts-Soldat189 (im Werk von

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mit Namen und Vornamen vorgestellt. Die Ausnahme bildet Peter Härtlings »Nachgetragene Liebe«, das weder Namen noch die Zugehörigkeit zu einem Gattungstypus andeutet und damit die Identifizierung offen lässt. Es finden sich jedoch textinterne Indizien, die immerhin für einen autobiographischen Kern sprechen. [Hervorhebung: D.B.] Vgl. Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 6. Lejeune, S. 27. Beate Niemanns Vater (Bruno Sattler): Gestapobeamter, Leiter der Abteilung IV der Sicherheitspolizei in Serbien (Belgrad), Leiter des Gaswageneinsatzes (1942). Martin Pollacks Vater: (Gerhard Bast): der SS-Führer im SD-Hauptamt in Berlin (Sicherheitsdienst der SS), Leiter der Abteilung II für Gegnerforschung und Gegnerbekämpfung (Gestapo in Graz) sowie Leiter des Sonderkommandos (Einsatzgruppe D) und Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Minsk (1944). Es wird seine Spionagetätigkeit in Jugoslawien angedeutet. Gauchs Vater : Marine-Stabarzt, SA-Führer, Adjutant des Reichsführers SS, Arbeitsgauarzt, Amtsarzt, Oberfeldarzt, Luftwaffenoffizier (u. a. in Jugoslawien), SS-Oberführer unter einem Decknamen bis 1945 dem Sicherheitsdienst zugeteilt. Gauch deutet auch darauf hin, dass sein Vater der Leibarzt Himmlers und Schreibtischtäter gewesen sein soll. Kurt Meyers Vater (Kurt Meyer): Mitglied der Leibstandarte-SS »Adolf Hitler«, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS. Uwe Timms Bruder (Karl-Heinz Timm): Mitglied der SS-Totenkopfdivision im Einsatzort Russland (Charkow). Meckels Vater (Eberhard Meckel): Nach der Zeit seiner inneren Emigration startete seine militärische Laufbahn in der Wehrmacht, in der Etappe: Polen und Russland (im Jahr 1944 wurde er auf die Insel Elbe entsandt). Ute Scheubs Vater (Manfred Augst): Mitglied bei der »Deutschen Glaubensbewegung«, SS-Rottenführer, Flak-Kanonier des »Wachbataillons General Göring« in der Wehrmacht, Obergefreiter im Afrika-Korps General Rommels (1942) und Sprengmeister in Verona. Dagmar Leupolds Vater (Rudolf Leupold): Einsatz in der Wehrmacht im Mittelrussland (1942). Es wird im Tagebuch des Vaters die Mitarbeit mit Hans Frank erwähnt. Hans Weiss’ Vater (Johann Martin Weiss): Jäger der 16. Kompanie im Gebirgsjägerregiment 136 und damit Teil der 2. Gebirgsdivision der Heeresgruppe 5. Er kämpfte hauptsächlich an der russischen Front im Norden Norwegens (1941). Monika Jetters Vater (Werner Jetter): Fallschirmjäger des Todeskommandos (1941 Luftmanöver

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Zur Gattung und Komposition

Christoph Meckel, Ute Scheub, Dagmar Leupold, Hans Weiss, Monika Jetter) Mitläufer bzw. Mitwisser190 (im Vaterbuch von Ruth Rehmann und Peter Henisch), Nicht-Mitläufer191 (in Peter Härtlings Text), Verschwörer des 20. Juli192 (in Wibke Bruhns Roman) rückt die breit angelegte Problematik des Nationalsozialismus bzw. die Thematik des Zweiten Weltkrieges193 in den Mittelpunkt der Väterliteratur. Dabei sind die Texte laut Aleida Assmann »nicht repräsentativ im Sinne einer metaphorischen Überhöhung sondern exemplarisch im Sinne des (metonymischen) Stellvertreters für Hunderte und Tausende anderer kontingenter, nicht erzählter, nicht gehörter, nicht aufgezeichneter Geschichten.«194 Die Werke hegen daher keinen historiographischen Anspruch, sondern vermitteln im Sinne der Formel von »Kopisten, [die] in den Epochen vor Einführung des Buchdrucks die Richtigkeit ihrer Abschriften bestätigten: ich habe nichts hinzugefügt, nichts weggelassen und nichts umgestellt.«195 Diese Auffassung wird ebenfalls im Vaterbuch von Christoph Meckel vermittelt: Über einen Menschen schreiben bedeutet: das Tatsächliche seines Lebens zu vernichten um der Tatsächlichkeit einer Sprache willen. Der Satzbau verlangt noch einmal den Tod des Gestorbenen. Ihn zu vernichten und zu erschaffen ist der selbe Arbeitsprozeß. Aber ich will nicht im Recht sein gegen mein Thema. Was bleibt übrig vom lebendigen Menschen? Was wird von ihm sichtbar im Triebwerk der Sätze? Vielleicht eine Ahnung von seinem Charakter, die flüchtigen oder festen Konturen eines Suchbildes. Ohne Erfindung ist das nicht zu machen. Ich habe nichts zur Person erfunden, aber ausgewählt und zusammengefasst (unmöglich, darzustellen ohne Bewertung). Ich habe Sätze gemacht, also: Sprache erfunden. Die Erfindung offenbart und verbirgt den Menschen.196

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»Merkur« über Kreta), ebenfalls im Fronteinsatz, unter anderem in Belgrad, Smolensk, Italien dann Holland und schließlich Frankreich. Ruth Rehmanns Vater (Reinhold Rehmann): ein protestantischer Pfarrer der sich angesichts des Kirchenkampfes, doch nicht für die Bekennende Kirche ausspricht und sich schließlich in sein Schweigen zurückzieht. Der Vater von Henisch (Walter Henisch): Kriegsberichterstatter der Wehrmacht. Härtlings Vater (Rudolf Härtling): ab 1943 Mitglied des Panzer-Grenadier-Ersatzbataillons. Es wird auch angedeutet, er könnte an der tschechischen Widerstandsbewegung mitgewirkt haben. Bruhns Vater (Hans Georg Klamroth): Leiter des Abwehrkommandos III an der Ostfront an der Grenze zu Estland (1944). Es wird seine Spionage-Tätigkeit in Dänemark angedeutet. Wie die Autorin unterstreicht, war er ein: »Mit-Wisser, nicht Mit-Täter. Anders die vier Männer, mit denen er an diesem Abend in Mauerwald zusammensitzt, die sind aktiv und praktisch beteiligt« an der Verschwörung des 20. Juli. Bruhns, S. 354. So wird eindringlich auf das Kriegsgeschehen und nationalsozialistische Verbrechen an diversen Fronten eingegangen. Dabei könnte man anhand der Texte der Vater-SpurenSuche die Topographie der deutschen Verbrechen und des Zweiten Weltkriegs an allen Fronten (inklusive Heimatfront) rekonstruieren. Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 12. [Hervorhebung: A. A.] Ebd., S. 6. [Hervorhebung: D.B.] Meckel, S. 80 f.

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Die Erfindung, die hier den narrativen Rahmen für die Vater-Spuren-Suche bildet, schafft die Voraussetzung für unterschiedliche Darstellungsweisen der geschichtlichen Wirklichkeit und bietet neue (innenpersepktivische) Zugänge zur historischen Wahrheit, deren Aspekte durch die Besichtigung und Rekonstruktion der Geschichte freigelegt werden.197 Die in der Vergangenheit häufiger als bipolare Konstellation angesehene Verbindung von Faktizität und Fiktion, von Erinnerungs- und Recherchearbeit, von »Introspektion« und »Zeitgeschichte,«198 von Fiktionalisierung und Authentisierung entwickelt sich im Interaktionsprozess der Vater-Spuren-Suche auf natürliche Weise zur symmetrischen bzw. komplementären Beziehung. Die Vermittlung von Faktizität erfolgt über die Narration, also über die Fiktion. Der Akt der Rekonstruktion des Lebens des Vaters selbst, setzt die »Fiction-Faction-Wechselwirkung« voraus, indem das subjektive Erinnerungsverfahren durch objektives Recherchematerial unterstützt wird. Grundlegend für den Rekonstruktionsprozess zeigt sich die möglichst wahrheitsgetreue Annährung an das jeweilig gelebte Leben. So sieht Aristoteles die Aufgabe des Dichters weniger im Mitteilen des Tatsächlichen, sondern vielmehr im Mitteilen des Möglichen.199 Die Erfindung wird nicht nur durch den subjektiven Charakter des Erinnerungsprozesses, sondern ebenfalls durch den Erzählvorgang selbst erzeugt. Im Zuge eines narrativen Verfahrens werden Fakten zusammengelegt und dabei Sinneszusammenhänge allein durch Konjunktion gebildet. Selbst in der Geschichtsschreibung findet laut Harald Weinrich: irgendwo in dem kürzeren oder längeren Vermittlungsprozess von den Quellen zur historischen Erkenntnis […] notwendig ein Erzählen statt, sei es daß die Quellen bereits erzählen (Augenzeugenberichte, Res gestae, Tagebücher), sei es daß ein primärer Historiograph nach nichterzählenden Quellen (Inschriften, Memoranden, Programmen) Geschichte erzählt.200

Zugleich legitimiert sich die Fiktion laut Henry James »durch historische Wahrheit, durch Faktizität und raumzeitliche Aktualität.«201 Die Wechselwirkung zwischen Fiktionalität und Referenzialität in unterschiedlichen Proportionen macht das Wesen der Vater-Spuren-Suche aus, das durch das Entgegen197 Vgl. Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 13 f. 198 Vgl. Willhelm Dilthey zitiert nach: Scheuer, S. 13. 199 Vgl. Aristoteles zitiert nach: Chen, Linhua: Autobiographie als Lebenserfahrung und Fiktion. Untersuchungen zu den Erinnerungen an die Kindheit im Faschismus von Christa Wolf, Nicolaus Sombart und Eva Zeller. Frankfurt am Main 1991, S. 15. 200 Weinrich, Harald: Narrative Strukturen in der Geschichtsschreibung. In: Koselleck, Reinhart/Stempel, Wolf-Dieter (Hrsg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. München 1973, S. 519. 201 Henry James zitiert nach: Assmann, Aleida: Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation. München 1980, S. 125.

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setzen von Subjektivität und Wahrheit, von Vergangenheit und Gegenwart, von Privatem und dem Öffentlichem sowie von Erfindung und Authentizität nicht erschließbar ist, da seine Einzigartigkeit gerade auf dem Synergieeffekt dieser Komponenten beruht. Das Zusammenspiel von dem, was gewesen ist, und dem, was gewesen sein könnte bringt die Vater-Spuren-Suche der Wahrheit näher, indem das »Alles kann sein«202 als Voraussetzung jeder Geschichte und ihrer selbst angenommen wird.

Väterliteratur als Zwitterform Die spezifische Korrelation von Fiktion und Faktizität, die den Texten einen exemplarischen Charakter verleiht, entsteht durch die Verbindung von narrativ elaborierten Erinnerungen mit dem zeitgeschichtlich fundierten Recherchematerial. Dabei wird von Aleida Assmann die Fiktion im Hinblick auf Erinnerungsliteratur folgendermaßen erläutert: ›Fiction‹ ist nach der Definition des Oxford English Dictionary alles, was geformt, gerahmt, inszeniert und erfunden ist. Die postmoderne Theorie unterscheidet nicht zwischen diesen Bedeutungen. Für unsere Zwecke ist es allerdings wesentlich, zwischen Fiktion im Sinne der Formung und Fiktion im Sinne von Erfindung zu unterscheiden. Da es keine unvermittelte Präsentation der Vergangenheit gibt, gehören Medien und Darstellungsformen zur Grundausstattung des Erinnerns. Das heißt jedoch nicht, dass jede geformte Erinnerung eo ipso unglaubwürdig ist. Es ist keineswegs müßig, in der Erinnerung zwischen Graden der Ausformung und der freien Erfindung zu unterscheiden. Genau diese Unterscheidung verwischt der postmoderne Diskurs, der von Authentizität und Faktizität nichts wissen will. Er beruht auf der konstruktivistischen Prämisse, dass alles, womit Menschen zu tun haben, von ihnen erfunden und gemacht ist. Die Gattung der Erinnerungsromane entfernt sich von diesen Prämissen.203

Gerade die Werke, die nach der Jahrtausendwende erschienen sind; zeigen eine starke Verbindung zwischen Zeitgeschichte und Literatur sowie eine Verflechtung von mehreren Gattungsmerkmalen. In mehreren Fällen weisen sie eine konstruktive Komplexität, d. h. eine hybride Form auf, die sich in der Interferenz von einem autobiographischen Kern, der Biographie des Vaters (in Form einer Fallgeschichte, eines Berichts oder Dokuments zum Verlauf der Suche) und einer Generationengeschichte, manifestiert. Somit lassen sich tatsächlich die von Aleida Assmann erwähnten Unterschiede und Abweichungen in der Darstellungsweise zwischen den Vätertexten der 1970er und 1980er Jahre (der ersten 202 Leupold, S. 144. 203 Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 7. (Anmerkungen) [Hervorhebung: A. A.]

Väterliteratur als Zwitterform

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Publikationswelle) und den Vätertexten der Nachwendezeit (der zweiten Publikationswelle) feststellen. Sie werden jedoch in dieser Arbeit als Entwicklung innerhalb der Väterliteratur begriffen. In den früheren Werken (beispielsweise von Peter Härtling, Peter Henisch, Sigfrid Gauch, Christoph Meckel) war vor allem die Vater-Kind-Beziehung im Vordergrund. Im Mittelpunkt stand die enge Verbindung des autobiographischen Kerns mit der Biographie des Vaters, wobei Lejeune die Autobiographie (die eigentlich eine spezifische Art der Biographie ist) der Biographie gegenüberstellt: Hier wird bereits ersichtlich, wodurch Biographie und Autobiographie einander grundlegend gegenüberstehen, nämlich die Rangordnung der Ähnlichkeits- und Identitätsbeziehungen; in der Biographie muß die Ähnlichkeit die Identität begründen, in der Autobiographie begründet die Identität die Ähnlichkeit. Die Identität ist der reale Ausgangspunkt der Autobiographie; die Ähnlichkeit ist der unmögliche Horizont der Biographie. Daraus erklärt sich die unterschiedliche Funktion der Ähnlichkeit in den beiden Systemen.204

Die Darstellung der Lebensgeschichte des Vaters zeichnet sich in den Vätertexten der ersten Publikationswelle grundsätzlich durch eine spezifisch intime Prägung aus. Das rührt wohl daher, dass die Vater-Kind-Beziehung bewusster miterlebt wurde. Während in den Texten der 1970er und 1980er Jahre die Darstellung stärker aus der autobiographischen Sicht resultiert, tendieren die Texte, die nach der Jahrtausendwende publiziert wurden, zur vermittelten Perspektive. In den Werken der ersten Publikationswelle nähert sich die Erzählfigur im Laufe der autobiographischen Erzählung dem Vater und gleichzeitig seinem Selbst an. Die Verflechtung und Interaktion von beiden Lebensläufen wird in der Erzählstruktur sichtbar, indem keine separaten Erzahlstränge nebeneinander verlaufen, sondern zwei komplementäre Lebensläufe immer wieder ineinander übergehen und sich in ihrer Verbindung gegenseitig stimulieren. In diesem Kontext wird die spezifische Abhängigkeit zwischen dem Biographen und seinem Objekt205 ersichtlich: Über die biographische Fremderkenntnis wird die eigene entdeckt. Helmut Scheuer bemerkt dazu: »Wie die Autobiographie den Versuch eines Einzelnen darstellt, sich selbst zu erkennen und damit anderen verständlich zu werden, so glaubt der Biograph einer fremden Person, gerade über den Anderen auch den Weg zum Selbst zu finden.«206 Das Bewusstsein, das durch die Gegenwart stimuliert wird, kreiert das Bild der Vergangenheit hauptsächlich über das autobiographische Gedächtnis: 204 Lejeune, S. 42. 205 Vgl. Hoffmann, Dieter : Arbeitsbuch. Deutschsprachige Prosa seit 1945. Bd. 2. Tübingen 2006, S. 110. 206 Scheuer, S. 25.

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Zur Gattung und Komposition

Autobiographische Retrospektion und Erzählung geschehen stets unter dem Eindruck und Einfluß der augenblicklichen Gegenwart, d. h. unter dem Einfluß der zwischen dem Ereignis und seiner Erzählung verflossenen Zeit. Das gilt für alle schriftlichen Formen autobiographischer Äußerungen, für bewußt gestaltete literarische Erzeugnisse nicht weniger als für Produkte alltäglicher Selbstreflexion in Briefen, Tagebüchern oder Lebensläufen. Ebenso betrifft es lebensgeschichtliche Retrospektionen, die schließlich mündliche Erinnerungserzählungen ergeben.207

Die Lebenserfahrungen, die aus persönlicher und geschichtlicher Distanz strukturiert werden, fügen sich zu einer Ereigniskette, die so wie die Erzählfigur selbst im Wandel begriffen ist: »Weil alle Erlebnisse und alles Erzählen von Erlebnissen eingefügt sind in die Zeitenfolge, gibt es dabei weder einen absoluten Anfang noch ein absolutes Ende. Jede Geschichte geht aus einer anderen Geschichte hervor, jede hat ihre Vor- und Nachgeschichte.«208 Der Prozess scheint deswegen unabschließbar zu sein, weil er aufs Engste mit dem Identitätsprozess der Erzählfigur verbunden ist. So schaffen die Texte eine biographische Kontinuität, die in den neusten Publikationen in transgenerationellem Kontext wahrgenommen wird, da der Biograph durch seine eigene Erinnerungsarbeit zum Objekt der rekonstruierten Geschichte wird. Seine Identität ist durch einen kompilativen Charakter gekennzeichnet: Er agiert einerseits im Rahmen der Erinnerungsarbeit als Objekt der Vater-Spuren-Suche und andererseits als Subjekt im historischen Prozess. Zugleich fungiert der Spurensucher als der (Zeit-)Zeuge der Lebensgeschichte des biographischen Objekts. So verschmilzt in der persönlich geprägten Biographie die Verarbeitung der autobiographischen mit der biographischen Erfahrung, das Selbsterlebte mit dem Vermittelten.209 Die Anteilnahme am vergangenen Geschehen, die in den früheren Werken von der Innenperspektive ausging, wird in den neusten Publikationen weiterhin beibehalten, jedoch wird sie durch die vermittelte Erfahrung relativiert. Das Nicht-Selbsterlebte – häufig aufgrund der spärlichen oder mangelnden eigenen Erinnerungen – wird stärker hervorgebracht. Die Erzählfigur erlebt die Geschichte zwar nach, doch wird dies viel mehr über die Anderen, aus der Sicht der Familienmitglieder bzw. der Generation vermittelt. Sie tritt als Zeuge und Beobachter auf, der die erinnerungsbasierte Erzählung narrativ begleitet. Das in diesem Fall unzureichende autobiographische Gedächtnis wird durch das kommunikative Gedächtnis bzw. das Familiengedächtnis sowie durch das Recherchematerial ergänzt oder ersetzt. In den Werken der Nachwendezeit wird die rekonstruierte Lebensgeschichte des Vaters in breiterem Kontext dargestellt. Sie wird sowohl horizontal im Mi207 Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1983, S. 28. 208 Ebd., S. 22. 209 Siehe dazu Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 9 – 12.

Väterliteratur als Zwitterform

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krokosmos der Familie, als auch vertikal im historischen transgenerationellen Makrokosmos geschildert. Auf beiden Ebenen bleibt jedoch der Vater die zentrale Figur : als Objekt, das von der Geschichte geprägt wird und als Subjekt, welches das Leben der anderen Familienmitglieder beeinflusst hat und noch immer beeinflusst. So wird in den meisten neuen Texten neben dem typisch Autobiographischen, wie »Kindheit als Paradies; Jugend als Wanderjahre; Bekehrung in den Reifejahren und schließlich Bekenntnis im Alter,«210 d. h. Vaters Kinder- und Jugendjahre, die Entwicklung seiner militärischen bzw. nationalsozialistischen Laufbahn, seine Aufstiegsetappen im Dritten Reich und im Nachkriegsdeutschland, zusätzlich eine Ahnen- bzw. Generationengeschichte211 präsentiert, die in einen Zusammenhang mit der (traditionsbedingten oder umfeldbezogenen) Entwicklung der politischen Anschauung des Vaters gebracht wird. Dabei machen die meisten Erzähler die Diskrepanz zwischen dem privaten und dem offiziellen Erscheinungsbild des Vaters sichtbar. Sie wird durch die Schilderung der Beziehung des Vaters zu anderen Familienmitgliedern umso deutlicher. So wird das Familienleben in einigen neuen Vätertexten breiter ausgebaut und detaillierter beschrieben. Beispielsweise werden in »Meines Vaters Land« besondere Anlässe, wie Familienfeste (einschließlich Menü, Einrichtung des Hauses), herrschende (Benimm-)Sitten sowie Modetrends der vergangenen Epoche hervorgehoben und in Leupolds Roman die Familie in ihrem typischen Alltag (Spaziergänge, Puppenspiele, Schuhkauf, Schulweg, die blaue Stunde) im Rhythmus der Jahreszeiten und der Feiertage (Sonntage, Allerheiligen, Weihnachten, Karneval, Geburtstage) im Nachkriegsdeutschland dargestellt. Zusätzlich wird der kulturelle Hintergrund der Epoche geschildert, indem die Populär- und Alltagskultur durch die Einbeziehung der Beiträge der damaligen Presse, Literatur, des Unterhaltungsprogramms (Radio, Kino,212 Musik), der populärsten Lieder und gängigen Sprüche sowie Elemente der nationalsozialistischen Propaganda im Alltag präsentiert werden. Die autobiographische Erfahrung wird in den Texten im Sinne von Aleida Assmann sowohl »literarisch ausgearbeitet« als auch »fiktionalisiert.«213 Der 210 Chen, S. 7. Ferner : Egan, Susanne: Patterns of Experience in Autobiography. Chapel Hill and London 1984. 211 Dabei wird häufig die Familie patriarchalisch dargestellt, als Hort der Werte und der Tradition, in dem die Männer Geschichte machen. 212 Wibke Bruhns präsentiert das Unterhaltungsprogramm der 1920er Jahre – Kino- und Theaterprogramm: »Paul und Pauline«, »Der müde Theodor«, »Wenn der Hahn kräht«, »Engel mit kleinen Fehlern« mit populären Schauspielern (Victor de Kowa, Paul Henckels, Adele Sandrock, Grete Weiser, Hubert von Meyerinck, Marianne Hoppe, O. E. Hasse, Heinrich George) und Musikern (Paul Linke, Michael Jary, Ralf Benatzky). Dabei bringt Dagmar Leupold das Radioprogramm der 1950er Jahre näher : Erika Köth (»Wie eine Lerche«), Rudolf Schock, Anneliese Rothenberger, Peter Alexander. 213 Vgl. Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 7.

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Zur Gattung und Komposition

Grad der »Verdichtung« und der »fiktionalen Umschreibung«214 sowie ihrer Proportion, ist je nach Text individuell unterschiedlich, gleichzeitig vor allem hinsichtlich der Tiefenstruktur schwierig identifizierbar (z. B. in wie weit, an welcher Textstelle es »bewußt hinzuerfunden, umgestellt oder anderweitig verändert«215 wurde). Die Grenze zwischen beiden Verfahren erweist sich als fließend und ist jeweils auf die unterschiedlichen Umstände des Produktionsverfahrens zurückzuführen: spärliches Recherchematerial, Erinnerungslücken, Leerstellen im Rekonstruktionsprozess, bewusste Erfindung. Deshalb wird in den meisten Texten zugleich der sogenannte »Romanpakt«216 geschlossen – es wird häufig auf Gattungen wie Roman oder Erzählung im Buchtitel verwiesen217 – da die Romanform »die Freiheit zur Erfindung gewährt.«218 Dies trifft besonders auf die romanhaften Texte (Wibke Bruhns, Dagmar Leupold) zu, die durch das Erinnern des Vergangenen dem Leben des Vaters eine literarische Form geben: »Erst in der Imagination gewinnt Gestalt, was […] in der Wirklichkeit entging.«219 Die rekonstruierte Lebensgeschichte des Vaters wird in den Texten um andere Episoden, Beschreibungen sowie Nebenerscheinungen bereichert und spielt sich vor dem Hintergrund der großen Geschichte ab. Die historischen Ereignisse werden durch den empirischen Bezug des Autors zu persönlichen Zeit-Markern und die topographischen Angaben zu Orientierungspunkten im Raum der Gegenwart und im Labyrinth der Vergangenheit. Durch die Rekonstruktion der Lebensumstände des biographischen Objekts entsteht ein hypothetisches Modell der vergangenen Wirklichkeit mit individueller, kultureller sowie gesellschafts-politischer Kontinuität. Parallel wird dem ansatzweise ein Gegenwartsentwurf gegenübergestellt, der den aktuellen Standpunkt der Erzählfigur anzeigt. Der politisch-historische Rahmen wird vor allem in Bruhns Werk intensiv nachgezeichnet, wodurch der Text gattungsmäßig in die Nähe eines historischen Romans rückt. Die Erzählung über den Vater wird um das historische Gerüst konstruiert, das in eine andere Epoche versetzt und gleichzeitig für die historische Referenzialität sorgt.220 Corina Dehne sieht den 214 Vgl. ebd., S. 7. Sowie: Begley, Louis: Zwischen Fakten und Fiktionen. Heidelberger Poetikvorlesungen. Frankfurt am Main 2008, 13. 215 Vgl. Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 7. 216 Lejeune, S. 30. 217 Gauch, Sigfrid: Vaterspuren. Eine Erzählung; Henisch, Peter : Die kleine Figur meines Vaters. Roman; Leupold, Dagmar : Nach den Kriegen. Roman eines Lebens. [Hervorhebung: D.B.] 218 Vgl. Begley, Louis: Zwischen Fakten und Fiktionen. Heidelberger Poetikvorlesungen. Frankfurt am Main 2008, 14 – 15. Zitiert nach: Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? S. 8. 219 Leupold, S. 7. 220 Vgl. Dehne, Corinna: Der »Gedächtnisort« Roman. Zur Literarisierung von Familiengedächtnis und Zeitgeschichte im Werk Jean Rouauds. Berlin 2002, S. 32 f.

Väterliteratur als Zwitterform

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historischen Roman und die Autobiographie, denen »nicht nur das offiziell Dokumentierte zur Verfügung steht« gegenüber der Geschichtsschreibung, die durch historische Quellen unterstützt wird, privilegiert: Die Betrachtung der Vergangenheit muß gerade nicht auf solche institutionalisierten Lebensbereiche begrenzt bleiben, die aus gesellschaftlichen Motivationen eine offizielle Aufzeichnung erfahren haben. Autobiographisches Schreiben gründet im persönlich Bedeutsamen, der historische Roman inszeniert einen fiktiven individuellen Lebenszusammenhang innerhalb des faktischen historischen Geschehens. Er veranschaulicht Geschichte über die Vermittlungsebene des Einzelschicksals und genießt dabei eine weitreichende Gestaltungsfreiheit.221

Der historische Rahmen ist besonders in den Texten der zweiten Publikationswelle von Wibke Bruhns und Dagmar Leupold präsent, indem die Familiengeschichte mitten in die deutsche Gesellschaftsgeschichte eingebettet wird.222 In Bruhns Text wird die Geschichte der Familie Klamroth, nach dem Muster von Thomas Manns Gesellschaftsroman »Buddenbrooks« konstruiert.223 Die Generationengeschichte der großbürgerlichen Sippe wird mitten in der Geschichte des 20. Jahrhunderts angesiedelt. Die Familie selbst fungiert als Mikrokosmos, der von den ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen beeinflusst wird und die gesellschaftlichen Umstände widerspiegelt. Aus der Sicht der Familienmitglieder wird ein Panoramablick auf die deutsche Gesellschaft und die politisch-sozialen Wandlungen, denen sie unterliegt, geboten. Das Geschehen wird multiperspektivisch skizziert, da die Autorin die Figuren durch das Anführen ihrer persönlichen Dokumente sprechen lässt. Somit wird das Historische mit allen seinen Brüchen und Kontinuitäten ohne die direkte eigene Erfahrung der Erzählfigur in die Vater-Spuren-Suche eingebunden. Dabei zeichnen sich die neuen Texte durch eine Mosaik-Konstruktion aus, die aus der Kompositionskomplexität sowie der Themenbreite der Werke resultiert. Der Puzzle-Charakter ist auf allen Ebenen der Vater-Spuren-Suche zu beobachten: im Rahmen der Erinnerungsarbeit, die das autobiographische, kommunikative Gedächtnis bzw. das Familiengedächtnis miteinschliesst, im Rahmen der Recherche, der unterschiedliche Arten von Spur zugrunde liegen sowie auf der Strukturebene des Textes selbst, der durch das Einbringen von Texten anderer Gattungen in die Erzähleben eine Patchwork-Konstruktion aufweist. Diese sorgt einerseits für Vielschichtigkeit sowie Dynamik im Text, andererseits spiegelt sie 221 Ebd., S. 32 f. 222 Dieser Trend ist in der deutschen Geschichtswissenschaft seit der Erscheinung von Ulrich Wehlers fünfbändiger »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« zu beobachten und scheint auch die neuen Texte beeinflusst zu haben. 223 Es wird auch an einer Stelle im Text die Ähnlichkeit mit Buddenbrooks suggeriert: »Wenn ich diese Familie – gar nicht verkehrt – mit den Buddenbrook verglich, schäumte Else.« Bruhns, S. 24.

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Zur Gattung und Komposition

den Rekonstruktionsprozess auf der Erzählebene wider. Damit wird die VaterSpuren-Suche zu einem impressionistischen Pastiche, das durch seine Multidimensionalität Wirklichkeitsnähe erzielt. Zusätzlich ist in den Vätertexten der Nachwendezeit eine Authentisierungstendenz zu beobachten. Diese macht sich u. a. im Erzählstil sowie in der Textkonstruktion bemerkbar, worauf Beate Niemann schon zu Beginn hindeutet: »Der nachfolgende Text ist ein dokumentarischer Bericht über die von mir erarbeitete Biographie meines Vaters Bruno Sattler in Verbindung zu meinem eigenen Leben.«224 Ähnlich weist Martin Pollack auf den Erzählstil im Titel seines Werkes »Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater« hin, wobei laut Chen: »jeder Bericht mit auch wenig literarischer Ambition kein Bericht mehr ist,«225 denn »er stellt die einzige autobiographische Schreibweise dar, in der grundsätzlich keine literarischen Stilmittel eingesetzt werden dürfen.«226 Im Hinblick auf den Bericht differenzieren Albrecht Lehmann und Jochen Rehbein zwischen zwei Erzähltypen in der schriftlichen Textproduktion: das Erzählen in Diskursform, in der »der Sprecher in das Erlebnis eingeschlossen ist« sowie den Bericht, in dem die »Wirklichkeit als ein Sachverhalt« durch den Sprecher aus der Außenperspektive geschildert wird.227 Damit unterstreicht Martin Pollacks Titel den Erzählcharakter des Textes, der auf die journalistische Erfahrung des Autors zurückzuführen ist. Die Sicht von außen erlaubt ihm, unengagiert in der Handlung, von vornherein Stellung zu beziehen. Sein Bewertungsvorgang ist damit längst abgeschlossen, wenn er seinen Text strukturiert und möglichst nicht emotionalisiert präsentiert. Während in einem Bericht der Erzähler sich dazu verpflichtet sachlich und geradlinig die Fakten darzulegen, wird im Erzählen das Erlebte mit allen Begleiterscheinungen noch einmal durchlebt. Lehman erläutert: »Erzählen bedeutet, einen Vorfall in Gedanken reproduzieren. Erzählen und Berichten sind, führt man diese Betrachtungsweise zu Ende, nicht allein Formen des Diskurses, sondern verschiedene Arten der inneren Verarbeitung von Erlebnissen.«228 Mit dem Untertitel suggeriert Martin Pollack eine distanziertere Einstellung des Erzählers zu Handlung und Fakten, die einen autobiographischen Charakter haben. Der Text stellt einen Erzähler vor, der seine Einstellung in der Ausgangsposition definiert hat und nicht mehr mitten im Verarbeitungsprozess begriffen ist, der aber durch die Schilderung seiner eigenen Familiengeschichte auf den persönlichen Charakter der Erzählung

224 225 226 227

Niemann, S. 9. Chen, S. 120. Ebd., S. 101. Vgl. Lehmann, S. 64. Ferner : Rehbein, Jochen: Beschreiben, Berichten und Erzählen. In: Ehlich, Konrad (Hrsg.): Erzählen in der Schule. Tübingen 1984. S. 67 – 124. 228 Lehmann, S. 64.

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trotzdem nicht verzichtet. Daher bezeichnet Pollack seinen Text mit dem amerikanischen Begriff »creative non-fiction«.229 Ein sachlich-objektiver Stil faktischer Erzählung charakterisiert die Vaterbiographie von Beate Niemann, wenn sie die Nachforschungen zum eigenen Vater, einem nationalsozialistischen Täter, präsentiert sowie den Text von Hans Weiss, wenn er über die Recherche zur Krankengeschichte der Großmutter (die 1948 in der Landesnervenanstalt Valduna stirbt) berichtet. Beide Autoren wenden den dokumentarischen Erzählstil zweckbezogen an, wenn sie die VaterSpuren-Suche auf der Ebene der Recherche beschreiben. Dies wird in der Biographie von Beate Niemann besonders deutlich wenn sie zwischen ihrer Recherche- und Erinnerungsarbeit differenziert: »in den ›Erinnerungen‹ versuche ich, mich meinen Kindern als ein ›gewöhnliches Kind‹ darzustellen, in der vorliegenden Arbeit dagegen stehen die beweisbaren Tatsachen im Vordergrund und der Versuch, meine Empfindungen in Bezug auf meinen Vater in Worten auszudrücken.«230 Ihren Text versteht sie als eine Dokumentation231 ihrer Recherchearbeit zur Vergangenheit des NS-Vaters: Ich weise darauf hin, daß ich nicht nur als Tochter über meinen Vater recherchiere. Mein Forschungsantrag beim BSTU wurde im September 2000 genehmigt. Ich arbeite wissenschaftlich über meinen Vater als eine Person des Zeitgeschehens mit dem Ziel der Veröffentlichung.232

Sie berichtet sachlich, hält sich an das Faktische und »verzichtet auf Interpretationen und Spekulationen« bezüglich der Sachverhalte, von denen sie nichts weiß.233 Ihre Vater-Spuren-Suche ist vollständig dokumentiert und belegt: Das Beweismaterial für die Täterschaft des Vaters wird im Werk abgelichtet dargeboten und ihre Forschungsreise von einem Dokumentar-Filmemacher aufgezeichnet. So lassen sich in den Texten der Nachwendezeit typische Strukturmerkmale einer wissenschaftlichen Publikation bemerken. Es werden Literatur-, Quellenund Inhaltsangaben, anschließende Danksagungen an die Recherche unterstützende Personen, Zusammenstellung von Archiven und Institutionen angeführt oder ein tabellarischer Lebenslauf des Vaters (Meyer), Abkürzungsverzeichnis und Bildnachweis (Niemann) beigefügt. Die Einbindung von Zitaten der Zeithistoriker und wissenschaftlicher Werke einschließlich der Quellenangabe hat laut der Erzählfigur Niemann die Aufgabe, dem Erzählten durch die Authentizitätsbezeugung einen Wahrheitsanspruch zu verleihen: 229 230 231 232 233

Vgl. Interview mit Martin Pollack, S. 327. Niemann, S. 189. Vgl.: Interview mit Beate Niemann, S. 364. Ebd., S. 177. Vgl. ebd., S. 9.

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Zur Gattung und Komposition

Es wurde und wird viel gelogen in der Geschichte. Ich habe in meinen Bericht nur Dinge aufgenommen, deren Wahrheitsgehalt ich durch Belege selbst überprüfen konnte. Daher die vielen Originaltexteinfügungen und Quellenangaben. Auf sie will ich nicht verzichten, weil sie die Authentizität dessen bezeugen, was ich nacherzähle beziehungsweise rekonstruiere.234

Die Spuren des Vaters sowie die wissenschaftlichen Beiträge in Form von Zitaten, Bildern sowie Kopien von authentischen Dokumenten werden ins Literarische eingeflochten. Dadurch wird zum einen der Authentizitätsgrad des Erzählten erhöht und zum Anderen der Leser in die Vater-Spuren-Suche miteinbezogen, indem er das Interpretations- bzw. Verifikationsverfahren mitverfolgen kann.235 Gleichzeitig bleibt die Tendenz zur literarischen Kreation in den meisten Texten erhalten. Im Gegensatz zu den Werken der 1970er und 1980er Jahre aber geschieht dies, ohne dabei wie der Text von Scheub auf die Bezüge zur Zeitgeschichte und die neusten Erkenntnisse der Forschung zu verzichten. Damit scheint die Komplexität der neusten Werke weitgehend gestiegen zu sein, da immer mehr neue Gattungsmerkmale und außerliterarische Einflüsse in die Väterliteratur einbezogen werden. Dadurch wird das jeweilige Gattungsverständnis gesprengt. G¦rard Genette versteht diese Grenzenüberschreitung als eine natürliche Folge der Entwicklung innerhalb der literarischen Gattungswelt: Das erste Auftreten der erlebten Rede, die ersten Erzählungen im inneren Monolog, die ersten Quasi-Fiktionen des »New Journalism«, etc., konnten überraschen und irritieren; heute werden sie kaum noch wahrgenommen. Nichts verbraucht sich schneller als das Gefühl der Überschreitung. Auf narratologischer wie auf thematischer Ebene scheint mir die gradualistische, oder wie Thomas Pavel sagt »integrationistische« Haltung realistischer als alle Formen der Segregation.236

Die gegenseitigen Einflüsse der Gattungen, ihre wechselseitige Durchdringung innerhalb des autobiographischen Schreibens bzw. der Erfahrungsliteratur (der eigenen und vermittelten Erfahrung) werden im Falle der Väterliteratur immer weniger überschaubar. Die Gattungsabgrenzung wird besonders auf der Ebene der Tiefenstruktur problematisch, da es »einen poetologischen Unterschied« zwischen dem autobiographischen und fiktiven Erzählen hier nicht zu geben scheint.237 Daher wird die Definition der Autobiographie von Georg Misch vom 234 Ebd. 235 Doch auch dieser Objektivierungsversuch muss relativiert werden. Erstens, weil es keine Garantie dafür geben kann, dass es sich um authentische Primärtexte handelt, es sei denn, es sind offizielle Dokumente. Zweitens, da alle Elemente im Text, der immerhin eine Kreation des Autors ist, auf dem Weg zur Publikation mit Hilfe von subjektiven Auswahlkriterien ausgewählt wurden und demzufolge nur Ausschnitte der subjektiven Wahrnehmung bieten können. 236 Genette, G¦rard: Fiktion und Diktion. München 1992, S. 94. 237 Vgl. Chen, S. 48.

Väterliteratur als Zwitterform

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Anfang des 20. Jahrhunderts als »die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selben (auto),«238 von Breuer und Sandberg als nicht ausreichend für die Beschreibung ihrer neuer komplexerer Formen bewertet. Im modernen Gattungsverständnis wird die Trennung zwischen dem Fiktionalen und dem Nichtfiktionalen sowie zwischen dem »eigentlichen Werk eines Autors und dessen autobiographischen Supplementen«239 allmählich aufgehoben. In diesen Diskurs schreiben sich die hier analysierten Texte ein, die als Zwitterformen zu begreifen sind, in denen sich die Übergänge zu anderen Genres, die Grenze zwischen dem Fiktionalen und Nicht-Fiktionalen sowie zwischen der eigenen und der vermittelten Erfahrung verwischen. Was bleibt ist der »Referenzpakt«, der laut Lejeune, immerhin auf das Autobiographische verweist: Die Biographie und die Autobiographie sind, im Gegensatz zu allen Formen der Fiktion, referentielle Texte: Sie erheben genauso wie der wissenschaftliche oder der historische Diskurs den Anspruch, eine Information über eine außerhalb des Textes liegende »Realität« zu bringen und sich somit der Wahrheitsprobe zu unterwerfen. Sie streben nicht nach bloßer Wahrscheinlichkeit, sondern nach Ähnlichkeit mit dem Wahren. Nicht nach dem »Realitätseffekt«, sondern nach dem Bild des Wirklichen. Alle referentiellen Texte weisen somit das auf, was ich als einen impliziten oder expliziten »Referenzpakt« bezeichne, der eine Definition des anvisierten Wirklichkeitsfeldes und eine Aussage über die Modalitäten und den Grad der Ähnlichkeit, auf die der Text Anspruch erhebt, enthält.240

238 Misch, Georg: Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907/1949). In: Niggl, Günter (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt 1989, S. 38. Zitiert nach Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice (Hrsg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1. München 2006, S. 9. 239 Breuer, Ulrich/Sandberg, Beatrice (Hrsg.), S. 10. 240 Lejeune, S. 39 f. [Hervorhebung: Ph.L]

4. Die Motive des Suchens Vater komm erzähl vom Krieg Vater komm erzähl wiest eingrückt bist Vater komm erzähl wiest gschossen hast Vater komm erzähl wiest verwundt wordn bist Vater komm erzähl wiest gfallen bist Vater komm erzähl vom Krieg.241

Die Vater-Spuren-Suche, die hier im Rahmen der Väterliteratur untersucht wird, geht aus einer spezifischen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Erbe der Vätergeneration im deutschsprachigen Raum hervor. Zwar gibt es auch in anderen Ländern, wie beispielsweise in Polen, ebenfalls Literatur, in welcher der Vater im Mittelpunkt steht, doch aufgrund des anderen historisch-politischen Hintergrunds und der Fixierung auf ein kulturspezifisches Vaterideal, trägt sie andere Züge. Die Vater-Biographien und Erinnerungen an den Vater dienen in der polnischen Literatur vordergründig der Denkmalsetzung bzw. der Rehabilitierung des Vaters im traditionsbedingten Kontext, der zusätzlich auf eine andere politische (Streit-)Kultur zurückzuführen ist. Im Rahmen der Literatur über Väter werden geistliche und berühmte Väter (Wissenschaftler, Schriftsteller, historische Persönlichkeiten) mit ihren Leistungen und Errungenschaften erinnert und dargestellt. Dabei fehlt häufig die literarische Verarbeitung einer persönlichen und rebellisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Vätergeneration, die als Beitrag zum öffentlichen Diskurs gelten könnte. Die Väterliteratur (dies gilt ebenfalls für die Mütter-Bücher, die im Rahmen der Erinnerungsliteratur zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Elterngeneration auf dem deutschen Büchermarkt immer präsenter werden) bleibt, aufgrund der Partizipation der Väter am nationalsozialistischen System und der generationsübergreifenden ›Vergangenheitsaufarbeitung‹, ein Phänomen des deutschsprachigen Raumes und dessen Mentalitätsgeschichte. Die Auseinandersetzung mit dem Vater profiliert sich in expressionistischen Texten mit dem Thema des Vater-Sohn-Konflikts242 bzw. mit dem Thema des Aufstands gegen autoritäre Väter (oft von der Freudschen Psychoanalyse beeinflusst) sowie in Vätertexten, in denen die Themen Abwesenheit und emotionale Unerreichbar241 Jandl, Ernst: Vater komm erzähl vom Krieg. In: Siblewski, Klaus (Hrsg.): Poetische Werke. Bd. 5. München 1997, S. 176. 242 Im Rahmen der Literatur des deutschen Expressionismus fand die »Aktion Vatermord« statt, die stellvertretend für das Aufbegehren der jungen Generation gegen die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen« war. Petri, Horst: Guter Vater – Böser Vater, S. 109.

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Die Motive des Suchens

keit des Vaters durch die Vatersuche bewältigt werden. Jedoch ist die Auseinandersetzung mit dem Vater in Form einer Vater-Spuren-Suche erst ansatzweise seit den 1970er Jahren zu beobachten und wird sehr deutlich in den Vätertexten der Nachwendezeit sichtbar, in denen sich die Söhne und Töchter mit der Rolle ihres Vaters in der Zeit des Zweiten Weltkriegs im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beschäftigten. Im vorliegenden Kapitel werden hauptsächlich die Beziehungen von Söhnen und Töchtern zu ihrem Vater untersucht, die durch bestimmte Faktoren und Umstände in der Vergangenheit beeinträchtigt wurden. Die beschädigte VaterKind-Beziehung bildet nämlich einen der wesentlichen Gründe für die VaterSpuren-Suche. Dabei stellt fast in jedem hier analysierten Text, der Tod des Vaters den Ausgangspunkt für die Spurensuche dar. Die Begegnung mit dem todkranken Vater oder die unerwartete Nachricht von seinem Tod zwingt die Erzählfiguren, sich mit ihm und seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Dabei stellen sie in der Regel fest, dass ihnen die Vaterfigur (in vielen Fällen trotz des Zusammenlebens) fern und unbekannt geblieben ist, dass die Beziehung zu ihr nie näher definiert wurde. Die Erzählfigur243 von Monika Jetter beginnt ihre Beziehung zum Vater zu reflektieren, als sie nach dem Tod der Mutter, ihren alleingebliebenen alten Vater unterstützen muss. Die ungeplante physische Annährung an ihn, enthüllt das problematische Verhältnis zu ihm: Als ich den Mann, den ich immer nur den Vater, nie meinen Vater nannte, zum ersten Mal weich, beinahe zärtlich erlebte, war er fünfundachtzig Jahre alt. Zweiundvierzig Jahre lang war zwischen uns eine Mauer gewesen. Wie kam es dazu, in den Jahren von 1945 bis 1952, dass eine Tür von mir zu ihm zuschlug, die sich nie wieder öffnen sollte? Nicht nur darum geht es in diesem Buch, sondern auch um die Frage, weshalb ich mich nach seinem Tod auf die Suche nach ihm machte. Dieser Vater, der mir, als ich ihn beim Sterben begleitete, zum ersten Mal das Gefühl einer Nähe signalisierte, den hätte ich mir, als ich ein kleines Mädchen war, so gewünscht. Warum das nicht möglich, ihm nicht möglich gewesen war, fand ich erst Jahre später heraus.244

Die Unfähigkeit, für den im Sterben liegenden Vater Gefühle jeglicher Art zu entwickeln und von ihm Abschied zu nehmen, veranlasst die Erzählfiguren die 243 Obwohl die Autoren im Sinne des »autobiographischen Paktes« von P. Lejeune mit den Erzählfiguren gleichzusetzen sind (dies war eins der Kriterien, nach dem die Wahl der Primärliteratur getroffen wurde), werden sie in der vorliegenden Arbeit als fester Bestandteil des Erzählten betrachtet. Die ErzählerInnen werden mit ihren in den Texten verwendeten Namen erwähnt, die sich mit den Namen der jeweiligen Autoren überdecken, da es sich hier, wie schon oben angemerkt, um autobiographisches Schreiben handelt. Siehe dazu: Kapitel »Zur Gattung und Komposition«. Es ist nicht die Aufgabe dieser Doktorarbeit, den Wahrheitsgehalt und Authentizität der (historischen und autobiographischen) Fakten der ausgewählten Texte zu überprüfen. Die Analyse der Vater-Spuren-Suche wird auf der Textebene durchgeführt. 244 Jetter, S. 7. [Hervorhebung: M.J.]

Die Vaterentbehrung

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Beziehung zu ihm in Frage zu stellen und sie zu erforschen. So wird in der hier vorgenommenen Untersuchung auf psychologische und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen, um die persönlichen Motive der Suche sowie die Beziehung zum Vater auf der Ebene des Texts zu erläutern – ohne dabei die Vater-Kind-Beziehung geschlechtsspezifisch245 zu definieren.

Die Vaterentbehrung Die Vaterfigur spielt eine enorme Rolle in der psychischen wie auch soziokulturellen Entwicklung jedes Kindes. Sowohl ihre Präsenz als auch ihre Absenz und die Beziehung zu ihr, beeinflussen nicht nur die individuelle Entfaltung, sondern gestalten auch andere zwischenmenschliche Beziehungen des Kindes, vorerst in der Familie und der engsten Umgebung und später in der Gesellschaft. Die von den Kindern verinnerlichten Vaterbilder stellen »durch die Summe der gemeinsamen Erfahrungen […] sowohl äußere als auch innere Repräsentanten der Vaterwelt«246 dar. Nach den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie wirkt sich eine beeinträchtigte Vater-Kind-Beziehung auf die Kindheit hemmend und belastend aus. In der Pubertät intensivieren sich ihre negativen Auswirkungen und werden dementsprechend zum Ausdruck gebracht. Die fehlende körperliche und hauptsächlich emotionale Nähe zum Vater hinterlässt bei den Kindern lebenslang ihre Spuren. Eine unerreichbare Vaterfigur bewirkt emotionale Orientierungslosigkeit und lässt keine Identifikationsmöglichkeiten zu. Gerade die Unfähigkeit, einen Bezug zur Vaterfigur aufbauen zu können, führt bei den Erzählfiguren zum offenen Aufstand und mündet schließlich in einer gestörten Emotionalität im Erwachsenenalter, in dem die Sozialisation und 245 In der psychologischen Forschung zur Vaterentbehrung, wird üblicherweise auf Unterschiede zwischen der Vater-Sohn- und der Vater-Tochter-Beziehung, vor allem in der ersten und zweiten ödipalen Phase der Entwicklung hingewiesen. Die neusten Erkenntnisse auf diesem Gebiet schreiben dem Vater eine wichtige Bedeutung in der Entwicklung sowohl der Söhne als auch der Töchter zu. So untersucht Petri Horst die Vaterentbehrung generell ohne große geschlechtsspezifische Differenzierungen vorzunehmen. Er weist zwar auf Unterschiede hin, jedoch vertritt er generell folgende Ansicht: »Vaterlosigkeit, das Verlassenwerden vom Vater, erzeugt die vielleicht tragischste Konstellation des Ödipuskonfliktes sowohl bei Mädchen wie bei Jungen.« Petri, Horst: Drama der Vaterentbehrung. München 2009, S. 32. Geschlechtsspezifisch wurde das Thema unter anderem in folgenden Studien behandelt: Schulz, Hermann/Radebold, Hartmut/Reulecke, Jürgen: Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. Bonn 2005 oder von: Uvanovic´, Zˇeljko: Söhne vermissen ihre Väter. Misslungene, ambivalente und erfolgreiche Vatersuche in der deutschsprachigen Erzählprosa nach 1945. Marburg 2001; Bellmann, Ingeborg/Biermann, Brigitte: Vatersuche. Töchter erzählen ihre Geschichte, Berlin 2005. 246 Petri, Horst: Drama der Vaterentbehrung, S.13.

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Die Motive des Suchens

auch das Selbst bewusster erlebt werden.247 Die jahrelang beschädigte bzw. ausgebliebene Vater-Kind-Beziehung, bleibt nach Jochen Stork nicht ohne Folgen: Kasuistische und später auch empirisch-statistische Forschungsarbeiten von Autoren verschiedener Provenienz heben hervor, daß bei einer Großzahl von psychischen Krankheitsbildern in unterschiedlicher Ausprägung, eine Abwesenheit, ein Versagen der Autorität des Vaters und eine Inkonsistenz des Vaterbildes mit den Merkmalen der Passivität, der Distanziertheit und der mangelnden Männlichkeit – kurz als der »schwache« Vater bezeichnet – von ausschlaggebender Bedeutung für die Entwicklung des Kindes angesehen werden muß.248

Die in den Vätertexten thematisierte gestörte Vater-Kind-Beziehung resultiert aus der im weiteren Sinne verstandenen Vaterentbehrung. Je nach Lebensphase des Kindes verursacht sie diverse seelische Auswirkungen: »je nach Dauer und Intensität der väterlichen Verfügbarkeit [variieren] die Identifizierungsmöglichkeiten zur Errichtung innerer Väterbilder.«249 Dabei wird von dem Psychoanalytiker Horst Petri zwischen drei Formen der Entbehrung differenziert: der Vaterlosigkeit, dem Vaterverlust sowie der Vaterabwesenheit.250 Die Vaterlosigkeit betrifft Kinder, die den leiblichen Vater bewusst nicht erlebt haben.251 Dies trifft beispielsweise auf die Erzählfigur bei Martin Pollack zu, die ihren biologischen Vater nie kennen gelernt hatte, jedoch ein idealisiertes Vaterbild von der Großmutter vermittelt bekam, das Pollack erst im erwachsenen Alter zu verifizieren sucht. Ferner muss aufgrund der Rolle des Vaters im Entwicklungsprozess zwischen dem »früheren,« »mittleren« und »späten« Vaterverlust unterschieden werden, da dieser andere Spuren bei Kindern, die den Vater wie Bruhns in ersten drei Lebensjahren verloren haben, hinterlässt als bei denen, die den Vaterverlust in der ersten (3 J-6 J) oder in der zweiten, der ödipalen Phase (12 J-16 J: Ute Scheub, Peter Härtling), erlitten.252 Die Psychoanalyse schreibt nämlich dem Vater in der ödipalen Phase eine viel wichtigere Bedeutung für die Entwicklung des Kindes zu. In der ersten Phase, im Rahmen der sogenannten »pubertären Krise«, wird der Vater zum Identifizierungsobjekt: Für die Söhne im Zuge der Konkurrenz um »Anerkennung« und »Realitätsanpassung,« für die 247 Mehr zum Thema, siehe: Rotmann, Michael: Frühe Triangulierung und Vaterbeziehung. In: Forum Psychoanalyse. Heft 1/1985 Heft, S. 308 – 317. 248 Stork, Jochen: Die Bedeutung des Vaterbildes in der frühkindlichen Entwicklung. In: Stork, Jochen (Hrsg.):Fragen nach dem Vater. Französische Beiträge zu einer psychoanalytischen Anthropologie von Jacques Colette, Rosine Cr¦mieux, Claude Lagadec, Serge Lebovici, G¦rard Mendel, Edmond Ortigues, Paul Ricoeur, Jochen Stork. Freiburg/München 1974, S. 259. 249 Vgl. Petri, Horst: Drama der Vaterentbehrung. München 2009, S. 49. 250 Vgl. ebd., S. 48. 251 Ebd. 252 Vgl. ebd., S. 48 f.

Die Vaterentbehrung

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Töchter als Stütze und Bezugsperson in der Auseinandersetzung mit der »äußeren« und »inneren« Welt.253 In der letzten Entwicklungsphase hält Petri die Vaterfigur für beide Geschlechter für relevant. Dies gilt vor allem hinsichtlich ihres Eintrittes in das Erwachsenleben und der Erlangung ihrer eigenen Autonomie: Für Jungen und Mädchen gleichermaßen bildet der Vater in ihren Sinn- und Orientierungskrisen eine wichtige Verbindung zur Außenwelt. Die notwendigen Identifikationen dienen der Vermittlung gesellschaftlicher und politischer Wertmaßstäbe, der Stiftung beruflicher Selbstentwürfe und der Festigung der eigenen psychosexuellen Identität. Unter seinem Verlust können diese Stützen plötzlich wegbrechen, und der Jugendliche wird noch stärker in die Strudel seiner Verwirrungen hineingezogen.254

Auch wenn der Vaterverlust im erwachsenen Alter erlitten wird, bildet er für die Erzählfiguren einen Wendepunkt in ihrem Leben, da erst mit dem Tod des Vaters die beschädigte Vater-Kind-Beziehung, die auf die zwei entscheidenden Entwicklungsphasen zurückgeht, von den Erzählfiguren realisiert und reflektiert wird. Des Weiteren wird in der Psychologie hinsichtlich der Abwesenheit des Vaters zwischen »langzeitiger« und »lebenslanger« Abwesenheit differenziert sowie zusätzlich zwischen den »äußerlich dauerhaft vorhandenen« und »innerlich abwesenden und damit für ihre Kinder seelisch nicht erreichbar[en]«255 Vätern unterschieden.256 Diese Arten der Abwesenheit sind auch in den Vätertexten zu finden. Die Erzählfiguren wachsen kriegsbedingt entweder ohne Vater oder mit einem »schwachen,« oft kriegstraumatisierten Vater auf. In diesem Kontext unternimmt der Psychoanalytiker Hartmut Radebold eine Klassifizierung von Vätern, die er hinsichtlich der Abwesenheitsart in folgende Gruppen teilt: die »endgültig abwesenden« Väter, die »zeitweise abwesenden« Väter und die »innerlich abgekapselten« Väter.257 Die erste Väter-Gruppe umfasst Väter, die »zwischen Zeugung und Ende des 3. Lebensjahres« ihres Kindes aus dem Krieg nicht mehr zurückgekommen und somit für das Kind nur als Mythos bzw. als Tabu zugänglich gewesen sind.258 Zu dieser Kindergruppe lassen sich die Erzählfiguren, u. a. von Martin Pollack und Wibke Bruhns zuordnen. Die Erzählerin bei Bruhns stellt rückblickend fest: Für den Vater hatte ich mir eine unverfängliche Position gesucht: Ich habe ihn nicht gekannt, folglich ging er mich nichts an. Er hat mir nie gefehlt – Millionen Töchter meiner Generation sind aufgewachsen ohne Väter. Ich hielt ihn mir vom Hals. Ich 253 254 255 256 257 258

Vgl. ebd., S. 34. Ebd., S. 59. Vgl. Radebold, Hartmut: Abwesende Väter und Kriegskindheit, S. 118. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 137 f. Vgl. ebd., S. 137.

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Die Motive des Suchens

wollte nichts über ihn wissen. Er war eine offene Wunde im Leben meiner Mutter, und ich habe ihn erfahren als ihren Verlust. Sie hat darüber geschwiegen. Heute weiß ich, dass viele der 20. Juli-Witwen gegenüber ihren Kindern geschwiegen haben.259

Der tabuisierte Umgang mit der Absenz des Vaters bildete in den Texten lange Zeit die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung und Handlungsfähigkeit der Familie im Nachkriegsdeutschland. So kommt es dort oft bei den Nachkommen zur Identifizierung mit einem phantasierten, idealisierten Vaterbild im Sinne einer Wunschvorstellung oder – wie im Falle der Erzählfigur von Wibke Bruhns – mit dem unbekannten Vater, den sie teilweise aus dem eigenen Selbst projiziert: Ich kenne ihn nicht, nicht den Schatten einer Erinnerung gibt es in mir. Ich war ein knappes Jahr alt, als der Krieg begann. Von da an war der Vater so gut wie nie zu Hause. Aber ich erkenne mich in ihm – seine Augen sind meine Augen, ich weiß, dass ich ihm ähnlich sehe. Ich kneife mich in den Unterarm: Diese Haut gäbe es nicht ohne ihn. Ich wäre nicht ich ohne ihn. Und was weiß ich über ihn? Nichts weiß ich.260

Zur derselben Gruppe werden von Radebold ebenfalls Väter, die »zwischen dem 4. und 10. Lebensjahr« ihres Kindes im Krieg gefallen sind oder verschollen blieben, gerechnet.261 In diesen Fällen, gehören die Väter zu den bruchstückhaften Erinnerungen des »manipulierten Gedächtnisses«262 der Erzählfiguren. Sie werden hauptsächlich durch kurze Fronturlaube des Vaters und Erzählungen der Verwandten in ihrer Kindheit kreiert, wie es die Erzählfigur von Uwe Timm am Beispiel ihres Bruders veranschaulicht: Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling, einbezogen.263

Die Nachkommen, die ihre Vä ter noch bis zum »10. Lebensjahr« miterlebt hatten und ü ber »sichere eigene Erinnerungen aus der Vorkriegszeit«264 und Fronturlaube verfügen, repräsentiert beispielsweise die Erzählfigur von Peter Härtling, die den Vater nicht in der Kategorie der Abwesenheit, sondern des Verlusts reflektiert: »Der verlorene Vater ist als eine ›verdrängte‹ Realität im 259 260 261 262 263

Bruhns, S. 11. Ebd., S. 13. Vgl. Radebold, Hartmut: Abwesende Väter und Kriegskindheit, S. 137. Siehe dazu: Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004, S. 7. Timm, Uwe: Am Beispiel meines Bruders. Köln 2003. (Kapitel: »Das Gedächtnis und seine Praxis«). [Hervorhebung: U.T.] 264 Vgl. Radebold, Hartmut: Abwesende Väter und Kriegskindheit, S. 137 f.

Die Vaterentbehrung

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Innersten wirksam; eine unsichtbare Größe, ein Irrlicht, eine Fata Morgana in Uniform oder Werkskittel, Auslöser von Sehnsüchten mit allen Folgen erzwungener Vereinsamung.«265 Er gehört zur Welt der Kindheitserinnerungen aus der verlorenen Zeit. Für die oben erwähnten Erzählfiguren, die von der Abwesenheit des Vaters in ihrer Kindheit betroffen sind, lebt das unscharfe Bild des Vaters in ihrer Gedankenwelt weiter und hält einen gewissen Spielraum für Sehnsüchte und Wunschträume offen.266 Das Schweigen über den Vater und seine Vergangenheit wird in ihren Familien zwar respektiert, doch bedeutet es nicht, dass er nicht existiert, dass er nicht erfahrbar ist: »Obwohl im Schweigen an sich nichts Konkretes repräsentiert ist, wird darin dennoch etwas Abwesendes als massiv anwesend erfahren.«267 Die Vorstellung von dem, was sein könnte und doch nicht gewesen ist, gibt dem Unbekannten jahrelang feste Konturen. Doch, wie die Studie von Petri zeigt, ist entscheidend für die Entwicklung des Kindes nicht unbedingt der »Archetypus« Vater, der in jedem Menschen existiert, »sondern die gelebte oder nicht gelebte Beziehung zu einem realen Vater.«268 Deshalb spielt die Macht der Abwesenheit auch in den Familien der Erzählfiguren, in denen der Vater heimgekehrt ist, eine enorme Bedeutung für ihr Zusammenleben. Hier erlaubt die Differenzierung von Radebold zwischen zwei Gruppen von »zeitweise abwesenden« Vätern in den Texten zu unterscheiden.269 Die erste berücksichtigt Väter, »die nach langer Kriegszeit (eingezogen bereits 1939 oder 1940) oder langer Kriegsgefangenschaft (u. U. bis 1951) zu unterschiedlichen Zeitpunkten der psychosexuellen und psychosozialen Entwicklung ihrer Kinder zurückkehrten.«270 Radebold beschreibt dieses Vaterprofil folgendermaßen: Auf jeden Fall sind sie zunächst und oft sehr lange ihren Kindern »unbekannt«; h ä ufig sind sie und bleiben sie chronisch, physisch und psychisch beeinträchtigt oder krank (also Invaliden); der soziale Aufstieg gestaltet sich öfter schwierig oder 265 Schulz, Hermann/Radebold, Hartmut/Reulecke, Jürgen: Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. Bonn 2005, S. 9. 266 Leupold, S. 7. 267 Bohleber, Werner : Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewußtsein. In: Rüsen, Jörn/Straub, Jürgen (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Züge zum Geschichtsbewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität. Bd. II. Frankfurt am Main 1998, S. 260. 268 Petri, Horst: Drama der Vaterentbehrung, S. 24. 269 Die von Radebold aufgestellten Väter-Profile entsprechen den analysierten Vätern nur teilweise. Deshalb werden die untersuchten Väter den Väter-Gruppen nach der dominantesten Eigenschaft zugeordnet. Dabei werden auch Väter in Betracht gezogen, die in der Nachkriegszeit anwesend gewesen sind, doch durch ihr Verhalten abwesend wirkten. (Beispielweise die beschriebenen Väter von Jetter oder Scheub) 270 Radebold, Hartmut: Abwesende Väter und Kriegskindheit, S. 138.

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misslingt. Sie erweisen sich in jedem Fall als ganz andere: Sie sind ganz anders, als man sie in Erinnerung hat oder sich nach den Erzählungen von Mutter und älteren Geschwistern vorstellt ; die Kinder haben sich selbst verändert und befinden sich in heftiger Konkurrenz, ödipaler Auseinandersetzung oder pubertärer Ablösung. Die Väter empfinden sich selbst auch als veränderte Menschen, die den Aufgaben als Ehemänner, Väter und Ernährer so – zumindest für einen langen Zeitraum – nicht mehr nachkommen k ö nnen.271

Die Heimkehr des Vaters bedeutet für die Söhne und Töchter, beispielsweise für die Erzählfigur von Christoph Meckel, einen Zusammenstoß von Erinnerungen an den Vater mit der Wirklichkeit. Zur zweiten Gruppe werden Väter gezählt, die trotz der Wiederkehr in das Familien- und Berufsleben den Erzählfiguren unnahbar und fremd geblieben sind. Durch ihr hartes Auftreten, destruktive Verhaltensweisen, Passivität und emotionale Kälte wurden sie von ihren Kindern als Bezugspersonen nicht wahrgenommen. Aus dem Krieg scheinbar unversehrt davongekommen, im Nachkriegsdeutschland sozial erfolgreich, vermittelten sie den Eindruck, ihre Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben: Diese Väter zentrieren sich auf ihre berufliche Arbeit, gestalten die Beziehungen zu ihrer Frau und ihren Kindern karg und verwirklichen erziehungsmäßig bestimmte, durch ihre Kriegserfahrungen offenbar bestätigte Erziehungsideale, die in fataler Weise an Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädchen erinnern. Die gegen Ende des Kriegs oder danach geborenen Kinder können die offensichtlich erfolgten Veränderungen dieser Väter (innere Abkapselung bei äußerlich überspielendem und überaktivem Verhalten, z. T. mit Suchtzügen) nicht erkennen, da sie diese Väter nicht von früher kennen.272

Ihre Lebenssituation in der Nachkriegszeit wirkt, wie es ihre Söhne und Töchter in den Vätertexten feststellen, jedoch offensichtlich überfordernd auf sie und lässt sie generell eine ablehnende, wenn nicht aggressive Haltung annehmen. Dabei werden, Jochen Stork zufolge, gerade schwache Väter als besonders »bedrohlich« und »repressiv« empfunden.273 Je abwesender und schwächer deren Vater war, desto mehr wurde seine Person entstellt und dämonisiert.274 Die Unfähigkeit dieser Väter, sich in der neuen Nachkriegsrealität zurecht zu finden, ist im Kontext der nachkriegsdeutschen Gesellschaft zu betrachten, die infolge von rapiden sozialen (breit wirkenden) Veränderungen und Umwertungen, aus dem bisherigen kulturellen Gleichgewicht und Identitätsbewusstsein geworfen wurde.275 Piotr Sztompka spricht in solch einem Fall von einem »kulturellen 271 272 273 274 275

Ebd. Ebd., S. 138 f. Vgl. Stork, S. 290. Vgl. ebd. Vgl. Sztompka, Piotr : Trauma kulturowa. Druga strona zmiany społecznej. In: Przegla˛d socjologiczny. Bd. XLIX. Heft 1/2000, S. 11 f.

Das Leben mit dem Vater-Mythos bzw. dem Vater-Tabu

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Trauma,« das u. a. Desorientierung und Unfähigkeit zur Existenz angesichts einer neuen Institutionalisierung mit sich bringt und sowohl eine mobilisierende, stimulierende und dynamische als auch eine destruktive, hemmende Wirkung auf die Gesellschaft und ihre kollektive Identität haben kann.276

Das Leben mit dem Vater-Mythos bzw. dem Vater-Tabu Infolge der Konfrontation mit bislang unerwähnten Informationen und unbekannten Dokumenten zur Familiengeschichte, wird das bisher von den Söhnen und Töchtern erinnerte bzw. verinnerlichte Vaterbild sowie seine Vergangenheit (ebenfalls im zeithistorischen Kontext) in Frage gestellt. Der Erzähler Meckel hatte eigentlich nie vor, sich mit seinem Vater näher zu beschäftigen, bis er eines Tages seine Tagebücher fand: Über ihn zu schreiben erschien mir nicht nötig. Der Fall. Ein Privatfall, war abgeschlossen. Ich hätte Erinnerungen an ihn notiert, ohne die Absicht, etwas daraus zu machen. Ich hätte vermutlich nicht länger an ihn gedacht. Neun Jahre nach seinem Tod kommt er wieder zurück und zeigt sein Profil. Seit ich seine Kriegstagebücher las, kann ich den Fall nicht auf sich beruhen lassen; er ist nicht länger privat. Ich entdeckte die Notizen eines Menschen, den ich nicht kannte.277

So begeben sich die Erzählfiguren, in der Regel nach dem Tod des Vaters, auf die Suche nach seiner »wahren« Identität und Vergangenheit, denn die Konfrontation mit dem bisher unbekannten Faktenmaterial enthüllt, dass die meisten von ihnen jahrelang (oft unbewusst) mit einem Vatermythos aufgewachsen sind. Die Aufdeckung der bisherigen Tabuisierung, sowohl in der persönlichen als auch der historischen Dimension, weckt bei den Söhnen und Töchtern, wie bei der Erzählfigur Meckel, das Interesse an der »wahren« Lebensgeschichte des Vaters: »Der Mensch, den ich kannte oder zu kennen glaubte, war nur ein Teil jenes andern, den keiner kannte. Nachdem ich den einen und den anderen kenne, fehlt eine Tagesordnung, zu der ich übergehen kann.«278 Nach Aleida Assmann hat der Begriff »Mythos« zwei Bedeutungen: Einerseits steht er für die »Verfälschung von historischen Tatsachen« und andererseits für die »affektive Aneignung der eigenen Geschichte.«279 276 Vgl. ebd., S. 12 – 28. Sztompka bezieht das Phänomen des kulturellen Traumas, u. a. auf die postkommunistische Zeit. Dieselbe Situation ist aber trotz mehrerer Unterschiede (beispielsweise bezüglich der Indoktrinationsart) ebenfalls in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten. 277 Meckel, S. 63 f. 278 Ebd., S. 64. 279 Aleida Assmann geht mit dieser Erklärung auf die Definition von Buruma zurück. Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur der Vergan-

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Mythos in diesem Sinne ist eine fundierende Geschichte, die nicht durch Historisierung vergeht, sondern mit einer andauernden Bedeutung ausgestattet wird, die die Vergangenheit in der Gegenwart einer Gesellschaft präsent hält und ihr eine Orientierungskraft für die Zukunft abgewinnt. Die zum Mythos gesteigerte Geschichte ist in der sozialen Wirklichkeit, in der Weise gegenwärtig, daß Vergangenheit und Gegenwart an bestimmten Orten und in bestimmbaren Handlungen ineinanderfließen.280

Der hier untersuchte Vater-Mythos vereinigt beide Auslegungen in sich: Er konstituiert affektiv im Rahmen von Familiengeschichten und -gesprächen eine gemeinsame Identität der Familie und stellt somit private Erinnerung der Geschichtsschreibung gegenüber. In den untersuchten Vätertexten entstehen die Vater-Legenden infolge von Koproduktionen einzelner Familienmitglieder. Sie werden durch das gemeinsame Erinnern, Wiederholen und das Mitgestalten an weitere Familienangehörige und Generationen vermittelt. Die Herausbildung und Etablierung des Vater-Mythos findet meist nach dem Tod des Vaters statt, wenn er selbst auf die Konstruktion seines Bildes keinen Einfluss mehr nehmen kann. Zwar trägt er noch zu Lebzeiten zur »Ausarbeitung« der Identität seines künftigen Mythos bei,281 jedoch es ist die Familie, die seine Person oft schon vor ihrem Tod mythisiert und zur »lebenden Legende« oder zur »Legende seiner Zeit« macht.282 Posthum erwächst das Vaterbild aus mehreren unterschiedlichen Erinnerungen einzelner Familienangehöriger. Sie gleichen sich mit der Zeit einander an, bis schließlich eine übereinstimmende finale Legendenform durchgesetzt wird. Dabei ermöglicht das Prinzip gegenseitiger Loyalität und Akzeptanz innerhalb der familiären Koalition den Konsens über das Vaterbild. Dieses wird im Zuge von Familiengesprächen stets bereichert, elaboriert und intergenerationell weitergegeben, wie in der Familie der Erzählerin bei Leupold: Legenden machen den Anfang. Legenden bilden den Schluß. Jede Familie erzeugt solche Legenden, kleinere oder größere literarische Zuschreibungen, welche die Verschiebungen im Innern der Konstellation regulieren. Sie speisen sich mehr oder weniger aus der Wirklichkeit. Bei uns waren sie nahezu fiktiv. Weil er so fremd blieb, lud der Vater dazu ein, ihm Vorlieben und Aversionen anzudichten, überhaupt ihm durch Zuschreibungen eine Gestalt mit festen Umrissen zu verleihen. So entstanden über die Jahre eigene Vaterlegenden, die sich durch Wiederholung zu einer lebenstauglichen Wahrheit verfestigten. Kein Wissen störte dabei.283

Der Umgang mit der Vergangenheit des Vaters innerhalb der Familie trägt in den Vätertexten einen zwiespältigen Charakter. Einerseits unterliegt der Vater der

280 281 282 283

genheit. München 2006, S. 40. und Buruma, Ian: Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan. München 1994. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 40 f. Kotre, John: Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. München/Wien 1996, S. 267. Vgl. ebd., S. 281. Leupold, S. 217.

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Idealisierung bis hin zur Heroisierung, andererseits, ab einem gewissen Grad der Nachfrage, der Tabuisierung. Brigitte Rauschenbach spricht in diesem Kontext von Kommunikationsmustern, die zur Tabuisierung, »Aussparung, Blockierung und Verzerrung ganzer Themenfelder« führen und bei den Nachgeborenen ein »Vermeidungsverhalten« erzeugen können.284 Daher wird nichts zum Thema, was nicht zum Thema werden darf. Die Vergangenheit wird zwar vermittelt, jedoch über »Deckadressen«285 : »Sie bleibt präsent, gerade weil die Verständigung blockiert ist.«286 Die Mythologisierung der Vaterfigur erfolgt meistens in einer festgelegten Form, die nicht zu hinterfragen ist. Zum einen wird sie zum Schutz der einzig und allein richtigen Version des Vaterbildes und zur Sicherstellung seiner Überlieferung vorgenommen, zum anderen findet sie statt, weil der Vater oft in der Familie abstrakt bleibt, indem er als Gedenktafel, Tod, Verlust, eine offene Wunde oder Schmerzzone der Hinterbliebenen empfunden wird.287 Er stellt somit ein Erinnerungsobjekt dar, das nur durch andere wiederbelebt werden kann: ein Schatten, der durch das Familiengedächtnis Konturen bekommt. Dazu bemerkt die Erzählfigur von Dagmar Leupold: Die Kreise seiner Geschichte und meiner überschneiden sich; die Schnittmenge ist genau umrissen und doch unbekannt und unbenannt. Was er war, bevor er mein Vater wurde, blieb so lange unter einer Schicht schützender Mythen verborgen, wie Erzähler und Zuhörer diese speisten. Eine familiäre Koproduktion, eine alle Familienmitglieder beschäftigende Bastelarbeit. Sich gegenseitig etwas anzudichten ist nicht ausschließlich dem Wunsch geschuldet, Unangenehmes zu beschönigen. Es entsteht auch aus dem Verlangen nach begründbarem Zusammenhalt: Der stellt sich ein, kaum daß eine Geschichte beginnt.288

Die Figur des Vaters wird in den Familiengeschichten und -anekdoten in den Väterbüchern hauptsächlich aufgrund ihrer Charakterzüge wie beispielsweise »Anständigkeit« und »Furchtlosigkeit«289 idealisiert. Damit werden die in der Zeit des Nationalsozialismus propagierten Werte an die Nachkommen vermittelt und gutgeheißen. Der Bruder der Erzählfigur bei Uwe Timm bekommt in der 284 Vgl. Rauschenbach, Brigitte: Stille Post. Von der Übertragung im Unverstand. In: Straub, Jürgen/Rüsen, Jörn (Hrsg.), S. 253. 285 Ebd. 286 Ebd. 287 Vgl. Bruhns, S. 11 u. 14. 288 Leupold, S. 33 f. 289 Eigenschaften, die durch den Nationalsozialismus besonders aufgewertet und gepflegt wurden. (Sie kommen sowohl bei Beate Niemann, S. 182, Uwe Timm S. 91, 102 als auch Martin Pollack S. 103 vor). Vgl. Schreckenberg, Heinz: Erziehung, Lebenswelt und Kriegseinsatz der deutschen Jugend unter Hitler. Anmerkungen zur Literatur. In: Geschichte der Jugend. Bd. XXV. Berlin/Hamburg/Münster 2001, S. 49. u. Aden-Grossmann, Wilma: Kindergarten. Eine Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik. Weinheim 2002, S. 100 f.

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Überlieferung beinah einen überdimensionalen Charakter : »Der Bruder, das war der Junge, der nicht log, der immer aufrecht war, der nicht weinte, der tapfer war, der gehorchte. Das Vorbild.«290 Das Vaterbild (in Timms Text der Bruder) wird dadurch (unabsichtlich) in den Diskurs des Dritten Reiches eingeschrieben und scheint nur in demselben zu funktionieren, da es außerhalb keine Bestätigung und Wahrnehmung erfährt. So wird durch diese Idealisierung des Vaters zugleich eine positive Bewertung auf seine Zeit projiziert. Andererseits werden seine idealisierten Eigenschaften nachträglich durch die Konfrontation mit Faktenmaterial entwertet, beispielsweise durch den überstrapazierten Begriff der »Anständigkeit.«291 Mit der Idealisierung des Vaters wird außerdem die Selbstbestärkung der Familie betrieben, die sich durch diese Übereinkunft selbst aufwertet. Die Idealisierung des Vaters wird zudem häufig durch seine Viktimisierung begleitet, die beispielsweise in der Familie der Erzählfigur Niemann seine Benachteiligung im Nachkriegsdeutschland hervorhebt: Oft wird vom Vater gesprochen, zu den Festen ist sein Bild mit Blumen geschmückt. Wenn Freunde meiner Eltern kommen, wird an den »armen Bruno« gedacht, der unschuldig ein so schweres Schicksal erleidet, während andere wieder in festen und guten Positionen sitzen und das Wirtschaftswunder in Deutschland Einzug erhält.292

Die Tradierung des Vater-Mythos ist von Interaktivität gezeichnet. Der Mythos wird von den Rezipienten mitgestaltet, indem sie die Merkmale des Vaters festhalten und vermitteln, die sie selbst ansprechen, die ihrem Erwartungshorizont entgegenkommen und mit denen sie ihre Identität gegen die Außenwelt wappnen können. Die Mythosbildung macht einen festen Bestandteil der Familienidentität aus und hat eine konstituierende und zusammenschweißende Funktion. Die familiäre Sprachregelung schützt die Familie vor potenzieller Zerstörung und versieht sie mit Tabubeschränkungen sowie Verboten, die Sigmund Freuds Definition zufolge keinen religiösen oder moralischen Charakter haben, sondern »sich eigentlich von selbst verbieten.«293 In den analysierten Werken bezieht sich die Tabuisierung des Vaters hauptsächlich auf Inhalte, die als überflüssig und unerwünscht für das Vaterbild empfunden werden. Sie schreibt sich in die Definition von Margarete und Alexander Mitscherlich ein, die unter einem Tabu eine »Denkhemmung,« »ein faktisches Verbot aus: »Du sollst nicht …« verstehen. Die zentrale Definition eines Tabus lautet: Wo immer man nicht mehr weiter zu fragen wagt oder nicht einmal auf den Gedanken kommt, es zu tun, hat man es mit einem Tabu 290 291 292 293

Timm, S. 21. Vgl. Türkis, S. 73. Niemann, S. 136. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker. Leipzig/Wien/Zürich 1920, S. 25 f.

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zu tun. Die Gefühle, mit denen man ihm begegnet, können also gar nicht anders als zwiespältig sein. Seit Adam und Eva lockt es insgeheim die Lust, es zu übertreten, hervor. Gerade diese der frommen Denkungsart widerstreitenden Gefühle sind aber, solange es nicht zu einer Reflexion über das Tabu kommen darf, im Bewußtsein meist gar nicht vorhanden. Ein Tabu reguliert vielmehr die Einstellung zu einem Sachverhalt, wie es eine sehr hohe Autorität, die keinen Widerspruch duldet, zu halten pflegt.294

Die Tabuisierung hat die Aufgabe den dargebotenen Vater-Mythos aufrechtzuerhalten. Sämtlichen Fragen der Erzählfiguren, die an ihm rütteln könnten, werden als Bedrohung bzw. als Verstoß gegen die Privatsphäre der Familienmitglieder verstanden. Daraus resultiert eine »schweigende Übereinkunft, keine persönlichen Fragen zu stellen,«295 die jedoch die Herausbildung von authentischen engeren Beziehungen zwischen Familienmitgliedern einschränkt. Der Text von Dagmar Leupold betont den illusorischen Charakter von Familienbindungen, die auf Mythen gründen: Keine Familie ohne Legendenbildung, aber unsere, dachte ich hier, hielten nicht stand. Sie hatten nicht Bindungen geschaffen, ja nicht einmal Gewissheiten, sondern Hindernisse, Zweifel, Ballast. Daß immer wieder dasselbe erzählt wurde, machte es für mich, hier, an seinem Bett sitzend, vom Abschied verstört, nicht vertrauenswürdiger, sondern verdächtiger. Es waren womöglich Deckversionen, Tarnungen des Schwierigen und Widersprüchlichen. Die Verstellung als Status quo.296

Diese Tabuisierung trägt ein Konfliktpotenzial in sich. Die Tabuverletzung hat einen reflexiven Charakter. Die Auflehnung gegen eine ungeschriebene Regelung wirkt sich vor allem auf die Erzählfiguren aus, die sich durch ihre VaterSpuren-Suche der festgelegten familiären Regelung nicht unterordnen. Der Verstoß gegen den Familienfrieden und das Familiengedächtnis wird, wie es die Vätertexte darlegen, mit Marginalisierung, Ausstoßung oder Schweigen bestraft.

Der Akt des Schweigens In den Nachkriegsfamilien, in denen die Erzählfiguren ihren Vater noch miterleben durften, wird die Vater-Kind-Beziehung weitgehend durch den Akt des Schweigens beeinträchtigt. Dies erschwert oder verhindert die transgenerationelle Kommunikation bzw. Verständigung im Sinne eines offenen Gesprächs über die Vergangenheit. Das Schweigen nimmt in den Vätertexten unterschiedliche Formen an und hat verschiedene Gründe bzw. Funktionen. Während 294 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967, S. 111. 295 Pollack, S. 72. 296 Leupold, S. 33.

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Heinz Bude im Rahmen der Phänomenologie des Schweigens u. a. das »derealisierende,« »vorbereitete,« das »verzweifelte« sowie das »heilende« Schweigen nennt,297 sind für die vorliegende Untersuchung die Arten des Schweigens relevant, die sich als »schützendes,« »strafendes« und »beredtes Schweigen,«298 »Be- und Verschweigen,« in der »Sprachlosigkeit« sowie im »Unausgesprochenen« manifestieren.

Das schützende Schweigen Das Ausweichen vor Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus, vor allem in der direkten Nachkriegszeit, wird in den Vätertexten, als Lebensstrategie innerhalb der Familie und der Gesellschaft gezeigt. Aus Rücksichtsnahme auf die Elterngeneration sowie die schwierige existenzielle Situation werden Gespräche bzw. Äußerungen gemieden, die das Vaterbild in Frage stellen könnten. Dieser intergenerationelle Verhaltenskonsens wird durch den sogenannten Generationenvertrag abgesichert, der laut Christian Schneider et al. auf einer Wechselwirkung beruht und beide Generationen mit einschließt.299 Das Schweigen der Erzählfiguren ist einerseits eine Loyalitätsbezeugung gegenüber der Elterngeneration und andererseits kommt es dem familiären Harmoniebedürfnis beider Seiten entgegen. Die stillschweigende Verständigung zwischen den Generationen hat auch außerhalb der Fiktion vor allem Schonung zum Ziel, die Gesine Schwan folgendermaßen erläutert: Die Eltern wollten nicht sprechen, viele Kinder wollten aber auch lieber nicht wissen. Vor allem bevor sie in die Pubertät kamen. Nicht nur, weil viele Eltern – was der Fall war – heftig, bedrohlich und »ausschließend« auf Nachfragen der Kinder reagierten, sondern vor allem, weil die Kinder ihre Eltern nicht in Bedrängnis bringen wollten. Sie spürten ja, daß da etwas Düsteres war, das die Eltern belastete.300

In den Vätertexten bildet das Schweigen einen (Zu-)Fluchtort vor gegenseitigen Vorwürfen, Angriffen und Missverständnissen, was es erlaubt, es in der Kategorie einer »generellen und diffusen emotionalen Tabuisierung der Ver297 Vgl. Bude, Heinz: Bilanz der Nachfolge. Die Bundesrepublik und der Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1992, S. 35 ff. 298 Vgl. Schwan, Gesine: Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens. Frankfurt am Main 1997, S. 108. 299 Vgl. Schneider, Christian/Stillke, Cordelia/Leinweber, Bernd: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburg 1996, 16 f. 300 Schwan, S. 138. Vgl. Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern. Frankfurt am Main/New York 1993, S. 279. u. Eckstaedt, Anita: Nationalsozialismus in der »Zweiten Generation«. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt am Main 1992, S. 174.

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gangenheit« 301 zu sehen, in deren Zuge schmerzliche Erinnerungen zum Schutz der Familie ausgeblendet werden, trotzdem aber die familiären Beziehungen beeintr ä chtigen, indem der innere Rückzug von beiden Seiten die Wirklichkeit verzerrt.302 Dieses Schweigen entsteht aus einem Ohnmachtsgefühl und den Zweifel daran, die Last der anderen tragen zu können. Es schafft Distanz zur Identität und somit auch zur Vergangenheit der Väter. Die Elterngeneration hingegen grenzt sich von potenzieller Kritik und Verurteilung ab, indem sie sich auf keinerlei Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit einlässt. Beide Generationen fliehen in der Nachkriegszeit vor den Schatten der Vergangenheit, was die Erzählerin Monika Jetter auch in ihrer Vaterbeziehung feststellt: »Mir wurde klar, dass über den Krieg kein Austausch möglich war. Das hätte seinen soldatischen Heldenopfergang in Frage gestellt, den er in zahlreichen, unter furchtbarsten Bedingungen geführten Gefechten und Einsätzen durchlebt hatte.«303 Das Schweigen über die Vergangenheit dient der Aufrechterhaltung der väterlichen Identität, deren fester Bestandteil die Kriegserfahrung ist. Dabei hätten Schuldklärung und -eingeständnis der Väter nicht unbedingt ihren Autoritätsverlust bedeuten müssen. Im Gegenteil, sie hätten die Achtung ihrer Kinder auf diese Weise zurückerlangen k önnen.304 Ein Bekenntnis hä tte einen Raum schaffen können, indem die Elterngeneration ihre Erfahrungen mit ihren Kindern hä tte teilen kö nnen. Dies hä tte aber eine kritische Auseinandersetzung der Elterngeneration mit ihrer Vergangenheit bedeutet. Eine Voraussetzung, die in den Familien der Erzählfiguren oft als Zumutung empfunden wird, da nur wenige der Väter sich als schuldig verstanden oder so von ihren Nächsten betrachtet werden. Die Großeltern der Erzählfigur von Martin Pollack weisen ihren Enkel immer wieder darauf hin, dass die Familie nichts getan hat, »wofür sie sich schämen müsste,«305 genauso wie sein Vater: »Dein Vater war ein Idealist, er war immer anständig, er hat alles nur aus Idealismus getan, für das, woran er geglaubt hat, wir waren alle Idealisten, wir haben alle daran geglaubt.«306 Die Söhne und Töchter haben meist selbst zum Schweigen beigetragen, indem sie sich beim Nachfragen an die vorgegebenen Grenzen anpassen und den Gedanken verdrängen, ihre Eltern könnten eine Untat begangen haben. Dieses kooperative Schweigen lässt sich in den Väterbüchern auf die zwei von Ernestine Schlant beschriebenen Arten des Schweigens 301 Vgl. Schwan, S. 298. 302 Vgl. Schwan, S. 144 u. 298. Vgl. Rottgart, Elke: Elternhörigkeit. Nationalsozialismus in der Generation danach. Eltern-Kind-Verhältnisse vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit. Hamburg 1993, S. 298. 303 Jetter, S. 46. 304 Vgl. Schwan, S. 148. 305 Pollack, S. 104. 306 Ebd., S. 103.

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zurückführen: das Schweigen, das aus dem »Zuviel an Wissen« resultiert und dem »Nicht-Wahrhaben-Wollen,« das eine verdrängende Funktion hat.307 Für Ricœur ist die »Strategie der Vermeidung, des Umgehens und der Ausflucht«308 dualistisch gezeichnet: Sie vereinigt die aktive und passive Form des Vergessens: Als aktives zieht dieses Vergessen dieselbe Art Verantwortung nach sich wie jenes Vergessen, das man den auf Vernachlässigung, Unterlassung, Unvorsichtigkeit oder Sorglosigkeit beruhenden Taten in all den Situation eines Nicht-Handelns zur Last legt, in denen es nachträglich einem aufgeklärten und aufrichtigen Bewußtsein klar ist, daß man es wissen mußte und wissen konnte, oder zumindest sich bemühen mußte.309

Dabei treffen diese beiden Arten des Schweigens sowohl auf die Erzählfiguren als auch auf ihre Eltern zu. Der Erzähler von Hans Weiss sieht das Versäumnis, nie »ein tief gehendes, anrührendes Gespräch mit [dem Vater] geführt zu haben«310 auch als eigenes Verschulden, das die Erzählfigur von Kurt Meyer auf die gesamte Generation bezieht: Ich habe mich nicht wirklich gefährdet, sondern getan, was meine Generation euch vorwirft: Ich bin lange vor der Vergangenheit geflüchtet, und dann bin ich hineingesprungen in ein Gestrüpp von Wissen und Unwissen, Schuld und Unschuld, subjektivem Erleben und der Erkenntnis des Nachhinein.311

So werden potenzielle Fragen, Zweifel, Rechtfertigungsversuche vermieden und im Alltag überspielt.

Die Sprachlosigkeit Im Nachkriegsdeutschland fehlt es an einer Sprachkonvention, die es erlauben würde, gerade zwischen Generationen, über die Vergangenheit zu sprechen.312 Die vorherrschende Sprachlosigkeit in den 1950er und 1960er Jahren ist, der Erzählfigur von Ute Scheub zufolge, ein Ausdruck der Zeit und macht die Bundesrepublik zum vernebelten »Heuchelland,« wo es gilt: »Erwachsene brachten ihren Kindern bei, nie zu lügen, doch ihre Kinder spürten, wie sich die Balken im Hause bogen. Erwachsene forderten ihre Kinder auf, sich für ihre schlechten Taten zu schämen, doch sie selbst blieben schamlos.«313 Beide Ge307 Vgl. Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München 2001, S. 19. 308 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 685. 309 Ebd. 310 Weiss, S. 20. 311 Meyer, Kurt, S. 231. 312 Vgl. Jetter, S. 48. 313 Scheub, S. 162 f.

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nerationen sind von eigenen Denkstrukturen, Begriffen und Vokabeln geprägt, was laut der Erzählfigur von Ulla Hahn einen Dialog von Grund auf behindert: »Wie sollten sich Generationen verstehen, wie konnten sie einander überhaupt erklären, wenn Worte nur die Umrisse auf einem Reißbrett bleiben, nur etwas umschreiben, was von eigenen Erfahrungen niemals erfüllt werden kann?«314 In der Sprachlosigkeit spiegelt sich die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Väter wider, eine Erklärung für das vergangene Geschehen zu finden. Dies äußert sich in Artikulationsschwierigkeiten des Vaters der Erzählerin bei Ute Scheub: Er [der Vater] konnte keine Erklärung formulieren, die ein Kind verstand. Er konnte nicht einmal Erwachsenen etwas erklären. Er presste Worte hervor, dann hielt er inne, rang mit ihnen, als ob er es mit einem Gegner im Ring zu tun hätte, verhedderte sich in der Grammatik und verstummte irgendwann, innerlich und äußerlich völlig verkrampft. Und dabei wollte er doch so gerne reden. Er wollte nichts lieber als reden.315

Zudem lässt sich in den Familien der Erzählfiguren eine »unbefangene Erzähltradition«316 feststellen, die schon für die Familien im Kaiserdeutschland sowie später im Dritten Reich äußerst prägnant war. Diese Unfähigkeit zum Dialog lässt sich somit auf die »Schwarze Pädagogik« zurückführen, die als Erziehungsmethode das Sprechen über eigene Gefühle und Emotionen genauso wie Eltern-Kind-Diskussionen nicht vorsah.317 Die Sprachlosigkeit wird in mehreren Vätertexten aus der preußischen Mentalität der Gehorsamsbeziehung und des Ordnungsprinzips hergeleitet. In der Studie von Yvonne Knibiehler, wird die Legitimation der autoritären Position der Vaterfigur in Preußen auf das römische Gesetzgeber-Prinzip zurückgeführt, dem nachfolgend die deutschen Staatsväter als Gottes Vertreter begriffen wurden: Die patria potestas hängt selbst nicht eigentlich vom Recht ab, da sie grundsätzlich unbeschränkt ist. Überdies war sie aber Ursprung und Quelle jeder Art von Herrschaft, Politik und Religion eingeschlossen: Man bezeichnet die Senatoren als patres, die Aristokraten als patricii, den Kaiser als pater patriae; der höchste Gott wurde Jupiter genannt (mit der Wortwurzel pater). In Rom war die Vaterschaft eine uranfängliche und vereinheitlichende Vorstellung, die in der Familie über den Begriff des pater familias, in der Civitas über die richterliche Gewalt vermittelt wurde.318

314 Hahn, Ulla, S. 52. 315 Scheub, S. 36. 316 Heimannsberg, Barbara/Schmidt, Christoph J. (Hrsg.): Einführung: Zur Symptomatik der nationalsozialistischen Erbschaft. In: Heimannsberg, Barbara/Schmidt, Christoph J. (Hrsg.): Das kollektive Schweigen. Nationalsozialistische Vergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie. Köln 1992, S. 11. 317 Bode, S. 149 – 163. 318 Knibiehler, Yvonne: Geschichte der Väter. Eine kultur- und sozialhistorische Spurensuche. Freiburg in Breisgau 1996, S. 31.

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So verkörperte der Staatsvater die absolutistische Vaterrepräsentanz auf der Gesellschaftsebene, dessen Entscheidungsmacht bedingungslos und unantastbar war. Sein Obrigkeitsstatus übertrug sich auf die Familie. Die IndividuumStaat-Beziehung spiegelte sich in der Vater-Kind-Beziehung wider, in der das patriarchalische Denken ebenfalls nicht hinterfragt wurde. Die Stellung des Vaters wurde zusätzlich durch das Verständnis der Vaterrolle im Protestantismus unterstützt, indem die juristisch untermauerte Vatergewalt durch die enge Verbindung mit der göttlichen Herrschaft nahezu als heilig galt.319 Die »protestantische Reformer« forderten im Rahmen der »Regelung der Generationenbeziehungen« vordergründig das »kindliche Gehorsam,« das »aller häuslichen, gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung« zugrunde lag und »langfristige Folgen im familiären wie im gesellschaftlich-politischen Leben« bedeutete.320 Das obrigkeitliche Vaterbild wurde, laut Andreas Gestrich sowohl in der politischen Kultur als auch im familienrechtlichen Bereich religiös legitimiert: Der Vater wurde im Haushalt durch die protestantische Überhöhung zum Repräsentant Gottes Willens: Das Haus sollte vom Hausvater unter Mithilfe seiner Frau als christliches Haus »regiert« werden. In der Erklärung zum vierten Gebot betonte Luther deshalb, dass Gott die Eltern – und zwar durchaus beide Elternteile – gewissermaßen an seine Stelle als Oberhaupt über die Kinder gesetzt habe. Ungehorsam gegenüber den Eltern war Ungehorsam gegenüber Gott.321

Die Analogie von Vaterschaft und staatlicher Herrschaft322, auf die ebenfalls in den Väterbüchern hingewiesen wird, zieht sich durch die Geschichte des deutschsprachigen Mentalitätsraumes bis in die jüngste Vergangenheit: Beispiele dafür sind in der Autorität von »Gott-Vater,« dem »Hausvater,« dem »Landesvater«323 bzw. »väterlichen Fürsten«324 und dem »Vater-Luther«325, dem 319 Ebd., S. 346 f. 320 Ebd., S. 346. 321 Gestrich, Andreas: Neuzeit. In: Gestrich, Andreas/Krause, Jens-Uwe/Mitterauer, Michael: Geschichte der Familie. Stuttgart 2003, S. 372. 322 z. B. Vaterland, Gottvater, Papst, Kaiser, König, Führer, Bundespräsident, Bundeskanzler. Vgl. Petri, Horst: Guter Vater – Böser Vater, S. 173 f. 323 Sowohl der Hausvater als auch der Landesvater haben ihre Macht »›von Gottes Gnaden‹ [hergeleitet] und sich nach den frühneuzeitlichen Regierungslehren gegenüber seinen Untertanen als Stellvertreter Gottes auf Erden verstand[en].« Gestrich, S. 372 f. 324 Nach Luther sollte ein Fürst »wie ein Vater über seine Untertanen herrschen und f ü r sie in patriarchalischer Gesinnung sorgen«. Kantzenbach, Friedrich Wilhelm: Luther – Vaterfigur noch fürs 20. Jahrhundert? In: Faulstich, Werner/Grimm, Gunter E. (Hrsg.), S. 53. 325 Diese Bezeichnung bezieht sich aber nicht ausschlie ß lich auf »den geistlichen Vater und kirchlichen Vertreter«: »Sie wird vielfältig […] auf den nationalen Mann, den Patrioten und den Hausvater angewandt.« Kantzenbach, S. 38.

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»Fabrikvater«326 und dem preußischen Vaterbild327 sowie der Vaterfigur im Kaiserdeutschland328 (gleichzeitig der österreichisch-ungarischen Monarchie) bis hin zu den (militärischen) Ersatzvätern mit dem Über-Vater Hitler329 sowie den staatlichen Führern im demokratischen Vaterstaat330 der Zeitgeschichte zu sehen. Die Gott-Vater-Verkörperung wird in den analysierten Texten ebenfalls unterstrichen, indem sowohl bei Hans Weiss als auch Sigfrid Gauch das »Vaterunser«331 zitiert wird, wobei bei Gauch durch seine althochdeutsche Fassung »Fater almaht£gan«332 die Ursprünge dieses Abhängigkeitsverhältnisses noch stärker deutlich gemacht werden. Im Text von Ruth Rehmann wird zusätzlich auf die spezifische Beziehung zum »Imperium paternale«, die Jahrhunderte lang im wilhelminischen Untertanengeist gehalten blieb, aufmerksam gemacht. Die »Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft« mit einer »spezifisch männlich-aristokratischen Orientierung« und »hierarchischen Beziehungsstrukturen«333 ebnete den Weg »einer besonderen Autoritätsgläubigkeit innerhalb und außerhalb der Familie«334 und schlägt sich im Text deutlich in der Unhinterfragbarkeit der Autorität und Strenge in der Vater-Kind-Beziehung wider.335 Margarete und Alexander Mitscherlich sehen die »Unbefragbarkeit« als ein »klassisches Merkmal institutionalisierter absoluter Autorität«, die sich so »ihrer selbst vergewisserte.«336 Außerdem ließe sich die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen in den Vätertexten, auf die von Assmann erwähnte allgemein radikalisierte Sprachkrise nach Auschwitz zurückführen, indem das Schweigen in der Nachkriegszeit als »Symptom des Exzesses einer willkürlichen und schrankenlosen Vernichtungsgewalt [gedeutet werden kann], welche die Verarbeitungsmuster des Bewusstseins und die Kategorien der Sprache mit zerschlug.«337 Die Erzählfigur von Uwe Timm sieht in der Zeit des Nationalso326 Mit der industriellen Revolution und dem Wechsel von der Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie überließ der (Haus-)Vater die Leitung des Hauses den Frauen, um sich der Führung des Unternehmens zu widmen. Vgl. Knibiehler, S. 353. 327 Laut Knibiehler soll die »Niederlage des deutschen Liberalismus 1848/49« sowie die »Offensive zur Einigung Deutschlands unter preussischer Führung« z u m » Neu-Aufstieg eines autoritär-machtvollen Vaterbildes geführt zu haben«. Ebd. 328 Mit der Industrialisierung wurden im Kaiserreich die gesellschaftlichen Bindungen gelockert, doch die »autoritäre Fixierung der Vaterrolle« blieb weiterhin erhalten. Vgl. ebd. 329 Adolf Hitler wurde durch seine Überhöhung zum Vater der ganzen deutschen Nation, womit er alle Väter aus ihrer Autoritätsposition verdrängte und entmachtete. 330 Faulstich, Werner/Grimm, Gunter E. (Hrsg.), S. 10. 331 Weiss, S. 27. 332 Gauch, S. 5. 333 Vgl. Knibiehler, S. 353. 334 Ebd. 335 Vgl. ebd., S. 24. 336 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 347. 337 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 176.

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zialismus die Unhinterfragbarkeit und Sprachlosigkeit in der Familie mit der in der (politischen) Öffentlichkeit d. h. mit dem Unterlassen und Wegschauen gepaart und erläutert das »Nicht-darüber-Sprechen« mit dem »tiefverwurzelten Bedürfnis, nicht aufzufallen, im Verbund zu bleiben.«338 Sie setzt Totschweigen mit Feigheit gleich, die über Jahre zur Gewohnheit wurde: Man schwieg aus Konformismus, aus Angst vor »beruflichen Nachteilen,« aus Angst vor »erschwerten Aufstiegsmöglichkeiten,« vor Ablehnung, vor dem »Terror des Regimes.«339 Die Sprachlosigkeit fand im Nachkriegsdeutschland ihre Fortsetzung – gefördert durch die nur provisorische ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ in der Öffentlichkeit und verdeckt durch den wirtschaftlichen Wiederaufbau.

Das beredte Schweigen Eine andere Variation des Schweigens macht in den analysierten Texten das sogenannte »beredte Schweigen« aus, das Gesine Schwan als eine besondere Form »der Stille« um die »eigene Schuld« in den 1950er Jahren diagnostiziert. Diese schließt die sowohl »vehemente, ausführliche Rechtfertigungskonstruktionen« als auch »Aufrechnungen, Schuldprojektionen, Verleugnungen und Blockierungen in bezug auf unabweisbare Tatsachen« mit ein und bedeutet damit auch »eine hoch gefühlsgeladene und häufig aggressive Fixierung auf das Problem Schuld«.340 Mit dem beredten Schweigen ist ebenfalls eine PseudoAuseinandersetzung mit der Vergangenheit der Elterngeneration gemeint, welche die eigentliche Tabuisierung auf persönlicher und öffentlicher Ebene kaschierte, z. B. indem die Kriegserfahrungen sowie das Thema von Flucht und Vertreibung sowohl literarisch341 und filmisch, als auch in familiären Erzählungen der nachfolgenden Generation meistens anekdotisch oder im Opfernarrativ aufgearbeitet wurden. Es lässt sich in den Vätertexten, v. a. bei den Vätern bemerken, die sich in ihren Kriegserzählungen narrativ zwischen Heroisierung und Viktimisierung bewegen. Ihr Erzählmodus orientiert sich oft an nostalgisch-sentimentalen Geschichten von schwierigen Kampfhandlungen, militärischen Erfolgen, von soldatischer Kameradschaft, deutschen Idealen, 338 339 340 341

Timm, S. 133. Ebd. Schwan, S. 108. Damit sind unter anderem die Texte von Jürgen Thorwald gemeint. Sein Text »Die große Flucht« zählte zu den meist verkauften und populärsten Büchern in den 1950er Jahren. Siehe dazu: Oels, David: »Dieses Buch ist kein Roman«. Jürgen Thorwalds »Die große Flucht« zwischen Zeitgeschichte und Erinnerungspolitik. In: Kirsch, Jan-Holger/Saupe, Achim/Stopka, Katja (Hrsg.): Populäre Geschichtsschreibung. Zeithistorische Forschungen. Bd. VI. Heft 3/2010, S. 367 – 390.

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ihrem Existenzkampf sowie an der Kritik Nachkriegsdeutschlands und seiner neuen Lebensformen. Mit ihrem Anspruch auf das Erzählmonopol dulden sie weder Polemik noch Widerspruch, verwenden aber Mystifizierung, Pauschalisierung und Relativierung, und machen ihre Geschichten somit, wie Meckels Text andeutet, unüberschaubar : »Aus dem, was er sagte, war nicht zu erfahren, was er während der NS-Zeit getan und was er gedacht hatte. Seine Rolle im großen Zusammenhang wurde nicht deutlich. Was er erzählte, blieb anekdotisch: die Scheußlichkeiten des Krieges – IHR HABT KEINE AHNUNG!«342 Diese narrativische Unüberschaubarkeit wird u. a. durch das sogenannte »leere Sprechen«343 erreicht, das semantische Leerstellen und ungenaue Aussagen enthält. Es fördert in entscheidender Weise die Entstehung von Konfabulationen, die sich durch die »Unbestimmtheit des Vorgangs« sowie seine »assoziative« und »indirekte« Thematisierung auszeichnen.344 In dieser Erzählstrategie wird das Wesentliche bzw. Faktische nur umrissen und bleibt weitgehend unbestimmt: »Akteure und ganze Geschehenszusammenhänge werden nicht benannt, sondern als ›sie,‹ ›es,‹ ›die,‹ bzw. ›das da‹ bezeichnet«345 und damit dem Zuhörer und seinen Annahmen bzw. seiner Vorstellungskraft überlassen. Dies lässt sich an der Textpassage bei Monika Jetter nachverfolgen, in der sich die Mutter der Erzählerin das Wort »Juden« und »Konzentrationslager« nicht auszusprechen traut: »Uns hat man gesagt, die seien da in Schutzhaft, um umerzogen zu werden.«346 Durch die Verwendung von Substituten: dem unpersönlichen Pronomen »man,« von Passiv-Konstruktionen oder von Sätzen, die »von selbst zu verstehen sind,« wird ein weiter Spielraum für kausale Motivierungen und neue narrative Kreationen eröffnet. Dies wird beispielsweise in den Geschichten des Vaters von dem Erzähler Peter Henisch deutlich: »Aufgabe der Einheit ist, keine Gefangenen zu machen, niemand zu schonen, Partisanennest zu stürmen. Und wie die SS so was gemacht hat, das brauche ich dir nicht detailliert zu schildern.«347 Harald Welzer sieht das »leere Sprechen« bezeichnend für intergenerationelle Gespräche über die Zeit des Nationalsozialismus, in denen »Akteure – und zwar meist die Täter – […] konturlos [bleiben], historische Vorgänge […] nur in Umrissen beschrieben [werden], so dass unklar bleibt, worum es eigentlich geht und das Geschehen fast harmlos erscheint.«348 Dabei verhalten sich die Leerstellen proportional zu den narrativen Ergän342 Meckel, S. 128. 343 Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi.« Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main 2002, S. 136. 344 Vgl. ebd., S. 159. 345 Ebd. 346 Jetter, S. 111 f. [Hervorhebung: D.B.] 347 Henisch, (1980), S. 179. [Hervorhebung: D.B.] 348 Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, S. 159.

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zungsmöglichkeiten: Je mehr Lücken vorkommen, je umfangreicher sie sind, desto weiter dehnt sich der Ergänzungsspielraum aus. Die in den Geschichten vorhandenen Widersprüche, Unbestimmtheiten und das Anonyme werden je nach subjektivem Bedarf bearbeitet. Die Freiräume und Auslassungen werden mit Inhalten gefüllt, die dem Sinnbedürfnis bzw. den Erwartungen des Zuhörers entgegenkommen und sich meistens konform zum Familiengedächtnis verhalten. In diesem Zusammenhang können, wie in den Familien der Erzählfiguren sichtbar, bestimmte Informationen und Sachverhalte zu Gunsten des VaterMythos verloren gehen, so als würden sie nie existiert haben. So sieht Peter Burke bestimmte Ähnlichkeit zwischen den Begriffen »Amnesie« und »Amnestie,« da sie beide als Vergessenhandlung »die offizielle Löschung von Konflikterinnerungen im Dienst gesellschaftlicher Kohäsion«349 zum Ziel haben. Demzufolge werden im Rahmen des Familiengedächtnisses kaum andere Inhalte beachtet bzw. wahrgenommen, als die, die den Wunschvorstellungen der Familienmitglieder entsprechen. Harald Welzer versteht das Verfahren als eine Schutzmaßnahme, die der Aufrechterhaltung eines inhaltlich festgelegten Vaterbildes dienen soll: »Je fundierter das Geschichtswissen ist, desto größer wird die subjektivempfundene Notwendigkeit, die eigene Familie vor diesem Wissen zu schützen – das heißt, sie aus dem historischen Zusammenhang herauszunehmen, über den man so gut Bescheid weiß.«350 In der Familie von Henisch wird das Erzählen von Kriegsgeschichten zum Ritual der Nachkriegszeit und findet im Jahreszyklus statt: Ähnlich wie mit den Kriegsbildern verhielt es sich mit den dazugehörigen Geschichten. Denn auch diese Geschichten hatte ich als Kind schon zahllose Male gehört. Zu seinem Geburtstag, zu Weihnachten, zu Sylvester und zu ähnlichen Anlässen. Wenn Besuch da war, wurden sie wieder und wieder erzählt. Und vor allem um dieser Geschichten willen hatte ich mich auf seinen Geburtstag, auf Weihnachten, auf Sylvester etc. gefreut.351

Diese Geschichten werden von dem Vater nach einem narrativen kausal-temporalen Organisationsprinzip gestaltet, indem sie in der Regel vom Beginn an auf einen »werthaltigen Endpunkt«352 zusteuern und hauptsächlich die harte Bewährung auf dem Schlachtfeld, kühne Entscheidungen und gute Taten, kurz gesagt, sein »tadelloses Verhalten«, wie bei Meckel, betonen: »Das war doch eigentlich ganz anständig von mir. Ich hätte das nicht zu machen brauchen.«353 349 Burke, Peter : Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991, S. 299. 350 Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, S. 77 f. 351 Henisch, (1980), S. 107. 352 Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002, S. 186. 353 Meckel, S. 129. [Hervorhebung: D.B.]

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Harald Welzer und Hans J. Markowitsch sehen die »narrative Standardisierung von Erlebniszusammenhängen,«354 die oft durch »mediale Vorlagen«355 strukturiert werden als repräsentativ für eine Generationserfahrung. Dies ist in den Vätertexten ebenfalls als jeweils variiertes narratives Konzept von Kriegserzählung bzw. Kriegserinnerung356 auszumachen. Eine vergleichende Analyse von Kriegserzählungen der Väter in den untersuchten Texten lässt ebenfalls äußerst homogene und inhaltlich standardisierte Erzählformen beobachten und erlaubt es, mehrere Erzählkonstrukte herauszuarbeiten, die in den folgenden Abschnitten näher besprochen werden. Zu den meist repräsentativen narrativen Konstrukten357 gehört, u. a. das Konzept des »Unwissenden«. Hier distanziert sich der Vater von den nationalsozialistischen Verbrechen auf eine unwiderlegbare Art, indem er vorgibt nichts gehört, nichts gesehen, nichts gewusst zu haben, was jegliche Diskussion schon im Voraus unmöglich macht. Im Text von Rehmann will der Vater die Existenz von Konzentrationslagern nicht wahr haben und fragt: Sind sie auch diesen Latrinenparolen zum Opfer gefallen, die aus der gleichen Hexenküche kommen, in der die Lügen über deutsche Verbrechen beim Einmarsch in Belgien gebraut wurden. Diese Leute hören nicht auf, unser armes Vaterland mit Schmutz zu bewerfen. Ehe ich nicht mit eigenen Augen eines dieser – wie haben Sie es genannt? – KZ’s gesehen habe, glaube ich kein Wort davon.358

Dem entgegen steht das Erzählkonzept, das den Vater zum »Überlebenskämpfer« stilisiert und die außergewöhnlichen Umstände und schwierigen Zeiten im Dritten Reich unterstreicht, in denen der Vater alles getan hat, um sich und seine Familie durchzubringen. Auch das Erzählkonzept des »einfachen Soldaten« betont die eingeschränkte Handlungsfreiheit des Vaters, der trotz seiner pazifistischen Einstellung und Abneigung gegen das nationalsozialistische Regime aus Vaterlandstreue die Befehle ausführen und Pflichten erfüllen muss. Im Text 354 Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart 2005, S. 33. 355 Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis, S. 188. 356 Carsten Gansel spricht von narrativer Inszenierung bzw. Rhetorik der Erinnerung am Beispiel von Texten aus der DDR-Literatur, denen es bevorzugt um das Erinnern von Vergagenem geht. Siehe: Gansel, Carsten: Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten«. Zu ›Formen der Erinnerung‹ in der Literatur in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Rhetorik der Erinnerung – Gedächtnis und Literatur in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des RealSozialismus zwischen 1945 bis 1989. Göttingen 2009, S. 19 – 38 (Reihe: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien Hrsg. von Carsten Gansel und Hermann Korte, Bd. 1). Dieser Text konnte in der Arbeit nicht berücksichtigt werden. 357 Die angeführten Narrativ-Modelle wurden in Anlehnung an Welzers Tradierungstypen entwickelt. Siehe dazu: Welzer, Harald/Montau, Robert/Plaß, Christine: »Was wir böse Menschen sind!«. Der Nationalsozialismus im Gespräch zwischen Generationen. Tübingen 1997, S. 212 – 217. 358 Rehmann, Ruth: Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater. München 1979S. 154.

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von Monika Jetter beispielsweise wiederholt der Vater in seinen Kriegsgeschichten immer wieder : »Mit der Sache hatte ich nichts zu tun. Ich war Soldat,«359 womit er sich entmündigt und von den nationalsozialistischen Verbrechen distanziert. Seine Kriegsbeteiligung reduziert er auf das Ausführen von Befehlen an der Front: »Wir waren eben die Frontschweine«360 und fügt hinzu: »Von den Schweinereien, die in der Heimat stattfanden, wussten wir nichts.«361 Als Aufwertungsstrategie wird dabei meist, wie in den Texten von Meckel und Gauch, vom Vater die Kameradschaftlichkeit und Fairness, sogar dem Feind gegenüber, unterstrichen: Vater habe dem Franzosen eine Chance geben wollen, seinen Posten lebend zu verlassen und deshalb gemeldet, der Schuß säße zwanzig Meter zu weit rechts. Entsprechend hat auch der zweite Schuß falsch gesessen. In der Annahme, jetzt müsse der Posten wohl in Sicherheit sein – wenn nicht, dann sei er selber daran schuld – habe er jetzt die richtige Entfernung angegeben: der dritte Schuß habe den Kirchturm zerstört.362

Zuletzt macht sich ein weiteres Konzept bemerkbar, das im Gegensatz zu den vorherigen die Vergangenheit immer noch affirmiert. Es ist das Konzept des »immer noch Überwältigten,« der die guten alten Zeiten verklärt. Fast allen diesen Konzepten ist die Unterscheidung zwischen »Wir« und den »Anderen,« den »Nationalsozialisten« sowie der Mangel am direkten Schuldbekenntnis gemein. Sie treten häufig miteinander kombiniert auf, was sich sehr gut an den Kriegserzählungen von Walter Henisch (dem Vater der Erzählfigur Peter Henisch) verfolgen lässt. Der ehemalige Kriegsfotograf der Wehrmacht Henisch hat im Laufe der Jahre ein Reservoir von abenteuerlichen Kriegserzählungen angesammelt, in denen er immer eine aktive und triumphierende Rolle spielt. Seine Abenteuer- und Actiongeschichten präsentiert er dynamisch, mit vielen militärischen Details und zusätzlichen Episoden. Seine narrative Manier ist ein Konstrukt aus mehreren der erwähnten Erzählkonzepte, u. a. dessen eines Überlebenskämpfers, der für seine Familie in den Krisenzeiten sorgen musste, der sich seit seiner Kindheit immer wieder gegen Diskriminierung durchzusetzen hatte. Das »dabei sein« rechtfertigt er mit dem Argument, den damaligen Umständen ausgeliefert gewesen zu sein, was er für die verschonte Generation seines Sohnes für nicht nachvollziehbar hält:

359 360 361 362

Jetter, S. 41. [Hervorhebung: M.J.] Ebd., S. 46. Ebd. Gauch (1979), S. 11.

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Ob ich, als ich anlässlich der Nachweisgeschichten die volle Wahrheit über meine Abstammung bekommen habe, keine Gewissenskonflikte gehabt habe, oh doch, natürlich. Aber sag mir : Was hätte ich machen sollen? Hätte ich hingehen sollen und mich stellen? Ich knipse Fotos für euch, doch das darf ich nicht? – Da war ich schon viel zu tief im Schlamassel drin. Da hab ich mich nicht mehr ganz einfach zurückziehen können. Und hätte ich das versucht, was wäre passiert? Du liebe Güte, mein Sohn, du redest dich leicht …363

Die Kriegserlebnisse skizziert er plastisch aus der Perspektive des Fotografen, der ausschließlich seine Arbeit tut und das Geschehen als eine Sammlung von fotografisch organisierten Motiven betrachtet. Seine Leidenschaft für Fotografie verdeckt die Wahrnehmung der Realität: Aber die besten Kriegsbilder, sagt die Stimme meines Vaters, ja wahrscheinlich die besten Bilder meiner ganzen fotografischen Laufbahn, habe ich in Russland gemacht. So viel wie in Russland ist nie zuvor und wahrscheinlich auch nie mehr danach vor meiner Kamera passiert. Menschlich gesehen war das natürlich eine Tragödie, aber vom fotografischen Standpunkt … Ich hätte nichts daran ändern können und habe wenigstens versucht, für mich das Beste herauszuholen.364

Er stellt sich blind für die Verbrechen an der Ostfront und lenkt die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf die Motive, die er durch sein Objektiv sehen und zeigen will: »Oder da, diese in Brand geschossenen Panjehütten. Einmal ganz abgesehen von allem anderen – ist das nicht ein herrliches Motiv?«365 In seinen Erzählungen unterliegt er stets aufs Neue dem Rausch des damaligen Geschehens und zeigt sich immer noch davon überwältigt: Daß es mir imponiert hat – sagt die Stimme meines Vaters -, derart der Größere und Stärkere zu sein, und sei es auch bloß in der Formation, das kannst du mir nun vielleicht ein bisschen nachfühlen. Kilometerweise sind die anderen vor uns hergeflohen, kilometerweise hat man die Gefangenen in die Etappe zurückgezogen. Und Frankreich, das Land, von dem man sich einiges erwartet hat, Frankreich, der Erbfeind, ist so gut wie geschlagen vor uns gelegen. Auch von mir geschlagen, verstehst du, auch durch meinen kleinen Beitrag – das war schon ein Gefühl!366

Die angeführten narrativen Konzepte, die sich in den Vätertexten wiederfinden lassen, werden von den Spurensuchern sehr häufig in der Rekonstruktionsphase367 (unkritisch) übernommen und sind in vielen Fällen ausschlaggebend für den Rekonstruktionsverlauf, indem sie die Erzählkonventionen sowie die Plausibilitäts- und Kausalitätszusammenhänge beeinflussen. 363 364 365 366 367

Henisch (1980), S. 92. [Hervorhebung: P.H.] Ebd., S. 105 f. [Hervorhebung: P.H.] Ebd., S. 106. [Hervorhebung: D.B.] Ebd., S. 78 f. Siehe dazu: Kapitel »Zur (Re)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche«.

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Das Be- bzw. Verschweigen Durch die Thematisierung der nationalsozialistischen Verbrechen auf der gesellschaftlichen Ebene, die hauptsächlich im Rahmen der 68er Bewegung und der öffentlichen Prozesse gegen die Nationalsozialisten stattfand, wurde die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch innerhalb der Familie zum Thema. Die junge Generation hatte vor allem ein Schuldbekenntnis seitens der Väter erwartet, das aus einer kritischen Bewertung der eigenen Rolle im Dritten Reich resultiert hätte. Dies zeigt sich auch in der Literatur. Dort sehen, das betonen besonders die Texte der ersten Publikationswelle, die Söhne und Töchter die eigentliche Schuld gerade im »nachfolgenden Beschweigen« der Vergangenheit, das laut Gesine Schwan aus der Weigerung sich »der ehrlichen Selbstprüfung zu unterziehen, [eigene] Freiheit, [eigene] Wertmaßstäbe zu vergegenwärtigen und [eigene] Verantwortung anzuerkennen« sowie die eigene »prinzipielle Schuldfähigkeit nicht nur rhetorisch und halbherzig, sondern bewußt, klar und auf konkrete Fälle bezogen zu akzeptieren« hervorging.368 So hat sich die Vätergeneration durch die fehlende Konfrontation mit ihrer Vergangenheit, mit den gängigen Floskeln: »Daran kann ich mich nicht erinnern« oder »Das haben wir nicht gewusst« laut den Erzählfiguren doppelt schuldig gemacht. Der Erzähler von Uwe Timm setzt nämlich das Nicht-Sehen-Wollen mit dem Wegsehen im Sinne des Unterlassens gleich.369 Trotz allem bevorzugt er aber das »langatmige Reden« dem »Totschweigen« der Väter gegenüber, die »wie unter Rechtfertigungszwang – oft ungefragt – damit begannen, Gründe aufzuzählen, warum sie nichts gewusst haben konnten. Immerhin regte sich bei ihnen ein Gewissen, das daran mahnte: Man hätte etwas wissen können.«370 Zu einer weiteren Strategie der Verdrängung in den Väterbüchern gehört das sogenannte »kommunikative Beschweigen,« das sich in der »Überkompensierung« der nationalsozialistischen Vergangenheit und gleichzeitig der »Unfähigkeit zum eigenen Schuldgeständnis« ausdrückt.371 Es beruht auf individueller Selbstentnazifizierung, die zwar das Dritte Rech insgesamt verurteilt aber die eigene Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus nicht kritisch bewertet. Unter der analysierten Elterngeneration gibt es kaum Väter, die sich als Täter begreifen. Margarete Mitscherlich diagnostiziert aber das »kommunikative Beschweigen« we368 369 370 371

Schwan, S. 102 f. Timm, S. 147. Ebd., S. 106. Vgl. Haufler, Daniel: »Kommunikatives Beschweigen«. Interview. [Stand: 12. 04. 2010]. Der Begriff »kommunikatives Beschweigen« geht auf Hermann Lübbe zurück. Lübbe, Hermann: Vom Parteigenossen zum Bundesbürger – über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München 2007, S. 143.

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niger als einen Verdrängungsmechanismus, als vielmehr als ein Erfordernis, das die demokratischen Grundlagen in der Bundesrepublik Deutschland unterstützte, indem es die Mehrheit der Bevölkerung in den neuen Staat integrierte: »Niemand habe das ›Tausendjährige Reich‹ verdrängt, man habe sich nur gemeinsam dazu entschlossen, ein ›staatstragendes konstitutives Schweigen‹ zu bewahren.«372 Die radikal verurteilende Haltung der 68er-Generation hatte zusätzlich das potenzielle Schuldbekenntnis der Elterngeneration erschwert. Diese definierte sich hauptsächlich über die Opposition zur Elterngeneration und ihrer »unausweichlichen Identität.«373 Die Abgrenzung der Erzählfiguren von dem, was ihnen die Väter vorgelebt haben, sollte ihnen aus der Spur der Väter heraus helfen.374 Dieser Zusammenhang von Opposition und Schweigen, welcher nachweist, dass der rebellische, vorwurfsvolle und anklagende Ton der 68er das Schweigen der Väter umso mehr gefördert hätte, da er die Entwicklung einer »kommunikativen Rationalität zwischen den Generationen«375 unmöglich machte, wird auch von Christian Schneider beschrieben: Der aggressiven »Aussageverweigerung« der einen entsprach eine verzweifelte Radikalität der anderen Seite, für die die Vorstellung einer Versöhnung mit den schuldbeladenen Eltern unmöglich war. Insofern gab es keinen Anlaß, eine »Kunst des Fragens« zu entwickeln, die das Schweigen hätte brechen können. Noch weniger gab es wohl einen Grund – womöglich wären die hervorgelockten »Geständnisse« unerträglich gewesen.376

Die ablehnende Haltung bezog sich auf das Gesamtbild der Elterngeneration, die allein aufgrund ihrer Generationszugehörigkeit mit Argwohn betrachtet wurde. Mit ihr wurden gleichzeitig ihre Geschichte, ihre Werte, Ideale und Wünsche abgewiesen. Selbst die Geschichten über ihre Jugend wurden ausschließlich durch das Prisma des verbrecherischen Systems bewertet und dadurch gleich abgelehnt, was die Väter – laut Aleida Assmann – ihrer Geschichte beraubte: Was ihnen wichtig und wertvoll gewesen war am eigenen lieben Leben, darüber sollten sie schweigen, weil es verbunden war mit dem Nationalsozialismus. Von ihren Hoffnungen, Faszinationen, also der Aufbruchstimmung ihrer Jugend nur sprechen dürfen, um im gleichen Atemzuge abzuschwören: Alles sei nur Verführung gewesen, Verblendung, unvernünftige Hoffnung nach so viel Not und Arbeitslosigkeit.377 372 Mitscherlich, Margarete: Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern. Frankfurt am Main 1993, S. 16. Vgl. Lübbe, Hermann: Es ist nichts vergessen, aber einiges ausgeheilt. Rede gehalten in Berlin vor einem Kongreß im Reichstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 24. 1. 1983. 373 Henisch, (1980), S. 244 f. 374 Vgl. ebd. 375 Schneider, Christian/Stillke Cordelia/Leinweber, Bernd, 16 f. 376 Ebd. 377 Fuchs, Werner : Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Op-

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Auf beiden Seiten fehlte die Bereitschaft zum Dialog und dem Verstehenlernen. Im Schweigen redeten sie aneinander vorbei, denn um mit Ernestine Schlant zu sprechen, bedeutet das »Schweigen […] keine semantische Leere; es ist von Erzählstrategien erfüllt, die Ideologien transportieren und unausgesprochene Voraussetzungen enthüllen. Was Schweigen konstituiert, ist die Abwesenheit von Wörtern.«378

Das strafende Schweigen Die fehlende Bereitschaft der Vätergeneration, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, wird von den Erzählfiguren mit Schweigen bestraft. Im Text von Ute Scheub dient es der Ausgrenzung des Vaters im Familienleben: »Bewusst oder unbewusst: Wir haben eine Front gegen den Vater gebildet, wir haben ihn verachtet, ausgeschlossen, natürlich hat er das gespürt.«379 Dieses Schweigen hat schon in der direkten Nachkriegszeit die Integration der Väter in die Familie verhindert, was ihre Abschottung gegenüber dem Alltag zusätzlich unterstützt. Die Kriegsvergangenheit wurde von beiden Generationen in Diskussionen gegeneinander als Argument verwendet. Ohne denselben Erfahrungsbereich wurde der jungen Generation kein Recht auf Mitsprache gegeben, so wie es auch Werner Fuchs-Heinritz erklärt: Denjenigen, die die Erfahrungen selbst gemacht, die selbst gehandelt haben, wird meist ein höheres Maß an Urteilskraft, an Recht zur Beschreibung zugestanden als denen, die die Vorgänge nur von Hörensagen, aus zweiter Hand kennen. Es widerspricht der Höflichkeit, wenn man – ohne selbst Zeuge gewesen zu sein – einen Zeugen belehren will.380

Da die Erzählfiguren nicht denselben (Zeit-)Umständen ausgesetzt waren, wie ihre Eltern, haben sie, in der Sicht der Väter, auch keine Autorität zu urteilen. Im Text Leupolds bleibt »der Krieg« in der Familie noch nach zwanzig Jahren »das einzige Geschehen, das Erzählung verdiente und das Zuhören erzwang.«381 Die Tochter erinnert sich: Nichterzähltes, Nichterzählbares gewann einfach nicht den Rang eines Ereignisses. Vielleicht ist dies das Katastrophalste an Katastrophen: Nichts lassen sie gelten, das

378 379 380 381

laden 1984, S. 25. Ferner : Beck, Johannes/Boehncke, Heiner/Heinz, Werner/Vinnai, Gerhard (Hrsg.): Terror und Hoffnung 1933 bis 1945. Leben im Faschismus. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 10 f. Schlant, Ernestine, S. 19. Scheub, S. 181. Fuchs-Heinritz, Werner : Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Wiesbaden 2005, S. 21. Leupold, S. 45.

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ihnen an Verheerung und Verstörung nachsteht, jahrzehntelang. Der Krieg ging mitten durch die Familie; ihn nicht erlebt zu haben war eine unverdiente Vergünstigung, die man nur schweigend, verschwindend und schuldbewusst in Anspruch nehmen durfte.382

Die fehlende Anerkennung für die militärische Aufopferung der Vätergeneration sowie das mangelnde Verständnis für ihren Handlungsspielraum wird auch in der Familie der Erzählfigur von Monika Jetter mit Schweigen bestraft: Ich vermutete, dass es genau darum ging, dass genau dies der Grund war, warum nichts gut gehen konnte mit uns. Mit ihm und mir. Die Anerkennung für seine Tapferkeit und seinen mutigen soldatischen Einsatz konnte und wollte ich ihm nicht geben. Ich wollte überhaupt nichts damit zu tun haben, nichts mit diesem Krieg und vor allem mit ihm nicht.383

Eine nachträgliche Kritik durch die nicht Mitbeteiligten hat sich die Vätergeneration verboten. Dabei richtet sich die »Verabsolutierung von Erfahrung: man muß das erlebt haben«, laut der Erzählfigur von Timm, »im Fachlichen« gegen sie selbst.384 Angesichts des intergenerationellen Schweigens in der Nachkriegszeit wird in den Väterbüchern die besondere Rolle der Mutter in der Familienkonstellation betont. Sie verkörpert in den Texten, das positive Gegenbild des Vaters. In Familien, in denen das Kind noch seinen Vater erlebt hat, übernimmt sie die Aufgabe der Vermittlerin, die sich um die Harmonie und den Zusammenhalt innerhalb der Familie bemüht. In dieser scheinbaren Harmoniebewahrung sehen die Erzählfiguren von Martin Pollack und Ute Scheub im Nachhinein gewisse Nachteile. Die Unterdrückung von Emotionen und »sich angekündigten Auseinandersetzungen« erstickt einen potenziellen Dialog und damit einen Bruch des Schweigens bereits im Keim.385 Dies kann aber das Unausgesprochene nicht ausblenden: Sie [die Mutter] tat es in der guten Absicht, uns Kinder zu schützen, und schuf doch bleibende Verstörungen. Ich spürte Spannungen. Heucheleien. Vielfache Versuche, der Außenwelt eine heile Familie vorzugaukeln. Ich ahnte, dass sich in unserer Familie etwas Lügenhaftes eingenistet hatte, ohne dass ich es hätte benennen können. Kinder spüren, wenn ihnen Familiengeheimnisse vorenthalten werden, und schmücken die Leerstellen so eifrig mit ihrer Fantasie aus, dass aus Eltern und Verwandten Monster werden. Die Folgen des Schweigens sind schlimmer als die Folgen der Wahrheit. Meine Mutter hätte mir mehr geholfen, wenn sie die Wahrheit wenigstens angedeutet hätte. Natürlich, man kann Kinder mit der geballten Wahrheit überfordern. Aber sie hätte ja 382 383 384 385

Ebd. Jetter, S. 40. Timm, S. 109. [Hervorhebung: U.T.] Vgl. Pollack, S. 140.

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nicht ballen müssen, sie hätte die Dinge andeuten und dann sehen können, dass ich etwas verkrafte, dass Kinder auch böse Wahrheiten verkraften können.386

Anders ist es in Familien, in denen der Vater für das Kind durch seinen Tod unbekannt bleibt. Dort wird die Mutter zur Zielscheibe von Frustrationen, unerfüllten Erwartungen und Enttäuschungen, die eigentlich dem Vater gelten. Die Beziehung zum Vater wird in diesem Fall über die Mutter oder andere Familienmitglieder aufgebaut, die eine stellvertretende Rolle für den Vater übernehmen und seinen Mythos aufrecht erhalten. Sie tragen die Konsequenzen des Verschweigens der Wahrheit und werden, wie im Text von Niemann, von der jungen Generation häufig mit Kontaktabbruch bestraft (z. B. die Großmutter der Erzählfigur Pollack). Dagegen wird die Auflehnung gegen das tradierte Vaterbild und den Familienkonsens von der Elterngeneration mit Schweigen oder Ablehnung missbilligt.

Das Unausgesprochene Das Unausgesprochene stellt in den Väterbüchern ein Argument dar, das gegen die Elterngeneration im intergenerationellen Machtkampf ausgespielt wird. Es stiftet Argwohn und Misstrauen, zeigt sich gerade durch seine Undefiniertheit omnipräsent. Die Vergangenheit kann im »Zusammensein nicht ausgeschlossen«387 werden. Sie kann weder durchdiskutiert, widerlegt, noch verarbeitet werden, da sie überhaupt nicht zur Sprache gebracht wird. Daraus folgt, dass man gegen sie keinen Widerspruch, keine Anklage formulieren kann. Die Elterngeneration steht dann häufig wehrlos den Vermutungen, Verdächtigungen und Beschuldigungen gegenüber, die unausgesprochen nicht dementiert werden können. Dabei erscheint das Versäumnis der Elterngeneration, sich keiner kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit unterzogen zu haben, wie man den untersuchten Texten entnehmen kann, im Falle der Studentenrevolte eher sekundär. Die nationalsozialistische Verstrickung der Väter stellte nur eines von mehreren Argumenten im Machtkampf der 68er dar, die – gefördert durch das Wirtschaftswunder und das demokratische System – sich auf der Suche nach einer unabhängigen Lebensform befand. Zwar hatte der Generationenkonflikt hier einen viel komplexeren Verlauf als üblich, da er zusätzlich eine historisch-moralische Dimension erhielt, jedoch war er immer noch hauptsächlich im Kontext des Kampfs zwischen zwei Welten und Wertesystemen verankert. Die Erzählfigur von Uwe Timm beobachtet es am Beispiel der eigenen Beziehung zum Vater : 386 Scheub, S. 187. 387 Vgl. Meyer, Kurt, S. 21.

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Der Vater hatte sehr gute geschichtliche Kenntnisse, konnte die Episoden vor allem lebendig schildern. Aber dann, als das Nachfragen hätte beginnen können, hatten wir uns schon zerstritten. Als ich sechzehn war, begann ein hartnäckiger, immer gehässiger werdender Kampf zwischen uns. Eine enge rechthaberische Strenge von seiner Seite, ein verstocktes Schweigen von meiner Seite, ausgelöst durch die hassenswerten Regularien des Alltags: keine Jeans, kein Jazz, abends um 10 Uhr zu Hause sein.388

So wird der Konflikt nicht nur im Privaten, sondern auch im Öffentlichen ausgetragen, wobei die eine Ebene die andere bedingt. Die Erzählfigur von Scheub begreift den Aufstand gegen die Vätergeneration als Absage an eine »Welt der Bunker«. Sie richtet sich »gegen die Väter mit ihren Bunkerseelen. Gegen die verbunkerte Vergangenheit. Gegen die in ihren Wiederaufbauhäuschen verbunkerten Spießer, die sich hinter Gartenzwergen und Schießschartenfenstern verbarrikadierte.«389 Der Untergang des Dritten Reiches hatte die Vätergeneration von einem Tag auf den anderen überwiegend ihrer gesellschaftlich und politisch dominierenden Rolle beraubt. Dies spiegelt sich in ihrer Familienposition in den Väterbüchern wider. Ohne den politisch-sozialen Hintergrund gerät die Autorität der Väter ins Schwanken. Sie sind weder im Stande ihre Kinder für die eigene Geschichte und ihre Ideale zu begeistern, noch ihre Identität angesichts der 68er-Bewegung zu verteidigen. Werner Bohleber zufolge hat sich der Aufstand gegen die Väter vor allem gegen den emotionalen Missbrauch ihrer Kinder gerichtet, auf deren Kosten die Väter ihre eigene Identität und Ideale zu bewahren suchten: An den Kindern versicherten sie sich der fortbestehenden Gültigkeit ihrer alten Überzeugungen. Denen blieb oft nichts anderes übrig als ihr eigenes Leben und Wohlergehen unbewußt der Treue zu den Eltern zu opfern. Die Kinder wurden von den Eltern zu einer narzißtischen Regulation ihres eigenen Gleichgewichtes benutzt. Was die Eltern an sich selbst haßten, bürdeten sie dem Kind auf und lasteten es ihm an. Die verbissen geführte Abwehr gegen eine eigene Schuldeinsicht erforderte fortgesetzte projektive Externalisierungen. So drang die nicht verantwortete Vergangenheit der Eltern in das Leben der Kinder ein und versperrte den psychischen Raum, in dem das Kind seine Identität frei von der entfremdenden Macht des Narzißmus der Eltern hätte entfalten können.390

In den Texten stellt der Aufstand gegen die Väter somit einen Kampf der Erzählfiguren um die Erlangung sowie Bewahrung der eigenen Autonomie dar. Die Identifizierung mit der Vergangenheit der Väter ist nämlich ungebrochen,391 ihr Lebensentwurf für sie jedoch inakzeptabel. Daher ließe sich die Auflehnung 388 Timm, S. 24. 389 Vgl. Scheub, S. 188. 390 Bohleber, Werner : Schweigen der Generationen. Autorität und Freiheit heute: Sind die 68er schuld am Rechtsextremismus. Wiesbaden 1994, S. 12. 391 Meyer, Kurt, S. 171.

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gegen die Vätergeneration in den Prozess der späten Adoleszenz einschreiben, in der laut Annette Streeck-Fischer, eine realistische Auseinandersetzung mit den Eltern notwendig ist, um sich mit ihrer Unvollkommenheit auszusöhnen, sich von den idealen Elternbildern der Kindheit lösen zu können und so eine eigene akzeptable Lebensform zu finden.392 Die Erzählfigur von Kurt Meyer konstatiert: Auch merkte ich 1968 nicht, daß meine Generation, die jetzt aus Protest gegen Vietnam und die Notstandgesetzte auf die Straße ging, eigentlich eine Rechnung mit ihren Vätern zu begleichen hatte. Ich nahm nicht wahr, daß in diesem Protest auch meine Vaterbeziehung verhandelt wurde, daß hier meine – die vaterlose – Generation auf der Suche nach ihrer Identität war.393

Der unausgesprochene Kampf in der Familie um die Wahrnehmung der eigenen Emotionen, um die eigene souveräne Identität führt zur Entwicklung einer pathologischen Beziehung mit paradoxerweise emotionaler gegenseitiger Abhängigkeit, die jedoch durch das Schweigen verborgen bleibt und gleichzeitig unterstützt wird. Die Erzählfigur in Meyers Text erinnert sich: »Ja, ich habe dich [Vater] immer mitgedacht, im Kindergarten, auf der Schule, auf der Universität. Es gab kaum eine wichtige Situation in meinem Leben, in der du nicht mit vorgekommen bist, in der mich die Vergangenheit nicht eingeholt hätte.«394 Die starke Identifizierung mit dem Vater, trotz der Abneigung gegen seine Vergangenheit, verursacht, dass sich die Nachkommen, wie die Erzählfigur von Meyer, als Stellvertreter für sie fühlen: »Ich habe unbewußt durch die Bereitschaft, zu verstehen, was im Dritten Reich passiert ist, wahrscheinlich immer auch meine eigene Identität verteidigt. Eine Identität, die [den Vater] mit einschließen sollte.«395 Diese besondere »Form der Identifizierung, durch die eine verborgene Geschichte der vorhergehenden zur beherrschenden Geschichte der nachfolgenden Generation wird,«396 bezeichnet Heinz Kohut als »telescoping der Generationen.«397 Heinz Bude erklärt dies wie folgt: 392 Streeck-Fischer, Annette: Trauma und Entwicklung. Frühe Traumatisierungen und ihre Folgen in der Adoleszenz. Stuttgart 2006, S. 13. 393 Meyer, Kurt, S. 236. 394 Ebd., S. 176. 395 Ebd., S. 175. 396 Bude, Heinz: Der einzelne und seine Generation. Kriegskindheit und Jugendrevolte bei der 68er Generation. In: Domansky, Elisabeth/Welzer, Harald (Hrsg.): Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Tübingen 1999, S. 31. 397 Bude, Heinz: Der einzelne und seine Generation, S. 31. Vgl. Faimberg, Hayd¦e: Die Ineinanderrückung (T¦l¦scoping) der Generationen. Zur Genealogie gewisser Identifizierungen. In: Jahrbuch der Psychoanalyse. Bd. XX. 1985, S. 114 – 142. Gesine Schwan verweist auf andere Bezeichnungen dieses Phänomens in der psychoanalytischen Literatur, und zwar auf die Begriffe: »Delegation« (Stierlin, Helm: Adolf Hitler. Familienperspektiven. Frankfurt am Main 1980 u. Stierlin, Helm: Delegation und Familie. Beiträge zum Heidel-

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Der Mechanismus dieses Ineinaderrückens der Generationenfolge besteht in einer identifikatorischen Gefangennahme. In Umkehrung des Gesetztes der Sozialisation muß das Kind die stellvertretende Deutung gewisser Probleme seiner Eltern übernehmen. Es liegt etwas in der Luft, eine demütigende Erkenntnis oder eine drohende Entgleisung, der niemand sonst sich gewappnet fühlt. Was seine Eltern an Scham und Schande nicht ertragen können, muß das Kind auf sich nehmen. Das ist etwas ganz anderes als die mehr oder minder normale Delegation überschüssiger Affekte und unausgelebter Wünsche von seiten der Eltern auf ihre Nachkommen. Es geht vielmehr um die Übertragung der Interpretationsaufgabe. Schon das kleine Kind muß Verständnis für die schwierige Lage der Eltern zeigen und sie beruhigen. Es bewahrt gewissermaßen im seinen Herzen, was diesen zuviel ist. Am Ende schützt das Kind eine problematische Geschichte der Eltern, indem es diese, verdeckt und verborgen, zu seiner eigenen Geschichte macht. So entsteht eine vollkommen geschlossene Identifikationsreihe zwischen den Generationen, in der für die Diskontinuität der Erfahrung kein Platz ist.398

Durch persönliche Betroffenheit fehlt es den Erzählfiguren an Distanz, die es erlauben würde sich von der Persönlichkeit des Vaters abzusetzen. Das Schweigen der Elterngeneration jedoch ermöglicht den »anderen« d. h. den Söhnen und Töchtern das Reden, das grundsätzlich durch den Aufstand gegen die Väter zum Ausdruck kommt.399 Die Negierung all dessen, was mit dem Vater in Verbindung steht, dient der Erlangung der eigenen Souveränität, die sich aber bei der Erzählfigur von Ute Scheub als Selbsttäuschung erweist. Ihr Versuch »das genaue Gegenteil« ihres Vaters zu sein: »So, als ob er das Sandförmchen sei und [sie] seine Negativform, der Sandkuchen, sein Abdruck ins Gegenteil,«400 ist bei ihr fehlgeschlagen, denn »eigentlich ist es nicht lustig, nur ein Sandkuchen zu sein, bloß der Negativabdruck eines Menschen.«401 So sieht auch Heinz Bude die Geschichte der 68er-Generation als eine »Geschichte mißlungener Ent-Identifizierung«402 von der Elterngeneration, die in den 1970er und 1980er Jahren und dann nach der Jahrtausendwende literarisch aufgearbeitet wurde. Trotz der Gestaltung des eigenen Lebens in Opposition zum Lebenslauf des Vaters und dem Anstreben einer Gegenidentität, bleibt seine Person weiterhin im Zentrum

398 399 400 401 402

berger familiendynamischen Konzept. Frankfurt am Main 1982), »ichsyntone ObjektManipulation« (Eckstaedt Anita: Nationalsozialismus in der »Zweiten Generation«. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt am Main 1992.), »Transmission« bzw. »Transposition« oder »Zeittunnel« (Kestenberg, Judith : Die Analyse des Kindes eines Ü berlebenden : eine metapsychologische Beurteilung. In : Bergmann, Martin S./Jucovy, Milton E./Kerstenberg, Judith (Hrsg.): Kinder der Opfer. Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt am Main 1995, S. 173 – 206. )« Siehe dazu: Schwan, S. 150. Bude, Heinz: Der einzelne und seine Generation, S. 31. Luhmann, Niklas/Fuchs, Peter : Reden und Schweigen. Frankfurt am Main 1989, S. 115. Scheub, S. 34. Ebd., S. 35. Bude, Heinz: Der einzelne und seine Generation, S. 34.

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der Selbstfindung der Erzählfiguren, ein Bezugspunkt, der gerade durch die Negation403 Orientierung gibt. Daraus lässt sich auch das ambivalente Verhältnis zum Vater ableiten, den die Erzählfigur von Meyer aufgrund seiner Vergangenheit, einerseits zu verurteilen und andererseits zu lieben fürchtet: Freunde und Bekannte wussten oft nicht, woran sie mit mir waren, und ich wusste nicht, wer ich eigentlich selber war. Mal habe ich das Bild, das dich mit diesem typischen Soldatengesicht und dem Ritterkreuz zeigt, in meinem Zimmer aufgehängt, dann habe ich es in den tiefsten Winkel gesteckt. Mal habe ich deine Briefe auf dem Dachboden verstaut, dann wieder in Plastikfolie verpackt, um sie aufzubewahren für alle Ewigkeit. Dein Buch stand eine Zeitlang in mehreren Exemplaren auf meinem Bücherbord, dann wiederum gab es Zeiten, wo ich es aus meinem Gesichtskreis verbannt habe.404

Die nationalsozialistische Vergangenheit der Väter machte eine unterschwellige Belastung aus, die auf die nächste Generation in einer pathologischen Form des Schweigens projiziert wurde. Das Schweigen und Verdrängen als vorübergehende Problemlösung brachte, vor allem für die Täterkinder, schwerwiegende Konsequenzen mit sich. Für die Loyalität gegenüber ihren Eltern hatten die Nachkommen, nach Margarete Hecker, einen hohen Preis zu bezahlen. Sie verloren ihre eigene Identitätswahrnehmung, ihren Zugang zur eigenen emotionalen Welt: »Manche empf[a]nden auch, daß ihnen trotz hohen Kräfteeinsatzes im Leben vieles nicht gelingt, beruflich wie persönlich, als ob sie eine unsichtbare Last trügen und für etwas bezahlen müßten, das sie nicht selbst verursacht haben.«405 Die Traumatisierung, die durch das Verschwiegene und Verdrängte entstand, hat die Erzählfiguren zu (emotional) dysfunktionalen »Kindern ihrer Eltern« gemacht. Zugleich wirkt sich das Schweigen auf die Elterngeneration aus. Die emotionale Abschottung hat die Väter ihrer Lebensfreude und -fähigkeit beraubt. In diesem Zusammenhang fragt sich die Erzählfigur von Ute Scheub, ob man diese Situation hätte vermeiden können, indem beide Generationen den Weg eines Dialogs gewählt hätten: »was wäre passiert, wenn [der] Vater zu reden begonnen hätte?«406 Sie entwickelt ein anderes mögliches Szenario, wie eine direkte Konfrontation mit der Vergangenheit 403 Paradoxerweise wurde gerade die an der Elterngeneration so stark kritisierte Affinität zur Gewalt nachträglich zum Kritikpunkt im Hinblick auf die nachfolgende Generation, die ebenfalls in den 1970ern zum Instrument »Gewalt« griff, um ihre Ideen auf der gesellschaftlich-politischen Ebene durchzusetzen. 404 Meyer, Kurt, S. 179. 405 Hecker, Margarete: Familienrekonstruktion in Deutschland. Ein Versuch, sich der Vergangenheit zu stellen. In: Heimannsberg, Barbara/Schmidt, Christoph J. (Hrsg.): Das kollektive Schweigen. Nationalsozialistische Vergangenheit und gebrochene Identität in der Psychotherapie. Köln 1992, S. 241. 406 Scheub, S. 208.

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des Vaters im familiären Kreis aussehen könnte. Es scheint aber nicht wirklich eine Alternative zu sein: Vielleicht hätte jemand von der Familie seinen Stuhl umgestoßen und wäre hinausgerannt. Vielleicht hätte jemand geschrien: Du Mörder! Nazi-Schwein! Vielleicht wären wir alle aufgestanden und hinausgegangen. Hätten unseren Vater als Verbrecher verdammt bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus. Hätten ihm fortan Tag für Tag unsere Verachtung gezeigt, hätten nicht mehr mit ihm geredet, hätten ihn geschnitten, mit dem Finger auf ihn gezeigt. Vielleicht hätten ihn Frau und Kinder verlassen.407

Es mag sein, dass eine direkte Auseinandersetzung zumindest emotional befreiend gewirkt und einen ehrlichen Umgang miteinander unterstützt hätte. Sie hätte aber die Beziehung zwischen den Generationen nicht von heute auf morgen normalisieren können. Zu fragen ist, ob sich die junge Generation als reif und bereit genug erwiesen hätte, die Elterngeneration verstehen zu lernen und sie mit Würde ihr Bekenntnis ablegen zu lassen. Dies bleibt für die Erzählfigur von Scheub fragwürdig: Ich glaube wohl, dass ich Zeit gebraucht hätte, vielleicht Jahre, um solch einen Schock zu verarbeiten. Dass ich verstört gewesen wäre, nicht gewusst hätte, wie ich mich verhalten soll, dass ich mich für ihn geschämt hätte, all das kann ich mir vorstellen. Aber ich glaube, ich hätte von jenem Tag an wieder begonnen, Achtung für ihn zu empfinden. Weil er den ersten Schritt Richtung Wahrhaftigkeit gegangen wäre. Stimmt das? Wäre ich wirklich so souverän gewesen? Ich weiß es nicht.408

Die Unfähigkeit zu trauern: Trauer versus Melancholie In der Mehrheit der hier analysierten Vater-Kind-Beziehungen tritt der Trauerprozess nach dem Tod des Vaters nicht ein. Die Unfähigkeit zu trauern,409 d. h. die Erfahrung der »oft nichteingestandene[n] lebenslange[n] Trauer,«410 wird in der Psychotherapie bzw. Psychologie für den Grund gehalten, waum die »Bewältigung« der Vergangenheit411 nicht gelingt und von Hannah Arendt und den Mitscherlichs in den 1950er Jahren als Diagnose der deutschen Nachkriegsgesellschaft konstatiert. Diese lässt sich sowohl bei den Erzählfiguren in der Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre als auch in der Vater-Kind-Beziehung in den Vätertexten der Nachwendezeit beobachten. Sigmund Freud begreift die 407 Ebd., S. 209. 408 Ebd. 409 Der Begriff auch als die »Derealisierung« bekannt. Vgl. Schneider, Christian/Stillke, Cordelia/Leinweber, Bernd, S. 206 ff. 410 Schulz, Hermann/Radebold, Hartmut/Reulecke, Jürgen, S. 8. 411 Vgl. Misselwitz, Irene: Interview mit Birgit Weidt. In: Psychologie Heute. 31. Jahrgang. Heft 5/2004, S. 11.

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Unfähigkeit zu trauern als eine Fehlentwicklung, die sich in der Melancholie412 manifestiert: Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.413

Genauso wie Trauer ist Melancholie414 eine Reaktion auf den Verlust eines geliebten bzw. stark emotional erlebten Objekts oder der Beziehung zu ihm, wobei der Verlust auch einen symbolischen Charakter haben kann. Psychologisch gesehen ist die Melancholie eine krankhafte Erscheinung von Trauer. Das Gefühl des Verlusts wird zwar, wie bei Trauer, bewusst empfunden, doch das entzogene Objekt kann nur schwer benannt werden. Zwar verbindet der Melancholiker den Verlust mit seinem Selbst, jedoch ist nicht imstande, das Objekt des Verlusts zu identifizieren. Den Akt des Verlusts setzt Freud mit der »Libidoabziehung« gleich: Aufgrund seiner Undefiniertheit, wird dem Melancholiker »alle Libido« entzogen415 und sein Selbstgefühl gestört416. Dies verursacht »eine großartige Ichverarmung«, die dazu führt, dass der Kranke sich als leer, »nichtswürdig, leistungsunfähig und moralisch verwerflich« empfindet und infolgedessen Ausstoßung und Strafe erwartet.417 Die Melancholie und ihre Nebenerscheinungen, wie Wut, Kränkung, Enttäuschung, Zurücksetzung und Schmerz, beziehen sich nicht auf die Außenwelt oder das »entzogene« Objekt, sondern auf das Subjekt selbst. Die als negativ empfundenen Gefühle verhalten sich dem Selbst gegenüber reflexiv. Im Falle des Melancholikers wird, Freud zufolge, der »Kampf um das Objekt« durch den »Konflikt im Ich« ersetzt, der mit einer »schmerzhaften Wunde« zu vergleichen ist.418 Da die Verarbeitungsphase nicht stattfindet, wird der Melancholiker stets von Emotionen hin- und hergezerrt, gehemmt und belastet, so wie die Erzählfigur Ute Scheub, die nach dem Tod des Vaters nicht trauern kann, obwohl sie es gerade nach seiner Beerdigung für angebracht hält. Ihre Unfähigkeit zu trauern setzt sie mit der Unfähigkeit zu 412 Alexander und Margarete Mitscherlich legen in ihrem Werk die Melancholie als »eine krankhafte Steigerung der Trauer« aus. Vgl. Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 37. (Mit Hinweis auf Freuds Werk: Trauer und Melancholie. Ges. Werke X, S. 431.) 413 Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie. Essays. Berlin 1982, S. 34. 414 Paul Ricoeur befasst sich mit der Melancholie im Kontext der Erinnerungsarbeit im zweiten Kapitel seines Werkes: Ricoeur, Paul: La m¦moire, l’histoire, l’oubli. Paris 2000, S. 82 – 111. 415 Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, S. 35. 416 Ebd., S. 34. 417 Vgl. ebd., S. 36. 418 Vgl. Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, S. 51.

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lieben gleich. Den Trauerprozess versucht sie sich aufzuzwingen: »Trauere! Dein Vater ist tot, trauere!«419, »Weine endlich, du Rabentochter! Das gehört sich so! Ich quetschte und quetschte, bis eine winzige Träne kam.«420 Dabei ist es weniger die Liebe zu ihrem Vater selbst, die nicht aufgegeben werden kann, sondern viel mehr die ersehnte Liebe zu ihrem Wunschbild des Vaters bzw. der Beziehung zu ihm. So gelten die Beschimpfungen und Vorwürfe an das eigene Ich eigentlich dem als Verlust empfundenen Objekt, das der Melancholiker »liebt, geliebt hat oder lieben sollte.«421 Freud führt dazu aus: Hat sich die Liebe zum Objekt, die nicht aufgegeben werden kann, während das Objekt selbst aufgegeben wird, in die narzißtische Identifizierung geflüchtet, so betätigt sich an diesem Ersatzobjekt der Haß, indem er es beschimpft, erniedrigt, leiden macht und an diesem Leiden eine sadistische Befriedigung gewinnt.422

Da die Erzählfigur Scheub kein anderes Entledigungsobjekt für ihre Emotionen findet, als sich selbst, wandelt sich die nicht eingetretene Trauer ins Selbstgeißelung: Ekel. Scham. Schuldgefühl. Ekel. Scham. Schuldgefühl. Wenn ich mich gerade nicht ekelte, dann schämte ich mich, und wenn ich mich nicht schämte, fühlte ich mich schuldig. Ich schämte mich für meinen unmöglichen Vater und seine braunen Kameraden und vor allem für mich selbst. Wie konnte ich mich bloß so freuen über seinen Tod? Ich war ein Tochterschwein, eine Schweinetochter. Bald würde mir ein rosa Ringelschwanz wachsen.423

Dabei verläuft der als typisch für Melancholie empfundene Spannungszustand umso dramatischer, je stärker emotionalisiert und bedeutend die Beziehung zum Vaterbild war und auch offensichtlich noch ist. Der dramatische Verlauf der Akzeptanz des Verlusts wird in Scheubs Text durch Selbstprojektionen kaschiert: In mir herrschte emotionaler Aufruhr, alle meine Gefühle gingen aufeinander los, ein innerer Vulkan aus Hitze und Kälte, enttäuschter Liebe und Hass, Schuldgefühle und Scham, Ohnmacht, Verlassenheit, Wut, Ekel, Überdruss, Rebellion. Und Angst, mich erneut schlecht zu benehmen. Ich war eine schlechte Tochter, ein unmögliches Kind, böse, herzlos, teuflisch. Ich verstieß gegen Gottes zehn Gebote, denn ich bekam es nicht hin, meinen Vater zu lieben.424

Sowohl Freud als auch Alexander und Margarete Mitscherlich verstehen die Bewältigung der Melancholie als einen langwierigen Prozess, da die Objektbe419 420 421 422 423 424

Scheub, S. 14. Ebd. Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, S. 39. Ebd., S. 43. Scheub, S. 26. Scheub, S. 17 f.

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ziehung durch »ungezählte Einzeleindrücke (unbewusste Spuren derselben)«425 geprägt ist. Je komplizierterer und komplexer die Beziehung zum Vater ist, desto größerer der Ambivalenzkonflikt. Das Ich löst sich vom Objekt, indem es dieses denunziert und schließlich wie bei Trauer für tot erklärt. Deshalb versuchen die Erzählfiguren durch einen nachträglich gelungenen Trauerprozess, einem »lange[n] sich hinziehende[n] Vorgang der Ablösung,«426 ihre Melancholie zu überwinden. Dies setzt aber voraus, dass das Objekt, von dem die Loslösung stattfinden soll, vorerst definiert wird. So begeben sich die Erzählfiguren auf die Vater-Spuren-Suche, um ihre (ausgebliebene) Beziehung zum Vater neu zu bestimmen und sich damit von der Vergangenheit schließlich zu befreien. Laut Sigmund Freud findet dieser Prozess im Unbewussten statt: Die Befreiung erfolgt durch das Erlangen der eigenen emotionalen Stabilität und Souveränität, nachdem das Objekt denunziert und als »wertlos aufgegeben« worden ist: »Das Ich mag dabei die Befriedigung genießen, daß es sich als das Bessere, als dem Objekt überlegen anerkennen darf.«427 So wird mit der Vater-Spuren-Suche der Versuch einer »kreativen Bewältigung«428 des Traumas der Vaterdeprivation sowie der Unfähigkeit zu trauern unternommen. Sie wird als die »Loslösung von den Eltern mit ihrer tatsächlichen oder in Träumen herbeigesehnten Bedeutung und Stärke«429 verstanden. Daher geht häufig die Recherchearbeit mit der Erinnerungsarbeit einher, die, laut Mitscherlich, in »eine[r] Folge von Erkenntnisschritten,« im Rahmen des freudianischen »Erinnerns, Wiederholens, Durcharbeitens,«430 stattfindet: Der Inhalt einmaligen Erinnerns, auch wenn es von heftigen Gefühlen begleitet ist, verblaßt rasch wieder. Deshalb sind Wiederholung innerer Auseinandersetzungen und kritisches Durchdenken notwendig, um die instinktiv und unbewusst arbeitenden Kräfte des Selbstschutzes im Vergessen, Verleugnen, Projizieren und ähnlichen Abwehrmechanismen zu überwinden. Die heilsame Wirkung solchen Erinnerns und Durcharbeitens ist uns aus der klinischen Praxis wohlbekannt.431

In dieser Hinsicht steht die Vater-Spuren-Suche für eine mühevolle Trauerarbeit, die schließlich im schmerzlichen Abschiednehmen vom bisherigen Vaterbild mündet: »das Erinnern [wird] ein stückweises, fortgesetztes Zerreißen der Bindung an das geliebte Objekt und damit ein Erlebnis von Rissen und Wunden 425 426 427 428 429 430

Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, S. 49. Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 78. Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, S. 51. Siehe dazu: Petri, Horst: Drama der Vaterentbehrung, S. 152 – 159. Streeck-Fischer, S. 13. Siehe dazu: Freud, Sigmund: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In: Gesammelte Werke. Bd. X. Wien 1914. 431 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 24. Mitscherlich beruft sich hier auf S. Freuds: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten, S. 126 ff.

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im Selbst des Trauernden.«432 Im Rahmen des »Trauer«- und »Trennungsprozesses« erfolgt nachträglich, zugleich die Bewältigung der Adoleszenz.433 Daher kann die Vater-Spuren-Suche als ein tiefenpsychologisch fundierter Therapieversuch verstanden werden, der sowohl die die Texte eröffnende Anamnese, als auch die Erinnerungsarbeit und die Traumdeutung miteinschließt. Zusätzlich soll eine individuelle Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne von Freud zum gelungenen Trauerprozess auf gesellschaftlicher Ebene beitragen. Die Unfähigkeit zu trauern,434 die lange Zeit kennzeichnend für das deutsche Nachkriegsbild war, ist hauptsächlich auf die »kollektive Verleugnung der Vergangenheit«435 zurückzuführen. Auf den Verlust des »Vater-Hitlers«436 (zu dem eine starke Bindung, u. a. im Rahmen der charismatischen Herrschaft437) bestand, ist wegen der Entnazifizierung, dem amerikanischen »re-education-programme« (»politische Umerziehung«), dem Wiederaufbau und des Wirtschaftswunders, kein Trauerprozess gefolgt. Deshalb erweist sich die Trauerarbeit seit dem Kriegsende als fester Bestandteil der deutschen Gesellschaftsgeschichte. So bezieht sich der Aufarbeitungsprozess sowohl auf die persönliche Vater-Kind-Beziehung als auch die verdrängte emotionale Erbschaft des Nationalsozialismus auf der gesellschaftlichen Ebene. Im Zuge der Vater-Spuren-Suche, wird das von der »vaterlosen Gesellschaft«438 geschichtlich Versäumte von der nachfolgenden »Generation ohne Väter« im Freud’schen Sinne erinnert, wiederholt und durchgearbeitet. Die Ab- und Aufarbeitung des Trauerprozesses ist somit als ein 432 Heimann, Paula: Bemerkungen zum Arbeitsbegriff in der Psychoanalyse. Psyche. Heft 20/ 1966, S. 321. Zitiert nach: Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 78. 433 Vgl. Streeck-Fischer, S. 13. 434 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S.40. Zur Geschichte des Begriffs »Die vaterlose Gesellschaft.« Siehe dazu: Petri, Horst: Drama der Vaterentbehrung. München 2009, S. 12 – 17. 435 Vgl. Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 37 – 40. Hinweis auf Freuds Werk: Trauer und Melancholie. 436 Siehe mehr zum »Vater-Hitler« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur in: Atze, Marcel: »Unser Hitler«. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003. 437 Siehe dazu: Borowicz, Dominika: Poetik und Problematik des Kriegstagebuchs von August Töpperwien (1939 – 1945). Magisterarbeit. Poznan´ 2005. 438 Der Begriff wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von Paul Federn geprägt. (Federn, Paul: Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft. In: Der österreichische Volkswirt 1919. 11 Jg.). In den frühen 1960ern (1963) wurde der schlagartige Slogan von Alexander Mitscherlich (Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie. München 1963) im Sinne einer gesellschaftlichen Deutung wiederbelebt. Ende der 1990er Jahre verwendete Matthias Matussek (Matussek, Matthias: Die vaterlose Gesellschaft. Überfällige Anmerkungen zum Geschlechterkampf. Reinbek 1998) denselben Ausdruck für den Titel seines Essays, in dem er, u. a. die frauenbegünstigende Sozialstaatpolitik kritisierte. Vgl. und siehe dazu: Schulz, Hermann/Radebold, Hartmut/ Reulecke, Jürgen, S. 144 – 150.

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Die Motive des Suchens

geschichtlich bedingter generationenübergreifender Akt der deutschen Nachkriegsgeschichte zu verstehen, denn, um mit Alexander und Margarete Mitscherlich zu sprechen, »erst nach der Durcharbeitung seiner Vergangenheit ist ein Volk imstande, aus seiner Geschichte zu lernen, den Wiederholungszwang zu durchbrechen und notwendige gesellschaftliche Veränderungen und Erneuerungen durchzuführen.«439

439 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 368 f.

5. Zur Spur und Spurensuche Die Erinnerung versetzt selbst die Vergangenheit in diese Zukunft, die der Spielraum der Forschung und der historischen Deutung wird. Die Spuren der unumkehrbaren Vergangenheit gelten als Zeichen, die die Entdeckung und die Einheit einer Welt gewährleisten.440

Spur sowie Spurensuche spielen in der Väterliteratur eine zentrale Rolle. Sie bilden sowohl den Leitfaden um den herum die Geschichte aufgebaut wird, als auch den Antrieb für die Dynamik des Geschehens. Söhne und Töchter begeben sich auf die Suche nach ihrem Vater in der Hoffnung, die Wahrheit über dessen Vergangenheit zu erfahren. Dabei konzentrieren sie sich auf Spuren, die der Vater während seines Lebens gelegt und nach seinem Tod den Nachkommen hinterlassen hat. Somit fungiert die Spurensuche in den Texten als ein latentes Motiv, das als Verfahren häufig thematisiert wird und die Handlung auf der Tiefenebene strukturiert.

Die Komplexität und Interdisziplinarität Die Vater-Spuren-Suche entspricht einem komplexen Suchverfahren, das in seiner Art an andere Disziplinen anknüpft und Parallelen zu deren wissenschaftlichen Methoden aufweist. Bis zum Erkenntnisgewinn durchläuft das mehrdimensionale Suchverfahren mehrere Etappen und schließt diverse (Forschungs-)Techniken ein, bis es mit einer Erkenntnis endet. Werner Kogge beschreibt die Komplexität des Erkenntnisprozesses im Rahmen der Spurenlese wie folgt: Es wird »versucht« und »gezweifelt«, »die Perspektive gewechselt«, »erneut versucht«, man »kommt zu vorläufigen Schlüssen, die immer wieder erprobt, variiert, neu kontextualisiert werden«441: Zum Lesen einer Spur gehört das Aufspüren möglicher Spuren, das Heraussuchen, das probeweise Verknüpfen, Umsortieren, neu Konfigurieren; stets sind diese suchenden, probierenden und ordnenden Tätigkeiten gleichsam getrieben, besser wäre zu sagen: gezogen vom noch unvollständigen, unklaren, unterbestimmten Blick auf das, was Ziel 440 L¦vinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. München 1992, S. 210. 441 Vgl. Kogge, Werner : Spurenlesen als epistemologischer Grundbegriff. Das Beispiel der Molekularbiologie. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt am Main 2007, S. 187.

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Zur Spur und Spurensuche

des epistemischen Unternehmens ist, auf das Wissensobjekt, das die Spuren verursacht hat, an die sich das Erkenntnisinteresse heftet.442

Damit deutet Kogge an, dass zum Spurenlesen sowohl das mühevolle Aufsammeln, Zusammenlesen, Heraussuchen, Ordnen und Zurechtlesen als auch das Interpretieren gehört. Er vergleicht das Spurenlesen mit einem Puzzelspiel, in dem die einzelnen Spuren in ein Netzwerk von Beziehungen gebracht werden, da sie einen Kontext benötigen um Aufschluss zu geben. Aufgrund von Deutungsspielräumen, die sich im Rahmen der Spurenlese eröffnen, beschreibt Krämer das Verfahren als eine Orientierungs- bzw. Deutungskunst – die »Kunst des (intelligenten) Vermutens,«443 in der die Spur eine Schlüsselrolle spielt und erst durch den Selektionsvorgang »zwischen dem, was in einem Wahrnehmungsfeld als Spur (wahrscheinlich) deutbar ist, und dem, was (wahrscheinlich) keine Spur ist erst hervorgebracht werden muss.«444 Der Begriff der Spur445 an sich weist bereits selbst die Interdisziplinarität des Suchverfahrens auf, da er in mehreren Bereichen, u. a. Verkehrswesen, Technik, Transportmittel, Ortung, Datenverarbeitung, Audio- und Videotechnik, Mathematik und Physik, Philosophie446 oder auch in der Jägersprache verwendet wird: Medizin in erster Linie und Psychiatrie, aber auch Ethnologie, Kunst- und Literaturwissenschaft, Philosophie der Sprache und der Wissenschaften, Politologie als Entwicklungshilfe: Vertreter der verschiedensten Disziplinen suchen nach Spuren, lesen Spuren und erörtern deren Wesen, Funktion und Bedeutung.447

Im Folgenden sollen die Suchverfahren einiger Disziplinen dargestellt werden, die methodologische Parallelen zur Vater-Spuren-Suche in der Väterliteratur aufweisen und die Spur als einen disziplinübergreifenden »Operator par excellence«448 erweisen.

442 Kogge, S. 188. 443 Albert Spitznagel zitiert nach: Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/ Grube, Gernot: Spur, S. 21. 444 Ebd., S. 18 f. 445 Zur Spur und der Etymologie des Wortes siehe: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Bd. X. Leipzig 1919, S. 235 – 242. 446 Siehe Näheres dazu: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. In: Betram, Mathias: Geschichte der Philosophie. Darstellungen, Handbücher, Lexika. Digitale Bibliothek Band III. CD-Rom. Berlin 2000, S. 18635. 447 Zitiert nach: Universität Zürich Medienmitteilung [Stand: 12. 06. 2008]. 448 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 261.

Parallelen zur Spur und Spurensuche in anderen Disziplinen

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Parallelen zur Spur und Spurensuche in anderen Disziplinen Im kriminologischen bzw. polizeilichen Ermittlungsverfahren bilden Spuren wichtige Anhaltspunkte zur Aufklärung eines Verbrechens. Die Spur wird verfolgt, der Spur gefolgt oder ihr nachgegangen, bis man einer Sache oder jemandem auf die Spur kommt. Im Rahmen der »polizeiinternen offiziellen Typologien« werden mehrere Spurentypen differenziert: »Tatspuren,« die infolge der begangenen Tat am Tatort hinterlassen wurden; »Tarnspuren,« die absichtlich zur Verhinderung der Aufklärung der Tat gelegt wurden; »fingierte Spuren,« die absichtlich von der richtigen Spur abbringen sollen sowie »Trugspuren,« die »sich am Tatort befinden, doch nichts mit der Tat zu tun haben.«449 Die Kriminologie und vor allem ihr Teilbereich die Kriminalistik befasst sich ganz im Sinne der Erfahrungswissenschaft u. a. mit der Ermittlung und Sammlung von Informationen über Täter und Opfer. Außerdem untersucht sie die Ursachen (kriminellen) Verhaltens.450 Die Identifizierung von Personen, d. h. Personenfeststellung wird u. a. mit Hilfe von Kriminalphotographie, Personalbeschreibung und Datenverarbeitung durchgeführt.451 Im Zentrum der Ermittlung, die sich zur Untersuchung und Auswertung von Spuren methodisch mehrerer Disziplinen, u. a. der Psychologie, der Technik, der Ökonomie und der Rechtsmedizin bedient, stehen die Aufdeckung der Tat und die Überführung des Täters. Zur Rekonstruktion des Tathergangs werden mehrere Kriminaltaktiken bzw. -techniken angewandt. Der Ablauf der Untersuchung besteht aus drei Phasen, die H-G. Schwind mit Hilfe eines »Fluss-Diagramms«452 veranschaulicht: der Konzipierung, der Erhebung und der Auswertung des Datenmaterials. Demnach wird die Konzipierungsphase mit der Aufstellung einer Ausgangshypothese begonnen, welche die Untersuchung strukturieren wird. Daraus wird die forschungsleitende Hypothese »über den Zusammenhang von (mindestens) zwei Merkmalen«453 abgeleitet, die im Laufe der Untersuchung verifiziert bzw. widerlegt wird. Dabei werden Untersuchungsmethoden angewandt, welche die Erhebung an der Versuchsperson selbst ermöglichen, beispielsweise die Exploration (gezieltes Erfragen von Verhaltensweisen und Motiven), das Interview bzw. die Befragung, teilnehmende Beobachtung, (Labor)- oder Feldexperimente

449 Vgl. Reithertz, Jo: Die Spur des Fahnders oder: Wie Polizisten Spuren finden. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot: Spur, S. 316. 450 Vgl. Schwind, Hans-Dieter : Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. Heidelberg 2006, S. 7 f. 451 Siehe dazu: ebd., S. 11. 452 Das von Schwind konzipierte sogenannte »Fluß-Diagramm,« ein »vereinfachtes (schematisches) Beispiel für den Ablauf einer empirischen Untersuchung« Vgl. Schwind, S. 163. 453 Ebd., S. 164.

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sowie psychologische Tests.454 Zudem werden kriminalistisch erstellte Lebenstheorien von der »(qualitativ angelegten) Biographieforschung,« z. B. durch »biographische« bzw. »narrative Interviews« unterstützt.455 In diesen, wie in Life-Interviews der Oral History, soll der Interviewte möglichst unbeeinflusst, aber immerzu von dem Interviewer durch Nachfragen stimuliert, seine Lebensgeschichte erzählen.456 Die letzte Untersuchungsphase, die ebenfalls in fast jeder Vater-Spuren-Suche präsent ist, besteht in der Auswertung. Die zusammengestellten Daten werden auf »Gütekriterien,« d. h. ihre: »Zuverlässigkeit (Reliabilität),« ihre »Gültigkeit (Validität)« und ihre »Objektivität«457 geprüft. Schwind weist auf die Gefahr eines hohen Subjektivitätsgrads in dieser Phase hin, der durch zweckmäßiges Erstellen von Scheinzusammenhängen im Rekonstruktionsprozess, durch einen subjektiven Umgang mit den Fakten im Selektionsverfahren sowie durch das Reduzieren von komplexen »[Verbrechens] Erscheinungen und -ursachen auf einen einfachen naturwissenschaftlichen Ursachen-Wirkungs-Mechanismus«458 (so auch in der Vater-Spuren-Suche) entstehen kann. Der dem kriminalistischen Suchverfahren entliehene Begriff der Spurensicherung wurde in den 1960er/1970er Jahren zur Bezeichnung einer Form der zeitgenössischen Konzeptkunst, deren Verfahren im Sammeln (oder Fingieren) von Material, d. h. alltäglichen menschlichen Habseligkeiten und anderen Selbstzeugnissen aus der Vergangenheit von historischer oder privater Bedeutung besteht. Die Spurensicherung ist hier durch subjektive Erfahrung gekennzeichnet und ist laut Elisabeth Hartung-Hall als eine »Form der Selbsterforschung, die zur ›ästhetischen Anthropologie wird‹«459 zu begreifen: Der Kunstcharakter tritt bis zur Unkenntlichkeit zurück, stattdessen geben sie sich den Anschein von prähistorischen Dokumentationen und ethnologischen Fiktionen. Persönliche, ländliche oder städtische Umgebung werden in individuellen Systemen scheinbarer Wissenschaftlichkeit erfasst. Photos, Objekte, Texte, Filme und Video werden nach Bedarf eingesetzt und den jeweiligen persönlichen Museen als echte oder fiktive Dokumente eingesetzt. Präsentiert werden die Materialien meist in klassifizie-

454 455 456 457 458 459

Die Untersuchungsmethoden wurden nach Schwind zitiert: ebd., S. 166. Vgl. ebd., S. 155. Vgl. ebd. Ebd., S. 169. Ebd., S. 153. [Hervorhebung: H.-D. S.] Hartung-Hall, Elisabeth: Imaginäre Tropen oder Kunst als Ethnographie ausgehend vom Werk Lothar Baumgartens. Dissertation. München 2006, S. 189. [Stand: 06. 04. 2011]. Hartung-Hall bezieht sich in ihrer Diagnose auf Faust, Wolfgang Max: Bilder werden Worte. Köln 1987, S. 222.

Parallelen zur Spur und Spurensuche in anderen Disziplinen

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renden Archiven, Modellen, Schaukästen und -tafeln. Die Materialien stehen also einerseits für sich selbst und präsentieren andererseits ein übergeordnetes Modell.460

Das künstlerische Konzept knüpft methodologisch sowohl an das Vorgehen der Archäologie und Ethnologie als auch an das kriminalistische Suchverfahren an und kommt somit dem indiziellen Paradigma von Carlo Ginzburg461 nahe, dessen Aufmerksamkeit vor allem der unbewusst gelegten Spur gilt, die auf die individuellen Züge des »Täters« bzw. des Spurenlegers schließen lässt. Hierbei dient die Spurensicherung der detektivischen Beweissicherungsmethode, bei der die Spur, laut Paul Ricœur, eine erhebliche Bedeutung in Expertisen der Polizei sowie in der Interpretation von oralen oder schriftlichen Zeugenaussagen zugeschrieben bekommt.462 Sowohl Roger Chartier als auch Paul Ricœur und Marc Bloch setzen die Spur einstimmig in den Mittelpunkt des Verfahrens der historischen Erkenntnis. Es sind die Attribute der Spur sowie ihre duale Konzeption, die der Spur ihren interdisziplinären und gleichzeitig universellen Charakter verschaffen. Durch ihre »Heteronomie«463 und »Medialität«464 wird die Spur, laut Cornelius Holtorf, vordergründig zur »Ressource,«465 »die es erlaubt, durch den Akt des Spurenlesens, etwas Vergangenes auf eine bestimmte Art – oder auch auf mehrere Arten – zu repräsentieren.«466 So betont Sybille Krämer, dass »die Spur […] das Abwesende niemals präsent [macht], sondern […] ihr Nichtpr ä sent [sein vergegenwä rtigt] ; Spuren zeigen nicht das Abwesende, sondern vielmehr dessen Abwesenheit.«467 Für Marc Bloch gilt die Spur als »ein durch die Sinne wahrnehmbares Zeichen, das […] ein Phänomen [hinterlässt] , das selber als solches nicht faßbar ist.«468 Diese Funktion resultiert aus dem referentiellen 460 Ebd. 461 Das Spurensuche-Paradigma, dem eine neue Raum-Zeit-Konzeption zugrunde liegt, wurde von dem Italiener Carlo Ginzburg in den 1970er u. 1980er Jahren geprägt. Damit wird »auf Seiten der Archäologie de[r] entscheidende […] Wendepunkt zur Ausbildung der modernen Befundarchäologie markiert.« Mehr dazu: Ickerodt, Ulf F.: Bilder von Archäologen, Bilder von Unmenschen. Ein kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Beitrag zur Genese der prähistorischen Archäologie am Beispiel zeitgenössischer Quellen. Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie des Fachbereichs der Kunst-, Orientund Altertumswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bonn 2004, S. 22 [Stand: 02.2007]. 462 Vgl. Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 267. 463 Vgl. Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? S. 18. 464 Vgl. ebd., S. 18. 465 Holtorf, Cornelius: Vom Kern der Dinge keine Spur. Spurenlesen aus archäologischer Sicht. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot: Spur, S. 344. 466 Ebd. 467 Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? S. 15. [Hervorhebung: S.K] 468 Bloch, Marc: Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers. Stuttgart 1974, S. 67.

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Zur Spur und Spurensuche

Modus der Spur, denn einerseits fungiert sie als Repräsentanz der Vergangenheit, andererseits als Vermittler des Wissens, und wirkt daher als Medium zwischen dem Vergangenem und dem Gegenwärtigen (sowie umgekehrt). Dies stimmt mit dem Konzept des »Seins in der Spur«469 von Emmanuel Levinas überein, der die Spur zum Träger des Seins erklärt, das dem Vergangenen, Anderen angehört, das nur durch die hinterlassenen Spuren greifbar wird. Die Spur indiziert eine Transzendenz, die das Unsichtbare sichtbar macht, so wie das Spurenlesen den Lernprozess indiziert, dessen es laut Holtorf bedarf, »um etwas Fremdes und Abwesendes unter Kontrolle zu bringen.«470 Die ihr beigemessene Bedeutung sowie die Art der Auslegung beeinflussen die Metaphorik der Spur weitgehend. Je nach hermeneutischem Interesse oder Bedarf spricht man von Texten, Relikten, Spuren oder Abfall. Dabei erweist sich der Überrest471, im Alltäglichen oft unbedeutend und verkannt, auf der Ebene der historischen Rekonstruktion als wichtiger Vergangenheitsbezug. So gewinnt der Überrest, gleich einer verschollenen Spur, vor allem im Bereich der Historie, ferner der Oral History, an Relevanz. Dies zeigt Aleida Assmann auf, die im Überrest ganz im Sinne von Lutz Niethammer eine Spur sieht, der »eine […] nicht mehr oder noch nicht bewußtseinsfähige[…] m¦moire involontaire« entspricht. Auf diese Gedächtnisschicht der Überreste hat es der Historiker und zumal der oral history-Forscher besonders abgesehen. Er sieht in ihr den materiellen Niederschlag eines kollektiven Unbewußten, das weder in vergangene Sinnproduktion aufgenommen wurde noch gänzlich der Verdrängung anheimgefallen ist. Es ist das anscheinend nicht Überlieferte oder unterschwellig Mitüberlieferte, das »im Zwischenbereich zwischen dem gesellschaftlich Bewußten und dem Verlorenen angesiedelt ist.«472

469 »Neben ›Sein‹ (etre) und ›Nicht-Sein‹ (non-etre) führte er noch einen dritten Begriff ein – ›Sein in der Spur‹. Aber eigentlich verweist die Spur nicht auf das Sein, sondern auf das, was ›über das Sein hinaus‹ geht (au-del‚ de l’etre).« Vgl. Levy, Ze’ve: Die Rolle der Spur in der Philosophie von Emmanuel Levinas und Jaques Derrida. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot: Spur, S. 145. 470 Holtorf, S. 346. 471 Die Veranschaulichung des Gedächtniskonzepts von Reinhart Koselleck durch die Gegenüberstellung von: »Funktionsgedächtnis« und »Speichergedächtnis«, fungiert bei Niethammer (Siehe dazu: Niethammer, Lutz: Die postmoderne Herausforderung. Geschichte als Gedächtnis im Zeitalter der Wissenschaft. In: Küttler, Wolfgang/Rüsen, Jörn/Schulin, Ernst (Hrsg.): Geschichtsdiskurs. Bd. I. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte. Frankfurt am Main 1993, S. 31 – 49; hier: S. 46 f.) als Korrelat von »Tradition« d. h. von »bewußten und willentlichen Gedächtnis« und »Überrest,« das ferner von Aleida Assmann mit den Begriffen »Texte« und »Spuren« ersetzt wird. Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 141 f. 472 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 141 f.

Parallelen zur Spur und Spurensuche in anderen Disziplinen

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Die Spurenlese ermöglicht die Rekonstruktion des Abwesenden, also der Vergangenheit.473 Da Spuren einen direkten Zugang zur Geschichte bieten und zur »Erkenntnis allen menschlichen Geschehens«474 beitragen, definiert Marc Bloch die Historie als die Wissenschaft, die mittels Spuren operiert. Er deklariert die Spur zum Ausgangspunkt aller historischen Forschung und das Induktionsverfahren zum Zentrum ihrer Methodologie.475 Ähnlich wie Paul Veyne versteht auch Roger Chartier unter dem Erkenntnisverfahren »nichts weiter […] als eine Intrige [zu] entfädeln,« und zwar, indem man die einzelnen Bausteine der Intrige als Spuren betrachtet, die zur Erkenntnis führen können.476 Der gleichzeitig autonome und referenzielle Charakter der Spur hilft die vergangene Zeit wiederaufleben zu lassen: »Die Spur verlangt, daß man sie zurückverfolgt; sie ist reiner Rückverweis auf die Vergangenheit der Vergangenheit ; sie bedeutet, sie verpflichtet nicht.« 477 Der Mensch fungiert demnach gleichermaßen als Spurenleger und Spurensucher – als Ginzburg’scher Jäger,478 der sich an der Spur zu orientieren; d. h. im Rahmen der Rekonstruktion des Vergangenen die kleinsten Details »zu erahnen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren« weiß.479 Das Wissen, das er auf diese Weise erlangt, wird laut Ginzburg zur Überlieferung, zur Voraussetzung eines Textes: Charakteristisch für dieses Wissen ist die Fähigkeit, in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist. Man kann hinzufügen: der Beobachter organisiert diese Daten so, dass Anlass für eine erzählende Sequenz entsteht, deren einfachste Formulierung sein könnte: »Jemand ist dort vorbeigekommen«.480

Die Spur charakterisiert einen Zeitenbruch; sie bildet einen »Störfaktor« in einer Welt, zu der sie nicht mehr gehört: »Spuren hinterlä sst, wer fremd ist in dem Raum, in dem er sich bewegt. […] Spuren sind der Einbruch eines fremden Jenseitigen in das wohl vertraute Diesseits.«481 Das Spurenlesen bringt 473 Vgl. Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? S. 14 f. 474 Vgl. Bloch, S. 67. Vgl. dazu Simiand, FranÅois: Historische Methoden und Sozialwissenschaft. In: Middell, Matthias/Sammler, Steffen (Hrsg.): Alles gewordene hat Geschichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929 – 1992. Leipzig 1994, S. 168 – 232. 475 Vgl. Bloch, S. 66 f. 476 Chartier, Roger: Die unvollendete Vergangenheit. Beziehungen zwischen Philosophie und Geschichte. In: Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltanschauung. Berlin 1989, S. 30. 477 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 587. 478 Vgl. Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin 1983, S. 69. 479 Ebd. 480 Ebd., S. 70. 481 Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur?, S. 16.

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das irreversibel Vergangene hervor und vereinigt so zwei Zeitebenen. Krämer spricht von einer Kreuzung zweier Zeitregime, die »nicht nur für das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch für das zwischen Gegenwart und Zukunft [gilt].«482 Gleichzeitig betont Krämer, dass es sich bei der Spurenlese um die Auseinandersetzung mit »einer zunächst unverstandenen, dann aber zunehmend begriffenen Dinglichkeit«483 nicht um die »Rettung verlorener Zeit«484 handelt, sondern »um die eigene Positionsbestimmung des Spurenlesers in der Gegenwart.« 485 Hier wird deutlich, dass die Leistung der Spur in der Orientierungshilfe für die Suchenden liegt. Daraus resultiert die zielgerichtete Aufmerksamkeit beim Spurensuchen und -lesen.486 Die Suchenden werden von Motiven getrieben, während die Spur selbst unmotiviert, unbewusst gelegt wird.487 Die Motivation des Spurenlesers, entscheidet darüber, ob die jeweiligen Spuren überhaupt wahrgenommen werden. Sie selbst sind um mit Krämer zu sprechen, »eindimensional« und »passiv«488 : Obwohl Spuren sich dem »blinden Zwang« aufeinander einwirkender Körper verdanken, werden sie nicht vorgefunden, sondern durch Interpretation hervorgebracht. Eine Spur zu lesen heiß t, die gest ö rte Ordnung, der sich die Spurbildung verdankt, in eine neue Ordnung zu integrieren und zu überführen; dies geschieht, indem das spurbildende Geschehen als eine Erzählung rekonstruiert wird. Die Semantik der Spur, entfaltet sich nur innerhalb einer »Logik« der Narration, in der die Spur ihren »erz ählten Ort«, bekommt. Doch es gibt stets eine Vielzahl solcher Erzählungen. Daher sind Spuren polysemisch: Diese Vieldeutigkeit der Spur ist konstitutiv, also unhintergehbar. Etwas, das nur eine (Be-) Deutung hat und haben kann, ist keine Spur, vielmehr ein Anzeichen.489

Die Spur, in der Psychologie (sowie der Psychiatrie) auch unter dem Terminus »Engramm« geläufig, steht seit dem 19. Jahrhundert im Mittelpunkt der Gedächtnisforschung. Erstmalig findet man diese Bezeichnung im Jahr 1909 von Richard Semon veröffentlichten Werk »Die Mnemischen Empfindungen« verwendet. Erst später, im Jahr 1950, greift sie der Neurowissenschaftler Karl Lashley in dem Aufsatz »In Search of the Engramm« wieder auf.490 Das Psychologische Wörterbuch, herausgegeben von Kurt-Hermann Stapf et al. vermerkt unter »Engramm« [gr. Gedächtnisspur, Neurogramm] – »die physiol 482 483 484 485 486 487 488 489 490

Ebd., S. 17. Holtorf, S. 346. [Hervorhebung: C.H.] Ebd. Ebd. Vgl. Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur?, S. 15. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 17. Vgl. und siehe mehr dazu: Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Hamburg 2001, S. 96 – 99.

Parallelen zur Spur und Spurensuche in anderen Disziplinen

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[ogische] Spur, die eine Reizeinwirkung […] als dauernde strukturelle Änderung im Gehirn hinterlässt.«491 Sie wird als gespeicherte Information, das heißt Spur vergangener Erlebnisse infolge des Abrufs im Verarbeitungsprozess reaktiviert und ist als Repräsentation der Erinnerung zu verstehen.492 Nach Karl Spamer ist die Spur ein Energiebündel, »eine Krafteinwirkung an einem unbelebten Objekt.«493 Folglich übernimmt das Gedächtnis die Funktion eines Sammelbeckens von Spuren der Einwirkungen und Eindrücke: »Man kann […] von einem Gedächtnis aller organischen Materie, ja der Materie überhaupt, sprechen, in dem Sinne, dass gewisse Einwirkungen mehr oder weniger dauernde Spuren an ihr hinterlassen. Der Stein selbst behält die Spur des Hammers, der ihn getroffen hat.«494 Aleida Assmann führt in diesem Kontext das Gedächtniskonzept von Reinhard Koselleck an und unterscheidet aufgrund der Stabilisierungsart zwischen zwei verschiedenen »Gedächtnisspeichern für Erinnerungen,«495 dem »Speichergedächtnis« und dem »Funktionsgedächtnis.«496 Ein ähnliches Differenzierungskonzept sieht Assmann in der Gegenüberstellung von Mich-Gedächtnis (passive und unbewusste Form des autobiographischen Gedächtnisses) für wie »glühende Lavamasse in den Leib gegossenen Erinnerung«497 und dem Ich-Gedächtnis (aktive und bewusste Form des Gedächtnisses) für die verbal überlieferte Erinnerung.498 Diese zwei Formen des Gedächtnisses, die sich ebenfalls im Konzept von Körper und Sprache widerspiegeln, werden von Assmann analog mit »Retention« (unverändert bleibende körperliche Dauerspur der Erinnerung) und »(Re-)Konstruktion« (Festigung durch immer neu entstehende Erinnerungen, immer neue und andere Vergegenwärtigung) sowie den Freud’schen Begriffen aus der Neurologie »Spur« und

491 Stapf, Kurt-Hermann/Häcker, Hartmut/Dorsch, Friedrich: Psychologisches Wörterbuch. Bern 1987, S. 172. 492 Vgl. ebd., S. 3 f. 493 Spamer, Karl: Physiologie der Seele. Stuttgart 1877, S. 86. Zitiert nach: Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt am Main 1991, S. 21. 494 Spamer, S. 21. Die Problematik der Gedächtnis-Metaphorik mit der sog. Dauerspur im Vordergrund haben vorerst Sigmund Freud (Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Frankfurt am Main 1960.), dann auch Derrida und Ricoeur untersucht. Näheres: Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne, S. 21. 495 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 128. 496 Siehe dazu: ebd., S. 130 – 143. 497 Ebd., S. 127 und 21. Aleida Assmann verweist hier auf Koselleck, Reinhart: Vielerlei Abschied. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 6. 05. 1995. 498 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 127 ff.

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Zur Spur und Spurensuche

»Bahn«499 (bei Schmidt »Pfad«500) bezeichnet.501 Wie Koselleck weist sie auf ihren unterschiedlichen Status hinsichtlich der Fortdauer der Erinnerungen hin: Eine Spur entsteht durch einen einmaligen Eindruck, eine Bahn oder ein Pfad durch wiederholte Bewegung auf einer Strecke. Die körperlichen Erinnerungen festigen sich durch die Intensität des Eindrucks, die sprachlichen dagegen durch beständige Wiederholung. Die sinnlichen Erinnerungen sind geprägt von der Kraft des Affekts, dem Druck des Leidens, der Wucht des Schocks. Sie haften im Gedächtnis, ganz unabhängig davon, ob sie zurückgerufen werden oder nicht. Dagegen ist der Rahmen für die sprachlichen Erinnerungen nicht der Körper, sondern die soziale Kommunikation.502

Während die Spur durch ihre Affektivität präsent bleibt, büßt die Bahn (bei Koselleck: die »sprachlich vermittelte Erinnerung«503) trotz ihrer permanenten Wiederholung ihre »sinnliche Kraft« ein. Die Gegenüberstellung von »Einschreibung« (oder »Engramm«) und »Bahnung«, wird jedoch laut der neueren Hirnforschung weitgehend aufgehoben, indem »Engramme« als »flüchtige oder überdauernde Veränderungen« definiert werden.504 Mit der Frage nach der Fortdauer des Ureindrucks befasst sich auch Paul Ricœur. Er führt die Problematik der Spur bis in die Antike auf die Texte von Platon und Aristoteles zurück. Mit ihnen beginnt die Tradition der Spur als »Metapher des Abdrucks« (im Wachs).505 Ricœur erstellt eine Klassifikation der Spur, die zwischen der »geschriebenen Spur,« die durch einen materiellen Träger vermittelt wird, (auf dem Gebiet der Historiographie: die »dokumentarische Spur«) der »psychischen Spur,« die durch den Eindruck bzw. die Affektion von einem Ereignis geprägt ist, und zuletzt der »psychischen, zerebralen, kortikalen Spur,« die sich als Begriff in der Neurowissenschaft etabliert hat, unterscheidet.506 Dem dritten Typus der Spur räumt Ricœur einen beträchtlichen Platz in seiner Arbeit ein, indem er den Versuch der Differenzierung zwischen »Gedächtnisspuren als materiellem Substrat und psychischen Spuren als einer der Vorstellung vorausliegenden Dimension der lebendigen Erfahrung«507 unternimmt. Er untersucht, die zerebrale, kortikale Spur, die nur auf dem Wege der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich gemacht werden kann, da sie phy499 Diese Differenzierung ist laut Assmann sowohl bei Maurice Halbwachs als auch bei Samuel Butler zu finden. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 128. 500 Siegfried J. Schmidt ersetzt die Metapher der »Spur« durch die des »Pfades.« Näheres: Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis-Erzählen-Identität. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne, S. 378 – 398. 501 Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 127 f. 502 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 128. 503 Ebd., S. 127. 504 Vgl. ebd., S. 130. 505 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 636. 506 Vgl. ebd., S. 37. 507 Ebd., S. 669.

Spur als »Operator par excellence«

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sisch oder sinnlich nicht wahrnehmbar ist.508 Die Gedächtnisspur in der Neurowissenschaft basiert auf der Reaktivierung, dem In-Erinnerung-Rufen durch die Suche also einer Wiedererinnerung.509 Ihr liegt die Schlüsselerfahrung des Wiedererkennens zugrunde, w ä hrend die psychische Spur im phänomenologischen Verständnis als das »Fortbestehen des ursprünglichen Eindrucks« begriffen wird und einen passiven Charakter trägt.510 In diesem Zusammenhang konstatiert Ricœur, daß eine kortikale Spur nicht in dem Sinne weiterlebt, daß sie als Spur von … – als Spur des verfallenen, vergangenen Ereignisses – gewußt wird; sodann, daß, wenn die lebendige Erfahrung nicht schon zu Beginn Weiterleben ihrer selbst und in diesem Sinne psychische Spur gewesen ist, sie es auch niemals werden wird. Das ganze Materie und Gedächtnis läßt sich somit auf folgende Weise in dem von der Polysemie des Grundbegriffs Spur entfalteten Vokabular der Einschreibung zusammenfassen: Die Einschreibung im psychischen Sinne des Wortes ist nichts anderes als das Weiterleben per se des der Urerfahrung zeitgleichen mnemonischen Bildes.511

Spur als »Operator par excellence« Sowohl für Ricœur als auch für Marc Bloch und Carlo Ginzburg entspricht die Spur einem Oberbegriff, der nicht nur das Zeugnis, sondern auch das Indiz mit einschließt. Die Spur bleibt der »Operator par excellence einer ›indirekten‹ Erkenntnis.«512 Während sich die Historiographie, (so auch die Auffassung Blochs), mit Gruppierung von Spuren, von denen orale und schriftliche Zeugnisse (der Text) hergeleitet werden, befasst, erweitern Carlo Ginzburg und Marc Bloch das Spektrum des Begriffs von Spur. Sie dehnen den Terminus auch auf die nichtschriftlichen Formen,513 d. h. (archäologische) Objekte aus. Somit funktioniert die Spur bei Bloch mit ihrem »indirekten, indiziellen, singulären und konjekturalen«514 Charakter zudem als Überrest und wird in ihrer Komplexität mit dem klassischen Ginzburg’schen Begriff des »Indizien-Paradigmas« erfasst, das »innerhalb des Begriffs der Spur eine Dialektik von Indiz und Zeugnis [einleitet] und so dem Gedanken des Dokuments seine ganze Spannweite [gibt].«515 Demzufolge werden im Dokument die Begriffe von Indiz und Zeugnis 508 Vgl. ebd., S. 636 f. 509 Vgl. ebd., S. 38 und 55. 510 Vgl. ebd., S. 638. Ricœur verweist hier auf Bergsons »Materie und Gedächtnis«: Bergson, Henri : MatiÀre et M¦moire. Essai sur la relation du corps — l’esprit. Paris 1896. 511 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 671. 512 Ebd., S. 261. 513 Vgl. ebd., S. 267. 514 Ebd., S. 268. Ferner : Ginzburg, S. 73 f. 515 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 269.

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Zur Spur und Spurensuche

miteinander verbunden. Die komplementäre Zeugnis-Indiz-Korrelation verweist nur stärker auf die gemeinsame Wurzel der Spur. Ihre Beziehung schreibt sich »in den Zirkel von interner und externer Kohärenz ein, der den dokumentarischen Beweis strukturiert.«516 Dessen ungeachtet scheint nach Ricœur das indizielle Paradigma das Zeugnis in sich einzuschließen, da es alle Arten von Spur erfasst: In dieser Hinsicht ist sein kynegetischer Ursprung bezeichnend: Ein Tier ist hier gewesen und hat seine Spur hinterlassen. Das ist ein Indiz. Aber das Indiz kann im erweiterten Sinn auch als eine Schrift verstanden werden, insofern die Analogie des Abdrucks originär an die Prägung des Buchstabens erinnert, ganz abgesehen von der nicht weniger ursprünglichen Analogie zwischen eikún, Graphie und Malerei […]. Darüber hinaus ist die Schrift selbst eine Graphie und als solche eine Art Indiz; auch die Graphologie behandelt die Schrift, ihren ductus, im indiziellen Modus. Umgekehrt verdient in diesem Spiel von Analogien das Indiz, ungeschriebenes Zeugnis im Sinne Marc Blochs genannt zu werden. Aber diese Wechselbeziehung von Indiz und Zeugnis darf den Unterschied ihrer Verwendung nicht verdunkeln. Insgesamt dürfte die Operation dem Begriff des Dokuments zugute kommen, jener Summe von Indizien und Zeugnissen, deren finale Amplitude sich mit der initialen der Spur trifft.517

Die von Ricœur erwähnte Reihe Archiv – Dokument – Spur spiegelt sich bei Hans-Georg Gadamer als Text – Werk – Spur wider, wobei das Dokument bei Ricœur genau wie der Text bei Gadamer auf die Spur (über das Dokument bzw. das Werk) als seinen Ursprung verweist.518 Ähnlich wie Freud begreift auch Derrida die Erinnerungsspur als das Fortbestehen der Wahrnehmung in der Psyche.519 Er skizziert den Übergang von der neuronalen Spur zur psychischen Schrift und beschäftigt sich mit der Metapher des Gedächtnisses.520 Dem liegt die »eingedrückte Spur« als unvergänglicher Eindruck zugrunde, doch deren Inbegriff ist die löschbare Präsenz,521 da die Auslöschung ihr Wesen konstituiert. Für den Gedächtnistheoretiker Thomas De Quincey bildet (in Assmanns Formulierung) das Gedächtnis den »Hort unsterblicher, unvergänglicher Eindrücke,«522 die aber unkontrollierbar sind. Die Erinnerungsspuren erhalten den Status von Dauerspuren, die sich, wie bei 516 Ebd. 517 Ebd., S. 269 f. 518 Vgl. Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen. Göttingen 1998, S. 31. und Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960, S. 356. 519 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 156. Ferner : Derrida, Jacques: Die Schrift und Differenz. Frankfurt am Main 1972, S. 330. 520 Vgl. ebd. 521 Vgl. Derrida, S. 308. 522 De Quincey, Thomas: The palimpsest of the Human Brain. In: Whibley, Charles (Hrsg.): Essays. London o. J. Paraphrase von: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 155.

Spur als »Operator par excellence«

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Nietzsche die Narben in den Körper einschreiben und die schon Freud,523 später auch Derrida, in ihrer Widersprüchlichkeit von »Löschen« und »Bewahren« lange beschäftigt haben.524 Marcel Proust weist auf Analogien zwischen dem Einprägen in den Körper und dem Einschreiben in die photographischen Negative hin und sieht, ähnlich wie der Psychologe Carl Gustav Carus, die Metapher von dem Eindruck als Bild, als »unwillkürliche körperliche Einschreibung.«525 Sigmund Freuds »Metapher des Wunderblocks« und De Quinceys »Metapher des Palimpsests« dehnen die Auffassung der »Einschreibung« noch wesentlich aus.526 Beide ersetzen die Schrift durch die Spur. Damit werden allgemein die modernen Aufzeichnungstechniken, u. a. die Photographie als die sogenannte »Lichtschrift« einbezogen.527 So wie Walter Benjamin das Spektrum der Gedächtnis-Metapher um die Photographie bereichert, die im 20. Jahrhundert die Schrift in ihrer Funktion ersetzt,528 so versteht Susan Sontag unter Lichtbild die Spur als eine »unmittelbare Schablone des Realen.«529 Für Ricœur bleibt die Spur trotz oder dank ihres disziplinübergreifenden und polysemantischen Charakters das »moderne Ä quivalent des Abdrucks.«530 Zwar hat das Verständnisspektrum des Spurbegriffs eine enorme Ausdehnung und in mancher Hinsicht 523 Die Metapher des ›Wunderblocks‹ »verhalf Freud zu wissenschaftlichem Ruhm. Denn die rätselhafte Kopräsenz von Dauerspur und tabula rasa ging ihm an diesem aus drei Schichten zusammengesetzten Schreibgerät auf: Die Oberfläche besteht aus eine feinen Wachspapier, das beschrieben und überschrieben wird, darunter liegt ein Zelluloidblatt, das als ›Reizschutz‹ dient, und wiederum darunter liegt die Wachstafel, die Dauerspuren (›Besetzungsinnervationen‹) festhält, die bei günstigen Lichtverhältnissen als feine Rillen sichtbar bleiben.« Zitiert nach: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 156. (Vgl. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Bd. XIV. Frankfurt am Main 1960.) 524 Vgl. Derrida, S. 348 f. und Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 155 f. 525 Siehe dazu: Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 131 u. 220. Vgl. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (übers. v. Eva Rechel-Mertens). Bd. VII. Frankfurt 1957, S. 275. Vgl. Carus, Carl Gustav : Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Bd. L. Leipzig 1865/66, S. 13. 526 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 157. Zur Ergänzung: »Solange die Analogmedien Photographie und Film ihre Bilder über Spuren in materielle Träger eingravierten, dominierte in der Gedächtnistheorie von Proust und Warburg bis Freud die Auffassung von der Festigkeit und Unauslöschbarkeit der Gedächtnisspuren. Im Zeitalter der digitalen Medien, die in nichts mehr gravieren, sondern Schaltungen koordinieren und Impulse fließen lassen, erleben wir bezeichnenderweise ein Abrücken von solchen Gedächtnistheorien. Gedächtnis wird nun nicht mehr als Spur und Speicher, sondern als eine plastische Masse betrachtet, die unter den wechselnden Perspektiven der Gegenwart immer wieder neu geformt wird.« Zitiert nach: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 158. 527 Vgl. ebd. 528 Vgl. ebd, S. 156. Tiedemann, Rolf (Hrsg.): Benjamin, Walter. Gesammelte Schriften. Bd. I, III. Frankfurt am Main 1980 ff, S. 1238. 529 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 157. Ferner : Sontag, Susan: On Photography. New York 1979. Susan Sontag setzt in ihrer Gedächtnis-Metaphorik die Photographie mit einer Fußspur oder einer Totenmaske gleich. 530 Siehe zur Spur als Abdruck: Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 31 f.

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Zur Spur und Spurensuche

eine Akzentverschiebung erfahren, doch bleibt die Metapher des hinterlassenen Abdrucks immerhin in ihrer Universalität sowie Simplifizierung immer aktuell und zutreffend.

Die Interdisziplinarität der Spur. Fazit Wie die vorliegende Untersuchung zeigt, ist das Spektrum der Auffassungs- und Anwendungsmöglichkeiten der Spur dank ihrer Attribute531 außerordentlich breit und differenziert. Auf mehreren Ebenen konnte die Mehrdimensionalität ihres Wesens veranschaulicht werden. Was die Spur auszeichnet und vielseitig einsetzbar macht ist vor allem ihr dualistisches Wesen. Die Spur ist von polaren Eigenschaften gezeichnet: von An- und Abwesenheit, von Materialität und Transzendenz, von Gegenwart und Vergangenheit, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Unwillkürlichkeit und Zweckbedingtheit (Unmotiviertheit und Motiviertheit), von Kausalität und Semiotizität, von Eindimensionalität und Polysemie, von Störung und Ordnung.532 Durch ihre Flexibilität schreibt sie sich in das neuzeitliche Konzept vom Verständnis der modernen Wissenschaft ein. In allen ihren Erscheinungen: sowohl als Indiz, Zeugnis, Medium als auch Ressource bildet sie einen bedeutenden Bestandteil jeder historischen Rekonstruktion und – was für diese Arbeit wesentlich ist – der hier analysierten VaterSpuren-Suche. Die Ergebnisse der Untersuchung legen nahe, dass das Verständnis von Spur, gerade aufgrund der Interdisziplinarität, im weitesten Sinne einheitlich ist. Ob in kriminalpolizeilicher Ermittlung oder in historischer Operation bleibt die Spur in ihrer Tiefenstruktur gleich und bietet Zugang zu sonst »nicht erreichbarer Realität.«533 Sie kennt weder disziplinäre, räumliche noch zeitliche, weder materielle noch geistige Beschränkungen, da alles zur Spur werden kann. Trotz der Unzahl von Theorien und Konzepten ihrer Auslegung bleibt die Spur immerhin ein Rätsel, das es zu entziffern gilt.

531 In der Arbeit wurden nur diese Attribute der Spur besprochen, die für die analysierte Spurensuche von Bedeutung sind. Es wird beispielsweise die Materialität der Spur nicht berücksichtigt, da ich – im Gegensatz zu Krämer – die Erinnerungen sowie das Verbale (den gesprochenen Text) zu Spuren zähle und damit die Materialität der Spur für umstritten halte. 532 Siehe dazu: Krämer, Sybille: Immanenz und Transzendenz der Spur. Über das epistemologische Doppelleben der Spur. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot: Spur, S. 158 – 162. 533 Ginzburg, S. 68 f.

Die Spurensuche als mehrdimensionales Verfahren in der Väterliteratur

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Die Spurensuche als mehrdimensionales Verfahren in der Väterliteratur Dem Motiv der Vatersuche schreibt Georg Langenhorst534 eine spezifische kultursoziologische Bedeutung in der deutschsprachigen Literatur zu: »[D]ies ist kein beliebiges Motiv neben vielen gleichrangigen anderen, sondern [es] zeichnet sich dadurch aus, daß es hier um die Kernfrage menschlicher Identität, um das Grundprinzip menschlicher Existenz geht.«535 Die analysierte VaterSpuren-Suche der Nachkriegszeit zeigt mehrere Parallelen, u. a. in der Thematisierung der Vaterlosigkeit sowie im Verlauf der Suche, mit dem Motiv der Vatersuche536 in seinen Anfängen auf. Diese gehen bis auf das Sagengut des Mittelalters (z. B. das althochdeutsche »Hildebrandslied«) zurück, wobei das Motiv seine Blütezeit im ritterlichen Heldenepos537 des 12. Jahrhunderts erlebt. Sowohl den Epen als auch der Vatersuche der Nachkriegszeit liegen ein vergleichbares Aufbauschema und eine ähnliche Figurenkonzeption zugrunde. In beiden Fällen bildet die Abwesenheit des Vaters den Grund für die Nachforschungen nach ihm und zugleich für das Erkennen der eigenen Identität. Die Suche bildet einen komplexen Werdegang mit Durchbrüchen und Wendepunkten und führt letztendlich zum Erkennen des Vaters und des eigenen Selbst. Der Vater-Kind-Konflikt ist in der mittelalterlichen- sowie der Vatersuche der Nachkriegszeit präsent, wobei in den Väterbüchern der 1970er und 1980er Jahre der Konflikt als Aufstand gegen die Väter (z. B. im Rahmen des Generationenkonflikts) noch stärker betont wurde. Die finale Konfrontation mit bzw. die Demaskierung der Wahrheit über den Vater, endet, ähnlich wie in den mittelalterlichen Epen, in den meisten Fällen mit der Versöhnung538 mit dem Vater und seiner Vergangenheit. Im Gegensatz zur früheren Vatersuche unterscheidet 534 Im Gegensatz zu Langenhorst wird in der vorliegenden Arbeit zwischen dem Motiv der Vatersuche und dem des Vater-Sohn-Konflikts differenziert. 535 Langenhorst, Georg: »Vatersuche« in deutschen Romanen der letzten 20 Jahre. Zur Renaissance eines literarischen Urmotivs. In: Literatur für Leser. Frankfurt am Main1994, S. 23 – 35. [Hervorhebung: G.H.] 536 Aufgrund der engen Verknüpfung mit dem zentralen Motiv des Vater-Sohn-Konflikts wurde die Vatersuche jedoch lange nicht als eigenständiges Motiv wahrgenommen. 537 Beispielsweise der französische »Roman de Troie« von Beno„t de Sainte-Maure. Siehe dazu: Lee, Anthony van der : Zum literarischen Motiv der Vatersuche. In: Verhandelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen. Afdeling Letterkunde Nieuwe Reeks, Deel LXIII, No. 3. Amsterdam 1957, S. 145. 538 Die Epen des höfischen Rittertums verdanken ihr versöhnliches Ende im großen Maße christlichen Einflüssen. Zu den Epen, die mit Versöhnung enden, gehören unter anderem: »Der Lai de Milun« von Marie de France aus der Mitte der 1960er Jahre des 12. Jahrhunderts der französischen höfischen Dichtung (mit keltischem Ursprung des Stoffes) oder anonym überlieferter »Lai de Doon«, Die Fortsetzung von Chr¦tiens »Perceval«. Siehe dazu: Lee, 145.

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Zur Spur und Spurensuche

Langenhorst im Hinblick auf die Vatersuche in deutschen Romanen der letzten 20 Jahre zwischen diversen Arten der Suche; zwischen der »individuellen« und »kollektiven,« ferner zwischen der Vatersuche als einem »Suchvorgang« im Sinne eines detektivischen Suchverfahrens und einer metaphorisch zu verstehenden »psychologischen« Suche, die durch ihre Tiefgründigkeit für den Suchenden zu einer »geistigen Reise« wird.539 In den analysierten Texten ist die Suche mehrdimensional zu verstehen. Sie vereint in ihrer Komplexität metaphorische und reale Vatersuche, die Suche eines Individuums, die von therapeutischer Bedeutung ist sowie die Suche einer ganzen Generation nach der Vergangenheit ihrer Väter. Die Vaterfigur wird auf persönlicher sowie öffentlicher Ebene erforscht, analysiert und (neu) interpretiert. Bereits die (Unter-)Titel der Texte540 deuten diverse Suchverfahren an. Sie sind als eine Annährung an den Vater, das Verstehenlernen des Vaters, die angestrebte Versöhnung mit ihm, das Erzählen einer Lebensgeschichte oder als das Suchbild des Vaters zu verstehen. Jede der Erzählfiguren begibt sich auf die Suche nach dem verstorbenen Vater. Dabei verfolgen sie von dem Vater hinterlassene Spuren, zu denen sowohl die materiellen Hinterlassenschaften: persönliche Habseligkeiten, Fotos, Ton- und Bildaufnahmen sowie das Schriftliche, in Form von privaten und offiziellen Dokumenten (Tagebücher, Briefe, Notizen, schriftstellerische Proben oder sogar literarische Werke) als auch Erinnerungen des Umfelds des Vaters und der Zeitzeugen, sowie schließlich die Erinnerungen der Spurensucher selbst gehören. Die Spuren des Vaters werden nach seinem Tod von den Nachkommen im Zuge der (Re-)Konstruktion seiner Lebensgeschichte verfolgt und gelesen. Ihre Spurensuche ähnelt methodologisch einem interdisziplinären Ansatz, sie übernehmen u. a. die Rolle des Detektivs, Historikers und Psychologen. Die Vater-Spuren-Suche verläuft wie das kriminalistische bzw. detektivische Ermittlungsverfahren nach Grundsätzen, die Hans-Dieter Schwind unter der Bezeichnung der »Sieben goldenen W«541 zusammenfasst. Diese bilden das Ermittlungskonzept, das mit dem Suchvorgang der Erzählfiguren vergleichbar ist. Den Ausgangspunkt der Vater-Spuren-Suche bildet die Frage, ob sich der Vater in der Zeit des Nationalsozialismus bzw. während des Zweiten Weltkrieges schuldig gemacht hat. Zwar sind in den analysierten Texten nicht alle gesuchten Väter Täter und nicht jede Tat ein Verbrechen, doch die Hauptfragen, die dem Verfahren zugrunde liegen, weisen folgende Ähnlichkeiten auf.

539 Vgl. Langenhorst, S. 23 – 35. 540 Siehe: Kapitel »Zur Gattung und Komposition«. 541 Schwind, S. 13.

Die Spurensuche als mehrdimensionales Verfahren in der Väterliteratur

Polizeiliches Suchverfahren – wer (hat die angezeigte Straftat begangen?): Erstellung eines »Phantombildes«

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Vater-Spuren-Suche – hat er (eine Straftat begangen)? Erstellung eines Suchbildes (des Vaters)

– was (hat der Täter getan oder unterlassen: – was (hat mein Vater getan oder unterlassen: Handelt es sich überhaupt um Handelt es sich überhaupt um eine Gesetzesverletzung?) einen Verstoß gegen das Gesetz, gegen die Moral?) – wann (an welchem Tag und zu welcher Tageszeit wurde sie verübt?)

– wann (wurde die Tat verübt)?

– wo (an welcher Örtlichkeit wurde die Tat ausgeführt?)

– wo (wurde die Tat ausgeführt)?

– wie (ist der Täter vorgegangen; hatte er Helfer?)

– wie (kam es dazu)?542

– womit (welche Mittel und Werkzeuge hat – unter welchen Umständen? er verwendet?) – warum (aus welchen äußeren und inneren – warum (aus welchen äußeren und inneren Beweggründen hat er die Tat begangen?).543 Beweggründen hat er die Tat begangen?). Die Ausgangsfragen der Kriminalistik wurden teilweise aus dem Text von H.-D. Schwind übernommen und ergänzt.544

Zwar strukturieren die dargestellten W-Fragen beide Suchvorgänge, doch im Falle der kriminalistischen Rekonstruktion des Vergangenen handelt es sich eindeutig um die Belastung, um ein Verbrechen und einen Täter, geht es in der Vatersuche vordergründig um Entlastung. Hier wurde der Akzent stärker auf die Beweggründe und Umstände gesetzt, die zu bestimmten Entscheidungen und Handlungen des Vaters geführt haben können. In beiden Fällen wird die gleiche methodische Basis des Verlaufs angewandt, u. a. multiperspektivische Erklärungsversuche, logische Geschlossenheit mehrerer Theorien, empirische Absicherung, praxisrelevante sowie fachübergreifende Betrachtungsweise während des Suchvorgangs, einschließlich des Kriteriums der Objektivität, das für das 542 Im Falle der Frage »wie« und »unter welchen Umständen« wird hier auf Abweichungen zu dem polizeilichen Suchverfahren hingewiesen, da der Schwerpunkt der Vater-SpurenSuche mehr auf dem Verstehenlernen und deshalb auf der Erforschung von Gründen und äußeren Umständen liegt, die den Vater zu seinen Entscheidungen bewegt haben. 543 Vgl. Ausgangsfragen der Kriminalistik bei: Schwind, S. 13. [Hervorhebung: H.-D. S.] 544 Vgl. ebd. [Hervorhebung: H.-D. S.]

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Zur Spur und Spurensuche

Ergebnis zu beachten ist.545 Damit ist der Verlauf der Untersuchung mit dem Ablauf von Analysen anderer Sozialwissenschaften vergleichbar und lässt sich simplifizierend mit dem von Schwind konzipierten »Fluß-Diagramm« vergleichen.546 Die Erzählfiguren bedienen sich mehrerer Erhebungsmethoden, u. a. der Akten- und Dokumentenanalyse sowie der Biographieforschung.547 Anders aber als bei der kriminalistischen Vorgehensweise ist das biographische Interview in der Vater-Spuren-Suche aus plausiblen Gründen nicht einsetzbar. Da der Proband nicht mehr Rede und Antwort stehen kann, sind es dessen persönliche Schriften, vor allem Tagebücher und Briefe oder, wie bei Peter Henisch, früher aufgezeichnete Gespräche, die das Live-Interview ersetzen. Die Exploration, die der Gewinnung von psychopathologischer oder psychologischer Daten dient, wird hier durch die Analyse der einschlägigen Literatur oder Zeitzeugenbefragung substituiert.548 Des Weiteren ist die Auswertungsphase in der Vater-Spuren-Suche viel stärker individuell angesetzt und hängt weitgehend von dem Interpretationsprinzip bzw. der Deutungsbereitschaft des jeweiligen Spurenlesers ab. Zwar werden die Daten auch hier mit anderen Fällen und Betroffenen verglichen, eine Korrelationen- und Faktorenanalyse durchgeführt, doch die Grundauswertung, durch die das Resultat der Hypothese bedingt ist, bleibt trotz aller Bemühungen Objektivität zu gewährleisten, persönlich geprägt. Die jeweilige Hypothese bleibt, um mit Schwind zu sprechen, eine Wahrscheinlichkeitsaussage, denn »empirisch erweisbar ist nur die Widerlegung, nicht die Bestätigung einer Theorieannahme.«549 Zuletzt wird in der Vater-Spuren-Suche die aufgebaute Lebensgeschichte des Vaters nachgezeichnet, die ähnlich, wie im Falle der kriminalistisch angelegten Langzeitbeobachtung, nun entweder »retrospektiv« oder »prospektiv« narrativ vermittelt wird.550 Mit ihrer subjektiven Ausrichtung auf Indizien, Fakten und Spuren, die es laut Ulf F. Ickerodt »nicht nur zu identifizieren gilt, sondern die darüber hinaus in ihre ursprüngliche diachrone Ordnung, den Tathergang, gebracht werden müssen,«551 schreiben sich die Texte der Väterliteratur ebenfalls in das epistemologische Indizien-Konzept552 von Ginzburg ein. Sowohl die Vater-SpurenSuche als auch das Ginzburg’sche Indizien-Modell vereinheitlichen methodisch nahezu gleichzeitig unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen und versu545 546 547 548 549 550 551

Vgl. ebd., S. 150 f. Vgl. ebd., S. 163. Vgl. ebd., S. 164 f. Mehr zu den kriminologischen Methoden siehe: ebd., S. 166 – 180. Ebd., S. 180. Vgl. ebd., S. 157. Ickerodt, S. 30. [Stand: 02.2007]. 552 Vgl. ebd., S. 22.

Die Spurensuche als mehrdimensionales Verfahren in der Väterliteratur

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chen zugleich aus subjektiver Erfahrung anhand von Spuren die Vergangenheit zu (re-)konstruieren.553 Die Spur wird, wie in der dargestellten Methodologie der Kriminalistik, bei beiden zum Ausgangspunkt der Nachforschungen. Dies setzt sie zudem in Bezug zu der historischen Forschung, in der sich das Induktionsverfahren sowie die Rekonstruktion des Abwesenden im Zentrum der Methodologie befinden.554 Zusätzlich werden in der Vater-Spuren-Suche durch das Verständnis und die Rolle der Spur in der Gedächtnisforschung sowohl eigene als auch fremde Erinnerungen als Spuren verstanden, die das Rekonstruktionsverfahren stützen und weitere wichtige Indizien für das Suchverfahren liefern. Dabei führt das Sammeln, Sichern, Ergänzen, Deuten und Fixieren von Spuren zur Entstehung eines »Circulus vitiosus.« Der Spurensuchende tritt infolge der Spurenaufnahme unwillkürlich in die Spuren des Spurenlegers und setzt selbst durch die literarische Bearbeitung wiederum Spuren als Text. Damit lässt sich die Vater-Spuren-Suche einerseits den modernen Indizienwissenschaften zurechnen und andererseits auf den Ursprung der »Idee der Erzählung« im Sinne von Ginzburg zurückbringen: Vielleicht entstand die Idee der Erzählung selbst (im Unterschied zu Zaubersprüchen, Beschwörung und Anrufung) zuerst in einer Gesellschaft von Jägern und aus der Erfahrung des Spurenlesens. […] Der Jäger hätte demnach als erster »eine Geschichte erzählt,« weil er als einziger fähig war, in den stummen – wenn nicht unsichtbaren – Spuren der Beute eine zusammenhängende Folge von Ereignissen zu lesen.555

553 Vgl. ebd., S. 28. 554 Vgl. Bloch, S. 66 f. 555 Ginzburg, S. 70.

6. Spuren und ihre Medien in der Vatersuche Die Schreibweise erzählt von der Sprache ihrer Benutzer – und sie erzählt auch von »der Geschichte« der deutschen Sprache.556

Die Rekonstruktion der Vergangenheit erfolgt über Spuren,557 die von den Erzählfiguren im Zuge ihrer Suche zusammengetragen werden. Dazu zählen sowohl eigene als auch fremde Erinnerungen, Relikte von soziokulturellem Charakter (z. B. Zeitungsartikel), persönlicher Nachlass des Vaters meist in schriftlicher Form: literarische Texte, Bilder, »documents of life«, d. h. Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, Vaters Tagebücher, Briefe und andere EgoDokumente sowie das Recherchematerial. Zur Spur wird, u. a. das »unmotiviert« Hinterlassene, das einen Zeitenbruch markiert, auf das Unsichtbare verweist und eine referenzielle Rolle inne hat.558 Andererseits werden auch der absichtlich zurückgelassene Nachlass sowie Überreste berücksichtigt, die von den Spurensuchenden auf unabsichtlich hinterlegte Indizien und Überbleibsel überprüft werden. Die von den Erzählfiguren durchgeführte Vater-Spuren-Suche wird im folgenden Kapitel auf die Spuren und ihre Medien untersucht, die für die Rekonstruktion der Vergangenheit für die Erzählfiguren von Relevanz sind. Die erwähnten Spuren lassen sich grundsätzlich den drei klassischen Medien zuordnen: Gedächtnis (das autobiographische und kommunikative Gedächtnis), Text (in schriftlicher und mündlicher Form) und Bild. Somit wird im folgenden Kapitel an etablierte Konzepte der Medialität angeknüpft, die Medien aufgrund ihrer Rolle u. a. als »Apparate«559 (Sybille Krämer), »Stimulantia«560 (Aby War556 557 558 559

Braun, Christina von: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte. Berlin 2007, S. 4. Zur Definition und Systematisierung der Spur siehe: Kapitel »Zur Spur und Spurensuche«. Vgl. Krämer, Sybille: Immanenz und Transzendenz der Spur, S. 164 – 166. Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar 2005, S. 125. Ferner : Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar, S. 19. Sowie: Krämer, Sybille: »Das Medium als Spur und Apparat.« In: Krämer, Sybille (Hrsg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt am Main 1998, 73 – 94. 560 Vgl. Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, S. 19.

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Spuren und ihre Medien in der Vatersuche

burg), »Kommunikationsinstrumente«561 (Aleida und Jan Assmann), »Tradierungsmittel« (Harald Welzer) sowie als »Vehikel der Gedächtnisreflexion«562 (Douwe Draaisma) begreifen. Mit Hilfe der Medialitäts- und Gedächtniskonzepte werden die Spurenmedien der Vatersuche untersucht. Die hier unternommene Medienklassifikation ähnelt der Medieneinteilung von Siegfried J. Schmidt, Aleida Assmann und Astrid Erll, die generell mündliche Sprache, Schrift, Bild und Ton berücksichtigen.563 Zusätzlich wird das Gedächtnis miteinbezogen, das als Spurenmedium der eigenen und fremden Erinnerung verstanden wird. Daher sind bestimmte Ähnlichkeiten zu Gedächtnismedien (-Konzepten) festzustellen, wobei keins in seiner Vollständigkeit übernommen wird. Auf die neuronalen Konzepte wird hingegen in der Untersuchung nicht eingegangen. So ist für die folgende Analyse der in den Väterbüchern dargestellten Vater-Spuren-Suche das Medium als Träger bzw. System von Spuren, vor allem als »Kompaktbegriff«564 (Siegfried J. Schmidt) von Bedeutung, dem grundsätzlich speichernde und vermittelnde aber auch stimulierende Aufgaben zugrunde liegen. So wird das (autobiographische) Gedächtnis565 zum System von Erinnerungen, das Bild zum System von Indizien und der Text in schriftlicher und mündlicher Form zum System von vermittelter Erfahrung und Zeichen, die sich unter anderem in offiziellen und persönlichen Dokumenten, wissenschaftlichen Beiträgen, literarischen Werken, in Zeitzeugenberichten sowie Familiengesprächen manifestieren. Dabei ist ihr Funktionsbereich das Stimulieren, Konservieren, Veranschaulichen und Vermitteln im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses verankert. 561 Vgl. Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, S. 8. Bei Siegfried J. Schmidt: »semiotische« und bei Astrid Erll: »semiosefähige Kommunikationsinstrumente«. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 131 f. 562 Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, S. 9. (Anmerkungen) Ferner : Draaisma, Douwe: Die Metaphermaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt 1999. 563 Vgl. Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses – ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff, S. 13 f. Ferner : Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 131. 564 Schmidt definiert das Medium als Kompaktbegriff, der u. a. folgende konstitutive Komponenten beinhaltet: »Semiotische Kommunikationsinstrumente, das technisch-mediale Dispositiv beziehungsweise die jeweilige Medientechnologie, die sozialsystemische Institutionalisierung eines Mediums sowie die jeweiligen Medienangebote.« Schmidt, Siegfried J.: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist 2000, S.93 f. Zitiert nach: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 131 f. 565 Dies geht mit dem Konzept Astrid Erlls einher, das folgende Bedingtheit skizziert: Erinnern (ein Prozess)-Erinnerung (dessen Ergebnis)-Gedächtnis (eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur zu konzipieren ist). Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 7.

Das Gedächtnis

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Das Gedächtnis Das individuelle Gedächtnis bildet in der Vater-Spuren-Suche ein ganz besonderes Medium – einen Träger emotionaler und intimer Spuren der Vergangenheit, die private Erinnerungen an Ereignisse, Personen, Gefühle, Eindrücke, Orte und andere Bestandteile des Lebens der Spurensuchenden umfassen. Diese entstehen im sozialen Rahmen, in Interaktionen mit anderen Menschen, die das autobiographische Gedächtnis mitprägen. So sehen Harald Welzer und Hans Markowitsch es nicht im Sinne eines »weitere[n] Gedächtnissystem[s], sondern [als] eine bio-psycho-soziale Instanz, die das Relais zwischen Individuum und Umwelt, zwischen Subjekt und Kultur stellt.«566 Dagegen begreift John Kotre das autobiographische Gedächtnis als ein System ähnlich einem hierarchisch organisierten »Erinnerungsstrom,«567 dessen Struktur und Sinn man sich erst bewusst wird, wenn man den Erinnerungsfluss zurückverfolgt. Seine Inhalte »organisieren sich selbst« und bilden ein wenig stabiles und präzises »hierarchische[s] System«, an dessen Spitze das Selbst steht – »das Produkt dieser Hierarchie, der Schöpfer des Sinns, den sie einflößt.«568 Die vorliegende Untersuchung geht auf beide diese Konzepte ein, indem sie das autobiographische Gedächtnis als Quelle und Medium von Spuren, welche die Identität und die Vergangenheit des Vaters konstituieren, behandelt. Die eigenen Gefühle, Wahrnehmungen und Erinnerungen werden im Verlauf der externen Suche von den Erzählfiguren durch fremde vermittelte Erinnerungen und das recherchierte Faktenmaterial ergänzt und im Rahmen der Rekonstruktion geordnet, fixiert und überliefert. Das autobiographische Gedächtnis charakterisieren Erinnerungen, die stets im Fluss sind, die von anderen Erinnerungen überdeckt und von neuen Erfahrungen geprägt werden. Mit der Zeit verändern sich ihr Bedeutungswert und ihre Lebensdauer sowie ihr sinnstiftender Rahmen, dem Jan Assmann eine entscheidende Rolle zuschreibt: Erinnerungen werden also bewahrt, indem sie in einen Sinn-Rahmen eingehängt werden. Dieser Rahmen hat den Status einer Fiktion. Erinnern bedeutet Sinnstiftung für Erfahrungen in einem Rahmen; Vergessen bedeutet Änderung des Rahmens, wobei bestimmte Erinnerungen beziehungslos und also vergessen werden, während andere in neue Beziehungsmuster einrücken und also erinnert werden.569

566 567 568 569

Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald, S. 260. Kotre, S. 108. Ebd. Assmann, Jan: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne, S. 346 f.

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Grundsätzlich bleiben die »selbstdefinierenden Erinnerungen«570 länger erhalten als die allgemeingültigen Erinnerungen, da sie weniger nach Zeitpunkt als nach Inhalt und Wesentlichkeit bzw. höherem emotionalen Engagement im Gedächtnis kategorisiert werden. Besonders die »autobiographischen folgenreichen Erinnerungen«571 bleiben aufgrund ihrer Wirkung und ihrer Konsequenzen für die weitere Lebens- und Persönlichkeitsentwicklung im Gedächtnis dauerhaft haften. Sie gehen meistens mit historisch-gesellschaftlichen Umbrüchen einher und werden durch die Anteilnahme am kollektiven Gedächtnis umso mehr bekräftigt. So erinnert sich die Erzählfigur Monika Jetter an die heulenden Sirenen und ihre Angst im Luftschutzkeller während des Luftangriffes, der Erzähler von Hans Weiss an die Nachricht vom Terroranschlag am 11. September 2001, die bei seinem Vater einen Schlaganfall verursacht, die Erzählfigur von Christoph Meckel an die langersehnte Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft: Die Freude auf meinen Vater war grenzenlos. Erinnerung an die frühe Kinderzeit schien mein Bild von ihm vergoldet zu haben. Ich flog zu ihm in das vergoldete Bild. Nach ein paar Monaten war die Verklärung weg. Die Entzauberung war gründlich, verstörend am Anfang, dann endlos grau.572

Auch wenig bedeutende autobiographische Erlebnisse werden auf politischgesellschaftliche Daten zurückgeführt: die Erzählerin Dagmar Leupold verbindet den Entschluss des Vaters zur Anschaffung des ersten Fernsehergerätes mit der Ohrfeige von Beate Klarsfeld, die sie dem Bundeskanzler Kiesinger am 11. 11. 1968573 gegeben hatte und die Erzählfigur von Ute Scheub motiviert ihre Entscheidung sich (trotz ihrer Abneigung gegen die Kirche) doch konfirmieren zu lassen mit den politischen Ereignissen des Jahres 1969 (Proteste der APO, die Ablösung der Großen Koalition, Vereidigung von Richard Nixon zum US-Präsidenten, die US-Nationalhymne gespielt von Jimmy Hendrix auf dem Woodstock-Festival).574 Erinnerungen können auch in verdichteter Form von einer bestimmten Person, einem Ereignis oder Spruch repräsentiert werden. Als Topoi verinnerlichen sie symbolisch komplexe Vorgänge mit Begleiterscheinungen, die dann vom Gedächtnis schlagwortartig abgerufen werden. Ganz oben in der autobiographischen Erinnerungshierarchie befinden sich diese individuellen Erinnerungen, die eine persönliche Lebenswende markieren und bedeutende 570 Die selbstdefinierenden Erinnerungen werden von dem Psychologen Dan McAdams als »Kernepisoden« bezeichnet, in denen sich »Aspekte unserer Identität« widerspiegeln. Kotre, S. 131. Vgl. McAdams, Dan P.: Power, Intimacy and the Life Story. Personological Inquiries into Identity. Chicago/Homewood 1985. 571 Kotre, S. 211. 572 Meckel, S. 110. 573 Leupold, S. 97. 574 Scheub, S. 47.

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Veränderungen, insbesondere in früheren Lebensphasen mit sich gebracht haben. Kotre nennt sie »Reminiszenz-Berge«: Die Jahre, die den Reminiszenz-Berg in unserer Lebensspanne ausmachen, sind zugleich diejenigen, in denen sich Neuartiges konzentrierte. Es ist die Zeit unseres ersten Flirts, unserer ersten Arbeitsstelle, unserer ersten sexuellen Erlebnisse, der ersten eigenen Wohnung, des ersten Kindes und so weiter. Physisch, emotional und intellektuell sind wir in Bewegung – wir verlassen das Zuhause und seine Umgebung, erproben neue Rollen und Beziehungen und bilden nach und nach unsere Identität aus. Wir nehmen Neues, Erstmaliges nicht allein im Überfluß wahr, wir verarbeiten es auch mit ständig wechselnden »Denkkappen«. Und das, was die Spitze des Reminiszenz-Bergs bildet, haben wir zum ersten Mal mit dem Gedächtnissystem eines Erwachsenen verarbeitet.575

So werden in der Vater-Spuren-Suche besonders diese Begebenheiten hervorgehoben die im direkten Bezug zum Vater stehen. Die erste Ohrfeige vom Vater, der erste Schulbesuch in seiner Begleitung, die erste Schwimm-Lektion vom Vater oder der erste gemeinsam verbrachte Urlaub werden als ReminiszenzBerge von den Spurensuchenden erinnert. Da das autobiographische Gedächtnis sich (normalerweise) das ganze Leben lang im sozialen Kontext in Interaktion befindet, unterliegen die Erinnerungen permanenter Wandlung. Im Zuge der Selbstentwicklung, die durch die Außenwelt geprägt wird, sowie des Bewusstwerdens der eigenen Identität, entsteht allmählich ein Selbstkonzept, dessen Voraussetzung die Lebenserinnerung ist. Sie wird vom »autobiographischen Wissen« konstituiert, im dessen Rahmen Astrid Erll zwischen drei Ebenen unterscheidet: »Lebensperioden,« »allgemeine Ereignisse« und »ereignisspezifisches Wissen.«576 Diese werden durch den narrativen Modus in einen kausalen Zusammenhang gebracht und zur Lebensgeschichte geformt. Aleida Assmann schreibt diesen Modus dem »Ich-Gedächtnis«577 zu. Es bildet die »aktive, verbale, deklarative« Variante des autobiographischen Gedächtnisses, das die eigene Identität konstituiert, indem es die Erinnerungen als eigene autobiographische Geschichte bewusst zu konstruieren ermöglicht.578 Der Erinnerungsprozess bedeutet Selbstbeobachtung, die die einzelnen Stationen des Werdens immer wieder analysiert, interpretiert und in Zusammenhänge bringt. Dabei kann die Selbst-Geschichte sich unbewusst Importe aus externen Spuren bzw. Informationsquellen zu Eigen machen und gestaltet sich auf zwei Ebenen, der Selbsteinschätzung sowie der Eindrucksmanipulation, im Rahmen der Kommunikation. Beide bedingen sich 575 576 577 578

Kotre, S. 210 f. Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 83. Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 120. Vgl. ebd.

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wechselseitig, da die Wahrnehmung des eigenen Ich und seiner Veränderung, sich an den Zeichen und Signalen von Interaktionspartnern misst. Generell sieht Siegfried Schmidt das »Selbstkonzept«579 als ein nicht bewusst angestrebtes Resultat der Wechselwirkung mit der Umwelt, das den Modus des Erinnerungsprozesses bestimmt. Im Zuge der Selbstbeobachtung und -erzählung wird ein Selbstbild produziert, das durch ständige Wiederholung Konturen-Verschärfung erhält und zum »persönlichen Mythos«580 emporsteigt, dem der sogenannte »Ursprungsmythos«581 zugrunde liegt. Dabei ist die Ur-Erinnerung nicht immer die erste, an die sich das Subjekt erinnert, sondern eine, die aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung zu den ersten gezählt sowie mythisiert wird und quasi den Anfang des autobiographischen Gedächtnisses bildet. Die Erzählfigur von Wibke Bruhns erinnert sich an das Inferno über Halberstadt am 8. April: [D]as war der Sonntag nach Ostern, als dieser Großangriff 80 Prozent der Altstadt in Schutt und Asche legte, hielt das Haus stand, keiner starb. Aber der Kronleuchter über dem Esstisch stürzte auf den Osterkranz und zerschlug meine Eier. Das Feuer hat meine Erinnerung bis zu diesem Tag verbrannt. Unter dem Schutt, in dem Entsetzen wurde alles begraben, was vorher war. Sechs Jahre sind weg, ich weiß nichts von mir. Mein Leben fängt an mit der Empörung über die Zerstörung meiner Ostereier. Der Kronleuchter, der sie zerdeppert hat, hängt heute in meinem Wohnzimmer.582

Der Erzähler von Uwe Timm verbindet seine erste Erinnerung mit der Person des Bruders, die von dem Gefühl zu Schweben begleitet wird. Sie steht für den Anfang der Beziehung zu seinem Bruder und dessen Geschichte, die auch nach seinem Tod in ihm weiter lebt: »Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude – diese Empfindung begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis.«583 Durch die Wiederholung von bestimmten Inhalten neigt das autobiographische Gedächtnis zur Selbstmanipulation, indem es das eigene Selbst aus den frühesten Erinnerungen erläutert, die die Art und Weise des Selbst in der Gegenwart durch einen »bleibenden Eindruck« »herbeigeführt« oder »vorherbestimmt« haben sollten.584 In der Vater-Spuren-Suche wird die Beziehung zum Vater stets erinnert sowie reflektiert und gewinnt dadurch eine identitätskonstruierende Bedeutung. Es wird vor allem die Zweisamkeit mit dem Vater erinnert: sowohl die negativen Augenblicke, die dem 579 Schmidt, Siegfried J.: Gedächtnis – Erzählen – Identität. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne, S. 392. 580 Kotre, S. 146. 581 Vgl. ebd., S. 261 f. 582 Bruhns, S. 266. 583 Timm, S. 9. 584 Kotre, S. 251.

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Kind das Gefühl von Unzugänglichkeit und Fremdheit vermittelten, als auch die positiven, die zu Annährung, Verständnis und emotionaler Bindung beigetragen haben. Die Spurensuchenden rufen aus dem Gedächtnis insbesondere einmalige Begebenheiten ab: Zwiegespräche mit dem Vater, seine Anerkennungszeichen, Lobsprüche, von ihm geschenkte Aufmerksamkeit, eine Umarmung sowie Familien-Glücksmomente, dienen dazu, sich – wie die Erzählfigur von Timm es erläutert – »erinnernd der Momente großer Nähe zu vergewissern.«585 Das Porträt des Vaters wird zu einer Erinnerungskreation, die aus Episoden besteht, die zahlreiche Facetten der Vaterfigur, seine Markenzeichen (z. B. bei Meyer »jungenhaftes Lachen,«586 »Fixiertheit der Augen«587) sowie seine Sprach- und Verhaltensmuster veranschaulichen. Die Person des Vaters stellt eine feste Konstituente in der autobiographischen Selbstannährung bzw. Selbsterzählung der Spurensuchenden dar. Sie wird im Laufe des Erinnerungs- bzw. Identitätsbildungsprozesses vom erinnernden Selbst aufgenommen und zu einem wichtigen Bezugspunkt der eigenen Selbstidentifikation gemacht. Von ihr wird der aktuelle Identitäts-Stand abgeleitet. Nach Birgit Neumann baut »[d]as sich erinnernde Ich […] seine Identität im Dialog mit seinem vergangenen Selbst« auf. In diesem Prozess werden »die differenziellen Identitätsaspekte im narrativen Modus idealerweise in ein zeitliches Kontinuum integriert und als relative Einheit ausgewiesen.«588 So sieht auch Daniel L. Schacter die autobiographischen Erinnerungen als »die Biographien des Ichs, die mit einer erzählerischen Kontinuität Vergangenheit und Zukunft verknüpfen – ein Erinnerungsfundus, der Kern der persönlichen Identität ist.«589 Das autobiographische Gedächtnis ist somit das Erleben des kontinuierlichen Selbst. Dabei wird die Selbsterinnerung aus der Perspektive eines Beobachters bzw. Zuschauers verfolgt, der seinen Werdegang von außen, wie in einem Film betrachtet: Das »sich erinnernde Selbst« erschafft ein »erinnertes Selbst,« indem »das Selbst die entgegengesetzten Positionen des Subjekts und des Objekts zugleich einnimmt.«590 Es geht im Rahmen des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses,591 das datierte, 585 586 587 588

Timm, S. 135 f. Meyer, Kurt, S. 24. Ebd., S. 25. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hrsg.), S. 166. 589 Schacter, S. 156. 590 Kotre, S. 148. 591 Das episodische Gedächtnis bewirkt, dass »einzelne Zusammenhänge« aus der Vergangenheit und das eigene »biographische Erleben« als »lebensgeschichtliche Episoden,« als die eigene Vergangenheit identifiziert werden können.« Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis, S. 24. Markowitsch und Welzer setzen dem episodisch-autobiographischen Gedächtnis das semantische Gedächtnis entgegen, das das Erinnerte nach seinem Inhalt und den Zusammenhängen strukturiert und klassifiziert. Schacter bemerkt,

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topographisch bzw. räumlich lokalisierte autobiographische Begebenheiten erinnert in die eigene Vergangenheit zurück und sieht sich dabei selbst als aktives Subjekt im Geschehen. Es kann sich entweder aus der Außenperspektive beobachten (Beobachter-Erinnerung592), wie beispielsweise im Text von Ruth Rehmann und Dagmar Leupold oder die Erinnerung wie das reale bzw. ursprüngliche Ereignis durch die eigenen Augen d. h. aus der Innenperspektive betrachten (Feld-Erinnerung), z. B. im Text von Härtling.593 In beiden Fällen ist der Prozess der Selbsterinnerung ein aktiver Vorgang, dem das »sich selbst erkennende Bewußtsein« und »Affektivität« zugrunde liegen.594

Die Erinnerung als Bild Die Vergangenheit wird von mehreren Erzählfiguren in Bildern, die mit bestimmten Sinngehalten gefüllt sind, erinnert. Sie sind zeit- und situationsabhängig, da das autobiographische Gedächtnis nur hier und jetzt realisiert werden kann. Während des Abrufvorgangs oszilliert das autobiographische Gedächtnis zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, um der Gegenwart durch das Vergangene Sinn und Bedeutung zu verleihen. Dabei weist Alois Hahn darauf hin, dass das Erinnerte niemals die Vergangenheit so wiedergibt, wie sie damals empfunden wurde : »Die vergegenwärtigte Vergangenheit sieht stets anders aus als die Vergangenheit, als sie noch Gegenwart war.«595 Diese Einsicht führt er auf die Unterscheidung zwischen »praesens praeteritum« und »praeteritum praesens« von Augustinus zurück.596 Zwischen Gegenwart und Vergangenheit besteht ein ständiges Wechselspiel, ein Annäherungsprozess, der in seiner Verschmelzung zum Erinnerungsbild mündet, das keinen Wahrheitsanspruch hegt. Je größer die Diskrepanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart ist, desto intensiver wird die Erinnerung dem aktuellen Standpunkt angepasst. Dessen ist sich die Erzählfigur von Ute Scheub bewußt:

592 593 594 595 596

dass es Gedächtniskonzepte gibt, die das autobiographische Gedächtnissystem von anderen Gedächtnissystemen (prozeduralem Gedächtnis, Priming, perzeptuellem Gedächtnis, semantischem Gedächtnis/Wissenssystem) sowie dem episodischen Gedächtnis unterscheiden. Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis, S. 259 f. (Anmerkungen). Sigmund Freud zählt zu den Pionieren der Feld- bzw. Beobachter-Erinnerung. Vgl. Freud, Sigmund.: Über Deckerinnerungen. Gesammelte Erinnerungen. Bd. I. Frankfurt am Main 1899, S. 529. Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 83. Ferner : Schacter, S. 45. Vgl. ebd., S. 83. Hahn, Alois: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie. Frankfurt am Main 2000, S. 295. Ebd.

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Mein Trost ist nur, dass nicht nur mein, sondern jedes menschliche Gedächtnis in gewisser Weise falsch ist. Sobald man die Gefühle und Bilder der Erinnerung in Worte umwandelt, verlieren sie ihre nicht fassbare Authentizität, vermischen sich mit der Gegenwart und werden zu etwas Anderem, Neuem. Die Erinnerungen an meinen Vater sind Annäherungsversuche an die Wahrheit, nicht mehr.597

Der Erinnerungsvorgang hat einen singulären, kreativen, subjektiven Charakter und ist weitegehend von der Ausgangsposition der Erzählfiguren und ihrer Fokussierung abhängig. Ohne den zeitlich-räumlichen Rahmen sowie ohne ihren Bedeutungsinhalt gehen sie verloren. Die sich erinnernden Erzählfiguren entdecken die Erinnerungsbilder immer wieder neu, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf immer neue Elemente lenken und immer neue Ebenen ausfindig machen. Sie verbinden die Bilder und Lücken in ein plausibles kausales Kontinuum und machen sie dadurch dynamisch. So verweist Silvia Ferretti auf Augustinus und seine klassische etymologische Auslegung des Verbs »cogitare« (= »cogere«), in der das Denken die Erinnerungsbausteine eines primären Ganzen, die im Rahmen des Vergessens auseinandergefallen und in der Seele verstreut wurden, zusammenbringt.598 In den analysierten Texten wird das Erinnerungsbild oft mit dem fotografischen verglichen und zwar indem die Ähnlichkeit des Mechanismus eines Fotoapparates bzw. einer Kamera mit dem eines Gedächtnisses hervorgehoben wird, wie beispielsweise im Text von Peter Henisch: »Wieder auf der Straße liefen mir Fragmente aus einem häufig gerissenen, schlecht zusammengeklebten Film, Szenen aus jener Lebensphase durchs Gehirn, in der ich aufgehört hatte, meinen Vater als Vorbild zu sehen.«599 Der Akt des Fotografierens gehört zu den oft verwendeten Metaphern der Gedächtnisfunktion.600 Der Erinnerungsstrom wird genauso wie der Film zurückgespult oder rückwärts abgespielt. Bestimmte Augenblicke werden auf ähnliche Weise konserviert: »Man hielt fest, was verging, das flüchtige Bild auf der Netzhaut, den Eindruck im Hirn, fotografierte, schrieb. Ein Aufmucken gegen die Zeit, wie jede Kunst. Was sonst verloren ginge, das hebt man auf …«601 Genauso werden die sogenannten »Blitzlicht-Erinnerungen«602 mit den fotografischen Schnappschüssen verglichen, die die Er597 Scheub, S. 28. 598 Vgl. Ferretti, Silvia: Zur Ontologie der Erinnerung in Augustinus’ »Confessiones«. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne, S. 359. Astrid Erll formuliert eine sehr ähnliche Definition: »Erinnern ist eine sich in der Gegenwart vollziehende Operation des Zusammenstellens (»re-member«) verfügbarer Daten.« Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 7. 599 Henisch (1980), S. 208 f. 600 Siehe zur Entwicklung der Gedächtnismetapher : Kotre, S. 26. 601 Henisch (1980), S. 126. 602 Vgl. Schacter, S. 317.

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zählfigur von Peter Henisch »in eine genaue, chronologische Reihenfolge«603 nicht bringen kann. Beide Medien werden aber in Henischs Text aufgrund ihrer Speicherkapazität und der Einprägungskraft unterschieden: »Leider ist die Erinnerung nicht so leicht aus dem Gehirn auszuspannen, wie der Film aus der Leica.«604

Das Erinnern Das Erinnern nimmt in den Vätertexten unterschiedliche Verläufe und diverse Formen an. Davon abhängig unterscheidet sich auch das Verständnis des Erinnerungsvorgangs. Er wird entweder als Erinnerungsprozess (passiv) oder als Erinnerungsarbeit (aktiv) begriffen. Dies geht mit der Auffassung von Aleida Assmann einher, die zwischen dem passiven Gedächtnis und aktiver Erinnerung differenziert. Assmann schreibt dem Gedächtnis eine speichernde Funktion zu, indem es als »Dispositionsmasse« fungiert, aus der Erinnerungen abgerufen, ausgewählt, aktualisiert werden.605 Die Erinnerung selbst ist dabei »die Energie des Auffindens und Hervorholens, die den Daten aus ihrer latenten Präsenz zur Manifestation verhilft.«606 Am Beispiel der Vater-Spuren-Suche werden die unterschiedlichen Erinnerungsarten sichtbar, die durch das Verhalten der sich erinnernden Erzählfiguren im Erinnerungsprozess bedingt werden. Die Erzählfiguren verhalten sich gegenüber den Erinnerungen entweder passiv oder aktiv, so wie es Ricœurs dualistisches Konzept von »Evokation« und »Suche« (bei Aristoteles: »mnÞmÞ« und »anamnÞsis«)607 veranschaulicht. Die Evokation Die Evokation zeichnet sich durch dominierende und aktive Erinnerungen aus. Sie werden bei den Erzählfiguren durch oft unbewussten Impuls unerwartet entfesselt und sind als spontane Momentaufnahmen nicht festzuhalten. Sie kommen plötzlich ungerufen aus dem nichts und verschwinden genauso schnell; tauchen z. B. bei der Erzählfigur Peter Henisch in Form von Erinnerungsfetzen oder lückenhaften Erinnerungsketten ohne Kontext und Sinngehalt auf: »Auch die Erinnerungen meines Vaters aus der Kinderheimzeit sind natürlich bloße Erinnerungsinseln in einem Meer von längst Vergessenem. Trotzdem, sagt eine Stimme, tauchen manche Bilder aus gerade diesen Jahren in 603 604 605 606 607

Henisch (1980), S. 59. Ebd., S. 134. Vgl. Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 17. Ebd. Vgl. Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 55.

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den letzten Wochen immer häufiger in meinem Bewusstsein auf.«608 Im Text von Monika Jetter verhalten sich die Erinnerungen diffus und dynamisch: »In den Bildern, Erinnerungsbruchstücken, die noch alle durcheinander zu laufen schienen, tauchten auch Seiten des Vaters auf, die seine Defizite deutlich machten.«609 Demzufolge erscheint die Rolle des erinnernden Ich im Erinnerungsprozess eher passiv. Seine Erinnerungen melden sich entweder an oder kommen in gewissen Situationen, z. B. durch den Schreibprozess stimuliert, von selbst auf. Oft bildet eine einzelne Erinnerung den Anfang für den ganzen Erinnerungsprozess und ist aufgrund ihrer affektiven Beschaffenheit im Sinne des aristotelischen »pathos« 610 zu verstehen. 611 Die Erzählfigur von Jetter beginnt mit einer ersten kurzen Erinnerung an den Vater in der Nachkriegszeit, »rückwärts zu laufen«: »Zurück in eine Zeit, mit der [sie] eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte, weil [die Erinnerung] mit Schmerz besetzt war, einem Schmerz, den [sie] damals nie fühlen durfte und der [sie] nun, nach so vielen Jahren, antrieb herauszufinden, worin er eigentlich bestand.«612 Dabei sieht sie den Vorgang als eine Art Entwicklungs- bzw. Reifungsprozess, der es ihr ermöglicht, die Erinnerungen wahrzunehmen: »Es waren zu dieser Zeit auch noch zu diffuse Erinnerungen, die erst später, als ich den Entschluss fasste, dieses Buch zu schreiben, wieder in mir hochkommen sollten, als lägen die Erlebnisse erst kurze Zeit zurück.«613 Dies trifft beispielsweise auf die sogenannten unfreiwilligen Erinnerungen zu, die sich unerwartet von selbst bei dem Erzähler von Meyer anmelden und jahrelang im Gedächtnis haften bleiben: Immer war da die Erinnerung. Und sie war gerade da, wo ich mich am weitesten von allem weg dachte: im ratternden Zug, der tage- und nächtelang von der Hochebene der Anden der Karibikküste entgegenfuhr, hinter dem Steuerrad auf endlosen Autofahrten durch die Appalachen, auf dem Rücken eines Pferdes in der Einsamkeit der kolumbianischen Llanos.614

Meistens sind sie auf traumatische Ereignisse zurückzuführen und werden als sich aufdrängende Erinnerungen (Flashbacks) wiedererlebt. Aufgrund des intensiven Charakters des Erinnerns, z. B. mit Körperbeschwerden verbunden, gehen sie in Tag- und Alpträume über. Es heißt dann, wie im Text von Uwe Timm, man erinnert mit dem ganzen Körper : »Die Erinnerung daran ist Lähmung, eine Lähmung beim Atmen, eine Lähmung beim Denken, eine Lähmung 608 Henisch (1980), S. 22. 609 Jetter, S. 76. [Hervorhebung: M.J.] 610 Anders: Affektion, mnÞmÞ. Vgl. Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 38 u. 55. 611 Vgl. ebd., S. 55. 612 Jetter, S. 162 f. 613 Ebd., S. 58. 614 Meyer, Kurt, S. 12.

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der Erinnerung.«615 Diese schmerzvolle Erinnerung schreibt sich auch in das Verständnis des Gedächtnisses von Nietzsche ein: »Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis«616 Solche Erinnerungen bleiben aufgrund ihres emotional intensiven oder auch depressiven Verlaufs lange im Gedächtnis haften, was mit dem »NichtVergessen-Können« gleichzusetzen ist. Sie lassen sich oft auf dramatische bzw. traumatische Ereignisse in der Vergangenheit zurückführen, wie beispielsweise im Text von Monika Jetter : Es war ein mühsamer Weg, aber er hat sich gelohnt. Denn ich hatte ein Schattenhaus verlassen, in dem auch ich oft der Not, Gefühllosigkeit und Kälte ausgeliefert war. Dass ein solcher Schmerz nach über fünfundvierzig Jahren noch einmal hochkommen kann, mit immer mehr Erinnerungen und Bildern aus längst vergangener Zeit, hätte ich nicht für möglich gehalten. Und doch war es so.617

Markowitsch und Welzer sprechen in diesem Kontext von der »Persistenz von Erinnerungen.«618 Die Suche Mit dem Trauma sind bei den Erzählfiguren zusätzlich Erinnerungen verbunden, die ein passives »Verhalten« aufweisen, die abgerufen werden müssen und einer Erinnerungsarbeit bzw. der »Suche« im Sinne von Ricœur bedürfen.619 Hier spielt das sich erinnernde Selbst eine vorherrschende Rolle, da die Erinnerungen ohne seine intensiven Bemühungen nicht frei werden. Sie werden von den Spurensuchenden zwar unidentifiziert im Bewusstsein wahrgenommen, jedoch psychisch abgeblockt. Erst die Beseitigung von Hindernissen auf der pathologisch-therapeutischen Ebene ihres »verhinderten Gedächtnisses«620 (Abwehr- oder Verdrängungsmechanismen, Deckerinnerungen) durch eine (Psycho-) Therapie, erlauben das Abrufen von Erinnerungen. Diese Auffassung von der Passivität des Gedächtnisses, geht mit seiner speichernden Funktion und der (metaphorischen621) Darstellung des Gedächtnisses als Behälter, aus dem man Bilder und Gefühle aufrufen kann, einher. Diese Vorstellung wird sowohl in der Erinnerungsarbeit von der Erzählfigur von Martin Pollack (»Erinnerung habe ich keine daran, wie mir überhaupt jede Erinnerung an den Vater 615 Timm, S. 58. 616 Nietzsche, Friedrich: Werke und Briefe: Zur Genealogie der Moral. In: Schlechta, Karl (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Werke. Digitale Bibliothek Band 31. Berlin 2000, S. 7292. 617 Jetter, S. 14. 618 Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis, S. 32. 619 Vgl. Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 55. 620 Ebd., S. 115. 621 Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 13.

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fehlt. Ich sehe manche Details aus jener Zeit ganz deutlich vor mir, ihn jedoch sehe ich nicht, von ihm kann ich in meinem Gedächtnis keine Bilder aufrufen.«622), als auch der von Monika Jetter sichtbar, die selbst über die Kapazität ihres Gedächtnisses erstaunt ist: »Es verblüffte mich, wie viel mein Gedächtnis gespeichert hatte. Da war so viel Verdrängtes in meinem Kopf, gegen das ich mich lange gewehrt hatte. Der Schmerz der Kindheit war die Sperre zu dem Vater. Über sie half mir die Erinnerung an die Zeit nach dem Krieg hinweg.«623 Die speichernde Funktion und der statische Charakter des Gedächtnisses kommen in der Vater-Spuren-Suche ebenfalls durch die Metapher des »Dachbodens« zum Ausdruck. Nach Aleida Assmann bildet der Dachboden ein anschauliches Bild für das Latenzgedächtnis: Unordentlich, vernachlässigt, verstreut liegen die Gegenstände dort herum, sie sind als Gerümpel einfach da, ausrangiertes vernachlässigtes Gut ohne Zweck und Ziel. Wie das Gerümpel existieren die latenten Erinnerungen in einem Zwischenzustand, aus dem sie entweder ins Dunkel vollständigen Vergessens absinken oder heraufgeholt werden können ins Licht der Wiedererinnerung.624

Der Dachboden gehört neben der Bibliothek oder dem Magazin,625 einer weiteren sehr oft verwendeten räumliche Gedächtnis-Metapher,626 zu den Gebäudebzw. Raum-Metaphern und hebt den räumlichen Aspekt in Bezug auf das Gedächtnis hervor. Während aber in der Bibliothek die Vergangenheit geordnet ist und immer wieder kategorisiert wird, sind die Spuren der Vergangenheit auf dem Dachboden längst in Vergessenheit geraten und bleiben lange unentdeckt, bis nach ihnen gesucht wird oder der Spurensucher zufällig auf sie stößt: »Die Vergangenheit hatte sich auf dem Dachboden abgesetzt, und ich habe sie dort gefunden.«627 Der Dachboden wird für die Erzählfigur von Ute Scheub nicht nur zur Fundgrube des Nachlasses des Vaters sonder auch ihrer Erinnerungen: »In den Kisten ducken sich Bücher, altes Geschirr und unordentliche Familienangelegenheiten.«628 Die Tür zum Dachboden wird zur »Geheimnistür [ihrer] Kindheit.«629

622 623 624 625 626 627 628 629

Pollack, S. 233 f. Jetter, S. 162. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, S. 256. Siehe dazu: »Loci-imagines-Lehre« bei: Butzer, S. 14 f. Siehe dazu: Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 14 f. Scheub, S. 9. Ebd. Ebd.

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Die Erinnerungstrigger Im Erinnerungsvorgang kann die Interaktion mit anderen dem autobiographischen Gedächtnis im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses als Auslösereiz dienen. Eine Frage nach einem Mädchennamen aus der Kindheitszeit stellt im Falle der Erzählfigur von Rehmann den Abrufreiz für ihren Gedächtnisvorrat dar : »›Hannchen Heilmann, die kenne ich gar nicht,‹ sagte ich, ›den Namen hab’ ich noch nie gehört,‹ und als ich das sagte, zersprang eine Haut in meinem Kopf und ein Gesicht trat hervor.«630 Als Auslöser für den Abruf einer Erinnerung fungieren in der Vater-Spuren-Suche genauso Objekte, Sinneseindrücke, Orte oder Erfahrungen und Gefühle. Jede Spur kann theoretisch den Trigger für das Erinnern bilden.

Die Sinneseindrücke Das autobiographische Gedächtnis wird in der Vater-Spuren-Suche grundsätzlich durch Sinneseindrücke stimuliert. Bestimmte Düfte, Klänge, Geschmäcke rufen bei den Spurensuchenden Erinnerungen wach, die sie mit bestimmten Sinneswahrnehmungen aus der Vergangenheit zusammenbringen. Die Assoziationen, die sie in ihnen hervorrufen versetzten sie in die Vergangenheit, was auf ein Gefühlsgedächtnis im Sinne von Augustinus schließen lässt, das sich als sinnliches Gedächtnis vom intellektuellen unterscheidet.631 Aleida Assmann bezeichnet diesen Teil des autobiographischen Gedächtnisses als das MichGedächtnis.632 Im Gegensatz zu dem Ich-Gedächtnis, dem eine auf Verstand beruhende, organisierte bewusste Re-Konstruktionsarbeit zugrunde liegt, zeichnet sich das Mich-Gedächtnis durch das Nicht-Organisierte bzw. das nicht organisierbare Vorbewusste aus: »Während das erste sich in der Interaktion mit signifikanten anderen bildet, wird das zweite durch Interaktion mit Orten und Gegenständen aktiviert.«633 Demzufolge verhalten sich auch die Erinnerungen »flüchtig und unkontrollierbar«.634 Sie sind nicht sofort abrufbar, sondern »schlummern im Mich-Gedächtnis in der Form impliziter und versteckter Dispositionen, sie bilden ein diffuses und latentes Bereitschaftssystem, das unerwartet auf bestimmte äußere Reize antwortet«.635 Aus einem einzelnen Sinneseindruck entwickelt sich unerwartet ein vollständiges Gefühl oder Bild, 630 631 632 633 634 635

Rehmann, S. 157. Siehe dazu: Eisler, S. 1766. Siehe dazu: ebd., S. 15182. Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 120. Ebd. Ebd., S. 122.

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das nicht selten einen Auftakt zu einer vergangenen Episode oder Geschichte darstellt. So erlebt es die Erzählfigur von Dagmar Leupold: Ich erinnere ihn. Der einzige verlässliche Teil der Erinnerung ist der Körper. Das ist der Anfang. Riechen, Schmecken, Tasten. Hören und Sehen vergehen nicht. Erinnern und Vergessen sind verschränkt und beauftragt in einer Art Selbstschöpfung – wir erfinden uns und geben unseren fragmentarischen Körpern die Würde einer Geschichte, in der Fiktion zum ersten Mal total. Aus Bruchstücken ein Vater, aus Bruchstücken die Tochter, die Risse sichtbar und erhellend. Und mit jedem Wort wächst das Vertrauen ins Artefakt. Vielleicht, weil Kunststücke immer einen Umriß haben.636

Friedrich Georg Jünger hebt insbesondere den Geruchsinn als den »Schlüssel« des Erinnerns hervor, der ähnlich wie andere Sinne weder Erinnerungen behalten noch abrufen kann, sie jedoch im Zuge einer Sinneswahrnehmung wiederbelebt.637 In der Vater-Spuren-Suche in den Texten von Uwe Timm und Peter Henisch ist der Geruchsinn mit den wichtigsten Erinnerungen verbunden. Für die Erzählfigur von Timm bildet er den Ausgangspunkt für den Erinnerungsprozess an den Vater: »Der Geruch nach verschwitztem Leder, das war der Vater. Ein fremder Mann in Uniform liegt eines Tages im Bett meiner Mutter. Das ist die erste Erinnerung an den Vater.«638 Im Text von Peter Henisch markiert der Geruch den Abschluss des Erinnerungsprozesses: In dieser letzten Erinnerung scheint die Sonne und in den Geruch des weichen Teers mischt sich der Geruch von Gras und Löwenzahn. Diesen Geruch von Gras und Löwenzahn und sogar den Duft des weichen Teers bezeichnet die Stimme meines Vaters auf dem Tonband als einen Duft. In dieser letzen Erinnerung zittert die warme Luft über der Straße, und der Himmel über allem ist sehr durchsichtig und blau. Ansonsten ist in den frühen Erinnerungen meines Vaters meistens Winter.639

Was die Sinneserlebnisse generell verbindet und charakterisiert, ist ihre Vergänglichkeit. Sie können nur durch Erinnerungen festgehalten werden, da sie – Jünger zufolge – flüchtig sind: Da die feinsten, flüchtigsten Wahrnehmungen eins sind mit ihrer Vergänglichkeit, ist auch unser Erinnern an ihr feines, flüchtiges Vergehen geknüpft. Die Vergänglichkeit der Wahrnehmung ist die Voraussetzung alles Erinnerns. Eine Bewegung, die in uns nicht endete, würden wir nicht erinnern können. Die Gerüche, die nicht nur vergängliche Bewegungen sind, sondern die Essenz dieser Bewegung mit sich führen, erinnern uns nicht nur als solche; sie bringen uns auch die Wahrnehmungszusammenhänge, über die sie sich verbreiten, in die Erinnerung zurück.640 636 637 638 639 640

Leupold, S. 34. Vgl. Jünger, Friedrich Georg: Gedächtnis und Erinnerung. Frankfurt am Main 1957, S. 62. Timm, S. 25. Henisch (1980), S. 26. Jünger, Friedrich Georg, S. 63.

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Spuren und ihre Medien in der Vatersuche

Die Sinneseindrücke und die Erinnerungen tauchen bei den Erzählfiguren genauso unerwartet auf wie sie verschwinden. Sie lassen sich nicht bewusst abrufen und verkörpern somit, nach der Auffassung von Ricœur, die »gegenwärtige Anwesenheit des Abwesenden, welches zuvor wahrgenommen, empfunden, gelernt worden war.«641 Wenn sie aber auftreten, dann in voller Intensität, so wie es der Erzähler von Uwe Timm beschreibt: »Rieche ich an dem Armband meiner Uhr, ist er wieder da, dieser Geruch nach verschwitztem Leder, und er, der Vater, ist mir körperlich nah wie durch keine der bildhaften Erinnerungen.«642 Die Sinneswahrnehmungen verweisen auf Objekte, auf das Materielle, genauso wie äußerliche Spuren auf sie zurückverweisen. Bei Uwe Timm ist es der Körper, der die sichtbaren Spuren in sich speichert und sie nicht zu vergessen erlaubt: »Eine halbkreisförmige Narbe an der Stirn erinnert mich an diese Spiele in der Trümmerlandschaft mit ihrem Geruch nach Mörtel und faulendem Holz.«643 Die Erinnerungen als Narben des Lebens und Spuren der Zeit bleiben auf diese Weise laut der Erzählerin von Leupold ein Teil des Körpers: Aber der Körper merkt sich alles, er ist die Festplatte, auf sie ist Verlaß. Und listig, wie er ist, gibt er nichts preis, jedenfalls nicht, indem er erzählt, also verknüpft (das sind spätere Fabrikationen, Eingemeindungen des Fremden), sondern er bewahrt sie. Das verschließen hinterlässt allerdings auch Spuren. In großer Ferne fossilisiert.644

Die Beständigkeit der Erinnerung an Sinneindrücke erweist sich bei den Spurensuchenden als dauerhaft. Ganz im Sinne von Kotre, laut dem, einmal erlebter Geruch oder Klang im Gedächtnis Jahrzehnte lang verborgen bleiben kann, um dann den Erinnernden durch einen Sinnesreiz im erwachsenen Alter in die Kindheit zurück zu versetzen: Man muß alte Objekte berühren, behaupten sie, alte Aromen riechen, alte Klänge hören, bis zur Ebene einer kleinen Person hinabsteigen, um die Erfahrungen der Kindheit wiedereinzufangen. Und man wird beobachten, daß die Erinnerungen tiefer empfunden werden, wenn sie in Gesten und Bewegungen eingebettet sind.645

Die Sinneserlebnisse sind aufs engste mit Kindheitserinnerungen646 verknüpft, da sie wie die Kindheit vergänglich und flüchtig sind. Durch die Spurensuche werden genauso die negativen, wie auch die positiven Erlebnisse wieder belebt. 641 642 643 644 645 646

Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 55. Timm, S. 26. Ebd., S. 73. Leupold, S. 39. Kotre, S. 28. Siehe zum Thema »Kindheitserinnerungen«: Gansel, Carsten: »Wir haben nichts gesehen […] Heute weiß ich es« – Dekonstruierte Kindheitsidyllen im Zeichen des Holocaust in Uwe Johnsons »Jahrestge«. In: Gansel, Carsten/Zimniak, Pawel (Hrsg.): Kriegskindheiten und Erinnerungsarbeit. Berlin 2011, S. 175 – 187. Dieser Beitrag konnte in der Arbeit nicht berücksichtigt werden.

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Die Kindheitserinnerungen an die schönen alten Zeiten sind im Text von Martin Pollack idyllisch gefärbt: »Meine Erinnerung an den Aufenthalt auf dem Einschichthof in Mitterberg sind schwach und lückenhaft, doch es gibt sie. Ich erinnere mich an den Stall mit den Rindern, an den Geruch, der dort herrschte, an die wohlige Wärme der Kühe, an den Hofhund.«647 Der Erinnerungsprozess gleicht einer sentimentalen Reise in die Vergangenheit, die aus der gegenwärtigen Perspektive oft idealisiert und mit schärferen Konturen umrissen wird. Im Falle von Kindheitstraumata wird während des Erinnerungsprozesses zusätzlich der Körper beansprucht. Die Räumlichkeiten des Elternhauses rufen bei der Erzählfigur von Monika Jetter noch nach vielen Jahren pathologische Körperreaktionen hervor : Ich betrat das Haus, ging die weiße Marmortreppe hoch in den ersten Stock. Da war diese Treppenstufe, unter der ich mich in den Träumen immer ganz klein machte. Ich setzte mich und schaute auf den Türrahmen. Mir wurde klar, und ich fühlte, wie ein Druck in meinem Hals entstand, als wollte ich etwas sagen, was ich nicht sagen durfte. Ich wollte nur schnell hinaus auf die Straße, als ein weiteres Bild in mir hochstieg.648

In der Regel aber werden in den Texten auch aus einer traurigen Kindheitszeit glückliche Momente erinnert, deren Verlust über die Jahre verklärt und romantisiert wird. Im Laufe der Zeit wird die Kluft zwischen der Kinderwelt und der Gegenwart immer größer, wodurch das Kinderglück eine noch stärkere Mythisierung und Idealisierung erfährt. Je größer sich diese Diskrepanz ist, desto schmerzvoller wird der Verlust erlebt. Dies geschieht mit der Erzählfigur von Härtling: Ich bin zehn. Ich schreibe: Ich bin zehn, was auch bedeutet, daß ich mich nähere, daß ich spüre, wie zwei Erinnerungen, zwei Körper sich ineinanderschieben. Ich nähere mich mir und bin sechsunddreißig Jahre von mir entfernt. Fast jede Nacht träume ich von einem Kind, das träumt. Ich träume die Träume des Kindes und weiß sonderbarerweise, daß ich sie wiederhole. Es sind meine Träume und doch sind sie es nicht. Und wenn ich die Szenen hinter meinen geschlossenen Lidern sehe, kann ich auch erklären, weshalb: fast alle Personen, die mich in den wirren, ihren Sinn nicht preisgebenden Geschichten begleiten, sind alt und mächtig, selbst wenn sie freundlich mit mir umgehen. Ich blicke von unten nach oben. Wache ich auf, spüre ich, daß ich einen Rest der Ängste in meine Gegenwart mitgenommen habe. Sie sind wieder wirklich. Wie damals.649

647 Pollack, S. 234. 648 Jetter, S. 63. 649 Härtling, S. 109.

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Spuren und ihre Medien in der Vatersuche

Die Erinnerungsorte Das Erinnerungserlebnis wird in der untersuchten Väterliteratur außerdem durch seine zeitlich-räumliche Verankerung beeinflusst. Die Räumlichkeiten und Orte der Vergangenheit wirken genauso stark auf den Erinnerungsprozess, wie die Sinneseindrücke, da sie einen natürlichen Rahmen für Ereignisse schaffen. Sie sind der statische Teil, der das Dynamische im Gedächtnis verortet: Kein Raum hat mich je mehr so angezogen, wie das Speisezimmer in Babitschkas Wohnung. Mein Gedächtnis baut es immer von neuem auf, eine Bühne voller Eleganz, und gerade auf ihr hat sich eine Szene abgespielt, die das Bild meines Vaters von neuem schwärzte – ein Dialog aus einem mir verbotenen Stück.650

Die Räumlichkeiten entfesseln genauso wie Objekte bei den Erzählfiguren Erinnerungen, die man mit konkreten Orten verbindet. Diese werden von Fixpunkten markiert, z. B. die Lieblingskonditorei, das Geburtshaus, die Jagdhütte des Großvaters, die Lieblings-Spaziergangsroute an der Lahn, etc. und bilden somit eine topographische Landkarte von Kindheitserinnerungen. Sie werden zum Inbegriff einer Welt von früher. Die Kindheitsorte werden im erwachsenen Alter wieder aufgesucht, um die Kindheitserinnerungen wieder aufleben zu lassen und sich dadurch der eigenen Identität zu vergewissern. Die Spurensuchenden treten diese Reise wie die Erzählfigur von Monika Jetter : »mit einem Teil [ihrer] Kindheit [an], den [sie] irgendwann einmal zurückgelassen hatte.«651 Sie suchen im Rahmen ihrer Erinnerungsarbeit »konkrete Orte in der Geographie ihrer Kindheit«652 auf und besuchen ihnen vertraute Plätze, wie die Erzählfigur von Martin Pollack Gottschee und Tüffer : Ich bin mir selber nicht im klaren darüber, warum es für mich so wichtig ist, die Jagdhütte zu finden oder wenigstens die ungefähre Stelle, wo sie gestanden ist. Ist das ein Tribut an den geliebten Großvater, den ich später aus meinem Bewusstsein verdrängt habe? Ein unzulänglicher Versuch, mich ihm nahe zu fühlen? Ich erinnere mich plötzlich an das Wolfsfell, das er mir geschenkt hat, als ich noch klein war, ich hatte anfangs ein wenig Angst vor dem Schädel mit dem weit aufgerissenen Rachen, den gelblichen Zähnen, der rot bemalten Gipszunge und den kalten Glasaugen.653

Die magische Anziehungskraft der Kindheitsorte liegt in ihrer Unveränderlichkeit. Weder verfallen sie, noch unterliegen sie einer Wandlung. Sie bleiben im Gedächtnis, so wie man sie behalten hat und möchte. Sie stellen eine Konstante dar, an der das Leben vorbeifließt, was besonders deutlich am Geburtshaus der Erzählfigur von Hans Weiss veranschaulicht wird: 650 651 652 653

Ebd., S. 71. Vgl. Jetter, S. 117. Pollack, S. 16 f. Ebd., S. 48.

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Einige Schritte vor dem Haus, aus dem Dunkel ins Dunkle, schoss ich ein Foto von der Stiege. Hier an dieser Stelle sind schon viele Fotos entstanden. Hier auf den Stufen stand mein Vater als Kind, hier verabschiedete er sich von seinen Eltern in den Krieg, hier nahm er am Tag seiner Rückkehr aus der französischen Kriegsgefangenschaft das Selbstporträt auf, hier umarmte er am Tag der Hochzeit seine Frau, hier wurde ich als Baby von meiner Mutter im Arm gehalten, hier posierte ich als Kind für die Kamera meines Vaters, hier war der Ort der Abschiede und des Wiedersehens. Jetzt war die Stiege leer.654

An Erinnerungsorten bleibt die Zeit stehen, deshalb werden sie zu einem Bezugspunkt, der noch im erwachsenen Alter Geborgenheit und Sicherheit stiftet; zum phantasmagorischen Ort an den man, wie die Erzählfigur von Martin Pollack, in Gedanken immer wieder zurückkehrt: »Durch diese unruhigen Jahre begleiteten mich Großvaters Geschichten von Gottschee und Tüffer, Geschichten von einer Welt, in der immer alles gleich und unverändert blieb, so oft man davon erzählte.«655 In der Erinnerung werden diejenigen Schauplätze zu signifikanten Kindheitsorten, die schon während der Kindheit die Spurensuchenden fasziniert und verzaubert haben. Sie verdanken ihre Anziehungskraft einerseits dem spezifischen Charakter des Raumes oder der Landschaft und andererseits wichtigen Personen, die dem Ort die besondere Aura verliehen haben. So erinnert sich die Erzählfigur von Peter Härtling an seine Kindheitszeit, die er im tschechischen Brünn bei der Familie seines Vaters verbrachte, das für ihn zum »Inbild aller Städte« wurde und »auch später durch keine andere [Stadt] ersetzt worden ist.«656 Die Stadt hielt »mit ihren von Kinderaugen geweiteten Plätzen und Parks, die aus Staunen und Neugier aufgebaut worden sind, gegen die größten Städte Europas stand.«657 Das tschechische Brünn verkörpert für die Erzählfigur eine andere Welt, mit dem typischen Essen, ihrer eigentümlichen Musik und Atmosphäre, die er über Jahre in sich aufgesogen hat. Dabei spielen an den Kindheitsorten vor allem die Menschen eine besondere Rolle. So ist die Erzählfigur von Peter Härtling der Großmutter »Babitschka« verfallen, die für ihn alle Frauen der Welt in sich vereinigt: »Alles um sie herum, auch die Gegenstände, existierte heftiger und leichter.«658 In den Kindheitserinnerungen herrschen vor allem die Großeltern vor, da sie allein durch ihre generationsbedingten Erfahrungen, Erzählungen und ihre andere Art eine märchenhafte Welt repräsentieren. Für die Erzählfigur von Martin Pollack spielen die Großeltern ebenfalls eine bedeutende Rolle. Durch ihre Augen lernt er die Welt kennen: 654 655 656 657 658

Weiss, S. 28. Pollack, S. 17. Härtling, S. 45. Ebd. [Hervorhebung: P.H.] Ebd., S. 50.

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Wichtig waren allein die Wanderungen mit dem geliebten Großvater, den ich Opsi nannte, die Nähe zu ihm, die Erzählungen von seinen Kinderjahren in Tüffer, von den Bilchen, die unter dem Dach ihr lärmendes Unwesen trieben wie kleine, pelzige Kobolde, vom Pflockschlagen und anderen mir unbekannten Spielen, von den riesigen Huchen, die er aus der Sann gezogen hatte, dem Fluß, an dem Tüffer liegt.659

In diesem Zusammenhang werden Orte erinnert, die in der Kindheit der Spurensuchenden als nicht alltäglich empfunden wurden, die eine Gegenwelt zum üblichen Tagesablauf gebildet haben. Die Erzählfigur von Dagmar Leupold erinnert sich an die Aufenthalte bei ihrer Großmutter in Gerabronn, wo keine Abläufe, keine Ordnung und Strenge, wie sie zu Hause herrschten, zu spüren waren. Die Kindheitsorte charakterisiert das Gefühl von Freiheit und Wärme, nach denen sich jeder der Spurensucher in seiner Kindheit sehnt. Die Naturnähe bildet dabei eine vertraute Umgebung, die insbesondere in Erinnerungen der Erzählfigur von Dagmar Leupold immer wieder präsent ist. Sie ermöglicht das Eintauchen in die Sinneswelt, die durch das Geheimnisvolle und ihre Reinheit für die Erzählfigur zum Sakralen emporsteigt: Das Kind möchte ihr Verbündeter sein, es hätte die Lahn gern für sich allein. In den Büchern, die das Kind liest, leben viele an Flüssen: sammeln Kieselsteine, bauen Flöße, angeln. Sind also befreundet mit den Flüssen, auf du und du. Für das Kind ist die Lahn eher eine Kirche, eine düstere, tröstliche Umschließung, mit vielen, noch abzulauschenden Geschichten und vielen, die für alle Zeiten ungeteilt bleiben würden.660

In den Kindheitserinnerungen wird vor allem in Gerüchen, Farben und mit dem Geschmackssinn erinnert: der dunkelgrüne Geruch des Flusses, der Geruch von Waffenöl in der Jagdhütte des Großvaters, der Klang des exotischen Dialekts des Großonkels aus der Untersteiermark, sowie das Geschmackerlebnis eines Schokoriegels aus der Nachkriegszeit oder der Süßwaren aus der Lieblingskonditorei der Erzählfigur Pollack: An die Amstettner Marzipankartoffeln, in Kakaopulver gewälzte Kugeln, außen eine Schicht Marzipan, mit Einkerbungen, um sie wie echte Bratkartoffeln aussehen zu lassen, dann Biskuit, im Inneren eine fette dunkle Creme, denke ich heute noch nostalgisch. Großmutter, die mich nach Strich und Faden verwöhnte, schickte dem geliebten Enkel die Marzipankartoffeln sogar ins Internat.661

659 Pollack, S. 15 f. 660 Leupold, S. 35. 661 Pollack, S. 88.

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Das Vergessen Das Erinnern steht zum Vergessen in einer unzertrennlichen und komplementären Beziehung. Ohne das Vergessen gäbe es kein Erinnern, ohne Erinnern wäre das Vergessen nicht möglich. Sie sind wie zwei Seiten einer Medaille. Während das Erinnern sich in gewissem Sinne beeinflussen bzw. kontrollieren lässt, erweist sich das Vergessen als viel willkürlicher und souveräner. Ohne den Bezug auf den sozialen Rahmen und die Gegenwart geraten Erinnerungen in Vergessenheit (sie sind genauso subjektiv wie die Wahrnehmung, die durch die Aufmerksamkeit gesteuert wird).662 Demzufolge wird im Text von Dagmar Leupold zwischen dem passiven und aktiven Vergessen unterschieden: Unter Umständen waren dem Kind auch Fotos der brennenden Hindenburg bekannt. Oder ich, die ich die Bilder kenne, schreibe den Schreck darüber nun dem Kind zu. Denn das Kind hat das meiste vergessen, vielmehr : Es ist unter dem Erinnern hindurchgeschlüpft wie unter einem Zaun, der den Zugang zum angrenzenden Fremden verwehrt. Denn Erinnern gilt zunächst nur dem, was bereits da ist, im Vergessen dagegen eignet man sich das Ausgesperrte an, noch sprachlos. Die erste Entmachtung. (Erst später kann man sich mit Geschichten wehren, nach dem Ich. Das dauert.) Nur im Vergessen lässt sich die Zumutung des »so ist es«, das Diktat der Tatsachen, löschen. Das Kind hat eine Vorstellung von sich, indem es vergisst. Solch ein Vergessen ist aktiv, nicht passiv, es stößt nicht zu, sondern wird betrieben. Was bleibt, sind die Signaturen des Vergessens, nichts Diskursives, nur Zeichen und Beschwörung. So wie der Zeppelin an jenem fernen Samstag- oder Sonntagherbstmorgen, den der Nebel gerade freigegeben hatte. Eine Art Satzzeichen am Himmel, das sich erst Jahrzehnte später in einen Satz würde einfügen lassen.663

Die vorliegende Analyse von Vätertexten lässt zwischen dem passiven Vergessen bzw. dem (Keine)-Erinnerungen-Haben und dem aktiven Vergessen bzw. SichNicht-Erinnern-Können/Wollen differenzieren. Während bei den aktiven Varianten das sich erinnernde Selbst das Vergessen als eine Tätigkeit begreift, auf die es teilweise Einfluss ausüben kann, ist passives Vergessen eher ein Befund über die Gedächtnisleere. Erinnerungen an bestimmte Ereignisse oder Personen, wie beispielsweise den Vater, sind einfach nicht (mehr) vorhanden, da sie im Rahmen des passiven Prozesses des Vergessens geschwunden sind. Der Text von Dagmar Leupold schreibt dem Vergessen eine viel stärkere Verbundenheit »mit der eigenen Haut« als dem Erinnern zu: »Das Erinnern findet seine Gegenstände, seine Umstände vor, das Vergessen wählt aus, was es nicht mehr Geschichten anvertraut, sondern nur noch einem internen Stoffwechsel. Es wehrt sich gegen das Vorgefundene aus Not.«664 Viel häufiger wird in der Vater-Spuren662 Vgl. Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 674 ff. 663 Leupold, S. 37 f. [Hervorhebung: D.L.] 664 Ebd., S. 26.

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Suche das Vergessen als eine mehr oder weniger bewusste Handlung präsentiert, die durch das sich erinnernde Selbst manipuliert werden kann. Das Sich-NichtErinnern-Können oder -Wollen wird dem Subjekt selbst überlassen. Es entscheidet, ob es den Erinnerungsvorgang zulässt oder nicht, indem es die Erinnerungen mit anderen zudeckt665 und somit in das Unbewusste verdrängt oder sie bewusst abblockt, wie es im Falle seiner Gesprächspartnerin die Erzählfigur von Hans Weiss feststellt: »Vielleicht täuschte ich mich, aber es wirkte nicht so, als könnte sie sich nicht erinnern. Ihre Antwort war zu glatt, und sie war zu schnell gekommen. Wahrscheinlich wollte sie sich nicht erinnern; nicht vor mir, nicht für mich.«666 Zum Selbstschutz beschließt auch die Erzählfigur von Ute Scheub, sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr an ihren Vater erinnern zu wollen: Und irgendwann hörte ich auf, mich an ihn erinnern zu wollen. Schon vor seinem Tod versuchte ich, wann immer es mir möglich war, seine Existenz zu vergessen, und erst recht danach. Der Vater, das war ein ferner Mann im Nebel. Im Unsichtbaren. Ein Mann wie ein Phantomschmerz. Ein Fremder, den ich nicht gekannt haben wollte. Die Erinnerungen an ihn in Worte zu kleiden, das ist, als ob ich Traumbilder auf scharfe Fotos bannen wollte – sie zerrinnen.667

Der trügerische Charakter des Erinnerns Der Erinnerungsprozess hat zwar einerseits subjektiven Charakter, ist aber andererseits suggestionsanfällig und wird von den Erinnerungen des Umfelds beeinflusst. Aus diesen zwei Konstituenten resultiert der trügerische Charakter des Erinnerns. Allein die Subjektivität schränkt die Wahrhaftigkeit der Erinnerungsaussage ein. Dasselbe Ereignis, derselbe Ausschnitt der Wirklichkeit, kann von zwei Personen anders erinnert oder nur von einer der beiden als erinnerungswürdig beibehalten werden. Dies stellen die Erzählfiguren von Monika Jetter und Ruth Rehmann fest, die ihre Erinnerungen an den Vater mit denen ihrer Geschwister vergleichen. Jedes von ihnen hält andere Aspekte im autobiographischen Gedächtnis fest, weil für jedes andere Züge des Vaters von Wert sind. Ihre Subjektivität wird vor allem in der narrativen Sinnstiftung deutlich, beispielsweise bei der Leerstellenbewältigung und der plausiblen Organisation der Erinnerungen in ein Beziehungsschema. Der flexible Charakter der Erinnerung widerspiegelt sich laut Kotre insbesondere in der Kreativität des Gedächtnisvorgangs: »Erinnerungen können für die Gegenwart relevant ge665 Vgl. »Vielleicht hatte auch Else ihn deshalb zugedeckt mit ihrer Erinnerung an die ganz frühe Kindheit.« Bruhns, S. 7. 666 Weiss, S. 72. 667 Scheub, S. 27 f.

Das Gedächtnis

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staltet werden, weil sie Freiräume aufweisen. Ein Bedeutungszusammenhang kann ausgelöscht und dafür ein anderer eingesetzt werden.«668 Im Falle von Gedächtnislücken arbeitet den Erinnerungen von Erzählfiguren die Phantasie zu, indem das Vergessene oder Unklare durch Wunschbilder ergänzt wird. Es wird von der eigenen Person auf ein Erinnerungsbild projiziert, das sich anschließend als mächtiger als die Wahrheit erweisen kann. Aufgrund dieses Mechanismus stellt der Erzähler von Martin Pollack seine projektionsverdächtigen Erinnerungen in Frage. Der Erinnerungsprozess ist weitgehend von der Gefühlslage des Erinnernden abhängig. Er wird von Emotionen gesteuert, die objektive Wirklichkeitseinschätzung und Augenmerk beeinträchtigen. Sie beeinflussen die Wertung, indem sie jeweiligen Erinnerungen Bedeutung zuweisen und ihre Richtigkeit beweisen. Auf diese Weise können bestimmte Daten (Quellen, der Zeitpunkt und andere mehr oder wenige statische Elemente) verloren gehen oder irrtümlich verwechselt werden, obwohl man den Zusammenhang korrekt rekonstruieren kann. Dabei findet die Erzählfigur von Härtling die überprüfbaren Daten und Fakten einschränkend für das freie Gedächtnis: »Ich will das Kindergedächtnis in meinem Kopf nicht festlegen. Ich will mich mit Daten nicht gegen die Verstörung wehren, gegen die durcheinandergeratene Zeit, die nur in Bildern genau ist.«669 Trotz des phantasienahen und emotionalen Charakters der Erinnerung, akzeptiert sie zu Gunsten ihrer Expressivität sowie Intensität, die Gedächtnis-Trügereien. Durch die Affektivität wird das Erinnerte durch Über- oder Untertreibungen sowie Verschärfungen entstellt. Die Erinnerungsverzerrungen entstehen insbesondere, wenn die Spurensuchenden von der Gegenwart auf die Vergangenheit zu schließen versuchen. Das Vergangene wird durch eine voreingenommene Erklärung plausibilisierend an die gegenwärtige Situation angepasst und die Ausgangsposition als Resultat auf die Vergangenheit zurückgeführt. Markowitsch und Welzer erklären diesen Vorgang, indem sie sich auf Bartlett berufen: Bartletts Befunde verweisen nicht nur darauf, daß die Wahrnehmung, die Einspeicherung und der Abruf von Erinnerungen kulturellen Schemata folgt, sondern zugleich darauf, daß Erinnerung in hohem Maße konstruktiv ist, indem sie den jeweiligen selbstbezogenen und kulturellen Sinnbedürfnissen der sich erinnernden Personen folgt. In einer Reihe neuerer Studien ist nachgewiesen worden, wie unterschiedliche Informationen über das Ende erzählter Geschichten die Nacherzählungen beeinflussen […] – die Reproduktionen werden in Richtung auf das jeweilige Ende hin »verzerrt«.670

668 Kotre, S. 245. 669 Härtling, S. 36. 670 Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis, S. 31. Ferner : Barlett, F. C.: Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology. London 1997 [1932].

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Eine andere Verzerrungsgefahr bildet ein Erinnerungsprozess, der quasi erzwungen wird. Ohne Druck soll der Erinnerungsvorgang viel freier und wahrheitsnäher verlaufen. Es wird dann eher panoramisch erinnert. Dies zeigt das Beispiel der Erzählfigur von Dagmar Leupold, die sich sehr genau an die Hände ihres Vaters erinnert, aber »[sie] kann doch nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Finger fehlten.«671 Im Augenblick, in dem sie in dem Bild Nuancen ausfindig zu machen versucht, wird es verschwommener und es entstehen Projektionen. Die Erzwingung von Einzelheiten kann zu sogenannten falschen Erinnerungen führen, wobei Wolfgang Hell unterstreicht, dass ungenaue oder andere Detailangaben, u. a. »durch die Lebendigkeit der Schilderung« nicht immer als Verfälschung empfunden werden müssen: »Eine emotionale Voreingenommenheit in eine Richtung, wiederholtes Abfragen, Suggestionen und vieles andere kann eine falsche Erinnerung auslösen, die für die Betroffenen so real wie eine richtige Erinnerung ist.«672 In den analysierten Texten liegt jeder Erinnerungsbildung die Interaktion im sozialen Rahmen zugrunde. Sie erfolgt, Jan Assmann zufolge, »im Prozeß alltäglicher Gegenseitigkeit und unter Verwendung gemeinsamer Bezugsrahmen.«673 Daher erscheint die Grenze zwischen eigenen und fremden Erinnerungen fließend, »weil jeder Mensch auch Erinnerungen andrer mit sich trägt.«674 Aus diesem Grunde stellt die Suggestionskraft der Erinnerungen bzw. Erzählungen der anderen auf das eigene Gedächtnis einen bedeutsamen Faktor dar, der die autobiographische Erinnerung stärker oder schwächer werden lässt. Die eigene Erinnerung kann durch eine andere Erinnerungsversion bejaht, unterstützt aber auch angezweifelt oder sogar ersetzt werden. Die Erzählfigur von Ruth Rehmann ist sich der Gedächtnistäuschung bewusst und benötigt die Anderen, um sich ihrer Erinnerungen zu vergewissern: Der Lehrer ist gestorben. Die Todesanzeige kam, als ich im Begriff war, noch einmal nach Auel zu fahren, um unser Gespräch zu beenden. Nun bin ich allein mit dieser Arbeit. Keiner überprüft die Bilder, die das überreizte Gedächtnis ausstößt. Eingesperrt in dem mit Vergangenem überfüllten Arbeitszimmer, zwischen Stößen von Manuskripten, Haufen zerknüllter Blätter, versuche ich vergeblich, meinen Gegenstand zur Betrachtung zu isolieren, Abstand zu nehmen. Die Arche ist immer noch dicht. Ihre Bilder folgen mir bis in den Traum.675 671 Leupold, S. 158. 672 Hell, Wolfgang: Gedächtnistäuschungen. Fehlleistungen des Erinnerns im Experiment und im Alltag. In: Fischer, E.P. (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. München 1998, S. 274. Zitiert nach: Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis, S. 32. 673 Assmann, Jan: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne, S. 346. 674 Ebd. 675 Rehmann, S. 208.

Das Lichtbild

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Übernahme und Aneignung fremder Erinnerungen in das eigene autobiographische Gedächtnis finden in der Regel unbewusst statt und werden in der Gedächtnisforschung als »Kryptomnesie« bezeichnet, die Kotre folgendermaßen erläutert: Dank des Phänomens der Kryptomnesie ist es möglich, daß ein Bild, welches der eigenen Erinnerung durch ein Foto, einen Film oder die Worte eines anderen eingepflanzt wurde, einer eigenen unmittelbaren Erfahrung entsprungen scheint. Auch läßt die Art und Weise, wie eine Erinnerung aussieht oder sich anfühlt, keinen Rückschluß darauf zu, ob sie kryptisch eingepflanzt wurde oder nicht. Falsche Erinnerungen sehen genauso aus und fühlen sich genauso an wie echte.676

Suggestibilität kann laut Welzer und Markowitsch zur »Generierung von lebensgeschichtlichen Erinnerungen führen, die keine Entsprechung in der faktischen Lebensgeschichte haben.«677 Dabei kann das erinnernde Ich selbst nicht feststellen ob oder welche fremden Erinnerungen es in eigene Geschichte importiert hat. So ist sich auch die Erzählfigur von Sigfrid Gauch seiner Erinnerung nicht sicher : »Meine Mutter hatte mir so oft über unsere Flucht von Gmünd nach Otten erzählt, daß ich nicht mehr wusste, ob ich mich an diese Flucht oder die stets wiederholte Erzählung darüber erinnerte.«678 Die Schwierigkeit zwischen der individuellen und der kollektiven Erinnerung, d. h. zwischen den selbsterlebten und von anderen vermittelten Ereignissen zu unterscheiden, wird in der Vater-Spuren-Suche zur Diskussion gestellt. Gezielt abgerufene Erinnerungen, Wiederholung von »unzutreffenden Informationen, die vielleicht bei dem Versuch, Lücken in bruchstückhaften Engrammen zu füllen, in unsere Erinnerungen eingesickert sind,« können zu »unabsichtlich irreführende[n] – wenn auch tiefverwurzelte[n] – Überzeugungen bezüglich der Vergangenheit« führen.679

Das Lichtbild Eine weitere Spuren-Quelle in den untersuchten Spurensuchen bildet das Medium des Lichtbildes. Die Geschichte der Photographie als (Erinnerungs-)Medium, das »Authentizität suggeriert« und »Erinnerung auch demokratisiert« fängt Ende des 19. Jahrhunderts an.680 Sie war lange in der (historischen) Forschung wegen ihres uneingeschränkten Deutungspotentials als Quelle nicht 676 677 678 679 680

Kotre, S. 52. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis, S. 30. Gauch (1979), S. 34. Schacter, S. 187. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 127.

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anerkannt. Dies hat sich aber seit den 1990er Jahren stark verändert. Zwar kann sie weiterhin in der Forschung wegen ihrer spezifischen medialen Beschaffenheit mit anderen Medien nicht konkurrieren, gilt aber als eine wesentliche Bereicherung für das Quellenmaterial. Ihre Stärke in der Visualisierung der Vergangenheit macht sie auch für die besprochenen Vatersuchen zu einem relevanten Medium. Ihre veranschaulichende Funktion ist im Rahmen der VaterSpuren-Suche sowie für das Thema Nationalsozialismus nicht zu unterschätzen. Die Fotografie als Medium der ikonischen Spur erfüllt dabei außerdem eine speichernde und konservierende Archivfunktion, die für die Geschichtswissenschaft von Relevanz ist. Sie vermittelt direkt und detailliert Informationen über vergangene Zeiten und Gesellschaften. Zwar bietet sie nur einen BildAusschnitt von damals, doch immerhin einen authentischen Überrest des realen Lebens in visualisierter Gestalt, das so nie wiedergelebt wird. Diese Tatsache macht sie bedeutend für die Forschung und umso wertvoller für die persönliche (Familien-)Geschichte. Die Augenblicke der vergangenen Zeit, des belanglosen Alltags, die dank der Fotografie festgehalten werden, erweisen sich in den Vätertexten erst im Nachhinein als kostbar für die nächste Generation. Denn das im Bild Festgehaltene erfährt seine Wertschätzung erst aus der ex post Perspektive. Die vergangene Zeit revidiert das Verhältnis zur Vergangenheit, indem sie durch die Gegenwart perspektiviert, gedeutet und aktualisiert wird. Dabei hat dieser Vorgang subjektiven Charakter, allein aus dem Grunde, dass der jeweilige Spurensuchende dem Bild die Spuren entnimmt, die für ihn wesentlich sind. Daher bietet es einen extraordinären, sehr breiten Interpretations- und Wirkungsspielraum. Im Rahmen des (Familien-)Gedächtnisses fungiert die Fotografie nicht nur als Stabilisator, der weitgehend zur Selbstbestätigung bzw. Identitätsbildung beiträgt, sondern wirkt laut Siegmund Kracauer ebenfalls als stimulierender Faktor : »Photographien sind allenfalls hypomnesis, Stützen einer Erinnerung. Als ein optisches Zeichen leisten sie Vermittlerdienste, doch können sie eine Erinnerung, wo diese fehlt, niemals herstellen. Im Gegensatz dazu ist das letzte Gedächtnisbild reine mneme«.681 Das Medium fördert die Aktivierung von anderen Medien (wie Gedächtnis und Text), die zusammen einen Kontext für das scheinbar Episodische produzieren. In diesem Zusammenhang wird die Fotografie in den analysierten Texten zum Stimulans, das die Vatersuche immer wieder auf persönlicher und wissenschaftlicher Ebene ankurbelt. Auf der persönlichen Ebene fördert das Medium die Erinnerungsarbeit bezüglich des Vaters sowohl bei dem Spurensuchenden selbst als auch bei anderen Personen, die den Vater gekannt haben. Dagegen wird die Fotografie für die Erzählfiguren, die an ihren Vater keine Erinnerungen haben (können) besonders relevant. Sie stellt z. B. den Vater als Kind dar, gibt das authentische Aussehen des Vaters wieder 681 Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main 1963, S. 24.

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und eröffnet dadurch Spielraum für Spekulationen über die Charakterzüge des Vaters und verleitet zu Ähnlichkeitsvergleichen. Die Erzählfiguren von Martin Pollack und Uwe Timm schenken während der Vater-Spuren-Suche Bildern genaue Aufmerksamkeit. Der Erzähler bei Uwe Timm studiert die zivile Kleidung des Vaters, den Hang zur Uniform des Bruders. Er betrachtet detailliert den Blick und die Gesichtszüge der Familienmitglieder und erschließt aus ihnen jeweilige Emotionen. Aus den Fotografien leitet er die Relationen zwischen ihnen her, verfolgt an den Schnappschüssen das Soldatenleben des Vaters mit den Kameraden: »Es war ein Leben, das wohl viele der Achtzehn-, Neunzehnjährigen führen wollten: Abenteuer, Kameradschaft, frische Luft, Schnaps und Frauen, vor allem keine geregelte Arbeit – das spricht aus den Fotos.«682 Die Fotografie liefert in der Recherche bedeutendes Spurenmaterial für den weiteren Suchverlauf, vor allem – laut Manfred Treml – wenn die Details beachtet werden, die für die »Formgebung der Fotografie« maßgebend sind: Aufnahmezeitpunkt, Standort, Perspektive und Entfernung, Art des Aufnahmeinstruments, des Objektivs, der Einstellungen am Apparat, Techniken der Ausarbeitung beim Prozeß der Entwicklung und Vergrößerung und schließlich auch Eingriffe wie Retusche und Montage. Zu berücksichtigen sind auch die Formen der Verwendung und Präsentation: Ob ein Foto für das Privatalbum, die Polizeikartei, die Massenpresse oder ein Propagandaplakat angefertigt wurde, ist für die Interpretation seiner Bildaussage von erheblicher Relevanz.683

Somit bietet die Fotografie Informationen zu Aussehen und Persönlichkeit des Vaters, zu seinem Bekanntenkreis, seinen Aufenthaltsorten, seinen Tätigkeiten und Aufgaben bzw. Funktionen während der Zeit des Nationalsozialismus. Ferner wird das Bild in manchen Fällen zum Dokument der nationalsozialistischen Verbrechen des Vaters, die durch Visualisierung eine umso einprägsamere affektive Kraft entfalten und die Verbrechen im wörtlichen Sinne vor Augen führen. So bemerkt die Erzählfigur von Pollack: »zum ersten Mal sah ich Opfer meines Vaters und der von ihm befehligten Männer vor mir, bekamen sie Gesichter, verzerrte und schöne.«684 Für die Erzählerin Beate Niemann schaffen die Bilder der Verbrechen ihres Vaters ein wichtiges Beweismaterial, wodurch sie mit dem »kaum Vorstellbaren«685 direkt und eindeutig konfrontiert wird: Zwei Bilder aus dem Lager Banjice: Menschen, die vor dem Lagerzaun warten, um Angehörigen Pakete zu übergeben, Bilder der Exhumierung der Ermordeten nach 682 Timm, S. 23. 683 Treml, Manfred: »Schreckensbilder« – Überlegungen zur Historischen Bildkunde. Die Präsentation von Bildern an Gedächtnisorten des Terrors. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Heft 48/1997, S. 290. 684 Pollack, S. 223. 685 Niemann, S. 84.

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1945, Schädel und Knochen in Stapeln aufgereiht, acht Personen kurz vor der Erschießung, sie rennen in Richtung der Grube, in der sie gleich tot liegen werden. Es berührt mich zutiefst, Menschen zu sehen, die aussichtslos um ihr Leben rennen, das Sekunden später zu Ende sein wird. Fotos des Erschießungsplatzes Avala nach Ende des Krieges aus verschiedenen Perspektiven. Die Fotos werden mir schnell über den Tisch zugeschoben, ich kämpfe mit mir, ob ich überhaupt hinsehen will. Aber dafür bin ich ja gekommen, um mit meinen Augen zu sehen.686

Aufgrund des hohen Erkenntniswertes des Mediums plädiert Manfred Treml für die Anerkennung des Bildes als einer wichtigen Quelle für die historische Forschung: Die Historiker sollten Bilder als eigenständige Quellen von hohem Erkenntniswert endlich in ihr Repertoire aufnehmen, als Zeichen freilich mit einer eigenen Bildsprache, eigenen Codes und spezifischer Wirkung, die der Quellenkritik unterliegen und nicht nach Belieben verwendet werden können.687

Das Medium Fotografie bewegt sich, Ruggiero Romano zufolge, auf der Grenze zwischen Monument (aus dem lateinischen memini = erinnern), das an bestimmte Ereignisse und Personen erinnert und Dokument im Sinne von Unterweisung (aus dem lateinischen docere = unterrichten).688 Ihr Wesen ist von Doppelschichtigkeit geprägt. In ihrer Oberflächenstruktur vermittelt sie nahezu impressionistisch Zeichen und Spuren der Vergangenheit, hinter welchen sich ein bestimmtes Ereignis verbirgt. Was bleibt ist eine aus dem Ganzen herausgerissene Momentaufnahme – ein Punkt eines Kontinuums, das ohne seinen Kontext nur als weiterer Puzzlestein im Suchbild erscheint. Deshalb besteht hinsichtlich des Mediums und seiner Spuren ein hoher Erklärungsbedarf, der in der Vater-Spuren-Suche ohne Spekulationen, Hypothesen und Vermutungen nicht gedeckt werden kann, denn: »der Reichtum der Photographie ist tatsächlich alles das, was nicht in ihr enthalten ist, was […] vielmehr in sie hineinprojizier[t] oder mit ihr [verbunden wird].«689 Die Tiefenstruktur bleibt weitgehend der jeweiligen Deutung überlassen, die stark relativierend wirkt, da das Medium in doppelter Hinsicht einen hohen Subjektivitätsgrad besitzt: Subjektiv wird die Wahl des zu fotografierenden Ausschnittes der Wirklichkeit getroffen und subjektiv wird diese Wirklichkeitsaufnahme gedeutet. Dabei werden diese Tätigkeiten von zwei verschiedenen Subjekten und in je anderem Zeitrahmen durchgeführt, was zu unterschiedlichen Kontextualisierungen führt. Der Vater, der im Mittelpunkt des Deutungsprozesses steht, fungiert in dieser Konstellation nur als Objekt. Eine andere Auslegung der Fotografie be686 687 688 689

Ebd. Treml, S. 280. Vgl. ebd., S. 289. Morin, Edgar : Der Mensch und das Kino, Stuttgart 1958, S. 28.

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zieht sich auf Situationen, in denen der Vater selbst Autor der Aufnahmen – das Subjekt ist. An den von ihm ausgewählten und für ihn bedeutenden Wirklichkeitsausschnitten lässt sich unmittelbar die Art und Weise seiner Wirklichkeitsbetrachtung ablesen. Ferner besitzen Amateuraufnahmen keinen so hohen Stilisierungsgrad wie professionelle Bildaufzeichnungen des Fotografen. Zusätzlich birgt die Subjektivität die Gefahr einer emotionalisierten Deutung, die – im Sinne von Treml – wiederum weitere Deformierung der Wirklichkeit verursachen kann: »Da Bilder subjektiv aufgenommen werden, bevorzugt auf Emotionen und Affekte wirken und ihre Wahrnehmung vom Vorwissen abhängig ist, kann die »Einbildungskraft« höchst bedenklich Phantasiegebilde produzieren.«690 Sowohl eine beliebige als auch eine unkritische bzw. unreflektierte Interpretation der Fotoaufnahmen kann bewusst oder unbewusst eine Wahrheitsfälschung bewirken. Darüber hinaus bietet das Medium Material, das ein starkes Stilisierungspotenzial besitzt und damit ein hohes Manipulationsrisiko im Verlauf seiner Rezeption birgt. Dies kann die Erzählfigur von Martin Pollack beobachten, als sie die Reisefotos des Vaters analysiert und auf Widersprüche stößt: Alle Bilder von der Reise zeigen touristische Motive, tiefverschleierte Frauen in Sarajevo, Straßenbilder, Gebäude, Marktszenen. Hat er Fotografien mit anderen, militärisch wichtigeren Motiven bei irgendeiner Stelle abgeliefert? Möglicherweise hat er sich auch mit Agenten getroffen, in Gottschee/Kocˇevje, in Tüffer/Lasˇko und in Zagreb. Es gab genug Angehörige der deutschen Minderheit in Jugoslawien, die das Deutsche Reich herbeisehnten. Der Zweck der Reise war wohl, auf diese oder jene Weise Informationen zu beschaffen, die helfen sollten, einen Angriff auf Jugoslawien vorzubereiten, der am 6. April 1941 tatsächlich erfolgte.691

Filmaufnahme Nur selten wird in der Vater-Spuren-Suche die Filmaufnahme als Quelle von Spuren herangezogen. Dieses Medium wird nur von den Erzählfiguren bei Wibke Bruhns und Kurt Meyer erwähnt. Dabei werden Filmaufnahmen in der Wissenschaft viel häufiger als Dokumente anerkannt, da sie im Gegensatz zur stummen und statischen Fotografie dynamisch wirken. Der Erzähler Kurt Meyer entdeckt in der Video-Aufzeichnung eine ganz andere Facette seines Vaters als die, die er aus den Erinnerungen und Fotos kannte: In einer ganz anderen Hinsicht als erwartet war die Video-Aufzeichnung für mich von Bedeutung. Plötzlich waren Filmaufnahmen von dir aus der Zeit des Prozesses zu 690 Treml, S. 291. 691 Pollack, S. 130.

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sehen. Für mich warst du in der Erinnerung immer ein »General,« jetzt sah ich, daß du auch ein junger Mann gewesen bist. Du warst 36 Jahre alt, mehr als zehn Jahre jünger, als ich es heute bin. Ich sah Aufnahmen aus dem Gerichtssaal, von der Verkündung des Todesurteils. Dein Gesicht den Richtern zugewandt, ohne äußere Bewegung. Bisher hatte ich über diesen Augenblick nur gelesen, es gab Fotos und Zeitungsausschnitte. Plötzlich war alles auf eine ganz andere Weise noch einmal lebendig.692

Im Allgemeinen wird das Medium der Visualisierung in der Vater-SpurenSuche, ganz im Sinne von Manfred Schneider, zum Beweisstück »der Suche nach der verlorenen Zeit im Prozeß dieser Unmöglichkeiten.«693

Der Text Ein weiteres Spuren-Medium in der Vatersuche stellt der Text dar, der sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Form realisiert wird. Für Corinna Dehne bildet das Medium den »Ort der Aufbewahrung,« der sich damit »nicht nur zwischen den traditionellen literarischen Vergangenheitsregistern Geschichtserzählung und Auto/Biographie [begreift], sondern gleichermaßen in Konkurrenz zu anderen Gedächtnisorten; sei es zu medialen Orten wie der Fotografie, sei es zu den traditionellen Orten eines materialisierten Gedächtnisses wie dem Kriegerdenkmal.«694 Beide Formen des Textes fungieren als zentrale Medien des kommunikativen sowie kulturellen Gedächtnisses, indem sie zwischen dem Individuum und dem Kollektiv, zwischen dem individuellen und dem kollektiven Gedächtnis vermitteln. Daher bilden sie ein Medium, das persönliche Erinnerungen durch »Repräsentation« und »Distribution« zu »kollektiver Relevanz« führen können.695 Analog dazu erlangt »das Individuum nur über Kommunikation und Medienrezeption Zugang zu soziokulturellen Wissensordnungen und Schemata.«696 Im Sinne von Sybille Krämer verkörpern der Text bzw. die Sprache gerade aufgrund ihrer vermittelnden Funktion, das »Archimedium,« da sie das »Gravitationszentrum« der »Mittelbarken unseres Weltbezugs« bildet und »der symbolischen Ordnung der Diskursivität verpflichtet ist.«697 Beide Textformen: das Schriftliche und Mündliche, dienen der Kommunikation, Speicherung sowie der Vermittlung von Informationen bzw. 692 Meyer, Kurt, S. 248. 693 Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München 1986, S. 42. 694 Dehne, S. 9. 695 Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, S. 251. 696 Ebd. 697 Vgl. Krämer, Sybille: Das Medium zwischen Zeichen und Spur. In: Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Epping-Jäger, Cornelia: Spuren Lektüren. Praktiken des Symbolischen. Festschrift für Ludwig Jäger zum 60. Geburtstag. München 2005, S. 153.

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Spuren, jedoch tun sie das auf verschiedene Art und Weise. Während das Mündliche einen direkten Kommunikationsakt voraussetzt (Ausnahme bilden hier zusätzliche künstliche bzw. nicht organische Datenträger – z.B. Tonaufnahmen698 – die das Mündliche unterstützten), überwindet das Schriftliche durch seine Mittelbarkeit Raum und Zeit. Sowohl das Mündliche als auch das Schriftliche unterliegen der Zirkulation im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses. Der Inhalt, die sogenannte »Message« wird überliefert, tradiert und immer wieder aktualisiert. Der mündliche Aktualisierungsverlauf bekommt jedoch, nach dem kommunikativen »actio-reactio Prinzip,« allein durch die direkte Interaktion mit dem natürlichen Gesprächspartner, einen viel dynamischeren Charakter. Zwar wird im Falle der schriftlichen Realisierung der Inhalt genauso aktualisiert, jedes Mal wenn er abgerufen, analysiert, ausgelegt und vermittelt wird, doch im Vergleich mit der mündlichen Aktualisierung, ist die schriftliche Realisierung eher statisch, wobei auch sie zur Entstehung eines Dialogs führt. Die auf den ersten Blick überschaubare und strukturierte Gestalt sowie dauerhafte Fixierung des Schriftlichen wirkt einschränkend im Hinblick auf die potenziellen Wiedergabemöglichkeiten, bietet aber wiederum einen Variierungsspielraum auf der Interpretationsebene. Trotzdem scheint für den Vater der Erzählerin bei Ute Scheub das Medium der Schrift die einzige Möglichkeit zu sein, die ihm sein Mitteilungsbedürfnis auszuleben erlaubt und ihm zugleich auch Schutz und Kontrolle bieten würde: »Er wollte reden, um nicht zu platzen. Sobald er, getrennt von seiner Schreibmaschine, frei reden sollte, fing er an zu stammeln. In ihm war zu viel gebunkert, das nicht über die Lippen durfte. Beim Schreiben konnte er die verbotenen Gedanken und Gefühle kontrollieren, beim Reden nicht.«699 Beide Textrepräsentationen bilden Medien von doppelschichtigem Charakter : In der Tiefenstruktur fungieren sie als Träger von Inhalten und Informationen und in der Oberflächenstruktur von Spurensystemen, die in unterschiedlichen Erscheinungs- bzw. Darstellungsformen zum Ausdruck kommen. Dabei werden zu den schriftlichen Spuren genauso graphische Zeichen und Leerstellen gezählt, wie zu den mündlichen phonetische ArtikulationsSpuren (z. B. Ton, Intonation, Akzentuierung, Pausen etc.) und Körpersprache zugerechnet. Die die mündliche Umsetzung begleitenden Erscheinungen wie Gestik, Mimik und vieldeutende Pausen bilden den dynamischen Charakter des mündlichen Austauschs, der u. a. Nachfragen und ein spontanes Feedback erlaubt. Dadurch bekommt der Informationsgehalt zusätzlich eine emotionalisierte, spontane Dimension, obwohl Eingriffsmöglichkeiten und Missbrauchs698 In den Gedächtniskonzepten gelten sie als externe, künstliche Gedächtnisse. Leroi-Gourhan nennt sie »externalisierte Gedächtnisse.« Siehe dazu: Assmann, Jan: Kulturelles Gedächtnis, S. 22 (Anmerkungen). Ferner : Leroi-Gourhan, Andr¦: Le geste et la parole II. La m¦moire et les rhythmes. Paris 1965, S. 64. 699 Scheub, S. 182 f.

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versuche sich sowohl im mündlichen als auch im schriftlichen Medium nicht vermeiden lassen. Im Realisierungsverlauf können im Sinne von Ricœur sowohl falsche Aussagen produziert als auch Stilisierungs- und Modifizierungsversuche und manipulierende Fiktionalisierung unternommen werden: »Man kann immer auch anders erzählen, indem man wegläßt, indem man die Bedeutungsakzente verschiebt, indem man zugleich mit den Konturen der Handlung die Protagonisten der Handlung unterschiedlich refiguriert.«700 Die Eingriffe können vom Autor selbst oder von außen durchgeführt werden und manifestieren sich in (Selbst-)Zensur, Ergänzungen, Präzisierungen oder Umschreibungen, Entfernungen von Seiten in der schriftlichen Umsetzung und den sogenannte »Entgleisungen«701 des Autors. Die scheinbaren Belanglosigkeiten, die im Text von dem Spurenleger unbewusst hinterlassen werden, haben einen Spurenwert: Sie bringen das nur schwer Greifbare, seine Individualität zur Geltung.702

Das Schriftliche Der ewige Konkurrenzkampf zwischen Schrift und Bild geht bis in die Zeit der Renaissance zurück. Sowohl Jaques Derrida als auch Corina Dehne sprechen der Schrift als Medium den Vorrang gegenüber dem Sprechen oder dem Bilddokument zu. Derrida tut dies, indem er die Schrift bis auf »die heiligen Schriften«703 zurückführt und somit die Dauerhaftigkeit ihrer Überlieferung hervorhebt und Dehne, indem sie bei der Schrift auf ihren »privilegierten Zugang zu den Menschen«704 gegenüber anderen Medien verweist: »So ist es in der Regel die Schrift, welche durch ihren Mehrwert an Subjektivität Wesentliches auszudrücken und einen emotionalen Bezug von Schreibendem und Lesendem zu etablieren imstande ist.«705 In diesem Kontext wird der Schrift auch in »Wahrheit und Methode« der Vorrang gegeben. Gadamer begreift ihren reinen Geist äußerst transzendental und erhebt ihre Deutung schlechthin zu einem Wunder, da sie – so wie Literatur in ihrer Fremdheit Verständnis fordert. Dieses äußert sich in der Unsterblichkeit und der Allgegenwärtigkeit der schriftlichen Überlieferung. Ihr Rätsel zu entziffern, bedeutet die reine Gegenwart der Vergangenheit zu bezeugen und zu 700 Ricœur, Paul: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 684. 701 Vgl. Lorenz, Chris: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Köln 1997, S. 166. 702 Vgl. Levy, Ze’ve: Die Rolle der Spur in der Philosophie von Emmanuel Levinas und Jaques Derrida. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot, S. 146. 703 Siehe dazu: ebd., S. 145. 704 Dehne, S. 226. 705 Ebd.

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vollbringen. Es ist die Wiederauferstehung der »toten Sinnspur,« welche »ins Fremdeste entäußerte Verständlichkeit des Geistes« verkörpert.706 Vom »unsterblichen« Charakter der Schrift spricht ebenfalls Aleida Assmann. Im ewigen Kampf gegen die Zeit erweist sich die Schrift als ein würdiger Gegenspieler gegen das Verwischen, Tilgen, Vergessen, indem sie dagegen mit dem Sammeln, Hüten, Weitergeben ankämpft. In diesem Duell übernimmt die Schrift die Rolle eines materiellen Chronisten. »Die in Schriftrolle und Buch materialisierten Datenträger tragen zwar im einzelnen die Spuren der Zeit, bewahren aber insgesamt das Menschheitsgedächtnis vollständig und unvergänglich auf.«707 Tagebücher Zu den schriftlichen Quellen der Vaterspuren gehören vor allem Ego-Dokumente des Vaters sowie seine literarischen Versuche bzw. Werke. Die Komplexität von Ego-Dokumenten wird hier im Sinne von Winfried Schulze begriffen: Sie schließen alle Quellen ein, die »über die Art und Weise informieren, in der ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig – also etwa in einem Brief oder in einem autobiographischen Text – oder durch andere Umstände [z.B. Zeugenbefragung, Steuererhebung, Visitation, Untertanenbefragung, gerichtliche Aussagen zur Person, gerichtliches Verhör] bedingt geschieht.«708 Die vom Vater nachgelassnen Kriegstagebücher und (Feldpost-) Briefe repräsentieren persönliche zeitgeschichtliche Dokumente, die den Zweiten Weltkrieg und das Kriegsgeschehen aus der Perspektive von unten zeigen. Aus ihnen spricht laut der Erzählfigur von Timm das Leben des Tagebuchführers, d. h. seine festgeschriebene Erinnerung. Im Vordergrund der väterlichen Ego-Dokumente steht das Zeitgeschehen, während dem Persönlichen ein kleiner Raum eingeräumt wird. Neben Kriegserlebnissen, die häufig abenteuerlich und anekdotisch dargestellt werden, thematisieren die Väter die Grausamkeiten des Krieges, denen sie als Soldaten stets ausgeliefert waren. Davon zeugen die Tagebuchauszüge aus Hans Weiss’ Text: »27. Juni 1942. Mein bester Kamerad, Ludwig Düringer, wurde gestern von einer Granate getötet. Er war Krankenträger und glaubte, bei dieser Beschäftigung sicherer zu sein.«709 Die schriftliche Zeugenschaft erwächst aus der permanenten Bedrohung des Ich, das sich der Bedeutung des Augenblicks sowie seiner Teilnahme am geschichtlichen Geschehen bewusst ist. In den Einträgen der Väter werden unmittelbare Erfah706 Vgl. Gadamer, S. 156 f. 707 Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung, S. 17. 708 Schulze, Winfried: Ego-Dokumente. Annährung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«. In: Schulze, Winfried (Hrsg.): EgoDokumente. Annährung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996, S. 9. 709 Weiss, S. 101.

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rungen und Beobachtungen dokumentarisch festgehalten sowie zeitliche und topographische Angaben gemacht. Die Notizen beschreiben im Detail die Kämpfe direkt an der Front sowie in der Etappe und schildern das alltägliche Leben eines einfachen Soldaten. Es werden einzelne Reisestationen, Lazarettaufenthalte und durchgemachte Krankheiten sowie das Soldaten-Menü, Freizeitbeschäftigungen und Frauenbegegnungen, aufgelistet. Der Vater der Erzählfigur von Hans Weiss zieht das Resümee seiner Tätigkeiten in den ersten Dezemberwochen des Jahres 1941 in Momentaufnahmen: »Bilanz der letzten Woche: Auf und nieder! Kriechen! Schreiben! … Musikprobe (bei der Veterinärkompanie)! Schnaps! Tee! Rum! Von Lena träumen!«710 Die Aktivitäten während des Heimaturlaubs werden ebenfalls im Tagebuch niedergeschrieben. Die Versäumnisse in der Arbeit werden nachgeholt, familiäre Pflichten erfüllt und Verwandte besucht. Die kurzen Aufenthalte veranschaulichen einen Nachholbedarf vor allem an zwischenmenschlichen Kontakten. Die Einträge im Text von Weiss schildern, wie der Heimaturlaub kurz, aber in vollen Zügen genossen wurde: »Anschließend habe ich drei Gasthäuser besucht und bin schließlich bei H. gelandet. Sie war allein. Amour : Ich wollte, und sie wollte. Abends Kirchenbesuch, anschließend in den Gasthof ›Ochsen‹ – Sauferei bis zwei Uhr früh.«711 Jedes der Tagebücher, das aufgrund der Beschreibung von militärischen Handlungen, eine standarisierte Gestalt annimmt, erhält durch bestimmte Markenzeichen seinen individuellen Charakter. Die Einträge spiegeln durch die Ich-Reflexion die jeweilige Persönlichkeit des Tagebuchautors wider. Die kleinen zusätzlichen Elemente, die die Tagebuchschreiber in ihr Tagebuch einfügen, bringen eine persönliche Komponente ein, die sie von anderen Tagebüchern unterscheiden lässt. Im Tagebuch des Vaters der Erzählfigur von Gauch sind es beispielsweise die von ihm selbstverfassten Kriegsgedichte, die Spuren des Ich in tödlicher Bedrohung tragen: Stille – und aus aller Richtung dringt der Feind, aus Grabengrüften, hinter Panzern, aus den Lüften, und mit allen Mitteln der Vernichtung sendet er Weh und Todeskrampf: Grabenkampf.712

Die Notizen des Vaters in Leupolds Roman enthalten mathematische Berechnungen und Skizzen, die auf die Mathematik-Leidenschaft des Autors hinweisen. Im Tagebuch des Bruders in Timms Text finden sich von diesem skizzierte Zeichnungen, die mehr von seiner Gedankenwelt preisgeben als die Einträge selbst. Zusätzlich entdeckt die Erzählfigur von Timm im Tagebuch abgezeichnete Spuren des Körpers ihres Bruders: »wie dunkle Wolken haben sich schwarz 710 Ebd., S. 45. 711 Ebd., S. 63. 712 Gauch (1979), S. 14.

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die Finger auf dem Papier abgedrückt, derart, daß die 40 H kaum lesbar sind.«713 Durch den Fingerabdruck erhält sein Nachlass eine Art persönliche Weihe. Dies sind aber die einzigen Spuren, die unabsichtlich ein Stück des Persönlichen des Bruders enthüllen, sonst bleiben seine Einträge trocken und militärisch korrekt. Während der Vater des Erzählers bei Weiss regelmäßig alles das notiert, was um ihn herum passiert und ihm wichtig erscheint: »Tote, Schüsse, Verstümmelte, Angst, Küsse, Liebessehnen, Amour, Sternenhimmel, Nordlicht, Speisen,«714 beschränken sich die Einträge des Bruders in Timms Text nur auf militärische Handlungen. Die Erzählfigur von Uwe Timm vermisst darin Äußerungen, die hinter dem Soldaten auch einen Menschen aufscheinen lassen würden: »So geht es Tag für Tag weiter. Der Hintergrund der lakonischen Eintragungen läßt sich fast nie aufhellen, ihn, den Bruder, nicht sichtbar werden, seine Ängste, Freude, das, was ihn bewegt hat, Schmerzen, nicht einmal Körperliches wird angesprochen, er klagt nicht, registriert nur.«715 Dem Tagebuch fehlt es an emotionaler Färbung, Selbstreflexionen, Wunschäußerungen des Bruders, an »ausdrückliche[n] Tötungsrechtfertigungen,«716 persönlicher Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Ideologie. Es vermittelt nur den »normale[n] Blick auf den Kriegsalltag.«717 Das moralisch-historische Bewusstsein wird ebenfalls in den Aufzeichnungen der Väter anderer Erzählfiguren vermisst. Das Tagebuch in Leupolds Werk stellt zwar eine Selbststudie des Vaters dar, die einen Einblick in seine inneren Vorgänge und die Spuren der Wandlung seines Selbst darlegt, doch auch hier fehlt die Selbstdistanzierung und kritische Auseinandersetzung mit seiner individuellen Verstrickung. Seine Selbstbesinnung ist auf Überlegungen und Zukunftspläne seines Egos eingeengt: Meine »Zwiegespräche mit Goebbels« möchte ich die Gedanken nennen, die von mir wohl jeden Abend hier im Laz. Besitz ergreifen. Ob ich einmal die Courage aufbringen werde Goebbels zu schreiben? Vielleicht kommt ein Anlass! Oh ich sehne mich nach der Führung über Menschen. So lange ich gewöhnlicher Muschkote bin, werde ich kaum zufrieden sein.718

Auf dem Weg der Selbstrealisierung markiert das Diarium einen biographischen Bruch. Die Erfahrung einer unerwarteten körperlichen Beschädigung führt zum Wendepunkt in seinen Denkstrukturen: Der »heilige Reiter« mit Machtansprüchen wandelt sich in einen »gestürzte[n] und verletzte[n], der die Zügel

713 714 715 716 717 718

Timm, S. 145. Weiss, S. 13. Timm, S. 145. Ebd., S. 95. Ebd. [Hervorhebung: U.T.] Leupold, S. 120.

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abgegeben hat.«719 Dies bedeutet einen Einbruch in seiner emporsteigenden Laufbahn: Es gibt auch keine Mutmaßungen mehr zu den Gründen strategischer Entscheidungen, keine Schlachtpläne mehr. Es hat den eigenen Körper getroffen, mit gewaltiger Willkür. Das war nicht vorgesehen in den Selbstentwürfen des Jungdeutschen, des begabten Studenten, des erfolgreichen Bildungsadministrators. Von der Mathematik sagt man eigentlich, sie sei rein, möglicherweise hofft er damals noch, daß diese Reinheit ansteckt – und was die Fiktionen des eigenen Ich betrifft, so sind diese in der Literatur nicht nur genuin zu Hause, sondern auch gut beleumundet. In der Literatur gibt es ewige Kinder und den Trost des Allegorischen – auch in der Enttäuschung.720

Sein Selbstdialog wird zu einem Gemisch von Selbstfindungsversuchen und literarischer Kreation, in der es aber immer noch an der kritischen Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen mangelt. Seine Identitätsbeschwörung dient der Sicherheitsgewinnung, doch ohne Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Kontexts in seiner ganzen Dimension. Er scheint in Mäandern der Fiktion haften geblieben zu sein: Das Tagebuch ist dem Stempel gar nicht so unähnlich; auch hier ist eine Selbstbeschwörung am Werk, R.L. spaltet sich in Verfasser und Leser, und der Selbstentwurf des Verfassers R.L., die von ihm gewählte Stilisierung schmeicheln dem Leser R.L. in – hoffentlich nur – vorläufiger Stellvertretung kommender Leser. Das Tagebuch ist der Nebenschauplatz der Eitelkeit, da sein Verfasser von den Hauptschauplätzen – Front und Generalgouvernement – abgeschnitten ist. Ein Dokument der Besinnung, der kritischen Auseinandersetzung oder schließlich der Vergegenwärtigung des Geschehens in ihm und um ihn herum ist es nicht.721

Zusätzlich verbergen die Tagebücher die Spuren der herrschenden Umstände, unter denen die Väter schreiben. Allein die lakonische, flüchtige und verschlüsselte Notizart, spiegelt die instabile Situation der Verfasser wider. Nur Aufenthalte im Lazarett oder in der Gefangenschaft bieten den Tagebuchschreibern einen größeren Spielraum, um mit ihrem Tagebuch-Selbst allein zu sein. Die Einträge werden dann ausführlicher, mit einem Hang zur Selbstreflexion und Heimweh geführt. Das Diarium wird zum Merkbuch der Gedankenwelt und sorgt für Zuversicht, indem es einen Überblick über die Vergangenheit und Zukunft schafft: Er zog sich in seine Baracke zurück und machte Notizen. Er hatte nichts, er wollte etwas haben. Das Gedächtnis bohrte sich in die Vergangenheit und holte abhandenes Leben in diesen Tag. Er memorierte sich selbst durch alle Phasen und fand ein gespenstisches Schema für seine Notierung: er kreierte die Liste. Was 719 Ebd., S. 157. 720 Ebd., S. 149. 721 Ebd., S. 134.

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Hoffnung, Heimat und Liebe gewesen war, Enttäuschung, Atem, Offenheit, Maelstrom und Traum, verschwand, notiert als Namen, auf seiner Liste. Er hatte Zeit und manchmal auch Papier. Papier und Zeit und Gegenwart für die Liste.722

Die Abkürzungen und Codierungen, die in einigen Aufzeichnungen vorhanden sind, können auf »Mitschriften aus der Funkzentrale«723 hinweisen, die wegen eines generellen Verbots des Tagebuchführens unter den Soldaten verschlüsselt werden müssen. Daher ist der lakonische Stil auch als Selbstzensur zu begreifen, die zur Beeinträchtigung der Aufrichtigkeit des Autors führen kann. Auf ähnliche Art und Weise wird die Authentizität eines Diariums fraglich, das mit dem Gedanken daran, ein späteres Vermächtnis darzustellen oder veröffentlicht zu werden, verfasst wird. Das Problem schreibt sich aber in die Gattung des Tagebuchs ein, da es im Rahmen des Selbst-Dialogs einen Gesprächspartner voraussetzt. Małgorzata Czermin´ska zieht den aus dem Poesie-Bereich entliehenen Begriff »soliloquium«724 von Michał Głowin´ski heran, der vor Augen führt, dass dem Tagebuchautor beim Schreiben immer die Vorstellung von der potenziellen künftigen Leserschaft vorschwebt und diese somit den Grad der Ehrlichkeit beeinflusst.

Briefe Die Briefe der Väter, unter denen die Feldpostbriefe den größten Teil ausmachen, berichten, ähnlich wie die Tagebücher, hauptsächlich über das Kriegsgeschehen. Sie bieten eine unmittelbare Wahrnehmung des Krieges durch einen Augenzeugen, der das Geschehen für seine Nächsten beschreibt. Der Inhalt und die Rhetorik der Briefe vom Bruder der Erzählfigur Timm wechseln je nach Adressat. Die »Dosierung vom Kampfbericht«725 wird an die Familienmitglieder angepasst: Dem Vater als einem erfahrenen Kameraden beschreibt er die Kriegshandlungen detailliert, mit allen ihren Grausamkeiten, der Mutter wiederum sparsam und sie schonend sowie an den kleinen Bruder heiter und abenteuerlich. Zusammen sprengen die Briefe das eindimensionale Bild des Bruders. Die Briefe vermitteln eine Insider-Perspektive, die ständig durch das Aktuelle angeregt wird. Es wird vom Standpunkt einer Person im historischen Zeitgeschehen aus berichtet, die ihre Briefpartner an der Heimatfront über das Kriegsgeschehen aufklärt und dadurch mit ihnen Solidarität und Verbindung 722 Meckel, S. 101. 723 Ebd., S. 154. 724 Vgl. Głowin´ski, Michał: Wirtualny odbiorca w strukturze utworu poetyckiego. Zitiert nach: Czermin´ska, Małgorzata: Autobiograficzny Trûjka˛t. Krakûw 2002, S. 285 f. 725 Timm, S. 95.

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schafft. Die Sicht von unten wird an einigen Stellen durch das Bewusstsein der Zensur eingeschränkt. In diesem Zusammenhang zeichnen sich die Feldpostbriefe durch eine gewisse Standarisierung aus. Die Berichte werden der offiziellen propagandistischen Perspektive angepasst, welche in Henischs Text die Briefe des Vaters verdeutlichen. In Briefen an »seine Roserl« bemerkt er nebenbei seine Schweigepflicht und Loyalität gegenüber dem Militär. Der unbedingte Glaube an den Führer, den Hoffnungsträger, wird immer wieder beteuert: »Doch wo immer wir sind – ich bin jetzt Soldat, Roserl, und tue meine Pflicht. Auch wenn mir der Abschied von Dir unendlich schwer geworden ist, auch wenn ich gestern Nachmittag beinah hab weinen müssen – der Führer wird schon wissen, was er tut.«726 Nationalsozialistische Parolen sowie Beteuerungen von Einsatz- und Gefolgschaftsbereitschaft bilden einen festen Bestandteil der überlieferten Kriegspost. Es ist nicht nur der Briefinhalt selbst, der Vaterspuren in sich trägt. Der Text von Leupold weist darauf hin, dass auch die Briefumschläge Spuren zum Zeitgeschehen liefern können. Die immer wider wechselnde Anschrift des Vaters stellt eine geschichtliche Spur der deutschen Besatzung Polens und der Umdeutschung dar : Die Straßennamen der Bielitzer, Kattowitzer und Tarnower Adressen, wo er, meist nur kurze Zeit, wohnt, wandeln sich: von Robotnicza 4 (1927 – 1936), zu Waisenhausstr. 15 (1936 – 1940), Kohlenstr. 10/11 (ab 1940), schließlich Ursulinenstr. 11a/I in Tarnow. Deutlich ist bei der letzten Tarnower Adresse zu sehen, daß der ursprüngliche Straßenname gelöscht wurde und der neue in einer anderen Schrifttype eingefügt wurde.727

Die Korrespondenz des Vaters der Erzählfigur von Sigfrid Gauch, die in Form einer Briefsammlung eines »Geistigen Besuchsbuches«728 von dem Sohn geerbt wird, erscheint wiederum wie ein »Geschichtsbuch aus einer anderen Zeit,«729 da sich unter den Absendern die wichtigsten Akteure des Nationalsozialismus, unter anderem: Rudolf Heß (Führerstellvertreter), Heinrich Himmler (Reichsführer SS und Reichsinnenminister), Oswald Pohl (SS- Obergruppenführer und General der Waffen-SS), Karl Wolff (General der Waffen-SS), Martin Bormann (Parteiminister), Julius Streicher (Gauleiter von Franken), Richard Walter Darr¦ (Reichsbauernführer und Reichsernährungsminister), Will Vesper (Schriftsteller), etc. befinden. Mehrere Namen, von Rassenforschern und Schriftstellern aus den NS-Kreisen, findet die Erzählfigur Sigfrid Gauch auch in der Nachkriegszeit unter den Angestellten an Universitäten oder unter den Autoren auf dem Bü726 727 728 729

Henisch (1980), S. 71. Leupold, S. 121. [Kursiv : D.L.] Gauch (1979), S. 56 f. Ebd., S. 57.

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chermarkt wieder.730 Die Korrespondenz wird zur Spur einer mangelnden ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ im Nachkriegsdeutschland. Ähnlich wie der Briefwechsel des Vaters in Scheubs Text, der die inflationäre gegenseitige Ausstellung von Leumundsbezeugungen, den sogenannten Persilscheinen, enthüllt. Die Briefe sind entgegen den Erwartungen der Spurensuchenden wie in den meisten Fällen auch der gesamte Nachlass der Väter frei von Schuldbekenntnis oder kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen Engagement im Nationalsozialismus. Die fehlende historische Sensibilität des Vaters von Kurt Meyer kommt in seinen Briefen aus der zehnjährigen Gefangenschaft, in seinen Reden sowie Memoiren zum Ausdruck. Sie zeigen weiterhin keine Aufnahmebereitschaft für kritische Impulse: Denkstrukturen, Begriffe und das, was man als innere Einstellung bezeichnen kann, sind sich gleichgeblieben bis in die Vokabeln hinein, die auch dem Naivsten nach dem Krieg nur noch schwer über die Lippen gegangen sein dürften: »Vorsehung«, »Windhunde«, »schnell wie der Blitz«, »ausrotten«. Auf keiner Seite werden die politisch und militärisch Verantwortlichen des Krieges auch nur andeutungsweise benannt.731

Der Briefkontakt dient dem Vater grundsätzlich zur pädagogischen Einflussnahme auf die Entwicklung der Kinder. Mittels des schriftlichen Mediums versucht er den Kindern seine Weltanschauung, zu der Kontrolle, Disziplin, Ehre, Pflicht, Wahrheit und Haltung gehören, aus der Ferne zu vermitteln. In den Briefen findet der Erzähler keine Spur von »Korrektur der Auffassungen,«732 stattdessen Anweisungen an die Mutter zur Erziehung der Kinder im nationalsozialistischen Tatgeist: Züchtige sie, belehre sie, gib den Trabanten den Grund, der zur Züchtigung geführt hat, und damit basta. Wenn irgend möglich, versuche ohne Prügel auszukommen. Appelliere an ihr Ehrgefühl, an ihre Liebe, Anstand. Ihre Selbstvorwürfe müssen die härtesten Wirkungen hinterlassen.733

Die Briefe spielen jahrelang die Rolle eines Wegweisers. Sie übernehmen sozusagen die Erziehungsfunktion und lassen die Erzählfigur von Meyer trotz Abwesenheit des Vaters mit dem nationalsozialistischen Vokabular aufwachsen. In Briefen zeigt sich der Vater stets als in ihrem Leben präsent: Deine Briefe haben für mich als Identitätsangebot jahrelang Bestand gehabt. Sie schufen eine Verbindung zu dir, jedoch lange Zeit nur, weil sie nicht konkret werden, weil sich hinter den subjektiv ehrlich gemeinten Grundsätzen, Forderungen und Zu730 731 732 733

Vgl. ebd., S. 57 – 62. Meyer, Kurt, S. 27. Ebd., S. 30. Ebd., S. 32.

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kunftsbeschreibungen eine Welt der Gefühle und Stimmungen verbirgt, die sich der Wirklichkeit nicht stellt. Du machst sie dir gefügig, formst deine eigene Wirklichkeit.734

Eine ganz andere Funktion erfüllen die letzten Briefe der Väter. Im Text von Henisch ist das die letzte Notiz, die der Vater an seinen Sohn verfasst ohne dabei zu ahnen, dass es die letzte ist. Die Erzählfigur bei Martin Pollack kennt nur den einzigen und letzten Brief von ihrem Vater, den er speziell für seinen Sohn – der noch nicht lesen konnte – in Blockbuchstaben verfasste, mit eigenen Buntstiftzeichnungen schmückte, dazu eine selbstgemalte Bildgeschichte zufügte: »zur Erinnerung an den liebenden Vater.«735 Die Tochter im Text von Ute Scheub findet im Abschiedsbrief ihres Vaters die Gründe seines Selbstmordes. Die spezifische Ausdrucksweise widerspiegelt seinen verwirrten Gedankengang: Lieber Vater, liebe Geschwister, Ich weiß was ich tue und verantworte Dem Staat ist nicht zu helfen ohne Erneuerung von innen Die Kirche, so wie sie ist, ist nicht dazu fähig, obwohl sie es sollte Nachdem mir persönliche Befriedigung versagt ist, bleibt mir nichts anderes übrig als das Überpersönliche, als da etwas zu erreichen Wie könnte man das anders, als durch einen Einsatz der freiwillig ist und auch freiwillig aussieht, und das geht jetzt noch am besten. Ich will beweisen, wie es einem heute geht, wenn man seinem Inneren folgt, und zeigen, wie es sein müsste, wenn Christentum und Menschlichkeit echt wären. Einander richtig antworten, doch Wort und Tat in die Antwort sich selber hineingeben, mit Haut und Haar mit Sex und Seele Das ist mein Rezept.736

Der unerwartet gefundene Abschiedsbrief konfrontiert sie, nach Jahren der Verdrängung, wieder mit der Person des Vaters. Durch den Brief und die zeitliche Perspektive entdeckt sie neue Züge, die sie früher am Vater nicht bemerkt hat. Der Brief, der die Unfähigkeit des Vaters sich zu artikulieren deutlich macht, wird für sie zum Indiz seiner Lebens-Unbeholfenheit und des Sich-Unverstanden-Fühlens, die sie auf ihren Ursprung zurückverfolgt. Der letzte Brief wird zur Anfangsspur ihrer Vatersuche.

734 Ebd., S. 37. 735 Pollack, S. 208. 736 Scheub, S. 12.

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Das literarische Schaffen des Vaters Eine zusätzliche Spurenquelle bildet das fiktionale Schreiben. Im Text von Ute Scheub handelt es sich einerseits um das Werk von Günter Grass »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«737 (Grass hatte den Vater als Prototypen des Protagonisten seines Buches verwendet) und andererseits um die literarischen Produkte des Vaters selbst, z. B. Lyrik, Erzählungen, philosophisch-theoretische Abhandlungen, Märchen. Diese Gattungen sind ebenfalls im literarischen Schaffen der anderen Väter vorzufinden und werden in den Texten der VaterSpuren-Suche nach den Prinzipien der objektiven Hermeneutik ausgelegt sowie im Hinblick auf den Verfasser gedeutet. Demzufolge tragen sie Züge eines Selbstporträts oder erlauben es, aus ihrem Inhalt das weltanschauliche Credo des Vaters herzuleiten. Doch wie die Tagebücher und Briefe weisen sie keine Spuren der väterlichen Bereitschaft auf, den Krieg sowie die eigene Verstrickung kritisch zu beurteilen. Auf dem Weg der Selbstfindung bleibt eine aufrichtige Selbstkritik aus. Christian Schneider erläutert diese Tendenz folgendermaßen: Für die Mehrzahl der Väter gilt der Wunsch, sich von der Last der Vergangenheit dadurch zu befreien, daß ihm ein »Ausdruck« verliehen werden kann. Das berühmte Schweigen bezeichnet die Notlage, keine adäquate Ausdrucksform für das Geschehen finden zu können. Entlastende Darstellung ist ein psychischer Reinigungsmodus, der mit einer »literarischen« Form koinzidiert. Insofern sind die väterlichen Erzählungen buchstäblich »Fallgeschichten«. Sie stehen allerdings nicht, wie es seinerzeit Freud mit Verblüffung bei seinen Krankengeschichten wahrnahm, unter dem Formprinzip der Novelle, sondern dem des Märchens.738

Der Vater der Spurensucherin bei Scheub beschäftigt sich in seinen zahlreichen Manuskripten, mit Begriffen, die für ihn von Relevanz sind. Er schreibt Abhandlungen über die Partnerschaft, den Gehorsam, die Pflicht, das Gewissen, die Kameradschaft und die Einsamkeit aus einer Wunschperspektive. Das schriftliche Medium wird für ihn zum Ersatzleben, in dem er selbst einer idealisierten Wahrnehmung unterliegt. Innere Konflikte trägt er auf dem Papier aus und setzt sich mit seinen Problemen auf theoretischer Ebene auseinander. Im Literarischen werden sowohl abstrakt-philosophische nostalgische Reisen in die Vergangenheit unternommen, beispielsweise indem Rudolf Leupold die Handlung seiner Erzählung in der Lieblingsstadt Lemberg platziert, als auch Zukunftsentwürfe skizziert und Pläne geschmiedet. Nur Bezüge auf die reale Gegenwart werden sogar im fiktionalen Schreiben, z. B. beim Rudolf Leupold, stets gemieden:

737 Grass, Günter : Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Reinbek b. Hamburg 1974. 738 Schneider, Christian/Stillke Cordelia/Leinweber, Bernd, S. 198 f. [Anmerkungen].

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Das ist am schwierigsten zu verstehen: daß für ihn im Schreiben nicht die Möglichkeit der Distanzierung, des Ausdrucks einer Verstörung und des Ringens um Verstehen lag, sondern daß es zunächst der Selbststilisierung, der koketten Reflexion im Spiegel der Schrift diente, und dann, als mit der eigenen Verwundung, der Länge des Krieges, der sich abzeichnenden Niederlage und der zunehmenden Verheerung deutscher Städte mit unzähligen zivilen Opfern eine derartige Umwertung nicht mehr durchführbar war, zum Ort des Schweigens wurde und der Ausflucht.739

Das Mündliche Das Mündliche tritt in der Vater-Spuren-Suche in Form von Erzählungen und Interviews bzw. Gesprächen mit Zeitzeugen auf. Somit bewegen sich die Erzählfiguren auf der Suche nach den Vaterspuren im Rahmen der Oral History und des kommunikativen Gedächtnisses, das ein Gedächtnis innerhalb einer Gesellschaft (das soziale Gedächtnis) bzw. einer Gemeinschaft mit denselben Bezugsrahmen und -elementen voraussetzt. In beiden Fällen wird aber das Erzählen an sich zur bedeutenden Informationsquelle zum Vater und seiner brisanten Zeit. Die Oral History auch als »mündliche Geschichte«740 geläufig ist eine Forschungstechnik in deren Rahmen, Zeitzeugen interviewt werden und das Material zu Forschungszwecken auf Tonband festgehalten wird. Lucian Hölscher schreibt ihr eine besondere Rolle in der Historiographie zu, da die Forschungstechnik die Erinnerungen wieder »in den Rang primärer Zeugnisse« erhoben hat »zunächst in der Form subsidiärer Quellen für vergangene Wirklichkeitsbereiche, für die keine oder nur unzureichende materielle Zeugnisse vorlagen; dann aber zunehmend auch als eigenständige, durch materielle Zeugnisse nur begrenzt ersetz- und relativierbare Quellen.«741 Für Lutz Niethammer macht diese Methode eine zusätzliche Wissensquelle aus, indem sie durch ihre Alltagsbezogenheit, Subjektivität und Perspektive von unten eine bedeutende Bereicherung für historische Quellen darstellt. Niethammer führt das historische Interesse an der Oral History vor allem auf die »Veränderung der Entscheidungsstrukturen und ihrer archivalischen Hinterlassenschaften in der modernen Gesellschaft«742 zurück:

739 Leupold, S. 152. 740 Niethammer, Lutz: Einführung, S. 8. 741 Hölscher, Lucian: Geschichte als »Erinnerungskultur«. Platt, Kristin/Dabag, Mihran (Hrsg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen 1995, S. 154. 742 Niethammer, Lutz: Einführung, S. 9.

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Insofern nämlich Entscheidungen zunehmend von gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen beeinflußt und durch wachsende Bürokratie vorbereitet und umgesetzt wurden, reduzierte sich die Bedeutung der öffentlichen Protagonisten (und damit der klassischen Memoirenschreiber) zugunsten breiterer Führungsschichten, deren durch Beteiligung gewonnenes, historisch interessantes Wissen sich nur noch in begrenztem Umfang in publizierten Erinnerungsquellen niederschlug. Zugleich erweiterte sich im Zuge dieser Verlagerung (und der Einführung von Schreib- und Kopiermaschinen) zwar das archivalische Aktengut nahezu unendlich, sein Inhalt nahm jedoch insofern kontinuierlich an Bedeutung für den an Motiven interessierten Historiker ab, als vermehrte mündliche Kommunikation (bei Zusammenkünften und besonders durch das Telefon) die Motivkonflikte der schriftlichen Dokumentation vorverlagerte und diese selbst zunehmend mit offiziellen, vorab abgestimmten oder nur der öffentlichen Legitimierung dienenden Begründungen anfüllte.743

Die Methode wird von mehreren Spurensuchern im Laufe ihrer Recherche angewandt und durch die Archivarbeit zusätzlich unterstützt. Sie befragen Zeitzeugen, d. h. Bekannte ihres Vaters, seine Nachbarn, Mitarbeiter oder Verwandte sowie Familienmitglieder. Die Erzählerin von Ute Scheub hält sogar das Gespräch mit ihrer Mutter auf Tonband fest und der Erzähler von Peter Henisch schafft es, mit seinem Vater noch kurz vor dessen Tod ein Interview durchzuführen. Generell werden diese Gespräche, im Gegensatz zu den Erzählungen die im Rahmen des Familiengedächtnisses angesprochen werden, zielorientiert und nach dem Tod des Vaters, d. h. im Laufe der Vater-Spuren-Suche geführt. Die innerhalb der Familie vermittelten und tradierten Erzählungen sowie Gespräche finden noch zu Lebzeit des Vaters statt und werden während der Suche nur noch wiedererinnert. Im großen Maße werden seine Erzählungen posthum zur Quelle vom Wissen um seine Kindheit sowie über seine Kriegshandlungen während des Zweiten Weltkriegs. Ausnahme bildet der Vater der Erzählerin von Ruth Rehmann, der gelegentlich seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg erwähnt. Durch die Gespräche mit den einzelnen Familienmitgliedern, die absichtlich separat geführt werden, erhofft sich die nachfolgende Generation, die Vaterfigur aus anderer Perspektive sehen zu können sowie mehr über seine Jugend und das Umfeld, in dem er aufgewachsen ist, zu erfahren. Sie besuchen die Eltern und Geschwister des Vaters, seine Freunde und ehemalige Liebschaften, seinen Geburtsort und seine Nachbarn. Die Konfrontation mit der Umgebung, die den Vater in seinen jüngsten Jahren geprägt hat, gibt ihnen ein Bild von den Verhältnissen zu Hause sowie Hinweise auf die Persönlichkeitsentwicklung des Vaters. Während des Gesprächs mit der Großmutter, bekommt beispielsweise der Erzähler von Peter Henisch eine Ahnung von den Denkstrukturen und der Kommunikation, die bei seinem Vater zu Hause vorherrschten: »So, jetzt wollen wir sehen, was wir hier in diesem Album finden, fix Teufel, wo habe ich denn 743 Ebd.

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schon wieder meine Brille! Ach hier ist sie ja, so, was schleppst du denn da für einen Folianten mit dir herum, Sigmund Freud, aber ich bitte dich, Peter, der war doch ein Jud!«744 Die Erzählerin von Ute Scheub besucht die Eltern ihres Vaters sowie eine Verwandte, die mit 80 Jahren immer noch in der NPD aktiv mitwirken soll. Beide Spurensuchenden können sich mit diesem Teil der Familie nicht identifizieren – sie kommen ihnen vor wie aus einer anderen Welt, in der aber die Wurzeln der Identitätsbildung des Vaters zu suchen sind. Die Interviews bzw. Gespräche mit Freunden der Familie und Zeitzeugen stellen eine bedeutende Ergänzung zu den spärlichen Informationen zur sozialen Rolle des Vaters dar. Die Bewertung und Betrachtung des Vaters durch Außenstehende steht oft im Widerspruch zum Insider-Blick der Familienmitglieder, was der Text von Sigfrid Gauch veranschaulicht: »Ein guter Arzt seist du gewesen, sagen die einen. Andere wissen, daß schon zehn Patienten im Flur auf Stühlen saßen, als du in der Nähe des Teufelsmoors deine Praxis hattest, bis man dich endlich dazu brachte, aufzustehen. Sollen sie warten, hättest du gesagt.«745 In der Regel wird der Vater von den Außenstehenden posthum positiv dargestellt oder sogar durch die Hervorhebung seiner guten Seiten aufgewertet. Es werden Heldentaten gerühmt, »bewundernswürdige Eigenschaften«746 unterstrichen sowie für die Einzigartigkeit des Vaters geschwärmt. Die Geschichten bzw. Antworten der Gesprächspartner werden auf die (angenommenen) Erwartungen des Interviewers zugeschnitten. Durch Ausrutscher oder spezifische Formulierungen werden jedoch Hinweise und Informationen preisgegeben, die auch ein anderes Gesicht des Vaters enthüllen. Die Erzählerin von Wibke Bruhns bekommt immer wieder von den Freunden des Vaters zu hören »wie witzig, wie intelligent, wie begabt dieser Mann gewesen sei – ›aber was hat er gelogen!‹«747 Die Verwandten des Erzählers von Gauch resümieren auf der Beerdigungsfeier : »Man kann sagen, was man will: der Mann hat einfach Profil.«748 Und eine flüchtige Bemerkung eines älteren Gemeindemitglieds über den Pfarrer Rehmann bedeutet für die Tochter den Anfang ihrer kritischen Spurensuche: Zum Abschied im Flur fiel ihr noch eine liebe Erinnerung ein. Sie hatte es noch vor Augen, als sei es gestern gewesen, wie der Herr Pfarrer neben seinem katholischen Kollegen und dem SA-Bürgermeister auf der mit Hakenkreuzfahne geschmückten Festtribüne stand und in beweglichen Worten dem Herrn der Geschichte für die glückliche Wendung dankte – ein Bild der Einheit von patriotischer Kirsche und christlichem Staat.749 744 745 746 747 748 749

Henisch (1980), S. 48. Gauch (1979), S. 131. Niemann, S. 134. Bruhns, S. 183. Gauch (1979), S. 125. Rehmann, S. 16.

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Es werden auch Fälle präsentiert, in denen die Gesprächspartner aneinander vorbeireden. Die Großmutter des Erzählers von Henisch konzentriert sich lieber auf die Gegenwart und ihren Interviewer, anstatt sich auf die Vergangenheit, zu der sie befragt wird, einzulassen. Sie weist ihren Enkel immer wieder zurecht und bezieht ihre Erzählung auf seine Person: »Aber du hörst mir ja gar nicht zu, obwohl das gerade dich angeht, denn du bist womöglich noch schlimmer, als er.«750 Ein anderes Beispiel bietet das Treffen des Spurensuchers von Hans Weiss mit der ehemaligen Liebe seines Vaters. Das Gespräch sieht aussichtslos aus, da es weder einen Austausch noch einen Kommunikationswillen seitens der Zeitzeugin gibt. Sie zeigt sich gegenüber den ihr gestellten Fragen taub und weicht den Fragen nach Johann Weiss immer wieder aus: »Ihre Antworten verwirrten mich. Zunächst begriff ich nicht, wen sie meinte, doch dann wurde mir klar, dass es um ihren Vater ging, nicht um meinen.«751 Ihrer Körpersprache entnimmt er, dass sie weder mit ihm sprechen möchte noch sich an seinen Vater erinnern will: »Noch einmal fragte ich nach Fotos von meinem Vater. Sie schüttelte den Kopf, als würde sie etwas Lästiges abschütteln, als wollte sie sagen, wie kommst du denn darauf ? Es gab keine Fotos, nie!«752 Die Art und Weise wie der jeweilige Gesprächspartner auf den Gesprächsstoff reagiert, mit voreiligen Antworten, verändertem Ton, Themen-Abschweifungen, unbegründeten Rechtfertigungsbzw. Entschuldigungsversuchen, verraten hier mehr als wohlüberlegte Antworten und bilden weiterführende Indizien für die Spurensucher.

»Conversational remembering« Neben der Oral History als Quelle des Mündlichen rücken die Erzählungen über den Vater, die im Rahmen der Familie tradiert werden, in den Mittelpunkt der Nachforschungen der Spurensucher. Die Familie bildet die kleinste und beständigste Gemeinschaft, in deren Rahmen die Vergangenheit gemeinschaftlich mündlich aktualisiert und tradiert wird. Dadurch aber, dass es weder erzwungen, gesteuert noch zielgebunden ist oder eine festgelegte Verlaufsstruktur hat, wird das konversationelle Erinnern nicht als bewusster Tradierungsakt wahrgenommen. Im Verlauf eines frei geführten Gesprächs werden absichtslos zu bestimmten Anlässen Inhalte gespeichert, die bei anderen Gelegenheiten wieder aufgegriffen oder durch bestimmte Reize in einer Interaktion entfesselt werden. Harald Welzer sieht den wichtigsten Aspekt des Familiengedächtnisses »in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden […], die in Beziehung zu 750 Henisch (1980), S. 38. 751 Weiss, S. 71. 752 Ebd., S. 73.

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den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen.«753 Angela Keppler situiert die Tradierung des Familiengedächtnisses zu Recht am Tisch. Ihre These findet Bestätigung in der Vater-Spuren-Suche. Es sind hauptsächlich alltäglich beim gemeinsamen Essen geführte Gespräche aus der Kindheit, derer sich die Erzählfiguren erinnern oder Konversationen mit Verwandten, die anlässlich einer Familienfeier schon in der Nachkriegszeit oder während der Zeit der Vater-Spuren-Suche stattfinden. In Leupolds Text wird der Tisch im Nachkriegsdeutschland zum alltäglichen Schauplatz des Krieges. Seit ihrer Kindheit verbindet die Erzählerin den Krieg gedanklich mit Tischgesprächen, da gerade am Tisch ihr Vater zu belehrenden Monologen und Kampfansagen gegen »den Schuldirektor, die Kollegen (außer Frau Meier und ein paar Auserwählten), gegen die Katholiken und die Christdemokraten«754 neigte. Bei Tisch wurde die Kluft zwischen denen, die den Krieg erlebt hatten und den anderen besonders deutlich. Hier vermischte sich die Vergangenheit mit der Gegenwart: Die Töchter schauten vorsichtshalber dem Vater nicht in die Augen, wenn er, noch kauend, von Idioten, Dilettanten und mathematischen Analphabeten schäumte, von Angriffen, Lazaretten, Schusswunden und Schlesien erzählte, sich selbst von Stichwort zu Stichwort trieb und bei geringsten Anzeichen von Ermüdung und Desinteresse bei seinen Zuhörern in einen gewaltigen Zorn ausbrach.755

Im Gegensatz zu den Monologen des Vaters variieren die offiziellen familiären Tischgespräche die Thematik und haben einen anekdotischen, unterhaltenden Charakter. Je nach Anlass der Zusammenkunft wird das Gespräch einer Person oder einem spezifischen Ereignis gewidmet, die jeweilige Geschichte unterschiedlich akzentuiert und aus mehreren Blickwinkeln geschildert. Die Erzählfigur von Sigfrid Gauch erinnert sich an die Beerdigungsfeier seines Vaters: An den Tischen sind lebhafte Gespräche im Gang. Man wechselt immer wieder die Plätze, geht von einem zum anderen. Überall werden Erinnerungen ausgetauscht. Viele Leute sehe ich zum ersten Mal: es sind Nachkommen der Geschwister von Vaters Eltern. Ab und zu ist auch von Vater die Rede.756

Im Zuge des Austauschprozesses, der am Tisch stattfindet, bildet sich eine kommunikative Erinnerungsgemeinschaft, deren Bezugpunkt die kollektiv wiederbelebten Erfahrungen sind. In Timms Text ist es die Bombardierung der Heimatstadt der Erzählfigur, welche die davon betroffen Gewesenen verbindet:

753 754 755 756

Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis, S. 163 f. Leupold, S. 43. Ebd., S. 44. Gauch (1979), S. 122.

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Die Frauen und Alten erzählten von den Bombennächten in der Heimat. Das Fürchterliche wurde damit in Details aufgelöst, wurde verständlich gemacht, domestiziert. Es löste sich meist beim gemütlichen Zusammensein in Anekdoten auf, und nur sehr selten, urplötzlich, brach das Entsetzen hervor.757

Das gemeinsame Gefühl von Schrecken, Angst und Schock wird durch das Wiederholen im Rahmen der Gemeinschaft durcharbeitet. Im Zuge der Jahre dauernden Montage durchläuft die Geschichte mehrere Etappen: vom Entsetzen, über das Begreifen(können), bis hin zu einem gewissen Unterhaltungsfaktor, wobei »das Erlebte langsam in seinen Sprachformeln verblasst: Hamburg in Schutt und Asche. Die Stadt ein Flammenmeer. Der Feuersturm.«758 Während im Falle von Kriegserzählungen und der Tradierung des Familiengedächtnisses die Erzähler als Kinder die passive Haltung eines Beobachters bzw. Zuhörers einnehmen und den Gesprächsstoff unbewusst aufnehmen, wandelt sich ihre Rolle mit dem Anfang der Vater-Spuren-Suche. Sie werden zu Initiatoren der Konversation. Als Interviewer führen und steuern sie bewusst die Gespräche und kommen damit der Forschungsmethode der Oral History nahe. Generell handelt es sich um kurze narrative Leitfadeninterviews mit Zeitzeugen (meist aus dem familiären Kreis), aus denen relevantes Erhebungsmaterial für die Rekonstruktion des Vaterbildes als Ergänzung zu anderen Spuren entnommen wird. Zusammen mit dem Familiengedächtnis bilden sie eine Informationsquelle zur Vergangenheit, die jedoch nicht die einzige ist. Sie steht in einer engen Beziehung zu anderen Spuren-Medien wie Institutionen, Bildungsstätten, Filmen und Büchern, die sie einerseits um eine private, subjektive Sichtweise bereichern und mit denen sie andererseits, im Falle der Inkompatibilität mit ihrer individuellen Perspektive, konkurrieren. Insbesondere bei historischen Themen wird diese Diskrepanz sichtbar, da das Familiengedächtnis laut Harald Welzer et al. eine emotionalisierte Referenzinstanz verkörpert: Metaphorisch gesprochen, existiert neben einem wissensbasierten »Lexikon« der nationalsozialistischen Vergangenheit ein weiteres, emotional bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit: eines, zu dem konkrete Personen – Eltern, Großeltern, Verwandte – ebenso gehören wie Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte. Dieses »Album« vom »Dritten Reich« ist mit Krieg und Heldentum, Leiden, Verzicht und Opferschaft, Faszination und Größenphantasien bebildert, und nicht, wie das »Lexikon,« mit Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung.759

757 Timm, S. 102. 758 Ebd., S. 41 f. [Hervorhebung: U.T.] 759 Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, S. 9 f.

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So schreibt der Erzähler von Martin Pollack der Schule eine rettende Funktion in der Entwicklung seiner Weltanschauung zu, da diese durch das Familiengedächtnis beeinträchtigt wurde: Der Schule habe ich es auch zu verdanken, daß ich früh gegen gewisse Einflüsse von Seiten meiner Familie immunisiert wurde. Immerhin verbrachte ich neun wesentliche Jahre die meiste Zeit nicht in Linz oder Amstetten, sondern in Felbertal. Unserer Lehrer waren sehr jung und haben uns etwas eingeimpft, was man mit großen Worten Toleranz und eine demokratische Haltung nennen könnte. Jedenfalls gab es keinen, der den Versuch gemacht hätte, an die Vergangenheit anzuknüpfen, die bei mir zu Hause (vor allem in Amstetten) hochgehalten wurde.760

Die Beziehung zwischen den Medien ist wechselseitig. Das Familiengedächtnis wird nämlich durch Importe aus anderen Quellen bewusst oder unbewusst ergänzt und aufgefüllt, indem es sich ihrer Bestandteile für den eigenen Erfahrungsbereich bedient oder sich durch sie inspirieren läßt. Durch den gemeinsamen Akt der kommunikativen Tradierung wird das WirGefühl der Familie als das einer Gemeinschaft konstituiert (dies gilt auch für andere Erinnerungsgemeinschaften, beispielsweise für die Generation). Es trägt einerseits positiv zur Herausbildung der gemeinsamen Identität bei, zum anderen birgt es auch eine gewisse Gefahr in sich. Die Erzählerin von Ruth Rehmann erinnert sich, wie sie manche Verhaltensweisen und Äußerungen als Kind von ihren Eltern unkritisch übernahm, um vor allem dem Vater zu gefallen und der Familie als Gruppe zugehören. Die Haltung der Familie gegenüber anderen Ereignissen und Personen hat sie sich, ohne sie zu hinterfragen, automatisch zu Eigen gemacht. Wie das Familiengedächtnis funktioniert entdeckt sie im Erwachsenenalter, als sie dem Lehrer begegnet, den sie zuvor immer mit den Augen ihrer Mutter betrachtet hat: »Sieht man ihm doch an, sagt die Mutter, das Fanatische, Radikale, das Rote! Düsterer Blick, scheu, hintenrum. Kann einem nicht frei in die Augen sehen. Kann einem nicht richtig die Hand geben.«761 Jahre später bei einer persönlichen Begegnung muß sie feststellen, daß »seine Augen nicht dunkel sind, wie [sie] immer gesagt haben, nicht düster, flackrig, verhohlen, sondern grau und still.«762 Die Identifikation mit der Familie und deren Werten hat sie unreflektiert an ihnen festhalten lassen. Das Familiengedächtnis unterlag jahrelang einer gewissen Montage und ist generationenübergreifend. Seine Tradierungsmacht umfasst sogar Familienmitglieder, die zum tradierten Geschehen keinen direkten Zugang haben, wie beispielsweise die Erzählerin von Wibke Bruhns: 760 Pollack, S. 172. 761 Rehmann, S. 17. 762 Ebd., S. 17 f.

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Ich war ja nicht dabei. Der letzte Familientag der »alten Zeit« fand statt 1938, da war Else mit mir schwanger. Aber diese Lieder, das ganze Repertoire der familiären BänkelBand, »Benno-Nachtigall & Sohn«, haben sich subkutan bei mir eingeschlichen. […] Ich kann diese Lieder alle auswendig, der Himmel mag wissen woher.763

Durch die Verschmelzung von gemeinsamen Erinnerungen werden außerdem spezifische Codes und Schlüsselwörter entwickelt, die nur für Eingeweihte zugänglich und verständlich sind. Die Wiederholung verursacht, dass bestimmte Verhaltensweisen, Erzählstrategien, Versionen von Geschichten sowie Redeweisen und sogar eigentümliche von Familienmitgliedern kreierte Bezeichnungen in das Familiengedächtnis eingehen. Dies fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl und markiert den Status der Insider. Im Falle der Familie Leupold sind es die »Jüdischen Witze« von Salcia Landmann, die pausenlos vom Vater erzählt werden und dadurch eine identitätsstiftende Funktion erfüllen. Eine Pointe, »Wird sich Ziege dran gewöhnen,« wird »sogar als Familiensprichwort eingemeindet.«764 Der Erzähler von Uwe Timm wird in seiner Kindheit durch das Vokabular der Kriegsteilnehmer, die das Haus oft besuchten, begleitet. Er wächst in einer Sprache der Verrohung und Verdrängung auf, in der Gefrierfleischorden, Hitlersäge, Heimatschuß765 zum Alltagsvokabular gehören. Ähnlich wird die Erzählerin von Ute Scheub in einer Umgebung groß, in der die LTI-Sprache immer noch präsent ist. Vokabular wie »bis zur Vergasung,« »Strafexpedition,« »Ausmerzung« und »Liquidierung« wird laut Scheubs Text im Nachkriegsdeutschland unbefangen weil unreflektiert im Alltag verwendet.766 Die Familiengeschichte ist Welzer zufolge »eine kunstvolle Montage, zu der im Laufe der Jahre immer etwas hinzugefügt und aus der etwas anderes entfernt wird. Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichte, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte.«767 Infolge des »conversational remembering« vollzieht sich der Identifikationsakt der Gruppe. Nach Maurice Halbwachs sind »diese Erinnerungen […] gleichzeitig Modelle, Beispiele und eine Art Lehrstücke,« in denen »sich die allgemeine Haltung der Gruppe ausdrückt; sie reproduzieren nicht nur ihre Vergangenheit, sondern sie definieren ihre Wesensart, ihre Eigenschaften und Schwächen.«768 Die Erinnerung ist in der Familie nicht einheitlich. Das erinnerte Thema bzw. der Gegenstand ist derselbe, aber die Art und Weise – wie er erinnert wird sieht 763 764 765 766 767 768

Bruhns, S. 140. Vgl. Leupold, S. 24. [Hervorhebung: D.L.] Timm, S. 100. [Hervorhebung: U.T.] Scheub, S. 177. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis, S. 166. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin/Neuwied 1985, S. 209 f.

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bei jedem Subjekt anders aus. Dies liegt an den unterschiedlichen Perspektiven, Interpretationen und Bewertungen, die zur Entstehung von mehreren Versionen einer Familiengeschichte im Rahmen derselben Gemeinschaft führen. Die unterschiedlichen Wahrnehmungen einer Geschichte resultieren häufig aus der Generationszugehörigkeit der Akteure und dem »unterschiedlichen historischen Kern.«769 Dabei spielt der Akt des Erzählens eine herausragende Rolle im Tradierungsprozess. Es wird nämlich zugleich erinnert, wiederholt sowie überliefert und somit die Kontinuität des Familiengedächtnisses bewahrt. Der Erzählvorgang muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die eine Tradierung erst möglich machen. Dazu zählen sowohl Nachvollziehbarkeit bzw. Plausibilität der vermittelten Geschichte als auch emotionales Engagement des Zuhörers. Laut der Autoren von »Opa war kein Nazi«770 müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen eine Identifikation mit dem Erzählstoff und seine Aneignung stattfinden können. Die Geschichte braucht »einen Anknüpfungspunkt an die eigene Lebenswirklichkeit und Vorstellungswelt des Zuhörers […], eine Erzählgestalt, die Raum für Einfügungen lässt, sowie eine Erzählsituation, die selbst Erlebnisqualität hat (was durch das intergenerationelle Gespräch per se gegeben ist).«771 Zusätzlich werden durch bestimmte Textstrategien, dem Zuhörer Anweisungen gegeben, wie die Geschichte verstanden bzw. gehört werden soll, z. B.: »›Das musst du dir so vorstellen;‹ ›Damals war ich ja noch;‹ ›Man denkt ja nicht so drüber nach;‹›Ich sage […] und er sagt;‹ usw.«772 Dadurch wird der Versuch unternommen, den Zuhörer in die Erzählung mit einzubeziehen, indem sich der Erzähler durch emotionalisierte Tönung an dessen Emotionen, Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen und das Wir-Gefühl richtet. Auch in den Kriegsdarstellungen von Walter Henisch lassen sich Hinweise darauf bemerken, dass der Zuhörer in die Kriegsdarstellungen einbezogen werden soll. In seinen Erzählungen baut er vor allem auf Empathie, indem er jeweilige Erzählpassagen mit »Du musst dir vorstellen«773 eröffnet, um daraufhin eine Situation detailliert und lebhaft zu beschreiben. Ähnliches soll erzielt werden, wenn er den Zuhörer auf manches im Voraus aufmerksam macht: »Und ich habe – ja, dieses Detail ist wichtig – also ich habe gepfiffen und gesungen.«774 Seine Strategie, leidenschaftlich mit euphorischen Ausbrüchen zu erzählen, soll mit Begeisterung anstecken:

769 770 771 772 773 774

Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, S. 73 f. Ebd. Ebd., S. 34 f. Ebd., S. 198. Henisch (1980), S. 42. Ebd., S. 86.

»Documents of Life«

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Und damals, sagt mein Vater, du meine Güte, was hat es damals alles zu fotografieren gegeben! Aufmärsche, Versammlungen, Kundgebungen – was das betrifft, war hundert-, ja tausendmal mehr los als heute! Kein Tag ist ohne fotogene Tumulte vergangen, saftige Saalschlachten waren an der Tagesordnung. Und zum Fotografieren, kann ich dir sagen, also zum Fotografieren ist eine saftige Saalschlacht das Schönste, was es gibt.775

Die Väter vermitteln und strukturieren ihre Kriegserlebnisse nach bestimmten Konstrukten, die sie im Zuge von wiederholten Geschichten entwickelt oder im Familiengedächtnis im Laufe der Zeit etabliert haben. In den Erzählungen des Vaters wird die Rolle bzw. die Haltung des Vaters tradiert, die er für sich selbst ausgewählt hatte und an welcher auch nach seinem Tod weiterhin festgehalten wird. So fungieren die narrativen Konzepte nicht nur im Rahmen des Familiengedächtnisses, sondern funktionieren ebenfalls in der kommunikativen Gemeinschaft der Zeitzeugen bzw. der Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg. Wodurch die Kriegserfahrung narrativisch mythisiert bzw. tabuisiert wird. Dabei erweisen sich die Mitglieder der kommunikativen Gemeinschaft in ihren Erzählkreationen als loyal gegenüber ihresgleichen und halten sich an die etablierten Erzählkonzepte, wodurch die Mythos weiterhin am Leben bleiben und auf nächste Generation in ihrer unveränderten Form überliefert werden.

»Documents of Life« Außer dem autobiographischen Gedächtnis können die weiteren hier erwähnten Medien, nämlich Bild und Text im weiteren Sinne verstanden den sogenannten »documents of life« zugerechnet werden. Sie fungieren, laut Winfried Schulze, in der psychoanalytischen, anthropologischen und soziologischen Forschung als Quellen, »die Einblick in die Biographie einer Person geben können, die lediglich ›in some sense‹ als Autor zu verstehen ist. Neben den auch dem Historiker vertrauten Quellen wie Tagebuch, Brief oder Oral History-Befragung werden hier auch literarische und fotografische Quellen sowie auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs einbezogen.«776 Deshalb wird auch in der Vater-SpurenSuche zur Spur all das, was als Nachlass des Vaters bezeichnet werden kann. Dazu zählen beispielsweise Habseligkeiten, die auf seine Person und seine Geschichte verweisen sowie die Erinnerungen an ihn stimulieren und somit seine Person nicht vergessen lassen. Der Text von Ruth Rehmann schreibt den nachgelassenen Gegenständen des Alltags die Sicherung des Kontinuums zu, indem sie eine Verbindung zwischen dem Gestern und Heute schaffen: 775 Ebd., S. 63. 776 Schulze, S. 14.

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Spuren und ihre Medien in der Vatersuche

Die von ihm hinterlassenen Dinge laufen in unserem Haushalt mit, ohne sich mit den unsrigen zu vermischen: Tintenfaß, Löscher, Federkästchen aus Libanonzeder, silberne Briefwaage, lange Pfeifen mit Porzellankopf, Großvaters Bilderbibel […], Schreibtisch mit Schrankaufsatz, ehemals mit Theologie vollgestopft, jetzt von Thomas [ihrem Sohn] zur Ablage von Marx, Engels, Lenin benutzt, aber in den Schubladen hält sich ein Rest Pfeifenrauch. In drei Holzkästen sind Briefe, Fotos, gebündelte Predigten verwahrt.777

Genauso wie andere Zeugnisse verraten die Habseligkeiten einen Teil der Persönlichkeit ihres ehemaligen Besitzers und ein Stück vom Geist der vergangenen Zeit. Der Vater der Erzählfigur Dagmar Leupold vermittelt durch die Karten, die er an die Töchter schrieb, all das, was ihm nur schwer über die Lippen kam: »Die Karten, die die Töchter von ihm erhielten, waren witzig, nahezu zärtlich und knapp. Gefrotzelt. So sprach er zu Hause nie, so schrieb er nur. Nur im Reden taten sich die Fallen auf, deren Umgehung soviel Anstrengung kostete und Angst bereitete.«778 Unter seinen hinterlassenen Habseligkeiten befinden sich u. a. Bücher, die den väterlichen Bücherkanon ausmachten. Sie spiegeln sein Interessengebiete sowie seine politische Orientierung wieder. In meisten Fällen werden Werke zur Thematik des Zweiten Weltkrieges oder die Unterhaltungsliteratur, die typisch für die Väter-Soldaten-Generation sind geerbt. Die Büchersammlung des Vaters der Erzählfigur von Leupold macht außerdem seine über Jahre andauernde sentimentale Bindung zu seinem Herkunftsland und der polnischen Kultur deutlich: In den vorderen Reihen standen die Bücher, die auf Nachfrage Klassiker genannt wurden. Auf der ersten Seite trugen sie die Unterschrift des Vaters (nur den Nachnahmen) und das Jahr der Anschaffung. Ganz unten, viele in Ledereinbänden, standen die polnischen Bücher, darunter Quo vadis? Von Sienkiewicz, von dem der Vater als einem der bedeutendsten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts sprach, prophetisch sei er gewesen, seiner Zeit voraus und dennoch niemals mit dem Nobelpreis geehrt worden.779

Durch die verbliebenen Habseligkeiten des Vaters ist er bzw. die Erinnerung an ihn in der Familie stets präsent. Als Andenken werden sie in der Familie verwahrt und von Generation zu Generation weitergegeben. Die Überreste sind Zeugnisse einer früheren Existenz – einer Lebensgeschichte. Für die Hinterbliebenen haben sie einen symbolischen Wert. Die Gegenstände des Bruders in Uwe Timms Text, die der Mutter nach seinem Tod von offizieller SS-Stelle zugeschickt werden, erwachsen über die Jahre zu kleinen familiären Denkmälern, 777 Rehmann, S. 13. 778 Leupold, S. 87. [Hervorhebung: L.D.] 779 Ebd., S. 53. [Hervorhebung: D. L.] Im Text von Leupold bedauert der Vater, dass Henryk Sienkiewicz niemals der Nobelpreis verliehen wurde, dabei wurde Henryk Sienkiewicz 1905 mit Nobelpreis für »Quo Vadis?« ausgezeichnet.

»Documents of Life«

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die den Mythos des Bruders aufrecht erhalten »ein kleines Pappkästchen, mit Briefen, den Orden, ein paar Fotos, einer Zahnpastatube und einem Kamm,«780 an dem als Spur des Körpers des Bruders »ein paar blonde Haare«781 bleiben. Alle in der Vater-Spuren-Suche untersuchten Lebensspuren liefern indirekte Verweise auf ihren ursprünglichen Kontext und schaffen Raum für Interpretationen, aus denen die rekonstruierte Lebensgeschichte des Vaters entsteht.

780 Vgl. Timm, S. 159. 781 Vgl. ebd.

7. Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.782

Im Rahmen der Vater-Spuren-Suche findet in den Vätertexten die (Re-)Konstruktion der Vergangenheit des Vaters statt. Dabei lassen sich, wie diese Arbeit zeigt, drei Ebenen ihres Verlaufs feststellen: Die persönliche bzw. mentale Ebene, die eine innere Auseinandersetzung mit dem Vater und mit der eigenen Identität einschließt; die formale Ebene, auf der die Spurensuchenden Forschungsarbeit zur Person des Vaters durchführen und zuletzt die literarische Ebene der Darbietung. Die Rekonstruktionsphasen auf den ersten zwei Ebenen werden in den meisten Texten parallel behandelt, da die emotionale bzw. psychotherapeutische Auseinandersetzung mit den einzelnen Etappen der Recherche einhergeht und schließlich in der Phase der literarischen Bearbeitung mündet. Im vorliegenden Kapitel werden das für die Väterbücher typische Verfahren der (Re-)Konstruktion auf den angesprochenen drei Ebenen in seinen einzelnen Phasen, v. a. hinsichtlich des Deutungsvorgangs analysiert sowie einzelne Deutungstechniken und -konzepte herausgearbeitet, die von den Erzählfiguren in der Vatersuche verfolgt werden.

Die persönliche Rekonstruktionsarbeit Die persönliche Annährung an den Vater findet während der gesamten Rekonstruktionsphase statt und beruht hauptsächlich auf Erinnerungsarbeit. Das bislang in der Familie etablierte Vaterbild wird durch die Suche sowie die Konfrontation mit dem gefundenen Spurenmaterial revidiert und neu konstruiert. Die Vatersuche bedeutet zugleich die Suche der Erzählfiguren nach der eigenen Identität, die sich auf dem Weg der Selbstvergewisserung realisiert. Daher trägt diese Phase einen autobiographischen Charakter, der im Sinne von

782 Dürrenmatt, Friedrich: Justiz. Roman. Zürich 1985, S. 87.

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

Hartmann Leitner aus der »(Selbst)Identifikation,«783 einem »konstitutionellen Modus« der (Auto-)Biographie resultiert: »Jegliches Selbstbewußtsein, also: wie und als was sich ego definiert, wie und welche Biographien möglich sind, das ist jeweils bereits Konstruktion eines spezifischen Bewußtseins-Inhalts, einer Wirklichkeit des Ich in der Sprache und Logik spezifischer Sozialität: Kultur.«784 So wird im Rahmen der Rekonstruktion der Vatergeschichte zugleich der Lebenslauf der Erzählfiguren wieder hergestellt, dies aber nur punktuell, indem an bestimmte Erfahrungen mit dem Vater angeknüpft wird. Demzufolge wird auch der Zeithorizont breit angesetzt, er reicht von der erinnerten Vergangenheit bis in die Gegenwart. In diesem zeitlichen Rahmen wird ex post ein neuer Sinnzusammenhang geschaffen und eine Selbstthematisierung im Fluss der Gegenwart unternommen. In diesem Kontext ist Georg Mischs Definition von der Geschichte der Autobiographie im Hinblick auf die Auffassung von autobiographischem Schreiben hilfreich. Er versteht die Autobiographie »im gewissen Sinne [als] eine Geschichte des menschlichen Selbstbewusstseins.«785 So liegt in der Vater-Spuren-Suche für die Erzählfiguren der Schwerpunkt der Selbstidentifikation in der Selbstdefinierung, die über die Person des Vaters erfolgt und von ihnen durch die Befreiung von dessen Vergangenheit erzielt wird. Den Anfang fast jeder Spurensuche macht die Erkenntnis des eigenen Leidens aus, das oft latent und jahrzehntelang unidentifizierbar oder nicht lokalisierbar blieb. Es ist im Unbewussten verborgen und tritt unerwartet im Alltäglichen zum Vorschein. Die Erzählfigur von Sigfrid Gauch vergleicht das Gefühl mit einer plötzlich eintretenden mentalen Lähmung: »Ein[em] aus der Kindheit auftauchende[n] Gefühl des Einsamseins; Abschiedsstimmung, flaches Atmen und in den Augen Tränen.«786 Bei der Erzählerin von Monika Jetter ist es »ein seltsames Gefühl von Verlassenheit,«787 eine »Art Heimatlosigkeit,«788 ein Gefühl des NichtEntkommen-Könnens von den Bildern der Vergangenheit, von denen sie immer wieder eingeholt wird, genau so wie die Erzählfigur bei Kurt Meyer : »Immer war da die Erinnerung. Und sie war gerade da, wo ich mich am weitesten von allem weg dachte.«789 Das Verdrängte und Unterdrückte kommt, wie es für Traumatisierungen typisch ist, in Träumen zum Vorschein. Der Erzähler von Peter Härtling hört sich immer noch in Träumen nach dem Vater rufen.790 Genauso 783 Leitner, Hartmann: Lebenslauf und Identität. Die kulturelle Konstruktion von Zeit in der Biographie. Frankfurt am Main/New York 1982, S. 18. 784 Ebd., S. 18 f. 785 Georg, Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. I. Hälfte I. Frankfurt am Main 1976, S. 11. 786 Gauch (1979), S. 22. 787 Jetter, S. 69. 788 Ebd. 789 Meyer, Kurt, S. 12. 790 Vgl. Härtling, S. 167.

Die persönliche Rekonstruktionsarbeit

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artikuliert sich die Sehnsucht der Erzählfigur von Uwe Timm nach dem Bruder : »Hin und wieder träume ich vom Bruder. Meist sind es nur Traumfetzen, ein paar Bilder, Situationen, Worte. Ein Traum hat sich mir recht genau eingeprägt.«791 Die anhaltende Traumasymptomatik hat die Erzählfigur Monika Jetter zu ihren Nachforschungen bewegt: Das Signal für meine Suche waren unerklärliche Kopfschmerzen, Albträume und plötzlich auftretende Angstattacken. Beunruhigende Bilder, die mit dem Krieg und der Nachkriegszeit zu tun hatten. Sie wollten sich wie ein Puzzle zusammensetzen, gegen das ich mich aber zu stemmen schien. In allen diesen Bruchstücken ging es doch noch einmal um die Frage, die ich nie mehr hatte stellen wollen, die ich irgendwann aufgehört hatte zu stellen.792

Andere Erzählfiguren entscheiden sich die Vatersuche anzutreten, nachdem sie unerwartet durch Außenstehende mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert werden, wie z. B. die Erzählerin von Ruth Rehmann durch die Fragen ihrer Kinder, die Erzählfigur Wibke Bruhns durch eine TV-Sendung (u. a. über ihren Vater), der Erzähler bei Kurt Meyer während eines Interviews: Das von Tony Foster geplante Buch veranlasste mich erneut, meinen eigenen Standort zu klären. Aber ich dachte damals nicht wirklich daran, darüber zu schreiben, konnte mir nicht ernsthaft vorstellen, meine kreuz und quer laufenden Gedanken zu Papier zu bringen, meine hin und her gerissenen Gefühle zu ordnen, bis mich mein Vater und seine Vergangenheit dann doch einmal einholen sollten.793

Die Suche nach der Wahrheit über den Vater wird zum Schutz sowohl vor der Vergangenheit als auch vor der Zukunft betrieben, um bei einer Konfrontation mit weiteren neuen Informationen zur Vergangenheit des Vaters nicht entsetzt oder verletzt zu werden. Parallel zu den Nachforschungen beginnt die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst in Beziehung zum Vater, während welcher die Korrektur der eigenen Identität stattfindet. So gesteht die Erzählfigur von Meyer: »Ich habe unbewusst durch die Bereitschaft, zu verstehen, was im Dritten Reich passiert ist, wahrscheinlich immer auch meine eigene Identität verteidigt. Eine Identität, die dich [den Vater] mit einschließen sollte.«794 Dabei macht die Frage: »Wer war dieser Mann, der sich mein ›Vater‹ nannte?«795 den eigentlichen Ausgangspunkt der Vatersuche aus. Die Fragen nach der Rolle des Vaters im Nationalsozialismus sowie nach seinem privaten Leben, »wie er war, wie er dachte,«796 bestimmen die Dynamik der durchzuführenden Recherchen. Diese 791 792 793 794 795 796

Timm, S. 12. Jetter, S. 7 f. Meyer, Kurt, S. 15. Ebd., S. 175. Scheub, S. 65. Pollack, S. 121.

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

äußeren Umstände veranlassen die meisten Spurensuchenden, ihre Beziehung zum Vater (neu) zu definieren. Die nachträgliche Konfrontation mit dem eigenen Vater soll, stabilisierend auf die eigene Identität wirken, denn jede Art von Verdrängung (auch wenn sie als Schutz gedacht ist) beraubt Menschen der eigenen Identität: Je mehr Aspekte seiner persönlichen Vergangenheit man verwirft, desto weniger bleibt übrig, mit dem man sich identifizieren kann. Daß viele Menschen mit Identitätsproblemen schließlich einen Therapeuten aufsuchen, beweist, daß man unter seiner Vergangenheit leiden kann und daß es nicht möglich ist, sie einfach so, wie eine Schlange ihre Haut, abzustreifen. Jeder Mensch verkörpert die Geschichte, in die er »verstrickt« ist.797

So wird die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Vaters im Nationalsozialismus für mehrere Erzählfiguren und ihre Suche ausschlaggebend. Die Erlangung von Klarheit über das Engagement des Vaters im Zweiten Weltkrieg wird zur Priorität vor allem hinsichtlich der Väterbilder, die wie im Text von Beate Niemann von Widersprüchen, Unklarheiten und Spekulationen geprägt sind: Meine Forschungen begann ich vor dem Hintergrund der Frage, warum mein Vater eine lebenslange Haftstrafe erhalten hatte, warum ein Freikauf seitens der Bundesrepublik nicht möglich gewesen war und worin die Ursachen hiefür gelegen hatten. Vermutungen gab es in der Familie viele, ich wollte Beweise. Das Material, das meine Mutter gesammelt hatte, hatte sie nach dem Tod meines Vaters verbrannt. Warum sie das getan hat, habe ich nie gefragt.798

Die belastende Auseinandersetzung mit dem Vater wird in mehreren Fällen durch Vertrauenspersonen oder eine therapeutische Behandlung unterstützt. Die Erzählerin Beate Niemann beginnt im Jahr 1973 eine Gesprächstherapie, die sie während der dreieinhalb Jahre der Vater-Spuren-Suche begleitet: »Es sind schwere Jahre, in denen ich mit aller Kraft versuche, die Vergangenheit aufzuarbeiten und zugleich für meine Familie da zu sein. In der Therapie lerne ich endlich, über meinen Vater und meine Familie zu sprechen, wenigstens in Ansätzen.«799 Wegen des hohen Emotionalitätsgehalts des Verfahrens werden Erlebnisse, Einschätzungen sowie Entscheidungen mit nahe stehenden Personen besprochen. Da die Suche mühselig und emotional belastend verläuft sowie viel Zeit in Anspruch nimmt, ist das Alleinsein in besonders schwierigen Momenten auch für den Erzähler von Weiss, nicht ertragbar :

797 Lorenz, S. 411. 798 Niemann, S. 14. 799 Ebd., S. 12.

Die persönliche Rekonstruktionsarbeit

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Jetzt lag es wieder vor mir, das gelbe Kuvert, und ich fürchtete mich davor, es zu öffnen. Fast 30 Jahre hatte es im Verborgenen gelegen, zuerst im Dokumentenschrank meines Elternhauses und dann in einer Schublade meiner Wohnung. Vorsorglich hatte ich eine Flasche Rotwein geöffnet und den Fernseher eingeschaltet, ohne auf das Programm zu achten. Ich brauchte eine Geräuschkulisse, die mir die Lektüre erträglicher machte.800

Deshalb stellt die Vater-Spuren-Suche nicht nur für den Forschenden selbst, sondern auch für sein Umfeld, das sich während dieser Zeit stark verändert, eine Prüfung dar. Viele Verwandte bzw. Freunde wenden sich offiziell ab, manche versuchen die Suche zu ignorieren und nur wenige leisten Unterstützung. Die Nachforschungen verändern das bisherige Leben der Suchenden in allen seinen Dimensionen. Die Vater-Spuren-Suche ist ein schmerzlicher Prozess, in dem die Suchenden emotional Achterbahn fahren, ihre Schmerzgrenzen überschreiten oder auch, wie die Erzählfigur von Jetter, an ihre persönlichen Grenzen stoßen: »Der Weg zur Versöhnung mit ihm [dem Vater] schien an diesem Schmerzpunkt zu scheitern. Er versperrte weiterhin den Zugang zu dem menschlichen Vater, den ich doch zu finden versuchte.«801 Die Tief- und Höhepunkte, sind nicht voraussehbar und werden durch neu gefundene Spuren zur NS-Vergangenheit des Vaters bedingt oder durch unkontrollierte Erinnerungen beeinflusst: »Eigentlich wollte ich mich nicht daran erinnern, und doch war es eines Tages nicht mehr aufzuhalten.«802 Der Such- und Verarbeitungsprozess verläuft ungleichmäßig. Es gibt Phasen, in denen man sehr schnell vorwärts kommt und wie im Text von Jetter Ergebnisse sieht, die weiter motivieren: »Nach und nach, als ich mehr erfuhr aus jenen Zeiten, wurde vieles transparenter, wenn sich auch Verständnis immer noch nicht einstellen wollte. So ging es darum, weiter zu suchen, mehr herauszufinden, denn ich wollte das alles loswerden, endlich aus meinem Kopf haben, was da festzusitzen schien.«803 Ein anderes mal wieder stockt das Verfahren und die Suchenden werden, wie der Erzähler von Martin Pollack, von Zweifeln überfallen: »Ich überlegte, ob ich die Suche in anderen Archiven fortsetzen sollte, vielleicht würde ich dort fündig werden? […] Der Gedanke an wochenlange Aufenthalte in Archiven machte mich mutlos. Und was, wenn ich etwas finden würde? Würde das etwas ändern? Ich wusste auch so genug.«804 Fast in jeder Suche kommen Momente vor, in denen die Spurensuchenden es in Erwägung ziehen, die Nachforschungen nach der Wahrheit aufzugeben, da sie beispielsweise den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben glauben: 800 801 802 803 804

Weiss, S. 157. Jetter, S. 161. [Hervorhebung: M.J.] Ebd., S. 19. Ebd., S. 127. Pollack, S. 166.

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

Das ganze Unternehmen, blieb für mich voller Rätsel, eine Geheimschrift, die sich nach Jahren entziffern ließ, zu spät, um ihm antworten zu können. Oder doch nicht, da ich von dir träume. Und du mir immer näher kommst, ich dich im Schlaf berühren kann, deine Haut fühle, es ist ein Prozeß, der mich verändert, eine Art Stoffwechsel. Ich nehme dich in mir auf.805

Oft müssen sie erst ihre Hemmungen bewältigen, um weiter machen zu können, da sie, so wie der Erzähler von Kurt Meyer, die Vergangenheit nicht an sich herankommen lassen.806 Die Vater-Spuren-Suche erfordert von den Forschenden Selbstdisziplin und Konsequenz, insbesondere wenn sie mit Fakten konfrontiert werden, die sie, wie die Erzählfigur bei Bruhns, ungern erfahren möchten: »Auch 1933 ist Familientag. Den kann ich nicht auslassen, aber ich muß mich zusammennehmen, um aufschreiben zu können, was jetzt dran ist.«807 Zudem verläuft die Recherchearbeit nicht immer den persönlichen Vorstellungen und Wünschen entsprechend. Manchmal scheint alle Mühe umsonst zu sein, vor allem wenn die Wahrheit nicht näher rückt und die Spurensuchenden, wie der Erzähler Martin Pollack, nicht fündig werden. Der Mangel an eindeutigem Beweismaterial für die Verbrechen des Vaters bereitet Interpretationsschwierigkeiten: »Meine Augen brannten vom Lesen, und ich war auf nichts gestoßen, was meinen Vater betraf. Dann wurde mir bewusst, was das hieß. Wäre es besser gewesen, ich hätte etwas gefunden?«808 Es gibt auch Fälle, wie bei der Erzählerin Monika Jetter, in denen statt der Annährung das Gegenteil erreicht wird: »Fast drei Jahre war ich nun auf der Suche nach ihm, und der bedrohliche Schatten zwischen ihm und mir wurde wieder höher. War es doch noch möglich ihn zu finden?«809 Die Suche auf der persönlichen Ebene beruht hauptsächlich auf dem Zusammenstoß von Erinnerungen mit den durch die Recherche gewonnen Informationen bzw. Fakten. Daher bedeutet jede neue Erkenntnis, die sich mit der bisher etablierten Vorstellung vom Vater nicht deckt, einen Einschnitt zunächst in der Rekonstruktionsphase und dann im Selbstdefinierungsprozess. Jede Konfrontation mit dem gefundenen Material verleitet dazu, das Vaterbild zu revidieren und den eigenen Standpunkt neu festzulegen. Aus diesem Grunde entscheidet der Spurensuchende selbst, wann er zum Endpunkt seiner Untersuchung kommt, wann ihn die Auseinandersetzung mit dem Vater zufrieden stellt, wobei für viele der Suchprozess noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.

805 806 807 808 809

Härtling, S. 96. Meyer, Kurt, S. 12. Bruhns, S. 253. Pollack, S. 166. Jetter, S. 162.

Die formale Rekonstruktionsarbeit

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Die formale Rekonstruktionsarbeit Die formale Rekonstruktionsphase stützt sich hauptsächlich auf die Forschung zur beruflichen Laufbahn des Vaters im Nationalsozialismus bzw. während des Zweiten Weltkrieges sowie zu seinen beruflichen Tätigkeiten und das Familienleben nach der Stunde Null. Der Vater wird hier vor allem als Träger von sozialen Rollen analysiert. Die Struktur dieser Rekonstruktionsphase ähnelt prinzipiell den Schichten der autobiographischen Produktion von Linhua Chen, den sogenannten »Mikro- und Makrostrukturen« der literarischen Konstruktion.810 Sie überdecken sich strukturell teilweise mit den fünf Schichten von Theodor Schulze: I. »Schicht der objektiven Gegebenheiten und Tatsachen,« II. »Schicht der subjektiven Erfahrungen und ihrer Organisation,« III. »Schicht der späteren Erinnerungen,« IV. »Schicht der nachträglichen sprachlichen Darstellung« und V. »Schicht von kommentierenden Reflexionen und übergreifenden Deutungsversuchen«.811 In den folgenden Abschnitten sollen die einzelnen Verfahren der Rekonstruktionsarbeit in der Vater-Spuren-Suche (teilweise in Anlehnung an bereits erwähnte Schichten) besprochen werden.

Die Lebenslaufuntersuchung Die formale Rekonstruktionsphase beginnt in der Regel mit der Verfertigung eines tabellarischen Lebenslaufs aus dem zur Verfügung stehenden Material. Der bestehende ausführliche Lebenslauf wird in eine übersichtliche chronologische Form gebracht. Auf diese Weise werden persönliche Daten und der berufliche Werdegang des Vaters auf ihre Leerstellen überprüft, um dann das »lückenhafte […] Quellennetz zusammenzuflicken.«812 Da eine Eins-zu-Eins-Abbildung der Vergangenheit nicht möglich ist, werden die jeweiligen Leerstellen zu Ansatzpunkten für durchzuführende Recherchen.813 Im systematischen Überblick werden (berufliche) Lebensmomente ersichtlich, die aufgrund ihres Informationspotentials einer Ausarbeitung benötigen. Ein ähnliches Vorgehen ist bei der Spurensucherin Beate Niemann zu beobachten, die ihre Vorgehensweise am Anfang ihrer Vater-Spuren-Suche kurz zusammenfasst:

810 Vgl. Chen, S. 21. 811 Vgl. ebd., S. 19 f. 812 Spode, Hasso: Ist Geschichte eine Fiktion? Interview mit Reinhart Koselleck. [Stand: 01. 05. 2010]. 813 Ebd.

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

Um meinen Nachforschungen eine Struktur zu geben, beschliesse ich, einen Lebenslauf meines Vaters zu erstellen, um Lücken darin zu erkennen und sie mit meinen Rechercheergebnissen füllen zu können. Zunächst fasse ich meine wenigen Unterlagen zusammen. Nach dem Tod meines Vaters habe ich nicht aufgehört, zu fragen und zu suchen. Meine Idee ist, unsere beiden Lebensläufe, seinen und meinen, einander gegenüber zu stellen. Mit diesem Vorhaben bin ich auf mich allein gestellt. 1978 habe ich den Kontakt zu meiner Mutter und meinen Schwester abgebrochen.814

Eine andere Methode ist der Vergleich der Einträge bzw. Notizen des Vaters mit Dokumenten von anderen Personen seiner Zeit. Sie entspricht dem Prinzip »der Wiederkehr ›identischer Fälle‹« von Friedrich Nietzsche, das auf der Suche nach »Bekanntem« beruht.815 Die Erzählfigur von Uwe Timm plant zu Beginn seiner Suche, die Tagebucheintragungen seines Bruders mit dem Kriegstagebuch der SS-Totenkopfdivision, der er angehört hatte, zu vergleichen, um seine stichwortartigen Notizen zu ergänzen. Die Dokumente von anderen zeithistorischen Persönlichkeiten dienen als Bezugspunkte oder in manchen Fällen als Legitimierung einer bestimmten Version von »Wahrheit.« Deshalb zieht die Erzählfigur bei Martin Pollack Parallelen zwischen dem Lebenslauf ihres Vaters und dem ihres Bruders sowie anderen Funktionären des Einsatzkommandos (Ernst Kaltenbrunner, Werner Braun) und nutzt diese als Projektionsfläche oder zur Hypothesenüberprüfung. Die Lebenslaufuntersuchung in der Vater-Spuren-Suche lässt sich teilweise mit der ersten »Schicht der objektiven Gegebenheiten und Tatsachen« von Schulze vergleichen. Sie stellt die kollektive Lebenswelt und -weise in einer organisierten und institutionalisierten Form dar und platziert die individuelle Lebensgeschichte, die den »Rohstoff der Autobiographie« ausmacht, mitten im Kollektiven.816 In der Vater-Spuren-Suche wird der Lebenslauf der Väter grundsätzlich durch die Ausbildung, Zugehörigkeit zu diversen Gruppierungen, Organisationen sowie durch die militärische bzw. nationalsozialistische Laufbahn organisiert. Ihr Lebenslauf wird retrospektiv (prospektiv meistens innerhalb der retrospektiven Erzählung) geschildert. Im Falle der Akteure des Dritten Reiches zeigt der herkömmliche Aufbau einer Lebensgeschichte umso mehr Ähnlichkeiten, da durch die starke Institutionalisierung des alltäglichen Lebens wenig Freiraum für originelle Lebensprojekte blieb. Das Familienhaus und das nächste Umfeld, meist national-konservativ orientiert, bilden die ersten Faktoren, die auf den weiteren Lebensweg Auswirkung haben. Zu weiteren Determinanten von Lebensläufen der Väter gehören die zahlreichen national814 Niemann, S. 16. 815 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Werke und Briefe. Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre [17]. In: Schlechta, Karl (Hrsg.): Friedrich Nietzsche und Briefe. Digitale Bibliothek Band 31. Berlin 2000, S. 9384. 816 Vgl. Chen, S. 19.

Die formale Rekonstruktionsarbeit

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sozialistische Bildungsanstalten und Jugendorganisationen. In späteren Lebensabschnitten variieren die Lebensgeschichten in der Regel aufgrund der Art und Weise des Engagements des Vaters im Zweiten Weltkrieg. Als ausschlaggebend für die unterschiedliche Entwicklung der Laufbahn erweisen sich an dieser Stelle die Zugehörigkeit zu nationalsozialistischen Gruppierungen, die dort ausgeübte Funktion sowie der Aufgabenbereich. Dieser Abschnitt bildet das schwierigste Moment der Rekonstruktion und zwar nicht nur aufgrund von Tabuisierungen. Er markiert den Punkt, in dem die Lebensläufe einen individuellen Zug erhalten. Dadurch wird die Parallelenbildung und Pauschalisierung als Bewältigungsmethode von Leerstellen eingeschränkt. Die Väter bleiben aber immer noch Repräsentanten von Lebensläufen bestimmter Funktionsbereiche, für die sie trotz der geringen Anzahl der Fälle stellvertretend sind. Nach dem Untergang des Dritten Reiches, der die nächste Zäsur in Lebensläufen der Väter bildet, gleichen sich die Lebensgeschichten einander an. Soweit die Väter im Krieg nicht gefallen sind oder als Täter hingerichtete wurden, haben die meisten nach der Gefangenschaft das Nachkriegsdeutschland auf eine ähnliche Art und Weise erlebt. Dabei wird die individuelle Geschichte sowohl im Makrokosmos des Wirklichkeitskonstruktes als auch im Mikrokosmos der Familie verankert. Die Beziehung zwischen den beiden Bereichen verläuft synchron und ist wechselseitig bedingt. Der Alltag wird zum Schauplatz der großen Geschichte und umgekehrt. In Leupolds Roman wird der Alltag durch seine Wiederholbarkeit und seinen zyklischen Charakter zum zeitstrukturierenden Faktor. Die kollektive Lebenswelt wird durch Zeit, d. h. geschichtliche Momente strukturiert sowie durch das herrschende soziale und politische System institutionalisiert. Die Subordination des individuellen Lebens unter die Organisationen wird unter anderem durch den Berufsverlauf der jeweiligen Väter widergespiegelt. Nach Werner Fuchs kommt ein gewisses Korrelationsverhältnis in markanten sozial-politischen Abschnitten besonders zum Ausdruck: Im Falle »große[r] soziale[r] Bewegungen tritt oft der kollektive Lebensentwurf ganz an die Stelle eines individuellen; Lebensführung und Teilnahme an der sozialen Bewegung verschmelzen miteinander.« 817 Da fast alle Väter an derselben Bewegung im ungefähr gleichen Zeitrahmen und in ähnlichen gesellschaftlichen Sphären partizipiert, jedoch verschiedenen sozialen Schichten angehört hatten, dürfte ihre Lebensweise (v. a. im Dritten Reich) im Kern homogen erscheinen. Ausschlaggebend für den jeweiligen Charakter der Lebenswege sind daher individuelle Züge der Väter. Darüber hinaus werden die gesellschaftlich-politischen Umstände und der Zeitgeist als Hintergrund skizziert, um vor allem in der formalen Rekonstruktionsphase bzw. im Deutungsprozess die Handlungsdeterminanten berücksichtigen zu können. Daher führen die Spurensuchenden in 817 Fuchs, Werner, S. 52.

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

ihrer Rekonstruktion neben den Zeugnissen der Zeit Texte der Sekundärliteratur (grundsätzlich aus dem Bereich der Gesellschaftsgeschichte) als zusätzliche Informationsquellen an. In den weiteren Schritten der Lebenslaufuntersuchung werden die »äußeren Ereignisse […] im Inneren in Bilder oder psychologische Daten verwandelt, deren Prägung die Gefühle, Vorstellungen und Erwartungen des Subjekts mitbestimmen.«818 Diese Phase heißt bei Schulze die »Schicht der subjektiven Erfahrungen und ihrer Organisation,« ist aber ebenfalls mit der ersten Schicht seiner Gliederung zeitlich gleichzusetzen, da sie durch die subjektive Perspektive im Hinblick auf die Fakten modifiziert wird. Dabei muss hier, nach Almut Finck, ein Fiktionsgehalt von vornherein mitgedacht werden: Von Anfang an, denke ich, vermittelt der Text die Einsicht, daß in jede Erfahrung »Wirkliches« und »Erfundenes« einfließen und daß kein Versuch, unsere Erfahrungen zu sichten und zu ordnen, keine Anstrengung, uns ein Bild von uns und der Welt zu machen, das Geflecht aus Realität und Fiktion entwirren kann. Es sind immer nur neue Geschichten, die zum Vorschein kommen, wenn wir die Realität, die wir uns mit unseren Geschichten geschaffen haben, zu verstehen suchen, und mit jeder dieser neuen Geschichte entsteht erneut ein Bedürfnis nach Deutung.819

Die erwähnte Schicht wird im ersten Schritt grundsätzlich analytisch betrachtet. Im Zuge des subjektiven Ausleseverfahrens wird die bisherige Lebensgeschichte der Väter, die im Geflecht von komplexen Beziehungen verankert ist, zuerst dekonstruiert, um aus der formellen Informationskette bestimmte Lebensdaten und Teile zu extrahieren, denen persönliche bzw. emotionale Bedeutung von den Söhnen und Töchtern beigemessen wird. Diese Methode geht mit dem Konzept der »Dekonstruktion« von Derrida einher, der das »Zerlegen« und »Auflösen« als Voraussetzung für die Erkennbarkeit und neues Verständnis der Spur begreift.820 Der Lebenslauf der Väter wird in seiner Spannbreite aus der Sicht der Erzählfiguren aufgenommen und durch ihre Erfahrungs- bzw. Gefühlswelt perspektiviert. Durch die Psychologisierung bekommt das Geschehen ein persönliches Kolorit, das dazu beiträgt, dass bestimmte Ereignisse nicht allein als pure Lebensfakten wahrgenommen werden. Das individuell gesteuerte Selektionsverfahren sondert das Relevante für die Neu-Konstruktion aus und fügt sie zur klaren Struktur zusammen:

818 Chen, S. 19. 819 Finck, Almut: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin 1999, S. 68. 820 Vgl. Levy, Ze’ve: Die Rolle der Spur in der Philosophie von Emmanuel Levinas und Jaques Derrida, S. 149. Ferner: Derrida, Jacques : Gewalt und Metaphysik. Essay ü ber das Denken Emmanuel Levinas. In: Die Schrift und die Differenz, S. 166.

Die formale Rekonstruktionsarbeit

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Die Transformation des Geschehens setzt an bei seiner Selektion. Die Geschehensmomente werden aus ihrer unabsehbaren synchronen und diachronen Verflochtenheit mit dem ganzen Weltzusammenhang herausgelöst und in einen neuen diachronen Zusammenhang [sic], der einen Anfang und ein Ende hat und in dem jedes der Geschehensmomente seinen Hinblick auf Anfang und Ende erhält.821

Diese Schicht der subjektiven Erfahrung kann in der Vater-Spuren-Suche einen doppelten Charakter tragen, da das Auswahlverfahren möglicherweise durch zwei Subjekte in einem größeren Zeitabstand durchgeführt wird. Vorerst erfolgt es durch den Vater, der in seinem Nachlass, in Tagebüchern, Memoiren, Briefen, das für ihn Wesentliche vermerkt und später durch den Spurensuchenden selbst, der dem väterlichen Nachlass in der Gegenwart Teile entnimmt, die für die biografische Konstruktion als relevant empfunden werden: »Man sucht sich doch nur die Ereignisse aus, die eine gewisse ›Bedeutung‹ zu haben scheinen. Traumata. Symbole. Wie bestimmt sich ihre Hierarchie?«822 Das aus den (Auto-) Biographien gewonnene Material wird mit dem Gedanken selektiert, ein Gesamtbild herzustellen, das dem Spurensuchenden von Anfang an vorschwebt oder das er mit seiner Arbeit zu hinterfragen bzw. zu überprüfen sucht. Selektiert werden meist Gegebenheiten, die das Familienleben strukturieren (Hochzeiten, Geburten, Feste etc.), Einbrüche im persönlichen Leben sowie sozialpolitische und historische Zäsuren, die den Verlauf der Rekonstruktion organisieren. Dieselben Auswahlkriterien gelten ebenfalls für den väterlichen Nachlass, den die Erzählfiguren im Hinblick auf die Biografie des Vaters und dessen literarische Darstellung sichten, bewerten und zusammenstellen. Die vielfältigen und willkürlich angesammelten Spuren werden sowohl auf ihren historischen als auch auf ihren persönlichen Wert sowie ihr literarisches Potenzial hin geprüft. Die Rekonstruktion auf der formalen Ebene verläuft prinzipiell zweispurig bzw. zweiteilig, wobei der thematische Schwerpunkt grundsätzlich auf die nationalsozialistische Vergangenheit und den Grad der Verstrickung des Vaters gelegt wird. Dazu werden zahlreiche Recherchen durchgeführt, die Zeitzeugeninterviews, das Dokumentensammeln und -sichten hauptsächlich in Archiven und anderen öffentlichen Institutionen, umfassen. Dabei werden der Geburtsort des Vaters, Plätze seiner Jugend sowie Gebiete seines Kriegseinsatzes, seiner Gefangenschaft sowie der verübten nationalsozialistischen Verbrechen aufgesucht.823 Die Erzählerin bei Beate Niemann fährt im Jahr 2001 nach Belgrad 821 Stierle, Karlheinz zitiert nach: Chen, S. 32. 822 Vesper, Bernward: Die Reise. Romanessay. Reinbek b. Hamburg 1983 (5. Auflage 2000), S. 100. 823 Der Erzähler von Martin Pollack fährt nach Südtirol, zum Brenner, um den Bunker, in dem sein Vater ermordet wurde, zu suchen; Die Erzählerin von Beate Niemann besucht die Strafvollzugsanstalt Leipzig-Meusdorf; die Erzählfigur von Ute Scheub den Ort der Stutt-

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um die Spuren der verbrecherischen Vergangenheit des Vaters mit eigenen Augen zu sehen, denn ihren Worten nach: »[Ist] es etwas anderes, den Ort des Geschehens vor sich zu sehen als nur von ihm zu lesen«824. Ihre Eindrücke davon sammelt die Erzählerin in detaillierten Berichten. Der Erzähler von Peter Härtling begibt sich an den Ort Zwettl, wo er die letzten Tage mit dem Vater verbracht hat, bevor er sich freiwillig in die Gefangenschaft gemeldet hatte. Die Erzählfiguren wollen einerseits diese Orte persönlich erleben und andererseits hoffen sie, dass das unscharfe Vaterbild durch neue Spuren an Konturen gewinnt. Vor Ort werden die Umstände des Todes des Vaters ergründet, Dokumente gesammelt und Interviews mit den einheimischen Zeitzeugen durchgeführt. Während dieser Nachforschungen entwickeln die Spurensuchenden eine emotionale Beziehung zu diesen Plätzen. Den zweiten Untersuchungsaspekt bilden das Familienleben im Nachkriegsdeutschland sowie der Umgang des Vaters mit seiner Vergangenheit. Hier nehmen Erinnerungen und Erzählungen Dritter einen größeren Raum ein. In der Regel wird die Geschichte des Vaters chronologisch geschildert: von der Familiengeschichte über die Kriegszeit und seine berufliche Laufbahn bis in die Zeit des Nachkriegsdeutschlands. Nur selten, z. B. in Leupolds Text, folgt auf die Nachkriegsgeschichte die Beschreibung der Vor- und Kriegszeit. Beide Zeitspannen sind in den jeweiligen Werken unterschiedlich ausgeprägt, dies ist u. a. durch die Wahl der Auseinandersetzungsform mit dem Vater sowie durch die untersuchte Zeitperiode bedingt. Die Spurensucherin von Beate Niemann konzentriert sich in ihrer Vatersuche vordergründig auf die Archivarbeit. Ihre empirische Vorgehensweise erwähnt sie in ihrem Bericht: »Inzwischen habe ich viele Monate dort zugebracht, habe mir aus den sogenannten Findbüchern zusammengesucht, was mit meinem Vater im Zusammenhang steht.«825 Dagegen unterstreicht die Erzählfigur von Dagmar Leupold, die ihren Vater in der Nachkriegszeit miterleben durfte, die Rolle der Erinnerungen und Erzählungen als Basis für ihre Arbeit: So bleibt mir, dem damaligen Zuhörer, nur, alles Erzählte – nicht anders als das Nacherzählte – neu aufzusuchen, neu zu begreifen, zu einer Geschichte zu vollenden –

garter Messe, den Stuttgarter Killesberg und die Erzählerin von Monika Jetter reist nach Polen nach Szczecin, um Näheres über den Aufenthalt ihres Vaters in der NS-Bildungsanstalt Crössinsee zu erfahren. 824 Niemann, S. 94. Die Konfrontation mit einem überlebenden Opfer und dem Ort des Verbrechens ihres Vaters wird von dem Filmemacher Yoash Tatari im Auftrag des WDR dokumentiert. Der Film wurde 2004 mit einer Goldmedaille für den besten Dokumentarfilm auf dem 46. New York Filmfestival und Yoash Tatari mit dem »Grand Award« ausgezeichnet. In den Jahren 2002 wurde der Film bei WDR und 2003 bei 3SAT ausgestrahlt. 825 Ebd., S. 29.

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oder dem Unfertigen, Unverständlichen stattzugeben. Als nachgelassene Tochter. Als niemals verabschiedete Tochter.826

Die Vaterbild-These Im Hinblick auf das Engagement des Vaters in der Zeit des Nationalsozialismus sind verschiedene Ansätze im (Re-)Konstruktionsprozess zu beobachten. Mehrere Erzählfiguren verfolgen während ihrer gesamten Suche das Vaterbild, das sie schon zu Beginn ihrer Forschung voraus- bzw. festgesetzt haben. Somit wird die Rekonstruktion der vorangestellten Vaterbild-These unterordnet und die Recherche auf das Ziel, bestimmte Fakten und Beweise zu finden, ausgerichtet. Zwar werden immerhin auch Einschnitte markiert, die einen Überraschungseffekt in sich bergen und bei dem Spurensuchenden Zweifel aufkommen lassen, doch auch diese werden bewältigt, indem das nötige Beweismaterial, beispielsweise in Form von Zitaten aus der Fachliteratur und von Experten, angeführt wird, um die bisher aufgestellte These aufrecht zu erhalten. Nur in seltenen Fällen wird die eingangs vorhandene Vater-These während der Datenerhebung in größerem Umfang korrigiert. So ergeht es beispielsweise der Erzählerin von Beate Niemann, die »immer von der Unschuld [ihres] Vaters ausgegangen [ist].«827 Im Zuge der Konfrontation mit immer neuen Rechercheergebnissen musst sie ihre Annahmen ändern: »Als ich die Spurensuche nach dem vermeintlichen unschuldigen Vater begann, hatte ich nicht erwartet, dass aus dem Mitwisser ein Täter werden könnte.«828 Der Zusammenstoß der These mit dem Faktenmaterial bildet den Wendepunkt der Suche. Zudem verläuft die Vater-Spuren-Suche generell im Falle der Väter-Täter, in deren Lebensläufen nach Beweisen für ihrer Menschlichkeit gesucht wird, anders als hinsichtlich der Väter, bei denen die Unschuld aufgrund ihrer »unbedeutenden« Funktionen im Dritten Reich von vornherein vorausgesetzt wird. Die angenommene Unschuld des Vaters ist die Vorbedingung für die Suche der Erzählerin bei Monika Jetter : Allerdings, so sagte ich es auch meiner Tochter, hätte ich mich niemals dazu entschließen können, dieses Buch zu schreiben, wenn ihr Großvater ein SS-Scherge gewesen wäre. Einer, der an der Vernichtung von sechs Millionen Juden, von Sinti und Roma, der Verfolgung und Ermordung Andersdenkender und der Ausrottung von Behinderten und Kranken beteiligt gewesen wäre.829

826 827 828 829

Leupold, S. 111. Niemann, S. 14. Ebd., S. 45 u. 48. Jetter, S. 79.

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In diesem Zusammenhang tendiert die Untersuchung mehr dazu, die letzten Zweifel an potenzieller Täterschaft des Vaters zu beseitigen. Unter derselben Voraussetzung beginnt die Spurensuche der Erzählerin von Roma Ligocka: Ich glaube, das Einzige, was mir übrig bleibt, ist, die ganze Geschichte für mich zu rekonstruieren – Schritt für Schritt, Tag für Tag, wie ich es mit meiner Mutter erlebt habe. Wie es war, als sie ihn verhaftet haben. Wir suchten doch damals seine Spuren, wir suchten alles, was ihn entlasten sollte. Natürlich in erster Linie meine Mutter, aber ich war dauernd dabei. Es kann doch sein, dass ich mehr weiß, als ich zu wissen glaube …830

Das Verfahren geht mit dem Hinterfragen und der Dekonstruktion des bisherigen Vaterbildes einher, das dadurch Korrektur erfährt. Dieser Teil der Untersuchung konzentriert sich hauptsächlich auf institutionelle Informations- und Datengewinnung durch Archivarbeit und Zeitzeugenbefragung. Zusätzlich wird mit persönlichem Interesse und individueller Fragestellung die zusammengetragene (Privat-)Sammlung von Dokumenten zur Stoff-Quelle der (Re-)Konstruktion. Auf dieser Untersuchungsebene kommt es ebenfalls häufig zum Paradigmenwechsel: Die persönliche Beziehung zum Vater wird zu Gunsten der Forschung in den Hintergrund gestellt und der Vater, wie im Text von Niemann in der Kategorie »zeitgeschichtliche Person«, analysiert: »Es ist so wie in den anderen Archiven: Wenn ich in den Akten lese, lese ich Zeitgeschichte, blende mein persönliches Befinden aus. Ich versuche in der Kürze der Zeit soviel wie möglich aufzunehmen, meine Notizen lesbar zu halten.«831 Neben den Recherchen in Archiven, die das Basismaterial der Rekonstruktion liefern, sorgt die Zeitzeugenbefragung für die entsprechende Perspektivierung sowie für persönliches Kolorit von Informationen. Sie ermöglicht die Vervollständigung des Vaterbildes vor dem Hintergrund seiner Zeit. Die Zeitzeugenbeiträge nehmen unterschiedliche Formen an. Es werden meist Erzählungen der Familienmitglieder und des nächsten Umfelds oder, wie im Text von Peter Henisch, Interviews mit dem biografischen Objekt selbst angeführt. In ähnlichen Kontexten werden auch persönliche bzw. autobiographische Texte des Vaters und seiner Zeitgenossen verwendet. Dabei ist der Erzähler in der Auswertung des subjektiven Materials vor allem auf seine Selbstbestätigung fokussiert: »Er verteidigt sich, indem er die Schuld für Mißerfolge von sich abwälzt. Selbstverständlich verdrängt, verschweigt und beschönigt er vieles, aber er übertreibt auch die Belastungen, teils aus Wehleidigkeit, teils um seine Stärke im Ertragen von Leid zu beweisen.«832 Dies ist bei den Vätern in Texten von Henisch und Meckel zu

830 Ligocka, S. 129. 831 Niemann, S. 84. 832 Bahrst, Hans-Paul: Autobiographische Methoden, Lebensverlaufforschung und Soziologie.

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beobachten, die in ihren anekdotischen Kriegserzählungen entweder ihre militärische Heldentaten dem Publikum als Humoreske anbieten oder stets das »tadellose Verhalten« und die guten Taten (beispielsweise das Widersprechen dem Vorgesetzten gegenüber, die Parteinahme und Hilfe für Andere) unterstreichen, ohne dabei die eigene »Rolle im großen Zusammenhang« zu erwähnen.833 Die Geschichtenvermittlung konzentriert sich in der mündlichen Erzählung, oft auf Kosten des Wesentlichen, mehr auf dem Unterhaltungsaspekt. Andererseits leistet die Oral History einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte als historische Quelle, indem sie die Forschung um den persönlichen Erfahrungsbereich erweitert und durch die Einbeziehung des subjektiven Faktors den Blick auf geschichtliche Ereignisse von unten ermöglicht. Franz-Josef Brüggemeier unterstreicht den ergänzenden Beitrag der Zeitzeugenbefragung zur biographischen Rekonstruktion: Die Sprache der Kommuniques, der Ergebnisprotokolle und Aktenvermerke gibt die Entscheidungsprozesse, die unterschiedlichen Einflüsse darauf und die kontroversen Positionen in der Regel nur unzureichend wieder. Gespräche mit beteiligten Personen können hier weiterhelfen und die Rekonstruktion komplexer Abläufe ermöglichen. Im deutschen Kontext kommt hinzu, daß für die Zeit des Faschismus die schriftlichen Quellen in spezifischer Weise verzerrt sind.834

So wird in der Vater-Spuren-Suche die Befragung von Personen, die den Vater und seine Familie kannten, wie Dorfbewohner, ehemalige Schüler, Kameraden, Kollegen, alte Liebschaften, vor allem in den Fällen durchgeführt, in denen historische Dokumente und persönliche Zeugnisse sich als nicht ausreichend erweisen. Daher wird im Text von Ruth Rehmann dem sogenannten »unbefangenen Zeugen«835 ein besonderer Stellenwert zugeschrieben, der im Gegensatz zu ihrer nicht neutralen Zeugenschaft für Objektivierung sorgt. Während die Spurensucherin in das Geschehen (emotional) involviert ist, bleiben seine Aussagen von Rechenschaftsversuchen oder Anklagen frei. Im Text von Rehmann gewährleistet der »unbefangene Zeuge« den Zugriff auf die Vergangenheit: »Aber der Lehrer ist tot. Es gibt keinen unbefangenen Zeugen mehr. Von jetzt an kann ich nur noch im Konjunktiv von meinem Vater sprechen: Wenn er

In: Voges, Wolfgang (Hrsg.): Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung. Opladen 1987, S. 83. 833 Vgl. Meckel, S. 128 f. 834 Gemeint ist hier beispielsweise das Material zum deutschen Widerstand, das hauptsächlich aus der Gestapo-Perspektive überliefert wurde, da die Mitglieder des Widerstands selbst als Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes nur wenig Möglichkeiten hatten, selbst Zeugnisse zu hinterlassen. Näheres dazu: Brüggemeier, Franz-Josef: Aneignung vergangener Wirklichkeit – Der Beitrag der Oral History. In: Voges, Wolfgang (Hrsg.), S. 146. 835 Rehmann, S. 209.

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so gewesen wäre wie ich ihn sehe, dann wäre diese Geschichte so und so zu erzählen.«836 Neben der zeitgeschichtlichen Rolle des Vaters stellt sein Familienleben bzw. seine Rolle als Familienvater das zweite Untersuchungsmodul dar. Die analysierte Zeitspanne umfasst dann entweder die Vor- und Kriegszeit oder die Nachkriegszeit, die für die meisten Väter sowie ihre Nächsten von ähnlichen Erfahrungen geprägt war. In den Vordergrund der Nachforschungen treten hier das Zusammenleben innerhalb der Familie und die Vater-Kind-Beziehung. Daher bewegt sich das Rekonstruktionsverfahren auf der Ebene der persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen der Erzählfigur, die durch den Austausch mit anderen Personen, die den Vater erlebt haben, multiperspektivisch ergänzt werden. Auf dieser Ebene wird der Vater weniger als nationalsozialistischer Funktionsträger, sondern als Persönlichkeit untersucht. Diese Verfahrensweise ist mit der zweiten »Schicht der späteren Erinnerungen« von Schulze, die Chen in seiner Studie bespricht, zu vergleichen. Hinsichtlich des Stoffes ist sie deckungsgleich mit der zweiten »Schicht der subjektiven Erfahrungen und ihrer Organisation«, doch zeitlich von ihr entfernt. Wie in der früheren Phase ist auch hier die subjektive Sicht für das Auswahlverfahren entscheidend, dabei spielt – um mit Martin Osterland zu sprechen – der Nachträglichkeits-Modus eine vordergründige Rolle, da erst die nachfolgenden Ereignisse den vorangehenden die Bedeutung verleihen: In der retrospektiven Sichtweise werden offenbar die darin enthaltenen jeweiligen subjektiven Begründungen, Erklärungen und Rechtfertigungen für vergangenes wie gegenwärtiges Verhalten so integriert, daß die in die Gegenwart mündende Lebensgeschichte eine beinahe naturgesetzliche Folgerichtigkeit erhält … Die Schilderung des Lebensverlaufs aus der Erzählperspektive der Gegenwart und die ihr immanente Bewertung ist einer Tautologie nahe: Es ist so, weil es so ist …837

Die Ereignisse werden im Moment ihres Geschehens nur mit einem willkürlichen Bewusstsein aufgenommen. Erst rückblickend erlangen sie ihre Wirkungskraft und erhalten nicht selten eine andere Akzentsetzung. Die Ausgangsposition der Spurensuchenden erlaubt es, aus einer gewissen Distanz das Vergangene (neu) zu interpretieren, denn die Erzählfigur von Timm bemerkt: »Nur von heute aus gesehen sind es Kausalketten, die alles einordnen und fasslich machen.«838 Die Nachträglichkeit erlaubt es, die Vergangenheit mit einem anderen Bewusstsein und Wissensbestand zu betrachten als zur Zeit des Geschehens. Selbst die Identit ä t ist eine andere. Auch wenn die Er836 Ebd. 837 Fuchs, Werner, S. 272. 838 Timm, S. 38.

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z ä hlfigur ihre eigene Handlung aus der Ex-Post-Perspektive analysiert ist die Deutung im Sinne von Max Weber nicht von Modifizierungen frei: Nie und nirgends ist eine gedankliche Erkenntnis selbst eines eigenen Erlebnisses ein wirkliches »Wiedererleben« oder eine einfache »Photographie« des Erlebten, stets gewinnt das »Erlebnis«, zum »Objekt« gemacht, Perspektiven und Zusammenhänge, die im »Erleben« eben nicht »gewußt« werden. Das Sich-Vorstellen einer vergangenen eigenen Handlung im Nachdenken darüber verhält sich dabei in dieser Hinsicht durchaus nicht anders als das Sich-Vorstellen eines vergangenen, selbst »erlebten« oder von anderen berichteten konkreten »Naturvorganges.«839

Die Dynamik des Nacherlebens ist ebenfalls eine andere als die, in der gehandelt wurde. Die Geschichte sowie das Ich zerfallen in das »Alte« – das »Bevor« und das »Neue« – das »Danach«. Dazwischen befindet sich ein Wendepunkt, der meist nicht zu bemerken ist. Es sind wichtige Lebenszäsuren (oft mit den historischen verbunden), psychische Umbrüche, die aber aus der NachhineinPerspektive fließend und dehnbar erscheinen. Da man sich sein ganzes Leben lang erinnert und zwar beliebig selektiv und auch nicht imstande ist, sich der Totalität des Vergangenen zu erinnern, bleibt die Vergangenheit genauso wie die Zukunft offen. Das Wesen der »Nachträglichkeit« wird von Almut Finck folgendermaßen erläutert: Das Funktionieren von »Nachträglichkeit« impliziert nicht nur die Infragestellung des Kausalitätsprinzips und einer binären Zeichenlogik. »Nachträglichkeit« verbürgt darüber hinaus eine ganz spezifische Art der Erfahrung. Subjektive Erfahrung beruht danach nicht auf einem privilegierten, intuitiven Zugang des Subjekts zum Objekt der Erfahrung. Der Gegenstand der Erfahrung ist sowenig unmittelbar gegeben, wie Erfahrung unmittelbar statthat. Sie ist so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was einige Moderne unter der Epiphanie verstanden wissen wollten: nicht an das Nu gebunden, sondern Resultat zeitlicher Verzögerungen und Stockungen, kein substantielles Moment, sondern eine Konstellation voneinander abhängiger Szenen, nicht Eines, sondern Vieles, nicht essentiell, sondern differenziert, nicht vollständig, sondern fragmentarisch und ergänzungsbedürftig. Sie ist kein dem Subjekt Zugetragenes, sondern Produkt eines komplexen, stets offenen Arbeitsprozesses, innerhalb dessen sich das Subjekt der Erfahrung und deren Gegenstände herausbilden.840

Erst aus der zeitlichen Distanz heraus wird manchen Ereignissen und Personen Bedeutung beigemessen. Die Lebensphasen, in denen man sich selbst und das Geschehen als passiv empfindet, bleiben seltener haften als Augenblicke, die stärkere Emotionen hervorrufen, zu denen man einen emotionalen Bezug hat. Um mit Niklas Luhmann zu sprechen, machen einen Lebenslauf unter anderem 839 Weber, Max: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906). In: Max Weber im Kontext. Gesammelte Schriften, Aufsätze und Vorträge. Werke auf CDROM. Berlin 1999. Kap.-Nr. 410/1095, WL 280. 840 Finck, S. 72.

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die »Wendepunkte [aus], an denen etwas geschehen ist, das nicht hätte geschehen müssen.«841 Diese sind gerade im Hinblick auf die Rekonstruktion wichtig. Karlheinz Stierle betont, dass das Selektionsverfahren von Erinnerungen bereits auf der sogenannten »pränarrativen Ebene« stattfindet, auf der all das von Bedeutung ist, »was sich zu Geschichten ordnet und in ihnen zugleich eine prägnante Zeitgestalt gewinnt.«842 Die Erinnerungsarbeit birgt laut dem Erzähler bei Uwe Timm die Gefahr der Subjektivität in sich: »Ich wüsste gern, wann und wie, und muss mich davor hüten, aus der Beschreibung des Erinnerungsvorgangs in wunschgelenkte Mutmaßungen zu kommen.«843 Daher werden zur Objektivierung von Erinnerungen die eigenen Erinnerungen mit denen der anderen Personen verglichen. Meistens werden sie mit Familienmitgliedern besprochen, abgestimmt und um ihre Erinnerungen ergänzt. Die Spurensucherin Monika Jetter vergleicht ihre Erinnerungen mit der ihrer Schwester : »Meine Suche nach dem Lebensweg des Vaters mit all den Anträgen, die ich später dafür stellte, führte auch immer zu Gesprächen mit ihr über unsere gemeinsame Vergangenheit.«844 Dabei stellte sie mehrere Unterschiede in der Art, wie sie dieselben Ereignisse empfinden und erinnern, fest. Die Sicht ihrer Schwester auf die Vergangenheit, lässt sie das Geschehen vor dem breiteren Horizont der Familie sehen. Damit wird die Subjektivität, die dem Erinnerungsprozess zugrunde liegt, relativiert.

Die Deutung der Vaterspuren Zur Erschließung der Persönlichkeit des Vaters dienen zusätzlich die von ihm selbst verfassten Texte, die im Zuge eines hermeneutischen Interpretationsverfahrens die Rekonstruktionsarbeit unterstützen. Viele von den Spurensuchenden orientieren sich in ihrer Analyse, wie im Bruhns Text, grundsätzlich an persönlichen Dokumenten der Familie: »Ich lese seit Monaten in fremden Leben herum, in Briefen, Tagebüchern, in Schriftlichem aus mehr als 100 Jahren, das ich zusammengetragen habe aus den Katakomben der weitverzweigten Sippe.«845 Dabei wird den Tagebüchern ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Die Vorzüge des Tagebuchs, vor allem gegenüber dem fiktionalen Schreiben, das ebenfalls einen Teil des Nachlasses des Vaters ausmacht, bringt Bernward Vesper zur Sprache: 841 Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard.: Karrieren. In: Diss.: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt am Main 1999, S. 19. 842 Stierle, S. 32. 843 Timm, S. 79. 844 Jetter, S. 72. 845 Bruhns, S. 8.

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Das Tagebuch ist gegenüber dem Roman ein ungeheuerer Fortschritt, weil der Mensch sich weigert, seine Bedürfnisse zugunsten einer »Form« hintenanzustellen. Es ist die materialistische Auflösung der Kunst, die Aufhebung des Dualismus von Form und Inhalt. Die Form erscheint in ihm, überhaupt im kreativen Schreiben, nunmehr als »Grenze der momentanen Wahrnehmung.«846

Die Ego-Dokumente verkörpern (im Rahmen der Tradition der Werkpsychologie) »Handlungsresultate, die über den Handelnden etwas anzeigen, berichten, lehren (lat. docere).«847 Sie liefern in der Vater-Spuren-Suche Informationen zum Vater und seiner Geschichte im Kontext. Außerdem werden die Spuren in der Textoberfläche gedeutet. Jacques Derrida macht auf die unbewusst hinterlassenen Spuren im Text aufmerksam, u. a. Zitate, Ausrufezeichen, Anspielungen, Leerstellen, Abkürzungen, Codierungen, Stilistische Eigenschaften, die einen bedeutsamen – weil authentischen – Informationengehalt in sich tragen.848 Dies wird von den Spurensuchenden in ihrer Untersuchung mitgedacht.849 Sowohl die Spurensuchenden von Leupold, Weiss, wie auch Bruhns versuchen aus dem Satzbau, der Wortwahl und der meist schwer zu entziffernden Handschrift, die Charakterzüge des Verfassers zu erschließen: Ich weiß auch nicht, wie der Mann, der mein Vater war, geredet hat. Das wäre wichtig jetzt, wo ich versuche, ihn mir zurechtzulegen. Zappelt er mit den Händen, wie ich, ist er laut, impulsiv? Wenn er schreibt, und er schreibt viel, klingt er überlegt. Er verschreibt sich nie, auch mit der Maschine nicht. Er muß sich nicht korrigieren, weder im Satzbau, noch in der Orthographie, schon gar nicht in seinen Gedanken. Sehr aufgeräumt das ganze. Und die Schrift erst – klein gestochen leserlich sowohl in Sütterlin als auch in Latein. Er schreibt wie sein Vater – überhaupt mein Großvater, ob es sonst noch jemand gibt, vor dem er so viel Respekt hatte? Allein wie sie Fotoalben anlegen, alle beide – weiße Tinte, akkurate Randlinien um jedes Bild gezogen, minutiös beschriftet.850

Die persönlichen Dokumente bieten ein breites Spektrum an Spuren von Identität und Zeit. Aus Wortwahl oder Wortkombinationen werden die psychische Verfassung, die Denkweise sowie ein komplexes Persönlichkeitsprofil des Vaters gedeutet. So versucht auch die Erzählerin bei Leupold in Tagebucheinträgen die Charakterzüge ihres Vaters zu ermitteln, indem sie vor allem auf undatierte, codierte Seiten und topographische Skizzen851 aufmerksam wird: 846 Vesper, S. 36. 847 Ballstaedt, Steffen-Peter : Zur Dokumentenanalyse in der biographischen Forschung. In: Jüttemann, Gerd/Thomae, Hans (Hrsg.): Biographie und Psychologie. Berlin/Heidelberg/ New York/London/Paris/Tokyo 1987, S. 205. Genauso wie schriftliche Dokumente können auch Fotos bzw. Bild- sowie Sachdokumente ausgewertet werden. 848 Vgl. Lorenz, S. 166. 849 Ebd. 850 Bruhns, S. 9. 851 Vgl. Leupold, S. 144 f.

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Es ist ein Heft voller Aborte, nichts ist zu Ende geführt. Es ist, als würde der Verfasser mit jeder erneuten Drehung des Buchs – ins Literarische, ins Militärische, ins Wissenschaftliche – hoffen, einen Zugang zu finden zu einem endgültigen Verstehen. In der Mitte der Kladde sind Reste herausgerissener Seiten – das Invalide, das Ungültige überall.852

Die Erzählfigur bei Uwe Timm entdeckt in den Notizen ihres Bruders die Züge des früher herrschenden Zeitgeistes: »In den Akten, Berichten, Büchern der Zeit finden sich immer neue Abkürzungen, unverständliche, rätselhafte Buchstaben, meist in Versalien, hinter denen sich die hierarchischen Ordnungen verbergen und zugleich offenbaren, als bürokratische Drohung.«853 Die persönlichen Dokumente bieten mehrere Interpretationsmöglichkeiten, wobei »die Rekonstruktion psychischer Strukturen und Prozesse« nicht risikofrei ist.854 Die in Texten vorkommenden »Auslassungen, Motivblindheiten, Verzerrungen, Stimmungseffekte, unbewusste[n] und sogar bewußte[n] Täuschungen«855 sind durch ihre Subjektivität wissenschaftlich nicht relevant, jedoch hilfreich in der biografisch-psychologischen Forschung, wenn man wie die Erzählerin von Dagmar Leupold die Möglichkeit der Selbststilisierung berücksichtigt: Das ist am schwierigsten zu verstehen: daß für ihn im Schreiben nicht die Möglichkeit der Distanzierung, des Ausdrucks einer Verstörung und des Ringens um Verstehen lag, sondern daß es zunächst der Selbststilisierung, der koketten Reflexion im Spiegel der Schrift diente, und dann, als mit der eigenen Verwundung deutscher Städte mit unzähligen zivilen Opfern eine derartige Umwertung nicht mehr durchführbar war, zum Ort des Schweigens wurde und der Ausflucht.856

In der Deutung von Ego-Dokumenten wird der Spurensuchende mit einem selbstkreierten Bild Selbstkreation des Verfassers konfrontiert. Daher ist er Steffen-Peter Ballstaedt zufolge gezwungen, den doppelten Sinn der Einträge mitzudenken, um die sogenannten »latenten Sinngehalte« aus dem Text entziffern zu können.857 Er differenziert wie Jürgen Ritsert zwischen drei Arten von Sinngehalten, die ebenfalls in der Interpretationsphase der Vater-Spuren-Suche berücksichtigt werden: 1) »Gesellschaftliche Konnotationen, die der Autor bei Begriffen oder Ausdrücken mitgedacht hat,« 2) »Sinngehalte, die ohne bewußte Absicht des Verfassers zum Ausdruck kommen,« 3) »Sinngehalte, die dem Text durch den historischen Abstand zuwachsen, so daß ein Interpret den Urheber

852 853 854 855 856 857

Ebd., S. 154. Timm, S. 34. Ballstaedt, S. 205. Ebd. Leupold, S. 152. Ballstaedt, S. 206.

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des Dokumentes besser versteht, als dieser sich selbst verstand.«858 Außer einigen Botschaften und Anhaltspunkten, die die persönlichen Dokumente zwischen den Zeilen vermitteln, sind sie oft als Informationsquelle bei der Suche nicht weiterführend, da sie unter einer Fülle von belanglosen Mitteilungen nichts Näheres über die Person des Vaters verraten. Das Tagebuch und die Briefe des Vaters vom Erzähler Weiss schildern detailliert den soldatischen Alltag oder Frauengeschichten, geben aber keinen Zugang zur Gedanken- oder Gefühlswelt des Verfassers. Dieser bleibt hinter Banalitäten und Floskeln verborgen. Dabei stellt der Sohn in der Tagebuchabschrift, die vom Vater nach dem Krieg angefertigt wurde, Verarbeitungsspuren fest: Der Kriegsalltag wird ausführlicher beschrieben und es fehlen mehrere Erlebnisse mit Frauen. Die Frage, warum er überhaupt eine Kopie angefertigt hat, bleibt offen. Das Kriegstagebuch des Bruders in Timms Text schildert lediglich den Kriegsalltag, ohne auf die psychische Verfassung des Autors einzugehen. Auf eine ähnlich emotionslose Art verfasst der Vater in Leupolds Roman sein Tagebuch. Der Vater der Erzählerin Ute Scheub wird durch seine Unfähigkeit sich auszudrücken sowie seine pathetisch und für die Tochter »autistisch« wirkende Schreibweise nur schwer verständlich: »Einer seiner typischen Sätze. Eine Nullaussage. Ein geschwollenes, geschwulstiges Nichts. Was soll das denn heißen? Welchen Sinn sollte das ergeben?«859 Dabei ist es nicht allein die hermetische Ausdrucksform der Väter, die den Spurensuchenden bei der Analyse der Einträge Schwierigkeiten bereitet. Oft ist die »Kampfschrift«860 des Vaters selbst problematisch, da sie sich, wie im Falle des Tagebuchs in Leupolds »Nach den Kriegen,« nur schwer entziffern lässt: Während ich diesem Mann, der später mein Vater wurde, auf der Spur bin, sehe ich mich selbst: über die Tagebücher gebeugt, im Kampf mit der stark nach rechts geneigten, langgezogenen Schrift, den u-Oberstrichen und t-Querstrichen, die sich kaum unterscheiden lassen, den kryptischen Abkürzungen und polnischen Einsprengseln. Ich sehe mich in Archiven und am Telefon, beim Öffnen von Briefen mit Nachrichten aus Fernen, die sich mit der Zeitangabe »vor sechzig Jahren« nicht im geringsten beschreiben lassen.861

Neben den »personal documents« stehen mehreren Spurensuchenden zusätzlich noch schriftstellerische Proben bzw. Publikationen ihres Vaters zur Verfügung. Mehrere Väter, z. B. der Schriftsteller Eberhard Meckel, die Väter der Erzählfiguren von Dagmar Leupold und Ute Scheub, hinterließen eigene literarische 858 Ballstaedt, S. 206. Vgl. Ritsert, Jürgen: Inhaltsanalyse und Ideologiekritik. Ein Versuch über kritische Sozialforschung. Frankfurt am Main 1972. 859 Schueb, S. 12. 860 Ebd., S. 10. 861 Leupold, S. 112 f.

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Werke. Im Tagebuch des Vaters der Erzählerin bei Dagmar Leupold finden sich sowohl mehrere mathematisch ausgelegte Problemstellungen als auch Buchprojekte, u. a. der Entwurf der Erzählung »Das Gestern« und die Novelle »Heidi« sowie Geschichten, »die seine eigene ins Märchen- und Schicksalhafte übersetzten.«862 Er verfasste sie im märchenhaften Ton nach dem Vorbild von Thomas Mann, indem er volkstümliche Formen zu verwenden suchte sowie alte Stoffe wiederaufnahm und bearbeitete,863 was von der Tochter als »ein peinlich aufgeladenes, mythologisch aufgeheiztes Raunen im Duktus des Zarathustra«864 beurteilt wird: Anders als beim bewunderten Thomas Mann tut sich in solcher Verbrämung kein allegorischer Raum auf, der lehrreiche Analogien vermitteln könnte. Der Zuckerguß aus Diminutiven, archaischen und volkstümlichen Wendungen, unter denen nichts zum Vorschein kommt, kommen kann, erstickt alles Kenntliche. Lob des Unwissens.865

In einem ähnlichen Ton schreibt der Vater der Erzählfigur von Ute Scheub. Neben seinem Selbstportrait mit dem sagenhaften Titel »Der junge Deutsche« und zahlreichen moralisch-belehrenden Manuskripten versucht er sich mit seinem Text »ein Märchen vom Mummelsee« ebenfalls im Lyrischen. Sein Bedürfnis zu schreiben sieht die Tochter als ein Nebeneffekt seines Schweigens im Familienalltag. In seinen Werken lebt er sein Leben nach dem Krieg weiter. In ihnen kreiert er seine eigene Welt und kontrolliert all das, was er im realen Leben nicht konnte: »Wie ein verrückter hat mein Vater damals Texte produziert. Als ob er sich im gesunkenen Schiff Nationalsozialismus hätte ab-dichten müssen gegen aufkommende moralische Zweifel. Als ob er angeschrieben hätte gegen ein sich regendes Gewissen.«866 Ganz im selben Sinne zieht sich Eberhard Meckel in den 1930er Jahren (und später während des Krieges) ins Lyrische zurück. Der Sohn sieht im Schaffen des Vaters einen Fluchtversuch vor der Gegenwart: Während um ihn die Geschichte tobt, verschanzt er sich hinter seinen zeitlosen bzw. lebensfremden Texten: »Man kapselte sich in Naturgedichten ab, verkroch sich in die Jahreszeiten, im Ewigen, Immergültigen, Überzeitlichen, in das Naturschöne und in das Kunstschöne, in Vorstellung von Trost und den Glauben an die Hinfälligkeit zeitbedingter Miseren.«867 Obwohl um ihn herum sozial-politische Umbrüche stattfinden und Verbrechen verübt werden, schreibt er zum Unverständnis des Sohnes weiterhin seine »ruhigen Verse in traditioneller

862 863 864 865 866 867

Ebd., S. 149. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Ebd. Scheub, S. 152. Meckel, S. 29.

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Manier.«868 Sein Stil bleibt angesichts des Geschehens der Gegenwart unerschütterlich. Die lyrische Melancholie der Werke interpretiert der Sohn als Wunsch seines Vaters, in eigenen Versen Ruhe und Einkehr in die Innerlichkeit zu finden. In seiner »poetisch-intuitiven« und »unprogrammatischen« Art sieht der Sohn die »naturromantische Anarchie« als die Antwort auf den herrschenden Zeitgeist.869 Es war die Art des Vaters sich in Opposition gegen das Dritte Reich zu positionieren. Als ein sehr oft vorkommender Bezugpunkt sowohl in den Schriften der Väter als auch bei deren Untersuchung erweist sich Ernst Jünger und sein Schaffen. Sein Werk »Wäldchen« wird beispielsweise in Meckels Tagebucheintragungen erwähnt und der Autor selbst als ein »wunderbarer Kopf«870 gerühmt. Die Erzählfigur von Hans Weiss zieht Jünger als Opposition zu seinem Vater heran und konstatiert: »Mein Vater war kein Ernst Jünger. Er war kein kaltblütiger Soldat, dem das eigene Leben und das seiner Feinde wenig bedeutete, er zelebrierte keine Heldentaten.«871 Dabei veranschaulicht der Erzähler bei Uwe Timm am Beispiel von Jüngers »In Stahlgewittern«872 die für den Kampf gegen den Nihilismus verherrlichten sozialen bzw. moralischen Tugenden wie Todesmut, Pflicht, Opfer und Gehorsam, die »absoluten Werte«, die laut ihm die Vätergeneration ihre Verbrechen begehen ließ.873 Die Erzählerin bei Leupold entdeckt in »Strahlungen«874 von Ernst Jünger die Vorlage für das Tagebuch ihres Vaters: »Bis in die Diktion: Gedanke: schreibt Jünger und läßt dann den Gedanken folgen. Gedanke: schreibt R. L. und führt ihn in einer kurzen Skizze aus.«875 Als Beweis findet sie in Vaters »Strahlungen«-Exemplar markierte Stellen, die sie in seinen Einträgen wiederentdeckt. In seinen Notizen bemerkt sie denselben für Jünger so charakteristischen teilnahmslosen Forscherblick auf das Grausame sowie das »ungewöhnliche« Interesse an Natur und Landschaft.876 Sie vergleicht sogar einzelne Passagen mit dem Original und entdeckt Parallelen in Perspektivierung, Ästhetik und Metaphorik. Ähnliche Beobachtungen macht sie in Bezug auf Gottfried Benn, den zweiten Paten des Tagebuchs877 ihres Vaters. Seine Text-Sammlung »Der Ptolemäer«878 finden sich wie »Strahlungen«879 von Jünger 868 869 870 871 872 873 874 875 876 877 878 879

Ebd. Vgl. ebd., S. 33 f. Meckel, S. 40. Weiss, S. 19 f. Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Stuttgart 1961. Timm, S. 153. Jünger, Ernst: Strahlungen. Tübingen 1949. Leupold, S. 169. [Hervorhebung: D.L.] Vgl. ebd., S. 171. Vgl. ebd., S. 179. Benn, Gottfried: Der Ptolemäer. Wiesbaden 1949. Leupold, S. 177.

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im Tagebuch wieder. Zwar empfindet sie den Vater viel »sentimentaler und defensiver im Ton« als Benn, doch wirft beiden den Mangel an Empathie gegenüber den Opfern vor880 und stellt resümierend zuletzt fest: Bei allen Unterschieden haben R.L. und die von ihm gewählten Paten eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie beziehen zum Krieg, zur nationalsozialistischen Ideologie und ihren verheerenden Folgen nicht Stellung, sondern nehmen eine Pose ein – sie treffen also statt einer politischen (und damit verknüpft) ethischen Wahl eine ästhetische.881

Das biographische Paradigma und seine Deutungsmuster Im Deutungsverfahren der Vater-Spuren-Suche werden häufig verschiedene Relativierungs- bzw. Rechtfertigungsmethoden, wie Pauschalisierung, Betonung des Gruppenzwangs bzw. der üblich herrschenden Verhältnisse oder der Unzurechnungsfähigkeit des Individuums angeführt. Sie werden im Rahmen eines komparablen oder konträren Vorgehens, z. B. durch Analogienbildung, Sequenzstruktur sowie Repräsentativität oder Polaritätsmuster angewandt. So stellt die Erzählerin von Wibke Bruhns die Entscheidungen und das Handeln ihres Vaters als typisch für die damalige Gesellschaft dar, genauso wie die Erzählfigur Christoph Meckel das passive Verhalten ihres Vaters und seinen »Rückzug in schöne Verse«882 während des verbrecherischen nationalsozialistischen Regimes als eine Haltung erfasst, die »allerlei Literaten seiner Generation (eine ganze Phalanx der jüngsten Intelligenz)«883 eigen war. Gerade in den Werken der zweiten Publikationswelle wird das biographische Paradigma mehr als zuvor hervorgehoben. Der Erzähler von Martin Pollack unterstreicht »unübersehbare« Parallelen in Lebensläufen des Vaters und seines Bruders: »Beide studierten in Graz Jus, traten in die schlagende Burschenschaft Germania ein, trugen stolz Schmissnarben zur Schau, dachten deutschnational, wurden radikale Nationalsozialisten.«884 In ähnlicher Weise zeigt er Ähnlichkeiten in den aufeinanderfolgenden beruflichen Laufbahn-Stationen mehrerer Leiter des Einsatzkommandos auf: juristische Ausbildung, Beitritt zur NSDAP Anfang der 1930er Jahre, ein paar Jahre später gleichzeitige Aufnahme in die SS und SD, nach dem Anschluss die höhere Karriere in der Gestapo in Münster, Koblenz, dem

880 881 882 883 884

Vgl. ebd., S. 178. Ebd., S. 179. Meckel, S. 39. Ebd., S. 29. Pollack, S. 132.

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RSHA in Berlin, Südrussland.885 Im Werk von Meyer wird ebenfalls mit Parallelenbildung gearbeitet: Um dich verstehen zu können, habe ich nach Parallelen zu Himmlers Gedankenwelt gesucht. Ich glaube einen Zusammenhang von Preußentum und Nationalsozialismus herstellen zu müssen, um die Tradition von Mentalitäten in der deutschen Vergangenheit aufzuzeigen, in die ich dich gestellt sah.886

Die neuen Publikationen führen das Handeln der Väter und seine Konsequenzen auf ein komplexes Erziehungssystem und die deutsche Mentalität zurück, indem sie wie die Erzählerin von Ute Scheub den Vater als Prototypen der Uniformträger dieser Generation in der Kausalbetrachtung erforschen: »In gewisser Weise war er die Verkörperung jenes deutschen Prototyps, der seit dem Kaiserreich eine politische Katastrophe nach der anderen herbeigeführt hatte. Suchend nach dem Absoluten. Süchtig nach Untergang und Erlösung. Immer unterwegs, unfähig, über diese Suchsucht zu reden.«887 Die Untersuchung der Vater-Figuren im Kontext ihrer Generation oder ihres Milieus, die Schematisierung und Pauschalisierung ihrer Verhaltensweisen ist für die biographische Forschung eine typische Erscheinung, da sie auf Verallgemeinerungen abzielt: »auch die Untersuchung des Einzelfalls dient meist nicht allein der Untersuchung des Einzelfalls, sondern will Muster, generelle Strukturen, Ablaufformen, Regeln, Strukturtypen, Lösungsformen herausarbeiten.«888 Dabei wird die Tendenz zu Typisierung und Generalisierung stärker in den Werken der zweiten Publikationswelle sichtbar. Das Mentalitätsprofil des Vaters, der Zeitgeist sowie die Kausalitäten werden paradigmatisch untersucht und konstruiert. Das untersuchte Deutungsverfahren weist in seiner Methodik Ähnlichkeiten mit der »Vergleichenden Interpretation« von Jürgen Straub auf.889 Die »reinen Typen von Vergleichshorizonten: Explizit empirisch fundierte« Vergleichshorizonte, »Alltagswissen des Interpreten« als Vergleichshorizont, »theoretisch begründete« sowie »imaginative, gedankenexperimentelle« Vergleichshorizonte lassen sich im interpretatorischen Vorgehen der Spurensuchenden wiederentdecken.890 In deren Rahmen werden die gesammelten Spuren gedeutet, indem auf andere Dokumente, das Eigenwissen und die Vorstellungskraft des Interpreten sowie 885 Hier wird der Lebenslauf des Vaters mit dem von Werner Braune, dem Chef der Gestapo der Staatspolizeistelle Wesermünde und später Anführer des Sonderkommandos 11b das Teil der Einsatzgruppe D. verglichen. Vgl. ebd., S. 162. 886 Meyer, Kurt, S. 230. 887 Scheub, S. 65. 888 Fuchs, Werner, S. 161. 889 Vgl. Straub, Jürgen: Zeit, Erzählung, Interpretation. Zur Konstruktion und Analyse von Erzähltexten in der narrativen Biographieforschung. In: Röckelein, Hedwig (Hrsg.): Biographie als Geschichte. Tübingen 1993, S. 166. 890 Ebd.

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Sekundärliteratur zurückgegriffen wird. Anhand von (populär-)wissenschaftlichen Texten sowie Fachliteratur werden Leerstellen bewältigt, die im Laufe der Rekonstruktion zum Vorschein gekommen sind. Die vergleichende Interpretation berücksichtigt einerseits das Vorwissen des Spurensuchenden und liefert andererseits Fachinformationen zu jeweiliger Problematik. Aufgrund ihrer ergänzenden und erklärenden Funktion gilt ihre Anwendung als eine zusätzliche sinn- sowie authentizitätsstiftende Methode, die besonders in neueren Texten geläufig ist – ganz im Sinne von Lorenz, der jeden Faktor als »unzureichend (insufficient)«, aber »nicht als überflüssig (non-redundant)« sieht.891 Die jeweiligen Entscheidungen bzw. Handlungen der Väter werden im Rahmen der Begründungsrationalität mit Hilfe von historischen, soziologischen sowie psychoanalytischen Erkenntnissen erläutert. In den Werken werden einzelne Erklärungskonzepte mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung sichtbar, die die Vater-Spuren-Suche strukturieren. Generell lassen sich gemeinsame normierende Deutungsmodelle im Hinblick auf das soziopsychologische Profil des Vaters herausarbeiten, die einen paradigmatischen Charakter aufweisen.

Das deutsch-preußische Konzept Eine der häufig verwendeten Interpretationslinien konzentriert sich auf der Herleitung der väterlichen Weltanschauung und Verhaltensmuster aus der deutsch-preußischen Mentalität. Deshalb wird in der Persönlichkeitsentwicklung der analysierten Väter deren eigenen Vätern und ihren Erziehungsmethoden eine enorme Rolle zugeschrieben. Durch die aktive Teilnahme am Ersten Weltkrieg sowie ihre Obrigkeitsloyalität haben die Väter für ihre Söhne als Beispiel für Pflichtbewusstsein gegenüber dem Vaterland und Opferbereitschaft für die deutsche Nation fungiert. Ihr autoritäres Auftreten und Handeln nach dem soldatischen Ehrenkodex wirkt sich auf die nächste Generation aus, so daß diese ebenfalls von ihren Söhnen und Töchtern Respekt vor Rang und Ordnung sowie Begeisterung für die Soldatenwelt abverlangen. Die Erzählfigur von Meckel erwirbt durch die Erziehung ihres Vaters u. a. »den Sinn für Prinzip und Strafe und den unbedingten Glauben an Autorität.«892 In den meisten Familien der analysierten Väter wurden Werte kultiviert, die sich aus der Bedeutung der Uniformträger im kaiserlichen Deutschland oder K.u.k Monarchie herleiten lassen. Die generationsübergreifende Verehrung Kaiser Wilhelms und seiner Nachfolger sowie eine Erziehung im Geist der preußischen Prinzipien werden vor allem in den Texten von Ruth Rehmann und Martin Pollack sichtbar : 891 Vgl. Lorenz, S. 195. [Hervorhebung: L.Ch.] 892 Meckel, S. 23.

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Bei den Bastischen in Tüffer hing nicht der sonst allgegenwärtige Kaiser Franz Josef in der guten Stube, sondern Wilhelm, der Preuße, mit stechendem Blick und kühn gezwirbeltem Schnurrbart, obwohl Paul Bast als Rheinländer für die Preußen sonst nicht viel übrig hatte. Aber mehr als für die Habsburger. Die waren Verräter, Freunde der Slawen, Tschechen, Slowenen. Voll Hoffnung schaute man nach Deutschland. Das Deutsche Reich. Der eiserne Kanzler. Bismarck. Wir Deutsche fürchten Gott da droben, sonst aber nichts auf der Welt. Der Gott, der Eisen wachsen ließ.893

Der Erzähler von Kurt Meyer sieht in dem Verhältnis zwischen Friedrich Wilhelm und seinem Sohn Friedrich dem Großen ein gesamtgesellschaftliches transgenerationelles Paradigma der Vater-Kind-Beziehung, die sich an den Werten des Untertans orientierte: »Befehl und Gehorsam, Ordnung und Unterordnung, Gesetz und Unterwerfung: Das waren die beherrschenden Kriterien im Staate Friedrich Wilhelms, nach denen sich jeder ›ohne Raisonnement‹ zu richten hatte.«894 Die Disposition des Volkes für die Präferenz von starken charismatisierten politischen Persönlichkeiten (die Verehrung von Friedrich dem Großen, der Kaiserkult um Wilhelm II., die Bewunderung des Eisernen Kanzlers Otto von Bismarck, die militärische Gloriole um Hindenburg und Ludendorff und endlich die Vergöttlichung von Adolf Hitler) ist geschichtlich nachvollziehbar. Die Erziehung im Geniekult, im Respekt für die Vergangenheit und in der Befürwortung der zentralisierten Macht sowie Begeisterung für den arischen Mythos bildete die Voraussetzung für die Fortsetzung der Tradition der historisch mythisierten Großmacht des Vaterlandes. Der Erzähler von Meyer betont die für Preußen bezeichnende Dominanz des Über-Ich, den »moralischen Rigorismus«895 und »die unglaubliche Pedanterie, dieses bürokratische Denkens angesichts des Lebendigen im Namen einer höheren Ordnung«896 als charakteristisch für die Tradition der deutschen Mentalitätsgeschichte, deren Konsequenzen in den Verbrechen des Dritten Reiches mündeten. Die Erziehungsmethoden der meisten Väter, die Gefühlsabstumpfung, unbedingte Unterwerfung sowie Autoritätsfixierung zum Ziel hatten, förderten die männlich-soldatische Härte und Strenge im nationalsozialistischen System. Der Erzähler von Christoph Meckel sieht besonders in den strengen Familienverhältnissen traditionsgeleitete Determinanten, die den Vater – das »ausgespuckte Kind«897 – negativ geprägt haben: »Mein Vater litt unter chronischer Lieblosigkeit und stotterte früh. Was immer er tat, seinen Vater zu überzeugen, wurde knapp und kalt mit Verachtung belegt.«898 In derselben Tradition wird auch er 893 894 895 896 897 898

Pollack, S. 30. Meyer, Kurt, S. 125. Ebd., S. 130. Ebd., S. 127. Meckel, S. 21. Ebd., S. 23.

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selbst erzogen, indem er immer wieder von dem Vater : »du bist nichts, du kannst nichts, mach deine Schulaufgaben«899 hört. So lernt auch der Vater der Erzählfigur Henisch, sowohl in seiner Familie als auch in Erziehungsanstalten den Sinn für »Gesetz und Ordnung« durch Erniedrigungen, Mobbing, Strafen und Prügel.900 Die Erzählerin Ute Scheub sieht u. a. die körperliche Gewalt als Faktor, der die »Fähigkeit zum Mitgefühl« bei ihrem Vater zerstörte.901 Ihrer Recherche zufolge, empfand ihr Vater die Erziehung zu Schweigen und Gehorsam sein ganzes Leben lang als hemmend und unterdrückend: Der Druck auf seine Schultern musste Manfred Augst [der Vater] schon von Kindesbeinen an verbogen haben. Wenn er mal nichts tue, schrieb er später an seine Frau, bekomme er sofort »Schuldgefühle«. Die schwäbische Lebensauffassung, »Schaffe, schaffe!«, saß ihm in den Knochen, und sein Vater, der Volksschullehrer, verlangte von ihm immer härtere Leistung! Leistung! Manfred Augst wollte nach oben kommen, er wollte studieren, seinen Doktor machen, eine Laufbahn als Wissenschaftler einschlagen, der Welt zeigen, dass er Wertvolles leisten konnte. Seine lebenslange Getriebenheit und Gehetztheit spiegelte diesen Grundkonflikt, Anforderungen von außen übernommen zu haben und sie doch nicht erfüllen zu können. Dass er nicht zu dem wurde, was er hatte werden wollen, dafür machte er »die anderen« verantwortlich, »die Gesellschaft.«902

Diese Abrichtungsmaßnahmen macht die Erzählerin Ute Scheub für das destruktive Verhalten ihres Vaters mitverantwortlich: Härte zeigen, zu Härte erziehen, das war eine unselige deutsche Tradition. Mein Vater verstand genauso wenig wie seine Generation und die vor ihm, dass diese angeblich so deutsche, angeblich so männliche Tugend Mitverursacher war für die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und Mitverursacher ihrer fehlenden Aufarbeitung. Härte zerstört Mitgefühl, verlängert Traumata, betoniert psychische Schmerzen und bewirkt unüberwindbare Einsamkeit.903

Die Spuren der nationalsozialistischen Erziehungsmethoden konnte sie im alltäglichen Leben ihres Vaters unmittelbar erleben: Härte zeigen, sich abhärten, das war sein Erziehungsprogramm, auch und zuallererst gegenüber sich selbst. Morgens duschte er kalt, zur Abhärtung, wie er sagte, und eine Weile lang tat ich es ihm freiwillig nach, in dem verzweifelten Bemühen, ihm zu imponieren. Doch da ich auch dafür keinen Lidschlag erhöhter Aufmerksamkeit kassierte, gab ich das unangenehm kalte Ritual schnell wieder auf. Hä rte zeigen, das hieß für ihn auch, den eigenen Körper wie einen Feind zu behandeln. Er mochte ihn nicht, er bewohnte ihn nicht. Härte hieß, weder sich noch anderen gegenüber Gefühle 899 900 901 902 903

Ebd. Henisch (1980), S. 43. Vgl. Scheub, S. 71. Ebd., S. 69. Ebd., S. 30 f.

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zuzulassen. Er lebte in seiner Einsamkeit wie in einem inneren Bunker. Alles zubetoniert, Luken dicht, der Krieg ging außen für ihn weiter. Er panzerte sich gegen seine Angst. Gegen jede Art von Erweichung und Erwärmung. Er ließ es nicht zu, dass menschliche Zuneigung aufkam, er erstickte sie im Keim. Ob ich deshalb so eine Angst vor Kellern und Bunkern jeder Art habe?904

Die Erzählfigur von Monika Jetter beobachtet ebenfalls noch in der Nachkriegszeit die Folgen der Indoktrination im Verhalten ihres Vaters: »Im Grunde war es aber so, dass ich mein Recht forderte auf einen eigenen Kopf, auf mein Denken, während sein Kopf noch immer besetzt war von einer Ideologie, die kein eigenes Denken erlaubte.«905 Das Soldatengemeinschafts-Konzept Ein weiteres Erklärungskonzept wird aus der Bedeutung der Soldatengemeinschaft und des Krieges für den gesellschaftlichen Status abgeleitet. Demnach war die militärische Laufbahn sowie die Teilnahme der Väter am Krieg traditionsbedingt und bot Anerkennung seitens des eigenen Vaters sowie der Gesellschaft. Die Teilnahme am Krieg bot den Vätern die Möglichkeit, die eigene Männlichkeit und Ehre unter Beweis zu stellen. Außerdem bot der Krieg Auszeichnungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Für das wohlhabende gebildete Bürgertum war die militärische Laufbahn karrierefördernd und vordergründig eine Prestigefrage. Das Militär stellte eine überschaubare Hierarchie mit klaren Beförderungsmöglichkeiten dar. Der dort erlangte Status übertrug sich auf die stark militärisch geprägte Gesellschaft. Zusätzlich hatten die jungen Söhne durch die Erziehung im meist bürgerlich-konservativen und deutsch-nationalen Geiste generell eine idealisierte Vorstellung vom Helden- und Soldatentum, die ihre Begeisterung für den Krieg steigerte. In der Familie der Erzählfigur Bruhns wird diese von Generation auf Generation weitergegeben: Bei Kurt macht das Sinn. Ich sehe bei ihm kein Protest-Potenzial. Statt dessen spüre ich die Dringlichkeit in seinem Bedürfnis nach tätiger Zugehörigkeit zur kaiserlich-wilhelminischen Gesellschaft. Die gab es auch weit weg von Berlin in Halberstadt. Wichtigster Schlüssel dazu war die Armee. Kurt ist der erste Klamroth, der gedient hat, und wenn ich mir früher die albernen Fotos des Großvaters in seiner weißen GalaUniform ansah, die schnörkelig handgeschriebenen, mit königlich-preußischen Siegeln verzierten »Besitzzeugnisse« für seine vielen Auszeichnungen, dann habe ich immer gedacht, der hatte einen Knall.906

904 Ebd., S. 30. 905 Jetter, S. 62. 906 Bruhns, S. 34.

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Der Militärdienst wurde zu einer generationellen Mission mit festen Regeln von »Gottesfurcht, Mannesmut sowie Selbstbeherrschung.«907 Die Identifikation mit dem väterlichen Erbe bringt auch Ute Scheub in ihrem Roman zur Sprache: Die »Schmach von Versailles« konnten sie nicht akzeptieren: Ihre Kameraden sollten nicht vergeblich gestorben sein, der Krieg musste weitergeführt werden bis zum Endsieg. Und sie kämpften weiter, schlossen sich zu Freikorps und marodierenden Privatarmeen zusammen, später zur SA und SS, kämpften einen »dreißigjährigen Krieg« von 1914 bis 1945. Einer von ihnen hieß Adolf Hitler.908

Die Mitgliedschaft in »möglichst renommierten schlagenden« Vereinen, Verbindungen und Korporationen wie z. B. Burschenschaften sind in den meisten bürgerlichen Familien der Väter generationsbedingt. Laut Hans Ulrich Wehler bildete sie die Voraussetzung für die Erlangung von künftigen Führungs- und Spitzenpositionen in der Gesellschaft: hier erhielten die Aufsteiger »eine neue, feste umrissene Kollektividentität in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter.«909 Für die Väter aus einfachen Verhältnissen bedeutet sie soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Sie bekommen dort die Chance, eine gute Ausbildung zu genießen. Durch die zahlreichen durchlaufenen Jugendvereine und -organisationen sowie später besuchte nationalsozialistische Bildungsanstalten sind sie sowohl militärisch als auch akademisch hervorragend ausgebildet und auf künftige Führungspositionen vorbereitet. Man ließ diese Nationalsozialisten glauben, etwas »Besseres« und »Elitäres« zu sein – »Des Führers Elite!«910 Zusätzlich boten die Zugehörigkeit zur NSDAP, SA und schließlich SS neue Identifikationsmöglichkeiten, dies trifft beispielsweise für den Vater der Erzählerin von Ute Scheub zu: Manfred Augst [der Vater], der einsame, sehnte sich nach Gemeinschaft. Er wollte sich in ihr auflösen. In ihr untergehen. Sich selbst nicht mehr spüren müssen. Wie Millionen von anderen, so wollte auch er Anschluss. Hitler schloss Österreich an, Augst schloss sich Hitler an, jeder schloss sich an jeden an, Gleichschaltung eben, ein Volk, ein Reich, ein Stromschlag.911

Sie leitet die Affinität des Vaters für die Ideologie des Dritten Reiches aus seiner Rolle als Außenseiter und Benachteiligtem ab. Der Nationalsozialismus bietet ihm nicht nur eine Gemeinschaft, sondern auch einen Ersatzvater : Mein Vater hat sie [die Leere] mit stetem Aktionismus gefüllt, um sie nicht zu fühlen. Er entwickelte eine unstillbare Sehnsucht und Sehn-Sucht nach dem, was man ihm in der 907 Vgl. Timm, S. 44. 908 Scheub, S. 67 f. 909 Breymayer, Ursula: »Mein Kampf«: Das Phantom des Offiziers. Zur Autobiographie eines jüdischen Wilhelminers. In: Breymayer, Ursula/Bernd, Ulrich/Wieland, Karin (Hrsg.): Willensmenschen. Über deutsche Offiziere. Frankfurt am Main 1999, S. 82. 910 Jetter, S. 88. 911 Scheub, S. 87. [Hervorhebung: U.Sch.]

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Kindheit verweigert hatte. Sehnte sich nach einem starken Führer, der ihn so lieben würde, wie es sein Vater nie getan hatte. Sehnte sich nach einer »Aufgabe«, einer »Mission«, sehnte sich danach, akzeptiert und gebraucht zu werden. Mein Vater spürte ein Vakuum in sich, einen Unterdruck der Seele, einen Sehnsuchts-Sog, der mit nichts zu befriedigen war.912

Für den Vater der Erzählfigur von Monika Jetter, der ein uneheliches Kind war und aus armen Verhältnissen stammte, schafft die Volksgemeinschaft neue berufliche Perspektiven. Angesichts des herrschenden Hungers und Arbeitsmangels denkt niemand an Moral: »Alle waren anfällig, als Arbeit und Brot angeboten wurden. Die vielen Bücher, die ich darüber las, erklärten auch den Hunger des Vaters – besonders seinen Hunger danach, lernen zu können. Er suchte nach einer Aussicht auf ein besseres Leben.«913

Das Konzept der sozialen Benachteiligung In mehreren Erklärungsversuchen wird der Beitritt der Väter zu nationalsozialistischen Organisationen auf ihre Herkunft und soziale Benachteiligung zurückgeführt. Viele der analysierten Vaterfiguren entstammen einer Bevölkerungsgruppe, die sich als deutschsprachige Minderheit versteht. Sie haben aufgrund dessen gegen vermeintliche Diskriminierungen und Komplexe zu kämpfen. Von jung auf schließen sie sich in hermetischen Kreisen zusammen, um auf diese Art und Weise in der »Fremde« das (preußische) Deutschtum zu bewahren. Trotz guter Ausbildung und hoher Mobilität zeigen sie sich in den meisten Fällen nicht offen gegenüber dem Fortschritt sowie anderen Kulturen. Die mangelnde Bereitschaft zur Assimilation, die Isolierung von dem »Anderen« sowie die Diffamierung anderer Kulturen und Nationen verstehen sie als ihren persönlichen »deutschen Sonderweg,« der in der nationalsozialistischen Politik mündet. Die Erzählfigur Martin Pollack skizziert dies am Beispiel seiner Familie im Kontext einer deutschen Mentalitätsgeschichte. Sein Vater Gerhard Bast wächst in einer deutsch-nationalen, chauvinistisch gesinnten Familie der »Sprachgrenzdeutschen«914 auf. In der deutschen Minderheit wird besonders auf die Erhaltung und Überlieferung der deutschen Werte und auf gegenseitige Loyalität geachtet. Als Abgrenzungsmethode werden fremdenfeindliche und überhebliche Einstellungen gegenüber der »Andersartigkeit« gepflegt. Man übt an dem, was als undeutsch und bedrohlich für eigene Identität gelten konnte, Kritik und kultiviert von Generation zu Generation die angeblich »rein deutsche 912 Ebd., S. 72 f. 913 Jetter, S. 34. 914 Die Familie stammte aus den Gebiete im Untersteiermark, vor allem Tüffer (deutsche Bezeichnung für Lasˇko in Slowenien) und Gotschee.

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[n]« Tugenden. So werden auch dem kleinen Gerhard der Kult der Stärke, der Waffen sowie die Begeisterung für das Kriegerische zu Hause eingeimpft. Wie alle Männer der Familie Bast studiert Gerhard an der Universität Graz (von der er auch später seinen Doktortitel in Jura erhält) und gehört der Burschenschaft Germania an, denn in der Familie wird vor allem Wert auf typisch männliche physische Fähigkeiten gelegt. Wie der Vater in den Ersten Weltkrieg zog, will sich auch der Sohn in patriotischer Pflichterfüllung behaupten. Gemeinsam treten sie der NSDAP und der SS bei. Während Gerhards Vater eher symbolisch die Mitgliedschaft beantragt, bedeutete sie für den Sohn den Aufstieg in die Gestapo-Prominenz: »Plötzlich war man jemand: eben noch ein polizeilich verfolgter Illegaler, jetzt Machtträger, schwarze Uniform mit dem Totenkopf an der Mütze, jemand vor dem andere Uniformierte salutierten, zackig die Hacken zusammenschlugen.«915 Einen ähnlichen Lebensweg durchläuft der Vater der Erzählerin von Dagmar Leupold. Rudolf Leupold stammt aus Oberschlesien, einer »deutschen Sprachinsel,«916 wo eine radikale deutsch-nationale Einstellung vorherrscht. Diese wird in zahlreichen deutschen Vereinen (z. B. Verein Deutscher Hochschüler), im deutschen Gymnasium sowie schließlich in der Jungdeutschen Partei für Polen gepflegt. Der deutschen Minderheiten angehörend fühlt sich der Vater von anderen Bevölkerungsgruppen gefährdet und diskriminiert. Seine Tochter sieht diese Überempfindlichkeit gegen »[j]ede Benachteiligung – die reale ebenso wie die eingebildete, die schwerwiegende ebenso wie die geringfügige […] –«917 als einen der Faktoren, welcher den Werdegang des Vaters bedingt: Die Kränkung, als Deutscher zwanzig Jahre lang unter polnischer Herrschaft gelebt haben zu müssen, wird für ihn, Mitglied der deutschen »Minderheit« (numerisch allerdings war die deutsche Bevölkerung in der Mehrheit) zum Auslöser für alle folgenden – auch zwanghaften – Wahrnehmungen von Zurücksetzung. Vielleicht hätte er ohne den Nationalsozialismus und ohne den Kriegsausbruch einfach nur der berühmteste Mathematiker sein wollen; mit dem Krieg kam, anstelle der bloßen Machtphantasien, die reale Möglichkeit der Machtausübung und damit die Einladung, das Deutschsein nicht nur als Kern der eigenen Identität zu empfinden, sondern auch als Grundlage einer bedeutenderen Karriere anzusehen als diejenige, die lediglich aufgrund einer Ausbildung hätte angetreten werden können.918

915 Pollack, S. 102. 916 Rudolf Leupold wird in Bielitz (pol. Bielsko) geboren. Da seit dem 15. Jahrhundert die Gebiete westlich von Bielitz die Bevölkerung zunehmend polnischsprachig war, wurden die Gebiete um die Stadt Bielitz zu einer sogenannten Sprachinsel. Im Jahr 1910 machten die Deutschen rund 84 % Prozent der Bevölkerung in Bielitz aus. 917 Leupold, S. 116. 918 Ebd.

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Die Enttäuschungen, Kränkungen und die Radikalität der Vätergeneration werden nach dem Ersten Weltkrieg auf die Söhne übertragen. Der Vater von Rudolf Leupold zeigt sich ebenso wie der von Gerhard Bast über den Ausgang des Ersten Weltkrieges verbittert und skeptisch gegenüber der neuen Republik. Nach seinem Selbstmord sucht der Sohn nach radikalen Randgruppierungen im politischen Spektrum, in denen er sein »Bedürfnis nach Kompensation«919 zu stillen suchte. Seine angeblichen Benachteiligungen und sein Minderwertigkeitsgefühl veranlassen ihn zu noch stärkerem Ehrgeiz, Leistungsbereitschaft und Geltungsdrang, die ihn zu folgenden Tagebucheinträgen bewegen: »Lieber Gott, laß mich berühmt werden,«920 oder : »oh ich sehne mich nach der Führung über Menschen.«921 Der Nationalsozialismus ermöglicht es ihm, seinen Größenwahn – er hat Adelsansprüche – mit national-rassistischen Zügen auszuleben. Die neue politische Situation verhilft ihm zur beruflichen und gesellschaftlichen Verwirklichung. Noch nach dem Krieg bleibt er weiterhin ehrgeizig aber ohne Grundsätze und Ideale. Die Umorientierung hat ihn keine größere Überwindung gekostet. Als aktives Mitglied der Heimatvertriebenen bleibt er vom Osten fasziniert. Er wird nun allerdings zum Künstler-, Juden- und Slawenfreund. In der Politik nimmt er ebenfalls einen neuen Kurs auf und wird ein Liberaler. Die Ideologie des Nationalsozialismus kann ihm nichts mehr bieten und erscheint ihm plötzlich uninteressant: »Er wurde in der Bundesrepublik nicht zum Reaktionär, weil ihm der Nationalsozialismus nur so lange ideologisch nah war, wie es ihm zum Vorteil gereichte. Nach dem Krieg hatte das Deutschsein nichts Auszeichnendes mehr – so widerstrebt ihm dessen politische Aufladung.«922 Nicht anders ist es im Falle des Vaters des Erzählers von Henisch, der ebenfalls im Nationalsozialismus seine Karrierechancen sieht. Er erhofft sich von der neuen politischen Bewegung Aufwertungs- und Aufstiegsmöglichkeiten. Sein Gefühl, ungenügend zu sein, vermittelt ihm schon seine Mutter, die selbst an Minderwertigkeitskomplexen undeutscher Herkunft – ihre Mutter stammte aus Polen – leidet. Der Erzähler von Henisch bekommt von seiner Mutter nie das Gefühl, wirklich geliebt und akzeptiert zu sein. Der Vater bleibt unbekannt, er soll ein jüdischer Friseur aus Tschechien gewesen sein. Deshalb gilt der Erzähler als uneheliches Kind und wird dementsprechend diskriminiert. Vor allem sein Stiefvater lässt ihn seine Unzulänglichkeit auf allen Ebenen spüren. Dieser verkörpert mit seiner sudetendeutschen Herkunft das Autoritäre und die Härte, die der Stiefsohn mehrmals an eigenem Leibe erfährt. Er wird wegen seiner Schwäche, Feigheit und Kleinwüchsigkeit vom Stiefvater nie an919 920 921 922

Henisch (1980), S. 40. Leupold, S. 127. Ebd., S. 154. Ebd., S. 218.

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genommen. Aus diesem Grunde hasst und bewundert er ihn unbewusst zugleich. Sein erwachsenes Leben wird trotz seiner Abneigung und Abgrenzungsversuche bedeutsam vom Stiefvater geprägt. Wie sein Stiefvater schlägt er die nationalsozialistische Laufbahn ein und schwärmt sein ganzes Leben lang für die Uniform: »Die Uniform, weißt du, die Uniform hat für mich eine Riesenrolle gespielt [erzählt er Jahre später seinem Sohn]. Eine Uniform anzuziehen wie eine Tarnkappe und dadurch als der Schrapp, der ich bis dahin einzig und allein war, zu existieren aufzuhören, das war mein Traum.«923 Lebenslang kämpft er gegen seine Unvollkommenheit und Vorurteile gegen die Juden. Von klein auf sucht er nach Anerkennung und Akzeptanz, die er wegen seiner Herkunft, Größe und schlechten schulischen Leistungen nicht erfahren hat. Seine ersten Karriereschritte macht er im Turnerbund, die weiteren in der Hitlerjugend, wo er endlich das ersehnte Gemeinschaftsgefühl erlebt. Da er beim Bundesheer nicht angenommen wird, findet er einen anderen Weg, um wie alle anderen dazu zu gehören. Er findet eine Nische als Propaganda-Photograph. In diesem Beruf geht er auf und verschafft sich die ihm fehlende Anerkennung: »das hat mir was gegeben,« sagt er auch später : »Ich bin durch die Arbeit ihresgleichen geworden.«924 Er wird in die Wehrmacht aufgenommen, mehrmals ausgezeichnet, bewundert, trägt eine Uniform und hat eine Position, um die ihn viele beneiden. Er hat mehr geschafft als er sich je geträumt hätte: »Nicht nur richtig dazugehört habe ich jetzt. Ich war unter lauter Gleichen ein Exponierter. Sozusagen ein Lieblingssohn der Partei. Der Fotograf aus der Bannführung, nicht mehr der Schrapp.«925 Nach dem Zweiten Weltkrieg erweist er sich weiterhin als flexibel genug, um als selbstständiger Fotograf seine Existenz neu aufzubauen. Trotz seiner Vergangenheit übt er seinen Beruf weiter aus und arbeitete nun auch für die Sozialisten. Sein Opportunismus hat sich wieder bewährt. Für ihn sind stets Uniformen von Bedeutung: »Welche Uniformen war gar nicht so wichtig.«926

Das Zeitgeist-Konzept Der Werdegang der Väter wird zusätzlich im Kontext der außerordentlichen Umstände der spezifischen Zeit gedeutet. Nach dem Versailler Vertrag teilten die Söhne gemeinsam mit den Vätern ihre Enttäuschung und Verbitterung. Daneben förderten Vereine, Burschenschaften und später Freikorps die elitäre Verbundenheit dieser Generation und spielten in der Zwischenkriegsphase eine för923 924 925 926

Henisch (1980), S. 72. Ebd., S. 84. Ebd., S. 92. [Hervorhebung: P.H.] Ebd., S. 201. [Hervorhebung: P.H.]

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dernde Rolle, wie im Falle von Hans Timm,927 der seinen Wunsch, Offizier zu werden, nach dem verlorenen Krieg nicht mehr erfüllen kann und sich deshalb wie viele andere in dieser Zeit dem Freikorps anschließt, in dem er weiter kämpfen kann. Zusätzlich befinden sich die Väter der Erzählfiguren in einer Zeit sozial-politischer Umbrüche, in der sie sich weder mit der instabilen Weimarer Republik identifizieren, noch wegen der Wirtschaftskrise in dem neuen System Fuß fassen können. Vor allem das einst wohlhabende Bildungsbürgertum erlitt in seinem Lebensstandard und Ansehen einen heftigen Abstieg. Zwar gab es viele, auch in den Führungspositionen des Heeres, die mit den Nationalsozialisten nichts zu tun haben wollten, mit »dem Pöbel der SS, die sich Gleichberechtigung anmaßten und deren infernalische Mordlust Deutschland besudelte,«928 doch die Mehrheit versprach sich doch, auch wenn sie diese »plebejische« Bewegung verachtete, von den neuen deutschen Weltmachtansprüchen ihre alte Herrlichkeit und eine nationale Erweckung, die Wehler als einen der Gründe für die Unterstützung der nationalsozialistischen Bewegung nennt: »Tatsächlich ist jedoch von den großen Sozialformationen nur das Bildungsbürgertum einer wahren Kriegseuphorie verfallen. Der in ihm weit verbreitete Kulturpessimismus erschien auf einmal wie weggeweht. Stattdessen gab es sich der Epiphanie des ›Geistes von 1914‹ hin.«929 Die Bevölkerungsschichten, die sich bisher als vom Staat vernachlässigt sahen, hatten in dem neuen System eine Chance für sich entdeckt, während die junge und ausgebildete Generation sich wiederum als künftige Elite des Dritten Reichs sah. Das Reservoir an für jedermann offenen Möglichkeiten mobilisierte große Teile der deutschen Gesellschaft, die dieses System mit ihren Hoffnungen getragen hatte, ohne es, wie der Vater vom Erzähler Meyer, zu hinterfragen: Als junger Mann bist du in diesen Staat hineingewachsen. 1933 warst du 23 Jahre alt. (Ich hatte im selben Alter gerade zwei Jahre das Abitur.) Du hattest wie die meisten Menschen um dich herum die Verhaltensnormen und Vorstellungen deiner Zeit verinnerlicht. Du hattest weder von deiner Bildung noch von deiner Lebenserfahrung her die Möglichkeit, diese Dinge in Frage zu stellen – wie viele, die beides zugleich in höherem Maße hatten als du.930

Der Zeitgeist förderte die Hingabebereitschaft unter der deutschen Bevölkerung, das Gemeinschaftsgefühl und den Behauptungsdrang, die durch die gezielte Propaganda und Massenbeeinflussungsmethoden der Nationalsozialisten per927 Der Freikorp, dem er angehörte, kämpfte im Baltikum gegen die sogenannten »Bolschewisten«. Siehe: Timm, S. 22. 928 Bruhns, S. 371 f. 929 Wehler, H.-U.: Das Kaiserreich im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918. In: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914 – 1949. Bd. IV. München 2003, S. 16. 930 Meyer, Kurt, S. 75.

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manent stimuliert wurden. Die Siege an der Front ließen die Energie des Volkes immer aufs Neue zur Geltung kommen. Die durch Charisma freigesetzte Dynamik veranlasste die Nation zum blinden Eifer und zur Leistungssteigerung im Namen von Gehorsam und einer höheren Mission. Dabei wurde das vom Nationalsozialismus propagierte Heldenbild verfolgt, welches der Vater der Erzählfigur von Monika Jetter in Zehn Geboten des Fallschirmjägers931 zusammenfasst: Du bist ein Auserwählter der deutschen Armee. Du wirst den Kampf suchen und dich ausbilden, jede Art von Prüfung zu ertragen. Für dich soll die Schlacht Erfüllung sein. Pflege wahre Kameradschaft, denn durch die Hilfe deiner Kameraden wirst du siegen oder sterben. 5. Hüte dich vorm Reden. Sei nicht bestechlich. Männer handeln, während Frauen schwatzen. Reden kann dich ins Grab bringen. 6. Sei ruhig und vorsichtig, stark und entschlossen. Tapferkeit und Begeisterung eines Angriffsgeistes wird dich die Oberhand im Angriff behalten lassen. 7. Das Wertvollste angesichts des Feindes ist deine Munition. Derjenige, der unnütz schießt, nur um sich zu beruhigen, verdient nicht den Namen »Fallschirmjäger.« 8. Du kannst nur siegreich sein, wenn deine Waffen gut sind. Achte darauf, dass du dich an das Gesetz hältst: »Erst meine Waffe und dann ich.« 9. Du musst den vollen Sinn jedes Unternehmens verstehen, damit, wenn dein Führer fällt, du selber handeln kannst. Gegen einen offenen Feind kämpfe mit Ritterlichkeit, aber einem Partisanen gewähre kein Pardon. 10. Halte deine Augen offen. Sei behände wie ein Windhund, so zäh wie Leder, so hart wie Kruppstahl, nur so wirst du die Verkörperung des deutschen Kriegers sein.932 1. 2. 3. 4.

Durch das Ablegen eines persönlichen Treueschwurs auf den Führer erlangt die Autoritätsfixierung einen fast religiösen und mythischen Rang, welchen der Vater aus der Nibelungentreue herleitet. Er belehrt seine Tochter der Germanenpropaganda des Nationalsozialismus gemäß: »Darum geht es, mein Kind. Der [Hagen]war auch treu. Getreu bis in den Tod.«933 Die Texte von Manfred Augst, die die Erzählerin von Scheub im Zuge ihrer Vater-Spuren-Suche sichtet, drücken den absoluten Glauben an die nationalsozialistische Zukunftsmission im Rahmen eines heroischen Geschichtsbildes aus: »[sie] kreisten ständig um ›Glaube‹ und ›Opfer‹, man müsse sich für eine Aufgabe opfern, sich für Höheres hingeben, einer Mission folgen, man sei nur dann ein Gläubiger, wenn man zum Selbstopfer bereit sei.«934 Es wurde blinder Gehorsam beschworen, Konformität 931 932 933 934

Jetter, S. 39. Ebd. Ebd., S. 113. Scheub, S. 241.

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zum Befehl verlangt. Das Pflichtbewusstsein gegenüber dem Oberbefehlshaber und dem Kollektiv, das Sich-Behaupten, jeder Aufgabe Gewachsen-Sein, zusammen mit dem extraordinären Machtwillen verbunden, machten die grundlegenden Merkmale des propagierten Heldentypus im Dritten Reich ganz im Sinne der deutsch-preußischen Traditionslinie aus. Demzufolge wurde das NSEngagement nicht nur als karrierefördernd betrachtet, vielmehr sahen sich die Väter als Teil eines historischen Werkes, als Instrument der Vorsehung, stets zur Umsetzung ihrer Befehle bereit. Die Idee vom Übermenschen, vom im Zuge der Bewährung und einer natürlichen Auslese Auserwählten, förderte die Opferbereitschaft der Soldaten und kreierte ihr Heldentumsverständnis. Im Zuge des Glaubens an den heroischen Menschen und seine große geschichtliche Mission (das heißt die Rettung Deutschlands, seiner völkischen Erneuerung sowie der nachträglichen Umdeutung der militärischen Niederlagen935) kam auch die Exklusivität der Moralauffassung zum Tragen. Die sozialdarwinistische Wertvorstellung setzte die Hemmschwelle herab und verlieh dem Regime ein nicht zu hinterfragendes Entscheidungsmonopol. Diese Einstellung zum »Befehl« erläutert der Vater der Erzählerin von Scheub folgendermaßen: Wir haben gelernt, Befehle auszuführen, ohne zu fragen, warum … Wir hätten ebenso desertieren können, wie viele unserer Italiener, aber wir taten es nicht. (sic!) Wir waren eben Deutsche. Es war Sache des eigenen Herzens, der »Befehl des Gewissens,« das Pflichtgefühl, das uns hielt. Wir glaubten an Führung und Vaterland, taten unsere Pflicht, und alles war einfach und klar. Wer fiel, fiel nicht umsonst. Es war eben Schicksal. Wir waren kleine Glieder eines großen Ganzen.936

Über das gemeinsame Ziel und Pflichtverständnis hinaus, hielten persönliche Bindung und gegenseitige Anerkennung die Kampfgemeinschaft zusammen. Die Kameradschaft, das Solidaritätsgefühl und das Aufgehen unter Millionen ihres gleichen waren für viele in der damaligen Zeit verlockend. In einer geordneten Masse fanden viele junge Personen, zu denen auch der Vater der Erzählerin bei Scheub zählte, dies alles was sie unter Geborgenheit und Zuflucht verstanden. Dienen. Sich einordnen. Verbunden sein. Sich fügen. Gehorchen. Für ihn war es die Erfüllung, sich als Teil eines heiligen Ganzen zu fühlen. Plötzlich war er kein Wicht mehr, sondern wichtig. Er konnte der Kälte seiner Familie entfliehen, er marschierte im Gleichschritt, er hatte Ideale und Ziele, und: Er trug eine Uniform. »Wir waren Kameraden«, so erklärt es ein früher begeisterter Nationalsozialist in Gabriele von Arnims Buch »Das große Schweigen«, »mit allem standen wir füreinander ein. Wir liebten den Führer und wurden geliebt, wir liebten auch uns, weil wir stolz waren, weil auch unsere Mütter auf uns stolz waren, wenn sie unsere Uniformen für die 935 Vgl. Jureit, S. 45. 936 Scheub, S. 152.

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Aufmärsche bügelten. Selbst vom Vater wurden wir bewundert, der in blank geputzten Stiefeln als imponierendes Vorbild vor uns stand. Es gab keinen Zweifel, es gab keinen Widerspruch, wir lebten in der herrlichsten Harmonie, vereint mit den Kameraden, geborgen in der Gemeinschaft«.937

Gerade in der emotionalen Bindung an die Soldatengemeinschaft sehen viele der Spurensuchenden den Grund für die Teilnahme am Krieg der Nationalsozialisten. Viele Väter haben sich durch das Gemeinschaftsgefühl und die idealisierte Soldatenwelt mitreißen lassen, ohne sich näher mit der Ideologie und der realen Politik zu beschäftigen. Prinzipiell war für sie die Bewahrung der geschichtlichen Kontinuität von Bedeutung. Das in der Masse verbreitete Gefühl von Stärke und der Unfehlbarkeit des neuen monumentalen Menschen befreite von alltäglicher Not und löste Hoffnungen ein. Zuletzt wird ein Erklärungskonzept sichtbar, das die mangelnde Auseinandersetzung der Väter mit ihrer Vergangenheit zu erläutern sucht. Die Erklärungslinie geht an dieser Stelle häufig mit dem Opfernarrativ einher. Die Erzählfigur von Kurt Meyer führt die fehlende nachträgliche kritische Distanz auf preußische Werte und nationalsozialistische Erziehung zurück: Hitler hat mit Erfolg schon zu seinen Lebzeiten dafür gesorgt, daß ihr eine kritische Distanz zu eurem eigenen Erleben nicht entwickeln solltet. Nach seiner Meinung sollte die Jugend »deutsch denken« und »deutsch handeln«, und wenn »diese Knaben« erst einmal die Organisationen des Staates durchlaufen haben, da war er sich sicher, dann »werden sie nicht mehr frei ihr ganzes Leben«.938

Die Erzählfigur von Ute Scheub betrachtet das Handeln ihres Vaters ebenfalls als Konsequenz eines komplexen Erziehungssystems. Der Vater als Prototyp seiner Generation der Uniformträger wird in einer Kausalbetrachtung untersucht: In gewisser Weise war er die Verkörperung jenes deutschen Prototyps, der seit dem Kaiserreich eine politische Katastrophe nach der anderen herbeigeführt hatte. Suchend nach dem Absoluten. Süchtig nach Untergang und Erlösung. Immer unterwegs, unfähig, über diese Suchsucht zu reden. Millionen von Nazi-Mitläufern haben später ihre Vergangenheit beschwiegen, und ihr Körper hat mit Magengeschwüren, Kopfschmerzen, psychosomatischen Leiden aller Art geantwortet. Mein Vater beschwieg seine Vergangenheit so intensiv, dass er schließlich in ihr und mit ihr unterging.939

Die meisten Väter halten in der Nachkriegszeit immer noch teilweise an den alten Werten und soldatischer Kameradschaft fest, weil sie nach jahrelanger »kollektiver Hörigkeit«940 zum Neuanfang, zur Eigeninitiative nicht mehr imstande sind. Daher fehlt ihnen die Bereitschaft, sich mit der eigenen Vergan937 938 939 940

Ebd., S. 78. Meyer, Kurt, S. 48. Scheub, S. 65. Bruhns, S. 19.

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genheit und ihrer Schuld, die sie offenbar nicht wahrgenommen haben auseinander zu setzen. Die meisten betrachten sich selbst in der Kategorie eines »einfachen Soldaten«941, so wie der Vater der Erzählfigur von Christoph Meckel: »Die kollektive Belastung zerquetschte ihn nicht, er war schon beinahe in ihr aufgehoben. Aber persönliches Verschulden – NEIN. Er hatte das Edle gewollt und sein Bestes getan.«942 Die Rückkehr ins Zivilleben bringt für mehrere Väter Enttäuschungen und Frustrationen. Die fehlende Anerkennung für ihre Kriegsbewährung und Opferbereitschaft erzeugt bei ihnen das Gefühl – wie es die Erzählerin von Jetter ausdrückt – als »Frontschwein«943 ausgenutzt worden zu sein: Wie solltest Du Dich nach all diesen Schrecken, die Du und auch all Deine Kameraden erlebt hatten, zurechtfinden, ohne dass jemand da war, mit dem Ihr über all das hättet reden können? Nun wieder in Familien, die Euch nach diesem Krieg und den Schäden, der er hinterlassen hatte, brauchten, ohne zu erkennen, was Ihr nun so nötig gebraucht hättet? Enttäuscht vor allem, dass alles umsonst gewesen war?944

Der Bruch mit der Vergangenheit ist umso schwieriger, da die meisten Väter an Kriegstraumatisierung gelitten haben. Ausgebrannt und depressiv, sind sie nicht fähig sich der eigenen Vergangenheit zu stellen.

Die theoretischen Aspekte des hermeneutischen Interpretationsverfahrens Bereits in den ersten Phasen der Vater-Spuren-Suche wird gedeutet, nach Zusammenhängen gesucht und Sinn verliehen. Allein die Erinnerungsarbeit bietet oft durch einen kontinuierlichen sinnhaltigen Ablauf ein narratives Schema an. Die Deutungsphase findet bereits bei der Anordnung und Zusammensetzung des Materials in ein chronologisches und lineares Kontinuum sowie thematisches Komplex statt. Die Zusammenlegung von einzelnen Elementen in ein logisches Ganzes und ihre Verknüpfung in einen Zusammenhang werden durch die Kriterien Kausalität und Sinngebung geprägt, da nach Helmut Pappe »jede aufgewiesene Spur [semiotisch] eine Auswahl von raumzeitlichen und kausalen Beziehungen [›partikularisiert‹ und bündelt], die an, um und in ihr verkörpert sind oder durch sie manifest werden.«945 Das Zusammenlegen von Spuren bildet einen kreativen Vorgang, der mit dem Verstehen-Lernen, d. h. Erklären des 941 942 943 944 945

Weiss, S. 18. Meckel, S. 89. Jetter, S. 213. Ebd., S. 216 f. [Hervorhebung: M.J.] Pappe, Helmut: Fußabdrücke und Eigennamen. Peirces Theorie des relationalen Kerns der Bedeutung indexikalischer Zeichen. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot, S. 40.

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vergangenen Geschehens einher geht und ausschlaggebend für das anschließende literarische Konzept ist. Daher wird er von den Spurensuchenden, z. B. Bruhns, als besonders kompliziert empfunden: »das gehört zu den schwierigen Passagen in dem Puzzle-Spiel, das ich zu meistern habe. Ich bin nicht sicher, dass ich die Teile richtig zusammensetze.«946 Aus diesem Grunde, machen der Kontext, d. h. die zeitliche Konstituierung sowie die Umstände, unter denen das Objekt agierte einen relevanten Faktor für die Interpretationslinie aus. Ohne das Verständnis der Zeit und der an sie gebundenen Bedingungen wird auch der Handlungshorizont der untersuchten Väter mit ihren Spielräumen nicht erfassbar sein. Ohne den Kontext verlieren die Spuren ihren Aussagewert. Trotzdem wird der zeitliche Kontext in seiner Totalität verständlicherweise nie rekonstruierbar sein können. Eine interpretatorische 1:1-Entsprechung ist nicht möglich. Das Resultat der Rekonstruktion wird von dem Vorwissen, der Einstellung sowie den Erwartungen der forschenden Erzählfiguren mitbeeinflusst. Dies hängt weitgehend von ihrer Persönlichkeit und ihrer Beziehung zum Spurenmaterial ab. Hans-Georg Gadamer hebt die Wechselwirkung sowohl zwischen der Geschichte und dem Subjekt als auch der Geschichte und dem Objekt hervor. Die Interpretation (eines Textes) vergleicht er mit kommunikativem Austausch, in dem beide »Gesprächspartner« sich gegenseitig stimulieren und beeinflussen.947 Die Vater-Spuren-Suche kann in ihrer Vorgehensweise mit der eines Historikers verglichen werden. In beiden Verfahren wird der Versuch unternommen, sozial-historische Phänomene zu verstehen, d. h. zu erklären, wobei der Akzent in der Vater-Spuren-Suche auf dem Individuum, dem Vater liegt. Dabei wird hauptsächlich die hermeneutische Methode der Spurendeutung angewandt, die Chris Lorenz folgendermaßen auslegt: Die traditionelle Hermeneutik setzt also voraus, daß die Vergangenheit – wie ein Text – eine ursprüngliche Bedeutung hatte und daß diese ursprüngliche Bedeutung ermittelt werden kann, indem der Abstand in der Zeit überbrückt wird. Dabei wird vorausgesetzt, daß es für den Historiker möglich ist, die Entfernung in der Zeit zu überbrücken und sich mit den historischen Akteuren – wie dem Verfasser eines Textes – zu identifizieren.948

Die Verfahrensweise des Historikers, die auf mehreren Ebenen verläuft, stellt aufgrund der Quellensammlung und -kritik fest, »was eigentlich geschehen ist.«949 Generell, wird bezüglich der historischen Forschung sowie der VaterSpuren-Suche Faktizität und Multiperspektive angestrebt. Ferner werden die 946 947 948 949

Bruhns, S. 292. Vgl. Lorenz, S. 150. Ebd., S. 92. [Hervorhebung: Ch.L.] Vgl. ebd., S.92.

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Bedingungen untersucht, d. h. »all jene geographischen, technischen, materiellen und mentalen Umstände, die das Handeln von Individuen beeinflussen.«950 Bei dem interpretativen Verfahren der Vater-Spuren-Suche muss aber der Aspekt des »Nicht-Notwendigen,« d. h. der Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten –, berücksichtigt werden, da »die Aufeinanderfolge von Ereignissen nicht notwendig, sondern lediglich plausibel«951 ist. So werden von den Spurensuchenden Formulierungen, wie »vielleicht,« »es könnte sein,« »möglicherweise,« »wahrscheinlich,« »ich gehe davon aus,« »es wäre denkbar ;« »so hätte es sein können« benutzt, die rein spekulative Aussagekraft markieren. Diese bezieht sich nicht nur auf das vergangene Geschehen, sondern auch auf die irreale Zukunft, die des Konjunktivs bedarf. Besonders in Leupolds und Timms Texten wird das Möglichkeitspotenzial veranschaulicht, indem das Mögliche vorgestellt und reflektiert wird: »Das Faktische ist normativ, nicht das Mögliche. Und dennoch suche ich nach Hinweisen einer Umkehr, einer verweigerten Bejahung.«952 Dabei wird nicht nur überlegt, was gewesen sein könnte, sondern ebenfalls, was sein würde, falls… Die Unwissenheit, die aus der Möglichkeitsmannigfaltigkeit resultiert und auf die offene Beschaffenheit der Geschichte in allen ihren Dimensionen zurückgeht, lässt die Erzählfiguren auf ihren Wahrheitsanspruch, Wertung und Verabsolutierungen verzichten. Jörn Rüsen sieht in der Bewältigung von Kontingenz (im Sinne von Niklas Luhmann953) den Weg zur (historischen) Sinngebung, die durch die Synthese von »Wahrnehmen,« »Deuten,« »Orientieren« und »Motivieren« die Kontingenzart konfiguriert.954 Durch die »narrative Logik« geht die »wilde Kontingenz« in die »geregelte, intelligible Kontingenz« über, indem »Ursachen«, »Zwecke«, »Ziele«, »Intentionen«, »Regeln« und »Zufälle« in eine »diachrone Ordnung« gebracht werden. 955 Zwar wird das Geschehen im Kontext, d. h. in einer Kausalkette sowie in seiner Komplexität erfasst, doch bleibt es immerhin ein offenes System und somit ein 950 951 952 953

Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. [Hervorhebung: Ch.L.] Leupold, S. 152. »Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist, noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.« Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, S. 152. 954 Vgl. Rüsen, Jörn: Sinnverlust und Sinnbildung im historischen Denken am Ende des Jahrhunderts. In: Geschichtsdiskurs. Bd. V. Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945, S. 36. 955 Straub, Jürgen: Geschichten erzählen, Geschichten bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Straub, Jürgen (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität I. Frankfurt am Main 1998, S. 147.

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hypothetisches Konstrukt, in dem die Frage der Kontingenz eine beachtliche Rolle spielt und laut Weber wie folgt zu verstehen ist: Die Kategorie der »Möglichkeit« kommt also nicht in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, in dem Sinne also, daß sie ein Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständig-Wissens im Gegensatz zum assertorischen oder apodiktischen Urteil ist, sondern gerade umgekehrt bedeutet sie hier die Bezugnahme auf ein positives Wissen von »Regeln des Geschehens«, auf unser »nomologisches« Wissen, wie man zu sagen pflegt.956

Während die Vater-Spuren-Suche in den Werken der ersten Publikationswelle vorwiegend deduktiv verläuft, wird in den Texten nach der Jahrtausendwende häufig ein induktives bzw. abduktives Vorgehen angewandt. Die Väterbücher von Peter Härtling, Christoph Meckel, Sigfrid Gauch oder Kurt Meyer gehen von einer These des Vaters aus, die schrittweise verifiziert wird. In den neuen Publikationen, beispielsweise von Martin Pollack und Beate Niemann, werden die Konturen des Vaterbildes mit jeder nächsten Spur deutlich oder die untersuchte Vaterfigur überrascht mit jeder neuen Spur. Im Rahmen der Auswertung des Datenmaterials treten hingegen in den meisten Fällen alle drei Methoden kombiniert auf. So werden einerseits im Zuge der qualitativen Induktion bestimmte Merkmale des Spurenmaterials so zusammengestellt, »dass diese Merkmalskombination einer anderen (bereits im Wissensrepertoire des Fahnders vorhandenen) in wesentlichen Punkten gleicht.«957 Jo Reichertz zufolge, wird in solchem Fall »von zwei bekannten Größen, […] Resultat und Regel, auf den Fall geschlossen.«958 Andererseits »[s]chließt die quantitative Induktion von den quantitativen Eigenschaften einer Stichprobe auf die Gesamtheit«959 und wird durch das qualitative Vorgehen unterstützt. Zusätzlich werden bestimmte Problemstellungen deduktiv gelöst, indem sie einer bereits bekannten These untergeordnet werden: »Hier wird eine vertraute und bewährte Ordnung auf einen neuen Fall angewendet.«960 Neben dem induktiven und deduktiven Verfahren, führt Charles Sanders Peirce die Abduktion (lat.: abductio — Wegführung) ein, die dem »Entdeckungszusammenhang, der ›logic of discovery‹ an [gehört].«961 Sie basiert einerseits auf logischen Schlussfolgerungen und andererseits »vermutet [sie nur], was der Fall sein kann.«962 Diese Vorgehensweise ist vor allem in der Spurensuche der neuen Texte zu beobachten, da sie die Kog956 957 958 959 960 961

Weber, Kap.-Nr. 410/1095, WL 276. Reichertz, S. 322. Ebd. Ebd. Ebd., S. 321. Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? S. 21 f. Vgl. Peirce, Charles Sanders: Vorlesungen über Pragmatismus. Hamburg 1991, S. 400. 962 Ebd., S. 400.

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nition mit der Intuition in sich vereint: »Die Abduktion sucht angesichts überraschender Fakten nach einer sinnstiftenden Regel, nach einer möglicherweise gültigen beziehungsweise passenden Erklärung, welche das Überraschende an den Fakten beseitigt.«963 Im Hinblick auf die hermeneutische Auslegung werden zwei ihrer Varianten bzw. Vorgehensweisen unterschieden: »intentionale/teleologische/rationale,«964 in welcher der psychologische Aspekt ausschlaggebend ist sowie das »narrative Erklärungsmodell.«965 Im Falle des ersten Modells werden Gedanken und Handlungen der Individuen in konkreten Situationen, mit Berücksichtigung von Gründen und Motiven untersucht und dadurch nachvollziehbar gemacht. So werden in der Vater-Spuren-Suche, im Zuge von Recherchen die so gewonnenen Fakten analysiert und wie in der historischen Forschung gedeutet. Dabei ist die Einfühlungsgabe der Erzählfiguren von Bedeutung, da die »Austauschbarkeit des erkennenden Subjektes«966 sowie die Intersubjektivität die Voraussetzung jeden Interpretationsverfahrens bildet. Dies wird entweder aus der Perspektive des Beteiligten oder, wie bei den Positivisten, aus der Sicht des Beobachters durchgeführt,967 wobei für die Vater-Spuren-Suche die zweite Variante üblicher ist. Die partizipierende Perspektive wird prinzipiell in den autobiographischen Erzählpassagen angewandt oder beispielsweise im Werk von Henisch an den Textstellen, in denen der Sohn in der Traumwelt in die Person des Vaters schlüpft und die Situation aus seiner Sicht nachfühlt. In der Regel aber bleiben die Erzählfiguren außerhalb des Geschehens, es sei denn, sie schildern ihre eigenen Erlebnisse und Entscheidungen. Die Vaterfigur sowie ihre Motivation wird einerseits aus seinem Nachlass erschlossen sowie auf ihre Handlungen zurückgeführt. Ebenfalls hier erweist sich der Spielraum für Deutungsmöglichkeiten sowie die Gestaltung der »psychologischen Kohärenz«968 als sehr breit. Die meisten Spurensuchenden versuchen sich in die Person des Vaters zu versetzten, indem sie seine Gedankengänge und seine Empfindungen zu verfolgen suchen. Aus diesem Grund besuchen sie sogar die Orte, an denen der Vater gewesen ist, um mit demselben Blick wie er dieselben Schauplätze zu betrachten. Der Erzähler bei Uwe Timm fährt beispielsweise in die Ukraine: »[Ich dachte mir], ich müsse einmal die Landschaft sehen, in der er [der Bruder] damals gekämpft 963 Reichertz, S. 323. 964 Dieses Erklärungsmodell von Law Dray knüpft an das intentionale Modell von Collingwood an und betont dabei den rationalen Charakter der Auslegung. Die Schwäche dieses Modells wird von seinen Kritikern u. a. in der Tatsache gesehen, dass nicht jede Handlung oder Entscheidung des Subjekts als rational eingestuft werden kann. Vgl. Lorenz, S. 103 – 106. 965 Vgl. ebd., S. 97 – 125. 966 Lorenz, S. 98. 967 Ebd. 968 Ebd., S. 105.

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hatte, wo er verwundet und gefallen war. Wo er andere verwundet und getötet hatte.«969 Außerdem werden aus Entscheidungen und Handlungen des Vaters ganz im Sinne des teleologischen Modells970 von G. H. von Wright seine Motivationen und Absichten erschlossen. In diesem Zusammenhang macht George Collingwood auf die »Außen«- und »Innenseite« einer Handlung aufmerksam, die in einer historischen Analyse die Unterscheidung zwischen der wahrnehmbaren Oberflächenstruktur einer Handlung und dem, was sich hinter ihr verbirgt (z. B. Motive, Intentionen, Gründe971) erfordert. So wird die Außenseite des Handelns aufgrund des Faktenmaterials rekonstruierbar, doch die Innenseite bleibt weitgehend der Interpretation des Forschers überlassen. Deshalb ziehen die Spurensuchenden zur Ergänzung (Fach-)Literatur heran, die auf hypothetische, zeitliche und kulturelle Hintergründe aufmerksam macht sowie die Verhaltensmuster des Vaters psychologisch expliziert. Zusätzlich unterstützen die wissenschaftlichen Texte die jeweilige Deutung von väterlicher Intentionen, die aber realistisch gesehen nicht verifizierbar ist, da jedes Ereignis einen »polyinterpretablen Charakter« hat. Daher versuchen die Spurensuchenden im Rahmen mehrerer Auslegungsmethoden und -modelle sowohl eine rationale als auch psychologisch zusammenhängende Konvergenz zu erzielen. Das Zusammenlegen von einzelnen Spuren zu einem Ganzen wird vor allem an der Lückenlosigkeit der Chronologie ausgerichtet und wie vorangegangenen Phasen weitgehend durch die Subjektivität der forschenden Erzählfiguren determiniert. Die eigentliche Rekonstruktionsphase wird von der Herauslösung der Spuren, die für das künftige Konzept von Bedeutung sind, aus ihrem primären Kontext eingeleitet. Ferner werden im Rahmen der Interpretation im Zuge der narrativen Logik neue Zusammenhänge zwischen den Spuren geschaffen: Interpretation ist nicht Erklärung des Späteren aus dem Früheren, des Gewordenen als ein notwendiges Resultat der historischen Bedingungen, sondern ist die Deutung dessen, was vorliegt, gleichsam ein Lockermachen und Auseinanderlegen dieses unscheinbaren Materials nach der Fülle seiner Momente, der zahllosen Fäden, die sich zu einem Knoten verschürzt haben, das durch die Kunst der Interpretation gleichsam wieder rege wird und Sprache gewinnt.972

Die Geschichte der Väter wird vorerst in ihrer Kausalität untersucht, damit sie anschließend wieder in einem neuen Zusammenhang ausgelegt werden kann. 969 Timm, S. 123. [Hervorhebung: U.T.] 970 Vgl. Lorenz, S. 107. Vgl. Wright, George Henrik von: Explanation and Understanding, London 1971, S. 103 – 107, 117. 971 Lorenz, S. 98. Vgl. Collingwood, Robin George: The Idea of History. Oxford 1946. 972 Leyh, Peter (Hrsg.): Johann Gustav Droysen. Historik. Stuttgart 1877, S. 163. Zitiert nach: Lorenz, S. 95.

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Die aggregationsanalytische Methodik bildet die Voraussetzung für die anschließende Synthese. Diese ist ein Produkt des Interpreten, ein Resultat seines Vorwissens, Erfahrungshorizonts, seiner Sichtweise und Ziele. Das kausale Verfahren orientiert sich weniger an Regeln, abgesehen von denen der Logik, sondern vordergründig an dem Gedankengang, der Intuition sowie Intention des Forschers und bildet daher, nach Weber, die Konsequenz seiner Persönlichkeit: Die im Interesse der Unzweideutigkeit notgedrungen etwas umständliche Formulierung dieses einfachen Sachverhaltes zeigt, daß sich die Formulierung des historischen Kausalzusammenhanges nicht nur der Abstraktion in ihren beiden Wendungen: Isolierung und Generalisierung, bedient, sondern daß das einfachste historische Urteil über die geschichtliche »Bedeutung« einer »konkreten Tatsache,« weit entfernt, eine einfache Registrierung des »Vorgefundenen« zu sein, vielmehr nicht nur ein kategorial geformtes Gedankengebilde darstellt, sondern auch sachlich nur dadurch Gültigkeit empfängt, daß wir zu der »gegebenen« Wirklichkeit den ganzen Schatz unseres »nomologischen« Erfahrungswissens hinzubringen.973

Somit entdeckt der Erzähler bei Peter Härtling im Laufe der Rekonstruktionsphase, dass er in der Deutung von Entscheidungen und Verhalten seines Vaters eigene Erfahrungen auf die des Vaters projiziert. Dabei kann »die Erinnerung […] nur [noch] korrigieren«.974 Person, seinem eigenen Erfahrungsraum und seinem Wissen auf das Vaterbild projiziert. Dies beobachtet die Erzählfigur von Peter Härtling an seiner eigenen Vorgehensweise: Bemühe ich mich, mir zu erklären, weshalb der Tod Großvaters meinen Vater so ohnmächtig machte und er in die Gegend seiner Kindheit, nach Brünn und Olmütz zurückkehren wollte, sich endlich entschloß, das »Reich« zu verlassen und ins »Protektorat« umzusiedeln, dann projiziere ich meine Erfahrungen auf seine und die Erinnerung kann nur korrigieren.975

Trotzdem weist Donald E. Polkinghorne darauf hin, dass narrative Erklärungen nicht immer mit »einer fiktiven Projektion der Werte und Anliegen des Erzählers […] gleichgesetzt werden müssen. Für ihn bildet sie eher eine Brücke zwischen dem »Wunsch, zu wissen, was in der Vergangenheit geschah, und dem Wunsch, die Bedeutung dieser vergangenen Ereignisse für die Gegenwart zu kennen.«976 Im Zuge des Erklärungsvorgangs der individuellen Handlungen, wird von den Spurensuchern zugleich historisches Geschehen, eine »Konstruktion eines 973 974 975 976

Weber, Kap.-Nr. 410/1095, WL 277. Vgl. Härtling, S. 37. Ebd., S. 37. Polkinghorne, Donald E.: Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Beziehungen und Perspektiven. In: Straub, Jürgen (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, S. 44.

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subjektiv sinnhaften und verbindlichen Weltbildes aus den Beständen der Gesamtkultur – einem Puzzlespiel« entworfen.977 Die Ereignisse und Handlungen in der Vergangenheit werden gedeutet und erklärt, indem sie zu einem Kontinuum, einer Geschichte im Kausalzusammenhang verarbeitet werden. Das »narrative Erklärungsmodell«978 bekommt allein durch seine geschichtliche Verankerung eine erklärungsstiftende und sinngebende Funktion, dieselbe, die das Subjekt durch seine Geschichtlichkeit erfährt: Wir tragen keinen Sinn von der Welt in das Leben. Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen. Aber nicht im Einzelmenschen, sondern im geschichtlichen Menschen. Denn der Mensch ist ein geschichtliches (Wesen).979

Dabei ist der Sinn der Geschichte nur hier und jetzt für sich festzustellen, denn sie kann nicht in ihrer Totalität begriffen werden. Das Subjekt ist in die eigene fließende Geschichte miteinbezogen, daher kann der Lebensabschnitt auf den rückblickend geschaut wird, nicht in der gesamten Dimension des Lebens reflektiert werden, da der Sinn des jeweiligen Lebensabschnitts bzw. dessen Deutung stets Veränderungen unterliegt. Dagegen ist der Lebensweg des Vaters in seiner Dauer abgeschlossen, deswegen auch übersichtlicher, doch in seiner Vollständigkeit und Breite nicht zugänglich, nicht rekonstruierbar, was auch der Erzähler bei Martin Pollack feststellen muss: All die Originaldokumente, Berichte, Vernehmungsprotokolle und Aktenvermerke, die ich zusammengetragen und immer wieder gelesen hatte, ließen in meiner Vorstellung nur unscharfe Bilder entstehen, wie zu früh aus dem Entwicklungslösung gezogenen Aufnahmen, auf denen man bloß Umrisse erkennt, die das meiste der Phantasie überlassen. Während ich suchend zwischen den überwucherten Gräbern am Friedhof von Donovaly herumgestreift war, einmal hier, dann da ein Grasbüschel wegschiebend, war mir durch den Kopf gegangen, dass meine ganze Arbeit so aussah – ich versuchte etwas zu entziffern, was immer bruchstückhaft bleiben würde. In jenem Moment hatte ich verstanden, daß es mir nie möglich sein würde, eine Antwort auf die quälende Frage zu finden, wie es geschehen hatte können, dass ausgerechnet mein Vater »kraft seiner Kompetenzen« diese Taten angeordnet, vielleicht selber zur Waffe gegriffen hatte.980

In der Rekonstruktionsphase vollzieht sich der Sinngebungs- bzw. Deutungsprozess bereits in den Satzverbindungen. Durch die Anwendung von Konjunktionen erhält die Geschichte einen kontinuierlicheren Charakter, der aber für die Erzählerin von Leupold ungenügend ist: 977 Leitner, S. 133. 978 Vgl. dazu: Lorenz, S. 127 – 134. 979 Dilthey, Wilhelm/Groethuysen, Bernhard: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Göttingen 1992, S. 290. 980 Pollack, S. 221.

Die formale Rekonstruktionsarbeit

233

Wer mir hier aus den eigenen Texten – Tagebüchern und Erzählungen – und aus den Akten, Vermerken, Berichten und Beurteilungen Dritter entgegentritt, ist radikal diskontinuierlich einerseits und erschreckend kontinuierlich andererseits. Auch die Anstrengung der Erinnerung und der Fixierung änderte daran zunächst wenig: Wie von der falschen Seite des Magneten in alle Richtungen zerstreute, zerstobene Späne breiten sich die Lebenszeugnisse vor mir aus; das Geschmeidige, Gestaltete, Folgerichtige, das der Gebrauch von Konjunktionen herstellt, Lügen strafend. Die Splitter lassen sich chronologisch und räumlich ordnen, aber weil, damit, um zu, so dass, obwohl versagen oft ihre Dienste als Klebstoff des Disparaten. Es gibt Linien und Folgerichtigkeiten, und es gibt Widersprüche. Was bleibt ist eine Fundstelle. Und diese hat Eigenarten und Potentiale. Eine Fundstelle, ähnlich der Impfnarbe auf der Haut der geliebten Frau in einem Gedicht von Seamus Heaney : ein O, das in die Rinde heilte.981

Somit wird noch einmal die steuernde und entscheidende Rolle des Interpreten im Hinblick auf das Endprodukt seiner Forschung unterstrichen. Seine Zielsetzung determiniert von Anfang bis Ende jede Etappe der Vater-Spuren-Suche. Auch die Frage der Wahrheitsnähe bleibt ein Problem des Wissens-Könnens, bzw. des Wissens-Wollens der Spurensuchenden. Die Fähigkeit oder sogar Möglichkeit einer objektiven Deutung wird von ihnen selbst, wie von der Erzählfigur Meyer, oft in Frage gestellt: Was ist mit meinen eigenen Erinnerungen, meinem Wunsch zu wissen, wie es genau gewesen ist? Glaubte ich in der Kenntnisnahme der Fakten noch halbwegs objektiv sein zu können, war ich es mit der Deutung und Wertung mit Sicherheit nicht mehr. Beim Studium der Literatur geriet ich in einen Strudel von Deutungen und Wertungen. Gibt es überhaupt Aussagen, sogenannte Fakten, die nicht im Sinne einer bestimmten Absicht zu kommentieren, zu korrigieren und damit am Ende zu relativieren wären?982

Ganz anders verhält sich im Rahmen des Interpretationsprozesses der Erzähler von Hans Weiss. Seine Analyse von Spuren und ihren Inhalten ist dem Vaterbild des Kriegs- und Hitlergegners, das ihm seit dem Anfang der Suche vorschwebt, unterordnet. Sein Erklärungsweg lässt keinen Raum für Hinterfragen, Skepsis oder Spekulationen, die zu jedem Interpretationsprozess dazugehören. Einige Tagebucheinträge des Vaters werden dem vorausgesetzten Bild entsprechend erläutert (oder sogar überinterpretiert): Es ist Mord, schrieb mein Vater, und es wird belohnt. Aus dieser und anderen Tagebuchnotizen wird erkennbar, dass es für ihn keinen Unterschied gab zwischen Töten und Morden. Einen Menschen, den Feind, ins Visier zu nehmen, um zu töten, war für ihn Mord. Ein guter Soldat tötet die Feinde.983

981 Leupold, S. 113. [Hervorhebung: D.L.] 982 Meyer, Kurt, S. 227. 983 Weiss, S. 59. [Hervorhebung: H.W.]

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

Der Abkürzung »H! H!« der Tagebuchnotiz schreibt er eine doppelte Bedeutung (vielleicht mehr als sie primär hatte) zu. Zum einen als »Heil Hitler«, zum andren als »sarkastische Bemerkung« »Haha!« ohne dafür eine nähere Begründung anzugeben: »Heute ist Führers Geburtstag! H! H! Waschen! – Es gab ein Fass Bier (25 Liter). Schmeckte prima. Wir sangen und waren lustig. Als ob kein Krieg in der Nähe wäre.«984 Im Gegenteil dazu berücksichtigt die Erzählerin von Dagmar Leupold im Falle der Abkürzung »Tajny Kl.«985 im Tagebucheintrag ihres Vaters auch Interpretationsmöglichkeiten mit, die das Vaterbild im negativen Licht erscheinen lassen: Tajny ist polnisch und bedeutet »geheim«, die Abkürzung könnte Klub (Club) bedeuten oder Konzentrationslager. Würde man ein so kurzes Wort wie Club abkürzen? Gibt man dem abgekürzten Begriff zusammen mit tajny bei einer Suchmaschine ein, erscheinen polnische Titel zu Auschwitz und Birkenau. Es geht darin um geheimzuhaltende Erschießungen. Der Ausdruck tajny Kl. Taucht kein weiteres Mal im Tagebuch auf; der konspirative Ton, wie ihn Logenbrüder unter sich anschlagen, aber sehr wohl.986

Eine wesentliche Rolle spielt in der Vater-Spuren-Suche die Frage »warum?« Sie macht den Ansatz- und Ausgangspunkt jeder Recherche aus: Warum weiß ich nichts über meinen Vater? Warum ist mir der Vater fremd geblieben? Warum wurde mein Vater verurteilt? Warum hat mein Vater mitgemacht? Warum hat er immer geschwiegen? Warum hat er nichts gesehen? Die Lösungen und Antworten auf diese Fragen werden in der Vergangenheit gesucht, die bis in die Gegenwart fortdauert. Die Spurensuchenden erhoffen sich im Laufe ihrer Recherchen Erklärungen zu finden und dank der nachträglichen Rekonstruktion das vergangene Geschehen verstehen zu lernen. Um die Person und die Handlungen des Vaters zu deuten, werden Schritt für Schritt die jeweiligen Phasen und Aspekte seines Lebens kontextuell analysiert. So werden das Elternhaus inklusive der Ahnengeschichte mit Ausrichtung auf die transgenerationelle VaterSohn/Tochter-Beziehung, die traditionsbedingten Erziehungsmethoden sowie der Vater als sozialen Rollenträger untersucht. Des Weiteren wird im Hinblick auf die Entscheidungen des Vaters, die Warum- bzw. Aus-Welchem-Grund-Frage untersucht. Dabei wird zweierlei erforscht: die Ursachen bzw. Gründe (da man sie nach Jerome Bruner im Gegensatz zu Ursachen »im Rahmen normativer Entwürfe bewerte[n]«987 kann) sowie die Verlaufsart der Handlung bzw. des Geschehens. Chris Lorenz führt die 984 985 986 987

Ebd., S. 49 f. Leupold, S. 180. Ebd., S. 180 f. [Hervorhebung: D.L.] Bruner, Jerome S.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen. In: Straub, Jürgen (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein, S. 56.

Die formale Rekonstruktionsarbeit

235

drei Kausalmodelle von Lawrence Stone und Peter Gay an, in denen »langfristige Bedingungen« (die generell Entwicklungen überhaupt ermöglichen), »mittelfristige Katalysatoren« (die Entwicklungen wahrscheinlich machen) sowie »kurzfristige Anlässe« (die sie unter bestimmten Umständen notwendig machen) als Explikationsfaktoren ohne hierarchische Wertung angeführt werden.988 Lorenz veranschaulicht die Auffassung von historischer Kausalität mit Hilfe des »Trichtermodells der Kausalität« von Lawrence Stone, in dem die »Geschichte als eine immer weitergehende Konvergenz verschiedener kausaler Linien« erläutert wird und führt »das Spektrum der anfänglichen Möglichkeiten in der Zeit […] auf eine einzige Linie: die der historischen Realität« zurück, ohne dabei einer der Ursachen eine entscheidende oder wichtigste Bedeutung zu zuschreiben.989 Die Aufteilung deckt sich im großen Maße mit dem in Lorenz’ Text präsentierten Modell von Fernand Braudel. Er unterscheidet drei Kausalitätsschichten nach der Art der Ursachen: grundlegende, langfristige Ursachen (demographisch, biologisch, demographisch determiniert), mittelfristige, »konjunkturelle« Ursachen (sozioökonomisch, technisch determiniert) sowie kurzfristige, an Ereignisse (politisch determiniert) gebundene Ursachen.990 Dabei hebt Lorenz die komplexe bzw. zusammengesetzte Ursache991 hervor. Sie besteht aus mehreren Komponenten, genauso wie eine Erklärung aus mehreren sich ergänzenden Teilerklärungen gebildet wird.992 Im Rahmen der Gestaltungsbedingungen von Ursachen werden sowohl die Ausgangsposition, die Verknüpfungen zwischen den Kausalketten als auch die zeitliche Perspektive berücksichtigt: »Kausale Schlüsse beruhen immer auf einer ›Vorher-nachherBeobachtung,‹ das heißt auf einer Beobachtung des gleichen Falles zu zwei verschiedenen Zeitpunkten.«993 Darüber hinaus wird eine weitere Differenzierung vorgenommen, die sich auf die Ursache-Wirkung-Beziehungen im zeitlichen Abstand bezieht: Im ersten Fall könnte man von einem synchronen oder horizontalen, im zweiten von einem diachronen oder vertikalen Problem der Kausalität sprechen. Es dreht sich nämlich im ersten Fall um Ursachen, die gleichzeitig wirken (ökonomische, soziale, kulturelle, mentale usw.) und im letzten um solche, die zeitlich voneinander entfernt und über andere Ursachen und Wirkungen (Kausalketten) miteinander verbunden sind.994 988 Vgl. Lorenz, S. 202 f. Das Modell setzt eine Hierarchie der Ursachen, die fallabhängig sind, voraus. [Hervorhebung: Ch.L.] 989 Ebd. 990 Ebd., S. 202. 991 Vgl. ebd., S. 193. 992 Vgl. ebd., S. 193 f. 993 Ebd., S. 261. 994 Ebd., S. 277.

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

Die jeweiligen Entscheidungen oder Handlungen werden aber nicht ausschließlich durch die Umstände bedingt, da jedes Individuum mehr oder weniger über freien Willen verfügt, für den er auch Verantwortung trägt. Lorenz sieht diesen als situationsabhängig und führt Beispiele von H.L.A. Hart und A.M. Honor¦ an, die das Individuum teils mehr und teils weniger in seiner souveränen Entscheidungsmacht durch Umstände eingeschränkt zeigen. Daher sind folgende Voraussetzungen zu berücksichtigen: 1. wenn etwas nicht-intentional geschieht, das heißt irrtümlich oder aus Versehen, 2. wenn etwas unfreiwillig geschieht, das heißt, wenn aus irgendeinem Grund nicht von einer normalen Beherrschung des eigenen Körpers gesprochen werden kann, 3. wenn etwas unbewusst geschieht, 4. wenn es sich um einen moralischen oder gesetzlichen Zwang handelt oder um die Wahl zwischen zwei Übeln995

Statt der Handlungsintention rückt eine ausgeführte Handlung, ein geschlossenes Geschehen und dessen Konsequenzen ins Blickfeld des Interpretationsverfahrens, da sich laut Martin Kohli und Wolfgang Fischer im Handeln mehr »Sinn« realisiert als in der Intention angelegt ist.996 Da die Handlung und ihre oft unvorhersehbaren Folgen einen komplexen Sachverhalt bilden, wird von Kohli und Fischer ein zweispuriges Analyseverfahren empfohlen, nämlich die Handlung mit der subjektiven Intention des Individuums sowie zusätzlich die Handlung ohne Bezug auf das Individuum zu untersuchen. Trotzdem bleibt der Gedankenverlauf des Handlungsträgers nicht rekonstruierbar. Eine weitere Vorgehensweise in der Vater-Spuren-Suche stellt die sogenannte Was-Wäre-Wenn-Frage dar, die es erlaubt potenzielle Alternativszenarios zu skizzieren sowie das »Ungewisse erfundener Möglichkeiten« zum Ausdruck zu bringen. Beide Verfahren führen zur Entstehung eines Konstrukts, das dem Bereich der Literatur bzw. der Fiktion angehört997 aber trotzdem im Sinne von Weber als Erkenntnis-Methode gelten kann, die die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen und »unwirkliche [zu] konstruieren« vermag.998 Im Rahmen der analysierten Rekonstruktion werden mehrere mögliche Szenarios entworfen, in Betracht gezogen, auf ihre Möglichkeiten hin untersucht sowie schließlich auf Grundlage ihrer Plausibilität und Kompatibilität mit dem Ge995 Vgl. ebd., S. 197. [Hervorhebung: Ch.L.] 996 Fischer, Wolfgang/Kohli, Martin: Biographieforschung. In: Voges, S. 38. Ferner : Schütze, Fritz: Prozessstrukturen des Lebens. In: Matthes, Joachim/Pfeifenberger, Arno/Stosberg, Manfred (Hrsg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg 1981, S. 67 – 156. 997 Vgl. Magenau, Jörg: Die Grenzen des Erlebens. Erzählen ohne Erklären. Ludwig Harig aus dem Saarland hat Notizen zu seinem Leben zusammengetragen. In: Freitag 09. Die OstWest-Wochenzeitung. 21.02. 2003. Siehe: [Stand: 22. 09. 2006]. 998 Weber, Kap.-Nr. 410/1095, WL 287.

Die literarische Darbietung

237

samtkonzept selektiert. Daher entwickeln die Spurensuchenden Erklärungen von Entscheidungen und Handlungen der Väter auf der Basis von Logik, die für sie selbst aus persönlicher Sicht nicht immer nachvollziehbar sind. Der offene Möglichkeitsraum zur Verstrickung des Vaters im Nationalsozialismus spendet den Erzählfiguren einerseits die Hoffnung, dass der Vater aufgrund eines Mangels an Beweisen doch als unschuldig eingestuft werden kann. Andererseits birgt er als ständige Bedrohung die Unsicherheit über seine »wahre« Vergangenheit in sich, die auch die Erzählfigur von Martin Pollack verspürt: »Was wäre gewesen wenn? Auch diese sinnloseste aller Fragen lässt mir seit vielen Jahren, seit ich die Arbeit an diesem Buch zögerlich begonnen, dann wider abgebrochen habe, um sie endlich wider aufzunehmen, keine Ruhe. Was wäre gewesen wenn?«999 Dabei werden ebenfalls andere Möglichkeiten nach dem Motto »Was wäre wenn?« in Betracht gezogen und alternative Deutungskonstrukte skizziert, indem nach dem sogenannten »Möglichkeitsurteil,«1000 einzelne Kausalkomponenten oder Konstellationen der Handlung geändert bzw. getilgt werden. Dies bringt laut Weber die Texte umso mehr einer Erfindung, der Konstruktion des Unwirklichen nahe: Und wenn in der Form seiner Darstellung der Historiker das logische Resultat seiner historischen Kausalurteile dem Leser ohne Vorrechnung der Erkenntnisgründe mitteilt, ihm den Hergang »suggeriert« statt pedantisch zu »räsonieren«, so wäre seine Darstellung doch ein historischer Roman und keine wissenschaftliche Feststellung, wenn das feste Skelett der kausalen Zurechnung hinter der künstlerisch geformten Außenseite fehlte.1001

Die literarische Darbietung Mit dem Abschluss der Recherchen, der Rekonstruktionsphasen und der ersten Deutungsversuche entsteht ein konturiertes Bild des Vaters, das in der Darstellungsphase durch die sprachliche Bearbeitung ergänzt wird. Die anschließend folgende »Schicht der nachträglichen sprachlichen Darstellung« steht für die literarische (Re-)Produktion, die mit der letzten »Schicht von kommentierenden Reflexionen und übergreifenden Deutungsversuchen« die Abrundung erfährt. Die Grenzen zwischen der Forschungs- und der Darstellungsphase sind fließend, da während der Darstellung oft neue Zusammenhänge entdeckt werden. Hier erfolgt die Umsetzung von Gedächtnisbildern in ein sprachliches Ganzes. Daher differenziert der Erzähler von Meyer zwischen der Vater-Spuren999 Pollack, S. 221. 1000 Vgl. Lorenz, S. 217. 1001 Weber, Kap.-Nr. 410/1095, WL 278.

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Zur (Re-)Konstruktion der Vater-Spuren-Suche

Suche als einem Rekonstruktionsakt in Form eines »erzählerischen Harmonieentwurfs«1002 und dem autobiographischen Schreibverfahren: Ich habe dein handgeschriebenes Manuskript hier vor mir liegen. Es ist aus einem Guß, keine Einschübe und nur wenig Streichungen. Als Kind habe ich es selbst gesehen. Du hast alles aus dir herausgeschrieben. Anders als ich heute: Erschlagen von Büchern, Informationen und Meinungen schreibe ich meinen Text zusammen – mit dem Wissen aus dem Nachhinein. Ist es nun fair, dich mit dem Endergebnis des Krieges zu konfrontieren, mit der Summe dessen, was wir heute wissen?1003

Das jeweils entstehende Bild vom Vater erfährt in der literarischen Darstellungsphase seine Realisierung, die aber weitere Änderungen nicht ausschließt. Das Spurenmaterial wird in der letzten Phase zum Identitätsentwurf, der in dieser Phase seine Endform erreicht. Eine erneute Konfrontation mit demselben Material kann in der Phase der literarischen Darbietung zu neuen Kausalitäten und Erkenntnissen führen. Für die Erzählfigur von Uwe Timm finden »in der Luft schwebenden Flämmchen erst später im Erzählen, [im Schreibprozeß] ihre Erklärungen«1004 Für den Erzähler von Kurt Meyer wird der Schreib- zum Aufklärungsprozess: »Alles bekommt jetzt, während ich schreibe, eine wirkliche, eine neue Dimension, es setzt eine andere Art der Verarbeitung der Vergangenheit – und meiner auch damaligen Gegenwart – ein.«1005 Allein durch die Satzkonstruktion, durch die Sprache und Komposition wird dem Gesamtkonzept Ausdruck verliehen. Der Vater wird im Schreibprozess des Erzählers von Meckel zur (stilisierten) Figur, zum literarischen Motiv : »Während ich an ihn denke, wird er zum Thema. Die Sätze entfernen ihn in einen Wortlaut, der seine Erscheinung zugleich erhellt und verdunkelt.«1006 Dabei schreiben sich in das Vaterkonstrukt individuelle Züge (Sprache inklusive Wortschatz und Stil, Gedankengang) des Autors des Texts ein. Im Verlauf der sprachlichen Realisierung der Vater-Spuren-Suche werden nicht selten die Elemente erneut (re-)organisiert, da allein der Konzeptentwurf zur Komposition des Textes neue Zusammenhänge und damit auch Sinnänderungen hervorbringen kann. Die gewählte literarische Form sowie die Struktur des Textes geben dem Gestaltungsprozess zwar einen festen Rahmen, doch eröffnet sie weiterhin mehrere Verbindungs- und Deutungsmöglichkeiten. Zwar setzt die Darstellungsphase voraus, dass die Geschichte im weiteren Sinne abgeschlossen ist und in einer literarisch bearbeiteten Kausalkette präsentiert werden kann, doch wie gezeigt wurde, kann die Geschichte in ihrer Totalität 1002 1003 1004 1005 1006

Vgl. Scheuer, S. 26. Meyer, Kurt, S. 170. Vgl. Timm, S. 38. Meyer, Kurt, S. 234. Meckel, S. 80.

Die literarische Darbietung

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weder erfasst noch vermittelt werden. Es wird ein Ausschnitt, ein Bruchteil aus der Fülle des Lebensmaterials des Vaters präsentiert. Das Untersuchungsmaterial unterliegt bis hin in die Schreibphase dem Selektionsverfahren: Ein narratives Gebilde dreht sich, im Gegensatz zum gelebten Leben, üblicherweise um einen einzigen »Hauptplot«; dabei werden lediglich jene Subplots und Ereignisse aufgenommen, die zu diesem beitragen, und alle hierfür irrelevanten Geschehnisse werden ausgesondert. Im Zuge der narrativen Gestaltung einer »Lebensepisode« lassen Erzählungen häufig Details aus und verdichten Teile (Kondensierung, flattening), andere elaborieren und übertreiben sie (Überhöhung, Detaillierung, sharpening), wieder andere Teile machen sie kompakter und konsistenter (Rationalisierung), um eine kohärente und verständliche Erklärung zu liefern.1007

Prinzipiell wird in der Vater-Spuren-Suche ein plausibles Realitätskonstrukt, eine logisch aufgebaute Darbietung von Erkenntnissen angestrebt, die das Mitbzw. Nacherleben ermöglicht. Der Text – sowohl seine Form als auch der Inhalt – wird meist im Hinblick auf die spätere Leserschaft, verständlich, (sozial) akzeptabel, interessant oder sogar spannend gestaltet. Im Falle einer (auto-)biographischen bzw. (auto-)biographisch gefärbten Publikation wird das Werk zusätzlich auf seinen Wahrheitsgehalt geprüft. Dabei ist in dem Akt des Schreibens eine gewisse Verantwortung miteinbegriffen: Was einmal niedergeschrieben wird, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Dessen ist sich auch die Erzählerin von Beate Niemann bewusst: »Was ich schreibe, wird unwiderruflich dastehen und ein Ausweichen nicht mehr möglich sein.«1008 Für die meisten Erzählfiguren, wie Ruth Rehmann, bleibt aber die literarische Form, der einzig mögliche Weg der Auseinendersetzung mit dem Vater und seiner Vergangenheit: »Ich dächte daran, über meinen Vater zu schreiben, da das Reden über ihn so beschwerlich sei.«1009 Immerhin bleibt das Endresultat nur ein Modell, das zwar mit dem Ziel der Wahrheitsnähe konzipiert wird, doch nur einen Schatten des Vaters bietet, der immer wieder mit neuen Inhalten gefüllt werden kann. Daher geht für viele Spurensuchenden, wie es der Text von Peter Henisch darlegt, die Vater-SpurenSuche weiter : »Das Gespräch mit meinem Vater und das Schreiben des Romans, […] war ein analytischer Prozeß und der daraus resultierende Versuch einer Selbsttherapie. Aber dieser Prozeß und das Bedürfnis, damit fertig zu werden, beides wirkt weiter.«1010 Auf der literarischen Ebene jedoch nimmt die Suche nach dem Vater und der Vergangenheit mit der Niederschrift ihr Ende. 1007 Polkinghorne, S. 25. Vgl. Carr, David: Time. Narrative and History. Bloomington 1986 u. Cortazzi, Martin: Narrative Analysis. London 1993. [Hervorhebung: D.P.] 1008 Niemann, S. 49. 1009 Rehmann, S. 20. 1010 Henisch (1980), S. 252.

8. Das Gefundene

In den Tagen des november wenn es kalt wird denke ich deines Todes vater die vögel flüchten aus den himmeln die kinder behauchen bereiftes glas heimliche ohne zeit ist die stunde deines sterbens vater wie meine klage täglich vergessen nährt sie ins offenbare stehe ich verhüllten hauptes zu sprechen der toten gebet1011

Im Kapitel »Motive des Suchens« wurden, die jeweiligen Beweggründe für die besprochene Vater-Spuren-Suchen untersucht: Sie gehen einerseits aus der missglückten Beziehung zum Vater mit all ihren Folgen wie der Unfähigkeit nach dem Tod des Vaters zu trauern genauso wie aus der von der Abwesenheit des Vaters geprägten, verlorenen Kindheit hervor. Andererseits ist entgegen der Familienlegenden der Wunsch, die Wahrheit über die Rolle des Vaters während des Zweiten Weltkriegs zu erfahren, ausschlaggebend. Die analysierten Rekonstruktionen der Vergangenheit der Väter und ihrer Generation zeigen auf, dass die Erzählfiguren sowohl mental als auch formal mehrere Suchetappen bewäl1011 Keilson, Hans: Sprachwurzellos. Gedichte. Gießen 1947/1987, S. 28. Zitiert nach: Westernhagen, Dörte von, S. 94.

242

Das Gefundene

tigen, bis eine persönliche Aufarbeitung der Vergangenheit im Freud’schen Sinne stattfindet. Im Rahmen der Vater-Spuren-Suche, die neben (therapeutischer) Erinnerungsarbeit auch weitgehende Recherchen umfasst, lassen sich Dan Bar-Ons »fünf Stufen des Durcharbeitens« wiedererkennen, die von den Spurensuchenden durchlaufen werden. Diese werden von Gesine Schwan in »Politik und Schuld« folgendermaßen zusammengefasst: 1. Anerkennung der Tatsachen: Wissen, was im Vernichtungsprozeß geschehen ist, und speziell, welche Rolle die Eltern dabei hatten. [ … ] 2. Verstehen der moralischen Bedeutung: Nicht nur die Tatsachen verstehen, sondern auch ihre moralische Bedeutung für die Eltern sowie für die eigene moralische Verantwortung. […] 3. Emotionale Beteiligung: Emotional reagieren, wenn man die Details kennt und ihre Bedeutung im Hinblick auf die moralische Verantwortung versteht. [ … ] 4. Emotionaler Konflikt: Den Konflikt spüren zwischen den neu erlebten Emotionen und den positiven Gefühlen bzw. der guten Beziehung zu den Täter-Eltern. [ … ] 5. Integration: Wissen, Bedeutung und unterschiedliche emotionale Reaktionen in die eigene Moralität integrieren.1012

Annährung an den Vater und das eigene Selbst Der Suchprozess ist für viele Erzählfiguren von therapeutischer Bedeutung: persönliche Konflikte, die jahrelang mitgetragen und unterdrückt wurden, können aufgearbeitet werden. Die von Psychotherapie begleitete Erinnerungsarbeit erweist sich in den meisten Fällen als heilsam, da die Spurensuchenden sich auf diese Weise von den Schatten der Vergangenheit befreien können. Voraussetzung für die endgültige Loslösung ist jedoch der Aufbau einer Beziehung zum Vater, die zuvor ausgeblieben war. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Vater verhilft den Erzählfiguren von Beate Niemann und Monika Jetter zur Bewältigung verborgener Ahnungen, Albträume und Ängste. Die VaterSpuren-Suche lässt sie die Hintergründe ihres eigenen Handelns und ihrer Entscheidungen verstehen und übernimmt so die Funktion einer »life-reviewtherapy.«1013 Im Zuge der Vergegenwärtigung der eigenen Lebensgeschichte findet die »Aufarbeitung intrapsychischer Konflikte aus der Vergangenheit«1014 1012 Bar-On, Dan: Die Kinder der Holocaust-Täter und ihre Suche nach moralischer Identität. In: Integrative Therapie. Heft 3/1990, S. 230. Zitiert nach: Schwan, S. 161 f. [Hervorhebung G.S.] 1013 Die life-review-therapy bildet einen Teilbereich der Reminiszenztherapie und wird auf dem Gebiet der narrativen Gerontologie angewandt. Als psychotherapeutische Form wird sie vor allem in der Arbeit mit älteren Menschen mit der posttraumatischen Belastungsstörung empfohlen. Siehe dazu u. a.: Radebold, Hartmut: Abwesende Väter und Kriegskindheit, S. 209. 1014 Halek, Margarete/Bartholomeyczik, Sabine: Verstehen und Handeln. Forschungsergeb-

Annährung an den Vater und das eigene Selbst

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statt, eine Ich-Integrität wird erreicht. Die entlastende Wirkung des Erzählvorgangs entdeckt auch die Erzählfigur bei Scheub für sich: »Erinnerung, die ohne Angst öffentlich ausgesprochen werden darf, ist Heilung.«1015 Die Erzählfiguren Kurt Meyer,1016 Beate Niemann und Monika Jetter haben stets den Wunsch, dem Vater nahe zu sein, verfolgt. Sie haben ihren Vater jederzeit mitgedacht und nach seiner »menschlichen Seite«1017 gesucht. Die Annährungsversuche sind dabei immer mit der Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit verbunden. Die Söhne und Töchter sind zur Reise in die Vergangenheit mit einem »Teil [ihrer] Kindheit aufgebrochen, den [sie] irgendwann einmal zurückgelassen hatte[n].«1018 Durch den (Re-)Konstruktionsprozess kann das Versäumte nachgeholt werden, indem während des Schreibprozesses noch einmal Zeit mit dem Vater verbracht, seine Anwesenheit noch einmal bewusst erlebt wird. Im Text von Dörte von Westernhagen wird die nachträgliche Annährung an den Vater folgendermaßen beschrieben: Ich hatte eine bestimmte Zeitspanne mit dem Vater verbringen können, weil das »Jenseitsbüro« das ursprünglich vorgesehene, reguläre Zusammentreffen mit ihm übersehen hatte. Ich hatte ihn, wie es sich für eine ordentliche Liebesgeschichte gehört – für versäumte, darum nachgeholte, natürlich erst recht – verehren, verachten, begehren und hassen dürfen. Jetzt war die Frist um; Zeit, vom Vater, wie ich ihn nun kennengelernt hatte Abschied zu nehmen.1019

Von einem ähnlichen Wunsch, nämlich den Vater als einen »offenen Menschen«1020 gekannt zu haben, getragen, ist die nahezu nostalgische Reise in die Vergangenheit der Erzählfigur von Peter Härtling. Sie bedauert den Vater nur kurz erlebt und somit keine Chance bekommen zu haben, mit ihm ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen: »Wir haben uns nie als Männer unterhalten, nie unsere Erinnerungen messen, tauschen können. Ich hab dir nie sagen können: Weißt du, das Kind; das damals zwischen uns fehlte. Ich habe immer nur zu dir aufgesehen, mein Blick wuchs nicht auf deine Höhe.«1021 Die Erzählerin von Wibke Bruhns sehnt sich zumindest nach einer Erinnerung an den Vater. Das Zusammensein mit ihm genießt sie, während sie ihn in der rekonstruierten Geschichte von seinen Anfängen bis zu seinem Tod begleitet:

1015 1016 1017 1018 1019 1020 1021

nisse und Pflege von Menschen mit Demenz und herausforderndem Verhalten. Hannover 2006, S. 65. Vgl. Scheub, S. 277. Vgl. Meyer, Kurt, S. 25. Jetter, S. 161. und 190 f. Ebd., S. 117. Westernhagen, Dörte von, S. 94. Meckel, S. 138. Härtling, S. 18.

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Das Gefundene

Doch, ich will hinsehen. Ich will dabei sein, wenn HG stirbt. 20 Minuten sind länger als die Hölle. Ich will ihm sagen, er ist nicht allein, auch nach 60 Jahren nicht. Hier bin ich, die ihn begleitet hat durch sein ganzes Leben, und ich lasse ihn nicht los. Ich hätte gern mit dir gelacht, HG, deinen Witz genossen und deine Wärme, die jeden betörten. Ich wünsche mir eine lebendige Erinnerung an dich: Wie hast du gerochen, und hat dein Bart schlimm gekratzt? Ich hätte gern die Chance gehabt, dich zu lieben.1022

Die Suche nach dem Vermissten und dem Versäumten ist eine Suche nach der verlorenen Zeit, in der der Vater einen Teil der Früherfahrung verkörpert und das Zurück in die Vergangenheit den Suchenden ein Stück weit der KinderHeimat näher bringt. Die Erforschung der väterlichen Biographie versetzt sie in die Vergangenheit, in der sie unbewusst die oft in der Kindheit ersehnte Liebe und Geborgenheit nachzuholen suchen. So wird parallel zur Rekonstruktion der Geschichte des Vaters auch die eigene aufgearbeitet. Schritt für Schritt wird die Vita des Vaters und zugleich (bei einigen Erzählfiguren im Zuge eines psychoanalytischen Vorgehens) die eigene aufbereitet, um, wie der Fall des Erzählers von Peter Henisch zeigt, auf die belastenden Fragen bei der eigenen Identitätsfindung Antworten zu finden: Jetzt, da ich hier sitze und schreibe, die Geschichte meines Vaters, meine Geschichte meines Vaters zu schreiben versuche, ist mir zweimal hintereinander der gleiche Tippfehler passiert. Ich möchte, habe ich geschrieben, und deswegen zweimal ein neues Blatt in die Schreibmaschine eingespannt, daß du mir meine Lebensgeschichte erzählst. Ich glaube nicht, daß ich mich meinem Vater gegenüber damals in ähnlicher Weise versprochen habe. Aber später habe ich ihm gestanden, daß ich wissen möchte, wer er ist, um mir darüber klar zu werden, wer ich bin.1023

Mit der Annährung an den Vater wird seine Geschichte in die eigene aufgenommen. Es findet »eine Art Stoffwechsel«1024 statt, der im Sinne von Jörn Rüsen Bedingung für die Erlangung des autonomen Selbst schafft. Die Eltern werden im Prozess der Individualisierung und Sozialisierung von dem Kind internalisiert.1025 Die Voraussetzung dafür bildet jedoch ein »kommunikatives Klima,« in dem beide Seiten sich »füreinander öffnen« und gleichzeitig »den Anderen in sein Anderssein freilassen.«1026 In diesem Zusammenhang macht der Text von Dagmar Leupold auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kind und Vater aufmerksam, das die Identität des Kindes allein durch die Existenz des Vaters begründet: »Den Vater gab es auch ohne sie, sie, die Tochter, gab es ohne ihn 1022 1023 1024 1025

Bruhns, S. 380. Henisch (1980), S. 12. [Hervorhebung: P.H.] Härtling, S. 96. Vgl. Rüsen, Jörn: Historisch trauern – Skizze einer Zumutung. In: Liebsch, Burkhard/ Rüsen, Jörn (Hrsg.): Trauer und Geschichte. Köln/Weimar/Wien/Böhlau 2001, S. 71. 1026 Vgl., ebd.

Annährung an den Vater und das eigene Selbst

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nicht. Beklemmend war das und raubte den Mut.«1027 Demzufolge kann die Vaterfigur unmöglich ausgeblendet werden sondern ist fester Bestandteil der Identität des Kindes. Im Text von Peter Henisch wird die Vergeblichkeit der Bemühungen, sich gegenüber dem Vater abzugrenzen, gezeigt. Die Verleugnung des Vaters ist gleichbedeutend mit einer Flucht vor dem eigenen Selbst. Die Ausweglosigkeit der Vater-Kind-Beziehung erkennt auch die Erzählfigur Ute Scheub: Angst zuallererst. Scham. Abwehr. Und mit der Abwehr auch die Bindung an denjenigen, den man hasst. Ich habe den mir peinlichen und mich peinigenden Vater loswerden wollen, indem ich ihn hasste. Aber Eltern wird man niemals los. Meine Bindung an diesen Vater anzuerkennen hat meinen Hass gemindert.1028

Deshalb bildet der Tod des Vaters1029 eine bahnbrechende Zäsur im Leben der Erzählfiguren, die sowohl die eigene Person als auch der Eltern mit anderen Augen zu sehen beginnen. Die früher schützende Distanzierung, die man als Kind gegenüber dem Erwachsenenleben entwickelt, bricht laut der Erzählfigur von Wibke Bruhns mit dem Tod der Eltern, da dieser ihre Verwundbarkeit und Schwächen entblößt: Kinder, behaupte ich, interessieren sich für ihre Eltern nur als Ressource. Das Verhältnis ist Ich-bezogen: Wie weit werde ich beschützt, versorgt, gefördert. Wer die Eltern sind, was sie fühlen, ob sie glücklich sind, geht an Kindern vorbei. Der Mensch, den Freunde erkannt, geliebt, begleitet haben – das Kind kennt ihn nicht. Bis nach dem Tod der Eltern – vielleicht -, wenn Nachfrage nicht mehr Indiskretion und Grenzüberschreitung bedeutet. Kinder, auch meine Kinder, werden bei aller Zärtlichkeit auf Distanz gehalten, suchen ihrerseits die Distanz. Die Verstörung der Eltern ist immer eine Bedrohung. Eltern muten sie ihren Kindern nicht zu, und was erwachsene Kinder dem Freund erlauben, die Belastung mit dessen persönlichem Scheitern etwa, bei Eltern fürchten sie sich davor.1030

Der veränderte Blick, mit dem das Kind nun seine Eltern betrachtet, wird aus der Identifikationsbereitschaft1031 hergeleitet. Die Rekonstruktion der Lebensge1027 Leupold, S. 67. 1028 Scheub, S. 251 f. 1029 Auf die Todesproblematik in den Werken von P. Henisch, P. Härtling, S. Gauch, R. Rehmann, Ch. Meckel geht Claudia Mauelshagen in folgendem Kapitel ein: »Todeserfahrungen«. Siehe dazu: Mauelshagen, S. 125 – 155. 1030 Bruhns, S. 10 f. 1031 Es wird hier im Falle der Identifikation nicht geschlechtsspezifisch differenziert, obwohl die Psychoanalyse zwischen der Identifizierung des Sohnes mit dem Vater und der Identifizierung der Tochter mit der Mutter unterscheidet. Die Vater-Tochter- und MutterSohn-Beziehung werden unter dem Aspekt des Ödipalen in dieser Studie nicht behandelt. In der vorliegenden Arbeit wird auf diese Geschlecht-Differenzierung verzichtet und generell die Vater-Kind-Beziehung gedeutet. Das Thema der Vatersuche unter dem psychoanalytischen Aspekt ist unter anderem am Beispiel in einigen hier analysierten Texten

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schichte des Vaters durch eine Gegenüberstellung und Parallelisierung dieser mit der eigenen Geschichte verhilft einerseits durch positive oder negative Identifizierung mit dem Vater und andererseits durch das Verstehenlernen seiner Person zur eigenen Identitätsfindung. Die Erzählfigur von Peter Henisch sieht das Bedürfnis, seinen Vater zu verstehen, als ein Zeichen der Veränderung in seinem Prozess der Selbstwerdung: »Das Bedürfnis, Bedingungen zu finden für Konsequenzen, die [er] auch jetzt nicht akzeptier[t], aber möglicherweise besser begreif[t].«1032 Mit dem Tod des Vaters geht sowohl eine Lebensetappe zu Ende als auch ein wichtiger Bezugspunkt verloren. Der Verlust des Vaters, des Orientierungspunktes über den sich die Erzählfiguren in den meisten Fällen unbewusst, ob in Bejahung oder Opposition, definiert haben, führt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, deren fester Bestandteil das Vaterbild ist. Laut Erik Homburger Eriksons These, beginnt »die Identitätsbildung […], wenn die (ungefragt übernommenen) Identifikationen mit den Personen aus der Vergangenheit enden.«1033 Deshalb ist es meist der Tod des Vaters, nach dem die Erzählfiguren unbewusst ihre Suche nach emotionaler Souveränität antreten. Diesem Gedanken folgend, bildet die Vatersuche die Voraussetzung für die Selbstfindung, da der väterliche Nachlass im eigenen Kontext untersucht wird. So wendet sich die Erzählfigur Henisch an seinen Vater: Lieber Papa, schrieb ich, ich bin mir nicht ganz klar darüber, warum mich Deine Lebensgeschichte plötzlich interessiert, aber mir ist, als wäre ich auf eine Spur geraten, der ich folgen will, obwohl ich noch nicht weiß, wohin sie führt. Hinter einem anderen her begegnet man sich selbst – diesen Satz habe ich vor Jahren in einem anderen Zusammenhang geschrieben, nun aber scheint er mir auf uns zu passen. Und dabei war mein Verhältnis zu Dir lange Zeit viel schlechter, als Du es wahrscheinlich ahnst, nie wäre ich damals auf die Idee gekommen, die Suche nach meiner Identität mit der Suche nach Deiner zu verbinden.1034

In der retrospektiven Untersuchung der biographischen Entwicklung des Vaters werden einerseits seine erzieherische Bedeutung hinsichtlich der eigenen Individuation mit größerem Nachdruck besichtigt und zum anderen das Erbe, das aus den vorherigen Generationen auf ihn übertragen wurde, untersucht. Das Bewusstsein, eine gewisse Reproduktion und Kontinuität seiner Eltern zu sein, positionierte die Erzählfiguren im geschichtlichen Kontinuum, in der Generationenkette, in der das Zugehörigkeitsgefühl durch die Person des Vaters, ob von S. Gauch, P. Härtling, P. Henisch, Ch. Meckel, R. Rehmann, u. a. von Zˇeljko Uvanovic´ in seiner Doktordissertation: Söhne vermissen ihre Väter. Misslungene, ambivalente und erfolgreiche Vatersuche in der deutschsprachigen Erzählprosa nach 1945. Marburg 2001 behandelt worden. 1032 Henisch (1980), S. 29. 1033 Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 237. Vgl. Erikson, Erik Homburger : Identität und Lebenszyklus. Reihe Theorie 2. Frankfurt 1966. 1034 Henisch (1980), S. 27.

Annährung an den Vater und das eigene Selbst

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durch seine Anwesenheit oder Abwesenheit, mitdeterminiert wird: »Der Mensch ist das Produkt seiner Herkunft und wird sich seiner selbst nur gewiss, wenn er sich als Teil einer Traditionslinie begreifen kann.«1035 Die korrelative Vater-Kind-Beziehung sowie die Identitäts-Erbschaft kommen sehr deutlich im Werk von Uwe Timm zum Ausdruck, wenn die Erzählfigur konstatiert: Über den Bruder schreiben, heißt auch über ihn schreiben, den Vater. Die Ähnlichkeit zu ihm, meine, ist zu erkennen über die Ähnlichkeit, meine, zum Bruder. Sich ihnen schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in der Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden. Ferner : Beide begleiten mich auf Reisen. Wenn ich an Grenzen komme und Einreiseformulare ausfüllen muß, trage ich sie mit ein, den Vater, den Bruder, als Teil meines Namens, in Blockschrift schreibe ich in die vorgeschriebenen Kästchen: Uwe Hans Heinz.1036

In diesem Zusammenhang kommt die Frage nach dem Antreten des väterlichen Erbes ins Spiel, die sich unter anderem die Erzählfigur von Hans Weiss stellt: »was [trage] ich von meinem Vater in mir […], was [hat] er mir mitgegeben […] für mein Leben [?]«1037 Den Erzählfiguren wird besonders nach dem Tod des Vaters, die transgenerationelle Erbschaft bewusst. Die Vergangenheit und die Erfahrungen der Eltern werden der nachfolgenden Generation im Zuge der Bearbeitung in »ihrer Bilder- und Symbolwelt«1038 zugänglich. Deshalb verläuft die Identifizierung mit dem Vater weniger über seine Persönlichkeit als über seine Geschichte, deren Rekonstruktion der Gegenstand der Vater-SpurenSuche ist. Mit ihr beginnt der Prozess der Identitätsbildung von neuem, falls die bisher gestörte Identifikation mit dem Vater überwunden wird. Der Vater wird jedoch nicht wie im Falle einer Autorität unkritisch als Identifikationsfigur übernommen, sondern prüfend reflektiert und erst dann mit allen erkennbaren Schwächen akzeptiert. Erst die klare Trennung der eigenen Identität von der des Vaters erlaubt der Erzählfigur von Peter Henisch, die eigene Positionierung herauszufinden. Sie benutzt die Geschichte des Vaters, um sich von sich selbst »abzusetzen,« von »einem ganz wichtigen Teil [ihres] Charakters, indem sie diesen Teil des eigenen Charakters in dem Vater widerfindet und so tut, als hätte sie ihn »verloren.«1039 So wird die Erlangung der eigenen Souveränität bei vielen Erzählfiguren durch einen Bruch mit den Familientabus erreicht. Die Loslösung aus den familiären Abhängigkeiten und emotionalen Bindungen, die grundsätzlich auf Schweigensverpflichtungen und Loyalitätsbezeugungen basierten, wird zum 1035 1036 1037 1038

Petri, Horst: Drama der Vaterentbehrung, S.18. Timm, S. 21. Weiss, S. 168. Vgl. Bohleber, Werner : Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewußtsein, S. 256. 1039 Henisch (1980), S. 129.

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Zeichen der Selbstbefreiung. Diese Wandlung ist auch am Beispiel der Beziehung der Erzählfigur von Ute Scheub zu ihrem Vater sichtbar : Fünfunddreißig Jahre habe ich gebraucht, bis ich mich mit meinem toten Vater befassen konnte. Nur dreizehn Jahre lang erlebte ich ihn, und nach seinem Tod musste eine fast dreimal so lange Zeitspanne vergehen, bis ich den Mut fand, mich ihm anzunähern. Inzwischen habe ich selbst eine Familie gegründet, und die späte Erfahrung, Mutter zu sein, hat mir vielleicht geholfen, meinen Hass auf ihn langsam abzubauen und gewisse mütterliche Gefühle für ihn zu entwickeln. Nicht für den unverbesserlichen Nazi, aber für das einsame Kind in dem einsamen Mann. Vater, rede ich manchmal in Gedanken mit ihm, mein PePa-Papa, mein gescheitertster GröVAZ, Größter Vater aller Zeiten.1040

Die Spurensuche wird von mehreren Erzählfiguren als ein Loyalitätsbruch ihren Nächsten gegenüber wahrgenommen. Sie verletzt den ungeschriebenen Pakt des Schweigens in der Familie, die diese als Angriff auf ihre Integrität auffasst. Deshalb wird die Entscheidung zur Wahrheitssuche mit Rücksicht auf andere Beteiligte getroffen. Die Erzählfigur bei Uwe Timm beginnt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seines Bruders im Moment, in dem er sicher ist, mit seinen Nachforschungen niemandem mehr weh tun zu können: Ein anderer Grund war die Mutter. Solange sie lebte, war es mir nicht möglich, über den Bruder zu schreiben. Ich hätte im voraus gewußt, was sie auf meine Fragen geantwortet hätte. Tote soll man ruhen lassen. Erst als auch die Schwester gestorben war, die letzte, die ihn kannte, war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen können.1041

Das In-Frage-Stellen oder sogar die Ablösung von dem idealisierten bzw. tabuisierten Vaterbild wird von den Spurensuchenden selbst, als ein Verrat an ihrer eigenen Identität empfunden. Hinzu kommt die Angst vor der Last des Wissens, die besonders die Kinder von Tätern auf ihrer Suche begleitet. Die Erzählfigur von Martin Pollack zögert seine Nachforschungen jahrelang »aus einem unbewußten Gefühl der Angst, [er] könnte bei der Spurensuche auf Dinge stoßen, die [s]eine ohnehin schlimmen Erwartungen noch übertreffen würden,«1042 hinaus. Bei der Erzählfigur Gauch, ist es die Befürchtung trotz seiner »schizophrenen« Beziehung zum Vater ihn »als Person [zu] lieben und von seiner Persönlichkeit entsetzt zu sein«1043 sowie ihn wegen seiner verbrecherischen Vergangenheit verurteilen zu müssen. Dabei ist die Aufhebung dieser krankhaften Zwiespältigkeit nur durch die Konfrontation mit dem »wahren« Vaterbild zu erreichen. Sie bildet die Voraussetzung für das Sich-Lossagen von 1040 1041 1042 1043

Scheub, S. 251. Timm, S. 11 f. Pollack, S. 5. Gauch (1979), S. 135.

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Vaters

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der Vaterfigur und dem Erlangen der eigenen Integrität im Sinne einer Selbstbefreiung: »Ich muß mich, glaube ich, aus Deiner Geschichte heraus schreiben, mich Deiner Geschichte gegenüber emanzipieren, um die meine zu finden,«1044 schreibt die Erzählfigur Henisch. Die unbewältigte Vergangenheit, die sich auf dem Dachboden hinter der »Geheimnistür [der] Kindheit«1045 abgesetzt oder in den Kisten zwischen den alten Dokumenten und »unordentliche[n] Familienangelegenheiten«1046 versteckt hatte, verhindert von dem Vater Abschied nehmen zu können. Die Erzählfigur von Peter Härtling gesteht: »Er hinterließ mich mit einer Geschichte, die ich seit dreißig Jahren nicht zu Ende schreiben kann.«1047 Die offene Rechnung mit der Vergangenheit und die unverarbeitete Beziehung zum Vater wirken belastend auf die Spurensuchenden: »Kann jemand so viele Jahre örtlich betäubt in der Welt herumspazieren? Betäubt in jenen Gegenden von Herz und Hirn, die für Väter reserviert sind?«1048 fragt die Erzählerin bei Ute Scheub. Die Erzählfigur Jetter stellt fest, dass sie sich vom Vater nicht »endgültig verabschieden« kann, weil sie ihm im Grunde »nie wirklich begegnet« ist.1049

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Vaters Die Rekonstruktion der Geschichte des Vaters ist für die Erschließung seiner Rolle im Dritten Reich höchst relevant, da die Untersuchung weit über Fragen nach seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus und nach Gründen für seinen Kriegseinsatz hinausgeht. Nicht nur die Beweggründe für sein Handeln, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen unter denen der Vater seine Entscheidungen traf, stehen im Fokus der Auseinandersetzung. Der Ausgangspunkt lässt sich in folgender Kernfrage zusammenfassen: »Warum (gerade mein Vater)?« So fragt die Erzählfigur von Jetter : »Wie konnte ich mehr darüber herausfinden, was damals im Kopf des Vaters vorgegangen war? Was ihn angetrieben hatte, und zwar nicht als Mitläufer, sondern, wie immer deutlicher wurde, als überzeugten, soldatischen Nationalsozialisten?«1050 Im Vordergrund des Rekonstruktionsprozesses steht somit nicht das Be- bzw. Verurteilen des Vaters, sondern das Verstehenlernen seiner Geschichte mit den Hintergründen und Handlungsspielräumen der damaligen Zeit. Die Beweggründe und Motive 1044 1045 1046 1047 1048 1049 1050

Henisch (1980), S. 247. Scheub, S. 9. Ebd. Härtling, S. 7. Scheub, S. 9. Vgl. Jetter, S. 55. Ebd., S. 102.

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der Väter werden genauso wie die Folgen der väterlichen Entscheidungen nach dem Erklären-Verstehen-Prinzip1051 und dem Möglichkeitspluralismus erforscht. Die Erzählfiguren untersuchen auf der Logik des Wahrscheinlichen aufbauend, warum der Vater gerade den und nicht anderen Lebensweg für sich gewählt, warum er sich der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hat, oder suchen wie in »Geweint wird, wenn der Kopf ab ist«1052 von Kurt Meyer – nach einem »tieferen Sinn, eine[r] philosophische[n] Erklärung, eine[m] Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit.«1053 Dazu muss die zeitgenössische Perspektive mit dem geschichtlichen Horizont, in dem die Vaterfigur verankert war, verbunden werden. Sowohl die Erzählfiguren von Wibke Bruhns als auch Monika Jetter schreiben dem Zeitgeist eine ausschlaggebende Bedeutung für das Handeln ihres Vaters zu: Es war Dein Weg, Deine Entscheidung, die sicher auf jenen Zeiten basierte, in denen Du ein junger Mensch, ein junger Mann, mit einer Hoffnung auf eine Perspektive warst. Da nicht nur Du, sondern auch Millionen anderer Deutscher sich dem Nationalsozialismus anschlossen, müssen es schon die Versprechungen gewesen sein, die Adolf Hitler euch machte. Für ein besseres Deutschland als das, in dem ihr alle damals gelebt habt.1054

Insofern wird einerseits empathisch vorgegangen, indem psychische Befindlichkeiten sowie lebensweltliche Erfahrungen1055 des Vaters erforscht werden, andererseits wird ganz im Sinne von Hans-Georg Gadamer die Distanzierung von der eigenen Geschichte geübt: »Verstehen ist gewiß eine Konkretisierungsleistung, aber eine solche, die sich mit der Einhaltung einer solchen hermeneutischen Distanz verbindet. Nur der versteht, der sich selber aus dem Spiele zu lassen versteht. Das ist die Forderung der Wissenschaft.«1056 Für den Erzähler Kurt Meyer wird der Versuch, das vergangene Geschehen aus heutiger Perspektive, mit dem aktuellen Wissensstand um das Dritte Reich zu verstehen, zu einer Zumutung: »Ich wollte etwas Unmögliches: wollte Auschwitz verstehen.«1057 Gleichzeitig ist er sich dessen bewußt, dass eine Konfrontation des Vaters »mit dem Endergebnis des Krieges«1058 und dem heutigen Wissensstand ebenfalls rücksichtslos wäre, da »der Mensch in das Interessengeflecht seiner 1051 Vgl. Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit, S 120. 1052 Meyer, Kurt: Geweint wird, wenn der Kopf ab ist. Annährungen an meinen Vater – »Panzermeyer«, Generalmajor der Waffen-SS. Freiburg 1998. 1053 Ebd, S. 185. 1054 Jetter, S. 212 f. [Hervorhebung: M.J.] 1055 Spode, [Stand: 01. 05. 2010]. 1056 Gadamer, S. 317. 1057 Meyer, S. 251. 1058 Ebd., S. 170.

Annährung an die (historische) Wahrheit über den Vater

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Zeit [eingebunden ist] und die Zukunft nicht kennen kann, in einem ›Nebel‹ lebt, der sich erst […] in der Rückschau [auflöst].«1059 Daher nehmen sich weder die Erzählfigur von Wibke Bruhns noch andere Spurensuchende das Recht, über die Eltern zu richten: So komme ich nicht weiter. Wer bin ich denn, heute zu urteilen, wo es darum geht, Früheres zu begreifen? Hans Georg und Else haben bezahlt, jeder für sich. Ich habe da keine Rechnungen aufzumachen und muß meinen Hochmut zügeln. »Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind, gedenkt, wenn ihr von unseren Schwächen sprecht, auch der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid.«, mahnt Bertolt Brecht die Nachgeborenen. 60 Jahre später kann ich hier nicht sitzen ohne Erbarmen und »recht haben«. Mein Glück war die Zäsur. Ich habe angefangen, als alles aufgehört hatte. Was ist mit denen, die beides gelebt haben? Sollten sie, wie von DDRBürgern oft verlangt, die ersten 40 Jahre ihres Lebens für ungültig erklären? Immerzu Buße?1060

Es ist das Bewusstsein als nachfolgende Generation von den Zeitumständen verschont worden zu sein, nie in die Situation gekommen zu sein, entscheiden zu müssen, die ihnen eine radikale Wertung verbietet. Sie hatten einfach Glück, in eine andere Zeit hineingeboren und somit der »kollektiven Hörigkeit entkommen« zu sein: »Ich habe mich nie etwas trauen müssen, wenn ich denn dagegen gewesen wäre. Wäre ich? Eine ganze Generation hat mir etwas vorgelebt, was in meinem Leben niemals stattfinden durfte. Das Erbe all dieser Väter war auszuschlagen.«1061

Annährung an die (historische) Wahrheit über den Vater Die Untersuchung der Vater-Spuren-Suche erlaubt es, die Frage nach der Wahrheit über die Vergangenheit und den Grad der Verstrickung des Vaters zusätzlich in der Kategorie eines moralisch-philosophischen Problems der historischen Forschung zu betrachten. Schon der Begriff der Wahrheit wird unterschiedlich ausgelegt, u. a. bedingt durch die Frage nach der »Bürgschaft« und den »Kriterien«1062 der Wahrheit. So unterscheidet beispielsweise das Wörterbuch der Philosophischen Begriffe zwischen der »(formalen) logischen« 1059 Spode, [Stand: 01. 05.2010]. 1060 Bruhns, S. 21. 1061 Ebd., S. 19. 1062 Kirchner/Michaelis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. In: Betram, Mathias: Geschichte der Philosophie. Darstellungen, Handbücher, Lexika. Digitale Bibliothek Band 3. CD-Rom. Berlin 2000, S. 13370.

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und der »materiellen (inhaltlichen) Wahrheit.«1063 Während im ersten Fall die »Übereinstimmung [d]er Gedanken mit sich selbst und mit den allgemeinen Denkgesetzen« ausschlaggebend ist, beruht das Verständnis der materiellen Wahrheit auf dem »Inhalt der Erkenntnis« und vertraut auf den »gesunden Menschenverstand.«1064 Im Hinblick darauf verweisen Friedrich Kirchner und Carl Michaelis auf die unterschiedlichen Standpunkte der skeptischen, kritischen, dogmatischen und absoluten Philosophie, die die Wahrheitsauffassung zusätzlich differenziert: Die Skepsis stellt die Möglichkeit eines wahren Wissens überhaupt in Abrede. Der Kritizismus leugnet die Gültigkeit unserer Erkenntnis vor ihrer Prüfung und über die Grenzen der Erfahrung hinaus; die Dinge an sich bleiben uns unbekannt. Der Dogmatismus dagegen setzt ohne weiteres voraus, daß unsere Begriffe dem Wesen der Dinge entsprechen. Noch weiter in der Richtung geht die absolute Philosophie, indem sie, unter Voraussetzung der absoluten Einheit von Denken und Sein, behauptet, der Begriff sei selbst das wahrhaft Reale.1065

Ganz anders die sogenannte ideale Wahrheit, die bei »Gültigkeit der praktischen Ideen« auftritt: »Hier handelt es sich nicht um die Angemessenheit des Gedankens für das Sein, sondern im Gegenteil um Übereinstimmung des Seins mit der Idee. Das sittliche, ästhetische, religiöse Tun hat sich nach der Idee zu richten.«1066 Die Erzählfigur von Kurt Meyer schließt eine eindeutige, universelle Wahrheit aus: Du wolltest immer die Wahrheit wissen, auch wenn mir das zum Nachteil gereichte. Ich habe das damals akzeptiert und noch viel zu lange praktiziert. Dann habe ich irgendwann gemerkt, dass das mit der Wahrheit gar nicht so eindeutig ist, dass man sich geradezu untüchtig verhält, wenn man immer und um jeden Preis die Wahrheit sagt, dass es unterschiedliche Wahrheiten gibt, dass es im Rechtswesen z. B. schon gar nicht um Wahrheit geht, sondern um von Menschen gesetzte Normen, dass dieser Drang nach Wahrheit im Grunde ein unerfüllbares Bedürfnis von uns Menschen ist. Möglicherweise habe ich diesen Drang noch immer in mir, und ich erfahre etwas über mich, indem ich mich mit dir auseinandersetze.1067

In der Vater-Spuren-Suche scheint vor allem die Annährung an die Wahrheit im Anschluss an Nietzsche im Vordergrund zu stehen, d. h. an eine Wahrheit, die jeglichen Widerspruch sowie Täuschung oder Wechsel, d. h. »Ursachen des Leidens!« ausschließt.1068 In diesem Sinne lässt sich nämlich das Leiden der 1063 1064 1065 1066 1067 1068

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 13371. Meyer, Kurt, S. 24. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Werke und Briefe. Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre [13]. In: Schlechta, S. 8993.

Annährung an die (historische) Wahrheit über den Vater

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Söhne und Töchter verstehen, das aus dem Nicht-Wissen und aus Widersprüchlichkeiten im Hinblick auf die Beziehung zum Vater und zu dessen Vergangenheit resultiert. Im Zuge der Annährung an die Vergangenheit des Vaters werden Rahmenbedingungen für eine historische Untersuchung geschaffen: Die Spurensuchenden stellen im Rahmen ihrer Rekonstruktionsarbeit das Spurenmaterial zusammen, werten es aus und interpretieren es neu. Dabei lassen sich diverse Erkenntniswege beobachten, die aus verschiedener Schwerpunktsetzung, unterschiedlichem Wahrheitsverständnis und Umgang mit Quellen sowie Spuren resultieren. Die Erzählfiguren bei Beate Niemann und Kurt Meyer zeichnet eine vorsichtige hinterfragende Einstellung zum gefundenen Spurenmaterial aus. Besonders relevant für ihre Verfahrensweise ist die Spurenqualität, für die »Verlässlichkeit« bzw. »Glaubwürdigkeit« entscheidend sind.1069 Das Vorgehen der Spurensuchenden lässt sich auf von Ricœurs Prinzip ableiten, das »die Frage nach der Wahrheit« mit der »Frage nach der Wahrhaftigkeit« gleichsetzt.1070 Die Erzählfiguren kommen seiner Methode der Quellenprüfung als einer Gegenüberstellung mehrerer Zeugnisse nahe, indem sie mit diversen Quellen und Spuren unterschiedlicher Provenienz arbeiten und somit im Rahmen der konfrontierenden Methode die Zuverlässigkeit des Spurenmaterials überprüfen. So verfährt beispielsweise die Erzählerin bei Beate Niemann. Ich hatte es mir zu Bedingung gemacht, in den Lebenslauf meines Vaters nur Daten und Fakten aufzunehmen, die ich wenigstens von drei Seiten bestätigt finden konnte. Wie schwierig und fast undurchführbar diese Absicht war und ist, wurde mir klar, als ich begriff, dass auch die Zunft der Historiker und Experten voneinander abschreibt, ohne noch einmal selbst zu recherchieren.1071

Im Rahmen der Annährung an die Wahrheit werden neben dem Nachlass des Vaters andere, u. a. authentische offizielle Dokumente herangezogen, die durch ihre Referenzialität zur Objektivierung des Spurenmaterials beitragen sollen. Ihre Bedeutung macht sich vor allem in den Werken bemerkbar, die den Anspruch erheben, die faktische Wahrheit darzustellen. Dieses Verfahren verweist »auf die (vergangene) Wirklichkeit, die nicht auf die Sprache reduziert werden kann,« indem die Wahrheit der »Adäquatheit« und den »Referenzen« entliehen wird.1072 In dem Interpretationsverfahren der Spurensucher, das »Bedeutungsgebung« zum Ziel hat, wird die Wahrhaftigkeit von Aussagen bzw. Schlussfolgerungen durch Fakten unterstützt. Lorenz zufolge setzt »[d]ie Verwendung des 1069 1070 1071 1072

Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 40. Ebd. Niemann, S. 192. Lorenz, S. 153. Dies betrifft nicht die Hermeneutik bzw. die hermeneutische Philosophie, z. B. von Gadamer oder Heidegger. [Hervorhebung: Ch.L.]

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Begriffs des Faktums […] die Vorstellung von Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung mit den Fakten voraus« sowie »umgekehrt […] der Begriff der Wahrheit den Begriff des Faktums voraussetzt.«1073 Demnach werden die Tatsachen nicht als Wahrheit, sondern als Objektivität gewertet: Man nennt etwas objektiv, wenn es unabhängig davon existiert, was man darüber denkt, unabhängig von dem Bewußtsein davon. Was existiert – was die Wirklichkeit ist – erfährt man allerdings nur über Tatsachenbehauptungen. Ob Tatsachen objektiv sind, kann also nur festgestellt werden, indem die Wahrheit von Tatsachenaussagen geprüft wird. Die Beziehung von Fakten und Wahrheit kann nun wie folgt präzisiert werden: Wenn Aussagen mit Fakten korrespondieren, die objektiv sind, sind sie wahr. Objektivität ist also nicht dasselbe wie Wahrheit, ebensowenig wie Tatsachen dasselbe sind wie wahre Aussagen, wenn auch diese Begriffe eng miteinander zusammenhängen.1074

Die Selbstzeugnisse des Vaters werden zur Sicherheit von den Spurensuchern u. a. mit der Geschichtsschreibung von Historikern und Experten sowie den Erinnerungen von anderen Zeitzeugen verglichen, dennoch bleibt eine gewisse Subjektivität in der Betrachtung. So unterscheidet die Erzählerin bei Dagmar Leupold aufgrund des persönlichen Erfahrungshorizonts der Beteiligten1075 zwischen zwei Erinnerungsarten: der der Täter und der der Opfer, die auf verschiedene Prämissen zurückzuführen sind: »Die einen beharren auf ihrer Version der Geschichte, die sie entlasten soll, die anderen trauen keiner Geschichte mehr über den Weg: Zuverlässigkeit haben sie nur als Gewissheit der Vernichtung erlebt.«1076 Im Bericht von Martin Pollack werden in diesem Kontext Sprachmodalitäten sichtbar, die je nach Opfer- oder Tätergruppe variieren und mit anderem Inhalt gefüllt werden, denn: »Human. Was bedeutete das in der Sprache der Täter?«1077 Die Erzählfigur bei Kurt Meyer stellt ebenfalls bei der Analyse der Memoiren des Vaters fest, wie perspektivisch seine Erinnerungen sind, wie sie der Konfrontation mit anderen Quellen nicht Stand halten können. Sie kritisiert die Darstellung und Bewertung des Krieges durch ihren Vater, die darauf abzielt, ihn als eine »anständige« Person erscheinen zu lassen. Der Vater verweist auf seine Augenzeugenschaft, die zum Bewertungsmaßstab wird. Das von ihm abgelegte Zeugnis ist aber durch eine zweckgebundene Unvollständigkeit charakterisiert, was die Erzählfigur von Meyer der Mehrzahl der Erinnerungsbücher und Memoiren der ehemaligen Kriegsteilnehmer vorwirft: »Bis in die Gegenwart hinein bleibt die Wahrnehmung der Vergangenheit selektiv 1073 Ebd., S. 22. 1074 Ebd., S. 49. [Hervorhebung: Ch.L.] 1075 Vgl. Spode, [Stand: 01. 05. 2010]. 1076 Leupold, S. 34. 1077 Pollack, S. 221.

Annährung an die (historische) Wahrheit über den Vater

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und wird die eigene Geschichte so aufbereitet, daß alles »seine Ordnung«1078 hat. Klaus Füßmann unterstreicht hinsichtlich der Geschichtserzählung, die sowohl temporal als auch weltanschaulich von der Gegenwart bestimmt wird, die Bedeutung der Selektivität.1079 Im Rahmen der Auswahl werden historische Informationen bzw. Geschehensmomente je nach »Orientierungsbedürfnis,« »Erkenntnisinteresse« oder »funktionalem Verwendungszweck« akzentuiert, ausgewählt oder eliminiert.1080 So werden in der Darstellung des Vaters unbequeme Fakten ausgeklammert oder zurechtgebogen, die »mörderischen Zusammenhänge«1081 ausgeblendet. Die Ziele, für die sich der Vater eingesetzt hat, werden nicht reflektiert.1082 In seinen Erinnerungen werden Zusammenhänge, die wesentlich für das Verständnis der Vergangenheit sind, verstellt und verdrängt: »Du vermittelst den Krieg als Rausch. Auf die Ebene des Nachdenkens sollen sich die Leser deines Buches noch immer nicht begeben. In wessen Auftrag, mit welcher Zielsetzung, in welchen Zusammenhängen ihr in Russland gekämpft habt, soll weiterhin keine Rolle spielen.«1083 Die nachträgliche Distanzierung sowie die ausgebliebene Wertung und Deutung ermöglichen den selektiven Blick auf die Vergangenheit, wodurch eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Identität verhindert wird. Die Erzählfigur von Kurt Meyer sieht daher seine Suche nach der »Wahrheit,« d. h. nach »Erklärungen« und »tieferliegenden Begründungen,«1084 ob in Gesprächen und Memoiren von Zeitzeugen oder in der Geschichtsschreibung selbst, als vergeblich an: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit, meinen Fragen, Zweifeln und Vermutungen läßt mich manchmal beinahe meine emotionalen Wurzeln verlieren. Dabei spüre ich, daß es um Wahrheit und Gerechtigkeit bei der Aufarbeitung von Geschichte allein nicht geht. Diese wird pädagogisiert und unterschiedlichen Interessen der Gegenwart verfügbar gemacht. Ich hadere mit den Apologeten und den vorschnellen und selbstgerechten Anklägern der Zeitgenossen des Dritten Reiches.1085

Dies deckt sich mit der Auffassung von Hasso Spode, die unterstreicht, dass »das Wahrheitspostulat niemals zur Gänze einlösbar [ist], da [die Historie] immer von einem Standpunkt aus operieren muss, der außerhalb ihres Gegenstands

1078 Meyer, Kurt, S. 138. 1079 Füßmann, Klaus: Historische Formungen. Dimensionen der Geschichtsdarstellung. In: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hrsg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln/Weimar/Wien/Böhlau 1994, S. 33. 1080 Ebd. 1081 Vgl. Meyer, Kurt, S. 163. 1082 Ebd. 1083 Ebd., S. 141. 1084 Ebd., S. 184. 1085 Ebd., S. 232.

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liegt.«1086 Die Wahrheitsbestimmung1087 kann weder die Subjektivität noch die Relativität1088 der Erkenntnis vermeiden, da Wissen sich trotz angestrebter Objektivität auf individuellen Wahrnehmungen und Meinungen beruht. So stellt auch die Erzählfigur Kurt Meyer fest, dass »die Erinnerung der Geschichte von Interessen abhängig ist, daß es objektive Erkenntnis so wenig wie wertfreie Wissenschaft gibt.«1089 Auch wenn die Spurensuchenden andere wissenschaftliche Texte oder Dokumente zur Unterstützung heranziehen, bleibt der Interpretations- bzw. Denkvorgang jeweils subjektiv. Daher stellt die Erzählfigur von Meyer auch ihre eigenen Erinnerungen sowie den eigenen »Wunsch zu wissen, wie es genau gewesen ist« in Frage: Glaubte ich in der Kenntnisnahme der Fakten noch halbwegs objektiv sein zu können, war ich es mit der Deutung und Wertung mit Sicherheit nicht mehr. Beim Studium der Literatur geriet ich in einen Strudel von Deutungen und Wertungen. Gibt es überhaupt Aussagen, sogenannte Fakten, die nicht im Sinne einer bestimmten Absicht zu kommentieren, zu korrigieren und damit am Ende zu relativieren wären?1090

Nach Gadamer entscheidet das wissenschaftliche Verfahren historischer Erkenntnis nicht über den Wahrheitsgehalt: »Der Historiker interpretiert auf etwas hin, was nicht im Text selbst ausgesagt wird und durchaus nicht in der gemeinten Sinnrichtung des Textes zu liegen braucht.«1091 Der Deutungsprozess läuft Gefahr, dem Geschehen einen subjektiven Sinn zu verleihen, zumal der narrative Modus der Darlegung zu Modifikationen führt, da die Sprache, keinen »Spiegel der Wirklichkeit«1092 darstellt. Das Verfahren ist des Weiteren aufs Engste mit dem Erwartungshorizont und Erfahrungsraum des Interpreten verknüpft: Der Historiker als ein Individuum mit Leidenschaften und als ein verantwortlicher Bürger tritt mit seinen Erwartungen, seinen Wünschen, seinen Befürchtungen, mit seinen Utopien oder mit seinem Skeptizismus an sein Thema heran. Dieser Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft fließt unbestreitbar in die Wahl seines Forschungsgegenstandes ein, in die Fragen und Hypothesen, die er formuliert, in die Gewichtung der Argumente, die seine Erklärungen und seine Interpretationen stützen.1093 1086 Vgl. Spode, [Stand: 01. 05. 2010]. 1087 Siehe dazu: Eisler, S. 14481 f. 1088 Vor allem Sophisten unterstreichen dies immer wieder. 1089 Meyer, Kurt, S. 121. 1090 Ebd., S. 226 f. 1091 Gadamer, S. 319. 1092 Lorenz, S. 62. Lorenz zeigt unterschiedliche Standpunkte zur wissenschaftlichen Wahrheit am Beispiel von Popper und Ankersmit. Während für Popper die Geschichtsschreibung nur eine Annährung an die Wahrheit bieten kann, schließt Ankersmit schon allein wegen der Narration, die keine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit haben kann, die Möglichkeit jeder Wahrheitsannährung aus. Siehe dazu: Lorenz, S. 146 f. 1093 Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit, S. 55.

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So bestimmt Ricœur zufolge »die Wahrheit in der Historie,« die Unentschiedenheit, Plausibilität, Wahrscheinlichkeit sowie Anfechtbarkeit, da letztere »immer im Prozeß des Um-Schreibens begriffen« ist.1094 Dagegen glaubt Reinhart Koselleck zwischen der »perspektivischen Wahrnehmung« und »Tatsächlichkeit« differenzieren zu können, indem die »prinzipiell objektivbaren ›Fakten‹« von Beurteilung getrennt werden, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass die Geschichtsschreibung auf Kombinieren und »Zusammenfügen von ›Fakten‹« beruht und insoweit »ein Stück Fiktionalität«1095 ist. Damit wird die Wahrheit nur dann erreicht, wenn sie »perspektivisch gebrochen« wahrgenommen wird. Die subjektive Komponente in der Vater-Spuren-Suche erweist sich daher als unerlässlich.1096 Der Erkenntnisprozess wird in der Vater-Spuren-Suche hauptsächlich durch ein Demonstrations-Verfahren realisiert, in dem Spuren mit jeweils unterschiedlicher Zielsetzung verfolgt werden. Einige Erzählfiguren suchen Belege für die Unschuld bzw. Schuld des Vaters, einen »objektiven Tatbestand,« andere, wie die Erzählfigur bei Niemann, suchen nach einem »subjektiven Schuldgefühl,« seinem Schuldbekenntnis oder nach Reue.1097 Zu solchen Aussagen war meine erste Reaktion Mitleid, allerdings sofort gefolgt von dem Gedanken, ob er sich jemals bei seinen Opfern Gedanken gemacht hat um deren Gefühle und Ängste oder ob er jetzt sein früheres Handeln wenigstens in Zweifel zog. Dafür habe ich bis heute keinen Hinweis gefunden, kein Wort des Mitleids für die ermordeten Frauen und Kinder des Lagers Semlin oder über die Opfer seiner Tätigkeit in den Jahren davor. Ich habe auch kein Schuldanerkenntnis gefunden oder wenigstens den Beginn eines Umdenkens.1098

Generell tendieren die Spurensuchenden dazu, das Fehlen von Belegen für die Schuld des Vaters als Beweis für dessen Unschuld zu werten. Zwar thematisieren die meisten Texte die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und den Vater als Nationalsozialisten, doch ohne beides miteinander zu verknüpfen. Die Rolle des Vaters bleibt oft verschwommen und unübersichtlich. Sie verschwindet hinter der Universalität der Schuldfrage. Der Aufgabenbereich des Vaters wird innerhalb der »Volksgemeinschaft« an diesen Stellen nicht deutlich (genug), bzw. unscharf1099 dargestellt. Dies ist einerseits nachvollziehbar, vor allem wenn keine eindeutigen Beweise für die individuelle Täterschaft gefunden werden, ande1094 Ebd., S. 40. 1095 Spode, [Stand: 01. 05. 2010]. 1096 Vgl. ebd. 1097 Vgl. Schwan, S. 17. 1098 Niemann, S. 180 f. 1099 Vgl. Harald Welzer zitiert nach: Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin 2005, S. 59.

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rerseits verschwindet die Figur des Vaters so unter Vielen, die nachträglich mit der weit ausgelegten Bezeichnung »Mitläufer« versehen wurden. Die Spurensuche der Erzählfiguren scheint sich an der Grenze zwischen dem WissenWollen und dem Nicht-Wissen-Wollen zu bewegen. Ihre paradoxe Beziehung lässt sich mit den Worten von Harald Welzer erläutern: Dass das Wissen hier die Funktion übernimmt, nichts mehr wissen zu wollen – nämlich über die Familiengeschichte und ihren Zusammenhang zum Nationalsozialismus -, verweist einmal mehr auf die paradoxe Folge der umfassenden Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit und die mit ihr verbundenen Verbrechen: Je fundierter das Geschichtswissen ist, desto größer wird die subjektiv empfundene Notwendigkeit, die eigene Familie vor diesem Wissen zu schützen – das heißt, sie aus dem historischen Zusammenhang herauszunehmen, über den man so gut Bescheid weiß.1100

Gerade an den entscheidenden Punkten der Suche verliert sich die Spur. Die Beteiligung des Vaters sei zwar bekannt, aber eindeutige Beweise sind nicht (mehr) zu finden. »Die Sache« bleibt ungeklärt, was das Bedürfnis der Nachfolgegeneration widerzuspiegeln scheint, »eine Vergangenheit zu konstruieren, in der ihre eigenen Verwandten in Rollen auftreten, die mit den Verbrechen nichts zu tun haben.«1101 So berichtet beispielsweise die Erzählfigur Martin Pollack, sein Vater sei 1944 »[m]it Leuten, die an den Massakern in Rußland teilgenommen hatten«1102 in Richtung Warschau gezogen und lässt damit die Frage offen, inwiefern sein Vater selbst daran beteiligt gewesen ist. An anderer Stelle unterstellt er seinem Vater Dr. Bast die Verantwortung für Erschießungsbefehle, ohne ihn dabei direkt als Täter zu benennen: Wer die Erschießung angeordnet hatte, Dr. Bast oder sein Stellvertreter, wußte der Zeuge nicht zu sagen. Ihm war nur im Gedächtnis haften geblieben, daß die Geiseln erschossen wurden. Man konnte sie schließlich nicht in die Slowakei mitnehmen, dort wären sie wertlos gewesen. Also wurden sie liquidiert. Dazu war das Sonderkommando da. Um Leute zu erschießen. Juden, Zigeuner, polnische Geiseln. Auf die Idee, die polnischen Gutsbesitzer vor der Abreise laufen zu lassen, ist offenbar keiner gekommen. Ob mein Vater selber den Befehl zu der Erschießung gegeben hat (vielleicht hatte er an diesem Tag eine Besprechung mit General von dem Bach-Zalewski), ist nicht so wichtig, er war der Leiter des Kommandos, das nach ihm benannt wurde, er trug die Verantwortung, das Blut der fünfzehn bis zwanzig Geiseln (über die genaue Zahl herrschte Ungewißheit, ein paar Tote mehr oder weniger machten keinen Unterschied), klebt, zumindest bildlich gesprochen, an seinen Händen.1103

1100 1101 1102 1103

Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, S. 77 f. Ebd., S. 207. Pollack, S. 200. Ebd., S. 204.

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Im Gegensatz dazu schreckt die Erzählfigur bei Beate Niemann nicht davor zurück ihren Vater aufgrund seiner Verbrechen als »Täter« zu bezeichnen: »Jetzt wird für mich deutlich, dass Bruno Sattler ein Mörder gewesen ist. Das Bild des rechtschaffenen preußischen Beamten bricht zusammen. Was mein Vater zu verantworten hat, ist außerhalb meiner Vorstellungswelt.«1104 Die Mehrheit der Spurensuchenden ist vorsichtig in ihrem Urteil. Wenn der Vater überhaupt als Verbrecher bezeichnet wird, dann bezogen auf bestimmte Quellen oder wie in Pollacks Text nur indirekt: »Er [der Vater] hat das Ende kommen sehen, doch offenbar nicht wirklich damit gerechnet. So reagierten auch andere Täter.«1105 Dies gilt auch für die Texte der ersten Publikationswelle, z. B. von Sigfrid Gauch: »Du seiest ein alter Stromer, ein Schreibtischtäter, der Millionen von Juden auf dem Gewissen hat, hat jemand gesagt.«1106 An einer anderen Stelle führt der Erzähler an, wie der Vater von Dritten bezeichnet wurde: Ich erinnere mich an lange Fahrten, bei denen ich allein im Auto saß, über meinen Vater nachdachte: Über den Oberfeldarzt außer Diensten, den Reichsamtsleiter in der Reichsführung SS, den Adjutanten Heinrich Himmlers, den Verfasser von »Neue Grundlagen der Rassenforschung«, den im Eichmann-Prozess vom Hauptankläger als Schreibtischmörder Bezeichneten, den, als den ich ihn kannte: meinen Vater.1107

Im Text von Wibke Bruhns bleibt die Rolle des Vaters »HG« ebenfalls unklar : Einerseits wird der Grad der Täterschaft des Vaters an der Ostfront nicht deutlich herausgearbeitet: HGs Beschreibung dessen, was er tut, bleibt kryptisch. Er ist Leiter des Abwehrkommandos III, das in der riesigen Ausdehnung des Heeresgruppenbereichs überall mit Aufklärungstrupps und Agentenkolonnen den Gegner hinter und vor der Front im Visier hat. Die unorthodoxen Methoden des AK III finden wachsende Anerkennung in den Armeen und untermauern seine Unentbehrlichkeit. Wie Kurt damals in Grodno zieht HG Halberstädter Spezis in seinen Bereich nach, bald sitzen wieder die Bridgespieler vom Bismarckplatz zusammen. Ihr Geschäft ist die Partisanenbekämpfung – »diese Leute hinter der Front sind lebensgefährlich und sie vermehren sich wie die Küchenschaben!« HGs Leute versuchen sie zu fangen, sie zu unterwandern, ihre Kommandozentralen auszuheben, in HGs Dienststelle werden sie verhört, wenn man sie lebend kriegt.1108

Andererseits wird auch seine Aktivität Hans Georgs im Kreis der Männer des 20. Juli nur unscharf umrissen:

1104 1105 1106 1107 1108

Niemann, S. 45, 48. Pollack, S. 231. Gauch, Sigfrid: Vaterspuren. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt am Main 2005, S. 95 f. Ebd., S. 9. Bruhns, S. 309 f.

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Ich weiß die Wahrheit nicht. Es spricht vieles dafür, daß Hans Georg als erfahrener Abwehrmann die Vernehmer in Ernst Kaltenbrunners Reichssicherheitshauptamt getäuscht, daß er, wie einige andere Männer des 20. Juli auch, bis unmittelbar vor seiner Hinrichtung hoch gepokert und verloren hat. Er kannte zu viele aus dem Verschwörerkreis, als daß er bis zehn Tage vor dem Attentat ahnungslos gewesen sein kann.1109

Auf diese Weise bleibt die Figur des Vaters undefiniert und wird in beiden Fällen auf Mitwisserschaft reduziert: Im Urteil steht eine Menge dummes Zeug. Viel spricht dafür, daß HG über die seit etwa zwei Jahren laufenden Attentatsplanungen informiert ist – Versuche hatte es schon 1938 und früher gegeben. Die Liste der im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichteten Männer liest sich wie ein Auszug aus HGs Adreßbuch. Informiert-Sein heißt aber nicht Beteiligt-Sein. HG hat, soweit bin ich mir sicher, an keiner Planung teilgenommen, er war Mit-Wisser nicht Mit-Täter. Anders die vier Männer, mit denen er an diesem Abend in Mauerwald zusammensitzt, die sind aktiv und praktisch beteiligt.1110

So wird er in der sicheren Grauzone des »Mitläufertums« positioniert, das nach 1945 (nach der Dolchstoßlegende) zum nächsten deutschen »kollektiven Mythos,« zu einem überstrapazierten Begriff wurde, der implizierte, dass die deutsche Bevölkerung dem nationalsozialistischen System quasi »hilflos ausgeliefert war« und daher die Schuldweisung dem System gelte.1111 Zusätzlich werden in den Väterbüchern auch die Umstände und Gründe, warum der Vater sich dem Nationalsozialismus angeschlossen hat, unterschiedlich interpretiert und bewertet. Beate Niemann sieht keine strafmildernden Umstände für das nationalsozialistische Engagement ihres Vaters: Mir hat Brownings Arbeit noch einmal klar gemacht, dass mein Vater sich der Mordmaschinerie hätte entziehen können. Warum hat er es nicht getan? Deswegen war es mir so wichtig, sein Leben so weit wie möglich zu erforschen, um diesen Punkt für mich klären zu können. Aus den von mir zusammengetragenen Informationen kann ich nur folgenden Schluss ziehen: Bruno Sattler war ein überzeugter Nationalsozialist, der seine ganze Arbeitskraft für ein Regime einsetzte, dessen verbrecherische Absichten er frühzeitig hätte erkennen können.1112

Dagegen wird in vielen neuen Vätertexten eine direkte Verurteilung des Vaters vermieden. Die Taten der Väter während des Zweiten Weltkrieges werden durch das Prisma der »Gnade der späten Geburt« betrachtet. Die Erzählerin Wibke Bruhns »dank[t] dem Himmel, der Hölle und allen Kreaturen, daß [sie] nicht ins Dritte Reich hineingeboren« und auch von weiteren Kriegen verschont worden ist, denn: 1109 1110 1111 1112

Ebd., S. 17. [Hervorhebung D.B.] Ebd., S. 354. [Hervorhebung D.B] Vgl. Mitscherlich, Margarete, S. 18 f. Niemann, S. 191.

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Hätte [sie sich] andernfalls dem Opferkult wirklich entziehen können? [Ihre] Verwandtschaft bestand aus Anpassern, Mitläufern und aktiven Nazis, woher hätte [sie] die moralischen Vorbilder nehmen sollen, die [ihr] geholfen hätten zu widerstehen? Und wo waren die Vorbilder für [ihre] Eltern und Großeltern, die ihnen geholfen hätten, »nein« zu sagen?1113

Die Vätergeneration wird insgesamt missbilligt, aber über den eigenen Vater selbst wird nicht direkt geurteilt. Im Vatertext von Ute Scheub werden stark generalisierende und simplifizierende Erklärungs- bzw. Rechtfertigungsversuche der nationalsozialistischen Verbrechen präsentiert, die ein falsches Geschichtsbild vermitteln können: Täter werden oft erst zu Tätern, weil sie selbst Traumatisierte sind. Auch Hitler ist im Ersten Weltkrieg traumatisiert worden. Er ist der einzige Überlebende seiner Kompanie gewesen, was ihn dazu verführte zu glauben, er sei ein von Gott oder dem Schicksal Auserwählter. Gegen Ende des Krieges wurde er durch einen Giftgasangriff schwer verwundet, erblindete zeitweilig und geriet in eine schwere psychische Krise. Erst nach diesem Erlebnis wurde er zum fanatischen Antisemiten.1114

Gefährlich findet Aleida Assmann ein solches Vorgehen, in welchem »[g]roße […] Fragen – Wie konnte das geschehen? Warum tun Menschen so etwas? – […] kleingearbeitet, das Monströse in Handlungsketten zerlegt und damit nachvollziehbar«1115 gemacht werden. Laut Assmann verliert das Monströse so nicht an Verwerflichkeit, wird aber rationalisiert und zugleich »als das ganz Andere, Fremde mumifiziert und [abgespalten],« um »die Gegenwart zu entlasten und in der vorgeblichen Sicherheit des Korrekten, Guten und Richtigen einzulullen.«1116 Die Erzählfigur von Wibke Bruhns versucht die Frage des Antisemitismus in ihrer Familie durch die Konstruktion von Kontinuitäten zu erklären, indem sie auf die »Gesellschaftsfähigkeit« des Antisemitismus seit Martin Luther oder Richard Wagner hinweist1117 und antisemitische Äußerungen in ihrer Familie wie folgt darstellt: Lasse ich die »Judenlümmel« unkommentiert? Das Wort ist zu dieser Zeit noch nicht das Synonym für Mord und Vernichtung, es ist erst der sich anbahnende Weg dorthin. In HGs halbstarker Überheblichkeiten ist der Begriff eine Floskel für die Furcht vor den »anderen«, derer man sich am besten im Schutz des Elite-Denkens in der eigenen

1113 Scheub, S. 269. 1114 Ebd., S. 279. 1115 Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit revisited. Der jüngste Erinnerungsboom in der Kritik. Aus Politik und Zeitgeschichte B40 – 41/2003, S. 12. [Stand: 10. 10. 2009]. 1116 Ebd. 1117 Bruhns, S. 150.

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Gruppe erwehrt – »Nigger« ist so etwas in Amerika, »Zecken« nennen die rechten Schlägertrupps von heute ihre Gegner.1118

Diese Erläuterung bezieht sich wie Goldhagens These1119 auf die deutsche antisemitische Mentalität, die sich seit dem 19. Jahrhundert etabliert und mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 auch auf staatlicher Ebene ihren Durchbruch erfahren haben soll. Ute Frevert kritisiert diese durch Goldhagens These repräsentierte Art von Deutungen im Hinblick auf ihre Aufklärungs- und Entlastungsfunktion für die nachgeborene Generation. Die These, der Antisemitismus sei nach 1945 in Deutschland verschwunden, nahm laut Frevert »den Charakter eines Heilswissens an, das seinen Konsumenten – sofern sie nach 1945 geboren waren oder die NS-Zeit nur als Kinder durchlebt hatten – Absolution und Erlösung versprach.«1120 So resultiert der unterschiedliche Umgang mit Spuren bzw. Befunden in den Vätertexten aus unterschiedlichen Zielen in der Deutung der Geschichte. Die Interpretation der Geschichte des Vaters scheint nicht immer mit der Erschließung damit einherzugehen, inwieweit sie »wahr« und »erklärbar« ist, sondern in einigen Fällen damit, inwiefern sie »akzeptiert« werden kann.1121 Die »kognitive Erklärbarkeit« und die »praktische Akzeptierbarkeit« sind hier gleichrangig: »Es geht bei Erzählungen über Menschen also nicht um die Wahrheit an sich, noch um die ›ganze‹ Wahrheit, sondern um die ›akzeptable‹ Wahrheit.«1122

Die Suche als generationsübergreifender Akt der Befreiung Die Vater-Spuren-Suche ist, wie die Erzählfiguren unterstreichen, als Beitrag mit sowohl persönlicher als auch öffentlicher Dimension zu verstehen und schildert hauptsächlich die kollektiv versäumte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Elterngeneration. Die Söhne und Töchter übernehmen stellvertretend die Verantwortung, für ihre Eltern, die sich in dem langwierigen und komplexen Prozess der Auseinandersetzung mit der individuellen Verstrickung dazu bisher nicht bereit gezeigt haben. Erst die nachkommende Generation fand gerade deshalb die nötige Distanz, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Familie und der deutschen Gesellschaft zu beschäftigen, weil 1118 Ebd., S. 97. 1119 Goldhagen führt die »Judenfeindschaft« bzw. den »eliminatorischen Antisemitismus« der deutschen Bevölkerung bis auf das Mittelalter zurück. Siehe dazu: Longerich, Peter : Holocaust. In: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John: Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden 2002, S. 191. 1120 Frevert, S. 8. [Stand: 10. 10. 2009]. 1121 Vgl. Lorenz, S. 434. 1122 Ebd.

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sie »keinen biographisch zu verantwortenden Anteil an [dem] empirischen Schuldzusammenhang mehr hatte.«1123 Für die meisten Nachkommen bedeutet die Spurensuche das Herantasten an einen angemessenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit und der der Vätergeneration. Sie machen es sich zur persönlichen Aufgabe, die intergenerationelle Weitergabe von traumatischen Belastungen zu beenden, damit die nachfolgende Generation vor dem Hintergrund der väterlichen Verfehlungen im geschichtlichen Bewusstsein der demokratischen Werte erzogen werden kann: Es ist noch heute Aufgabe jeder Generation, sie [die Geschichte] neu zu erlernen und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu handeln, das heißt die Rechten und Pflichten, die sie uns zur Verfügung stellt, auch wahrzunehmen. Das beginnt mit der Pflicht jedes Einzelnen, sich zu informieren, zu hinterfragen, sich einzumischen, zur Wahl zu gehen, sich eine eigene Meinung zu bilden, sie zu äußern, zu ihr zu stehen und sie zu vertreten, sich zur Wehr zu setzten.1124

Die Erzählfigur von Beate Niemann hat sich dem eigenen Leben und dem des Vaters gestellt, »um ihrer selbst, ihrer Kinder und ihrer Enkelkinder willen.«1125 Ihre Vater-Spuren-Suche unternimmt sie im Bewusstsein der Verantwortung für die künftigen Generationen. Deswegen ist Erziehungsarbeit Schwerstarbeit, an uns selbst, erst recht an unseren Kindern. Es fängt mit der Familiengeschichte an. Ich habe es an mir selbst erlebt, wie Verschweigen, Leugnen und Verdrängen mein Leben beeinflusst haben, welche Kraft es kostet, diese Mauern nachträglich zu durchbrechen. Was richten Familiengeheimnisse an? Ich habe für mich entschieden, sie zu überwinden, um der geschichtlichen Wahrheit näher zu kommen.1126

Dies überdeckt sich mit der Forderung von Hannah Arendt, dass in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft »jeder Bürger und jede Bürgerin imstande sein müsste, die Verantwortung für die gemeinsame Geschichte ihrer Gesellschaft zu übernehmen.«1127 Die Bereitschaft zur verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit der Hypothek der Elterngeneration ist nämlich »aufs engste mit der Autonomie des Individuums« verknüpft.1128 Die Väterbücher sind als Ausdruck einer »demokratischen Reife« sowie der »moralisch[en] Souveränität einer Gesellschaft« auf der kollektiven Ebene zu verstehen.1129 Dies kann

1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129

Dubiel, S. 289. Niemann, S. 188. Ebd., S. 194. Ebd., S. 187 f. Vgl. Dubiel, S. 286. Ebd. Vgl. ebd.

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nur geschehen, wenn auch die unbelastete Generation sich der Vergangenheit ihrer Familie und der Nation annimmt: Ein Volk hat sich notwendig in längeren historischen Dimensionen zu verstehen; es kann seine Zusammengehörigkeit nicht nur auf die jeweils Lebenden beschränken. Wenn wir von unseren Eltern und Großeltern als »den Deutschen« sprechen, dann unterscheiden wir sie nicht von uns, bringen sie jedoch in Distanz. Diese Distanz besteht unserer Eigenart nach zu Recht; denn glücklicherweise haben wir uns darin weit von jener Zeit entfernt. Aber wenn wir sie einnehmen, setzen wir uns andererseits der Erfahrung, ihre Kinder und Enkel zu sein, nicht aus.1130

So nehmen sich die Texte der Vergangenheit der Vätergeneration an, indem sie angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus und des Krieges nicht wegsehen, sondern sie wahrnehmen, aussprechen, verurteilen und gleichzeitig auf diese Weise die Solidarität mit den Tätern und Helfern aufkündigen sowie sich von der Last des Schweigens lossagen. Somit geht die »Externalisierung,« die Aleida Assmann neben dem Aufrechnen, Ausblenden, Schweigen und Umfälschen zu Entschuldigungs- und Entlastungsstrategien in der deutschen Erinnerungsgeschichte zählt, in die »Internalisierung« über, indem sich nachfolgende Generationen an das Thema heranwagen.1131 Die Erzählerin bei Jetter begreift die Vater-Spuren-Suche als einen generationsübergreifenden Dialog, der »vielleicht zu einer Versöhnung«1132 zwischen den ehemaligen Kriegs- und Nachkriegskindern und ihren vom Nationalsozialismus geprägten Eltern führen könnte: Mit diesem Buch möchte ich auch anderen Kriegskindern, vor allem denen, deren Väter noch leben, zeigen, dass es sich lohnt, die Hintergründe des Schweigens der Väter auszuleuchten. Es kann helfen, auf das Verlassenheitsgefühl und die Traurigkeit eine Antwort zu finden. Eine Antwort, die wir so gern bekommen hätten auf die Frage, die wir nie stellten: Warum hast du mir das angetan? Warum konntest du mich nicht annehmen, wie ich es gebraucht hätte? Väterlich und liebevoll?1133

Auch die Erzählerin Scheub will mit dem Beispiel der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Vater, einem »Durchschnitts-Nazi,«1134 zur Aufdeckung von Familiengeheimnissen ermutigen. Versöhnung wird hier breiter verstanden, da eine »ausschließlich innerfamiliäre Versöhnung […] zwar zum Seelenfrieden der Individuen bei[trägt], aber nicht zum Frieden zwischen Gruppen und Na1130 Meier, Christian: Vierzig Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute. München 1990, S. 19. 1131 Siehe dazu: Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 169 ff. In diesem Zusammenhang unterscheidet Helmut Dubiel zwischen der Abspaltung, Opferhaltung, Aufrechnung, Eixistentialisierung, Verleugnung, Relativierung. Siehe: Dubiel, S. 70. 1132 Jetter, S. 6. 1133 Ebd., S. 8. 1134 Scheub, S. 261.

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tionen.«1135 Im Gegensatz dazu wird im Text von Beate Niemann ausdrücklich die persönliche Dimension der Versöhnung betont, indem die Erzählfigur zwischen der Schuld des Vaters gegenüber ihrer Person und der Schuld von Bruno Sattler gegenüber seinen Opfern differenziert. Sie versteht die Versöhnung im Sinne von Bernhard Schlink,1136 als eine, für die die Vergebung von »überlebenden Opfern« und ihrer Familien nötig ist: Doch eines kann ich meinem Vater nicht verzeihen: das, was er als aktiver Propagandist des Rassenwahns den Opfern angetan hat, direkt oder indirekt. Hier verläuft die absolute Grenze jeder familiären Aufarbeitung, auch jeder Art von Psychotherapie oder Familienaufstellung, hier beginnt die Sphäre des Politischen. Wer auch immer zu meines Vaters Opfern zählte, ob »nur« die von ihm abgeschossenen britischen Piloten oder möglicherweise auch jüdische, polnische, belgische und italienische Zivilisten: Es wäre absolut vermessen, wenn ich an ihrer Stelle eine Versöhnung simulieren und meinen Vater entschuldigen wollte. Das können nur die Opfer selbst, falls sie überlebt haben.1137

Die Selbstbefreiung in Wibke Bruhns Text ist auch als Folge einer Erkenntnis auf der »geistigen« Ebene1138 im Sinne von Karl Raimund Popper1139 zu begreifen. Das Wissen um die Vergangenheit des Vaters soll die Tochter von Selbsttäuschungen, Zweifel und Ungewissheit befreit haben: Ich habe dich bestaunt in deiner Verschrobenheit als junger Mann, ich finde dich wunderbar wegen der guten Jahre mit Else, ich kann nicht verstehen, wie du den Nazis hast anheimfallen können. Es war nicht meine Zeit. Ich bin wütend auf dich wegen der Demütigungen, die du Else zugefügt hast, und ich finde dich, den Mann, deswegen lächerlich. Vielleicht sollte ich weniger anmaßend sein. Ich bin verstört über das, was ich als deine Gleichgültigkeit verstehen muß gegenüber dem Schicksal der Juden, der Zwangsarbeiter, der Geisteskranken, der Häftlinge in den KZs, Himmlers »Untermenschen« in den besetzten Gebieten. Habe ich dich missverstanden, weil du nie etwas gesagt hast? Jetzt stirbst du als »Untermensch«. Sie haben dir den geistlichen Beistand versagt, um den du gebeten hast. Doch du hast deinen Ölberg hinter dir und du bist ein Held in deinem Tod. Dein Leben lag in einer fürchterlichen Zeit, und wenn es denn für die Kinder besser werden sollte, das ist gelungen. Du hast den Blutzoll bezahlt. Den ich nicht mehr entrichten muß. Ich habe von dir gelernt, wovor ich mich zu hüten habe. Dafür ist ein Vater da, nicht war? Ich danke dir.1140 1135 Ebd., S. 262. 1136 Siehe dazu: Schlink, Bernhard: Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht. Frankfurt am Main 2003, S. 101. 1137 Scheub, S. 262. 1138 Siehe dazu: Alt, Jürgen August: Karl R. Popper. Frankfurt am Main 2001. 1139 Die »Idee einer geistigen Selbstbefreiung« richtete sich mit aufklärerischem, d. h. pluralistischem Denken, vor allem gegen jeglichen Fanatismus und mangelnder Distanzierung zu eigenen Ideen. Vgl. Popper, Karl Raimund: Selbstbefreiung durch das Wissen. In: Reinisch, Leonhard (Hrsg.): Der Sinn der Geschichte. München 1961, S. 115 f. 1140 Bruhns, S. 380 f.

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Die Lösung von den Schatten der Vergangenheit bildet die Voraussetzung für deren »Überwindung«, die mehrere Erzählfiguren, beispielsweise die Monika Jetter im Zuge des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens zu erreichen suchen: Dieser Schatten warst Du, Vater. Aber nachdem ich Dir auf der Spur war, drei Jahre lang auf der Suche nach Dir und diesem Dunkel, diesem Schweigen, nachdem ich die Erklärung dafür gefunden habe, kann ich Dich aus mir entlassen. Dich und die Sache, die unsere Sache nie sein konnte. Ich kann mich jetzt endgültig von Dir verabschieden. Die Suche hat sich gelohnt, denn die Albträume und Ängste sind verflogen.1141

Der Abschied von der Vergangenheit, der durch die Vater-Spuren-Suche erzielt werden soll, ist besonders schwierig bei Kindern von Vätern, die es trotz ihrer verbrecherischen Vergangenheit immer gut mit ihnen gemeint1142 haben. Das emotionale Zerwürfnis zwischen dem privaten Vaterbild und der öffentlichen Vaterfigur führt zu Rechtfertigungsversuchen und einem Loyalitätskonflikt, der »das Ich-Ideal der Kinder und die Integrität und Kohärenz ihrer Wertsetzungen [beschädigte].«1143 Die Sehnsucht nach der Befreiung von der Vätergeneration bedeutet nämlich »nicht, daß man die, von denen man sich lossagen muß, nicht eigentlich verstehen kann« oder »daß man sie nicht eigentlich lieben kann.«1144 Vielmehr haben die Kinder die Loslösung von der Lebensgeschichte ihrer Eltern angestrebt, da sie weder deren Schicksal noch deren Botschaften, nachleben noch übernehmen wollen.1145 Im Zuge der Vater-Spuren-Suche kann bei der Erzählfigur Scheub die freudianische Melancholie über die allmähliche Annährung mit anschließender Versöhnung in Trauer verwandelt werden. Damit vollzieht sich der Akt des Verzeihens: Ja, ich habe mich mit meinem Vater versöhnt, ich habe ihm verziehen, was er mir angetan hat. Das war leichter und schwerer, als es klingt. Es war leicht, weil es nur mich betraf. […] Aber das Verzeihen war auch schwer, denn dazu war es nötig, mich den Aggressionen meines Vaters zu stellen und aufzudecken, dass er zeitweise seine eigene Familie mit in den Tod reißen wollte. Erst als mir das klar wurde, verschwand meine Angst vor ihm und damit auch mein Hass.1146

Infolge der Vater-Spuren-Suche können sich mehrere Erzählfiguren einerseits von dem unbekannten oder irreführendem »Bild des unschuldigen Vaters,«1147 und dem »Opfer deutsch-deutscher Verstrickung«1148 (wie es in mehreren Familiener1141 Jetter, S. 221. [Hervorhebung: M.J.] 1142 Vgl. Gauch (1979), S. 28. 1143 Bohleber, Werner : Schweigen der Generationen. Autorität und Freiheit heute: Sind die 68er schuld am Rechtsextremismus? Wiesbaden 1994, S. 12. 1144 Schlink, S. 35. 1145 Vgl. Pilgrim, Volker Elis: Die Elternaustreibung. Reinbek 1986. 1146 Scheub, S. 262. 1147 Niemann, S. 193. 1148 Ebd.

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zählungen heißt) verabschieden. Andererseits können sie sich von einem »tragischen« und »zutiefst unglücklichen Menschen«1149 lossagen und sich sowohl von persönlicher Scham als auch von einem Vater, der kein Vater sein konnte, befreien. Der Mythos der Vaterfigur wird letztlich durch den tatsächlichen Vater ersetzt: Ich sehe es heute so, dass Du eine Chance für Dein Leben gesucht und Dich dabei verloren hast. Ich hätte Dir eine bessere Chance, eine echte Chance für Dein Leben gewünscht. Eine, die wirklich den Menschen zum Menschen führt. Dann hätten auch wir eine gehabt. Du und ich, mein Vater.1150

1149 Scheub, S. 249 f. 1150 Jetter, S. 221 f. [Hervorhebung: M.J.]

9. Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche Naiv hatte ich geglaubt, sie auseinanderhalten zu können: Die Familiengeschichte und die deutsche Geschichte.1151

Die Väterliteratur ist aufgrund der engen Verbindung der Literatur mit der deutschen Zeitgeschichte ein spezifisches Buchmarkt-Phänomen der Nachkriegszeit. Als eine literarische Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus präsentiert sie – wie die vorangehenden Kapiteln gezeigt haben – ein stets aktuelles und Interesse weckendes Thema in der Öffentlichkeit. Das Interesse verdankt sich einerseits immer neuen Variationen der literarischen Darstellung,1152 andererseits aber auch, der wachsenden Bedeutung der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ auf politisch-gesellschaftlicher und persönlicher Ebene. Gerade die Verbindung von privater und öffentlicher Sichtweise bzw. Herangehensweise an diese Problematik sorgte für Dynamik in den öffentlichen Diskussionen und der literarischen Landschaft in den vergangenen Jahren. Während aber in der Vergangenheit die Unvereinbarkeit zwischen Privatem und dem Öffentlichem für die Explosivität der Veröffentlichungen sorgte, scheint die Stärke der Texte der zweiten Publikationswelle in der Angleichung an den öffentlichen und politisch-kulturellen Diskurs zu liegen. Im Kapitel »Väterbücher« sind die zwei Publikationswellen der Väterliteratur komparativ im Hinblick auf ihre kulturell-gesellschaftliche Prägungen und Akzentsetzungen hin untersucht worden, wohingegen das aktuelle Kapitel den Einfluss des politischen Zeitgeschehens sowie des aktuellen politisch-öffentlichen Diskurses auf die Publikationen analysiert. Dabei rücken vor allem die nach der Wiedervereinigung erschienen Texte ins Zentrum der Studie, die Spuren der sich seit dem Ende der 1980er Jahre etablierenden Gedächtnispolitik Deutschlands tragen und im Rahmen der sogenannten Erinnerungsindustrie den Übergang des kommunikativen Gedächtnisses ins kulturelle veranschaulichen. Die Väterbücher, die nach der Jahrtausendwende erschienen sind, bieten einen Überblick über den Prozess der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ nach 1945 bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie stehen daher in einem Kontinuum mit 1151 Braun, S. 14. 1152 Siehe dazu: Kapitel »Zur Gattung und Komposition.«

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

der Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre, die weitgehend als Sprachrohr der 68er-Bewegung charakterisiert werden kann. Im Gegensatz zu den früheren Publikationen präsentieren die neusten Texte aber eine Sichtweise, die als Post68er-Perspektive bzw. Perspektive der Nachwendezeit bezeichnet werden kann. Es werden sowohl die persönliche Beziehung zum Vater als auch die deutsche Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus einer zeitlichen Distanz im politisch-historischen Kontinuum dargestellt. Damit lässt sich feststellen, dass der Blickwinkel der Texte von mehreren gesellschafts-politischen Ereignissen sowie sie begleitenden öffentlichen Debatten beeinflusst wurde. Die Wahrnehmung sowie Bewertung des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen (Flucht und Vertreibung, Bombardierung, Völkermord) erfolgt aus der Sicht von Angehörigen der 68er Generation, die sich laut den Vätertexten von Kurt Meyer1153 und Sigfrid Gauch mittlerweile zu ihrer eigenen Vergangenheit befragen lassen müssen. So Sigfrid Gauch: Meine Generation ist jetzt in dem Alter, in dem sie ihre eigenen Fehler und Irrtümer bereits begangen hat, in dem sie zurückblicken kann auf ihre eigenen gelebten, ungelebten und untergegangenen Utopien, auf ihren Traum von der Verwirklichung einer besseren Welt durch z. B. den Sozialismus, die gut gemeinte Absicht, das Gegenteil von dem zu machen, was unsere Väter gemacht haben – und hat damit jetzt nach der Jahrhundertwende die Gelegenheit, zurückzuschauen und zu sehen, ob sie es besser gemacht hat.1154

Die Analyse der Väterbücher erlaubt es, eine Perspektive zu erkennen, die durch einen größeren Zeitraum d. h. auch mehrere wichtige gesellschafts-politische Ereignisse und Prozesse (z. B. die Herausbildung der neuen Gedächtniskultur) beeinflusst wurde, die die Autoren politisch bewusst, manchmal sogar aktiv miterlebt haben. Dazu können vor allem innerdeutsche Ereignisse, wie die RAFBewegung, die Friedliche Revolution, die deutsche Wiedervereinigung und die ›Aufarbeitung‹ der DDR-Zeit sowie die sie begleitenden öffentlichen Debatten gehören. Sie scheint zusätzlich durch internationale (militärisch ausgetragene) Konflikte (u. a. in Ruanda, in Tschetschenien, im Kosovo bzw. auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak, im Nahen Osten etc.) mitgeprägt zu sein, da auf diese Ereignisse u. a. in den Texten von Bruhns, Scheub und Weiss Bezug genommen wird. Damit stellen die neuen Veröffentlichungen durch den Zeit- und Erfahrungsabstand sowie neue Forschungsergebnisse eine umfassendere und vielschichtigere Auseinandersetzung sowohl mit dem Nationalsozialismus als auch mit dessen Erinnern dar. Dies erlaubt, hier von einer ›sekundären Vergangenheitsaufarbeitung‹1155 zu sprechen. Die früheren Werke konnten sich nur auf die 1153 Vgl. Meyer, Kurt, S. 233. 1154 Interview mit Sigfrid Gauch, S. 315. 1155 Der von mir eingeführte Begriff der ›sekundären Vergangenheitsaufarbeitung‹ bezieht

Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

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direkten Ereignisse der 1950er und 1960er Jahre, d. h. grundsätzlich auf das Entnazifizierungsverfahren beziehen. Die inhaltliche Zusammenstellung der untersuchten Väterbücher ermöglicht es in der folgenden Studie, einen Überblick über diverse Arten der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sowie über die einzelnen Stationen der deutschen ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus nach 1945 bis zur Gegenwart zu skizzieren. Besonders in den Texten der zweiten Publikationswelle werden die Vorgeschichte, der Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus am Beispiel persönlicher (Familien-)Geschichte analysiert und Kontinuitätslinien des Denkens der deutschen Bevölkerung, die seit dem Kaiserreich bestanden haben, gezogen. Im Text von Scheub, wird weiterhin mit der direkten Nachkriegszeit und der Entnazifizierung aus heutiger Sicht abgerechnet. Darin wird vor allem im Hinblick auf die Strafverfolgung der nationalsozialistischen Verbrecher und der damit beauftragten Justiz als ein gescheitertes Unternehmen der 1950er und 1960er Jahre bewertet. Die Erzählerin von Scheub weist hauptsächlich auf die fortbestehende Solidarität unter den Entnazifizierten hin, die sich in Opposition zum gemeinsamen Feind – den siegreichen Alliierten – gegenseitig unterstützten, indem sie sich beispielsweise entlastenden Bescheinigungen, die so genannten »Persilscheine«1156 ausstellten und sich somit rehabilitierten sowie von Schuld an den Taten der Nationalsozialisten freisprachen. Dadurch konnten die alten Eliten auch nach dem Krieg wieder in Leitungspositionen aufsteigen. Damit unterstreicht sie den ausgebliebenen mentalitäts- und sozialhistorischen Generationen- und Elitenwechsel in der jungen Bundesrepublik Deutschland, in der nun noch immer die »ehemals nationalsozialistische Beamtenschaft«1157 gefragt ist: Nun machten sich die Nazis wieder breit, in Politik, Verwaltung und Justiz, in Wirtschaft und Militär, in allen Berufen, auf allen Ebenen, bis hinein in die höchsten. Im Auswärtigen Amt betrug der Anteil ehemaliger Nationalsozialisten mehr als die Hälfte. Auch die bundesdeutsche Justiz wurde zu einer Waschanlage für Mörder und Todesurteilfäller, mancherorts bestand sie bis zu 90 Prozent aus ehemaligen »Parteigenossen«, die bereitwillig anderen wegen NS-Verbrechen angeklagten »Parteigenossen« aus der Patsche halfen.1158 sich auf jene, die nach der Wiedervereinigung Deutschlands mit der »Ära Kohl« ihren Anfang nimmt. Ihr liegt eine bewußt betriebene Gedächtnispolitik und das Phänomen der Gedenk- bzw. der Erinnerungskultur zugrunde. Im Rahmen der ›sekundären Vergangenheitsaufarbeitung‹ erfolgt sowohl die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit dem nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Erinnern an die deutsche Kriegsvergangenheit als auch die Auseinandersetzung mit der deutschen Aufarbeitung, die vor der deutschen Wiedervereinigung stattfand. 1156 Vgl. Scheub, S. 167. 1157 Ebd. 1158 Ebd.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

Dieser Sachverhalt lässt sich auf die These von Aleida Assmann und Ute Frevert zur damaligen Vergangenheitspolitik zurückführen, welche nach Amnestie und Integration der ehemaligen nationalsozialistischen Verbrecher in die berufstätige Gesellschaft als Präventionsmaßnahme gegen eine Renazifizierung der deutschen Gesellschaft verstanden wird.1159 Sie sollten die Voraussetzung für die Entstehung der demokratischen Bundesrepublik Deutschland und die Sicherung ihrer Strukturen bilden. Die Kontinuität der ethischen bzw. geistig-moralischen nationalsozialistischen Mentalität macht sich vor allem in den einflussreichen Gesellschaftsschichten bemerkbar. Dies wird im Text von Ute Scheub am Beispiel der Kirche in den 1950er Jahren und der Thematisierung ihrer Schuldfrage veranschaulicht. Mit der Unterstützung der Institution Kirche hätte eine moralische ›Aufarbeitung‹ stattfinden können, welche die persönliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sowie die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld beschleunigt hätte: Vielleicht in Form von öffentlichen und nichtöffentlichen Gesprächsforen, in denen sich viele tausend Einzelne zu ihren Taten und ihrer Verantwortung hätten bekennen können, ohne dafür diskriminiert zu werden. Vielleicht hätte es auch, ähnlich wie das Bekenntnis von hunderten Frauen in der Stern-Titelgeschichte »Ich habe abgetrieben,« eine Bekenntnisbewegung zum Thema »Ich habe weggesehen« gegeben. Vielleicht hätte die Mitläufer-Generation bereits früher begonnen, ihre Lebensgeschichten und Romane zu schreiben. Vielleicht hätten schon vor Willy Brandts Kniefall in Warschau andere Politiker ähnliche Gesten gewagt. Vielleicht hätte bereits viel früher eine Entspannungspolitik gegenüber dem Ostblock beginnen können, denn die Nichtanerkennung der deutschen Grenze im Osten in den fünfziger und sechziger Jahren stand in innerem Zusammenhang mit der Nichtanerkennung der deutschen Kriegsschuld.1160

Im Hinblick darauf macht der Text von Uwe Timm auf die im Nachkriegsdeutschland immer noch ernsthaft geführte Diskussion, wie man den Krieg doch noch hätte gewinnen können, aufmerksam, die angesichts des Wissens um die Judenvernichtung – allein durch die Prozesse und zahlreiche Strafverfahren gegen die nationalsozialistischen Eliten – unpassend erscheint.1161 Die Bindung an die alte Denkstrukturen sowie eine NS-Nostalgie zeigt sich literarisch im Text von Scheub, der dazu Umfragen aus den 1950er Jahren heranzieht: Alle diese Leute glaubten sich von einer großen Mehrheit getragen. Zu Recht. In Umfragen lehnten 1950 fast drei Viertel aller Deutschen Prozesse gegen NS-Verbrecher ab, etwa die Hälfte war der Meinung, der Nationalsozialismus habe »mehr Gutes« als Schlechtes mit sich gebracht. Dieser Anteil stieg im Laufe der fünfziger Jahre sogar noch an.1162 1159 1160 1161 1162

Vgl. Assmann, Aleida/Frevert, Ute, S. 166. Scheub, S. 266. Vgl. Timm, S. 99. Scheub, S. 169.

Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

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Ein erstes öffentliches Schuldbekenntnis gab es seitens des Rats der Evangelischen Kirche Deutschland schon im Jahr 1945, welches sich jedoch laut HansUlrich Wehler,1163 nicht unmittelbar auf den Judenmord bezog. Das »Stuttgarter Schuldbekenntnis«1164 stieß auf keine positive Resonanz in der deutschen Bevölkerung: »Große Teile der inner- und außerkirchlichen Öffentlichkeit lehnten eine solche Schuld- und Verantwortungsgemeinschaft ab, verwiesen relativierend auf die ›Schuld der anderen‹ oder hielten die Kirche nicht für befugt, sich zu allgemeinpolitischen Fragen zu äußern.«1165 Im Gegensatz zur evangelischen Kirche begann die katholische Kirche das Thema erst seit den 1960er Jahren zu diskutieren. Die Entnazifizierungsprozesse hatten die Mehrheit der Deutschen von den Verbrechen des Nationalsozialismus entlastet. Die Bevölkerung unterteilte man bei der Entnazifizierung in »normale Deutsche« und »Nazis.« Der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung wurde als sogenannte »Mitläufer« deklariert, die sich nicht aktiv an den Verbrechen beteiligt hatten und die deshalb auch keine besondere Schuld an den Verbrechen traf. Dies hatte allerdings zur Folge, dass eine aktive ›Aufarbeitung‹ der Zeit des Nationalsozialismus durch die Mehrheit der Bevölkerung nicht stattfand. Ähnliche Mängel und Missstände der ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus stellt der Text von Hans Weiss am Beispiel der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Österreich in den 1970er und 1980er Jahren dar. Er deutet vor allem auf die Präsenz und Aktivität der ehemaligen militärischen Vorgesetzten in den gleichen militärischen Positionen,1166 der SS-Angehörigen im Parlament und auf ihre Mitgliedschaft in den Parteien FPÖ [Freiheitliche Partei Österreichs] und SPÖ1167 [Sozialdemokratische Partei Österreichs] hin. Er spricht aus eigener Erfahrung und weist zusätzlich auf Schwierigkeiten beim Zugang zum Aktenmaterial hin: Ich beschreibe in einigen Passagen im Buch, dass es für Österreicher unmöglich war, an bestimmte Akten – zum Beispiel aus dem Bestand des Berlin Document Center – heranzukommen, weil die Politik die ehemaligen Nazis und SS-Leute schützen wollte. Dafür verantwortlich war vor allem der SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky. Diese Politik ist seither aber von allen weiteren Regierungen fortgeführt worden und das gilt immer noch: Als Österreicher hat man keinen Zugang zu diesen Naziakten in Deutschland. Es gibt natürlich gewisse Hintertürchen, aber offiziell geht gar nichts.1168 1163 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bundesrepublik und DDR 1949 – 1990. Bd. V. München 2008, S. 296. 1164 Die Schulderklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland auf der Ratstagung in Stuttgart am 19. 10. 1945. Siehe dazu: Hauschild, Wolf Dieter : Konfliktgemeinschaft Kirche. Göttingen 2004, S. 130 – 138. 1165 Assmann Aleida, Frevert Ute, S. 160. 1166 Siehe dazu: Weiss, S. 164 f. 1167 Ebd., S. 184 u. 187. 1168 Interview mit Hans Weiss, S. 322.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

Sein Text macht unter anderem die immer noch bestehende Tabuisierung der Wehrmachtserfahrung und der Beteiligung der österreichischen Soldaten an den Verbrechen der Wehrmacht deutlich, die sich mit Walter Manoscheks Feststellung erklären lässt: Die Wehrmachtserfahrung von weit mehr als einer Million Österreichern bleibt auch nahezu fünfzig Jahre nach Kriegsende ein extrem widersprüchliches Kapitel österreichischer Erinnerungsarbeit. Am Umgang mit dem Erinnerungsfeld »österreichische Wehrmachtsangehörige« in der österreichischen Denkmalkultur wird das gespaltene Geschichtsbewußtsein Österreichs gegenüber der NS-Vergangenheit besonders deutlich. Entsprechend dem schizophrenen Geschichtsbild reicht die Skala der österreichischen Nachkriegs-Stereotypen über die österreichischen Soldaten in Hitlers Armee von der staatspolitischen Ohnmachts-, Opfer- und sogar Widerstandsperspektive, bis hin zum Gegenpol in Form lokaler Heldenverehrung und der Sinngebung des »Abwehrkampfes im Osten« zum Schutze der österreichischen Heimat.1169

Das politisch-gesellschaftliche Geschehen in Westdeutschland der späten 1960er und 1970er Jahre, d. h. die studentische Aufbruchsbewegung, die Anfänge der APO [Außerparlamentarischen Opposition], die Wirtschaftskrise, Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und den Bildungsnotstand, werden in den neuen Publikationen generell nicht näher besprochen. Es wird zwar, beispielsweise von Scheub, eine flüchtige Bilanz dieser stürmischen Jahre aufgestellt: – »Was für naive Hoffnung hatte ich damals. Woodstock blieb ein einmaliges Schauspiel der 1968er. Die einen versumpften später in Drogenabhängigkeit, die anderen bewaffneten sich in terroristischen Gruppen, und die große Mehrheit wechselte kalt lächelnd ins Establishment. Und dennoch bleibt Woodstock ein Symbol für konkrete Utopie«1170 – doch generell wird in den neuen Väterbüchern der Kampf gegen den Kapitalismus und die »politökonomischen Drahtzieher« sowie den RAF-Terrorismus [der Roten Armee Fraktion] nicht kritisch bewertet sowie keine Stellung dazu genommen. Dabei gehört die Auseinandersetzung mit der Mythisierung bzw. Glorifizierung der 68er-Bewegung (im Sinne eines Demokratisierungsfaktors u. a. als Kontrapunkt zur DDR) genauso wie mit dem Erbe des Nationalsozialismus und der Stasi zur deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹. Zwar gibt es Autoren,1171 die sich mittlerweile im Rahmen des Erinnerungsdiskurses mit dem Erbe der 68er, ihren persönlichen Erfahrungen und der Bewegung selbst literarisch auseinandergesetzt haben, doch in den neuen Vä1169 Manoschek, Walter : Österreicher in der Wehrmacht. Zur Selektivität österreichischer Erinnerungsarbeit. In: Diner, Dan/Stern, Frank (Hrsg.): Nationalsozialismus aus heutiger Perspektive. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte. Bd. XXIII. Gerlingen 1994, S. 175. 1170 Scheub, S. 268. 1171 Beispielsweise Texte von: Timm, Uwe: Rot. Roman. Köln 2001; Schneider, Peter : Rebellion und Wahn. Köln 2008.

Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

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terbüchern werden diese Themenbereiche trotz des breiten darin abgedeckten zeitgeschichtlichen Spektrums und Kontinuitätsziehung nicht berücksichtigt. Die APO-Bewegung als Sprungbrett vieler Aktivisten in Regierungskreise oder in die Linksradikale Bewegung wird mit ihrer gesellschaftspolitischen Auswirkung im Rahmen der Geschichte der alten Bundesrepublik weder kommentiert noch bewertet. Der direkte Bezug zu den 1980er und 1990er Jahren ist nur gering. Weder der Mauerfall bzw. die sogenannte Friedliche Revolution, noch die Wiedervereinigung Deutschlands werden unmittelbar thematisiert. Zwar werden in wenigen Texten stellenweise diese Ereignisse erwähnt, dies erfolgt aber ohne wesentliche Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Nur wenige Texte weisen auf die unzureichende ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus in der DDR hin, wie beispielsweise der Text von Scheub: »In der DDR wurden übrigens doppelt so viele NS-Täter abgeurteilt, aber auch dort durften Ex-Wehrmachtsgeneräle in höchste Ränge der Volksarmee aufsteigen.«1172 Sonst findet die DDRZeit (eine Ausnahme bildet hier der Text von Beate Niemann) oder die Wiedervereinigung keine Erwähnung in den Väterbüchern. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass es nur westdeutsche und österreichische Autoren sind, die die analysierten Vätertexte publizieren und dass man vermutlich die ›Aufarbeitung‹ der Zeit des Nationalsozialismus von der ›Aufarbeitung‹ der DDRZeit trennen möchte. Nichtsdestotrotz hat die Wiedervereinigung Deutschlands die neuen Publikationen grundlegend geprägt. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs1173 und die Intensivierung der politischen Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Ostblock unterstützte – wie es auch bei vielen Vater-Spuren-Suchenden der Fall war – das Interesse an den nun zugänglich gewordenen Archivbeständen sowie an den Reisen an die Kindheits- bzw. Erinnerungsorte1174 »des ehemaligen deutschen Ostens,«1175 die ihre literarische Verarbeitung in zahlreichen biographischen Reiseberichten nach Osten1176 fand. 1172 Scheub, S. 164. 1173 Mehr dazu, siehe: Hirsch, S. 14. [Stand: 10. 10. 2009]. 1174 »Verena Dohrn und Martin Pollack etwa schilderten das untergegangene Habsburgerreich in Galizien, Ralph Giordano reiste nach Ostpreußen und beschrieb mit großer Empathie die Trauer der einstigen Bewohner, Christian von Krockow schilderte die Strapazen der Flucht, Freya Klier griff das bis dahin tabuisierte Thema der Verschleppung von Frauen in die Sowjetunion auf, Ulla Lachauer notierte ostpreußische Lebensläufe, Roswitha Schieb machte sich auf die Reise in die Heimat ihrer Eltern nach Schlesien, Andreas Kossert entfaltete das Beziehungsgeflecht von Deutschen und Polen in Masuren, Matthias Kneip fuhr mit Großmutter, Vater und Tante in deren oberschlesische Heimat, und Helga Hirsch recherchierte über die Lager für deutsche Zivilisten in Polen.« Siehe mehr dazu: Hirsch, S. 14. [Stand: 10. 10. 2009]. 1175 Ebd. 1176 Unter anderem: Zeller, Michael: Die Reise nach Samosch. Roman. Cadolzburg 2003;

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

›Sekundäre Vergangenheitsaufarbeitung‹ Mit der zweiten Publikationswelle lassen sich in den neuen Texten zusätzlich Spuren von öffentlich-gesellschaftlichen Debatten und zeitgeschichtlichen Ereignissen beobachten, die vor der Jahrtausendwende stattgefunden haben. Dazu zählen vor allem politische Ereignisse sowie Diskussionen, die das Thema des gesellschaftlich-politisch akzeptablen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aufgegriffen und ihre verschiedenen Positionen in den Medien ausgetragen haben. In der deutschen Debatte um die ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus sind zum Beispiel die Folgenden zu nennen: der Historikerstreit, die Diskussionen um die Gründung des DHM [Deutschen Historischen Museums] mit dem Schwerpunkt: »Deutsche Geschichte,« die Antisemitismusdebatte, die Walser-Bubis-Debatte, die Kontroversen um Daniel Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker« sowie um Bundeskanzler Helmut Kohls neue politische »Unbefangenheit«. Diese Debatten werden von Wendepunkten sowie öffentlich diskutierten Problemstellungen im Herausbildungsprozess der (politisch) korrekten Gedächtnispolitik der Bundesrepublik Deutschlands zum Thema Nationalsozialismus mitgeprägt: die Frage der deutschen Identität und des Nationalstaates, die Einleitung der Versöhnungspolitik, die umstrittene »Politik des Schlussstrichs« in Bezug auf die Aufbereitung des Nationalsozialismus, die Etablierung einer transgenerationalen Erinnerungspolitik sowie die »Normalisierung« des Umgangs mit der deutschen Geschichte. Die Werke der zweiten Publikationswelle lassen sich als ein Produkt der deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ der 1980er und 1990er Jahre bezeichnen, da wie die folgenden Abschnitte darstellen werden, die Profilierung, der Diskurs, die Rhetorik sowie die thematische Schwerpunktsetzung ihrer literarischen Auseinandersetzung mit dem Vater weitgehend von den erwähnten zeitgeschichtlichen Debatten beeinflusst wurde. Zwar gehen sie wie die Texte der ersten Welle auf frühere Ereignisse, besonders die Entnazifizierung in den 1950er Jahren ein, jedoch tun sie dies stärker aus der Perspektive der ›sekundären Aufarbeitung‹ dieser Zeit, indem sie die bisherige ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ bewerten. Die Aspekte, die sie von den früheren Texten inhaltlich unterscheiden, sind auf die politisch-gesellschaftlichen Ereignisse der 1980er und 1990er Jahre zurückzuführen, deren indirekte Wirkung auf die Text- und Inhaltsgestaltung der Väterliteratur diese Studie feststellt. Dazu zählen sowohl die Rede Richard von Weizsäckers im Jahr 1985,1177 die aus der »Teilnehmerperspektive eines historischen Akteurs«1178 für eine aktive transgenerationelle ErDückers, Tanja: Himmelskörper. Roman. Berlin 2003; Büscher, Wolfgang: Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß. Berlin 2005. 1177 Siehe dazu: Dubiel, S. 206 – 210. 1178 Ebd., S. 209.

Das Opferdiskurs

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innerungspolitik und Anerkennung aller Opfer der nationalsozialistischen Politik plädierte, die Wehrmachtsdebatte der 1990er Jahre als auch die Wiedervereinigung Deutschlands sowie die Eröffnung der Neuen Wache, die symbolisch auch der deutschen Bevölkerung und den Soldaten den Opferstatus zusprach.1179 Der Paradigmenwechsel im öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus bewirkte, dass an die Stelle der Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit eine öffentliche ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ tritt, für welche die Gedächtnispolitik einen bestimmten Rahmen schafft sowie Vergangenheitsund Identitätskonstrukte stützt. Diese Wandlung spiegelt sich mittelbar in den Väterbüchern wieder.

Das Opferdiskurs In den neuen Texten lässt sich weitgehend eine Prägung durch den öffentlichen Diskurs der 1990er Jahre bemerken, indem nicht der Bruch, sondern historische Kontinuitäten in komplexen Kausalketten mit der nationalsozialistischen Vergangenheit betont werden. Die meisten Publikationen der Nachwendezeit schildern das Kriegsgeschehen und die nationalsozialistischen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges an diversen Fronten. Diese Darstellungsweise kann sowohl auf die Wiedervereinigung Deutschlands, welche die Herausbildung einer gemeinsamen Gedächtnispolitik1180 mit einem einheitlichen Opferdiskurs gefördert hatte, als auch auf die Wehrmachtausstellung in den 1990er Jahren zurückgeführt werden. Während in den Texten der 1970er und 1980er Jahre vor allem die Verbrechen an den Juden im Zentrum der Auseinandersetzung standen, wird seit der Veröffentlichung von Kurt Meyers »Geweint wird, wenn der Kopf ab ist. Annäherungen an meinen Vater – ›Panzermeyer‹, Generalmajor der Waffen-SS«1181 (1998) die Perspektive weitgehend erweitert. Nun werden Verbrechen im Kontext des Massenvernichtungskrieges gegen andere Völker betont sowie detaillierter beschrieben. Dies schreibt sich in die »Versöhnungspolitik« der 1980er und 1990er Jahre ein.1182 Die deutschen Opfer werden, u. a. in Texten von Bruhns oder Jetter mitberücksichtigt, ohne die deutsche Täterschaft zu relativieren: 1179 Im Innenraum des Gebäudes befindet sich die Widmung aus der Initiative des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohls (1993): »Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft«. 1180 »Gedächtnispolitik« wurde schon in den 1980er Jahren in beiden deutschen Staaten unter den Geschichtswissenschaftlern betrieben. Siehe dazu: Assmann Aleida, Frevert Ute, S. 241. 1181 Meyer, Kurt: Geweint wird, wenn der Kopf ab ist. Annährungen an meinen Vater – »Panzermeyer«, Generalmajor der Waffen-SS. Freiburg 1998. 1182 Siehe dazu: Assmann Aleida, Frevert Ute, S. 145.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

Auch [die »arischen« Deutschen] und ihre Nachkommen haben ein Recht auf Erinnerung und Trauer, auf Anerkennung als Opfer. Aber sie haben kein Recht, ihr Leiden als absolutes zu setzten und das der anderen herabzusetzten oder gar zu verleugnen. Die Nazis haben den Krieg begonnen. Ohne die deutsche Zerstörung von Coventry und Rotterdam hätte es die von Hamburg oder Dresden nicht gegeben, ohne die Vertreibung der Polen durch die Deutschen nicht die Vertreibung der Deutschen durch die Polen.1183

Der Begriff »Opfer« wird in den neusten Werken auf mehrere Nationen und Menschengruppen ausgeweitet. Dies geschieht ganz im Sinne der Idee der 1993 wiedereröffneten Neuen Wache, die den »Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft« gewidmet wurde. Neben den Juden, die in den Publikationen der ersten Welle fast als die einzigen Opfer fungierten, treten in der zweiten Publikationswelle weitere Gruppen auf, die unter der deutschen Besatzung, den Verbrechen der Wehrmacht sowie der deutschen Bevölkerung Unrecht erlitten hatten. Außerdem wird das Schicksal weiterer deutscher Opfergruppen1184 wie der deutschen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter,1185 der deutschen Vertriebenen und der Opfer der Luftangriffe (z. B. in den Texten von Jetter, Bruhns und Timm) auf die deutschen Städte hervorgehoben und die Aufmerksamkeit auf deren vor allem im Erinnerungsdiskurs bisher unbeachtet gebliebene Leidensgeschichte, gelenkt. Der Text von Scheub macht auf das Leiden der Vätergeneration in der Nachkriegszeit aufmerksam: Man wollte die furchtbaren Leiden der überlebenden Opfer nicht sehen, ihre Angst, ihre Panikattacken, ihre Albträume, ihre Schwierigkeiten, ein normales Leben zu führen. Was dazu führte, dass man auch die Leiden der Täter übersah. Es waren nicht die gleichen Leiden, weder quantitativ noch qualitativ. Aber es gab sie.1186

Bei der Erwähnung des Elends der Deutschen werden, u. a. bei Bruhns und Scheub häufig Parallelen zur Leidens-Situation der Völker, die zum selben Zeitpunkt Opfer wurden, gezogen. Es wird der deutschen Zivilbevölkerung zwar der Opferstatus zugesprochen, dies geschieht jedoch ohne die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen sowie den Ursprung und die Kausalität dieses Grauens aus dem Blick zu verlieren. Der Paradigmenwechsel im neuen Umgang mit der Opferfrage bzw. -anerkennung korrespondiert mit der Rede von Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes. Davor war dieser Opferdiskurs in der Öffentlichkeit nur für die jüdischen Opfer des nationalsozialis1183 Scheub, S. 259. 1184 Andere Opfergruppen, wie Sinti und Roma, Homosexuelle sowie sogenannte »Asoziale« werden in den Texten nicht näher berücksichtigt. 1185 Siehe dazu: Frevert, S. 9. [Stand: 10. 10. 2009]. Siehe dazu die »Entschädigungsdebatte« im Jahr 1999. 1186 Scheub, S. 44.

Das Opferdiskurs

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tischen Regimes reserviert. Helga Hirsch sieht die Tabuisierung der deutschen Opfer als Teil der Aussöhnungspolitik mit den Nachbarn.1187 Man beschäftigte sich im Rahmen der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ fast ausschließlich mit den Opfern des Holocaust und des nationalsozialistischen Regimes, um nicht den Eindruck zu erwecken, man wolle die deutsche Schuldfrage relativieren oder sogar im Zuge eines Opfer-Konkurrenz-Kampfes ausblenden. Aleida Assmann betrachtet das Opfernarrativ im Kontext der nationalen Identitäts- bzw. Mythosbildung, die durch eine gemeinsame Leidensgeschichte alle Deutschen jenseits der Trennung durch politische Grenzen und Differenzen verbinden sollte: Die Frage ist heute, welche Rolle diese zurückgekehrte Erinnerung auf der Ebene der nationalen Identitätsbildung spielen wird. Man könnte sich z. B. vorstellen, dass sich die deutsche Leidensgeschichte als ein willkommenes Narrativ erweist, das die ost- und westdeutsche Erfahrung umspannt und sich damit als eine wichtige emotionale Klammer gegenüber den vielen und fortgesetzten Trennungsgeschichten anbietet. Indem man zu diesem gemeinsamen Fundus an Erfahrungen zurückkehrt, betont man eine untergründige Verbundenheit der beiden deutschen Teilstaaten jenseits aller politischen Grenzen und Differenzen. Die Opfergeschichte bietet sich an als neuer nationaler Mythos, der Ost und West verbindet.1188

In diesem Punkt gehen die Texte der 1970er und 1980er Jahre viel vorsichtiger mit Verständnis gegenüber der Vergangenheit des Vaters um. Sie schreiben sich nämlich viel eher in den Diskurs der 1960er (als in den der »schweigenden« 1950er) Jahre ein, in den nun, um mit Dubiel zu sprechen, die »externe Perspektive des sogenannten ›Auslands‹ ein[fließt]« und der für öffentliche Debatten über die deutsche Vergangenheit sorgt.1189 Dubiel sieht den Grund für die »gewandelte Diskussionsatmosphäre« im Nachkriegsdeutschland in den »spektakulären Prozessen« u. a. dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 sowie dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt 1963.1190 Die zahlreichen Strafverfahren gegen die Eliten des Nationalsozialismus sorgten für Aufmerksamkeit beim internationalen Publikum und haben anscheinend eine aufklärende Funktion bei der deutschen Bevölkerung erfüllt. Sie waren laut Aleida Assmann und Ute Frevert für die politische Kultur in diesen Jahren äußerst prägend, da die öffentlich zugänglichen Ermittlungsverfahren dem von Politikern, Kirchenmännern und Publizisten geforderten juristischen »Schlußstrich«1191 entgegen-

1187 1188 1189 1190 1191

Vgl. Hirsch, S. 14. [Stand: 10. 10. 2009]. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 193. Vgl. Dubiel, S. 105. Vgl., ebd. Aleida Assmann weist auf die Differenzierung zwischen einem juristischen und moralischen Schlussstrich hin: »Schlußstrich bedeutet im juristischen Kontext die Einstellung von Strafverfolgung der Täter und die Abwehr weitergehender Forderungen der Opfer. Im

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

wirkten.1192 Daher spiegelt sich die Verkoppelung der Geschichte des Nationalsozialismus mit der der Judenvernichtung in den früheren Väterbüchern besonders deutlich wider. Es werden sowohl Ursprünge als auch Konsequenzen der Verbrechen an den Juden, und zwar auf der politischen, (geschichts-)wissenschaftlichen sowie der persönlichen Ebene diskutiert. Durch die autobiographische Komponente wird gleichzeitig auch die Frage der Kontinuität behandelt. Sie veranschaulicht den Generationenwechsel im persönlichen Rahmen und ist laut Sigfrid Gauch auf den damaligen Zeitpunkt der Veröffentlichung zurückzuführen: Auf einmal ist man selber schon Vater, und reflektiert seinen eigenen Vater jetzt ganz anders als vorher ; vorher war man nur Sohn und konnte Opposition sein, und jetzt auf einmal war man Vater und hat selbst Opposition von seinen Kindern erfahren und vielleicht den Vater anders als vorher verstanden. Dann kam dazu, daß diese Väter um diese Zeit alle gestorben sind. Das sind all die Momente – denke ich, die dazu geführt haben, daß zur selben Zeit diese vielen Väterbücher auf den Markt kamen.1193

Die Texte unternehmen den Versuch, vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis hin in die Nachkriegszeit sowie zwischen dem von der 68er-Bewegung radikal zurückgewiesenen Faschismus der Vätergeneration1194 und seinen personellen, strukturellen sowie externen Folgen, historisch-politische Kontinuitäten nachzuzeichnen und sie kritisch zu untersuchen. Durch die öffentliche Thematisierung der Judenvernichtung sowie der Frage von Kollektivschuld wurde von der nachfolgenden Generation ein Bruch mit der Kontinuität angestrebt. Dazu könnte die zur damaligern Zeit allgemein herrschende radikale Ablehnung gegenüber der Vätergeneration und ihrem Erbe beigetragen haben. Wolfgang Türkis sieht in der Kriegs- und Nachkriegsgeneration eine »Erbengemeinschaft« sowohl im »materiellen« als auch im »geistig-psychischen Sinne,«1195 die sich genauso wie die Elterngeneration mit dem Erbe des deutschen, durch zwölf Jahre Nationalsozialismus und Krieg hervorgerufenen Traumas auseinanderzusetzen hatte. Das deutsche Trauma der Erbschaft wird in

1192 1193 1194

1195

Zusammenhang von Moral und Religion dagegen bedeutet Schlußstrich ein Ende von Schuld, Erlösung und Versöhnung.« Assmann, Aleida/Frevert Ute, S. 54. Vgl. Assmann, Aleida/Frevert, Ute, S. 220. Aus dem Gespräch mit Sigfrid Gauch von Tiziana Galliano. In: Galliano, Tiziana: Diss. Orme paterne – La Vaterliteratur sull’ esempio del racconto Vaterspuren di Sigfrid Gauch. Turin 1990. Die Generation der 68er nahm sich das Recht zu radikalem Urteilen über ihre Väter aus ihrer politisch »unbefleckten« Vergangenheit, die ihnen den Aufstand gegen die Vätergeneration und ihrem Produkt – dem »Faschismus« erlaubte. Deshalb war ihnen ihr Kampf gegen jede Art von Kontinuität wie dem personellen und strukturellen Faschismus sowie den externen Formen des Faschismus wie dem Vietnamkrieg, der Ausbeutung auf wirtschaftlicher Ebene, koloniale Machtansprüche, Atomrüstung, Kapitalismus, deutschen Geist des Bürgertums wichtig. Vgl. Türkis, S. 99.

Das Opferdiskurs

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den Texten (z. B. bei Gauch und Henisch) der ersten Publikationswelle viel stärker unterstrichen, wohingegen diese in den neuesten Texten (z. B. von Bruhns) aus größerem Abstand und mit einem gewissem Verständnis betrachtet wird. Dies geschieht überwiegend durch die Nachgeborenen, die ihre Väter nur kaum oder überhaupt nicht mehr erlebt hatten. Das neue Opfernarrativ korrespondiert in den neuen Publikationen zusätzlich mit der Inschrift der Gedenkstätte Yad Vashem: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«1196 Sie wird relativ häufig in den Texten zitiert. In Monika Jetters Text wird die Inschrift im Zusammenhang mit der (therapeutischen) Erinnerungsarbeit der Erzählfigur herangezogen: »Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung Woran konnte ich mich noch erinnern? Woran wollte ich mich nicht mehr erinnern? Und wenn nicht, warum nicht?«1197 Der Text von Ute Scheub präsentiert den Spruch auf die Person des Vaters bezogen, der seine eigene Geschichte zu vergessen sucht: »Vergessen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung.«1198 Der zweite Teil wird seit der berühmten Rede Richard von Weizsäckers sehr gerne, im Kontext der deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ mehrmals und variiert in populär- und wissenschaftlichen Texten angeführt. Er wird immer häufiger, wie in den erwähnten Väterbüchern, universell sowohl in Bezug auf die Opfer, die Beteiligten, die Mitläufer als auch die Täter verwendet, was laut Helmut Dubiel seine Bedeutung entstellt und sie missverständlich werden lässt. Die Inschrift ist nämlich stark im Kontext der jüdischen Theologie verankert und ist einzig und allein auf die Opfer eines geschichtlichen Unrechts zu beziehen: Damit geriet der Halbsatz zu einer trivialen psychologischen Binsenweisheit. Aber [die] eigentliche Bedeutung [der Sentenz] erschließt sich erst durch die Betrachtung ihres Kontextes in der jüdischen Theologie. Im Kontext des zitierten ersten Satzes hat der Begriff des »Exils« eine distinkte Bedeutung. In der jüdischen Theologie bezieht er sich auf die Funken Gottes, die in der Welt zerstreut und verbannt waren und allein durch moralisches Handeln und Eingedenken der Tradition aus ihrem Exil erlöst werden. Die spezifische Bedeutung dieses Spruchs aus der Kabbala ist einzig und allein auf die Opfer eines geschichtlichen Unrechts beziehbar. Daß Weizsäcker hier nicht klar genug differenziert hat, wurde deutlich an der an seine Rede anschließenden deutschen Rezeption des Spruchs. Hier wurde er seines jüdischen Ursprungs entkleidet und benennt die Möglichkeit einer durch Erinnerung von Schuld bewirkten moralischen Emanzipation des Täters. An der Fehlrezeption der kabbalistischen Weisheit ist deutlich, wie mächtig der Sog eines einebnenden Universalismus der Opfer ist. »Er1196 Text der Widmungsinschrift der 1953 gegründeten offiziellen »Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust« (Yad Vashem) in Jerusalem. 1197 Jetter, S. 148. 1198 Scheub, S. 265.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

innerung« hat für die Kinder des Volkes der Opfer eine gänzlich andere Bedeutung als für die der Täter.1199

So lässt sich in diesen Texten die von Aleida Assmann besprochene »ethische Wende von sakrifiziellen zu viktimologischen Formen des Erinnerns«1200 feststellen, indem das »traumatischen Opfergedächtnis« ebenfalls den Mitläufern, den Helfern und Mitwissern zugeschrieben und damit universalisiert wird. Diese Akzentverschiebung im öffentlichen Diskurs fand laut Assmann, u. a. mit der Einweihung der »Neuen Wache« im Jahr 1992 statt, da der Erinnerungsort den »deutsche[n] Soldaten, Widerstandskämpfer[n], Heimatvertriebene[n], Bombengeschädigte[n] und Vergewaltigte[n] mit den ermordeten Häftlingen der Konzentrationslager«1201 gewidmet wurde und zur Entstehung eines »grenzenlosen Gedenken[s] einer universalen Viktimisierung«1202 im Sinne eines »katastrophischen Schicksals«1203 beigetragen hat. Dabei sieht sie eine gewisse Gefahr in der »Universalisierung eines neuen Rechtsbewusstseins« und der »viktimologischen Identitätspolitik,«1204 die ansatzweise in manchen neuen Väterbüchern zu bemerken ist: Die negativen Begleiterscheinungen dieser ethischen Wende sind nicht unmittelbar seit 1945, sondern erst seit den neunziger Jahren zutage getreten. Passive Opfer, die ausgebeutet, gequält, verfolgt und vernichtet wurden, hat es in der Geschichte immer schon gegeben. Neu ist allein die Aufmerksamkeit, die diese Opfer heute auf sich ziehen bzw. auf sich ziehen wollen. Besteht die ethische Wende also in dem Projekt einer neuen Geschichtserzählung aus der Opferperspektive? Das Projekt, um das es geht, ist viel spezifischer : Es geht um den Nachweis einer Opfergeschichte von und für die eigene Gruppe. Mit anderen Worten: Es geht nicht um Geschichte im Allgemeinen, sondern um das Gedächtnis von Gruppen, die auf dieser Basis eine neue Identität aufbauen, wobei sie mediale Aufmerksamkeit und soziale Anerkennung ebenso einfordern wie materielle Restitution und symbolische Reputation.1205

Das »Opfertrauma« ist nach Assmann, mit dem »Tätertrauma«1206 nicht gleichzusetzen und zwar nicht nur aufgrund der Tatsache, dass man die Größe des Leidens der Opfer und Täter nicht vergleichen kann, obwohl manche Vätertexte so argumentieren, sondern vielmehr deswegen, weil sich die Täter der Konsequenzen ihrer Täterschaft bewusst gewesen sein mussten: »Täter sind im Gegensatz zu den Opfern nicht traumatisiert, weil sie das Ereignis, für das sie zur 1199 1200 1201 1202 1203 1204 1205 1206

Dubiel, S. 213. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 76. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. Ebd., S. 103.

Das Opferdiskurs

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Verantwortung gezogen werden, gewollt, geplant, bewusst durchgeführt und – im Falle der nationalsozialistischen Verbrechen – für sich obendrein ideologisch gerechtfertigt haben.«1207 Deshalb spricht sie in Bezug auf Täter zwar von Trauma, aber als Folge der Indoktrination,1208 das aus der »plötzlichen und schockartigen Konfrontation mit individueller Verantwortung und Gewissen«1209 resultiert. Damit wird im Kontext der besprochenen Vätertexte die Verortung der Traumata von Mitläufern zur Diskussion gestellt. Ein politisch-gesellschaftliches Ereignis der 1990er Jahre, das in den Väterbüchern Spuren hinterließ, stellt die Wehrmachtsdebatte dar. Sie war eine Reaktion auf die Wanderausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung: »Die Verbrechen der Wehrmacht – Vernichtungskrieg 1941 – 1944«, die an dem Mythos der »sauberen Wehrmacht« und ihrem Ostfront-Einsatz gerüttelt hatte. Die Wanderausstellung, in Form von Fotos und Dokumenten aus den osteuropäischen Archiven, rief eine heftige Debatte nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs und in der breiten Öffentlichkeit, sondern vor allem in privaten, familiären Kreisen hervor, in denen das Bild der »unbefleckten« Wehrmacht gepflegt und an die Nachkommen weiter vermittelt wurde. Die Diskussion verursachte einen Einschnitt in die bislang betriebene Erinnerungspolitik und wirkte gesellschaftlich stark polarisierend. So wird in den meisten Texten der Nachwendezeit die Diskussion zur Wehrmacht weiter hauptsächlich im Hinblick auf den Befehlsnotstand fortgesetzt. Dieser diente bis dato als Entlastungsargument, indem er die Kontinuität der Gehorsamsmentalität und Eid-Treue der Wehrmachtssoldaten unterstrich, die Gesine Schwan folgendermaßen beschreibt: Der Judenmord wurde zur präventiven Verteidigung umgedeutet; man behauptete, sein Gewissen dem Befehl zu unterstellen und strikt zwischen eigenem Gefühl und auferlegter Pflicht unterscheiden zu müssen; man schob die eigene Verantwortung auf Nachgeordnete – […] man verkleinerte sich zu einem Rädchen in der Maschine, das ohnehin ersetzbar sei? Gemeinsam sind diesen Rationalisierungen das Gespür dafür, daß das eigene Verhalten zum Verbrechen beitrug, aber auch der Versuch, entweder die gespürte Unmoral inhaltlich umzudeuten oder den eigenen Macht- oder Freiheitsraum vor sich selbst zu bestreiten.1210

1207 Ebd., S. 97. 1208 »Sie hatten ihr individuelles Ich abgegeben, als sie Mitglied eines Kollektivs wurden, dessen ideologische Mission sie übernahmen, das sie auf Gewalt einschwor und auf Unempfindlichkeit programmierte. Von Traumatisierung kann hier deshalb nicht die Rede sein, eher von Indoktrination. Das Ausbleiben von Traumatisierung, von Gefühlen der Schuld und Reue zeigt, wie tief die Programmierung, Konditionierung, Stählung zum Täter gehen kann […]« Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 96. 1209 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 96. 1210 Schwan, S. 107.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

Die öffentliche Diskussion um die Befehlsverweigerung übertrug sich auf die neue Väterliteratur. In den Texten von Beate Niemann und Uwe Timm wird die These von Christopher R. Browning1211 und Wolfgang Scheffler1212 vertreten, dass die deutschen Männer den Erschießungsbefehl hätten verweigern können, ohne um ihr eigenes Leben fürchten zu müssen. Sie führen belegte Situationen an, in denen die Verweigerung der Erschießung von Zivilisten weder mit Tod, Repressalien gegenüber der Familie noch mit dem Kriegsgericht bestraft wurde. Der Text von Beate Niemann unterstützt die These von Browning, indem er ebenfalls Fälle erwähnt, in denen Befehlsverweigerung höchstens zur Versetzung an die Westfront führte: An diesem Punkt geht es mir ähnlich wie den Historikern, die sich mit dem Thema beschäftigen. Ich habe in all den Jahren nicht ein einziges Mal gelesen, dass jemand, der sich verbrecherischer Befehle verweigert hat, zum Beispiel an einem Erschießungskommando teilzunehmen, persönliche Schwierigkeiten bekommen hätte oder seine Familie Repressalien ausgesetzt gewesen wäre. Soweit heute bekannt ist, wurden jene, die sich weigerten, nur versetzt – meist an die Westfront, wo das Morden noch nicht eingesetzt hatte.1213

Christian Meier beruft sich in seiner Studie1214 auf ein Urteil der Kommission der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages aus dem Jahr 19661215. In diesem wird ausdrücklich gesagt, dass der Befehlsnotstand meistens keinen Schuldausschließungsgrund bedeutete.1216 Dem Urteil nach bestand also keine (Lebens-)Gefahr für SS-Angehörige, wenn sie sich geweigert hätten »widerrechtlich Menschen zu töten.«1217 Der Text von Ute Scheub hingegen zeigt die andere Seite der Medaille, indem er auf die dramatische Ausweglosigkeit der Soldaten und die Konsequenzen der Verweigerung des Militärdiensts verweist. Die Erzählfigur von Ute Scheub macht deutlich, wie viele Wehrmachtssoldaten 1211 Vgl. Browning, Christoph R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Reinbek 1993. 1212 Wolfgang Türkis schreibt in seinem Text: »Es ist heute allgemein bekannt, nicht zuletzt durch die Untersuchungen Wolfgang Schefflers, […] daß es den sogenannten ›Befehlsnotstand‹ objektiv nicht gegeben hat. Scheffler konnte bei seinen umfangreichen Recherchen nicht einen Fall ermitteln, wo die Befehlsverweigerung (im Zusammenhang mit Erschießungen) für den Verweigerer das Todesurteil zu Folge hatte, wohl aber Degradierung und schlechtere Besoldung.« Türkis, S. 71. Vgl. Scheffler, Wolfgang. In: Im Kreuzfeuer. Der Fernsehfilm »Holocaust«: Eine Nation ist betroffen, Frankfurt 1979, S. 256. 1213 Niemann, S. 190 f. 1214 Vgl. Meier, S. 55 f. 1215 Näheres, siehe: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias L. (Hrsg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld 2007, S. 147 f. 1216 Vgl. Meier, S. 55 f. 1217 Ebd., S. 56.

Die Rhetorik

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wegen »Fahnenflucht« oder »Wehrkraftzersetzung« zum Tode verurteilt wurden oder sich des Befehls durch Suizid entzogen: Wie groß die Anzahl der jungen Männer war, die sich vor dem organisierten Töten zu drücken versuchten, ist unbekannt. Über 30 000 Wehrmachtssoldaten wurden wegen »Fahnenflucht« oder »Wehrkraftzersetzung« zum Tode verurteilt, etwa die Hälfte davon wegen Selbstverstümmelungen. Rund 25 000 Soldaten entzogen sich durch Suizid. Wenn dieser mißglückte, wurden sie ebenfalls wegen »Wehrkraftzersetzung« bestraft, in ungefähr der Hälfte aller Fälle mit der Todesstrafe.1218

Der Beitrag von Monika Jetter präsentiert die deutschen Soldaten, indem eine Passage aus dem Buch »Opposition gegen Hitler«1219 zitiert wird, als Opfer ihrer eigenen Heldentaten. Ihre Proteste gegen das Mordregime sowie »Gesten der Menschlichkeit« den Kriegsgefangenen und Verfolgten gegenüber, sollen üblicherweise von einem Sondergericht mit Todesurteilen bestraft worden sein: Die Verbrechen des Regimes (zum Beispiel des Russlandfeldzugs 1941, in dem sich die Einsatzgruppen bemüht hatten, das grausige Tun vor der kämpfenden Truppe zu verbergen) veränderten den Charakter des nicht organisierten Widerstandes. Wie die hinter der Front verübten Gräuel und das Schicksal der bald die Millionengrenze überschreitenden russischen Kriegsgefangenen, die zu Zehntausenden in sengender Hitze auf freiem Feld verhungerten und verdursteten. Empörung und Scham über das immer deutlicher erkennbar werdende Mordregime, das die an der Front stehende Truppe missbrauchte, trieben viele zu unbedachten Protesten. Die Sondergerichte sorgten dafür, dass solche Aktionen in einer Unzahl von Todesurteilen erstickten. Hier entwickelte sich ein stilles Heldentum, das in der Geschichte des Widerstandes oft nicht genügend berücksichtigt wird. In einer Atmosphäre von Denunziation und Kriegshysterie fanden Juden und Verfolgte Unterschlupf, erhielt da ein russischer Kriegsgefangener ein Stück Brot zugesteckt und wurde dort geholfen – alles Gesten der Menschlichkeit, die von unmenschlichen Gerichten mit barbarischen Strafen belegt wurden. Die Zahl der auf diese Weise ums Leben Gekommenen wird nie ganz festzustellen sein.1220

Die Rhetorik An manchen Stellen der Texte u. a. von Ute Scheub und Wibke Bruhns ist eine Rhetorik festzustellen, die auf das Opfernarrativ bezogen im Diskurs der 1950er Jahre gehalten ist. Sie erlebt seit den 1990er Jahren wegen ihrer »Nähe zu einem alle Unterschiede der Verantwortung einebnenden Universalismus der 1218 Scheub, S. 126. 1219 Aretin, Karl Otmar von/Cartarius, Ulrich (Hrsg.): Opposition gegen Hitler. Berlin 1994. 1220 Jetter, S. 42 f. Vgl. Aretin von, Karl Otmar/Cartarius, Ulrich (Hrsg.): Opposition gegen Hitler. Berlin 1994.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

Opfer«1221 teilweise ihre Wiederkehr. Damit sind Formulierungen gemeint, die den Vater als Opfer des Erziehungssystems, der deutschen Mentalität und des Zeitgeistes darstellen. Der Vater wird zwar nicht wie in mancher (parlamentarischen) Rhetorik der 1950er Jahre als Opfer von Hitler geschildert, doch so wie die deutsche Zivilbevölkerung und die deutschen Soldaten den Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft zugerechnet. Sowohl die Trennung von System und Volk, d. h. dem »Wir« und den »Nazis«, als auch die Metaphorik des Zweiten Krieges als »Katastrophe« ist in einigen Vätertexten der Nachwendezeit zu verzeichnen. Genauso findet sich das Verständnis für das Handeln der Elterngeneration, für das im deutschen Parlament in den 1950er Jahren plädiert wurde: »Der Krieg und auch die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen und Vergehen Verständnis aufbringen muß.«1222 Erwähnenswert sind in den Texten der Nachwendezeit rhetorische Überbleibsel aus den 1950er Jahren, in denen generell für »deutsche Verbrechen«1223 der Krieg, »jenes verbrecherische Regime«1224 oder das System verantwortlich gemacht werden. Helmut Dubiel sieht in der Trennung zwischen »System« und »Volk« die Gefahr, dass »sich die Täter und Komplizen zu Opfern [verwandeln].«1225 Diese Art von Polarisierung ist beispielsweise im Text Jetters zu finden, indem der Nationalsozialismus als eine Macht von außen gedeutet wird: Das bereitete mir schon ein Problem, Vater. Aber auch wenn die Geschichte unserer Familie nur ein kleines Stück des Elends schildert, in das Deutschland durch den Terror des Nationalsozialismus geriet und fünfundfünfzig Millionen Menschen das Leben kostete, entschloss ich mich doch, meinen kleinen Teil dazu beizutragen, dass so etwas nie wieder geschehen kann.1226

In einigen Texten wird die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen grundsätzlich auf Adolf Hitler, »diesen Massenmörder«1227 mit seinen »gehorsamen Gehilfen«1228 übertragen. So schreibt die Erzählfigur in Bruhns Roman durch ihre Formulierung die russischen Verbrechen einem gesamten Volk zu, während sie für die deutschen Untaten nur den deutschen »Führer« verantwortlich macht: »Buhlen schützt nicht – vor russischen Pogromen nicht

1221 1222 1223 1224 1225 1226 1227 1228

Dubiel, S. 212. Konrad Adenauer zitiert nach Dubiel, S. 43. Meckel, S. 128. Aus Helmut Kohls Parlamentsrede zum 50. Jahrestags des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, aus dem Jahr 1989. Vgl. Dubiel, S. 220. Ebd., S. 40. Jetter, S. 218. [Hervorhebung D.B.] Ebd., S. 33. Ebd.

Die Rhetorik

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und nicht vor Hitlers Vernichtungslagern.«1229 Eine ähnliche Darstellungsart ist auch in Scheubs Text zu finden: Diese Erfahrung blieb den »arischen« Deutschen, bei allem Kriegshorror, erspart. Auch sie wurden Opfer, zweifellos. Über sechs Millionen deutsche Soldaten und Zivilisten starben in Hitlers Krieg, unzählige wurden ausgebombt, vertrieben, beraubt, vergewaltigt, nicht wenige erlebten mehrere dieser traumatisierenden Situationen hintereinander.1230

Die Auffassung, dass allein Adolf Hitler als Staatsführer und oberster militärischer Befehlshaber für die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges die Verantwortung zu tragen hätte,1231 wurde vor allem im Kontext der Debatte um die Wehrmachtsaustellung vertreten. In Monika Jetters Text wird der Zweite Weltkrieg im Sinne einer Katastrophe dargeboten. Ich versuchte ihr [der Tochter] zu erklären, dass wir eher wie in einer Umklammerung miteinander gelebt hatten. Diese Eltern mit ihrer nationalsozialistischen Altlast und wir Kinder. Es habe damals keine Aufarbeitung dieser Katastrophe gegeben. Deshalb sei diese nationalsozialistische Ideologie eben in ihnen stecken geblieben. Wir konnten nicht ahnen, wie es ihnen erging, als ihr Weltbild, diese Bewegung, wie eine morsche Bretterbude zusammenfiel. Nach der Zeit, in der sie sich geführt wähnten von diesem Hitler, der ihnen alles versprochen und sich dann mit seinem Selbstmord aller Verantwortung entzogen hatte.1232

Diese Art der Schilderung, die nach Dubiel, »die deutschen Menschheitsverbrechen in existentialistischer Metaphorik als anonymes ›Verhängnis‹ oder als ›europäischen‹ Bürgerkrieg«1233 darbot, war besonders für die Rhetorik der 1950er Jahre charakteristisch. Sie und andere entlastenden Formulierungen sollten die deutsche Bevölkerung von der Verantwortung bzw. Schuld für die nationalsozialistischen Verbrechen erlösen und führte zur Ablehnung der Kollektivschuld1234 bzw. der »kollektiven Verantwortung.«1235 Die Art der Argu1229 Bruhns, S. 64. 1230 Scheub, S. 259. [Hervorhebung: D.B.] 1231 Diese Auffassung wurde beispielsweise von Alfred Dregger vertreten. Siehe dazu: Dubiel, S. 26 f. 1232 Jetter, S. 80. [Hervorhenung: D.B.] 1233 Dubiel, S. 211. Dubiel gibt als Beispiel Kiesinger an, der »über die ›Katastrophe‹ spricht, die über das deutsche Volk hereingebrochen war.« Mehr dazu: ebd., S. 70. 1234 Unter »Kollektivschuld« wird von Karl Jaspers die politische Schuld, von Leo Baeck die »Gesamtverantwortung« verstanden: »Hoffnung für die Zukunft liegt allein im menschlichen Gewissen, das sich zum Bewusstsein einer Gesamtverantwortung erweitern muß.« Zitiert nach: Der höchste Grad an Patriotismus. Laudatio auf Bundesminister a. D. Dr. Hans-Jochen Vogel zur Verleihung der Leo-Baeck-Medaille des Zentralrates der Juden in Deutschland (Berlin, 30. Oktober 2001). In: Vogel, Bernhard: Sorge tragen für die Zukunft. Berlin 2002, S. 166. 1235 »Prominente Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Theodor Heuss,

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

mentation, die die »Abwehr der Kollektivschuldthese und die Selbststilisierung der Deutschen als der eigentlichen Opfer der NS-Diktatur«1236 förderte, war noch bis in die 1980er Jahre hinein präsent und trug als Konsequenz zur Integration der »Deutschen in die Gemeinschaft der Opfer des Krieges und der sogenannten Gewaltherrschaft«1237 bei. Sowohl im Text von Ute Scheub als auch in dem von Wibke Bruhns setzen sich die Erzählfiguren mit dem Vater und seiner nationalsozialistischen Vergangenheit im Ton emotionsgeladener Ironie auseinander, die ihre Abgrenzung bzw. Distanzierung zur Person und Geschichte des Vaters zum Ausdruck bringt. Nach Harald Welzer hat »das Mittel der Ironie« eine entlastende Wirkung.1238 Es befreit die Zuhörer von »jenem Argwohn, mit dem sie den Rechtfertigungsdiskursen begegnen«1239 und trägt zusätzlich zur Entstehung von »praktischen Formen der Übereinstimmung über die zu konstruierende Vergangenheit«1240 bei: Man amüsiert sich gemeinsam über »überkandidelte Nazicken« oder das komödiantenhafte Führungspersonal des »Dritten Reiches«. Eingebaut in die ironischen Diskurse sind freilich Geschichtstheorien, die in komparativer Betrachtung die Führungseliten aller Zeiten als lächerlich, überdreht oder unglaubwürdig darstellen und damit den Nationalsozialismus zu einer historischen Epoche wie andere auch normalisieren.1241

Die Figur des Vaters wird in den Texten im Ton der Ironie ins Lächerliche gezogen und seine Geschichte oft in ungezwungener Umgangssprache mit dem Ziel die bisherige Konvention des literarischen Umgangs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu brechen an den Leser gebracht. Der Roman von Wibke Bruhns ist einerseits akkurat in der Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen und andererseits von gewisser Nonchalance, lässig im Sprachstil: Es ist nicht in Ordnung, und HG möge mir verzeihen, daß ich bei diesen Briefen lachen muß. Aber ich sehe den aufgeblasenen kleinen Leutnant – eine Woche später wird er

1236 1237 1238 1239 1240 1241

Karl Barth und Karl Jaspers bekannten sich zur kollektiven Verantwortung des deutschen Volkes als einer moralischen Forderung. In diesem Sinne wurde das Problem in den ersten Nachkriegsjahren öffentlich diskutiert. In der »Stuttgarter Erklärung« vom 19. Oktober 1945 sprachen die evangelischen Bischöfe von einer »Solidarität der Schuld«, in der sich der Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands mit dem ganzen Volk wisse.« Siehe: Bundeszentrale für politische Bildung [Online]. Informationen zur politischen Bildung – aktuell. Kollektivschuld. [Stand: 19. 10. 2009]. Ebd., S. 70 f. Vgl. Dubiel, S. 208. Vgl. Welzer, Harald/Montau, Robert/Plaß, Christine, S. 214 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd.

Die Rhetorik

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20 – gemütlich vielleicht nicht, doch weit weg vom Schuß in der Ukraine sitzen und den Verlust des reichsdeutschen Traums verfluchen. Es ist wirklich nicht in Ordnung, wenn ich darüber lache – was habe ich denn rumgetönt mit 20! Für mich war es damals der Marxismus und mir das alles bitterernst. Zum Lachen – heute – ist trotzdem beides. 1918 haben die alle so geredet wie HG, so haben alle geträumt, und Millionen sind dafür gestorben.1242

An diesen Stellen balanciert die formale Konvention des Textes an der Grenze zur Rhetorik der berüchtigten Jenninger- Rede1243 im Rahmen der Feierstunde des Bundestags zur 50. Wiederkehr der Reichspogromnacht 1938. Oft wird die Täterperspektive übernommen und das Stilmittel erlebte Rede eingesetzt, wobei der Text Gefahr läuft, es könnte der Eindruck entstehen, der Erzählerin fehle es an Fingerspitzengefühl in der Ausdrucksweise und Empathie mit den Opfern. Die Akten – das sind die Unterlagen über die Wiedergutmachungs-Forderung der Erben Löwendorf nach dem Krieg. Gemäß einer Anordnung der britischen Militärregierung über die Rückerstattung jüdischen Vermögens vom November 1947 hatten sie Anspruch erhoben wegen »ungerechfertigt entzogener Vermögenswerte.« Das Kriterium für »ungerechfertigt« in diesem Fall war, daß der »Veräußerer« zwar einen angemessenen Verkaufspreis erhalten hat, aber »über ihn nicht frei verfügen konnte.« Die Erben Löwendorf hatten keinen Anlaß, auf Geld, das ihnen zustand, zu verzichten – sie hatten genug verloren. Daß es den Falschen traf, nämlich die nach 1945 dahinsiechende Firma I. G. Klamroth, die seinerszeit ordnungsgemäß gezahlt und mit der fehlenden »Verfügbarkeit« des Geldes nichts zu tun hatte, wer will darüber lamentieren? 12 Jahre lang hatte es in den Juden immer die Falschen getroffen.1244

Zusätzlich wird der Diskurs der Texte durch die 1990er Jahren beeinflusst, indem kein Bruch, sondern historische Kontinuitäten mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in komplexen Kausalketten betont werden.1245 Zudem finden sich ebenfalls direkte Bezüge zur Rhetorik der 1990er Jahre. Sie wird beispielsweise von der Erzahlfigur Wibke Bruhns kritisiert, weil sie die nationalsozialistischen Täter vor allem in den Reihen der deutschen Wehrmacht unbenannt ließ: Die Schweinereien, das waren für die Militärs die der anderen. Die deutsche Wehrmacht war sauber, nicht wahr? Noch Helmut Kohl schwadronierte von dem Unrecht, »das in deutschem Namen begangen worden« sei, als wären die Gremlins gekommen, schwarzweißrote Banner vorne weg, und hätten gemordet, geplündert, vergast, enteignet, verwüstet, als hätten Außerirdische deutsches Blut und deutschen Boden erfunden, »minderwertige« Rassen kurzerhand ausgerottet, hätten »ein Volk, ein Reich,

1242 Bruhns, S. 112 f. 1243 Die Rede war aus der »nachträglichen Einfühlung in die Täterperspektive« gehalten. Siehe dazu: Dubiel, S. 215 – 218. 1244 Bruhns, S. 269. 1245 Vgl. Dubiel, S. 150 u. 220.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

ein Führer« gegrölt und »heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.«1246

Die Erzählerin Bruhns unternimmt den Versuch, ihren Text durch die kritische Bewertung der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ der 1990er Jahre dem tabuisierenden Diskurs gegenüberzustellen. Die Verbrechen der Nationalsozialisten werden in ihrem Text weder verschwiegen noch verschleiert. Die Begrifflichkeit wird viel bewusster eingesetzt. Doch sind in ihrem Roman paradoxerweise Formulierungen zu finden, die gerade an die kritisierte Rhetorik der 1990er Jahre erinnern und die Inkonsequenz des Textes unterstreichen. Im Bruhns Text werden die deutschen Täter ebenfalls durch Passivformen verdeckt, z. B. »wenn die Juden abgeholt«1247 und die »polnischen Eliten liquidiert werden,«1248 Juden »in Konzentrationslagern verschwinden.«1249 Dagegen aber die anderen Täter benannt: »[d]ie Sowjets kommen von der anderen Seite und ermordeten Tausende polnischer Offiziere.«1250 Andere Autoren (u. a. Martin Pollack, Kurt Meyer) bedienen sich zusätzlich oft präziser Angaben zu militärischen Einheiten oder lassen die Dokumente sprechen. Die Verbrechen werden generell wahrgenommen und detailliert geschildert, doch die Frage der (Eigen-)Verantwortung des Vaters bleibt in den meisten Texten weiterhin unberührt und ungelöst, da auf sie auch in den neusten Publikationen meistens nicht näher eingegangen wird. Die NS-Verstrickung wird selten konkret auf Familienmitglieder bezogen behandelt. Die Verbrechen werden allgemein wahrgenommen, aber die Verantwortlichen werden stets noch gesucht. Es wird oft immer noch an der Pflichterfüllung, am Gehorsam und den »spezifischen« Kriegsumständen festgehalten, was Gesine Schwan folgendermaßen erklärt: Implizit wird persönliche Schuld auf diese Weise sehr restriktiv verstanden : als freiwilliges und absichtliches Schaden-Anrichten, Böses-Tun, nicht als Unterlassen. Der Raum der eigenen Freiheit, Entscheidungsmacht, Verantwortlichkeit wird damit gleichzeitig als eine Art Restgröße definiert, die nach Abzug aller anderen Faktoren (Befehle von oben, Verblendung, Angst, Gleichgültigkeit, allgemeiner tragischer Schuldzusammenhang) ü brigbleibt. Es wird verleugnet, da ß der persönliche Handlungsspielraum nicht einfach objektiv da ist, sondern daß man auf ihn Einflu ß nehmen, seine Freiheit selbst definieren kann, ja mu ß ; da ß die eigene Verantwortlichkeit prinzipiell unbeschr ä nkt ist, weil einem keiner sein Gewissen abnehmen kann, und daß die Bestimmung der Grenze von Freiheit und Verantwortung einer eigenen gewissenhaften Prüfung unterliegt. Die sich so als schuldlos re-

1246 1247 1248 1249 1250

Bruhns, S. 18. Vgl. ebd., S. 337. [Hervorhebung: D.B.] Ebd., S. 285. [Hervorhebung: D.B.] Ebd., S. 280. [Hervorhebung: D.B.] Ebd.

Die Enttabuisierung

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klamieren, verstehen sich mithin nicht als Subjekte, sondern als Objekte, als Resultat äußerer Bedingungen.1251

Sowohl der einfache Soldat sowie der Mitwisser oder Mitläufer werden als Verantwortliche und Schuldtragende vor den direkten Vorwürfen verschont.

Die Enttabuisierung Die Publikationen der Nachwendezeit wollen einen Teil zur familiären und öffentlichen Enttabuisierung beitragen. Die Erzählfigur in Scheubs Werk sieht diese als einen »Unterschied zu damals,«1252 was sie mit dem Satz »Das Schweigen ist durchbrochen«1253 deutlich macht. Das Gefühl der Enttabuisierung resultiert unter anderem aus der Tatsache, dass sich die Spurensuchenden mittlerweile nicht mehr durch die Familienloyalität zum Schweigen verpflichtet fühlen. Die Texte werden laut der Erzählfigur von Scheub nicht mehr durch die Rücksichtsnahme auf Familienmitglieder beeinträchtigt: Jetzt, da die meisten Täter tot sind, fällt der Tabubruch leichter, Familiengeheimnisse preiszugeben. Auch wenn damit der Vorwurf, Verräter zu sein, keineswegs vom Tisch ist. Wir alle, die wir solches tun, verstoßen gegen das Tabu der innerfamiliären Loyalität: »Das tut man nicht!« »Das gehört sich nicht!« »Das hättest du niemals öffentlich machen dürfen!« »Eine Schweinerei, deinen Vater so an den Pranger zu stellen!«1254

Dagegen sieht Monika Jetter die Texte weniger tabubrechend als »türöffnend«: Türöffnend für eigene Gefühle, für eigene Geschichten in der Beobachtung. Das ist ja erstaunlich, die Kinder dieser Zeit waren ja sehr geübt in der Beobachtung, weil ja nicht gesprochen wurde. Die haben ja den Onkel beobachtet, die Tante beobachtet was die machten, was die geredet haben. Aber kein Tabu. Ich glaube es ist kein Tabu mehr. Das ist es nicht mehr Tabu.1255

Die Texte sollen weder das Thema der familiären Begeisterung für den Nationalsozialismus, der Kriegskindheit, noch der väterlichen Kriegstraumatisierung, die meistens in der psychisch-physischen Misshandlung der Familie zum Ausdruck kam und im familiären Mikrokosmos versteckt blieb, scheuen. In ihnen werden das Versäumnis der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, das fabulierte Familiengedächtnis und das jahrelang andauernde Beschweigen kritisiert. Tatsächlich lässt sich nach den zahlreichen öffentlichen und politi1251 1252 1253 1254 1255

Schwan, S. 102. Scheub, S. 196. Ebd. Ebd., S. 256. Interview mit Monika Jetter, S. 382.

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schen Debatten, geschichtspolitischen Inszenierungen, Zeitzeugen-Erinnerungen, dem Film-Boom und den literarischen Publikationen zum Thema des Nationalsozialismus sagen, dass in den Texten der neuen Väterbücherwelle nicht mehr geschwiegen wird – oder wird in diesem Redefluss doch weiterhin das Schweigen geübt? Im Text von Scheub scheint nämlich die Offenheit an ihre Grenzen zu stoßen, wenn in der Nachbemerkung erläutert wird: Meine Eltern hießen nicht Manfred und Margarete Augst. Das waren die Pseudonyme, die ihnen Günter Grass gegeben hat, und ich habe sie zum Schutz meiner Familie übernommen. Wer nun glaubt, er könne von meinem Nachnamen auf den meiner Eltern rückschließen, den möchte ich dezent darauf hinweisen, dass ich verheiratet bin, und bekanntlich ändern sich dabei bei den meisten Frauen die Namen.1256

Eine entgegengesetzte Haltung wird am Beispiel der Vater-Spuren-Suche von Beate Niemann präsentiert. Sie demaskiert die fortbestehende Tabuisierung unter anderem auf der öffentlichen Ebene. Der Text steht somit in Opposition zum Roman von Ute Scheub sowie dem öffentlichen Diskurs über Enttabuisierung. Das Dokument von Beate Niemann zeigt den illusorischen Schlussstrich1257 mit dem Schweigen. Niemanns Vater-Spuren-Suche macht deutlich, dass man immer noch von mangelnder ›Aufarbeitung‹ der jüngsten Vergangenheit auf der öffentlich-politischen Ebene sprechen kann. Aufgrund der Vergangenheit des Vaters, dem »V – Leute-Spezialisten in der Gestapo«1258 und dem Leiter des Spitzelnetzes in der SPD wird sie während ihrer Recherche mit der Bürokratie und dem Aktenmaterial von zwei totalitären Systemen, des Nationalsozialismus und der DDR konfrontiert. Bruno Sattler, der Vater der Erzählerin wird in der historischen Forschung als »Graue Eminenz«1259 Heinrich Himmlers bezeichnet. Er war unter anderem für Verbrechen1260 in Belgrad 1256 Ebd., S. 286. 1257 »Ich möchte die Frage stellen, ob wir überhaupt schon wissen, was eine solche Vergangenheit bedeutet. Spätestens seit den frühen fünfziger Jahren finden wir immer wieder nicht nur die Rede vom Schlußstrich, der endlich (!) unter diese Vergangenheit gezogen werden müsse, sondern auch die Voraussage, daß sie in Kürze erledigt sei. Würde man sich die Mühe machen, die früheren Zeugnisse zusammenzustellen, so würde man finden, daß das meiste, was heute zu diesem Punkt gesagt wird, alles andere als originell ist. Da hat sich in Jahrzehnten offenbar nichts geändert. Vielleicht ist diese Rede längst dabei, rituellen Charakter anzunehmen. Doch nichts wird damit beschworen – außer unserer Ohnmacht der eigenen Geschichte gegenüber.« Meier, S. 17. 1258 Niemann, S. 39. 1259 Ebd., S. 38 f. Niemann beruft sich hier auf den Historiker und Gestapo-Forscher KlausMichael Mallmann. Siehe dazu: Paul, Gerhard/Mallmann, Klaus-Mchael: Die Gestapo, Mythos und Realität. Darmstadt 1996. 1260 Bruno Sattler war für Exekutionsanordnungen und Erschießungen verantwortlich. Er hat Menschen zum Arbeitseinsatz nach Auschwitz, Norwegen und in das serbische Lager eingeteilt, war Leiter des Gaswageneinsatzes 1942 in Belgrad und Mitglied der Einsatzgruppe B.

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verantwortlich und betrieb weltweit Spitzelarbeit in den Parteien KPD, SPD und ihren Organisationen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er 19471261 aus WestBerlin verschleppt und in Zuchthäusern der DDR bis 1971 gefangen gehalten. Aus seiner Tätigkeit in der Zeit des Dritten Reiches sowie der fünfundzwanzig Jahre langen Haftstrafe ergibt sich umfangreiches Aktenmaterial, zerstreut in unterschiedlichen Archiven und Institutionen, sowohl innerhalb Deutschlands als auch im Ausland, zu dem aber der Spurensucherin nicht immer Zugang gewährt wird: »In Bezug auf viele Stellen in seiner Biographie bleiben Lücken, die ich im Moment nicht schließen kann. Hier muss ich warten, bis die Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse in den Ländern Frankreich, Ungarn und Polen einen neuen Stand erreicht hat.«1262 Ihre Rekonstruktionsarbeit gerät immer wieder aufgrund der fehlenden Bereitschaft von »Dritten Personen«1263 zu kooperieren in eine Sackgasse. Die Recherchen werden behindert, indem bestimmte Dokumente gesperrt sind oder als unauffindbar bezeichnet werden: Die Ereignisse während der fünfundzwanzigjährigen Haftzeit meines Vaters werden nicht mehr vollständig zu klären sein, da die gesamten Haftunterlagen verschwunden sind. Offenbar war Bruno Sattler so wichtig, dass noch zum Ende der DDR, drei Tage vor Öffnung der Mauer im November 1989, gezielt eine Akte über ihn vernichtet wurde. Es ist wirklich ein extrem spätes Datum für die Vernichtung einer Akte. Ich spreche mit mehreren Mitarbeitern des BSTU [Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen] darüber ; keiner kann es erklären, außer, dass nun keine Klärung mehr möglich sein wird, was das Rätsel um meinen Vater war.1264

In Niemanns Text bleiben mehrere Anfragen bei den Parteiarchiven oder der Strafvollzugsanstalt Leipzig-Meusdorf, in welcher der Vater Bruno Sattler in Haft gesessen hatte und 1972 schließlich auch verstarb bzw. hingerichtet1265 wurde, erfolglos. Die Dokumente zur Verstrickung Bruno Sattlers mit Erich Mielke, seine Haft- und Krankenunterlagen aus der Strafvollzugsanstalt Leipzig-Meusdorf sowie Akten aus der früheren KPD-Zeit (1919 – 1968), die in alten DDRRegistraturen noch präsent sein mussten, sind für die Tochter nicht mehr auffindbar. Dem Text zufolge lauten die Antworten auf die Akteneinsicht-Anträge sowohl bei der PDS im November 19971266 als auch der Friedrich-Ebert-Stiftung (Verwalter des SPD-Archivs) im November 20001267 gleich: man habe nichts zu 1261 1262 1263 1264 1265

Vgl. Niemann, S. 38. Ebd., S. 9. Zeugen, Institutionen, Behörden etc. Ebd., S. 153. »Ungeklärte Todesfälle in Haftanstalten der DDR sind nach der Wende mehrmals Gegenstand von Zeitungsartikeln. So erscheint in der ›Berliner Zeitung‹ vom 26. November 1992 ein Artikel von Andreas Förster mit dem Titel ›Aufklärung über den Tod in DDRGefängnissen‹.« Ebd., S. 164. 1266 Vgl. ebd., S. 108. 1267 Vgl. ebd., S. 40.

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Bruno Sattler gefunden, sein Name trete in den Dokumenten nicht auf oder es gelten immer noch Sperrvermerke im Hinblick auf das Material. So werden die Fragen, warum die Akten aus den 1950er Jahren immer noch gesperrt bleiben und weshalb die Dokumente zur Tätigkeit Sattlers in den Jahren 1928 – 1933/34 immer noch nicht eingesehen werden dürfen, von der Spurensucherin zur Diskussion gestellt. In diesem Kontext macht der Text von Beate Niemann Zweifel in Hinblick auf die Geschichtsaufarbeitung in politischen Kreisen deutlich: Es würde mich sehr interessieren, ob sich die Parteien mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte in den eigenen Reihen befassen. Der Frage werde ich nachgehen. Ebenso bin ich gespannt, ob die F.D.P. [Freie Demokratische Partei] daran geht, zu klären, warum so viele alte Nazis sich gerade in ihren Reihen wohl gefühlt haben.1268

Ihre Vater-Spuren-Suche verdeutlicht die realen Möglichkeiten einer dokumentarischen Aufarbeitung sowie einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit der NS- und der SED-Diktatur. Mehrere Fragen zum Fall Sattler-Mielke bleiben offen: Hat mein Vater ihn hier schon vernommen oder 1933 Mielkes Eltern und den Bruder, als sie noch einmal zu dem Verschwinden Mielkes befragt wurden? Beruht darauf der Hass Mielkes auf Bruno Sattler und seine späteren Aussagen Stasioffizieren gegenüber, Sattler sei sein »Stargefangener«? Haben die beiden einen Deal gemacht, der nicht herauskommen durfte? Ist das der Grund, weshalb die Haft- und Krankenunterlagen meines Vaters verschwunden sind, Akten aus der frühen KPD-Zeit, die noch in alten DDR-Registraturen auftauchen, heute aber nicht mehr auffindbar sind? Dass noch im November 1989 eine spezielle Akte über meinen Vater im MfS vernichtet wurde? Dass sich nicht mehr klären lässt, wie mein Vater 1972 im Haftkrankenhaus der Strafvollzugsanstalt Leipzig-Meusdorf zu Tode gekommen ist?1269

So veranschaulichen auch weitere Väterbücher, z. B. der Text von Hans Weiss1270, wie der Zugang zum Aktenmaterial und damit zur Aufarbeitung der Geschichte erschwert wird. Die Erzählfigur von Uwe Timm beantragt beim militärhistorischen Archiv in Freiburg die Akte zur Totenkopfdivision von 1943, in der sein Bruder Mitglied gewesen ist, und findet sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen leer vor. Im Martin Pollacks Bericht werden die Nachfragen bezüglich des spärlichen Materials zur Tätigkeit des Sonderkommandos IIa im Kaukasus, das sein Vater geleitet hat, vom zuständigen Archivar damit relativiert, dass »die Quellenlage nicht gut sei,« »vieles sei noch nicht aufgearbeitet, die Materialien seien über viele Länder verstreut, im übrigen könne niemand sagen, was noch in 1268 Ebd., S. 185. 1269 Ebd., S. 33. 1270 Siehe dazu: Weiss, S. 183 f.

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russischen Archiven liege.«1271 Auch wenn sich schließlich bestimmte Akten wiederfinden, ist es wie im Falle von Niemann nicht immer gestattet, sie komplett zu lesen. In vielen Fällen werden die Zusagen, einen Einblick in das Archivmaterial nehmen zu dürfen, nicht eingehalten. Treffen und Gespräche werden verweigert und vermieden. Es heißt oft, dass die einzigen Zeugen bereits verstorben seien oder, dass sie keinen Kontakt wünschen. Dies wird von Erzählerin Niemann wie folgt kommentiert: »Ich habe nichts klären, nichts aufklären können, im Gegenteil: Noch heute, zehn Jahre nach dem Zusammenschluss beider deutschen Staaten, verweigert man mir ein schon zugesagtes Gespräch auf diese unglaubliche Weise, tut nichts, um der Wahrheit näher zu kommen.«1272 Die Vater-Spuren-Suche macht deutlich, dass immer noch Ängste vor einer unkontrollierten ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ bestehen, die sich außerhalb des öffentlichen, gesellschafts-politischen Diskurses bewegen könnte. Dies geht mit dem folgenden, 2009 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte Artikel von Peter Carstens einher, der die Fortsetzung der Tabuisierung vor allem der Vergangenheit West-Deutschlands aufzeigt und der Geschichtsaufarbeitung staatliche Instrumentalisierung vorwirft: Die DDR ist hin, die Sachwalter des Regimes können nicht verhindern, dass in den hinterlassenen Akten ihrer Machenschaften geforscht wird. Ganz anders steht es im Westen. Hier wirkt die Kontinuität des Schutzschweigens. Sie trifft natürlich nicht alle Vorgänge. Jedes Jahr wandern Tausende alte Akten an die Archive und können eingesehen werden. Wird es allerdings politisch brisant, erscheinen die Statuswächter einer staatlich gelenkten Geschichtsschreibung an den Archivpforten.1273

Damit ist die Diskussion um die Fristenverlängerung gemeint, die Forschern den Zugriff auf bestimmte archivierte Akten verwehrt. Nach der »Verschlusssachenanordnung (VSA)« von 2006 sollten infolge der Übergangsfrist bis 2011 »bei wenigen Ausnahmen, alle Akten der Forschung zugänglich [gemacht] werden, die dann älter sind als dreißig Jahre,«1274 schreibt Carstens. Doch es wird eine Verlängerung der Verschlussfrist auf 50 Jahre in Erwägung gezogen, die wie der Journalist vor paar Jahren bemerkt, die »Jahre des Terrorismus in der alten Bundesrepublik«1275 schützen würden. Zudem sollen die »bürokratischen« Nachfolger der alten Bundesrepublik seit der Gründung beider deutschen Staaten immer noch mehrere Akten unter Verschluss halten, was laut Carstens 1271 Pollack, S. 166. 1272 Niemann, S. 163. 1273 Carstens, Peter : Regierungsakten. Kontinuität des Schweigens. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2009 [Faz.Net]. [Stand: 08.2009]. 1274 Ebd. 1275 Ebd.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

offene Stellen in der Forschung zu den Nachkriegsjahren bedeuten würde.1276 Daneben verweist der Text von Niemann auf die immer noch bestehenden Forschungslücken hinsichtlich des Nationalsozialismus: Er [Bruno Sattler] gehört zu denen, von denen kaum etwas bekannt ist, von denen wenige zur Verantwortung gezogen wurden, um die sich die Forschung noch nicht gekümmert hat, ohne die aber unzählige Verbrechen nicht hätten begangen werden können. Wann werden die deutschen Familien bereit sein, sich ihrer Vergangenheit zu stellen? Wann werden sie begreifen, dass nur das flächendeckende Mitmachen das NSRegime in die Lage versetzte, seine Untaten zu begehen? Es waren nicht nur die Protagonisten an der Spitze, die das Regime stützen; Hitler konnte sich auf eine breite Schicht im Volk verlassen.1277

Die Archive beinhalten immer noch eine große Menge von nicht zugänglich gemachtem oder unerforschtem Material. Allein im Bundesarchiv Berlin-Hoppegarten sind laut Niemanns Text: schätzungsweise acht bis neun Kilometer unsortierte Akten des Reichssicherheitshauptamtes. Sie sind 1945 von den Sowjets geborgen und nach Moskau transportiert worden; Anfang der sechziger Jahre wurden sie an die DDR übergeben und nach Hoppegarten gebracht. Dort liegen sie seitdem und warten auf die Forscher. Mir wurde einmal gesagt, ich hätte »überrecherchiert.« Dem kann ich nun gar nicht zustimmen, im Gegenteil, mir wird Angst, dass ich es nicht mehr schaffen werde, alles zu erfassen, was die blinden Punkte in der Biographie Bruno Sattlers ausfüllen könnte.1278

Die Aktualität der Vater-Spuren-Suche Die Vater-Spuren-Suche will durch kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einen Beitrag zur deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ leisten und die nächsten Generationen zum Nachdenken bewegen.1279 Die Aktualität des Themas in der Öffentlichkeit sowie im persönlichen Bereich führt zu immer neuen Auflagen bzw. Neuauffassungen der Väterbücher. Die Autoren selbst befinden sich immer noch auf ihrer Suche, für sie bleibt das Thema unausgeschöpft. Peter Henisch schreibt in der ersten Fassung seines Vaterbuchs: Möglich, daß ich in weiteren fünf Jahren wieder das Bedürfnis haben werde, eine Neuauffassung zu schreiben. Daß man sein ganzes Leben an einem einzigen Buch schreiben möchte oder zu schreiben imstande wäre, ist ja bekannt. Auch diese Fassung soll nicht entgültig sein im Sinne einer meines Erachtens falschen Abgeschlossenheit 1276 1277 1278 1279

Ebd. Niemann, S. 193. Ebd., S. 193. Vgl. Bruhns, S. 348.

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und Perfektion. Ich kann Fragen stellen und Antworten geben, aber beides, Fragen und Antworten, sind immer nur Stufen.1280

Genauso schreibt er nach 30 Jahren, in der Dritten Fassung seines Romans: Mit meinem Buch bin ich nie fertig, schon gar nicht mit diesem. Wie oft habe ich daraus gelesen, wie oft habe ich darüber diskutiert, wie lang begleitet es mich nun schon! Nur Kleinigkeiten wollte ich korrigieren anläßlich der Neuauflage. Kaum aber hatte ich mich darauf eingelassen, war ich schon wider mitten drin.1281

Im Unterschied zu dieser Position sagt Ruth Rehmann: Die Spurensuche bezüglich der Väter wird sicherlich weitergehen, wenn auch vielleicht nicht in dieser dringlichen Form, die von den Verbrechen der Nazizeit evoziert ist. Für mich als Autorin ist das Vater-Thema abgeschlossen. In meinem Wesen spüre ich Ähnlichkeiten mit meinem Vater, was mir durchaus nicht unangenehm ist ich habe ihn sehr lieb gehabt und er mich auch. Schreiben werde ich nicht mehr über ihn. Das Thema ist abgeschlossen. Längst bin ich selbst Mutter und Großmutter mit Kindern und Enkeln.1282

Die Neuauflagen, Übersetzungen in Fremdsprachen sowie die Herausgabe von neuen Texten zeugen davon, dass die Problematik auf ein breites Interesse bei den Lesern und in den Medien stößt, obwohl ein Überdruss an dem Thema bei der jüngeren Generation festzustellen ist. Dies führt Schlink aber auf die »banalisierende […] Häufigkeit, mit der diese der Vergangenheit in Schule und Medien begegnet. Ebenso hat der leichtfertige bis zynische Ton, in dem die nächste Generation manchmal über die Vergangenheit redet, seinen Grund in dem moralischen Pathos, mit dem [die Elterngeneration] die Vergangenheit in Bezug nimmt und zum Vergleich heranzieht, ohne daß die Bezüge und Vergleiche ein entsprechendes moralisches Gewicht hätten.«1283 Daraus resultiert auch, dass sich einige Texte einer größeren Popularität erfreuen als die anderen, was zusätzlich auf die bekannten Namen mancher Autoren1284 sowie auf die Form der literarischen Bearbeitung des Stoffes zurückgeführt werden kann. Erik Meyer und Claus Leggewie erklären die Marktmechanismen folgenderweise: Es spielen hierbei vor allem, sachfremde Kriterien eine Rolle, die man aus der Theorie der Nachrichtenwerte kennt – der »Stoff« an sich muss interessant oder aber zumindest interessant aufbereitet sein. Neue Aspekte oder Akzente wecken mehr Interesse als bereits bekannte Thematisierungsstrategien. Exklusives Material generiert im Gegensatz zu bereits vorhandenen Darstellungen Aufmerksamkeit. Personalisierende Zugänge und markante Details finden eher Resonanz als abstrahierende Aussagen. Und 1280 1281 1282 1283 1284

Henisch (1980), S. 254 f. Henisch: Die kleine Figur meines Vaters. Roman. Salzburg/Wien/Frankfurt 2003, S. 6. Interview mit Ruth Rehmann, S. 312. Schlink, S. 147. Ebd.

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prominente Akteure haben bessere Chancen zur Artikulation als andere, es sei denn, ihnen wird ebenfalls der Status eines »Superstars« oder die Fama einer 15-MinutenBerühmtheit zuerkannt. Nur unter Berücksichtigung solcher Aspekte einer sogenannten »Ökonomie der Aufmerksamkeit« sind Themenkonjunkturen und die differierende Popularität von verschiedenen Formaten im Hinblick auf für das kollektive Gedächtnis relevante massenmediale Angebote und Artefakte ausreichend zu erklären.1285

Das Phänomen der Väterliteratur begründet sich darin, dass sie durch die literarische Bearbeitung von authentischer bzw. autobiographischer Geschichte »dem Leser das Finden seiner eigenen Position ermöglich[t],«1286 da das Publikum einen Text erwartet, der es durch seine Zugänglichkeit anspricht und andererseits einen Interpretationsspielraum lässt. Deshalb sieht Peter Henisch »Dokumentation« und »Erfindung« nicht als Alternativen: »Zwar ist das, was ich machen möchte oder zumindest in der Kleinen Figur versucht hab, Erfahrungsliteratur im Unterschied von Erfindungsliteratur… Aber etwas, das nichts mit meinen Erfahrungen und insofern nichts mit mir selbst zu tun hat, könnt ich gar nicht schreiben.«1287 Die Alltagsnähe in den analysierten Texten soll die Leser und ihre Erwartungen ansprechen. Dies steht im Gegensatz zu Geschichtsbüchern, die eine gewisse Distanz zur Vergangenheit der Elterngeneration aufbauen: Man spricht kühl wie von Geschehnissen in einer fernen Population, mit der wir nichts zu tun haben, so sehr sie uns theoretisch interessiert. Das waren die Bedingungen, unter denen wir seit den sechziger Jahren eine so außerordentlich weitgehende Bereitschaft entwickelten, die Wahrheit über diesen Teil unserer Geschichte zu entdecken und in Universität und Schule sowie vor allem in den verschiedenen Medien zu verbreiten.1288

Die Väterbücher übernehmen die Rolle eines Massenmediums, das einen narrativen Umgang mit der Geschichte anbietet. Durch das Zusammenspiel von Narrativem und Faktischem, Literarischem und der journalistischer Authentizität sowie Familiengedächtnis und zeitgeschichtlichen Aspekten kommen sie dem Wunsch des Lesers nach Wahrheits- und Erfahrungsnähe entgegen. Darüber hinaus verbinden die Texte durch die literarische Darstellung von konkreten Familiengeschichten die historische Rekonstruktion mit der »Re-Kon1285 Meyer, Erik/Leggewie, Claus: »Collecting Today for Tomorrow«: Medien des kollektiven Gedächtnisses am Beispiel des ›Elften September‹. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar, S. 280. 1286 »Keine fixfertigen Lösungen« (Aus einem Gespräch zwischen Wolfgang Glück, Regisseur des TV-Filmes, und Peter Henisch). In: Henisch (1980), S. 270 f. 1287 Ebd., S. 267. 1288 Meier, S. 63.

Die Aktualität der Vater-Spuren-Suche

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kretisierung«1289 der Vergangenheit. Sie agieren wie andere Massenmedien, die »als Reservoir für Erlebnisse gelten, die man gehabt haben könnte oder sogar gehabt haben muß, will man eine plausible, das heißt sozial akzeptierte Geschichte vom Krieg erzählen.«1290 Laut Harald Welzer und Hans Markowitsch kann eine »individuelle Geschichte […] nur dann glaubhaft erzählt werden, wenn sie den sozialen Erwartungen der unmittelbaren oder medialen Zuhörer entgegenkommt, das heißt sinnhaft und bekannt erscheint.«1291 In der TäterBiographie von Beate Niemann wird ein Brief einer unbekannten Leserin präsentiert, in dem sie ihre Erwartungen schildert, die sie an ein Buch stellt. Demzufolge solle die Autorin »bloß kein wissenschaftliches Buch über [ihren] Vater schreiben, so etwas läsen nur Fachleute und solche Bücher gäbe es genug. [Sie] solle schreiben, wie es [ihr] ergehe mit diesem Vater und mit dem Ergebnis [ihrer] Recherchen. Das wäre für so viele Menschen wichtig.«1292 Die Verlage haben sich aber gegenüber der Nachfrage bzw. künftigen Rezeption ihres Buches eher skeptisch gezeigt. Ihr Manuskript, das sehr genau Fakten und Angaben zu Verbrechen ihres Vaters sowie zu ihrer Recherche liefert und keine Zweifel an der Täterschaft lässt, ist ihrem Text zufolge lange bei mehreren kleineren politischen Verlagen mit der Begründung abgelehnt worden: »[ihre] Geschichte sei dem deutschen Leser so nicht zuzumuten, es gäbe genug Töchter-Eltern Aufarbeitungen, die sich nicht gut verkaufen ließen.«1293 Nach Dan Bar-On wird von der deutschen Gesellschaft generell »eine angenehmere Geschichte, bequemere Illusionen« bevorzugt1294, was sich auf dem deutschsprachigen Büchermarkt durch die Popularität von Publikationen über Kriegszeit (Nationalsozialismus) am Beispiel von Familiengeschichten oder Generationenromanen1295 widerspiegelt. Darin ist die Gefahr der Anpassung an geläufige »sozial und kulturell spezifische[…] Erzählformen«1296 verborgen, die der Text von Ruth Rehmann schon in den 1970er Jahren indirekt anspricht: Es gibt so viele Geschichten dieser Art […] Sie werden im Ton der Wahrheit erzählt von Leuten, die man mag und achtet. Jede von ihnen dreht und wendet ein Stückchen Schuld, bis es menschlich verständlich, beinah schon sympathisch aussieht. Schau sie doch an: Menschen wie du und ich, durchwachsen, mit guten Seiten und schlechten – 1289 1290 1291 1292 1293 1294 1295

Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 249. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis, S. 34. Ebd. Niemann, S. 209. Ebd., S. 195. Vgl. Bar-On, Dan: Die Last des Schweigens, S. 280. Zu den seit den 1990er Jahren publizierten Generationenromanen gehören u. a.: Schmidts, Kathrin: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. Roman. Köln 1998; Maron, Monika: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt am Main 1999; Wackwitz, Stefan: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman. Frankfurt am Main 2003. 1296 Vgl. Welzer, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline, S. 81.

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wer hat die nicht? Und weit weg, ganz woanders liegt in einem Morast von Feigheit und Gemeinheit die unbegreifliche Schuld, fremd wie ein Meteor, als wäre sie von einem anderen Stern gekommen. Aber sie ist ja nicht gekommen, sondern gemacht, nicht von einem oder wenigen, sondern von vielen, fast allen. Ich frage mich nur, wo ist sie geblieben in euren liebenswürdigen sympathischen Geschichten? Wo steckt sie, in welcher Falte des Mantels, den ihr so fürsorglich über sie breitet?1297

Helmut Dubiel sieht außerdem eine Gefahr der Relativierung, die durch die allzubreite historisch-zeitliche Kontextualisierung und Distanzierung entsteht. Die Einordnung der deutschen Verbrechen in einen »episch breiten historischen Zusammenhang« läuft Gefahr, dass diese »ihre spezifische Qualität als moralisch zu verantwortende Handlungen konkreter Personen verlieren.1298 Daher rührt auch der Protest der parlamentarischen Opposition in den 1990er Jahren gegen die Historisierung bzw. Relativierung der Geschichte des Nationalsozialismus, die in den Zusammenhang der ganzen gesamten europäischen Geschichte eingebettet wurde. Ute Frevert hebt aber auch positive Seiten der Historisierung hervor, und zwar, wenn sie als »Gegenstrategie zur Moralisierung« auftritt: Gehen moralisierende Argumentationen in der Regel von der a priori behaupteten Singularität des Nationalsozialismus aus und verleihen ihm einen dämonischen, der rationalen Analyse letztlich nicht zugänglichen Charakter, beharrt der historisierende Zugriff auf der prinzipiellen Erkennbarkeit seines Gegenstandes.1299

Für Frevert muss Historisierung »nicht zwangsläufig Entaktualisierung bedeute[n] und schon gar nicht identisch […] mit Entproblematisierung [sein]. Den Aufstieg und die Erfolgsbedingungen des Nationalsozialismus aus der Zeit heraus zu erklären, ihn dabei mit anderen Regimen zu vergleichen, um seine Spezifik genauer ermessen zu können – all das ist keine Verharmlosung, Entschuldigung oder Relativierung.«1300 So gibt die Verankerung der NS-Vergangenheit des Vaters in einem breiteren, perspektivenreichen Kontext dem Leser von Väterliteratur einen gewissen Interpretationsfreiraum, in dem er durch Faktenmaterial sich nicht eingeengt oder sogar überfordert fühlen muss. Zusätzlich, vermittelt der persönliche (emotionale) Bezug und Ton des Erzählers Glaubwürdigkeit, Identifikationsmöglichkeiten und die Bereitschaft, Verständnis aufzubringen.

1297 1298 1299 1300

Rehmann, S. 214. Dubiel, S. 70. Frevert, S. 12. [Stand: 10. 10. 2009]. Ebd.

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Die Vaterbücher als Teil der Erinnerungskultur Der Übergang der Erinnerung aus dem kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis wird durch den sogenannten »Erinnerungs- und Geschichtsboom«1301 sowohl in der Forschung als auch in der Öffentlichkeit bzw. den Medien markiert. Die neue wissenschaftliche Herangehensweise an die Geschichte und Geschichtsschreibung durch bewusste Erinnerungsarbeit, Gedächtniskonzepte und -theorien fördert ein neues Geschichtsbewusstsein, das auf die weitere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unter neuen Bedingungen, d. h. ohne aktive Mitwirkung der Zeitzeugen Einfluss ausübt. Mit dem Generationenwechsel, der »für den Wandel und die Erneuerung des Gedächtnisses einer Gesellschaft«1302 bedeutend ist, wurde ebenfalls das Problem des »historischen Gedächtnisses« verdeutlicht. Es kann nämlich »unter bestimmten Bedingungen erstaunlich kurz sein.«1303 In einer Zeit, in der die letzten Zeugen sich mit ihrer »Erlebnisrealität«1304 und den Primärerinnerungen schon seit Langem nicht mehr zu Wort melden (zuletzt Mitte der 1990er Jahre, wie Klaus Naumann feststellt1305), wird die Frage nach einer angemessenen aber auch gesellschaftlich akzeptablen Gedächtnis- bzw. Gedenkkultur, die das historische Gedächtnis am Leben erhalten würde, immer häufiger gestellt. Daher stammen auch die Bemühungen unterschiedlicher Erinnerungsgruppen um die Durchsetzung von bestimmten Erinnerungen, die eine feste Positionierung in der deutschen Geschichte erfahren und an die nächsten Generationen weitergegeben werden sollen. Dabei ist eine Art Konkurrenzkampf vor allem in Hinblick auf den Opferstatus zu beobachten, der durch bestimmte Erinnerungsgruppen sowie die Erinnerungsindustrie gefördert wird. Für ihren (neuen) Kurs waren vor allem zwei Aspekte ausschlaggebend: zum einen der Abschied der Zeitzeugen-Generation, zum anderen die Wiedervereinigung Deutschlands. In diesem Zusammenhang wird nicht mehr vom Durcharbeiten der Vergangenheit im Sinne von Sigmund Freud gesprochen, das aufs engste mit eigener bzw. persönlicher Erinnerungsarbeit verbunden ist, sondern von kollektiver ›Vergangenheitsaufar-

1301 Vgl. Domansky, Elisabeth/Welzer, Harald: Die alltägliche Tradierung von Geschichte. In: Domansky, Elisabeth/Welzer, Harald (Hrsg.): Eine offene Geschichte. Zur kommunikativen Tradierung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Tübingen 1999, S. 9. 1302 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 27 f. »Eine solche öffentliche Erinnerungskultur stellt sich nach beschämenden oder traumatischen Ereignissen in der Regel erst nach einem zeitlichen Intervall von fünfzehn bis dreißig Jahren ein.« 1303 Pollack, S. 117. 1304 Bude, Heinz: Bilanz der Nachfolge, S. 10. 1305 Klaus Naumann verzeichnet, dass 1995 die Zeitzeugen das letzte Mal in der Öffentlichkeit, sprich Presseresonanz eine wesentliche Rolle gespielt haben. Vgl. Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 183.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

beitung‹, die dem Vergessen entgegensteuern soll. Es wird auch nicht mehr von der »Bewältigung« des Vergangenen gesprochen, denn: [w]as vergangen ist, kann nicht bewältigt werden. Es kann erinnert, vergessen oder verdrängt werden. Es kann gerächt, bestraft, gesühnt und bereut werden. Es kann wiedeholt werden, bewußt oder unbewußt. Es kann in seinen Folgen betroffen werden, so daß es sich auf Gegenwart oder Zukunft nicht oder nicht in bestimmter Weise oder gerade in bestimmter Weise auswirkt. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Das Vergangene ist unerreichbar und unveränderbar. Bewältigung im eigentlichen Sinn, wie man eine Aufgabe bewältigt, die zunächst vor einem steht, dann bearbeitet wird, durch die Bearbeitung ihre, Gestalt verändert und schließlich erledigt ist und als Aufgabe verschwindet, gibt es bei Vergangenem nicht. Daß in Deutschland der weder eine englische noch eine französische Entsprechung findende Begriff der Vergangenheitsbewältigung gebräuchlich geworden ist, offenbart Sehnsucht nach Unmöglichem: das Vergangene so in Ordnung zu bringen, daß seine Erinnerung nicht mehr auf der Gegenwart lastet.1306

Vielmehr haben wir, um mit Schlink zu sprechen, mit der »Bewältigung« der Vergangenheit als einem zugänglich gemachten Konstrukt des Vergangenen zu tun, das »integriert werden [muß], damit es nicht gegen das Gegenwärtige ausgespielt werden und dabei die gegenwärtige Selbstwahrnehmung und -darstellung zerstören kann.«1307 Eine Ähnliche Position vertritt Beate Niemann: Für mich ist »Vergangenheitsbewältigung« unmöglich, ein unmöglicher Begriff, da es diesen Vorgang nicht gibt. Meine und inzwischen die dritte Generation ist im günstigsten Fall dabei, sich die Vergangenheit zu erarbeiten, mehr ist nicht zu schaffen. Zu wissen, was war, kann für die Gegenwart und Zukunft helfen, anstehende Probleme anders zu lösen als meine Elterngeneration es weitgehend getan hat.1308

Noch anders erörtert ihre Auseinandersetzung Dagmar Leupold, die diese Begrifflichkeiten als »etwas Mechanisches«1309 empfindet. Sie selbst spricht in ihrem Fall von dem »Modell der Gestaltung«1310 : Etwas zur Darstellung zu bringen, das eine Partizipation möglich macht, eine Erfahrung. Ich glaube, ich habe einen sehr emphatischen Literaturbegriff, und der hat für mich durchaus auch etwas mit Offenbarung zu tun, dass man eben durch Lesen, nach dem Lesen, aber auch durch das Schreiben und nach dem Schreiben verblüfft feststellt: »Ich erkenne etwas wieder, was ich nicht gewusst habe« Über die Gestaltung – was ein sinnlicher Vorgang ist – kann ich damit umgehen, kann ich mir etwas aneignen oder kann ich als fremd erfahren. Das ist für mich qualitativ ein großer Schritt aber nicht im 1306 1307 1308 1309 1310

Schlink, S. 89. Ebd., S. 93. Interview mit Beate Niemann, S. 368. Interview mit Dagmar Leupold, S. 361. Interview mit Dagmar Leupold, S. 361.

Die Vaterbücher als Teil der Erinnerungskultur

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Sinne von Bewältigung, Abschaffung, Abarbeitung. Das ist ja noch da. Nur gibt es jetzt einen Zugang, der vorher nicht da war.1311

Während Martin Pollack sein Vaterbuch im Sinne einer »Aufarbeitung«1312 versteht, sind für Jens Jürgen Ventzki: »[w]eder »Bewältigung«, »Aufarbeitung« oder »Abarbeitung« […] Begriffe, die [er] [s]einer Arbeit zuordne[t], allein die Definition »Auseinandersetzung« trifft die Sache, da es ein Vorgang ist, der weiterhin lebt und nicht wirklich abgeschlossen ist.«1313 Dabei scheint an die Stelle der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eine öffentliche ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ zu treten, der die Gedächtnispolitik einen bestimmten Rahmen schafft, wobei sie bestimmte Vergangenheitsund Identitätskonstrukte fördert. Die neu erschienenen Texte1314 schreiben sich mit ihren Inhalten und ihrer Darstellungsweise, die eine Art Kompromiss zwischen der privaten und offiziellen Perspektive bilden, in den Diskurs der öffentlichen Gedächtnispolitik ein. Daher kann man in ihrem Falle im Gegensatz zu den Väterbüchern der 1970er und 1980er Jahre von keinem Tabu-Bruch mehr sprechen, auch wenn manche der Autoren1315 ihre Texte so einzuordnen versuchen. Sigfrid Gauch1316 erklärt die Tabu-Frage am Beispiel des Vater-Buchs von Florian Havemann, dessen Veröffentlichung für Aufregung und zahlreiche Prozesse, in denen das Buch gerichtlich verboten wurde, gesorgt hatte. Am Beispiel der Entwicklung von Publikationen der Väterliteratur macht sich der Übergang der nationalsozialistischen Vergangenheit aus dem Bereich des kommunikativen Gedächtnisses in das kulturelle bemerkbar. Die Literatur als »eine materiale Objektivation des kollektiven Gedächtnisses«1317 übernimmt hiermit »aufgrund ihres spezifischen textuellen Wirkungspotenzials vielfältige gesellschaftliche Funktionen.«1318 Sie steht in einer Wechselbeziehung mit dem öffentlichen Raum, indem sie das kollektive Gedächtnis widerspiegelt, zugleich beeinflusst und mitgestaltet. Als Gedächtnismedium bildet die Literatur einen Teil der übergreifenden Erinnerungskultur, indem sie durch »Darstellung von vergangenen Ereignissen« sowie die »Inszenierung und Reflexion der medialen

1311 1312 1313 1314 1315

Interview mit Dagmar Leupold, S. 361 f. Vgl.: Interview mit Martin Pollack, S. 341. Interview mit Jens Jürgen Ventzki, S. 390. Eine Ausnahme bildet hier der Text von Beate Niemann. Beispielsweise Ute Scheub, die um ihre Eltern zu schützen, ihnen im Text Pseudonyme gibt. Siehe: Scheub, S. 286. 1316 Siehe: Interview mit Sigfrid Gauch, S. 290. 1317 Birk, Hanne: Kulturspezifische Inszenierungen kollektiver Gedächtnismedien in autochthonen Literaturen Kanadas: Alootook Ipellies Arctic Dreams and Nightmares und Ruby Slipperjacks Weesquachak and the Lost Ones. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar, S. 217. 1318 Ebd.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

Gedächtnisbildung« »alternative Vergangenheitsversionen« kreiert.1319 Sie »macht die Funktionsweise der materialen Dimension der Kultur beobachtbar und schafft so die Voraussetzung für eine veränderte Wahrnehmung der Modalitäten kollektiver Gedächtniskonstruktionen.«1320 Genauso wie die von Friederike Eigler analysierten Familienromane vermitteln auch die Väterbücher mit ihrem Erinnerungspotenzial Familiengeschichten, »die Konstruktionsprozesse des Gedächtnisses auf unterschiedliche Weise inszenieren oder thematisieren. Damit werden sie im Sinne von Dehne zu einem »genuin literarischen Gedächtnisort.«1321 Außerdem veranschaulichen die Väterbücher hauptsächlich durch ihre Vergangenheitsrekonstruktion die enge Korrelation zwischen dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis. Im Rahmen der Vater-Spuren-Suche werden die Spuren nicht nur aus dem Rahmen des kommunikativen (inklusive dem Familiengedächtnis) sondern auch dem kulturellen Gedächtnis hervorgeholt, um sie im Zuge der Analyse und Deutung auf das kommunikative Gedächtnis wirken zu lassen. Dabei erfahren die Spuren durch die literarische Bearbeitung und Publikation der Texte sowie durch die Kanonisierung und den Eingang in die Erinnerungskultur den Übergang ins kulturelle Gedächtnis.

Die deutsche ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ Infolge der Wiedervereinigung der zwei deutschen Staaten wurde im Sinne des neuen Nationalbewusstseins eine gemeinsame deutsche Gedächtnis- sprich Identitätspolitik angestrebt: »Die bewusste Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit stellt zugleich den Bodensatz sozialer Zusammengehörigkeit dar : Über gemeinsames Erinnern entstehen kollektive Identifikationen, die den Einzelnen mit unterschiedlichen Gruppen, Familien oder Kulturen verbinden.«1322 Als identitätsrelevant erwies sich somit auch der Umgang mit dem Nationalsozialismus, da die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ in den beiden Staaten bis dato mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung verlief. Dazu zählten unter anderem der offizielle Opferdiskurs sowie die Vorstellungen von der Rolle der Juden. In Westdeutschland wurde beispielsweise den Juden offiziell als Opfer des Nationalsozialismus gedacht. In der DDR dagegen wurden sie eher als passive Opfer betrachtet. An der Spitze der Opferhierarchie war in der DDR der verfolgte kommunistische Widerstand. Die Erweiterung dieser Opfergruppe ging mit der Wiedervereinigung einher. Die einheitliche Gedächtnispolitik sollte nach der 1319 1320 1321 1322

Neumann, Birgit: Literarische Inszenierungen und Interventionen, S. 199. Ebd. Eigler, S. 25. Ferner : Dehne, S. 9. Neumann, Birgit: Literarische Inszenierungen und Interventionen, S. 199 f.

Die deutsche ›Vergangenheitsaufarbeitung‹

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Teilung in der Bundesrepublik bei allen Deutschen ein Bewusstsein der Zugehörigkeit zu ein und demselben Staat und seiner Geschichte entwickeln. Das Opfernarrativ erfüllte im wiedervereinigten Deutschland dieselbe Rolle wie im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland: Es legitimierte noch einmal den »neuen« Staat, seine demokratischen Strukturen sowie die Integration des ganzen Volkes. Symbolisch wurde die sekundäre Konsolidierung der Nation durch die Umbenennung der Neuen Wache vollzogen, die als offizielles Mahnmal der Bundesrepublik Deutschlands allen Opfern von »Krieg und Gewaltherrschaft« gewidmet wurde. Im Sinne von Dubiel1323 hatte gerade das Opfernarrativ die Anerkennung der »Mittäterschaft« der Elterngeneration ermöglicht. Die Viktimisierung der eigenen Väter hat es erträglicher gemacht. Durch die deutsche Wiedervereinigung wurde die deutsche ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus in der Öffentlichkeit wieder zum Thema, was sich ebenfalls an der zweiten Publikationswelle der Väterbücher beobachten lässt. Daher scheint es berechtigt zu sagen, wie Aleida Assmann im Hinblick auf die Erinnerung an Holocaust konstatiert, »daß dieses Ereignis mit wachsendem zeitlichen Abstand seinen ›politisch-existentiellen Bezug‹ nicht etwa verloren hat, sondern daß dieser im Gegenteil inzwischen immer markanter hervortritt.«1324 Diese Tendenz wird neben der Ablösung der Zeitzeugengeneration zusätzlich durch die Angst unterstützt, das Thema der ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus könnte aus dem öffentlichen Rahmen durch den Diskurs der DDR-›Aufarbeitung‹ verdrängt werden. Die ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur wird bereits mit der des Nationalsozialismus verglichen. Es werden z. B. in Hinblick auf die Gewalttätigkeit Parallelen und Kontinuitäten zwischen den zwei totalitären Systemen, analysiert, sowie einzelne Etappen der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ aneinander gemessen. So sind die Parallelen unübersehbar. Trotz vieler Unterschiede1325 zwischen den zwei Systemen wird bezüglich ihrer ›Aufarbeitung‹ ein komparativer, oft tendenziöser Umgang mit ihnen betrieben, der dazu beiträgt, dass die politisch bewährte Gedächtnispolitik schleunigst auf die nächste ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ angewandt wird, indem schon jetzt der Übergang des kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis gefördert wird. Es scheint, man möchte auf diese Weise die Situation der 68er Jahre vermeiden, indem man dem sogenannten »kommunikativen Beschweigen«1326 vorbeugt. Es 1323 Dubiel, S, 32. 1324 Assmann Aleida, Frevert Ute: Geschichtsvergessenheit, S. 29. 1325 Ein Beispiel: Im Falle der DDR-Aufarbeitung rückt eine national homogene Opfergruppe ins Zentrum. Dadurch gilt sie als Deutschland-internes Problem. Im Hinblick auf die NSAufarbeitung war es hauptsächlich die jüdische Öffentlichkeit die dem Versuch, einen Schlussstrich zu ziehen, immer wieder entgegenwirkte. 1326 »Was der Philosoph Hermann Lübbe 1983 anlässlich der 50. Wiederkehr der nationalsozialistischen Machtübernahme als Maßnahme ›kommunikativen Beschweigens‹ lobte,

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

erscheinen die ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der DDR-Vätergeneration. Damit wird einerseits dem Familiengedächtnis kein Raum gegeben und andererseits wird damit von den ersten juristischen Versäumnissen nach der Wiedervereinigung abgelenkt sowie die Verdienste der Opposition in der DDR unterstrichen. Sigfrid Gauch sieht in diesem Fall eine Ähnlichkeit zu denselben politischen Versäumnissen in der jungen Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre: Das Thema Drittes Reich war in der Generation meines Vaters ein Tabu-Thema gewesen. Man sprach darüber nicht, und wenn man darüber doch einmal sprach, dann tat man so, als ob man immer schon dagegen gewesen sei. Jeder kannte irgendwo einen Juden, dem man im Dritten Reich nichts getan hatte, oder dem man vielleicht einmal geholfen hatte. Jeder hat sich ein Alibi gesucht. So wie in der DDR heute. Da sehe ich Parallelen. Jeder mit SED-Vergangenheit kennt irgendeinen, den er mal früher nicht angezeigt hat und versucht also, das als Alibi zu nehmen. So war das eigentlich auch in den 50er, 60er Jahren, und mein Vater war der einzige, der sich zu dem bekannt hat, was er getan hatte; der gesagt hat, er stehe eigentlich immer noch dazu, und über die Verbrechen des Hitlerreiches sagte, das wäre gar nicht so, das könnte nicht sein, dass sie Lüge. Er hat sich selber also in dieser Beziehung etwas vorgemacht.1327

Die Frage, die sich damit aber stellt, ist, ob der Prozess der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ wirklich gesteuert werden kann oder sollte, und wenn, dann auf welche Art: komparativ, komplementär oder separat? Weiterhin wäre zu fragen, ob es möglich und günstig ist, aufgrund der vergangenen Erfahrungen bestimmte natürliche historisch-gesellschaftliche Prozesse vermeiden zu wollen. Es ist nämlich ungewiss wie die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland ohne die 68er-Bewegung verlaufen wäre. Eine eindringliche Auseinandersetzung mit der Zeit der 1960er und 1970er Jahre1328 in der Bundesrepublik steht noch aus und wird erst möglich sein, wenn die bisherige Verschlussfrist in den Archiven für diese Jahre endgültig beendet ist. Die Publikationen der Nachwendezeit beweisen, dass die literarische Ausweil es der Mehrheit des Volkes, die mit dem Nationalsozialismus verbunden gewesen sei, den Übergang in die Demokratie ermöglicht habe, stieß bei der jungen Generation in den sechziger Jahren auf Widerspruch.« Hirsch, S. 24. 1327 Aus dem Gespräch mit Sigfrid Gauch von Tiziana Galliano. In: Galliano, Tiziana: Diss. Orme paterne – La Vaterliteratur sull’ esempio del racconto Vaterspuren di Sigfrid Gauch. Turin 1990. 1328 Der Historiker Konrad Jarausch sieht die »dreifache Vergangenheitsbewältigung« als Herausforderung: »Zu der anhaltenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kam nach der Maueröffnung die kritische Bearbeitung der DDR-Vergangenheit hinzu, sowie, um die Jahrhundertwende, die Kontroverse um die Rolle der 68er Generation für die Geschichte der Bundesrepublik.« Zitiert nach: Eigler, S. 10. Vgl.: Jarausch, Konrad: »Zeitgeschichte und Erinnerung, Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?«. In: Jarausch, Konrad/Sabrow, Martin (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt am Main 2002, S. 9.

Die deutsche ›Vergangenheitsaufarbeitung‹

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einandersetzung mit der Problematik der nationalsozialistischen Vergangenheit noch längst nicht abgeschlossen ist. Diese ist nach wie vor ein explosives Thema sowie gleichzeitig ein Orientierungspunkt in der politischen Öffentlichkeit. Darüber hinaus werden in politischen Debatten Analogien zum Dritten Reich verwendet bzw. hochstilisiert. Diese Instrumentalisierung signalisiert einerseits Missstände im politisch-gesellschaftlichen Bereich und andererseits führt diese populistische Dramatisierung der aktuellen Politik zur Banalisierung des Nationalsozialismus. Als Beispiele können hier Äußerungen von Friedrich Buch oder Roland Koch angeführt werden.1329 Der damalige hessische Ministerpräsident machte 2002 in der Vermögenssteuerdebatte eine Anspielung auf den Judenstern.1330 In ähnlichem Stil verglich in den 1990er Jahren der CDU-Abgeordnete Gauweiler die Opferbilanz des Zweiten Weltkrieges mit der der Zigarettenraucher und die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin einen amtierenden amerikanischen Präsidenten mit Hitler.1331 Die nationalsozialistische Erfahrung bleibt stets ein Maßstab für rechtsradikales und populistisches Denken, wovon beispielsweise die Debatten 2009 um die öffentliche Verurteilung von revisionistischen Thesen der CDU-Politikerin und VertriebenenChefin Erika Steinbach zeugen. Sowohl in den Väterbüchern als auch der breiten Öffentlichkeit bleibt das Thema der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ stets präsent. Trotz aller Unzulänglichkeiten und Kritikpunkte an der deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ und an der Gedächtnispolitik muss unterstrichen werden, dass die Bundesrepublik eines der wenigen Länder ist, das sich an die Schattenseiten der eigenen Vergangenheit im Sinne von Meier immer wieder heranwagt: Die Frage, wer wir sind, und die, woher wir kommen, sind aufs engste, und zwar gegenstrebig miteinander verbunden: denn nicht nur bestimmt, woher wir kommen, weitgehend darüber, wer wir sind. Vielmehr bestimmt auch, wer wir sind, darüber, woher wir kommen. Man sucht sich doch seine Vergangenheit auch aus. Nur gibt es dabei keine unbedingt freie Wahl. Einiges aus der Vergangenheit hat einfach seine Folgen, ob die Späteren es nun wollen oder nicht. Seine Folgen auch im allgemeinen Bewußtsein. Und so, wie die Bundesrepublik antrat, blieb ihr offenbar gar nichts anderes übrig, als dieses Erbe an Geschichtserinnerung wie eine innerliche Hypothek zu übernehmen.1332

Man kann in Deutschland immer noch versuchen dem Thema des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen auszuweichen, es zu ignorieren, im

1329 1330 1331 1332

Vgl. Dubiel, S. 24. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Meier, S. 16.

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Die ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ am Beispiel der Vater-Spuren-Suche

schlimmsten Fall zu relativieren – dies ist eine Handlungsmöglichkeit in einer Demokratie – aber man kann es definitiv nicht mehr leugnen, denn: [w]er in unseren Tagen zu diesem Land in seiner Tragik und mit seiner ganzen Geschichte wirklich gehören will, wer sein Deutschsein wirklich ernst und aufrichtig versteht, der muß sagen können: Wir haben den Rassismus zum Völkermord gemacht; wir haben den Holocaust begangen; wir haben den Vernichtungskrieg im Osten geführt. Diese Verbrechen sind, um mit Walser zu sprechen, deswegen auch unsere persönliche Schande. Nicht »Deutschland,« die abstrakte Nation; nicht das »Deutsche Reich,« die staatliche Organisation; nicht die anderen Deutschen – nein, wir selbst sind es gewesen. [ … ] Die deutsche Identität [ … ] wird heute eben durch nichts deutlicher definiert als durch unsere gemeinsame Abkunft aus dieser schändlichen Zeit.1333

1333 Klaus von Dohnanyi, zitiert nach: Rüsen, Jörn: Holocaust, Erinnerung, Identität. Drei Formen generationeller Praktiken des Erinnerns. In: Welzer, Harald (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 257. Ferner: Dohnanyi, Klaus von : Eine Friedensrede. Martin Walsers notwendige Klage. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 14. 11. 1998, S. 33.

Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Interview mit Ruth Rehmann Dominika Borowicz: Die Väterbücher werden durchgehend seit den 1970er Jahren publiziert. Worauf beruht das Phänomen der Väterliteratur? Ruth Rehmann: Ich glaube, dass das Schweigen der Väter und Lehrer über die Nazizeit ihre inzwischen öffentlich aufgeklärten Kinder und Schüler gequält, empört und zur Auseinandersetzung gereizt hat, die, wenn sie literarisch stattfand, zu dieser Zeit einen aufnahmebereiten Markt fand. Ich selbst bin bei Schullesungen oft auf Schüler gestoßen, die sich bitter beklagten, dass sie mit ihren Vätern nicht über »diese Zeit« reden konnten. Borowicz: Sind Ihnen andere Väterbücher aus den 1970er/80er Jahren bekannt? Hatten andere Vätertexte auf Ihre Auseinandersetzung mit dem Vater Einfluss gehabt? Rehmann: Ich selbst habe nur wenige dieser Bücher gelesen (Titel vergessen) weil, ich mich aus politischen Quellen und Sachliteratur informiert habe und die Empörung mir manchmal ungerecht und kindisch vorkam. Mit meinem Vater war keine Auseinandersetzung möglich, weil er schon 1940 gestorben ist. Es gab auch keinen Grund. Ich habe immer gewusst, dass er Hitler und »die Bewegung« nicht mochte und mit seinem Spott nicht hinter dem Berg hielt. Ihm und seiner Autorität als Pfarrer habe ich es zu verdanken, dass ich ungeschoren an den diversen Nazi-Jugendorganisationen vorbeikam, zunächst als angeblich kränkliches, dann als angehendes Geigentalent. Ein Widerstandskämpfer war er sicher nicht, eher ein altmodischer Patriot (1875 geb.) der nach dem Versailler Vertrag mit der Politik abgeschlossen hatte und sich ganz auf seine Gemeinde konzentrierte, deren Zerfall in Deutsche Christen und Bekenntnis-Christen ihn tief entmutigt und schließlich krank gemacht hat. Sein politisches Denken war im 19. Jahrhundert verhaftet. Er wollte keinen Führer sondern einen Hohen-

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

zollern-Kaiser, möglichst einen wie Wilhelm I. Mein Vaterbuch war eigentlich keine Auseinandersetzung sondern ein Versuch, ihn zu verstehen und zu erklären, zunächst meinem ältesten Sohn, dessen Fragen mich – genau wie im Buch geschrieben – zum Nachdenken und Schreiben angeregt hat. Borowicz: Haben Sie zu den neusten Väterbüchern, die nach der Jahrtausendwende erschienen sind einen (emotionalen) Bezug? Verfolgen Sie die neuen Publikationen? Rehmann: Neuere Väterliteratur habe ich nicht gelesen, kann also die Frage nicht beantworten. Borowicz: Welchem literarischen Genre würden Sie Ihren Text zuschreiben? – Ist der Autor mit der Erzählfigur gleichzusetzen, oder würden Sie doch eher von einer literarischen Bearbeitung mit einem autobiographischen Kern sprechen? Rehmann: Mein Material war die eigene Erinnerung, Gespräche mit Zeitgenossen und ehemaligen Gemeindegliedern, kirchenhistorische Quellen und Forschungen. In meinem Buch sind Autor und Erzählerfigur identisch. Borowicz: Fand Ihre Auseinandersetzung im Geist des Aufstands gegen die Väter oder der (sexuellen) Emanzipation der Frau statt? Während die älteren Texte in einem stärker anklagenden Ton gehalten sind, versuchen die neusten Publikationen einen intergenerationellen Dialog durch das Verstehenlernen aufzubauen. Wie beurteilen Sie Ihren eigenen Text in dieser Hinsicht? Rehmann: Weder der Zorn auf Vater noch Frauen-Emanzipation spielten eine Rolle, obwohl ich beides in Ordnung finde. Allerdings meine ich, dass Verstehen und Erklären auf die Dauer fruchtbarer ist, als Niedermachen. (Aber manchmal ist das Letztere einfach nötig.) Borowicz: Haben Ihren Text irgendwelche politisch-gesellschaftliche Debatten oder Ereignisse beeinflusst? Welche waren besonders ausschlaggebend? Rehmann: Zur Zeit dieser Arbeit war ich im intensiven Gespräch mit meinem Sohn, der bereits als Schüler in die kommunistische Partei eintrat, während ich in diversen Protestgruppen arbeitete (Frieden, Anti-Atom, GRÜNE, Attac etc). Mein Vaterbuch hat vor allem in protestantischen Kreisen große Beachtung gefunden, vielleicht auch wegen der positiven Besprechung von Gollwitzer.

Interview mit Ruth Rehmann

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Borowicz: Wie sah Ihre Vater-Spuren-Suche von der Vorgehensweise aus? Waren Sie in Ihrer Suche konsequent oder sind Sie doch vor Manchem zurückgeschreckt? Gab es Fakten, von denen Sie besser nichts wissen wollten und sie auch für sich selbst ausgelassen haben? Rehmann: Die persönliche Erinnerung hat sich beim Schreiben nicht verändert, wohl aber Zusammenhang und Hintergrund durch die historischen Studien. So konnte das Verstehen tiefer und umfassender werden. Ausschlaggebend für die Darstellung der Person war die eigene Erinnerung, ergänzt durch Gespräche mit Zeitgenossen (der rote Lehrer). Was den historischen Hintergrund betrifft, habe ich im ev.theol. Seminar der Universität München gearbeitet (Abtg- Kirchenkrampf) Nichts aus dem beim Studium erworbenen Wissen habe ich aus Scheu oder Scham ausgelassen. Es hat keine nachträglichen Änderungen gegeben. Borowicz: Hatte die literarische Auseinandersetzung eine therapeutische Bedeutung für Sie? Rehmann: Eine therapeutische Wirkung dieser Arbeit habe ich nicht festgestellt. Borowicz: Was würden Sie in Ihrem Fall als väterliches Erbe bezeichnen? Was hat Ihnen der Vater für Ihr Leben mitgegeben? Rehmann: Ich weiß, dass ich meinem Vater in Manchem ähnlich bin, und das gefällt mir. Das Wichtigste, was er mir mitgegeben hat, ist eine Art Urvertrauen, von dem ich immer noch zehre. Borowicz: Glauben Sie es bestehen noch immer Tabus auf der öffentlichen Ebene zum Thema Nationalsozialismus? Rehmann: Ich bin sicher, dass es immer noch oder wieder hinsichtlich dieser Zeit Tabus gibt, vor allem bei alten und jungen politischen Rechten. Borowicz: Sie haben gesucht. Was haben Sie gefunden? Rehmann: Was mir das Schreiben dieses Buches gebracht hat? Ich wollte meinen Vater verstehen und ich habe ihn verstanden. Borowicz: Wird das Thema der Vater-Spuren-Suche für Sie persönlich und in der Öffentlichkeit je abgeschlossen sein?

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Rehmann: Die Spurensuche bezüglich der Väter wird sicherlich weitergehen, wenn auch vielleicht nicht in dieser dringlichen Form, die von den Verbrechen der Nazizeit evoziert ist. Für mich als Autorin ist das Vater-Thema abgeschlossen. In meinem Wesen spüre ich Ähnlichkeiten mit meinem Vater, was mir durchaus nicht unangenehm ist ich habe ihn sehr lieb gehabt und er mich auch. Schreiben werde ich nicht mehr über ihn. Das Thema ist abgeschlossen. Längst bin ich selbst Mutter und Großmutter mit Kindern und Enkeln. Borowicz: In welchem Kontext sehen Sie die 68er Bewegung? Rehmann: Die 68er Bewegung wurzelt sicher in der Empörung über Naziväter, hat sich aber im Widerstand gegen die Nachkriegspolitik (Westbindung, Remilitarisierung, Rüstung, Kalter Krieg, kapitalistische Wirtschaftsformen) politisch geformt, radikalisiert, leider auch in einzelnen Mitgliedern kriminalisiert. Ihre Reste sind in politischen Gruppen und Initiativen wie GRÜNE, Linke, Attac, NGOs u. a.m. zu finden. Borowicz: Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Gedächtnispolitik? Rehmann: Die offizielle Gedächtnispflege ist in manchen Fällen lehrreich, erschütternd, aufrüttelnd, wirkt aber auch manchmal künstlich und wird politisch missbraucht. Borowicz: Sehen sie noch Forschungslücken zum Thema Nationalsozialismus? Rehmann: Vielleicht gibt es noch Lücken in der Naziforschung, das kann ich nicht beurteilen. Wichtiger ist es m. E. Nazi-Ideen in der Gegenwart zu erkennen und durch geduldige Erklärung zu bekämpfen. Terrorismus ist m. E. die Folge von ungerechten Verhältnissen. Man bekämpft ihn am nachhaltigsten, indem man sich für gerechte Verhältnisse einsetzt. Borowicz: Sehen Sie Parallelen zur ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur? Rehmann: Parallelen zur ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur sehe ich nicht, finde aber auch, dass man diese beiden Herrschaftsformen nicht in einen Topf werfen sollte. Borowicz: Vielen Dank für das Interview. Trostberg, 21. 05. 2010

Interview mit Sigfrid Gauch

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Interview mit Sigfrid Gauch Dominika Borowicz: Warum haben Sie gerade diese literarische Form (Erzählung) der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Vaters ausgewählt? Sigfrid Gauch: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mehrere Gedichtbände geschrieben, die ziemlich bekannt wurden; mein Verleger meinte, ich müsse jetzt unbedingt einen Prosaband vorlegen – ich sagte ihm, dass meine erste Prosaarbeit – es gab bereits einige Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien – ein Buch über meinen Vater sein würde. Von Anfang an habe ich mich mit ihm in der literarischen Form der Erzählung auseinandergesetzt – erstmals in einem größeren Text »Teutsche heute«, der 1962 in der Zeitschrift »Twen« erschien (damals war ich 17), den ich ihm übrigens ebenso zu lesen gab wie er bei der Lesung der Erzählung »Pfälzische Kindheit« auf einer größeren Veranstaltung als Zuhörer zugegen war. Beide berichten aus der Perspektive eines Sohnes über den Vater, der auch nach dem Krieg noch ein überzeugter Nazi blieb und das auch in der Mitarbeit in rechtsextremen Parteien und Publikationen in entsprechenden Medien deutlich machte. Es waren bereits Vorarbeiten zu den »Vaterspuren«, und ich wusste, dass dies die richtige literarische Form war für die mir wichtige öffentliche Auseinandersetzung mit dem Vater und seiner Generation der Täter. Borowicz: Hat sich Ihrer Meinung nach die Art und der »Inhalt« der deutschen Geschichtsaufarbeitung im Laufe der Zeit in Bezug auf die Vater-Spuren-Suche in der deutschen Öffentlichkeit verändert? Gauch: Ja. Angestoßen natürlich von der »Wende«, der Öffnung vieler bis dahin durch den »Eisernen Vorhang« versperrter Archive, auch in Moskau. Vor allem aber hat sich die Wahrnehmung auch durch die »Stasi«-Debatte verändert, durch die entsprechende bis heute nicht stattfindende Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit. Die Parallelen sind unübersehbar : alle waren auch in der DDR Opfer, niemand war Täter, die Täter schweigen bis heute, schlagen die Türen ihrer Plattenbau-Wohnungen zu, wenn eines der Opfer davor steht und über die Vergangenheit reden will. Die DDR ist nicht mit dem Nazi-Regime vergleichbar, aber : was ist mit den Tausenden, die in der DDR misshandelt, ermordet, zum Tode verurteilt, ja, selbst in Konzentrationslager wie Buchenwald verschleppt wurden, die ja weiterhin in Betrieb waren? Hier wird es eines Tages eine parallele literarische Spurensuche nach den Tätervätern (und Tätermüttern) geben. Verändert hat sich aber die öffentliche Wahrnehmung – und damit auch die Wahrnehmung der Täter-Kinder – vor allem durch die Medien. Als ich Abitur machte und studierte, waren seit dem Ende des Hitler-Reiches erst

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

20 Jahre vergangen – so viel wie heute seit dem Untergang der DDR. Sie sehen also, wie präsent damals noch alles war. Die Täter lebten alle noch, waren in neuen Ämtern mit neuen Würden, waren unsere Lehrer, unsere Professoren. Als mein Vaterspuren-Buch 1979 erschien, es war das erste der Bücher über Väter, die eine aktive politische Rolle im 3. Reich gespielt haben, waren immer noch viele von ihnen berufstätig. Jetzt sind alle tot. Das verändert natürlich die Perspektive: sie wird von der persönlichen emotionalen Auseinandersetzung, in die auch die Trauerarbeit einfließt, auf eine objektivere oder historischere Ebene gehoben. Wobei es allerdings immer noch die Ausbrüche gibt, wie bei Monika Göth, der Tochter des KZ-Kommandanten von Auschwitz, oder seinerzeit bei Niklas Frank, der seinem Vater-Buch ein Mutter-Buch nachfolgen ließ… Aber vergessen Sie auch nicht: mit der amerikanischen »Holocaust«-Serie – im Januar 1979 im deutschen Fernsehen, zufälligerweise zeitgleich mit der Abfassung der »Vaterspuren«, begann ja eigentlich erst die wirkliche Auseinandersetzung in den Medien. Bis dahin dominierten im Kino doch die Kriegsfilme, die ich mir mit meinem Vater als Schüler ansehen musste, wie »Einer kam durch« mit Hardy Krüger oder »Hunde, wollt ihr ewig leben« über die sich aufopfernden deutschen Soldaten im Kessel von Stalingrad, da gab es nur gute deutsche Helden, keine Mörder… Borowicz: Viele Autoren der nach der Millenniumswende erschienenen Väterbücher glauben mit ihrem Text einen Beitrag zur ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ sowie eine Art »Tabu-Bruch« geleistet zu haben. Glauben Sie, dass es wirklich der Fall ist? Wenn ja, in welcher Hinsicht? Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach die neuen Publikationen von den Texten der 1970er und 1980er Jahre? Gauch: Ein Beispiel: eine junge Autorin, geboren 1978, sagte mir neulich: Mein Großvater war auch ein sehr hohes Tier bei den Nazis; ich würde gerne über ihn ein Buch schreiben, aber meine Mutter sagte: nicht so lange ich lebe. Ein weiteres Beispiel: Arnfrid Astel, 1933 geboren, lange Jahre Literaturchef beim Saarländischen Rundfunk und bekannter linker Dichter, der 1979 sofort meinen »Vaterspuren« eine ausführliche Sendezeit im Rundfunk einräumte und den ich seit vielen Jahren gut kenne und bei PEN-Tagungen immer wieder treffe, hat mir nie gesagt, wer sein Vater war. Erst als meine Schwester ein Buch seines Vaters mit Widmung an meinen Vater fand und ihm schenkte, wurde klar : es ist der SSRassehygieniker. Arnfrid Astel hat es nie geschafft, über ihn zu reden, geschweige denn zu schreiben. Was den Tabubruch betrifft: Denken Sie doch nur an das Vater-Buch von Florian Havemann über seinen Vater Robert Havemann, die Aufregung, die Prozesse, in denen das Buch gerichtlich verboten wurde – es ist bis jetzt das einzige Vater-Buch über die DDR-Zeit und damit auch in der Reaktion der Öffentlichkeit exemplarisch für den Umgang mit Tabubrüchen! In

Interview mit Sigfrid Gauch

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den neueren Väter-Büchern zur NS-Vergangenheit sehe ich diesen »Tabubruch« dagegen nicht mehr. Borowicz: Haben Sie zu den neusten Väterbüchern einen (emotionalen) Bezug? Verfolgen Sie die neuen Erscheinungen? Gauch: Nein, für mich, der ich seit 30 Jahren zu Lesungen und Diskussionen aus »Vaterspuren« eingeladen werde, weckt dieses Thema keine Emotionen mehr. Für mich persönlich war der »Gang« in die Öffentlichkeit, die Auseinandersetzung in vielen hundert Lesungen zunächst tatsächlich Katharsis und auch Bestätigung, später dagegen eher pädagogische Pflichtübung. Borowicz: Wie kommt es, dass viele Autoren der Vater-Spuren-Suche (z. B. Monika Jetter, Uwe Timm, Martin Pollack), die Ihrer Generation angehören, erst jetzt publizieren? (Abgesehen von der Tatsache, dass der Zugang zu Archiven erst seit Kurzem möglich ist) Gauch: Wieder einmal muss ich auf die DDR zurückkommen: Meine Generation ist jetzt in dem Alter, in dem sie ihre eigenen Fehler und Irrtümer bereits begangen hat, in dem sie zurückblicken kann auf ihre eigenen gelebten, ungelebten und untergegangenen Utopien, auf ihren Traum von der Verwirklichung einer besseren Welt durch z. B. den Sozialismus, die gut gemeinte Absicht, das Gegenteil von dem zu machen, was unsere Väter gemacht haben – und hat damit jetzt nach der Jahrhundertwende die Gelegenheit, zurückzuschauen und zu sehen, ob sie es besser gemacht hat. Interessieren sich unsere Kinder, die ja heute schon erwachsen sind und im Beruf stehen, für unsere eigene Geschichte? Nein, für sie ist das Gespräch über unsere 68er Zeit doch so langweilig wie damals für uns, wenn die Väter über ihre Kriegserlebnisse sprachen. Wer heute aber über diese (Nazi-)Zeit schreibt wie Uwe Timm, hat eine doppelte Perspektive: die der Generation, über die man schreibt, und die eigene (68er) als bereits eingetretene Vergangenheit. Ich stand 1979 noch am Beginn meiner beruflichen Laufbahn, war überzeugt, noch alle Chancen im Leben zu haben, alles besser machen zu können. Ich hatte seine Vergangenheit und meine Zukunft, und in dieser Situation schrieb ich »Vaterspuren« – für mich und für viele Leserinnen und Leser damit auch eine Befreiung von den Tabus der Vergangenheit und eine Option auf die Zukunft. Borowicz: War das Jahr 2005 (in der Zeitspanne 2003 bis 2005 wurden mehrere Väterbücher publiziert) für die Erscheinung der erweiterten Ausgabe Ihres Buches bewusst gewählt worden oder hing das Datum nur mit der Tatsache zusammen, dass Ihnen seit 2004 manche Texte erst zugänglich wurden?

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Gauch: Es waren eher zwei Zufälle: zum einen trat der Verlag auf mich zu, weil die 5. Auflage vergriffen sei und eine neue gedruckt werden müsse, zum anderen erhielt ich da erst von meiner Schwester die dicken Schreibhefte mit den handschriftlichen Erinnerungen des Vaters, die ihr beim Auflösen der Wohnung meiner Mutter, die jetzt, mit 83 Jahren (sie ist 27 Jahre jünger als mein Vater) in einem Seniorenheim lebt (Nachtrag: sie ist im April 2011 verstorben), in die Hände fielen. Andererseits kam natürlich die Tatsache hinzu, dass das Buch nach wie vor gekauft wird – erschien es doch auch 2001 in Israel in hebräischer Übersetzung und 2002 in den USA in englischer Übersetzung. Das Thema war also wieder einmal aktuell geworden. Borowicz: Die »Aktualisierung« Ihres Buches wirft die Frage auf, ob das Thema der Vater-Spuren-Suche für Sie persönlich und in der Öffentlichkeit je abgeschlossen sein wird? Gauch: Es gab seit 1979 Jahre, in denen sich niemand für das Thema interessierte, dann wieder ging es durch alle Feuilletons – man merkte dies auch am Verkauf meines Buches. Und dass die 5. Auflage 2005 vergriffen war, hing natürlich mit dem neu erwachten Interesse an den Vaterbüchern zusammen. Ich fühle mich verpflichtet, nach wie vor meinen Teil dazu beizutragen, dass dieses Maß von Schuld, das diese Generation Deutschlands auf sich geladen hat, im Bewusstsein bleibt. Für mich hat das Thema heute vor allem einen pädagogischen Aspekt, einen aufklärerischen. Es ist ja nicht mein einziges Thema, ich habe nicht nur ein Buch veröffentlicht, sondern im Abstand von zehn Jahren zwei Romane, an einem weiteren arbeite ich derzeit. Hinzu kommen etliche Gedichtbände, die aus meiner Dissertation hervorgegangene Monographie über einen jakobineschen Dichter aus dem Freundeskreis Hölderlins, zwei Dutzend herausgegebene Bücher und vieles Andere. Aber es wird fraglos mein Thema bleiben, solange die Öffentlichkeit dies erwartet. Wenn Sie aber in Google Search zum Beispiel nach »Vaterspuren« schauen, dann finden Sie zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen in vielen Sprachen in Europa und den U.S.A., die sich dieses Themas nach wie vor annehmen. Borowicz: Durch das Zufügen von Dokumenten in der erweiterten Ausgabe wird auch in Ihrer Vater-Spuren-Suche (wie im Falle der neusten Erscheinungen) die Tendenz zum Authentischen sichtbar. Ist das Literarische die richtige Form für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Gauch: In der Neuausgabe habe ich, wie in den früheren Auflagen auch schon, die Dokumente stets literarisch bearbeitet. Die Gespräche des Sohnes mit seinem Vater im Caf¦ in den ersten Auflagen zum Beispiel, in denen der Vater über

Interview mit Sigfrid Gauch

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seine NS-»Kampfzeit« spricht, beruhen auf dessen Erinnerungen an diese Zeit, die er 1933 (»Zehn Jahre danach«) in Zeitungen publizierte. Stilistisch bearbeitet, gekürzt, pointiert sind auch die in der Neuausgabe erstmals veröffentlichten Erinnerungen an seine Jugend, Internatszeit und den Ersten Weltkrieg samt Gefangenschaft. Da aber immer wieder Forscher in meine Unterlagen Einblick nehmen wollen, da wohl nicht viele Dokumente in Privatbesitz erhalten und zugänglich sind, habe ich parallel dazu 2010 einen Dokumentationsband herausgegeben. Diese geplante Dokumentation zeigt, wie Vieles in den »Vaterspuren« auf Fakten beruht. Mein Vater, der, wie gesagt, durch »Teutsche heute« und »Pfälzische Kindheit« (und zahlreiche Gedichtanspielungen) wusste, dass dies einmal mein Thema sein wird, übergab mir ein halbes Jahr vor seinem Tod diese Unterlagen mit den Worten: »Falls du einmal etwas über mich schreiben willst.« Von diesem Zeitpunkt an habe ich mir auch Notizen gemacht, Gesprächsprotokolle usw. Mir war aber schon damals klar, dass die Voraussetzung für das Entstehen dieses Buches die Erfahrung sein würde, wie ich mit seinem Tod umgehe, bevor ich mich thematisch mit seinem Leben auseinandersetze. Man darf nicht vergessen: mein Vater war 46 Jahre älter als ich. Als ich 1945 geboren wurde, war seine Karriere schon längst beendet. Schwere Verwundungen aus beiden Weltkriegen, zuletzt noch wenige Tage vor meiner Geburt, ließen ihn nur noch wenige Jahre praktizieren. Doch sein Publizieren ging unverändert weiter, neben zwei Büchern 1970 und 1971 noch ungezählte Artikel. Nein, ich denke, beides wird notwendig bleiben: die wissenschaftliche Auseinandersetzung ebenso wie die literarische, zusammen erreichen beide doch ein Mehrfaches an Leserinnen und Lesern. Denken Sie an Littells »Wohlgesinnte« – die literarische Form wird immer bleiben… Borowicz: Bedeutet die Tendenz zum Authentischen auch gleichzeitig die Bekennung zum Autobiographischen bzw. Faktischen und Abgrenzung vom Fiktionalen? Gauch: Wie im richtigen Leben gibt es auch zwischen den Buchdeckeln alles Denkbare und Undenkbare. Littells »Wohlgesinnte« sind ebenso wenig autobiografisch wie Thor Kunkels völlig verkannte und zu Unrecht (weil noch vor Littell erschienen) geschmähte »Endstufe«. Und was ist mit dem Vaterbuch von Richard von Schirach über den »Reichsjugendführer« Baldur von Schirach? Er beschreibt den Vater, den er von Briefen und von Besuchen im Spandauer Gefängnis kennt; aber er vermeidet es, über den entlassenen Vater zu schreiben – warum starb dieser völlig vereinsamt an der Mosel in einem armseligen Zimmer? Er deutet an, dass alte NS-Netzwerke, die noch bestanden haben (in die mein Vater auch eingebunden war) sich um ihn gekümmert haben – er lässt diese letzte Phase im Leben seines Vaters fast völlig aus. Ich habe das Buch nur gelesen,

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

weil ich von einer Zeitung gebeten wurde, es zu rezensieren…Aber die Resonanz ist deutlich, z. B. in der ZEIT: Das Publikum bei der Lesung reagiert erstaunt bis empört. Eine Frau macht ihrem Unmut Luft: »Meinen Sie, dass Ihr Vater zu Unrecht gesessen hat?« Eine zweite setzt nach: »Sie sind distanzlos, das kann ich mir nicht anhören.« Eine dritte reklamiert dagegen das Recht der Nachgeborenen, ihre Wunden zu lecken. Der Mann auf dem Podium wirkt ratlos. Der Widerstreit, den er an diesem Abend entfesselt, offenbart die ganze Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft. Die einen sehnen sich nach Versöhnung mit der Geschichte. Die anderen fordern von den Nachfahren der NS-Täter vor allem eines: Anklage, Abrechnung, Absage. (http://www.zeit.de/2005/46/P-Himmler-TAB) Dann gibt es natürlich die Täter-Kinder, die nicht über sich schreiben (was wir ja eigentlich tun: indem wir über unsere Väter schreiben, suchen wir nach uns und unserem Stellenwert für uns und für die anderen), sondern wie der Sohn von Rudolf Heß ausschließlich über den immer noch geliebten Vater – das sind dann Helden-Biografien, die aber außerhalb der rechten Szene nicht registriert werden. Also: es ist oft nur eine Sache der Wahrnehmung, welche Tendenz man als derzeit aktuell ansieht – und dies hängt weitgehend auch davon ab, wie die Medien ein Thema aufgreifen und wieder fallen lassen. Borowicz: Wie sah Ihre Vater-Spuren-Suche von der Vorgehensweise aus? Waren Sie in Ihrer Suche konsequent oder sind Sie doch vor Manchem zurückgeschreckt? Gab es Fakten, von denen Sie besser nichts wissen wollten und sie auch für sich selbst ausgelassen haben? Wie gingen Sie mit den Lücken in der Rekonstruktionsphase der Lebensgeschichte Ihres Vaters um? Wie habe Sie die bewältigt? Gauch: Vieles davon habe ich schon beantwortet: die mir überlassenen Dokumente, die Artikel / Erinnerungen vor und nach 1945, meine Gedächtnisprotokolle. Inzwischen gibt es eigentlich keine biografischen Lücken mehr. Festzuhalten bleibt: Mein Vater hat aus seinen Überzeugungen, seinen Ämtern im 3. Reich, seiner Tätigkeit in der rechten Szene in der Nachkriegszeit nie einen Hehl gemacht. Es gab bei meiner »Spurensuche« immer wieder Überraschungen, aber keine, die sein Bild, seine Person in Frage gestellt hätten, sondern stets solche, die neue Facetten zum bekannten Bild hinzufügen konnten. Im genannten Dokumentenband »Fundsachen« (2010) werde ich eine ziemlich lückenlose Chronologie seines Lebens und seiner Tätigkeit darstellen können. Was mir im Kontakt mit einigen Forschern, die mein Archiv durchgearbeitet haben, an Einschätzungen neu war, bezieht sich auf eine Neubewertung der kulturpolitischen Tätigkeit meines Vaters bei Darr¦ und Himmler in den Jahren 1933 – 1935, vor allem ihrer (auch internationalen diplomatischen) Folgen. Doch das ändert nichts an dem, was in den »Vaterspuren« steht, dort aber habe ich es eher

Interview mit Hans Weiss

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intuitiv richtig eingeordnet, jetzt kann ich es belegen. Er war stets nur ein »Schreibtischtäter« gewesen, wie ihn auch der Ankläger im Eichmann-Prozess sah, »Täter« im Sinne des Verbrechens an Personen war er nie, im 2. Weltkrieg war er als Luftwaffen-Oberfeldarzt im Krieg, und die Luftwaffe war an Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht beteiligt. Mein Vater auch nie, nur in Wort und Schrift. Worüber ich nichts weiß, sind die Kontakte zu und in den Geheimbünden um die Ariosophen, auch die NS-Netzwerke nach dem Krieg hat er nicht preisgegeben: Geheimes hat er geheim gehalten, meine Schwester und ich erinnern uns noch daran, wie er Briefe in winzig kleine Fetzen gerissen und den WC hinab gespült hat. Zurückgeschreckt bin ich in der literarischen Darstellung vor nichts, was das politische Leben meines Vaters betraf. Über das private bin ich in der 6. Auflage schon deutlicher als 1979 geworden (damals hatte ich das ganz weggelassen, bis der Verleger mich bat, dazu ein Kapitel »Vater und die Frauen« einzuschieben). Aber auch hier habe ich über manches Familiäre, Private nicht gesprochen, das hole ich in meinem Roman »Schattenbilder« über das Leben meiner Mutter nach. Borowicz: Vielen Dank für das Interview Berlin, 02. 07. 2009

Interview mit Hans Weiss Dominika Borowicz: Die Väterbücher werden durchgehend seit den 1970er Jahren publiziert. Worauf beruht das Phänomen der Väterliteratur? Hans Weiss: Ich hab mich mit Vaterliteratur überhaupt nicht beschäftigt. Wie Sie am Wikipedia-Eintrag zu meiner Person sehen können, habe ich ein sehr weites Spektrum an Themen und formalen Gestaltungsmöglichkeiten publiziert. Ich mache immer das, was mich interessiert. So war das auch bei meinem Vaterbuch. Borowicz: Sind Ihnen andere Väterbücher, z. B. aus den 1970er/1980er Jahren bekannt? Hatten andere Väterbücher auf Ihr Schreiben/auf die Auseinandersetzung mit dem Vater Einfluss gehabt? Weiss: Nein! Andere Vaterbücher hatten überhaupt keinen Einfluss. Ich habe lediglich aus Anlass einer Diskussion zum Thema Vaterbuch – nach der Fertigstellung meines Buches – das Peter Henisch- Buch »Die kleine Figur meines Vaters« gelesen.

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Borowicz: Sehen Sie Unterschiede zwischen den Publikationen der 1970er/1980er und den Vätertexten, die nach der Jahrtausendwende erschienen sind? Haben sich Ihrer Meinung nach, die Art und der »Inhalt« der deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ im Laufe der Zeit verändert? Weiss: Dazu kann ich Ihnen leider keine Antwort geben, weil ich das nicht verfolgt habe. Borowicz: Warum haben Sie diese Art der Auseinandersetzung mit dem Vater und seiner Vergangenheit gewählt? (Ihr Text bietet u. a. eine NS-Auseinandersetzung auf der regionalen Ebene eines Dorfes sowie rechnet mit der ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ in Österreich in den 1970er/1980er Jahren auf der politischen Ebene ab.) Weiss: Beim Schreiben des Buches habe ich drei oder vier Anläufe genommen. Ursprünglich wollte ich nur eine redigierte Version des Tagebuchs veröffentlichen und mit einem einleitenden Essay über die Entstehung des Tagesbuchs, über die Person meines Vaters, über die Nazizeit und über die Situation im Ort Hittisau voranstellen. Ich selbst wollte mich als Person völlig heraus halten. Dabei habe ich gemerkt, dass ich eine ganze Reihe weiterer interessanter Materialien zur Dorfgeschichte und zur Familiengeschichte Verfügung habe. Die Frage war dann: Wie kann ich das alles in eine formale Form bringen, dass es einheitlich wirkt und nicht zerstückelt, neben einander gestellt. Irgendwann kam der Punkt, wo ich beschlossen habe, dass ich selbst als Person auch in dem Buch vorkomme, und mein Sohn und meine ganze Familie. Ab diesem Zeitpunkt war es für mich ganz einfach, den Text zu schreiben, innerhalb von drei Monaten. Mich hat es nie interessiert, große theoretische Texte zu schreiben, ich bin in meiner Arbeit immer sehr konkret, sehr nahe an konkreten Fragen, an realen Personen, an realen Geschichten. – Das Tagebuch meines Vaters war ja etwas sehr Persönliches und da lag es nahe, die persönliche Umgebung meines Vaters zu beschreiben. Und weil ich selbst irgendwann auch ins Spiel kam, habe ich halt Vorfälle und Situationen beschrieben, die mich ganz persönlich betroffen haben: mein Militärzeit, meine politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit meiner Dissertation. Borowicz: Wie würden Sie Ihren Text gattungsmäßig definieren? (Ihr Text besteht aus mehreren Bestandteilen: Analyse des Tagebuchs Ihres Vaters, Geschichte des Dorfes in der NS-Zeit, Recherche zur Krankengeschichte der Großmutter) Ist der Autor mit der Erzählfigur gleichzusetzen?

Interview mit Hans Weiss

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Weiss: Ja, ich bin nicht nur Autor, sondern auch der Erzähler. Das war der springende Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, jetzt kann ich das Buch schreiben. Borowicz: In wie weit wurde Ihr Text durch politisch-gesellschaftliche Debatten und mediale Events beeinflusst? Welche waren besonders ausschlaggebend? Weiss: Der Text wurde natürlich durch die medialen Debatten in Österreich – Stichwort Kurt Waldheim, Stichwort Bruno Kreisky und dessen rüde Verleumdungen Simon Wiesenthals – beeinflusst. Mich hat die Verlogenheit in Österreich, vor allem auch der Linken, in Bezug auf die Nazivergangenheit, immer schon aufgeregt. In unserer Familie wurde immer schon ganz offen über die Nazizeit geredet. Das war weniger der Vater, sondern die Mutter. Wir wussten in unserer Familie auch als Kinder schon ganz klar, wer im Dorf ein Nazi war und wer anständig geblieben ist. Da gab es nie Geheimnisse und kein Drumherumherden. Dafür bin ich vor allem meiner Mutter sehr dankbar. Borowicz: Von 2003 bis 2005 erschienen viele neue Väterbücher auf dem deutschsprachigen Büchermarkt. In diesen Jahren jähren sich: die Niederlage der Schlacht von Stalingrad und das Ende des II Weltkriegs. In diesem Zeitraum ist auch Ihr Buch erschienen. Hatten diese Daten für Sie bei der Veröffentlichung eine Rolle gespielt? Weiss: Nein, überhaupt nicht. Jubiläumsdaten interessieren mich in meiner Arbeit überhaupt nicht. Ich lasse mich von anderen Überlegungen leiten. Ich habe das Buch vor allem auch deshalb geschrieben, weil es sehr viel Literatur und Geschichten über Täter, über Opfer und über mehr oder weniger heroische Widerständler gibt. Mein Vater fällt da in eine ganz andere Kategorie. Er war ein kleiner Niemand, der aber trotzdem in seiner inneren Haltung gegen den Krieg und gegen die Nazis war und in all seinen Handlungen immer anständig geblieben ist. Er hat nie jemand getötet, er hat nie bewusst auf eine Person geschossen. Borowicz: War Ihr Text, Ihrer Meinung nach, tabubrechend? Viele Autoren der nach der Millenniumswende erschienen Väterbücher glauben mit ihrem Text einen Beitrag zur ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ sowie eine Art »Tabu-Bruch« geleistet zu haben. War das auch Ihr Anliegen? Weiss: Tabubrechend? Nein, glaube ich nicht. Diesen Anspruch finde ich generell fragwürdig und zu pathetisch.

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Borowicz: Hatten Sie Probleme bei Ihren Recherchen, beim Zugang zum Aktenmaterial? Weiss: Ich beschreibe in einigen Passagen im Buch, dass es für Österreicher unmöglich war, an bestimmte Akten – zum Beispiel aus dem Bestand des Berlin Document Center – heranzukommen, weil die Politik die ehemaligen Nazis und SS-Leute schützen wollte. Dafür verantwortlich war vor allem der SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky. Diese Politik ist seither aber von allen weiteren Regierungen fortgeführt worden und das gilt immer noch: Als Österreicher hat man keinen Zugang zu diesen Naziakten in Deutschland. Es gibt natürlich gewisse Hintertürchen, aber offiziell geht gar nichts. Der erste politische Sündenfall in Österreich war nicht die ÖVP-FPÖ-Koalition Anfang dieses Jahrtausends, sondern die erste SPÖ-Minderheitenregierung unter Bruno Kreisky, der nur mit Unterstützung der damaligen FPÖ regieren konnte. Kreisky hat sich auch bewusst mehrere Ex-Nazis in die Regierung geholt, um die Unterstützung der Ehemaligen zu erhalten. Borowicz: Glauben Sie es bestehen immer noch Tabus auf der öffentlichen Ebene zum Thema Nationalsozialismus? Weiss: Es wird von Seiten der offiziellen Politik noch immer noch gelogen, was das Zeug hält und wenn es politisch opportun ist. Aber die ehemaligen Nazis sind sowieso schon fast ausgestorben. Es ist kein großes Thema mehr und regt auch nicht mehr auf. Borowicz: Sehen Sie ihren Vater, aus zeitlicher Distanz, als Opfer, das durch den Krieg traumatisiert wurde? Weiss: Ja, ganz klar, der Krieg hat bei ihm, so wie bei allen anderen Kriegsteilnehmern, innere Verwüstungen angerichtet. Die waren für Außenstehende aber nicht erkennbar. Borowicz: Sie haben gesucht. Was haben Sie gefunden? Weiss: Nichts wirklich Neues. Ich kannte das Tagebuch ja schon längere Zeit. Für mich selbst hab ich damit nur systematisch geordnet, was ich schon wusste. Borowicz: Hatte die literarische Auseinandersetzung in Ihrem Fall eine therapeutische Funktion erfüllt? Konnten Sie sich endgültig von der Vaterfigur verabschieden, von der Vergangenheit befreien?

Interview mit Hans Weiss

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Weiss: Nein, es hatte keine therapeutische Rolle. Es gab wegen des Buches hässliche Auseinandersetzungen in der Familie. Als meine Mutter das fertige Manuskript gelesen hat, sagte sie: Ja, so war es! Sie hatte nichts dagegen einzuwenden. Mein Bruder und meine Schwester waren total dagegen, dass das veröffentlicht wird und es gab drei Jahre lang »Krieg« in der Familie, vor allem auch deshalb, weil meine Mutter damit einverstanden war. Wenn meine Mutter nein gesagt hätte, hätte ich das Buch nicht veröffentlicht. Mein Bruder und meine Schwester, die gar nicht im Dorf leben, waren vor allem aus zwei Gründen gegen das Buch: Sie fanden es eine Schande, dass ich die Geschichte meiner Großmutter im Irrenhaus beschrieben habe und dass sie dort gestorben ist. Für mich war das aber ein wesentlicher Teil des Buches. Es nicht zu beschreiben, hätte geheißen, mich wegen meiner Großmutter zu schämen und sie erneut zu verleugnen. Das wäre aber genau die Haltung der Nazis gewesen: Lebensunwertes Leben, das vernichtet werden und verschwinden muss; an das man sich nicht einmal erinnern darf. Das fand ich erbärmlich von meinen Geschwistern. Meine Mutter war derselben Meinung. Im Dorf wissen sowieso alle, zumindest unter den älteren Leuten, über das Schicksal meiner Großmutter Bescheid. Der zweite strittige Punkt waren die von meinem Vater beschriebenen Amouren und Liebesgeschichten während seiner Kriegsurlaube. Meine Mutter hatte nichts dagegen, dass das im Buch vorkam, denn es waren letztlich ja – wenn man es mit heutigen Augen sieht – harmlose Sachen. Außerdem war das lange vor der Beziehung und Ehe mit meiner Mutter. Und außerdem war dieser »Lebenshunger«, wie ich es nennen würde, durchaus üblich und verständlich. Jemand, der monatelang an der Front ist und nur Tod und Zerstörung erlebt, genießt in vollen Zügen das zivile Leben. Borowicz: Haben Sie sich gefragt was ihnen der Vater für Ihr Leben mitgegeben hat? Was würden Sie in Ihrem Fall als väterliches Erbe bezeichnen? Weiss: Ja, selbstverständlich fragt man sich das. Das habe ich mich aber schon vor dem Buch gefragt. Das Weiche, Künstlerische, Schwärmerische, Poetische. Und dass er seine Arbeit immer ernst genommen hat und alles, was er dabei gemacht hat, möglicht gut und ordentlich gemacht hat. Kein Pfusch in der Arbeit – Pfusch konnte er nicht leiden. Und ich kann das auch nicht. Borowicz: In wie fern hat die Auseinadersetzung mit dem Vater Ihnen zum Verstehenlernen des eigenen Selbst verholfen?

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Weiss: Vater und Mutter sind die wahrscheinlich wichtigsten, prägendsten Menschen im Leben. Das ist ein wichtiger Teil der Menschwerdung – dass man sich mit ihnen auseinandersetzt, immer wieder. Borowicz: Wird das Thema der Vater-Spuren-Suche für Sie persönlich und in der Öffentlichkeit je abgeschlossen sein? Weiss: Im Wesentlichen ja. Borowicz: Würden Sie heute ihre Auseinandersetzung, ihren Text anders gestalten? Weiss: Nein. Ich würde es heute genauso machen. Borowicz: Wie beurteilen sie die gegenwärtige Gedächtnispolitik? Weiss: Damit habe ich mich nicht auseinandergesetzt. Borowicz: Sehen sie noch Forschungslücken zum Thema Nationalsozialismus? Weiss: Kann ich nicht beurteilen. Borowicz: Sehen Sie Parallelen zur ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur? Weiss: Dazu kann ich nichts sagen. Borowicz: Wie beurteilen Sie die Diskussion um die Verschlusssachenanordnung (VSA) in der Bundesrepublik. Die Verschlusssachenanordnung von 2006 sollte infolge der Übergangsfrist bis 2011 »[…] bei wenigen Ausnahmen, alle Akten der Forschung zugänglich machen, die dann älter sind als dreißig Jahre«. Mittlerweile wird eine Verlängerung von Verschlussfrist auf 50 Jahre in Erwägung gezogen, die wie der Journalist Peter Carstens bemerkt, die Jahre des Terrorismus in der alten Bundesrepublik schützen würden.1334

1334 Carstens, Peter : Regierungsakten. Kontinuität des Schweigens. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2009 [Faz.Net]. http://www.faz.net/s/Rub594835B672714 A1DB1 A121534 F010EE1/Doc~ED6DEE11EFBB54CA9 A5AF3AFA90F40CFD~ATpl~Ecommon~Scon tent.html [Stand: 08.2009]

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Interview mit Martin Pollack

Weiss: Das ist wohl eine ähnliche Situation wie in Österreich, die Naziakten betreffend. Die Herrschenden wollen einflussreiche Personen schützen. Borowicz: Vielen Dank für das Interview. Berlin, 15. 07. 2010

Interview mit Martin Pollack Dominika Borowicz: Die Väterbücher werden seit Mitte der 1970er Jahre eigentlich durchgehend publiziert. Worauf beruht das Phänomen der Väterliteratur Ihrer Meinung nach? Martin Pollack: Das ist für mich schwer zu beantworten, weil ich mich ja nie mit dem Genre der Väterbücher beschäftigt habe. Ich habe einfach mein Buch geschrieben. Die einschlägige Literatur kannte und kenne ich kaum. Aber insgesamt geht es natürlich um die Auseinandersetzung meiner Generation, also der Kinder mit ihren Vätern und Großvätern. Das kann man wahrscheinlich nicht auseinanderhalten, es handelt sich um Väter- und Großväterbücher, wobei vermutlich ein großer Unterschied besteht zwischen den Büchern, die in Deutschland geschrieben wurden und den österreichischen Büchern. Österreich war in dieser Hinsicht später dran, wie man an meinem Beispiel sieht. Borowicz: Peter Henisch hat seinen Vatertext schon 1975 publiziert. Pollack: Peter Henisch – das stimmt, es gab vereinzelte Ansätze in Österreich, aber nicht in dem Umfang wie in Deutschland. Borowicz: Haben Sie die Werke der 1970er und 1980er Jahre vorher gekannt, also bevor Sie noch Ihr Buch geschrieben haben? Pollack: Das Buch von Peter Henisch kenne ich, aber sonst ziemlich wenig. Borowicz: Hat es Ihre Auseinandersetzung mit dem eigenen Vater geprägt oder inspiriert? Pollack: Nein, überhaupt nicht. Borowicz: Und die neuen Werke? Sind Ihnen die neuen Publikationen bekannt? Verfolgen Sie die neuen Veröffentlichungen?

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Pollack: Nein. Ich kenne das Buch von Uwe Timm, das über seinen Bruder … aber das ist wieder etwas anderes, sonst kenne ich nur wenig. Ich lese in der Regel andere Bücher … Borowicz: Warum publizieren viele Autoren ihre Väterbücher erst jetzt? Pollack: Ich kann nur für mich selbst sprechen. Bei mir hat es teilweise pragmatische Gründe, weil ich vorher etwas anderes gemacht hatte. Ich war lange Jahre als Journalist tätig. Da bin ich nicht dazu gekommen, Bücher zu schreiben. Ich habe wohl schon damals vorgehabt, dieses Buch zu schreiben. Es gab einige Ansätze dazu. Zum Beispiel eine Reportage: »Jäger und Gejagte«, die zuletzt in dem Band »Warum wurde die Stanislaw erschossen?« erschienen ist. Es gab also einige Ansätze, sich mit dem Thema zu befassen. Vor vielen Jahren schrieb ich einen Aufsatz über Tüffer, also den Ort, wo meine Familie herstammt. Das war ein Beitrag zu einem Symposium in den 1980er Jahren. Also schon sehr früh. Aber damals hatte ich nie die Zeit, um ein Buch zu schreiben, aber ich habe gewusst, dass ich das machen möchte. Borowicz: Zeit? Oder waren Sie nicht bereit dafür? Pollack: Das Problem war eher die Zeit. Das Buch war für mich keine kathartische Auseinandersetzung, das habe ich schon früher erledigt. Borowicz: Die Auseinandersetzung hatte also keine therapeutische Bedeutung für Sie? Pollack: Nein. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb mir einige Kritiker vorgeworfen haben, es sei relativ distanziert und ruhig geschrieben, ohne große Emotionen … Borowicz: … also ganz anders als beispielsweise bei Niklas Frank… Pollack: Ja genau. Bei mir ist es nicht diese gequälte Auseinandersetzung. Aber das ist auch nicht meine Art, zu schreiben. Ich schreibe immer eher aus der Distanz. Aber bei diesem Buch war das wahrscheinlich auch notwendig. Borowicz: Aber man kann sagen es ist autobiographisch, oder? Die Erzählfigur ist mit dem Autor gleichzusetzen… Pollack: Ja, ja natürlich.

Interview mit Martin Pollack

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Borowicz: Und gattungsmäßig wie würden Sie Ihr Werk beschreiben? Im Titel wird es als Bericht bezeichnet. Pollack: Das ist natürlich immer ein Problem für die Literaturwissenschaftler. Ich zähle ja selber dazu. Aber diese Genrebezeichnungen sind mir nicht wichtig. Sicher ist es kein Roman. Man kann es eine Reportage nennen, einen Bericht. Borowicz: Ein Dokument Ihrer Suche? Pollack: Ein Dokument. Ich finde die amerikanischen Bezeichnungen viel passender, also »creative non-fiction«. Borowicz: Bei der Analyse Ihres Buches konnte ich beobachten, dass der Text nach dem Muster einer journalistischen Nachrichtenmeldung gebaut ist, d. h. mit Aufmachung zu Beginn … Pollack: Das war mir nicht so bewusst, das kommt wahrscheinlich automatisch. Als Journalist fällt man leicht in gewisse Muster hinein. Aber natürlich machte ich mir Gedanken über den dramaturgischen Aufbau. Das ist ja auffallend, dass die Anfangsszene eng verbunden ist mit der Schlussszene, zeitlich wie räumlich, ich schlage da einen Bogen. Dabei kamen chronologisch beide Szenen ganz am Ende, sie bildeten den Abschluss meiner Recherche. Borowicz: In den 1970er und 1980er Jahren haben sich vor allem die Söhne zu Wort gemeldet. Mittlerweile gibt es sehr viele Stimmen der Töchter. Wodurch wird das bedingt Ihrer Meinung nach? Pollack: Da bin ich überfragt. Wie gesagt, ich habe mich mit Genre kaum auseinandergesetzt Tatsächlich gibt es viele Frauen, die solche Bücher geschrieben haben, wie etwa Dagmar Leupold. Warum sich jetzt gerade Frauen mit dieser Thematik befassen, weiß ich nicht. Borowicz: Sollte man überhaupt in Bezug auf das Thema geschlechtsspezifisch differenzieren? Pollack: Glaube ich nicht. Aber ich weiß es nicht. Sicher gibt es so etwas wie einen geschlechtsspezifischen Zugang zur Literatur. Aber ich kann dazu wenig sagen. Natürlich gibt es Frauenliteratur. Die kann nicht von Männern geschrieben werden. Aber sonst finde ich, dass man Literatur danach bewerten soll, ob sie gut ist oder schlecht, und nicht danach, ob sie von Frauen oder Männern geschrieben wurde.

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Borowicz: Glauben Sie, es bestehen immer noch Tabus auf der öffentlichen Ebene zum Thema Nationalsozialismus? Pollack: Ja, ja ganz sicher. In Österreich auf jeden Fall. Wie es in Deutschland ist, kann ich schwer sagen, aber in Österreich ist es so. Dazu kann ich Ihnen auch genügend Beispiele nennen. Es war vor einem Jahr in Rechnitz. Sie kennen vielleicht das Stück von Elfriede Jelinek über Rechnitz? Das ist ein Ort, wo circa 200 Juden ermordet wurden. Die liegen da begraben, und bis heute wurden die Leichen nicht gefunden. Bis heute nicht. Ich habe dort vor einem Jahr eine Gedenkrede gehalten. Rechnitz zeigt deutlich, wie stark diese Themen in Österreich noch tabuisiert, verschwiegen, mit Schweigen zugedeckt werden. Ich merke das auch bei meinem eigenen Buch. Mein Buch hatte in Österreich relativ viel Echo geweckt, aber es gab immer auch Versuche, gerade von Seiten des offiziellen Österreichs, sich von diesem Buch zu distanzieren. Das fiel mir auf, wenn ich zu Lesungen eingeladen wurde in österreichischen Kulturinstituten. Da wurde ich manchmal gefragt, ob ich nicht lieber aus einem anderen, früheren Buch lesen möchte. Das passierte mir zum Beispiel in Slowenien. Da fragte man mich, ob ich nicht lieber aus dem Buch über Philipp Halsmann lesen möchte. Ich habe gesagt: »Entschuldigung, da gibt es ein neueres Buch und das spielt in Slowenien« Darauf erhielt ich zur Antwort: »Ach so oh das haben wir nicht gewusst«. Borowicz: Das Thema der Tabuisierung des Nationalsozialismus ist also nicht pass¦. Pollack: In Österreich wird es vielleicht nicht mehr tabuisiert, aber es bereitet immer noch Probleme. Das spüre ich oft, zum Beispiel wenn ich an Schulen lese, was ich oft mache. Es sind immer individuelle Personen, Lehrer, die mich einladen. Es gibt offizielle Programme, Autoren an Schulen zu holen, aber da gehöre ich nicht dazu. Da darf ich nicht mitspielen, was mich nicht kränkt. Aber interessant ist es schon, weil gerade in Österreich ein Buch wie meines, in Schulen gelesen werden sollte. Denn für viele gilt nach wie vor: Österreich war das erste Opfer des Faschismus. OK, historisch ist da ja was dran, aber ganz so einfach ist es nicht, es gibt auch eine andere Seite. Und über die Seite schreibe ich. Und das ist nach wie vor im offiziellen Österreich nicht sehr populär. Borowicz: Hatten Sie Probleme beim Zugang zum Aktenmaterial? Pollack: Nein, das könnte ich nicht sagen. Aber das meiste Material liegt ja auch nicht in Österreich, sondern in Deutschland.

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Borowicz: Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen? Pollack: Schrittweise. Ich hatte einiges Material schon vorher. Ich hatte z. B. die SS-Akte meines Vaters, die habe ich vom Document Center in Berlin bekommen, jetzt ist das das Staatsarchiv in Berlin. Also wusste ich ungefähr über seine Stationen Bescheid. Aber manche Sachen wie z. B. diese Episode in Polen kannte ich nicht. Das habe ich erst später recherchiert. Ich hatte das Problem, dass ich mit der Familie meines Vaters gebrochen habe – darüber schreibe ich auch – daher hatte ich überhaupt keinen Zugang zu Aussagen aus der Familie. Ich weiß nicht, ob es etwas gibt. Aber sonst gab es kein Problem. Ich bin nach Ludwigsburg gefahren, war in der Slowakei, in Slowenien, in dem früheren Untersteiermark. Also mit der Recherche hatte ich keine Probleme. Ich wusste natürlich als Journalist, wie man recherchiert. Das gilt auch für das vorige Buch über Philipp Halsmann »Anklage Vatermord«. Die beiden Bücher sind in manchem ähnlich. Der Fall Halsmann war auch dokumentarisch. Man könnte auch sagen, es war so etwas wie eine Fingerübung für das nächste Buch. Es gibt gewisse Ähnlichkeiten in der Herangehensweise, Archivarbeit, ich habe viel mit Zeitungen gearbeitet, die sind für mich eine sehr wichtige Quelle. Dort fand ich viel Material, auch über die Familie des Großvaters, über die ganze Zeit. Aus Zeitungen erschließt sich die Atmosphäre viel besser als aus reinen Dokumenten. In den Zeitungen findet man Geschichten, Alltagsgeschichten, wie die Untersteiermarker und Slowener sich geprügelt haben. Das findet man im Archiv nicht wirklich. Borowicz: Gab es etwas, was Sie nicht wissen wollten? Pollack: Nein, nicht wirklich. Nein. Ich kann mich erinnern. Da gab es eine kuriose Episode in Ludwigsburg. Da habe ich recherchiert über die Zeit in der er als Leiter eines Sonderkommandos bei der Einsatzgruppe war. Und da gibt es eine Erwähnung, dass er in den Kaukasus delegiert wurde, wobei ich bis heute nicht weiß, ob er dort hingefahren ist. Das war nur eine ganz kurze Zeitspanne. Es ist anzunehmen, dass er überhaupt nie dort war, da die Zeit relativ kurz ist, aber vielleicht war er dort, und das wurde einfach nicht dokumentiert. Da überkam mich ein Gefühl der Frustration. Ich habe zwei Tage dort nichts anderes gemacht als nur nach diesen Dingen zu forschen, also nach dieser Episode im Kaukasus. Und ich habe mich geärgert drüber, dass ich damit zwei drei Tage verloren habe. Und dann machte ich mir bewusst, was das bedeutet, wenn ich etwas gefunden hätte? Was hätte das sein können? Nur etwas Entsetzliches … Immerhin diente er in einem reinen Mordkommando.

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Borowicz: War es für Sie schwierig die richtige Sprache zu finden um über Nationalsozialismus, über Ihren Vater in diesem Kontext zu erzählen? Pollack: Nein, nicht wirklich. Ich habe ganz bewusst diese sehr ruhige, distanzierte Schilderungsweise gewählt. Das Buch ist ja nicht emotionslos geschrieben, natürlich ist es mit Emotionen geschrieben aber ich versuche absichtlich, die herauszunehmen aus den Schilderungen. Und ich fälle auch nie ein Urteil, wie das etwa Niklas Frank tut… Borowicz: Das sind zwei Extremen eigentlich … Pollack: Bei Frank gibt es diesen unglaublichen Hass … Noch schlimmer ist das Buch über seine Mutter. Das war für mich wirklich unangenehm zu lesen. Er ist als Autor meines Erachtens gescheitert. Das ist keine Literatur mehr, sondern ein Fall für den Psychiater bestenfalls. Aber wir wollen hier nicht über Frank urteilen. Aber das war nicht mein Zugang. Mein Zugang ist, dass ich relativ ruhig schildere oder versuche zu schildern, wobei ich mich durchaus einlasse auf das Grauenhafte. Diese Schilderungen von Erschießungen – wobei ich eine Erschießung dazu nehme, die mit meinem Vater eigentlich gar nichts zu tun hat, das ist sozusagen die Truppe die er übernimmt, die vorher in Weißrussland war. Das hat mit meinem Vater überhaupt nichts zu tun. Das hat mir meine Frau zum Beispiel, gesagt »Warum nimmst du das hinein?« Habe ich gesagt: »Weil ich die Schilderung gefunden habe« und die mir sehr exemplarisch erschien. Es gibt die Schilderung von Donovaly in der Slowakei, wo sie die Hütten niederbrennen, mit den Juden drin. Das lese ich oft bei Lesungen. Borowicz: Sie sind äußerst vorsichtig mit der Wortwahl, z. B. würden Sie ihren Vater als Täter bezeichnen? Pollack: Ja natürlich … Borowicz: … weil im Buch kommt das nicht vor. Pollack: Das ist richtig. Das ist für mich volle Absicht. Es ist ja nicht so, dass ich ihn in Schutz nehme, dass ich irgendwo sage: Vielleicht war er nicht dabei. Vielleicht hat er gerade woanders hingeschaut oder seine Männer waren das, er hingegen hat vielleicht gerade in der Unterkunft Göthe gelesen. Nein, ich habe keine Zweifel, dass er verantwortlich ist dafür. Ob er selbst zur Waffe gegriffen hat, kann ich nicht sagen, ich glaube eher schon. Von seinem naturell her war er eher ein aktiver Typ. Er war kein zergrübelter Mensch. Er wusste, wie man mit

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Waffen umgeht. Er stammte aus einer Jägerfamilie, wo man immer mit Waffen umgegangen ist. Kennen Sie die polnische Ausgabe? Die enthält Fotos. Kurioserweise hat der österreichische Verlag darauf verzichtet die Fotos zu bringen. Borowicz: Warum? Pollack: Es ist immer schwierig, mit Verlagen zu diskutieren. Auch in diesem Fall war das so, die hatten ihre eigenen Vorstellungen. Das hängt auch damit zusammen, dass man in Österreich dazu tendiert, die so genannten Nazigeschichten eher herunterzuspielen. Also hat man auf die Fotos verzichtet. Dazu kann ich Ihnen eine Episode erzählen. Sie wissen, was eine Verlagsvorschau ist? Das ist sozusagen der Katalog. Und für die haben sie Fotos gebraucht – für eine Doppelseite. Sie haben Fotos ausgewählt, alle von meinem Vater, als Kind, als Sportler, als Bergsteiger, Skifahrer … Kein einziges Foto von meinem Vater in Uniform. Vor dem Druck bekam ich die Auswahl zu sehen, da fragte ich, ob sie nicht etwas vergessen hätten? Denn es gab genügend Fotos von meinem Vater in Uniform, das war nicht das Problem. Ich fragte, ob sie nicht wenigstens ein Foto mit Uniform nehmen wollten? Darauf sagten sie: »Na ja, wenn du diesen Aspekt auch drinnen haben möchtest …« Habe ich gesagt: »Entschuldigung, aber darum geht es, davon handelt das ganze Buch! Es ist kein Buch über Bergsteiger oder übers Skifahren« Das ist diese Tendenz in Österreich: Diese Zeit soll nicht allzu sehr herausgestrichen werden. Das sieht man auch beim Cover. Ich finde das Bild sehr gut, das ist Schneeballschlacht, das sind Schneeballmänner. Bei der englischen Ausgabe ist natürlich mein Vater in SS-Uniform drauf. Borowicz: Von 2003 bis 2005 erschienen viele neue Väterbücher auf dem deutschsprachigen Büchermarkt. In dieser Zeit jähren sich: die Niederlage der Schlacht von Stalingrad und das Ende des II Weltkriegs. In diesem Zeitraum ist auch Ihr Buch erschienen. Hatten diese Daten für Sie bei der Veröffentlichung eine Rolle gespielt? Pollack: Überhaupt keine. Borowicz: Also es war Zufall… Pollack: Das ist reiner Zufall, denke ich. Borowicz: In den neuen Werken wird oft das Opfernarrativ hervorgehoben, vor allem in Bezug auf Väter. Zum Beispiel, dass man deren Verhalten u. a. auf die

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»Schwarze Pädagogik« oder auf Kriegstraumatisierung zurückführen kann. Wie sehen Sie das? Pollack: Nein, mein Buch ist ein Versuch einer Mentalitätsgeschichte. Borowicz: Also Kontinuitäten zu ziehen … Pollack: Meine Absicht war es, herauszufinden, wie es kommt, dass eine Familie, meine eigene Familie, mehr oder weniger zur Gänze diesen Weg wählt. Nicht nur mein Vater, nein, auch mein Onkel, mein Großvater, meine Großmutter, alle, und drum beginne ich im 19. Jh. In dieser Zeit. Das ist glaube ich auch das Interessante an dem Buch. Das hebt es vielleicht auch ab von anderen Büchern, weil es eben nicht nur um den Vater geht. Natürlich steht der im Mittelpunkt, aber was mich wirklich interessierte, war die Frage, wie es kommt, dass er diesen Weg wählt? Wobei man sagen muss, es gab schon eine gewisse Logik, der von ihm gewählte Weg ist schon verständlich, ohne dass ich da irgendetwas exkulpiere, ohne dass ich irgendwo etwas entschuldigen möchte. Seine Entscheidung, 1938 zur Gestapo zu gehen, war eine private, von ihm gewählte Entscheidung. Keiner hat ihn dazu gezwungen. Aber natürlich war er ein idealer Kandidat, ein aktiver Nazijurist. Borowicz: Er hat sich auch in diesem Milieu bewegt, nicht wahr? Pollack: Er hat sich in diesem Milieu bewegt. Er ging sehr früh zur SS. Ganz klar, wer sonst wenn nicht er. Solche Leute wie er waren natürlich ideal dafür, aber es gab überhaupt keinen Zwang. Er hätte genauso gut sagen können: »Nein ich will Rechtsanwalt in Amstetten werden« wie sein Vater. Sein jüngerer Bruder hat die Kanzlei übernommen. Ich will da überhaupt nichts entschuldigen, aber es gab natürlich diese Kontinuität, auch vom Großvater, der einen ganz ähnlichen Weg einschlug. Es ist sicher kein Zufall, dass beide im selben Jahr, 1931, der Partei beitraten. Borowicz: Aber für ihn war das eher symbolisch, oder? Für den Großvater. Er war ja nicht aktiv, oder doch? Pollack: Na ja, er war schon aktiv. Er war Rechtsamtsleiter in Amstetten. Die ganzen Arisierungen sind über seinen Schreibtisch gelaufen. Er war nicht aktiv in der Armee. Dafür war er zu alt. Aber immerhin ist er 1944 der SS beigetreten, was völlig absurd war. Wozu denn? Er hat nicht einmal mehr eine Uniform bekommen, er war damals schon 64 Jahre alt.

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Er war nicht dumm, 1944 hat man schon gewusst, wohin das steuert. Es war eine total irrationale Entscheidung, aber ihm war sie wichtig. Ein Beweis für die unglaublich starke Überzeugung. Man kann diese Leute mit Recht Überzeugungstäter nennen. Sie haben nicht aus Karrieregründen gehandelt, sondern aus Überzeugung. Also das zumindest muss man ihnen zugestehen, wenn das denn positiv sein soll, sie haben es nicht getan, um sich zu bereichern oder eine Karriere aufzubauen. Das war sekundär, ausschlaggebend war ihre Überzeugung. Borowicz: Sie haben gesucht. Was haben Sie gefunden? Pollack: Für mich war die Schwierigkeit, dass ich den Vater nicht kannte. Dass ich keine bewusste Erinnerung an ihn habe. Ich habe sehr verklärende Erinnerungen von der Mutter, die mir das sehr verklärend geschildert hat, wobei die Vaterfigur natürlich im Hause Pollack nie wirklich groß besprochen wurde, aus verständlichen Gründen, denn er war der Ehebrecher, und meine Mutter hat den Pollack dann wieder geheiratet. Eine absurde Situation. Aber meine Mutter mit mir hat schon über den Vater gesprochen, allerdings nicht oft. Ich hatte eigentlich wenig Vorstellung von ihm, außer dass er ein wunderbarer Mensch war. Das wurde mir in Amstetten erzählt von den Großeltern auch von allen anderen, die ihn kannten. Und ich habe keinen Grund, zu zweifeln, dass er tatsächlich so war : ein lustiger Mensch, gesellig, ein toller Sportler, Skifahrer, Bergsteiger. Er war kein dämonischer Typ, wie man sich das öfters in Filmen so vorstellt, die Mitglieder der Gestapo oder SS zeigen. Er war auch dieser Typ von Littell, kein Schöngeist, aber gleichzeitig Bestie. Er war eher ein biederer Typ, aus einer Provinzstadt, Amstetten. Amstetten ist tiefste Provinz. Wenn ich mich erinnere, was dort gelesen wurde. Es wurde schon gelesen, aber nicht viel. Die Männer in der Familie waren alle typische Rechtsanwälte aus der Provinz, Jäger, die gern einen trinken, im Wirtshaus sitzen, mit Freunden Berg steigen, Ski fahren usw. Also so viel wusste ich von meinem Vater. Ich meine, was ich dann herausgefunden habe, hat mich nicht besonders überrascht, muss ich sagen. Was konnte ich schon erwarten? SS, Gestapo. Aus seiner SS-Akte wusste ich ungefähr über seine Stationen Bescheid. Ich wusste, dass es da schlimme Dinge gegeben haben musste, soweit bin ich als Historiker bewandert. Ich konnte nur Grauslichkeiten finden, konnte nur auf Blut stoßen. Borowicz: Aber trotzdem haben Sie es gewagt. Pollack: Trotzdem habe ich es gemacht, ja. Es war keine morbide Freude, Leichen zu finden. Bei Gott nicht, aber ich wusste, wenn ich die Geschichte erzähle, dann will ich sie in der Gänze erzählen. Dann will ich mir und auch dem Leser

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nichts ersparen. Ich habe nicht absichtlich grausliche Szenerien ausgebreitet, aber ich habe auch solche Dinge erzählt, wenn ich darauf gestoßen bin, wie etwa die Szenen in Donovaly. Es handelt sich um einen Leichenbeschaubericht. Das gehört einfach dazu. Ich kann nicht nur schreiben: »Dort gab es Tote« Punkt, nächstes Kapitel. Wenn man die Geschichte erzählt, dann soll man alles erzählen, wie es war. Das ist meine Auffassung, dass man so mit der Geschichte umgehen sollte, dass man die Dinge möglichst offen ausspricht. Das war meine Konfrontation in Polen. In Polen wurde das Buch sehr gut aufgenommen, es gab unglaublich viele Interviews und Besprechungen. Diese Auseinandersetzung habe ich auch geführt, da ich selbst polnisch spreche, auch bei Lesungen. Sie wissen, in Polen gibt es keine Lesungen wo man aus dem Buch liest, sondern immer Diskussion. Borowicz: Sie waren glaube ich dort auch in einer Talk Show … Pollack: Ich war in Talkshows, überall. Dem habe ich mich absichtlich nicht entzogen. Das wäre auch blöd und kindisch, zu sagen »Nein, ich will mit den Menschen nicht reden«. Ich muss auch eines sagen, ich habe in Polen nie eine negative Reaktion erlebt, nie. Die einzige kritische Reaktion war, dass man so über seine Familie nicht schreiben darf. Da habe ich gesagt: »Das ergibt sich aus meiner Vita, es ging nicht anders.« Das gilt auch für Österreich. Ich sage keinem, wie er mit seiner Geschichte umgehen soll, das muss jeder für sich entscheiden. Bei Lesungen kommen oft Leute auf mich zu und sagen: »Wissen Sie Herr Pollack, das Buch war sehr interessant« und dann heißt es: »In meiner Familie war es so: Vater bei der Gestapo Bruder bei der SS…«. Das heißt, die Leute erzählen dann ihre eigene Familiengeschichte. Das war auch die Funktion des Buches, dass es in Österreich ein wenig die Tür geöffnet hat. Manchmal fragt mich jemand, ob er seine Geschichte weiter verfolgen soll, dann sage ich immer : »Ich bin kein Ratgeber, das müssen Sie selber wissen. Jeder muss für sich entscheiden. Ich habe meine Geschichte niedergeschrieben. Ich habe diese Entscheidung getroffen. Ich habe es so erzählt wie ich es eben kann. Man könnte es wahrscheinlich auch anders machen«. Borowicz: Als Sie mehr über Ihren Vater erfuhren, haben Sie sich da auch wieder entdeckt? Pollack: In manchen Dingen schon. Ich frage mich natürlich selber, wie viel von meinem Vater in mir steckt. Borowicz: Was ist das Erbe?

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Pollack: Natürlich weniger von ihm als von der Familie. Von ihm bin ich ja nicht aufgezogen worden. Aber ich bin zu einem guten Teil von meiner Großmutter aufgezogen worden. Und ich bin teilweise in Amstetten groß geworden. Da gibt es natürlich gewisse Dinge die man übernimmt. Auch wenn man sich kritisch damit auseinandersetzt und sagt »Ok, da ziehe ich jetzt einen Strich und da schneide ich was durch.« Ich bin sozialisiert worden in diesem Milieu, ganz klar. Insofern ist es, glaube ich, auch wichtig dass solche Menschen solche Bücher schreiben, weil wir natürlich besser wissen als andere, wie diese Milieus funktionieren. Wenn man aus einer kommunistische Familie kommt … Ich habe viele Freunde, die aus solchen Familien kommen. Jüdische Freunde. Wenn die ein Milieu wie jenes, aus dem ich stamme, betrachten, dann ist das wie im Zoo. Sie stehen draußen und schauen hinein und sagen: »Uh! Grauslich! Furchtbar da drinnen zu sitzen!« Ok, ich bin lange drinnen gesessen, daher weiß ich, wie dieses Milieu funktioniert. Für mich war das einfach so. Das habe ich auch mich bemüht zu beschreiben. Auch bei Lesungen betone ich immer, dass wir hier von ganz normalen Menschen sprechen. Ich hatte eine wunderbare Großmutter, die mich mit Liebe überschüttete, mein Vater war ein toller Kerl, ein toller Liebhaber, auch ein liebender Vater. Das sind keine Monster, keine Psychopathen. Die hat es auch gegeben, keine Frage. Meine Familie gehört sicherlich nicht dazu. Ich glaube, die meisten Täter waren in gewisser Hinsicht »normale« Menschen, sie funktionierten jedenfalls die meiste Zeit als normale Menschen. Borowicz: Das ist eine Art Doppelleben. Pollack: Und das machte das ganze noch viel schwieriger. Das macht es auch viel gefährlicher, denn wenn man davon ausgeht, dass man mit Psychopathen zu tun hat, dann kann man die irgendwie aussortieren, wegsperren, und dann ist das Problem erledigt. Das ist schon klar, im Film kann man natürlich diese Psychopathen besser verwenden. Die besser darstellen, als dämonische Typen. Mein Vater hatte nichts Dämonisches an sich. Borowicz: Also nichts Spektakuläres. Pollack: Nein. Er war eher bieder, durchschnittlich. Weder war er intellektuell noch besonders hervortretend. Ein Provinztyp, guter Sportler guter Kamerad, Frauenheld. Ich hatte da ein Erlebnis vor einer Lesung in Graz, wo mein Vater studiert hat. Ein paar Tage vorher rief mich eine Dame an, eine alte Dame, das hört man am Telefon. Sie fragte: »Sind Sie der Doktor Pollack? Dieser Autor von dem Buch?« und ich habe gesagt: »Ja« »Aha, der Sohn von Gerhard Bast?« »Ja« »Ich muss Ihnen etwas gestehen: Ich war so verliebt in meiner Jugend in Ihren Vater!« Das war 1938, er war gerade der Gestapo beigetreten. Sie wohnte in

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Mariatrost, etwas außerhalb von Graz. Dort gab es auch eine Villa, in der die Gestapo einquartiert war. Die beiden fuhren oft mit derselben Straßenbahn in die Stadt, sie zur Schule und er zum Dienst. Sie war damals 16. Er hat mit diesem jungen Mädel geflirtet, hat sie angelacht, vielleicht auch mit ihr geredet. Und sie hat sich verliebt in ihn. Bei dem Telefonat, das wir führten, fragte sie mich noch, ob ich ein Foto meines Vaters hätte, das ich ihr mitbringen könne. Das hab ich dann getan. Sie war sehr dankbar. Sie hat ihn offenbar nie vergessen. Ein gut aussehender junger Mann, ein lustiger Typ, der ein fesches Mädel in der Straßenbahn gesehen hat und ihm zugelacht und dann mit ihm geflirtet hat. Er hat sie nicht verführt und es ist nichts passiert. Ein ganz normaler Mensch … Borowicz: Aber mit Ausstrahlung. Pollack: Ja. Er war ein Mann, der den Frauen gefallen hat. Er war auch die große Liebe meiner Mutter. Sie war eine sehr schöne Frau. Sie war verheiratet mit einem sehr viel älteren Mann in Linz. Wie und wo sie meinen Vater kennengelernt hat, weiß ich nicht. Das habe ich sie nicht gefragt. Habe ich versäumt zu fragen, aber er war beim Sicherheitsdienst, und der SD, hatte eine Villa nicht weit von unserer Villa. Wir haben eine Villa gehabt in Linz. Eher Großbürgertum. Irgendwie hat meine Mutter dann wohl diesen feschen Gestapochef von Linz kennen gelernt … Ja, solche Sachen passieren. Auch heute. Das ist sehr menschlich und auch nicht sonderlich interessant. Sie hat dann eine Affäre gehabt. Als ich zur Welt kam, war sie noch mit Hans Pollack verheiratet … Borowicz: War die Auseinandersetzung mit dem Vater gleichzeitig die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst? Pollack: Ja schon. Mich hat interessiert – ich bin ja vom Schreiben her beschäftigt mit Zeitgeschichte, mit der österreichischen Vergangenheit – wie kommen die Österreicher zum Nationalsozialismus? Im Buch über Philipp Halsmann geht es ja auch um diese Zeit, nur etwas früher. Es war nur logisch, dass ich mich mit meiner eigenen Geschichte auseinandersetze. Im Buch geht es auch um mich selber. Vieles war mir als Kind nicht bewusst. Es gab beinahe absurde Situationen. Um das bildlich zu erzählen: In Linz bin ich sozusagen als Pollack in den Zug gestiegen und in Amstetten als Bast ausgestiegen. In Amstetten wurde mir nur über den leiblichen Vater erzählt, aber weder in Amstetten noch in Linz hat man mir erklärt, wie es kam, dass ich sozusagen zwei Väter hatte, einen in Amstetten, der schon tot war, und einen in Linz, der lebte. Borowicz: Das ist ja fast schizophrenisch.

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Pollack: Ja. Heute denkt man sich »Um Gottes Willen. Ein Kind musste schrecklich unter einer solchen Situation leiden«. Aber das war nicht so. Ich war wahrscheinlich ein eher pflegeleichtes Kind. Meine Frau sagt manchmal: »Na ja, das erklärt einiges. So ist das nicht, dass du so einfach damit fertig wurdest.« Aber ich hatte keine Probleme, jedenfalls keine, die mir bewusst geworden wären. Borowicz: Sie wurden auch sehr geliebt, nicht wahr? Von den Großeltern … Pollack: Ja. Ich wurde von allen geliebt. Von den Großeltern besonders. Ich war das verwöhnteste Kind weit und breit. Borowicz: Und der Sohn von Gerhard … Pollack: Das war eine tragische Situation für meinen Onkel und dessen zwei Söhne. Wenn ich da war, hat meine Großmutter seine beiden Söhne, die ja auch ihre Enkel waren, gar nicht gesehen. Da existierte nur ich. Für die Frau meines Onkels war das natürlich sehr kränkend. Meine Großmutter hat ihre Schwiegertochter verachtet, und für den Onkel war das gar nicht lustig. Wenn ich kam, dann ist sozusagen für die Großmutter die Sonne aufgegangen, während seine zwei Söhne gar nicht beachtet wurden. Borowicz: Ist die Suche für Sie jetzt abgeschlossen? Haben Sie sich jetzt endgültig von dem Vater verabschiedet? Pollack: Im Prinzip ja. Wenn ich auf etwas stoße oder von jemandem etwas bekomme, was manchmal der Fall ist, dann lege ich das zu den übrigen Materialien. Solche Bücher sind nie abgeschlossen. Diese Dinge sammle ich, aber ich habe nicht die Absicht, eine Fortsetzung zu schreiben. Manchmal denke ich daran, über den Großvater etwas zu schreiben. Der war auch eine interessante Figur, aber dafür fehlt mir das Material. Manches habe ich schon im Vaterbuch erzählt. Die Entwicklung, wie die Familie aus dieser gemischtsprachigen Gegend zu diesem rabiaten Deutschnationalismus kam. Aber seine Rolle im Ersten Weltkrieg ist mir unklar. Borowicz: Die Großmutter, die war auch eine interessante Person … eine sehr starke Frau. Pollack: Die Großmutter war, wenn man so will, die Chefideologin in der Familie. Das waren nicht die Männer. Der Großvater ist auch zu früh gestorben, für

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mich, da war ich noch relativ jung. Die Großmutter war die prägende Person, die auch versucht hat, mich mit allen Mitteln auf ihre Seite zu ziehen. Borowicz: Da kam es auch zu dieser Auseinandersetzung… Pollack: Genau, die Auseinandersetzung führte ich nicht mit meinem Onkel, der auch ein überzeugter Nazi bis zu seinem Tod war, aber der hat keinen Einfluss auf mich ausgeübt. Das war die Großmutter, die war die starke Figur, die mich viel Liebe umgab. Gleichzeitig war sie eine überzeugte Nationalsozialistin … Borowicz: Es musste für Sie schwierig gewesen sein sich entweder für die Großmutter oder für eigene Weltanschauung zu entscheiden. Pollack: Wie ich diese Auseinandersetzung führte, das werfe ich mir heute noch vor. Diese Geschichte habe ich nicht glorios bewältigt. Ich habe die Trennung mit viel Selbstgerechtigkeit vollzogen, mit viel Rücksichtslosigkeit, ich habe die alte Frau unglaublich gekränkt. Natürlich war es notwendig, einen Schlussstrich zu ziehen, um mich ihrem Einfluss zu entziehen, aber das hätte ich anders machen müssen. Sensibler. Das werfe ich mir heute noch vor, dass ich ihr all die Liebe, die sie mir geschenkt hat, schlecht gedankt habe. Ich hätte es anders machen können. Dazu war ich damals zu unreif, zu dumm. Zu egoistisch wahrscheinlich auch. Borowicz: Und in der Öffentlichkeit? Wird das Thema jemals abgeschlossen sein? Pollack: In Österreich führen wir diese Auseinandersetzung, glaube ich weiter. Es gibt viele Geschichten, die man noch erzählen muss. Ich kann Ihnen dazu ein Beispiel nennen. Ich habe vor kurzem eine Reportage geschrieben. Es geht um die Roma im Burgenland – wo ich wohne, also ich lebe ja im Burgenland – um die Verweigerung der Erinnerung an diese Menschen. Diese Erinnerung wird ihnen bis heute verweigert. Da gibt es Gemeinden, aus denen 200 Roma deportiert wurden. Die meisten wurden ermordet. Und dort weigert man sich bis heute, auch nur eine kleine Gedenktafel anzubringen. Etwa in Kemeten. Einer sozialdemokratische Gemeinde. Das sind keine Nazis, die dort das Sagen haben – na ja, vielleicht sind manche in ihrem Denken nach Nazis. Aber offiziell sind sie Sozialdemokraten. Und sie sagen: »Nein, nein ein Gedenken an die Roma brauchen wir nicht. Das wollen wir nicht.« Das ist wie in Rechnitz, wo man bis heute sagt: »Wir wissen nicht wo die Toten liegen. Interessieren uns nicht.« Borowicz: Was waren die Motive Ihrer Suche?

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Pollack: Bei der Suche nach dem Vater bin ich auch ein bisschen gescheitert, weil ich über ihn als Person nur wenig erfahren habe. Es ist mir nicht gelungen, in ihn einzudringen. Borowicz: Sie habe auch keine Erinnerungen an ihn. Pollack: Eben, ich habe keine Erinnerungen an ihn, und ich hatte auch niemanden, der mir etwas erzählt hätte, bis auf einige beschönigende Schilderungen von meiner Mutter. Meine Mutter bleibt ja im ganzen Buch irgendwie im Schatten. Das hat seine Gründe. Ich will das anhand einer Episode erläutern. 1943 erlebte mein Vater als Gestapo-Chef von Linz etwas, was man heute einen Karriere-Knick nennen würde. Er hat einen Jagdunfall produziert, hat einen 12-jährigen Treiberjungen erschossen. Ihm wurde der Prozess gemacht, ein SS-Prozess, was ein wenig absurd anmutet, denn die SS befahl ihren Mitgliedern ja den Massenmord, aber wenn einer einen Jagdunfall hatte, dann wurde er vor Gericht gestellt und bestraft. Das passierte auch meinem Vater. Er bekam 4 Monate Arrest – und wurde dann an die Front versetzt, was für ihn Dienst bei einer Einsatzgruppe bedeutete. Meine Mutter hat mir die Geschichte vom Ende seiner Karriere ganz anders erzählt, sozusagen als Widerstandstat. Nicht den Jagdunfall, den hat sie überhaupt nicht erwähnt, aber das Ende der Karriere. Sie erzählte, er habe eine Auseinandersetzung innerhalb der Gestapo gehabt, habe sich geweigert, bestimmte Befehle auszuführen. Dabei war der Grund ganz banal. Ein Jagdunfall, ein Treiberjunge, der erschossen wurde. Meine Mutter musste das wissen. Sie war in Linz. Aber das hat sie ausgeblendet, oder sie wollte mir die richtige Version nicht erzählen und hat mir diese andere Version erzähl, die eindeutig nicht stimmte. Ich habe meine Mutter sehr geliebt. Sie war eine unglaublich warmherzige gute Mutter. Aber auch sie war eine sehr komplizierte Persönlichkeit. Sie hat eine ganz eigene Moralwelt für sich aufgebaut. Sie hat Zeit ihres Lebens, seit ich sie kenne, immer Männergeschichten gehabt. Dabei war sie eine unglaublich moralische Person. Sie hat über andere aus genau diesem Grund sehr hart geurteilt. Dabei hat bei uns im Haus einer ihrer langjährigen Liebhaber ein Zimmer gemietet gehabt. Der hat bei uns gewohnt. Borowicz: In Polen würde man sagen »Moralnos´c´ Pani Dulskiej«. Pollack: Ja genau! So ist es. Das war der Onkel Heinz. Er war natürlich nur ein Rufonkel. Wir hatten ihn alle sehr gern. Borowicz: Und der Pollack wusste das?

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Pollack: Ja natürlich! Das spielte sich ja in seinem Haus ab. Sie ist auch mit Onkel Heinz auf Urlaub gefahren. Sie haben für damalige Verhältnisse weite Reisen unternommen, nach Zypern, nach Malta, nach Ägypten … Aber sie war die erste, die Urteile über andere Menschen fällte: »So geht es nicht. Also das ist keine Art. Das ist kein Benehmen. Keine Form.« Das ist unglaublich. Für sie war klar, dass sie eine Sonderstellung innehatte. Dabei war sie nicht überheblich. Sie hat sich gern gesehen in dieser Rolle »die Frau als Dienerin«, die den Haushalt führte, was nicht immer gestimmt hat. Wir hatten immer Dienstmädchen gehabt. Unsere Resi. Meine Mutter hat nicht so viel arbeiten müssen. Sie hat nie einen Beruf ausgeübt. Sie hatte immer ein großes Haus, ein Dienstmädchen. Und einige Männer, die ihr gedient haben. Wir haben einen Bekannten gehabt, mit dem sie sicher auch immer ein Verhältnis gehabt hat, der verheiratet war. Auch ein so genannter Onkel. Der hat nicht weit von uns gewohnt. Und er hat sie jeden Tag mit dem Auto abgeholt und in die Stadt gebracht, wo sie Einkäufe machte, und dann hat er sie wieder zurück gebracht. Wir haben kein Auto gehabt. Niemand hat einen Führerschein gehabt im Haus Pollack. Sie war überzeugt davon, dass es sich so gehört, dass die Welt so eingerichtet ist. Und sie sah sich immer als dienende, sie glaubte, sie werde ausgenutzt. Borowicz: Der letzte und der einzige Brief an Sie von ihrem Vater ist eigentlich eine Liebeserklärung. War es für Sie schwierig zwischen dem Vater, der Sie geliebt hatte und dem Täter d. h. dem zeithistorischen Akteur zu trennen? Pollack: Nicht wirklich, nein. Das war mir ziemlich bald klar. Das gehörte irgendwie dazu zu dieser wahnsinnigen Zeit. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass diese Menschen einerseits liebende Väter waren und gleichzeitig Monster. So war das auch bei meinem Vater, er hat sich auch nicht verstellt mir oder meiner Mutter gegenüber. Er war ehrlich, davon bin ich 100 %tig überzeugt. Das macht das ganze so furchtbar und auch unverständlich, und da existiert auch für mich eine Schwelle, die ich nicht überschreiten kann. Ich kann das nicht begreifen, wobei ich mich schon oft frage, wie ich denn selber reagieren würde in so einer Zeit, wenn ich so sozialisiert worden wäre wie er, wenn ich so aufgewachsen wäre, wenn ich mit drei Jahren das erste echte Gewehr bekommen hätte und in eine Familie so hineingewachsen wäre, mit diesem Antisemitismus, mit diesem Slawenhass, mit diesem Deutschnationalismus, dem Geist der Burschenschaft usw. Ich weiß es nicht. Das sage ich, ohne irgendwas entschuldigen zu wollen – da ist nichts zu entschuldigen, überhaupt nicht. Nur, ich weiß es nicht wie ich selber reagieren würde. Für mich ist es billig zu sagen: »Ja OK, ich bin Linker geworden. Ich war Trotzkist«. Das war auch keine besonders originelle Lösung.

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Borowicz: War es für Sie eher eine »Auseinandersetzung«, »Abarbeitung« oder »Aufarbeitung« der Geschichte? Pollack: Eine Aufarbeitung. Borowicz: Wurden Sie bei der Suche? Vom irgendjemanden unterstützt? Mussten Sie auf jemanden Rücksicht nehmen? Pollack: Ich habe Rücksicht genommen auf meinen Bruder. Es war einer der Gründe, warum ich die Gestalt meiner Mutter sozusagen im Schatten ließ. Es gibt Fotos in der polnischen Ausgabe, aber ich schreibe das auch im Buch. Da gibt es dieses Foto: Meine Mutter hat mich auf dem Arm. Und sie schickte dieses Foto meinem Vater und schreibt hinten drauf »Wir beide und du, das ist das ganze Glück«. Dieses Foto hat mir mein Bruder gegeben. Aber er kommt da gar nicht vor : »Wir beide und du ist das ganze Glück.« Und er ? Borowicz: Und er war schon damals auf der Welt? Pollack: Er ist zwei Jahre älter als ich… Borowicz: Das tut weh. Pollack: Klar, dass er sozusagen da irgendwo … Borowicz: … ausgeschlossen war. Pollack: So ist es. Das Glück für sie war mein Vater und ich. Er war für sie die große Liebe. Sie hat daran gedacht, mit meinem Vater nach Südamerika zu gehen. Das habe ich erfahren, nachdem das Buch fertig geschrieben war. Das hat ein Freund recherchiert, ein Südtiroler Historiker, der hat herausgefunden, dass mein Vater bereits Papiere hatte für die Reise nach Paraguay. Die hat er sich übers Rote Kreuz besorgt. Ausgestellt auf den falschen Namen Franz Geyer. Er wollte mit meiner Mutter und mir nach Paraguay flüchten … Borowicz: Und der Rest? Pollack: Die zwei anderen Kinder wären wohl zurück geblieben. Alle diese Elemente habe ich, nicht zuletzt aus Rücksicht auf meinen Bruder, weniger genau behandelt. Auch aus emotionellen Gründen. Das war ja auch der Grund, warum ich das Buch nicht geschrieben habe, so lange meine Mutter noch lebte. Ich habe mich eigentlich mit der Person meiner Mutter nicht wirklich ausei-

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nandergesetzt. Ich habe Ihnen die Geschichte mit den Männern erzählt, das heißt, das ist kein Tabu für mich, das nicht. Aber ich hätte das nie erzählen können, als sie noch lebte. Meine Mutter war eine wirklich interessante Figur, aber ich fühle mich nicht berufen, diese Geschichte zu schreiben. Borowicz: Noch nicht oder überhaupt nicht? Pollack: Überhaupt nicht. Es gibt viele solche Geschichten, auch in der Provinz. Man glaubt, da war die Moral irgendwo. Aber wenn man da genauer dahinter schaut … Ich meine in unserem Fall war es vielleicht extrem aber meine Mutter war keine Ausnahmefigur. Sie war eine gute Hausfrau, gute Mutter. Borowicz: Unterstützung haben Sie auch von Ihrer Frau bekommen… Pollack: Ja. Borowicz: Und von anderen Personen? Hat sich Ihr Freundeskreis verändert nach der Publikation? Pollack: Es gibt einen Freund, den ich gewonnen habe. Das ist ein junger Historiker aus Amstetten, Gerhard Zeillinger. Den habe ich kennen gelernt über das Buch, er ist Zeitgeschichtler, eigentlich Germanist. Er schreibt an einem Buch über eine jüdische Familie in Amstetten. Es gibt vieles, was uns verbindet. Gerhard ist 20 Jahre jünger als ich, aber wir sind eng befreundet. Er war es auch, der mich auf einen gravierenden Fehler in meinem Buch aufmerksam gemacht hat, der mir bewusst machte, wie trügerisch die Erinnerung sein kann. Mein Vater wurde ermordet am Brenner und wurde beigesetzt am Brenner. Also wurde er dort begraben. Später wurde er dann exhumiert und in Amstetten beigesetzt. Und ich schreibe im Buch mit bestem Wissen und Gewissen – es gibt keinen Grund, das falsch darzustellen – ich sei damals im Internat gewesen. Das war sehr weit von Linz, noch weiter von Amstetten entfernt. Ich hätte damals vom Internat freibekommen und sei mit dem Zug zum Begräbnis meines Vaters gefahren. Gerhard hat mich dann darauf aufmerksam gemacht, dass ich damals nicht mehr die Schule besuchte, sondern bereits in Wien studierte. Das war also viel später. Ich habe mich um fünf, sechs Jahre geirrt. Ich war total schockiert. Ich habe das nie recherchiert, weil es keine Rolle spielt, wann das Begräbnis meines Vaters war, aber trotzdem … Borowicz: Die 68er-Bewegung.

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Pollack: Ich gehöre natürlich der 68er-Generation an, hatte aber nie etwas mit Gewalt zu tun. Davon habe ich mich immer distanziert. Es gab in Österreich ansatzweise so was. Es gab die Entführung eines Industriellen namens Palmers. Ich habe einige der Leute gekannt, die dahinter steckten. Die haben das im Auftrag der RAF gemacht. Ich war damals Redakteur einer linken Monatszeitschrift, des »Wiener Tagebuchs«. Die wurde ursprünglich gegründet von Kommunisten, die sich später von der Partei trennten. Wir verfolgten eine eurokommunistische Linie. Es waren viele jüdische Kommunisten, jüdische Österreicher, Auschwitzhäftlinge, die waren für mich so etwas wie Vaterfiguren. Borowicz: Ist auch ein Paradox. Pollack: Ja ja natürlich, völlig paradox. Borowicz: Haben Sie im Unterbewusstsein diese Personen gesucht? Pollack: Das kann ich schwer sagen. Ich habe angefangen zu schreiben für das »Wiener Tagebuch«, als ich in Polen war. Das war auch der Grund, warum ich dann in Polen zur persona non grata erklärt wurde. Von 1980 bis 1989 war ich persona non grata. Die Behörden haben natürlich gewusst, was ich in den 1970er Jahren geschrieben habe. Ich habe auch zahlreiche Texte von Oppositionellen übersetzt, das wurde mir später zum Verhängnis. Natürlich habe ich die Texte anonym publiziert oder unter Pseudonym, aber so viele Österreicher waren damals auch wieder nicht in Warschau, also war es nicht schwierig, herauszufinden, von wem diese Texte stammten. Ich hatte damals Kontakte zur Opposition in Polen, zum KOR und diesen Leuten: vor allem zu Jerzy Ficowski. Man musste kein großer Detektiv sein, um herauszufinden, wer diese Berichte aus Warschau schickte. Ich habe zwar, ganz konspirativ, erfundene Namen als Absender auf meine Briefe geschrieben, aber das war doch reichlich naiv … Als ich zu Beginn der Streikwelle, im Sommer 1980 für den SPIEGEL nach Polen flog, um von dort zu berichten, wurde ich schon am Flughafen festgesetzt und zur persona non grata erklärt. Die wichtigste Figur beim »Wiener Tagebuch« war für mich der langjährige Chefredakteur, Franz Marek. Er war so etwas wie der Chefideologe dieser eurokommunistischen Bewegung in Österreich. Daneben gab es noch andere Persönlichkeiten, wie Toni Lehr, Pepi Meisel oder Paul Jelinek. Alles AuschwitzHäftlinge, mit denen ich sehr viel zu tun hatte, mit denen ich eng zusammen gearbeitet habe, die ich sehr bewundert habe. Diese Menschen haben mich geprägt. Borowicz: Haben Sie die 1968er damals nicht kritisch bewertet?

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Pollack: Nein, überhaupt nicht. Ich habe selber teilgenommen an der 68erBewegung. In Österreich gab es ein Pendant des deutschen SDS, die nannte sich SÖS, da war ich Mitglied. Borowicz: Und nachhinein? Auch keine Auseinandersetzung? Pollack: Ich habe das schon ziemlich kritisch gesehen, aber aus anderen Gründen. Weil ich damals schon Osteuropa kannte. Ich habe studiert in Polen, und ich habe erlebt, dass man in Polen kein großes Interesse für die kommunistische Theorie zeigte. Das war für mich anfangs eine große Enttäuschung. Wir sind als Linke nach Polen gekommen, wir haben Rosa Luxemburg und Isaac Deutscher gelesen und gedacht, wir würden dort von den polnischen Studenten mit offenen Armen empfangen werden. Das war aber nicht so. Ich wohnte in einem Studentenheim. Dort wollten wir mit den polnischen Kollegen über Isaac Deutscher und Rosa Luxemburg diskutieren, aber die hatten zu Hause Piłsudski stehen »Was? Piłsudzki? Um Gottes Willen! Wo sind wir da hingeraten?« Es war beinahe ein Clash of Civilsations. Borowicz: Wie beurteilen Sie die aktuelle offizielle Vergangenheitspolitik? Pollack: Also ich kümmere mich seit Jahren wenig um Politik. Ich mache einfach meine Sache. Ich werfe immer noch dem offiziellen Österreich vor, dass man hierzulande sehr lasch mit der Geschichte umgeht, dass sich alles erschöpft in Deklarationen, aber wenn man genauer hinschaut, dann steckt da nicht viel dahinter. Daher sehe ich auch immer noch die Notwendigkeit, in Ländern wie Österreich diese Geschichten zu erzählen und auch mit solchen Geschichten an die Schulen zu gehen. Borowicz: Und die deutsche Vergangenheitspolitik? Pollack: In Deutschland wurde das schon viel gründlicher gemacht, sehr viel gründlicher. Vieles, was in Österreich passiert, wäre in Deutschland nicht möglich. Vor allem sprachlich geht man in Österreich mit der Vergangenheit unglaublich schlampig um. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Vor nicht so langer Zeit war ich bei mir im Dorf zu Gast bei Freunden, die sind ungefähr gleich alt wie ich. Die Frau stellte mir Kaffee hin und ein Stück Kuchen, und ich bedankte mich, und sagte, das sei wirklich wunderbar. Da schaute sie mich liebevoll an und meinte: »Fell, wie bin ich zu dir? Wie der Hitler zu den Juden!« Ich dachte, ich falle vom Sessel. Sie hat das ganz unschuldig gesagt, ohne antisemitische Hintergedanken, sie glaubte einfach, das sei witzig. Ich habe dann mit dem Pfarrer, ein guter

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Freund von mir, versucht zu eruieren, wie sie zu dem Spruch kommt. Er erklärte mir, im Krieg habe man hier den Film »Hitler schenkt den Juden eine Stadt«, über das KZ Theresienstadt, gezeigt, und das habe sich in den Köpfen der Menschen eingenistet. Das wäre in Deutschland kaum möglich, außer man sagt es ja bewusst, aber unbewusst? Das ist diese Schlampigkeit, diese Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit in Österreich wie man mit der Vergangenheit umgeht, wie man solche Dinge ausspricht. Oder ein anderes Beispiel aus dem Südburgenland. Das ist so eine multiethnische Gegend mit einer kroatischen und ungarischen Minderheit. Wenn man bei uns die Leute fragt »wie geht’s?«, dann hat man die gute Chance, dass der andere sagt »Alles in deutscher Hand«. Wie soll man das deuten? Woher kommt dieser Spruch? Die Menschen glauben, das sei witzig, dabei ist es in Wahrheit nur ein Zeichen für einen nachlässigen Umgang mit der Geschichte. In Schulen sage ich oft, ich komme aus Linz, das ist keine besonders große Stadt, keine Weltmetropole. Aber aus Linz stammt Adolf Eichmann, hier hat Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, seine Wurzeln, hier ging Adolf Hitler zur Schule … Borowicz: Sie ziehen auch Parallelen bei den beiden Lebensläufen Pollack: Ja, Kaltenbrunner und mein Vater … darum habe ich im Buch diese kurze Notiz aus seinem Tourenbuch als Bergsteiger zitiert: »Habe Dr. Kaltenbrunner getroffen.« Den kannte er natürlich, weil auch Kaltenbrunner in Graz studierte, er war ebenfalls bei einer schlagenden Burschenschaft in Graz, dann diese Verbindung zu Linz. Das war ja alles dasselbe Milieu. Es war ein relativ klein gestricktes Milieu. Diese illegale Naziszene, das waren nicht Hunderttausende, sie kannten einander. Das passierte alles in einem ziemlich engen Raum und Rahmen. Dr. Kaltenbrunner ist in Linz. Dr. Bast ist in Amstetten, sie waren eine Stunde voneinander entfernt und hatten natürlich Verbindung zu Graz, wo sie studiert haben. Borowicz: Sehen Sie Parallelen zwischen der ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur und der ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus in Deutschland ? Pollack: Mit der SED-Diktatur kenne ich mich nicht so aus, aber ich glaube schon, dass es da Parallelen gibt. Mich interessiert eher Osteuropa, zum Beispiel Slowenien. In Lasko, Tüffer, von wo meine Familie stammt, wurde vor kurzem ein Massengrab entdeckt. Die Massaker haben aber nicht die Deutschen angerichtet sondern die Slowenen, die jugoslawischen Partisanen. Sie haben die Opfer in der »Huda Jama« (Böse Grube) eingemauert, dort liegen mindestens 1500 Leichen in einem Bergwerkstollen. In Gottschee, wo mein Großvater die Jagdhütte hatte, bin ich auf der Suche nach dieser Jagdhütte, von der er mir als

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Kind oft erzählte, auf Massengräber gestoßen. In Karsthöhlen liegen Domobranci, also Slowenen, und Ustaschi, Kroaten, die von den Partisanen ermordet wurden. Es gibt noch andere solche Geschichten. Eine betrifft meine eigene Familie. In meinem Buch über den Vater erwähne ich eine Großtante namens Pauline die Schwester meines Großvaters. Die hat einen Slowenen geheiratet, einen gewissen Franc Drolc. Er war ein national denkender Slowene und wurde sogar als »Deutschenfresser« bezeichnet, aber trotzdem hat er dann eine Deutsche geheiratet. Als ich für das Buch recherchierte, machte ich mich auch auf die Suche nach dem Grab von Tante Pauline, fand es aber nicht. Ich dachte, die deutschen Gräber seien zerstört worden und dann weggekommen. Doch vor kurzem erhielt ich einen Brief eines pensionierten Juristen aus Graz, der mir schrieb: »Ihre Großtante ist nicht in den Grab beigelegt worden, sie wurde 1945 ermordet, von den Partisanen.« Ich habe nun begonnen, nachzuforschen, und tatsächlich: Sie wurde eingesperrt und nach Schloss Hrastovec gebracht, dort war ein Lager für Deutsche aber auch slowenische Kollaboranten. Es gibt eine Todesliste von dort, in der man meine Großtante findet. Also da gibt es unglaublich viele Geschichten, die wir noch erzählen müssen, und das sage ich jetzt nicht, um von meiner Geschichte abzulenken, sondern ich glaube, wir müssen immer die Geschichten in der Totalität erzählen. Auch Tante Pauline hat ein Recht, dass man ihrer gedenkt und dass man ihr Schicksal so erzählt wie es war. Das ist mir wichtig. Borowicz: In den vergangenen Jahren gab es viele Debatten um den richtigen Umgang mit der Vergangenheit. Hat irgendeine der Debatten Ihr Buch oder Ihre Auseinandersetzung beeinflusst? Pollack: Nein, überhaupt nicht. Ich kenne diese Schlussstrichdebatten sehr gut. Die wurden auch in Österreich geführt. Die werden heute noch geführt. Ich bin ein Gegner dieser Schlussstrichdebatte, wobei ich noch einmal sagen will, es ist eine individuelle Entscheidung, ob man eine Geschichte erzählt oder nicht. Ich bin der Letzte, der jemand sagen würde: »Du musst die Geschichte deiner Familie erzählen.« Das steht mir nicht zu, ich kann nur sagen, dass ich selber dafür bin, sie zu erzählen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann nur so funktionieren, dass wir uns ganz offen den Problemen stellen. So wie die Polen mit den Ukrainern die Auseinandersetzung führen müssen. Man muss offen über alles reden, ohne einander zu beschuldigen, ohne etwas aufzurechnen, ohne etwa zu sagen: »Ihr seid schuld, ihr habt hunderttausend mehr ermordet als wir, wir sind die Opfer und ihr seid die Täter«. Das ist Unsinn. Es hat immer Opfer und Täter gegeben ohne dass ich jetzt das relativieren will. Ich will überhaupt nichts relativieren. Mein Vater war ein Täter, mein Großvater gehörte zu den Tätern, auch meine Großmutter, wenn man so will. Das muss man offen

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und ohne Beschönigung sagen. Das ist sehr unbequem und peinlich, zu sagen, dass der Großvater Arisierung durchgeführt hatte. Das ist entsetzlich, beschämend. Das ist nur hässlich und irgendwie niedrig. Er hat daran verdient … Es gibt viele solche Geschichten. Erbärmliche Details. Ich erwähne zum Beispiel in meinem Buch die Geschichte eines Mannes, der sich während des Krieges plötzlich von seiner Frau scheiden ließ, weil sie Jüdin war. Mein Großvater hat ihm als Rechtsanwalt dabei geholfen. Die Familie lebt heute noch in der Umgebung von Amstetten. Sie haben eine große Baufirma. Mein Großvater hat in der Scheidungsklage geschrieben, es sei dem Mann physisch unmöglich, mit einer Jüdin zusammen zu leben. Aber mit der war er vor 1938 einige Jahre verheiratet. Und vorher war es ihm nicht physisch unmöglich? Diese Menschen sind wirklich schamlos. Der Mann hat nach dem Krieg sogar versucht, aus der Tatsache, dass seine Frau ermordet wurde, einen Profit zu schlagen. Er hat sich scheiden lassen und hat seine Frau dem Tod überantwortet und nach dem Krieg war er plötzlich unter den Opfern und hat gesagt »Wir jüdischen Verfolgten«. Dann hat er plötzlich Anspruch erhoben auf das Vermögen seiner Frau. Es gibt ein Foto, das hat vor kurzem Gerhard Zeilinger publiziert. Ein Hochzeitsfoto des Paares, auf dem die Frau weggeschnitten wurde. Alle diese Geschichten sollten wir erzählen, um uns klar zu werden, wer sind wir, in welchem Milieu wir groß geworden sind? Es ist wunderbar wenn man heroische Geschichten erzählen kann. Da sind meine Freunde aus dem »Wiener Tagebuch«, Franz Marek und Toni Lehr oder Pepi Meisel. Pepi Meisel war im Spanischen Bürgerkrieg, dann in Frankreich im Widerstand, später ging er, während des Krieges, unter falschem Namen nach Österreich, um hier gegen das Hitlerregime zu kämpfen. Diese Menschen sind Helden. Pepi Meisel wurde verhaftet, so wie Toni Lehr, und wurde nach Auschwitz geschickt, von wo ihm die Flucht gelang. Natürlich müssen auch solche heroische Geschichten erzählt werden. Ich habe leider in meiner Familie keine Helden, sondern eher Täter, aber auch das muss man berichten, gerade das darf man nicht beschönigen, nicht unter den Teppich kehren … Borowicz: Ist Ihr Buch tabubrechend in Österreich gewesen? Pollack: Das glaube ich nicht. Mir ging es auch nicht darum, Tabus zu brechen, am wichtigsten war für mich die Mentalitätsgeschichte. Das war für mich das zentrale Problem, zu erklären, wie es historisch dazu kam. Damit hat man sich in Österreich viel zu wenig auseinandergesetzt. Daher bin ich in meinem Buch zurückgegangen bis ins 19. Jahrhundert. Wir müssen uns bewusst machen, was im 19. Jahrhundert passiert ist, zum Beispiel die Schönerer-Bewegung, die Losvon-Rom-Bewegung. Meine Familie war katholisch, dann wurde sie von der Losvon-Rom-Bewegung Schönerers erfasst, und einige, etwa mein Großvater, wurden protestantisch. Der Protestantismus galt als der deutsche Glaube. Auch

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der Antislawismus lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Das begann nicht mit Hitler …. Borowicz: Ja, darüber habe ich meine Magisterarbeit geschrieben. Pollack: Das muss man sich bewusst machen. Das erscheint mir wichtig. Dieser Aspekt ist meines Erachtens das Wichtigste an meinem Buch. Die Karriere des Vaters, ok, das haben wir hundertmal schon gelesen, aber diese andere Geschichte ist selten erzählt worden. Borowicz: Und kann man noch bei dem Thema Nationalsozialismus Tabus brechen? Pollack: Glaube ich nicht. Borowicz: Sehen Sie noch Forschungslücken zu diesem Thema? Pollack: Nicht wirklich, nein. Wirkliche Tabus gibt es wohl keine mehr, aber jede Menge Detailarbeiten, die man vorantreiben kann. Regionalgeschichten. Auf diesem gebiet ist noch viel zu tun. Borowicz: Würden Sie heute Ihre Auseinandersetzung anders gestalten, das Buch anders schreiben? Pollack: Nein. Borowicz: Vielen Dank für das Interview. Berlin, 20. 06. 2010

Interview mit Dagmar Leupold Dominika Borowicz: Die Väterbücher werden seit den 1970er Jahren eigentlich permanent publiziert. Worauf beruht das Phänomen der Väterbücher? Dagmar Leupold: Es fällt mir ein bisschen schwer die Frage zu beantworten, da ich den Text bis vor kurzem gar nicht unter »Väterbücher« geführt habe sondern unter Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, mit der Nazi-Zeit, unter der Suche nach dem Umgang mit der Schuldfrage, Verantwortungsfrage, Vergangenheitsbewältigung usw. Für mich ist es fast sekundär, dass es Väterbücher

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sind. Es ist folgerichtig, dass sie auch Väterbücher sind, weil natürlich Männer im Kriegsgeschehen massenhaft in einer viel dominanteren und prominenteren Weise eingebunden sind als Frauen. Aus dem männlichen Körper wird kollektiv der Volkskörper. Das war für mich das Wichtigere. Es gibt ja auch Väterbücher, die nicht den historischen Hintergrund haben und die sind für mich tendenziell ganz anders. Was mein eigenes Buch betrifft würde ich – glaube ich – es nicht unter »Vaterbuch« führen – auch wenn es natürlich zentral um den Vater geht – sondern wenn überhaupt kategioral – unter »Familienroman« bzw. »Gesellschaftsroman«. Damit wäre die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft gemeint, die für mich einen ganz wichtigen Aspekt im ersten Teil bildet. Borowicz: Ja, der erste Teil behandelt die Nachkriegsgeschichte und erst im zweiten Teil wird die Geschichte des Vaters geschildert. Leupold: Deswegen heißt es auch »Nach den Kriegen«. Alles, was ganz tief bis in die feinsten Verästelungen der Nachkriegszeit hineinreicht, und auch alles was als Privatraum gilt, wird unterwandert, mitbestimmt und dominiert ist damit angesprochen, das war mein Fokus. Mir leuchtet aber schon ein, dass man es von Außen natürlich auch anders packen kann. Borowicz: Sie haben es schon angesprochen, Ihnen sind auch die Werke aus den 1970er und 1980er Jahren bekannt. Haben diese Werke Ihren Text beeinflusst oder Ihr Schreiben inspiriert? Leupold: Eigentlich nicht. Ich muss auch sagen, dass ich den Meckel zum Beispiel erst wieder gelesen habe, als ich selbst fertig und in Vorbereitung auf das Seminar war, das ich vorhin erwähnte. Das habe ich gar nicht so sehr unterlassen, weil ich Scheu hatte oder dachte, man wird mein Buch unter Umständen als epigonal betrachten, sondern eigentlich, weil ich der Überzeugung bin, dass es ein sehr dynamisches Verhältnis ist: Gegenwart und Vergangenheit. Und dass in jeder Gegenwart eine neue Vergangenheit aufgeblättert wird. Abgesehen davon sind es Unterschiede wie neue Recherchemöglichkeiten, Öffnung der Archive, wo man Funde machen kann, die man zehn, fünfzehn Jahre davor gar nicht hätte zur Verfügung gehabt. Und das ist ein großer Unterschied. Ich glaube, dass Erinnerung nichts Statisches ist. Es gibt kein frontales Verhältnis oder eine Schatzkiste, die man aufmacht. Es ist nicht nur eine Frage des Arrangements, wie man das aufbaut, sondern es ist tatsächlich dynamisch und ist deswegen auch richtig und notwendig. Ich will das jetzt nicht festlegen, alle 15 Jahre oder so, aber dass doch jede Generation noch mal neu und anders darauf schaut und vielleicht auch formal und ästhetisch neu mitbefindet. Ich spreche jetzt ausschließlich von Literatur, nicht von einer systematischen Erforschung.

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Borowicz: Sehen Sie Unterschiede zwischen den älteren und den neueren Texten? Leupold: Ja, wobei ich manchmal auch denke, dass es darauf ankommt, ob man als Tochter oder als Sohn schreibt. Den Vergleich habe ich nicht systematisch unternommen. Damals haben Töchter wenig publiziert. Mir fällt jetzt eigentlich niemand aus den 1970er Jahren ein. Das ist sicher ein neueres Phänomen, wie Wibke Bruhns oder Tanja Dückers, auch wenn letzere nicht wirklich biographisch Stoff bearbeitet. Borowicz: Sollte man dies überhaupt geschlechtsspezifisch betrachten? Gibt es einen Unterschied, ob sich eine Tochter oder ein Sohn mit dem Vater auseinandersetzt? Leupold: Wenn ich jetzt an Meckel zurückdenke oder an einen neueren Vertreter den Wackwitz habe ich schon das Gefühl, dass sie das ein bisschen dynastischer und genealogischer angehen und dass vielleicht mein Augenmerk als der Tochter, schon mehr auf emotionale tektonische Verschiebungen gerichtet war. Ich weiß es nicht. Ich würde mich scheuen das als einen grundsätzlichen Unterschied festzuhalten. Das ist einfach die Frage der Schwerpunkte, die man selber hat. Ich glaube dieses ist nicht von ungefähr, dass Töchter relativ spät beginnen. Borowicz: Woran liegt es, dass jetzt die Töchter überwiegend das Wort ergreifen? Leupold: Also in den 1968er und Folgejahren waren nun auch, wenn man sich so umguckt – wenn man jetzt nicht gerade Ulrike Meinhof nimmt – waren auch sämtliche Wortführer immer Männer. Die ganze Aufarbeitung – ob sie dann stattgefunden hat oder die Klage darüber dass sie nicht stattgefunden hat – absetzend von der Generation davor, die Generationsobjekte, alles war männlich, was ja eigentlich erstaunlich ist. Innerhalb der 1968er würde mir jetzt überhaupt niemand einfallen, der das in der Weise produktiv umgesetzt hatte. Also ohne jetzt die RAF oder den »Zweiten Juni« oder irgendwelche Nachfolgerorganisationen in Betracht zu ziehen. An Frauen fällt mir eigentlich niemand ein. Nur die Meinhof, solange sie bei »Konkret« war oder als Filmerin gearbeitet hat. Ich habe eigentlich keine Erklärung dafür. Borowicz: Und gattungsmäßig wo würden Sie ihren Roman verorten? Sie haben »Gesellschaftsroman« gesagt. Kann man die Erzählfigur trotzdem mit dem Autor gleichsetzen? Oder würden Sie sagen es sind nur autobiographische Züge?

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Leupold: Also bei diesem Buch würde ich sagen: Es ist ganz klar autobiographisch und ich habe dabei überhaupt keine Scheu. Auch der autobiographische Stoff muss genauso hoch artifiziell transformiert werden in eine ästhetische Realität wie jeder andere sog. sekundäre, aus keiner primären Erfahrung entspringende Stoff. Es ist für mich ein gradueller aber kein prinzipieller Unterschied. Und Erfahrung ist keine ästhetische Kategorie. Das heißt man ist vor genau dieselben formalen und ästhetischen Probleme gestellt, nämlich wie man ein Stoff in eine Form bringt, die dem Leser ermöglicht zu partizipieren und nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen und zu sagen »Na gut, so what? Hat sie halt erlebt« oder in Unkenntnis der Person gar nichts mit dem Buch anfangen zu können. Also insofern ist es für mich wirklich kein großer Unterschied. Und es ist ganz klar autobiographisch, weil ich dachte es ist auch wichtig. Das hat für mich mit meinem Begriff von Radikalität zu tun, der bei sich anfangen muss, sozusagen bei den Wurzeln. Und es ist wichtig aus der eigenen Erfahrung zu schöpfen. In-Form-zu-bringen hat ebenso damit zu tun, das Exemplarische oder Symptomatische daran aufscheinen lassen und nicht nur etwas Idiosynkratisches, was mit mir zu tun hat und man mögen kann oder nicht. Das war mir sehr wichtig. Ich glaube das ist mir gelungen weil ich sehr viele Reaktionen von LeserInnen, vor allem Frauen bekommen habe. Eben Töchtern, anderen Töchtern. Sie sagen »Wieso wissen sie das? Sie waren doch nie bei uns«. Insoweit glaube ich, dass ich etwas Prototypisches oder Quintessenzielles getroffen habe. Und das läuft über das Subjektive und über ein Detail und nicht über Verallgemeinerung. Borowicz: Haben die Kapitelüberschriften einen referenziellen Charakter? Also in den meisten Fällen … Leupold: Ja, ja das stimmt. Referenziell immer. Manchmal ein bisschen programmatischer als in anderen Fällen. Das ist, glaube ich, das einzige Buch, in dem ich mit so hinweisartigen Kapitelüberschriften arbeite. Borowicz: Seit den 1990er Jahren sind Authentizitätsstrategien in den neuen Werken zu beobachten. Die Väterbücher werden, beispielsweise wie wissenschaftliche Texte mit Anmerkungen, Bibliographie etc. konstruiert. Sie haben das Romanhafte ausgewählt, nach dem Motto »Alles kann sein«. War es schwierig die richtige Form oder die richtige Sprache für dieses Thema auszuwählen? Leupold: Ja. Ich würde aber nicht sagen, dass ich es deswegen gemacht habe um »Alles kann sein« zu behaupten. Ich habe alle Freiheiten weil ich glaube, dass die literarische Gestaltung eines so schwierigen Stoffes ein paar andere Lizenzen hat als die systematische wissenschaftliche Erarbeitung. Sie kann das Empathische,

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die Partizipation hervorbringen. Dies ist bei den systematischen Erfassungen eben nicht der Fall. Das bedeutet, dass sie keine Kausalitätsketten bietet. Im Gegenteil, es spannt sich ein Raum auf, in dem etwas plastisch, sinnfällig und vorstellbar wird. Das war für mich das Wichtige und nicht das Gefühl »Du kannst ja etwas erfinden, wenn du es nicht mehr so genau weißt«. Borowicz: Da es das Romanhafte ist, dachte ich, es geht hier um die Fiktionalität, die einen gewissen Spielraum offen lässt. Leupold: Ja, natürlich. Das ist schon richtig. Aber vor allen Dingen, weil das Fiktive, die Imagination diesen Raum aufmachen und eben nicht so lineare Argumentationsketten, die ja in aller Regel kausal und final sind. Borowicz: Während in den 1970er und 1980er Jahren die Täterkinder in den Fokus der Psychologie und der Literaturwissenschaft geraten sind, wird jetzt dieselbe Generation als Kriegskindergeneration untersucht. Sie gehören einer ganz anderen Generation an – der Generation des Wirtschaftswunders. Wie weit hat Sie Ihre eigene Generation in der Herangehensweise an diese Auseinandersetzung geprägt? Leupold: Ja, es gab ja auch Theorien darüber, dass das so eine etwas unbestimmte Generation ist. Ein bisschen amorph …, konturlos. Borowicz: Ein bisschen auch durch das Wirtschaftswunder verwöhnte Generation… Leupold: Ja, das vielleicht weniger und nicht mehr in der direkten Konfrontation. Es ist jetzt noch bei mir der Fall, weil mein Vater ungewöhnlich alt war. Für mich ist eben der ganz große Unterschied nicht mehr im Krieg geboren zu sein. Das führe ich ja auch aus, dass das wie so ein Schisma in der Familie ist. Das wäre auch so, selbst wenn ich am ersten Mai 1945 geboren wäre aber das Gefühl hat uns alle betroffen. Das hat, glaube ich, andere Familienstrukturen herausgebildet. Nicht unbedingt gesündere oder bessere, aber andere als unmittelbar danach aber noch mit allen, auch sichtbar allen, Kriegsfolgen. Ich glaube, dass die 1945er-Generation oder die 1940er-Jahrgänge, dass sie, zumindest in Westdeutschland, eine Hauptrolle innehatten oder haben. Die heute 70- bis 65Jährigen. Meine Generation: 1955 bis 1960 war ein bisschen zu jung um 1968 richtig mitzumachen. Es war vielleicht atmosphärisch wirksam, noch aber nicht wirklich politisierend. Meine Generation war eben auch nicht jung genug um etwas ganz Neues zu machen wie die Generation, die in 1968/1969 und 1970 geboren ist. Wenn Generationen sich alle 15 Jahre erneuern, falle ich genau in so

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ein kleines Vakuum, in Westdeutschland völlig apolitisches Heranwachsen. Es gab vielleicht auch anders gestimmte Familien aber was Geschichtsunterricht angeht, würde ich alle über einen Kamm scheren. Borowicz: Viele der neuen Texte werden auch im Opfernarrativ gehalten … Leupold: Ja das ist richtig… Borowicz: … indem sie das Schicksal der deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung, der Ausgebombten, Ruinenkinder, traumatisierten Wehrmachtssoldaten hervorheben. Wie beurteilen Sie das? In Ihrem Buch wird das Thema auch teilweise angesprochen aber auf eine ganz andere Art und Weise. Leupold: Ja, ich sehe das sehr kritisch muss ich sagen. Eine solche Sichtweise wäre mir persönlich nicht möglich gewesen. Borowicz: Sie schreiben auch darüber mit gewissem Sarkasmus, nicht wahr? Leupold: Ja, und über die Geschichtsblindheit. Ich finde schon, dass man es als Folgegeschehen im Kopf haben muss und dass die Elterngeneration ausgenommen, ihr subjektives Leiden reklamieren kann, wobei ich damit auch Probleme habe, v. a. wenn es überhöht wird, wie mein Vater das ja versucht hat. Ich finde auch den Versuch illegitim, sich auf die Opferseite zu schlagen im Sinne von einer philo-jüdischen Emphase. Da gibt es ja auch ganz starke Tendenzen und Strömungen. Es ist jetzt gerade ein Buch erschienen – ich habe es noch nicht gelesen, aber ich bin mit dem Autor befreundet – über die »Gefühlten Opfer« von Christian Schneider und Ulrike Jureit. Beide sind Soziologen und Psychoanalytiker. Sie haben seit Langem dieses Thema gemeinsam bearbeitet. Ich wollte begreifen, und ich habe mit meinem Buch auch nicht vor gehabt, jemandem die Leviten zu lesen oder Urteile zu fällen, zu bewerten. Das hat für mich alles in der Literatur nichts zu suchen aber über die Gestaltung dem komplexen Ganzen zu einer Darstellung zu verhelfen: Das schon. Etwas, wodurch etwas offenbart wird und das aufklärt ist mir schon wichtig. Und ich fände es trotzig zu sagen: Ich bin Täterkind. Mein Vater war ein »verhinderter Täter« wenn er gedurft hätte, hätte er in höherem Maße partizipiert. Ich glaube, von denen gibt es ganz viele. Ich will das eigentlich aufdecken, auflegen und die Möglichkeit geben, das durchaus kritisch zu verstehen und dann zu einer Einschätzung zu kommen: »Das ist nicht zu verzeihen« oder »Das muss man verstehen«. Diese Entscheidung liegt dann auf der Rezeptionsseite. Borowicz: Sehen Sie Ihren Vater oder Ihre Familie als Opfer des Krieges?

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Leupold: Allenfalls in so einem hoch abstrakten Sinn. Jeder Geburtstag und Geburtsort bilden zusammen auf einem Koordinatensystem einen Punkt. Ich glaube er war ein verkappter Habsburger und ist auf die nationalsozialistische Ideologie mit starken Steigbügeln über diese »Jungdeutschen« in Polen und diese väterliche Figur aufgesprungen. Er hat nach dem Krieg, glaube ich, zu seiner herben Enttäuschung feststellen müssen, dass Westdeutschland überhaupt nichts mit Österreich und schon erst recht nicht mit der K.u.K.-Monarchie zu tun hat. Das ist auch für mich die Erklärung warum er letztlich ganz schnell innerlich entnazifiziert war. Borowicz: Das war ein radikaler Wandel. Leupold: Ja, weil er im Prinzip ganz restaurative Vorstellungen hatte. Das war ja Quatsch. Die Flüchtlinge in Westdeutschland waren Handelsklasse II nach dem Krieg. Die wollte auch niemand. Und von wegen Elite. Insofern ist er »Opfer« von Umständen und Verkettungen. Ich glaube fest an die Möglichkeit und die Notwendigkeit, etwas mit dem Verstand zu durchdringen und Entscheidungen zu treffen oder mindestens im Nachhinein zu revidieren, zu korrigieren anstelle von Geschichtsklitterung im eigenen Lebenslauf zu betreiben. Das hat er nicht getan. Borowicz: Haben irgendwelche politisch-gesellschaftliche Debatten oder mediale Events Ihr Buch beeinflusst? Waren bestimmte Debatten ausschlaggebend? Leupold: Eigentlich nicht. Das Buch hatte eine lange Inkubationszeit. Das schwierigste war überhaupt den Entschluss zu fällen und mich meiner völligen Unwissenheit zu stellen. Das war eine lange Recherche sowohl rein faktisch – mit Archiven, Anrufen und Anmeldungen ist alles sehr umständlich und langwierig – als auch natürlich ein innerer Prozess, den ich zum Teil mit meinen Schwestern besprochen oder geteilt habe. Meine ältere Schwester, die Übersetzerin aus dem Russischen und Polnischen ist, wollte eigentlich aktiver an den Recherchen teilnehmen. Es ist dann doch nicht dazu gekommen, und insofern hat es mich dann zwingend beschäftigt. Das einzige Buch, das ich kannte und von dem ich bei der Entstehung etwas mitbekommen habe, weil ich mit dem Autor sehr befreundet bin, war Uwe Timms »Am Beispiel meines Bruders«. Alles andere war mehr oder weniger zeitgleich. Auch als Autor habe ich nicht so privilegierte Quellen, dass ich erfahre, was um mich herum im Entstehen begriffen ist. Diese Konjunktur war dann schon auch für mich überraschend. Borowicz: Haben die Daten 2003 und 2005 für Sie eine Rolle gespielt? In dieser Zeit jähren sich: die Niederlage der Schlacht von Stalingrad und das Ende des

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II Weltkriegs. In diesem Zeitraum ist auch Ihr Buch erschienen. Hatten diese Daten für Sie bei der Veröffentlichung eine Rolle gespielt? Leupold: Eigentlich nicht. In den Anfänge, ab dem Jahr 2000, hat mich Uwe Timm sehr gedrängt und auch ermutigt, das in Angriff zu nehmen. Mündlich hatte ich bereits viel erzählt. Das ist für mich die Genese. Ich schreibe eigentlich nicht auf Jahrestage hin. Die sind für mich kein Stimulus. Da hätte ich gleich nächstes Jahr ein Buch veröffentlichen müssen, wenn es so wäre. Borowicz: War Ihr Text, Ihrer Meinung nach, tabubrechend? Leupold: Das würde ich nicht sagen. Nein. Ich kann so nicht auf meine Bücher schauen oder grundsätzlich auf Bücher. Ich glaube aber, da sind ein paar Geschichts-, Gesichts- und Schwerpunkte, die mein Buch von anderen, die sich mit Ähnlichem befassen, auseinandersetzen unterscheiden. Das schon. Zum Beispiel: die Erforschung der Nachkriegszeit, auch in familiären Kontexten zu explorieren, wie das Vergangene sich in die feinsten Blutbahnen, in die Privatsphäre eindringt und sich dort manifestiert. Und letztlich die Auswirkung einer versehrten Gesellschaft im Intimraum »Familie«. Das auszuleuchten ist mir ganz wichtig gewesen. Das würde ich, z. B. als Unterschied ansehen. Es geht nicht das Fokussieren auf mich selbst als Subjekt wie im Falle des Bruders im Timms Buch, sondern diese Auswirkungen auch in kleinen Räumen »Familie« und in etwas größeren – Schule, Konsum – zu sehen. Borowicz: Und wie sah Ihre Vaterspurensuche von der »technischen« Seite aus? Zum Beispiel die Arbeit in den Archiven? Sind Sie deduktiv oder induktiv vorgegangen? Leupold: Informationen hatte ich fast keine. Das geht glaube ich oder hoffe ich auch aus dem ersten Teil hervor. Gespräche in der wirklich informativen aufklärerischen Weise gab es eben nicht. Das gesammelte Schweigen halte ich nach wie vor für ganz symbiotisch. Sein offizieller, also von ihm offiziell in der Familie aber auch anlässlich der Promotion vertretener Lebenslauf, der ähnelte nun in den entscheidenden Jahren gar nicht dem tatsächlichen. Ich hatte keine Ahnung, wirklich absolut keine Ahnung, dass er im Generalgouvernement eine Position inne hatte und überhaupt einen solchen Ehrgeiz hatte. Ich habe die Tagebücher erst im Laufe der Recherche gelesen. Borowicz: Wie ein Detektivvorgang eigentlich …

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Leupold: Ja. Ich selbst habe ihn als Willy-Brand-Verehrer, Künstlerfreund erlebt. Er wird ein bisschen liberal und aufgeklärt beschrieben. Irgendwas muss aber rumort haben, weil selbst ich als – sagen wir – unwissendes Geschöpf konnte es dann nicht länger mit den historischen Tatsachen überein bringen. Er hat ungenau erzählt. Wir oder ich haben gar nicht gefragt und dann auch ungenaue Vorstellungen gehabt, warum er beispielsweise in Wien war. Ich habe als Kind z. B. immer erzählt mein Vater sei Pole, weil mir das lieber war. Grundsätzlich habe ich auch viel erfunden aber ich glaube, das war auch dem Wunsch geschuldet im Ausland nicht Deutsche zu sein, lieber keinen deutschen Vater zu haben und das belegen zu können. Er war schon sehr geltungsbedürftig, sendungsbewusst. Heute denke ich darüber anders. Das war auch eine willentliche Verschleierung meinerseits, nicht genau zu überlegen »Hoppla, wenn er Pole war, warum war er dann – was man irgendwie wusste am Rande – in britischer Kriegsgefangenschaft usw.? Und wie kam er dann überhaupt ins Rheinland, wenn er doch …?« Und gleichzeitig wusste ich auch von der Existenz dieser grauenvollen Franken, einer schlagenden studentischen nationalgesinnten Verbindung, die den Krieg ideologisch unbeschadet überstanden hat. Das habe ich einfach selber ausgeblendet und habe mir sozusagen einen Vater zurechtgeschneidert. Borowicz: Wie sind Sie mit den Lücken vorgegangen? Wie haben Sie die im Lebenslauf Ihres Vaters bewältigt? Leupold: Ich habe dann im Bundesarchiv in Berlin sehr viele Akten gefunden, weil er beim Bundesministerium für Erziehung, Wissenschaft und Bildung war. Da wurde ja jeder Furz archiviert, dokumentiert. Das war dann gar nicht so schwierig. Das einzige was mir nicht mehr gelungen ist – weil die Versorgungsämter nach zehn Jahren alles vernichten dürfen und auch vernichten – ist, seine Verwundungen in chronologischem Verlauf zu dokumentieren: Wie genau kam es zu den Verwundungen an Händen und Beinen und wo? Dafür habe ich zu spät angefangen. Da waren die zehn Jahre schon abgelaufen. Borowicz: Aber sonst hatten Sie keine Probleme mit dem Zugang zum Aktenmaterial? Leupold: Nein, weil er eben als Abhängiger eines Ministeriums oder Beschäftigter eines Ministeriums, einer Behörde war, die alles sehr gut dokumentiert hat. Man muss natürlich nachweisen, legitimes Interesse zu haben, und das konnte ich. Ich habe den Pass hingeschickt, das Übliche eben und habe erklärt, dass ich die Tochter bin und ein Romanvorhaben habe. Das musste ich alles darlegen und, was die Wehrmacht betrifft, die deutsche Auskunftsstelle anrufen

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und erklären, was ich wissen wollte. In verschiedenen Etappen habe ich dann einigermaßen lückenlos die Jahre zwischen dem Abitur 1932 und dem Kriegsende 1945 nachvollziehen können. Borowicz: Waren Sie konsequent in Ihrer Suche oder gab es Manches, was Sie selbst nicht wissen wollten, wovor Sie zurückgeschreckt sind? Leupold: Nein, habe ich nicht. Zum Teil habe ich das auch natürlich nicht planen können, weil ich gar nichts wusste. Ich war völlig überwältig von dem, worauf ich gestoßen bin, und zwar sowohl was die Akten als auch die Tagebücher angeht. Diese Phantasien, alle auf eine Insel zu evakuieren, sind grauenvoll identisch mit den Madagaskar-Phantasien, die es von offizieller Seite gegeben hat. Ich konnte gar nicht planen, mich zu schützen, irgendwas nicht wissen zu wollen, weil alles überraschend war. Borowicz: Sie beschäftigen sich in Ihrem Text sehr intensiv mit der Erinnerung, mit dem Gedächtnis-Phänomen. War die Erinnerungsarbeit die Basis Ihrer Auseinandersetzung oder doch die Dokumente? Oder hat sich Beides ergänzt? Leupold: Ich würde sagen, es hat sich ergänzt. Erinnerung ist sicher auch etwas Anarchisches und ist sehr korrumpierbar. Darin ist nichts zu ändern. Deswegen fand ich es ganz wichtig in diesem radikalen Sinn etwas aufzudecken oder aufzulegen. Aufdecken hört sich so detektivisch an. Das meine ich nicht. Also sozusagen mich wirklich nicht zu schonen und alles zur Darstellung zu bringen. Sonst gäbe es natürlich auch keine Fiktion. Diese unendlich vielen Kontaminationsmöglichkeiten kann man nicht abschaffen. Literatur ist nichts Aseptisches. Literatur ist auch nicht der Ort oder Hort von irgendeiner objektiven Erinnerungsleistung. Wissenschaft für mich auch nicht. Aber Wissenschaft muss sich da noch ganz anders anstrengen. Die literarische Gestaltung bietet über die Möglichkeit einer anderen Art von Verständnis und Anteilnahme das Obsolete daran zu erfahren. Man muss seine Erinnerung wirklich völlig durchforschen und wirklich examinieren. Dies findet in einem unreinen Raum statt. Das ist nicht zu ändern. Es hat natürlich auch sein Gutes, weil es damit Potentialitäten zulässt. Ich habe meinen Schwestern das Manuskript vorgelegt und meine Zwillingsschwester hat gesagt: »Nein. Das war ganz anders«. Aber ich habe nur diese Version zur Verfügung. Natürlich, mit jedem Zugriff auf die Vergangenheit arbeitet die Gegenwart an der Vergangenheit weiter, modelliert und verändert etwas. Es ist hoch dynamisch. All das wollte ich zur Darstellung bringen und nicht abschaffen, allerdings auch nicht feiern. Weder noch …

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Borowicz: Haben Sie während Ihrer Recherche auf jemanden Rücksicht nehmen müssen? Wurden Sie unterstützt von Ihrer Familie? Leupold: Meine Mutter hat noch gelebt. Mittlerweile ist sie gestorben. Ich wusste aber schon vorher, dass ich kein denunziatorisches Buch schreibe. Es ist für mich ein sehr persönliches Buch aber kein privates. Dies ist für mich ein großer Unterschied. Es ist, hoffe ich, ein kritisches Buch und auch eines, in dem weder mich noch andere schone. Gleichzeitig habe ich trotzdem das Gefühl, dass es etwas Aufrührerisches hat, haben musste. Das ist aber nicht das, was in dem Buch verhandelt wird. Für mich geht es im ersten Teil auch um das Dialektsprechen und darum, dass dieser Vertriebenenstatus in der zweiten Generation in gewisser Weise konserviert wurde, indem es u. a. Dialektverbot gab, was meine Heimat virtualisiert hat, weil die eigentliche Heimat immer jenseits der Memel oder sonst wo lag. Ich glaube, dass für mich im Schreiben dieses Dialektverbot aufgehoben ist. Das ist für mich etwas ganz Zentrales. Wenn ich gezwungen wäre, mich solchen Verboten beim Schreiben nach wie vor zu fügen, dann könnte ich kein Wort schreiben, dann könnte ich es bleiben lassen. Dann wäre das alles nichts wert. Im »Dialekt« darf ich alles, was ich bei der Recherche herausfinde aber eben auch, was mir aufgeht an Offenbarungen nicht zurückhalten und selber zensieren. Dies widerspricht völlig meinem Begriff von »radikalem Schreiben«. Borowicz: Glauben Sie es bestehen noch Tabus in Bezug auf Nationalsozialismus auf der öffentlichen Ebene? Leupold: Es ist vertrackt, weil allerseits gibt es diese ganzen Formate der Gedächtniskultur. Dies hängt einem natürlich alles zum Halse heraus. Es ist sehr häufig als Geschmacksverstärker eingesetzt worden. Für mich ist es, zum Beispiel der Fall bei der Ulla …Wie heißt sie? … »Unscharfe Bilder«. Borowicz: Ulla Hahn Leupold: Ja. Also, in dem Fall erscheint mir die NS-Zeit als Geschmackverstärker und Aromazusatz. Das finde ich empörend oder mindestens falsch. Ich glaube, dass man sich dazu verhalten muss, und das wird auch nicht enden. Ich wüsste auch gar nicht, warum das enden soll. Die Forderung ist völlig absurd. Gleichzeitig sehe ich natürlich auch, dass es eine gewisse Instrumentalisierung und Inflationierung des Themas und auch irgendwie eine Absolution, die man sich selbst erteilt. Zumal, wenn man das einmal thematisiert hat. Das ist alles hoch komplex und mein einziger Ausweg war eben, mich in der beschriebenen radikalen Weise damit auseinanderzusetzen.

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Borowicz: Wäre Ihrer Meinung nach ein Dialog zwischen der Elterngeneration und Ihrer Generation, zwischen Ihnen und Ihrem Vater früher möglich gewesen? Leupold: Nein, ich glaube, dass das Schweigen nicht von ungefähr kam. Heute kann ich mir das viel besser erklären, als damals. Natürlich gab es Ausnahmen, aber ich will gerade nicht die Ausnahmen nennen. Ich will eben das Exemplarische oder das Symptomatische. Mir schwebte auch vor, eine Art Mentalitätsgeschichte zu schreiben. Borowicz: Wie bei Ute Scheub, wo der Vater als Prototyp einer Generation dargestellt wird? Leupold: Ja, möglicherweise, wobei ich dieses Buch nicht gelesen habe. Ich habe aber einmal mit ihr darüber gesprochen. Wenn mein Vater mit seinen Kindern, darunter auch mir, darüber in irgendeiner konstruktiven Weise hätte sprechen können, dann wäre er vermutlich nicht derjenige im Krieg gewesen, der er gewesen ist. Es gab ja welche, die sich korrigieren konnten. Ich halte ihn aber da eigentlich für ziemlich typisch. Borowicz: Sie haben gesucht. Was haben Sie gefunden? Leupold: Ich habe auf jeden Fall eine Art Konkordanz gefunden für ein subjektives Unglück, Unglücksgefühl in der Kindheit und Jugendjahren zur damaligen historischen Situation. Ich habe begriffen, dass es nicht nur private Anteile sind oder unglückliche Konstitutionen, sondern dass es tatsächlich einfach in Kongruenz steht mit bestimmten politischen Entscheidungen nach dem Krieg. Ich will es nicht zu simpel machen aber – das atmet man ja mit ein – das ist nicht irgendwas, was man jetzt nur kognitiv aufnimmt oder durchdringt und damit dann schon abwehren kann, sondern das war die Luft. Mindestens in Westdeutschland. Die war, kann man sagen, in Ostdeutschland auch stickig aber eben anders stickig. Diese Vergangenheitsvergessenheit und gleichzeitig Unfähigkeit zu einer wirklich vitalen Gegenwart ist für mich schon ganz, ganz prägend für die ausgehenden 1950er/1960er Jahre. Das habe ich besser begriffen. Ich habe es nicht gesucht, weil ich es vorher nicht wusste. Es ist für mich beim Lesen wie beim Schreiben das Erleben einer Verblüffung etwas wieder zu erkennen, von dem man nichts wusste. Trotzdem gibt es ein Wiedererkennungsgefühl. Das ist was Paradoxes. Das ist unaufhebbar paradox. Das Gefühl hatte ich. Ich hatte es manchmal auch beim Lesen, und das habe ich auch beim Schreiben. Borowicz: Wird das Thema der Vater-Spuren-Suche jemals für Sie oder für die Öffentlichkeit abgeschlossen sein?

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Leupold: Im Sinne von »noch ein Buch«, ist es für mich abgeschlossen. Borowicz: Und persönlich? Suchen Sie noch oder… Leupold: Nein, nicht in dem beunruhigenden Sinne, der sicher der Treibsatz unter diesem Buch war. Ich glaube – im völlig hypothetischen Fall – dass ich mich noch einmal anschicken würde, das alles zu schreiben, würde etwas ganz anderes entstehen. Ich habe das Gefühl – für mich, aber vielleicht auch für die Leser des Buchs – etwas durchdrungen und eben zu einer Darstellung gebracht zu haben. Nicht etwas erklärt zu haben, gelöst zu haben oder sonst was, aber eben zu einer Darstellung gebracht zu haben. Und das war mir wichtig. Deswegen ist es, sagen wir mal, in diesem konkreten Sinn abgeschlossen. Borowicz: Haben Sie Ihren Vater im Sinne von Verlust oder Abwesenheit empfunden? Leupold: Eigentlich eher von Abwesenheit, weil im Fall von Verlust müsste man natürlich vorher dafür ein Gefühl entwickeln, was man verliert, wenn man es verliert. Ich habe Ihn als ausgesprochen abwesend empfunden als Phantasma. Borowicz: Hatte die literarische Auseinandersetzung auch eine therapeutische Bedeutung für Sie? Leupold: Allenfalls in einem künstlerischen Sinn. Insofern als ich einen gewissen Ingrimm in mir gemerkt habe, der damit zu tun hatte, dass mein Vater – was aus seinen wenigen literarischen Spuren, die er hinterlassen hat aus meiner Sicht hervorgeht – die Sprache gewissermaßen ideologisch kontaminiert hat, instrumentalisiert hat, wie das natürlich auch insgesamt im Nationalsozialismus passiert ist. Mit seiner Vorliebe für Märchenform, dieser verschleiernden Form und diesen schrecklichen naturalistischen Einsprengseln im Sinne von Rollenprosa in einer Erzählung, die in Lemberg spielt, in der es um eine jüdische Familie geht. Das ist für mich ein entsetzlicher Missbrauch von Literatur als Festschreibung von Ideologien. Da habe ich schon gemerkt, dass ich im therapeutischen Sinne dieses Instrumentarium zurückgewinnen muss. Deswegen muss das auch so akribisch sein. Ich weiß der zweite Teil ist keine kulinarische Lektüre, Es musste richtig harte Arbeit sein. Für mich war es das und für die Leser wohl auch. Das wird mir immer wieder gesagt, aber es musste sein. Der erste Teil ist der Versuch, über Erinnerung eine Evokation, eine Vergegenwärtigung zu schaffen. Der zweite Teil ist eine Besichtigung eines mir unbekannten Mannes, der später mein Vater wurde. Besichtigung eines Zeitalters. Besichti-

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gung und Nachvollzug einer Verkettung. Es ist ein viel kühleres, ein klinisches Operieren als vorher. Borowicz: Das ergibt aber das Bild des Vaters. Leupold: Ja. Borowicz: Haben Sie sich gefragt was Ihnen der Vater für Ihr Leben mitgegeben hat? Leupold: Ja, dieser »Mitgift« gilt die Vorbemerkung im Roman. Da geht es los, dass so ein beklemmendes Gefühl da ist. Ich übernehme die Staffel mit dem Stempel und natürlich mit dem Schreibauftrag. Überhaupt tue ich es auch, indem ich dieses Buch schreibe, und das ist unaufhebbar ambivalent. Borowicz: Konnten Sie sich von Ihrem Vater endgültig verabschieden? Befreien? Leupold: Das geht nicht, aber das ist auch nicht mein Ansinnen. Ich halte nichts von mechanistischen Modellen. Es wird ja oft gesagt: »Deckel drüber«, »Schluss«, »Genug geredet«, »Genug geforscht«, »Genug gesagt«, »Genug«. Das sind alles Blödsinn. Wie gesagt, ich glaube – und in dem Buch, das letztes Jahr erschienen ist, ich weiß nicht ob Sie es gelesen haben »Die Helligkeit der Nacht« ist es formal verwirklicht – an ein Geschichtsmodell, in dem das Lineare ganz aufgegeben und ein Raum aufgemacht wird. Zeitalter können, wie Erdschichten, aufeinander krachen. Es ist wichtig, dass Literatur, auch formal, sich immer die höchsten Anforderungen stellt. Es ist mir eigentlich das Allerwichtigste. Da kann man noch so viel erreichen, Fenster in Wänden öffnen, die vorher keines hatten, blind waren. Ich persönlich finde einen Abschied in dem Sinn überhaupt nicht wünschenswert. Ich halte nichts von Abschlüssen. Borowicz: War der Text, eine »Auseinandersetzung«, »Bewältigung«, »Aufarbeitung« oder »Abarbeitung« für Sie? Leupold: Das wäre für mich auch etwas Mechanisches, so als wäre etwas da und danach müsste es weg sein. Das ist nicht so. Ich habe das Modell der Gestaltung: Etwas zur Darstellung zu bringen, das eine Partizipation möglich macht, eine Erfahrung. Ich glaube, ich habe einen sehr emphatischen Literaturbegriff, und der hat für mich durchaus auch etwas mit Offenbarung zu tun, dass man eben durch Lesen, nach dem Lesen, aber auch durch das Schreiben und nach dem Schreiben verblüfft feststellt: »Ich erkenne etwas wieder, was ich nicht gewusst habe« Über die Gestaltung – was ein sinnlicher Vorgang ist – kann ich damit

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umgehen, kann ich mir etwas aneignen oder kann ich als fremd erfahren. Das ist für mich qualitativ ein großer Schritt aber nicht im Sinne von Bewältigung, Abschaffung, Abarbeitung. Das ist ja noch da. Nur gibt es jetzt einen Zugang, der vorher nicht da war. Borowicz: Hat das Verstehenlernen Ihres Vaters zum Verstehenlernen Ihres Selbst beigetragen? Leupold: Ja, ganz bestimmt. Mir ist noch einmal um einiges klarer geworden, dass das Erben nun nicht nur eine genetische Frage ist, sondern man erbt das Getane, man erbt das Ungetane, man erbt Geschichte. Das ist alles. Ich habe das Modell des Stoffwechsels. Das sind Einverleibungen. Alles ist in einem drin, gespeichert; damit muss man sehr verantwortlich umgehen, und das ist, was ich tun wollte. Borowicz: In wie fern wurde Ihre Auseinandersetzung durch die post-68er Perspektive beeinflusst, z. B. durch die Wiedervereinigung, die ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur? Haben diese Ereignisse bei Ihrer Auseinandersetzung mit dem Vater eine Rolle gespielt? Leupold: Eigentlich nicht. Jedenfalls nicht zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Buch, sondern eher bei dem letzten Buch, dass sich mit politischer und rhetorischer Gewalt anhand von Ulrike Meinhof und Heinrich von Kleist befasst. Das ist für mich ein ganz wichtiges Thema. Das konnte ich, glaube ich, erst dann bedenken, als »Nach den Kriegen« geschrieben war. Das ist meine Vorstellung auch vom Werk: Keine Perlen aufgefädelt an einer Kette, sondern eher ein Teppich. Man knüpft an dem einen Ende, und man weiß natürlich, es muss auch irgendwo ein anderes geben. Im Moment dieses Knüpfens aber, da weiß man noch nicht so genau, wo man dann weitermacht, welches Gesamtmuster sich herausstellen wird. So ist der Kontext. Borowicz: Sehen Sie Parallelen zwischen der ›Aufarbeitung‹ des Nationalsozialismus und der ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur? Leupold: Also nicht in irgendeinem besonders weiterführenden Sinn. Strukturell gibt es natürlich Parallelen, insofern als man sich mit anderen, unter Umständen auch nicht selbst erlebten Anteilen, der Vergangenheit auseinandersetzt, deren Folgen aber noch ins eigene Leben ragen. Das ist aber alles. Wir sprechen hier ja von literarischen Bearbeitungen, literarischen Gestaltungsversuchen. Es gibt ja auch Viele, die sich ganz auf das Dokumentarische verlassen. Kann ich so pauschal nicht sagen.

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Borowicz: Wie beurteilen Sie die aktuelle Gedächtnispolitik? Sie schafft ja einen gewissen Spielraum, einen gewissen Rahmen … Glauben Sie man kann von einer gewissen Normalisierung mit dem Umgang mit dem Nationalsozialismus sprechen? Leupold: Ja, der ist sicher da, weil es eben diese Formate gibt. Ich vergleiche das manchmal mit dem Sms-Worterkennungsprogramm. Die schnurren mit einer Eigendynamik ab. Da wird es einem unbehaglich. Aber ich glaube auch, es muss unbehaglich bleiben, so oder so. Mir wäre auch sicher unbehaglich, gäbe es gar nichts, gäbe es kein einziges Format. Es ist ja jeden 9. November immer wieder schwierig: Soll man jetzt wieder die Wiedervereinigung feiern oder die Nacht der Pogrome betrauern? Das kommt nicht von ungefähr. Das sind einfach Schmerzen, die durch Kollisionen und Reibungen entstehen. Ich glaube, wir werden damit leben. Also ich werde damit leben müssen, dass mir alles Unbehagen erregt – das Abwickeln über formalisierte und institutionalisierte Formate genauso wie die Gleichgültigkeit. Ich war jetzt gerade in Litauen, und ich wollte dieses große Vernichtungsdenkmal ganz in der Nähe von Wilnius, eigentlich noch ein Stadtteil von Wilnius, besichtigen – steht in jedem Reiseführer drin – und ich war schon im Umkreis von 2 km dran mit dem Auto, aber es gab überhaupt keinen Hinweis. Ich habe an einer Tankstelle gehalten. Die wussten überhaupt nichts davon. Also —propos Unbehagen. Es muss, glaube ich, einfach ein Unbehagen bleiben und man muss damit ringen. Auf institutioneller Ebene, staatlicher Ebene wird anders damit gerungen als im Persönlichen. Ich sehe da keine Lösung. Borowicz: Würden Sie heute Ihre Auseinandersetzung anders gestalten? Leupold: Ich glaube nicht. Ich schreibe jetzt gerade ein Buch, und da geht es auch um – wenn auch anders und formal völlig anders – um einen Schelmenroman, um die Vertreibungsgeschichte meiner Mutter oder anhand meiner Mutter, auch um Sehnsuchtsprojektionen wie es eben Ostpreußen eine war. Das wird ein völlig anderes Buch; einer anderen Tradition verhaftet, eher pikaresk. Borowicz: Sehen Sie noch Forschungslücken in Bezug auf Nationalsozialismus? Leupold: Da glaube ich, habe ich nicht genug Überblick, um eine Antwort herauszuposaunen, um zu sagen »ja« oder »nein«. Ich denke, es wird immer wieder Überraschungen geben, einfach durch Archivfunde, durch neue Zugänglichkeit und natürlich durch ganz viele engagierte Forscher. Borowicz: Es gibt noch immer Sperrvermerke …

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Leupold: Ja, gibt es immer noch. Auch insofern denke ich, es ist noch gar nichts abgeschlossen. Vor allem auf regionaler Basis kommen da sicherlich noch viele Dinge zum Vorschein, die im Moment noch gar nicht aufgeschrieben werden können, in welche Bearbeitung auch immer : literarisch oder dramatisch oder sonst was. Ich aber leiste diese Arbeit nicht. Ich forsche nicht, aber ich versuche mitzukriegen, was erscheint. Das Lesen hat nicht aufgehört. Borowicz: Vielen Dank für das Interview. Berlin, 25. 09. 2010.

Interview mit Beate Niemann Dominika Borowicz: Sind Ihnen die Väterbücher aus den 1970er/1980er Jahren bekannt? Hatten sie Einfluss auf Ihre Auseinandersetzung mit dem Vater gehabt? In wie fern ? Beate Niemann: Das weiß ich nicht, da ich zu der Zeit mich um diese Bücher nicht gekümmert hatte, dachte ich doch, bei meinem Vater brauche ich z. B. Niklas Franks Buch über seinen Vater nicht zu lesen, ich las es erst ca 2003/4. Mein Vater war »unschuldig«, da gab es nichts anzuklagen oder nachzuforschen; es schien alles so klar. Borowicz: Haben Sie zu den neusten Väterbüchern einen (emotionalen) Bezug? Verfolgen Sie die neuen Publikationen? Niemann: Ich lese sie aus Interesse, wie andere der 2. Generation an das Thema herangehen. Das Buch von Martin Pollack »Der Tote im Bunker« hat mich sehr berührt, da es in ihm viele Parallelen zum Leben meines Vaters gibt und ich mir gut vorstellen kann, dass unsere Väter sich gekannt haben. Rangmäßig und in der Gegend sowieso, spätestens aber, als mein Vater nach dem 8. Mai 1945 in Zivilkleidung bei Linz heimlich über die Grenze nach Deutschland ging. Wir haben uns anlässlich der Großen Berliner Polizeiausstellung im letzten Jahr getroffen und über unsere Väter gesprochen. Borowicz: Wie würden Sie Ihren Text gattungsmäßig verorten? Niemann: Ich nenne meinen Text eine Dokumentation, da ich den Weg aufzeichne, den ich gegangen bin und seine Ergebnisse.

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Borowicz: Warum haben Sie diese Art der Auseinandersetzung mit dem Vater und seiner Vergangenheit gewählt? Niemann: Eine andere Form ist mir nicht möglich. Die gefundenen Fakten sprechen ihre eigene Sprache, die muss ich nicht noch interpretieren. Borowicz: Im Falle der ersten Publikationswelle (1979/1980) waren es vor allem die Söhne, die sich in den Väterbüchern zu Wort gemeldet haben, während die neusten Väterbücher vorwiegend von Autorinnen geschrieben wurden. Wie erklären Sie sich das? Sollte man im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Vater geschlechtsspezifisch differenzieren? Niemann: Nein, offenbar dauerte der Prozess der Auseinandersetzung bei Töchtern etwas länger, bzw. waren Verleger mehr bereit, die Ergebnisse auch zu drucken. Eine meine Absagen seitens eines Verlages war : Wir haben die Täter Töchter Literatur satt, sie verkauft sich auch nicht. Borowicz: Während in den 1970er/1980er Jahren die Täterkinder in den Fokus der damaligen psychotherapeutischen und autobiographischen Literatur gerieten, sehen sich viele Autoren der neuen Väterbücher im Kontext der Kriegskindergeneration. In welchem Kontext würden Sie sich selbst verorten? Niemann: Ich bin 1942 geboren, also Kriegsgeneration. Oft älter als die 70/80iger Jahre Täterkinder damals waren, als sie schrieben, weiß meine Generation auch um die Auswirkung der Kriegszeit und fügt sie u. U. mit ein. Borowicz: Viele der neuen Texte werden im Rahmen eines Opferdiskurses geschrieben, indem sie das Schicksal der deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung, der Ausgebombten, der Ruinenkinder, der traumatisierten Wehrmachtsoldaten hervorheben. Wie beurteilen sie das neue Opfernarrativ? (In den älteren Väterbüchern, z. B. von Härtling oder Meckel wurde das Geschehen an der Heimatfront sowie die Flucht ebenfalls erwähnt, aber ohne Viktimisierung) Niemann: Ist die Erarbeitung des Geschehens vor Kriegsende sorgfältig und gründlich dargestellt und ist die eigene Geschichte Teil des Textes, muss auch das Nachkriegserleben erzählt werden können. Kinder sind immer Opfer, an ihnen wird gehandelt. Borowicz: Während die älteren Texte vorwiegend in einem anklagenden Ton gehalten wurden, versuchen die neusten Publikationen durch das Verstehenlernen einen intergenerationellen Dialog aufzubauen. Wie beurteilen Sie das?

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Niemann: Da ich meinen Vater, sieht man von drei oder vier halbstündigen »Besuchen« in DDR Zuchthäusern ab, nicht gesehen oder erlebt habe, versuche ich, so viele Informationen über sein früheres Leben zu finden, anderes ist nicht mehr möglich. Verstehen? Wie soll ich einen Mörder verstehen und ich will es auch nicht mehr, mit all meinem Wissen seiner Taten heute. Borowicz: War Ihr Text, Ihrer Meinung nach, tabubrechend? Kann man noch im Hinblick auf das Thema Nationalsozialismus Tabus brechen? Niemann: Vielleicht, da es in meinem Text kein: ja, aber… gibt. Nach wie vor wäre das Schweigen in so vielen Familien noch zu brechen. Das Eingestehen der Bereicherung an jüdischem Eigentum ist in seiner ganzen Bandbreite noch lange nicht geschehen. Michael Verhoeven nennt seinen Film »Menschliches Versagen« (2008), um hier nur einen Punkt zu nennen, mehr davon in einer der letzten Antworten. Borowicz: Wie sah Ihre Vater-Spuren-Suche von der technischen Seite, von der Vorgehensweise aus? Waren Sie in Ihrer Suche konsequent oder sind Sie doch vor Manchem zurückgeschreckt? Gab es Fakten, von denen Sie besser nichts wissen wollten? Niemann: Mein Vater wurde 74 Jahre alt. Ich breitete 74 Din A4 Seiten auf meinem Gästebett aus und ging daran, die Blätter systematisch mit belegbaren Unterlagen zu füllen. Ich bin vor manchem für Minuten zurück geschreckt, danach habe ich an dem Thema weitergearbeitet. Ich habe wissentlich nichts ausgelassen, mein Aktenbestand umfasst ca. 50 Ordner, prall gefüllt. Manchmal dauerte es z. T. ein Jahr und länger, um die Zeitgleichheit von Ereignissen in Deckung zu bringen, ich denke heute, aus Selbstschutz. Als Beispiel: die Ermordung von etwa 8.500 Frauen, Kinder und wenigen Männern in einem Gaswageneinsatz 1942 in Belgrad, der erst kurz vor meiner Geburt im Juni 1942 beendet war. Dazu brauchte ich mehr als ein Jahr. Din A4 Seiten, die weiß oder nur mit kurzen Texten versehen geblieben sind bis heute, sind sehr wenige und auch die werden weniger. Borowicz: Wie gingen Sie mit den Lücken in der Rekonstruktionsphase der Lebensgeschichte Ihres Vaters um? Hatten Sie Probleme während Ihrer Recherche beim Zugang zu Aktenmaterial? Niemann: Manchmal wurde mir gesagt, »wir haben nichts« oder »Sie haben nun alles vorgelegt bekommen«, »es betrifft nicht Ihre Eltern« (und dann, wie ich

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einmal feststellen konnte, doch). Damit gebe ich mich nicht zufrieden und frage nach zwei/drei Jahren erneut nach. Es ist nicht einfach, an Unterlagen in den osteuropäischen Ländern heran zu kommen. Die Archive sind im Aufbau, wenig ist übersetzt, die zu zahlenden Beträge, z. B. in Polen, sind sehr hoch. Unterlagen werden in ganz anderen Zusammenhängen gefunden, manchmal werden mir Unterlagen von Historikern geschickt, die sie in ihrem Forschungsrahmen gefunden haben, um nur einiges zu nennen. Borowicz: Sie haben gesucht. Was haben Sie gefunden? Niemann: Ich haben den »Dienstweg« meines Vaters bis auf einen Aktenvermerk in den BSTU Unterlagen: »…und wurde im Polenfeldzug verwendet« fast vollständig erarbeitet. Die Zeit nach 1945 – 1972 kann ich weitgehend belegen. Noch nicht, wie er tatsächlich gestorben ist. Ich habe den unschuldigen Vater gesucht und den Massenmörder gefunden. Borowicz: Wird das Thema der Vater-Spuren-Suche für Sie persönlich und in der Öffentlichkeit je abgeschlossen sein? Niemann: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Borowicz: Hatte die literarische Auseinandersetzung eine therapeutische Bedeutung für Sie? Niemann: Die Dokumentation des Lebens meines Vaters, ab 1942 auch meines Lebens parallel, ab 1972 bis heute mein Leben mit dem toten Vater, hat mir Klarheit gebracht, auch über mich und meine Verhaltensweisen. Borowicz: Was würden Sie in Ihrem Fall als väterliches Erbe bezeichnen? Niemann: Wenn meine Mutter wütend wurde, sagte sie: »Du siehst nicht nur aus wie Dein Vater, Du bist auch wie er«. Das empfand ich als Befreiung, nicht so zu sein, wie sie. Dies aufzubrechen kostete mich große Anstrengung. Durch seine Schuld hat er mir die Verantwortung vererbt, aufzuklären, mein Bestes zu tun, meine Kinder zu selbstständigen Menschen zu erziehen, die sich ihrer Selbstverantwortung für ihr Leben, das ihrer Kinder und ihrer Gesellschaft bewusst sind und danach ihr Leben leben. Borowicz: Konnten Sie sich endgültig von der Vaterfigur verabschieden?

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Niemann: Obgleich ich meinen Vater nicht will, habe ich ihn doch. Er und meine Mutter gehören zu meinem Leben. Borowicz: Was hat ihre Generation zur »Bewältigung« der Vergangenheit beigetragen? Niemann: Für mich ist »Vergangenheitsbewältigung« unmöglich, ein unmöglicher Begriff, da es diesen Vorgang nicht gibt. Meine und inzwischen die dritte Generation ist im günstigsten Fall dabei, sich die Vergangenheit zu erarbeiten, mehr ist nicht zu schaffen. Zu wissen, was war, kann für die Gegenwart und Zukunft helfen, anstehende Probleme anders zu lösen als meine Elterngeneration es weitgehend getan hat. Borowicz: Inwiefern hat die Auseinadersetzung mit dem Vater Ihnen zum Verstehenlernen des eigenen Selbst verholfen? Niemann: Die Auseinandersetzung hat mir Klarheit verschafft, wie ich mein Leben führen möchte, meine Kraft darin zu setzen, das was mir wichtig ist, auch umzusetzen; was ich auf keinen Fall dulde, weder bei mir noch in meiner Familie, mit allen Konsequenzen, ggf. auch mit Trennungen. Borowicz: Wurden sie von ihren Nächsten unterstützt, mussten sie auf jemanden Rücksicht nehmen während Ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Niemann: Diese Arbeit macht sehr einsam. Meine Tochter war mir eine Hilfe durch ihr Zuhören, mir in technischen Dingen zu helfen, z. B. Adressen zu finden. Eine Freundin begleitete meinen Weg einige Zeit lang, dann hatte sie genug, wie alle anderen Freunde auch. Die Gespräche mit dem Dokumentarfilmer Yoash Tatari waren mir Hilfe und Stütze zugleich. Da ich mich ausschließlich auf meinen Vater und manchmal auf meine Mutter konzentrierte, habe ich die Geschichten der Familienangehörigen nicht mit einfließen lassen. Da hätte es sicherlich große Konflikte gegeben. Den Kontakt zu meinen älteren Schwestern und mit meiner Mutter habe ich 1978 abgebrochen, aus anderen Gründen. Meine Mutter starb 1984, hat das alles nicht mehr erlebt. Ich weiß, dass meine Schwestern die Filme kennen, mein Buch haben. Sie schweigen. Ich habe das bewusst arrangierte Lügengebilde meiner Familie durchbrochen. Borowicz: Wie stark hat Ihren Text die post-68er Perspektive geprägt? Hatte die Wiedervereinigung Deutschlands und Sturz der SED-Diktatur einen Einfluss auf Ihre Sichtweise gehabt?

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Niemann: Das weiß ich nicht. Keinen Einfluss aber Zugang zu den DDR-Archiven und der der ehemaligen Ostblockländer. Borowicz: Wie beurteilen sie die gegenwärtige Gedächtnispolitik? Niemann: Die gegenwärtige Gedächtnispolitik wendet sich zu sehr von der Opferseite ab. Beispiel: Der Film über den Untergang der Gustloff war Publikumsrenner und wird dauernd im TV wiederholt. Über die beiden Schiffe, die überfüllt mit KZ-Häftlingen über die Ostsee bis in die Bucht vor Lübeck gelangten, durch britische Bomber beschossen und zum Untergang gebracht wurden, mit mehr als 2000 Toten, habe ich bisher keinen Film gesehen. Ein Freund von mir hat mit 13/14 Jahren damals mitgeholfen, die angeschwemmten Leichen zu bergen. Über Flucht und Vertreibung gibt es jede Woche in deutschen TV-Sendern Berichte/Filme mit der Endlosschleife der Wiederholungen. Über die Todesmärsche der ungarischen Juden hat die Österreichische Historikerin Eleonore Lappin den Film »Alles Schweigen« gedreht, ihn habe ich im deutschen TV nicht gesehen. Borowicz: Würden Sie heute ihre Auseinandersetzung, ihren Text anders gestalten? Niemann: Nein. Borowicz: Sehen sie noch Forschungslücken zum Thema Nationalsozialismus? Niemann: Ja, z. B. Firmengeschichten, Auktionen jüd. Eigentums auf den Straßen, Rückgabe geraubter Kunstschätze seitens der Museen, Galerien, Bibliotheken, Aufarbeitung bei den Standesorganisationen. Endlich die Bezahlung von Häftlingsgruppen, die bisher durch fadenscheinige Gesetze unberücksichtigt bleiben. z. B. die Ghettoarbeiter, die Geschichten der stillen Helfer, der kleinen Widerstandsgruppen, der Widerstand einzelner Personen. Da gibt es noch so viel zu tun. Borowicz: Sehen Sie Parallelen zur ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur? Niemann: Das, was bisher in der BRD in Bezug auf Aufarbeitung geleistet wurde oder nicht, hilft bei der Ausarbeitung der SED Diktator, Fehler zu vermeiden. Borowicz: Wie beurteilen Sie die Rezeption Ihres Buches?

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Niemann: Die vielen Kritiken zu meinem Buch waren durchweg sehr anerkennend und gut. Die Landeszentrale für politische Bildung Berlin kaufte 750 Bücher für Berliner Schulen, die Deutsche Welle brachte das Buch als »Buch der Woche« und mir die ersten Leser- bzw. Hörerbriefe aus Indonesien und Schweden von Täterkindern. In der Süddeutschen Zeitung war das Buch in der monatlichen Sachbuchliste im Februar 2006. Viele Historiker, die ich angefragt hatte in den Jahren, gratulierten mir mündlich oder schriftlich. Borowicz: Vielen Dank für das Interview. Berlin, 01. 06. 2012

Interview mit Monika Jetter Dominika Borowicz: Die Väterbücher werden durchgehend seit den 1970er Jahren publiziert. Worauf beruht das Phänomen der Väterliteratur? Monika Jetter : Ich nehme an, dass ist einfach auch eine Generationsfrage. Wir sind ja, wir Kriegs- oder Nachkriegskinder mit Eltern aufgewachsen, die – das weiß auch jeder – anderes zu tun hatten oder auch damit nichts mehr zu tun haben wollten, aber vor allem, um uns auch großzukriegen und durchzukriegen und sich selber auch. Die waren teilweise noch sehr jung. Die waren ja Mitte 20 kurz vor 30. Damals war das nie ein Thema. Warum das ein Thema wurde? Entweder ist es so, dass dann einer von beiden Elternteilen gestorben ist und man fand dann plötzlich Unterlagen, die auch irgendwo versteckt waren, Fotos aus Alben rausgerissen. Man fragte: »Warum ist das rausgerissen? Was hat er denn eigentlich gemacht? Wo ist er denn gewesen?« Und die Mütter wollten eigentlich auch nicht mehr darüber reden. Teilweise wussten sie auch wenig, weil die Väter oft darüber auch nicht gesprochen haben, wo sie genau gewesen sind, was dort passiert ist. Sie waren – wie wir alle wissen – auch traumatisiert. Und so ist es dann nach und nach gekommen. Und wenn man nicht direkt persönlich eine Erfahrung gemacht hat, dass man sagte: »So, das will ich jetzt aber wissen«, dann ist es oft auch dabei geblieben. Aber, wenn man Beschädigungen hatte, angefangen vom Nicht-Aufhören-an-Nägeln-Kauen oder Bettnässen oder Gelenkproblemen oder Schlafstörungen oder Alpträume, dann dachte man doch plötzlich: »War es so?« »Was ist denn da eigentlich los?« Und wenn man Glück hatte und man hat sich aufgemacht und hat Therapie gemacht – was auch nicht immer gut ging, aber in vielen Fällen ging es auch gut – dann konnte man dem auch auf die Spur kommen und sich befreien. Und das Interesse ist dann natürlich wie Schneebälle weitergegangen. Der eine hat es dem anderen erzählt:

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»Du ich habe, … Ich habe auch was«. Und als dann die Bücher herauskamen, haben viele natürlich gesagt: »Ach ja, das ist mir genauso gegangen. Das habe ich ja auch so erlebt.« Und dann war das plötzlich, wie eine große Familie. Also es war ein großes Gemeinschaftsgefühl einer stillen Wunde. Borowicz: Hatte das Schreiben für Sie eine therapeutische Bedeutung gehabt? Jetter : Ich habe ja erst für mich geschrieben, nur für mich. Dann habe ich die Therapie angefangen und habe dann mit Unterstützung meines Therapeuten weitergearbeitet an diesen Aufzeichnungen bis ich zu dem Punkt kam, dass ich dachte: »Ich kann das ja nicht alleine gewesen sein«. Und ich bin ja auch Journalistin, dann habe ich dieses Inserat geschaltet in der »Welt am Sonntag« und dann als die Briefe kamen, da war mir ziemlich klar, dass ich das Buch machen MUSS. Nicht nur für MICH sondern auch für andere. Bei dem Verlag habe ich dann auch gleich damit offene Türen gefunden, da ich auch die Briefe zeigen konnte, die gekommen sind aufgrund des Inserats. Das war ja erschütternd. Also das war wirklich erschütternd und vor allem von den Prügeln. Die furchtbaren Prügel und die Demütigungen. Wir wussten ja gar nicht, was diese Väter von uns wollten, dass sie im Grunde das machen mussten, was man mit IHNEN gemacht hatte um IHNEN den Willen zu brechen für diesen Wahnsinn. Die mussten einfach fügsam sein und marschieren und singen, wobei es übrigens bis heute oft so ist. Die Soldaten marschieren auch wieder und singen. Ich weiß auch nicht warum das so ist. Ich glaube dann sind mehr und mehr Bücher herausgekommen und die Menschen, die das betrifft kaufen auch nicht nur ein Buch. Die kaufen zwei, drei Bücher, was andere geschrieben haben. Und einige haben mir auch geschrieben, sie haben dann selber angefangen aufzuschreiben und zu recherchieren in der Familie und auch im Bundesarchiv (Ich habe ja die Adressen hinten angegeben). Also um zu sagen »Wo war er eigentlich? Was hat er eigentlich gemacht?« Natürlich wurde vieles in den Familien schöngeredet ob nun es hieß »Vater war eigentlich im Widerstand« was gar nicht stimmte oder »Der Vater war ganz mutig« etc. Und wenn die dann rausgekriegt haben, wo die Väter gewesen sind, dann sind sie natürlich vor Schreck umgefallen. Man hat die Väter schöngeredet. Man wollte lieber, wenn sie nun schon zurückgekommen sind auch einen Helden und nicht jemanden der auch mitgemacht hatte. Borowicz: Haben andere Väterbücher Ihren Text beeinflusst? Jetter : Gar nicht. Überhaupt gar nicht. Ich habe später natürlich sehr viele Bücher gelesen. Ich habe das vorher absichtlich nicht gemacht, weil Erinnerungen immer subjektiv sind. Wenn ich von anderen inzwischen Bücher gelesen hätte, dann hätte mich das vielleicht beeinflusst. Was ich lesen musste waren

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natürlich Nazi-Bücher. Die Kindheit der Menschen damals. Es gibt ja sehr viel Literatur darüber, Bildbände und wie gesagt, dieses dicke Lexikon erst einmal: Was heißt genau SA? Was hieß denn eigentlich SS? Was ist denn dies? Was ist denn das? Was ist die deutsche Arbeitsfront? Das wusste ich alles überhaupt nicht. Das war aber wichtig bei der Recherche, was meinen Vater betraf und das hat mir dann auch geholfen. Und wie ich auch anfangs schrieb, ich hätte nie gedacht, dass solche Bücher auf meinem Schreibtisch liegen würden. Nie. Für mich war das einfach eine so ekelhafte, schreckliche Geschichte. Und natürlich kam dann das Elend des kleinen Mädchens dazu, dass ich eben auch dadurch keinen Vater hatte. Keinen emotional erreichbaren Vater. Mein Gott, wenn ich das alles gewusst hätte, dann hätte ich mich eher mit ihm aussprechen und versöhnen können. Er wollte ja immer auch darüber reden, aber sprach immer nur vom Krieg und vom Krieg und das wollte ich eben nicht wissen. Und von seinen Orden und von seinen Heldentaten aber er ist bis zum Schluss – das muss ich leider sagen – er ist bis zum Schluss ein überzeugter Nationalsozialist geblieben. Und das hat es mir sehr schwer gemacht. Er wollte das nicht einsehen. Er war auch ein Antisemit bis zum Schluss. Und immer wenn ich sagte: »Wenn du das noch einmal sagst komme ich dich nie wieder besuchen«, schwieg er. Das saß zu tief in ihm drin. Dadurch, dass er Junker war auf einer Ordensburg gewesen war und als sog. Herrenmensch da erzogen worden ist. Mit dieser Rassenlehre und allem was ihm so eingebläut, dass … Das war furchtbar. Wir sind ja, nun Gott sei dank, nicht so erzogen worden, so dass ich mit ihm dann auch darüber ganz harsch reden konnte, als ich sagte »Kannst du denn das nicht einsehen?« Er : »Nein, die Juden haben immer… Und die Juden… Die Juden…« Selbst als das Elend dann deutlich wurde durch Filme hat er mal gesagt: »Also das kann ich mir gar nicht vorstellen«. Er hat dann aber einmal leise gesagt »Diese Schweine«. Damit meinte er die Naziführer »Die haben uns alle belogen und betrogen«. Das hat er schon gesagt, aber die Sache an sich war in ihm drin. Das muss ich leider sagen. Borowicz: Glauben Sie, dass Sie ihm ein bisschen anders hätten entgegen kommen können um die Kommunikation anders aufzubauen? Jetter : Ja, ich würde vor allem, nach dem, was ich heute alles weiß mit ihm darüber reden können, wie leid es mir eigentlich tut, dass er sich so hat in die Irre führen lassen, denn er hat es eigentlich nur gemacht, weil er eine Chance für sich gesucht hat. Er wollte einfach etwas werden. Er hatte als Kind auch wenig Chancen. Er wollte etwas werden und als Junker auf so einer Ordensburg, hat er oft erzählt »Wir hätten große Ländereien gehabt. Ihr hättet doch reiten können. Wir hießen vielleicht heute ›von‹ sowieso« Also er hat das auch gemacht für seine Familie. Nur leider hatte er auf das verkehrte Pferd gesetzt. In sofern tut er mir

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eigentlich leid, denn wenn es andere Zeiten gewesen wären und andere Voraussetzungen – er war sehr intelligent, sehr belesen – man konnte mit ihm eigentlich über alles reden, diskutieren, besonders Archäologie und Geschichte. Der wusste von jeder Schlacht, wo irgendwas war, Schlachten besonders, aber auch Archäologie, sodass es eigentlich schade ist, dass wir niemals diesen Weg zueinander gefunden haben, denn das sind auch meine Interessengebiete, nicht die Schlachten, aber Archäologie und Geschichte. Ich glaube auch, dass dieses Buch, was ich da geschrieben habe, sich von anderen sehr unterscheidet, dass es eigentlich sehr leicht zu lesen geschrieben ist. Das ist also kein wissenschaftliches Werk oder kein reinpolitisches Werk. Das ist eine kleine menschliche Geschichte. Borowicz: Verfolgen Sie die neuen Publikationen? Jetter : In der Zeit, in der ich gearbeitet habe an dem Buch, das war auch gerade eine Zeit als so viel kam im Fernsehen »Hitlers Helfer«, »Hitlers Frauen«, »Hitlers dies«, »Hitlers das« und »Bombennächte« und hin und her. Und da habe ich immer natürlich gesessen und sofort Notizen gemacht, was ich nicht wusste. Im Moment muss ich sagen, bin ich mehr interessiert an der Geschichte vor und nach dem Krieg, was die Juden betrifft. Ich habe auch mit einem Teil des Honorars für mein Buch den wunderbaren Künstler Günter Demnig unterstützt, der die Stolpersteine verlegt. Ich spreche oft mit Kindern, was das bedeutet. Wir sind auch neulich los. Wir haben Steine geputzt. Also das ist eigentlich das, was mir jetzt am Herzen liegt. Und auch ich stehe oft in so einer Straße – Sie kennen sich in Hamburg ja nicht so aus. Dieses Viertel, in dem wir wohnen war also zum größten Teil auch jüdisches Viertel. Die großen Häuser gehörten alles Juden und in der einen Straße, in der Isestraße sind von manchen Häusern 15, 16, 17 Stolpersteine. Da stehe ich immer davor und stelle mir das vor, wie die Menschen da rausgeholt worden sind. Neulich musste ich mit einer Freundin in einen Keller von so einem Haus. Da habe ich solche Platzangst bekommen da unten. Ich dachte, mein Gott sie haben vielleicht hier gesessen, mit ihren kleinen Koffern sich hier versteckt. Das sind Dinge, die berühren mich zu triefst bis heute und immer mehr. Diese Nazi-Geschichte ist für mich eigentlich abgeschlossen. Nicht das ich jetzt sagen würde »Ich will nach wie vor nichts damit zu tun haben« aber es ist vorbei. Es ist vorbei. Und ich hoffe auch, dass das nie wieder und nie wieder in diesem Land passiert, obwohl es schon wieder unheimlich viele Neonazis gibt. Das sind ja aber keine Neo-Nazis. Das sind ja noch Alt-Nazi-Wahnideen, weil das nie aufgearbeitet worden ist, kann das immer wieder hoch kommen. Die Embleme und das alles. Da ist niemals richtig Grund gemacht worden. Und wieder etwas aus dem Ruder läuft, klammern die sich wieder an diese Nazi-Nummer.

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Borowicz: Die erste Publikationswelle fand 1979/1980 und die zweite 2003 – 2005 statt. Jetter : Ja da war der zweite Schub… Borowicz: … und in beiden Fällen waren es oft Autoren, die derselben Generation angehört haben. Jetter : Ja. Borowicz: Woraus resultiert diese große Zeitspanne zwischen diesen zwei Publikationswellen? Jetter : Wenn man sich die Autoren anguckt, die die ersten waren, die diese Bücher geschrieben haben, dann war es z. B. Vesper, der sich umgebracht hat hinterher. Er war ja selber schwerst depressiv. Es kommt auch immer darauf an in welchem Familienverband man zu der Zeit gelebt hat. Ich weiß zum Beispiel von einer Familie. Der Vater war Richter, ein alter NS-Richter, der wieder Richter war. Dann kam die 68er-Zeit, wo natürlich nicht daran zu denken war diesen Vater zu respektieren. Obwohl immer erklärt wurde, wir mussten die Richter nehmen, wir hatten ja keine mehr. Aber trotzdem ist das eine Sache, wenn man weiß, was die da für Urteile gefällt haben, wenn das überhaupt Urteile waren. Andere waren sowieso Schriftsteller also Härtling z. B. oder Meckel. Das waren schon Leute, die nicht nur aus Druck schrieben, sondern sie wussten einfach es liegt in der Luft, sage ich mal so. Und das waren ja auch sehr erfolgreiche Bücher. Das erste Buch, was kurz vor mir herauskam, war ja dann von Wibke Bruhns »Meines Vaters Land«. Was aber nicht nur mit der Nazi-Geschichte zu tun hatte, sondern mit den Nationaldeutschen, die aus ihrer Familie ja kamen. Das war ja meine nicht. Also das waren schon verschiedene Stränge. Das habe ich natürlich schon beobachtet. Dann der Uwe Timm, aber ich nehmen an, dass die ersten doch aus der 68er-Zeit waren. Das war ich zum Beispiel überhaupt nicht. Ich habe mich überhaupt nicht dafür interessiert. Ich war damals schon im Ausland. Ich habe also ganz andere Interessen gehabt und als hier »Ho Chi Minh« in Berlin gebrüllt wurde, da hätte ich vielleicht gesagt: »Wer ist das denn? Weiß ich gar nicht.« Ich habe mich überhaupt nicht für Politik interessiert, weil meine Mutter einmal gesagt hatte: »In diesem Haus wird über Politik nie mehr gesprochen.« Und ich hatte meinen Tanz, ich hatte meinen Ballet, meine Musik und das alles interessierte mich nicht. Borowicz: 2003 und 2005 waren Jubiläumsdaten …

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Jetter : Genau und das war bei mir nicht so. Bei mir war das wirklich aus rein persönlichem Geschehen aber das könnte ich mir vorstellen. Das wäre vielleicht eine Frage, die würde ich dem Verlag stellen: »Worauf führen sie das zurück?« Das kann ich ihnen gar nicht sagen. Borowicz: Und es melden sich immer mehr Frauen zu Wort. Jetter : Wissen Sie was ich glaube? Ich glaube, dass viele – ich sage es mal vorsichtig – das kann ich auch von mir sagen, nicht richtig beziehungsfähig waren. Es sind ja viele Ehen geschieden worden. Ich habe damals zu meinem Verleger gesagt: »Ich bin ja keine Soziologin, aber wenn man einmal – aufgrund der Briefe, die ich bekommen habe – eine Untersuchung machen würde, wie viele Ehen geschieden worden sind von Nachkriegs- und Kriegskindern, dann würde man auch sehen, wie das auf die Kinder wirkte.« Sehr viele Frauen – glaube ich – taten sich schwer mit Männern, weil wir alle keinen Vater hatten. Und wenn man dann einen Mann kennen lernte, dann hat man seine ganze Hoffnung auf diesen Mann gerichtet, dass er nicht nur Geliebter und Ehemann, sondern auch Vater ist. Die kamen aber aus derselben Generation. Die konnten das gar nicht leisten. Die suchten im Grunde auch einen. Und deshalb waren wir – ich sage mal jetzt – kleine Hungerhaken, emotionale Hungerhaken. Man musste sich damals immer anstrengen, um zu genügen. Das ist eine sehr sehr mühselige Geschichte. Auf der einen Seite geprügelt werden und auf der anderen Seite sich anstrengen um die Liebe, die man vielleicht doch noch irgendwann bekommt. Das ist so demütigend und so schrecklich. Borowicz: Wie würden sie Ihren Text gattungsmäßig beschreiben? Ist es eine Autobiographie? Jetter : Ja, es ist Autobiographie absolut. Also es ist nicht eingeflossen was ich nicht selbst erlebt oder recherchiert habe. Ich habe natürlich nicht meinen richtigen Familiennamen, ich habe H. geschrieben aber mein Therapeut ist zum Beispiel mit vollem Namen im Buch. Ich habe ihn gefragt. Und meine Schwester, steht natürlich als »meine Schwester«. Da steht da nicht der Name, aber es ist absolut autobiographisch. Borowicz: Wie sind die Worte ihres Vaters: »Es wird der Tag kommen, an dem der Mensch wieder zum Menschen findet«1335 zu verstehen? Der Satz kommt oft im Text vor. 1335 Jetter, Monika: Mein Kriegsvater. Versuch einer Versöhnung. Hamburg 2004, S. 52, 59, 64, 212, 221.

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Jetter : Ja, ich habe das schon als Legat empfunden, irgendwie auch philosophisch fast: »Es wird der Tag kommen, an dem der Mensch wieder zum Menschen findet«. Da war er schon auch aufgewühlt. Dieses »Ich bin unterworfen«, das hat er viel früher auch schon gesagt. Das kam – glaube ich – aus seiner Zeit auf der Ordensburg, wo keine Schwäche, keine Empfindsamkeit erlaubt war. Er hat immer gesagt: »Wer befehlen will, muss gehorchen können. Wer nicht gehorchen kann, wird auch nie befehlen können«. Aber alles, was dahinter steht – Empfindungen, das war gar nicht angesagt. Und wenn er mal sich dann schwach fühlte, sagte er : »Entschuldigung, ich bin unterworfen.«1336 Als ob ihn dann seine Sensibilität eingeholt hätte, die er immer verleugnen musste. Das war nicht angesagt. Härte war angesagt. Durchgreifen, so wie er das immer machte. Und deshalb waren diese Dinge die in ihm waren total auch vergraben. Er wusste genau wer Rilke und Hölderlin waren. Das war nicht angesagt. »Mein Kampf« war angesagt und Rassenlehre war angesagt. Da kommt das »Unterworfen« her aber das letzte dann »Es wird der Tag kommen, an dem der Mensch wieder zum Menschen findet« hatte schon damit zu tun, dass es doch bei uns eine kleine Annährung stattgefunden hat, was er sehr genossen hat und sicher auch bedauert hat, dass es nicht früher war. Und dazu kommt natürlich dann noch – das können Sie auch sehr schön bei Theodor Fontane nachlesen über seinen Vater – dass in dem Alter auch sowieso eine Milde und ein Weicher-Werden kommen. Und dann kommen philosophische Gedanken. Das schreibt der Fontane über seinen Vater auch in seinen »Die Kinderjahre«. Aber was fängt man dann später damit an? Borowicz: Haben Sie noch die erste Erinnerung an ihren Vater im Gedächtnis? Jetter : Darüber habe ich oft nachgedacht aber ich weiß nur, dass es plötzlich hieß »Der Vater ist wieder da.« Dann gibt es ein paar Bilder, das weiß ich nicht ob die wirklich meine sind oder ob man es mir so erzählt hat, dass er mal aus Frankreich kam und mir so eine Puppe mitgebracht hat. Daran kann ich mich nicht so erinnern. Ich habe zum Beispiel, auch kein genaues Bild von ihm in Uniform. Ich habe dann recherchiert, was er da eigentlich an hatte. Und dann kam raus, dass man sie wegen der Uniform Goldfasanen nannte, deshalb sagte er immer zu meiner Mutter »Mein Goldhühnchen«. Aber ich sehe ihn nicht vor mir stehen in Uniform. Ich sehe ihn nur hart vor mir stehen. Er war ja auch noch jung, er war ja Mitte 30 was er alles erlebt hatte an Leichen. Es ist wirklich unbeschreiblich. Ich sehe ihn nur hart vor mir und v. a. seine Hände, sehr harte Hände. Ich habe mich dann nur immer so geduckt. Aber die erste Erinnerung … Ich weiß es nicht. 1336 Jetter, Monika: Mein Kriegsvater. Versuch einer Versöhnung. Hamburg 2004, S. 15, 36.

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Borowicz: Sie haben gesucht. Was haben Sie gefunden? Jetter : Tja, ich habe v. a. den Menschen in meinem Vater gefunden. Und das war für mich doch sehr sehr schön. Wenn er auch diesen Irrweg da mit dem Antisemitismus gegangen ist, war er doch in aller ersten Linie sehr gerechtigkeitsempfindend. Zum Beispiel, das hat er mir immer gesagt »Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber« also in der Politik und wie wichtig es ist, dass der Mensch, der arbeitet auch genug Geld hat um davon zu leben. Er hat mir oft von Zille erzählt. Zille war ein Milieu-Zeichner aus dem alten Berlin, der hat ganz ganz einfach gelebt und hat immer die armen Leute gezeichnet und festgehalten. Und Familien, hat er mir erzählt, die mussten Wohnungen trocken wohnen, weil sie kein Geld hatten. Die Kinder hatten alle Tuberkulose. Wenn die Wohnung dann trocken gewohnt war, dann kriegten sie die reichen Leute. Also er hat in mir ein sehr soziales Nest gebaut an Gerechtigkeit v. a. auch für die arbeitenden Menschen. Er kam selber aus einer Arbeiterfamilie. Ich war immer auch dort zu finden, wo es um Unrecht ging. Und das habe ich von meinem Vater, dieses Menschenbild, was so konträr zu dem anderen ist. Ich muss noch einmal dazu sagen, ich habe das recherchiert, das stimmt: Die Soldaten die dann alle im Feld waren die wussten wirklich nichts von diesen Konzentrationslagern. Sie kämpften für diesen Hitler, verbluteten sich dann, ließen arme und Beine und Augenlicht, aber was hier passierte – das habe ich wirklich recherchiert – das wussten viele, ich sage mal einige vielleicht, aber die meisten nicht! Weil sie im Feld waren, wie man das nannte. Natürlich dann, als sie nach Haus kamen, dann habe ich damals gefragt: »Was hast du denn gedacht, wo die alle abgeblieben sind?« Da sagte meine Mutter immer : »Na, du hast immer gesagt Werner, die wurden abgeholt und wurden irgendwo umerzogen, war das nicht so?« »Ja« hat er dann dazu gesagt. Und als ich sie dann gezwungen habe, mit mir im Fernsehen den Nürnberger Prozess anzugucken, hat er auch gesagt: »Wenn du mich weiter vor mir hertreibst, springe ich vom Balkon.« Dann habe ich gesagt: »Spring doch.« Borowicz: Was hat Ihnen der Vater für Ihr Leben mitgegeben? Was würden Sie als das väterliche Erbe bezeichnen, außer dem Gerechtigkeitsempfinden, das Sie erwähnt haben? Jetter : Das schon mal als aller erstes. Und dann eigentlich auch eine gewisse Lebensart. Etwas Preußisches also niemals über seine Verhältnisse leben und »weniger ist mehr« und dann dieser berühmte Satz, der übrigens auch auf den Messern von der Napola überall stand: »Mehr sein als schein.« Also eher bescheiden und nicht hervortreten und leisten für die Gemeinschaft. Also schon von der Ethik her schöne Bilder würde ich sagen, die eben so in diesem starken

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Kontrast stehen. Und das ist doch, was mir eben so wahnsinnig Leid tut bei ihm. Ein anderer Weg hätte ihn vielleicht sehr weit gebracht. Das war eben einfach für ihn Pech, dass er nicht die »Gnade der späten Geburt« hatte, sondern dass er gerade in diese Zeit hineingeboren ist, die in verführt hat. Und deshalb ist ja auch der Untertitel »Versuch einer Versöhnung«. Denn ich kenne viele, die sagen: »Ich habe mit dem nichts mehr zu tun;« »Ich will mit dem nichts zu tun haben;« »Ich schaffe das nicht.« Da habe ich immer gesagt: »Ihr tut euch selber ein Gefallen wenn ihr das macht und bitte, wenn es noch geht, wenn sie noch leben. Bei mir war das ja zu spät. Da war er ja schon tot. Aber viele würden sich tatsächlich helfen sich zu befreien, wenn sie noch sagen: »Lass uns doch mal reden« Das können die wenigsten durch diese schrecklichen Sachen, die man mit uns gemacht hat. Es wurde ja geprügelt in den Häusern, mit allem was war : Kochlöffel, Kleiderbügel, Teppichklopfer. Und sie waren so voller Aggression. Und wenn man nur ein Wort sagte, sofort gab es Prügel. Das muss auch für die Frauen furchtbar gewesen sein. Deshalb gab es auch ja so viele Scheidungen. Viele Frauen haben dann ihre Männer verlassen, weil sie die Kinder so furchtbar behandelt haben. Nicht ahnend und auch nicht hinterfragend warum diese Männer sich so verändert haben, denn darüber wollten auch viele nicht reden Das haben sie nur untereinander gemacht. Die Kameraden von früher : »Weiß du noch in Russland;« »Weiß du noch dies …« Da haben sie gesprochen. Mein Vater hat ja auch noch später Kontakte zu alten Fallschirmjägern. Da haben sie sich dann ihre schrecklichen Sachen alle erzählt. Aber in der Familie wurde nicht gesprochen. Das können Sie überall nachlesen. Borowicz: Ist die Vaterspurensuche für sie abgeschlossen? Jetter : Ja. Borowicz: Wird sie in der Öffentlichkeit je abgeschlossen sein? Jetter : Also wenn ich an diesen Kongress denke, in Frankfurt das war 60 Jahre danach 2005, das war ein internationaler Kongress mit vielen internationalen Therapeuten aus allen Ländern bis aus Amerika. Die sind erst jetzt in der Aufarbeitung. Also das ist noch gar nicht abgeschlossen. Ich bin jetzt gerade wieder in September von der Landeszentrale für Politische Bildung in Stuttgart eingeladen. Überall arbeiten Therapeuten an dem Problem, am Schicksal und an der Aufarbeitung dieser beschädigten Menschen. Also abgeschlossen für mich ja, aber ich glaube noch lange nicht für alle. Viele in meinem Umfeld, als ich dann an dem Buch arbeitete, fanden das gar nicht gut. Mit der Überschrift: »Man macht nicht in sein eigenes Nest«; »Man ist ein Nestbeschmutzer«. Das ist übrigens etwas sehr deutsches.

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Borowicz: Haben Sie auf jemanden Rücksicht nehmen müssen? Wurden sie von jemandem unterstützt? Jetter : Na ja es ging auch um meine Familie und meine Tochter. Sie kriegte auch das erste Buch als es fertig war. Ich habe gesagt: »Es geht um deinen Großvater. Es tut mir furchtbar leid. Das musste so sein. Und es ist auch wichtig, auch für andere Menschen.« Und das hat sie auch verstanden. Sie hat nie vorher etwas lesen wollen und als das Buch fertig war, sagte Sie »Oh Gott sei dank, ich dachte er hat viel Schlimmeres gemacht.« Es war ja letztlich so. Er war kein Gestapomann. Er war keiner der in KZ’s gearbeitet hat. Er hat niemanden denunziert. Er hat niemanden aufgehängt. Natürlich, hat er Leute erschossen im Krieg. Er war Soldat aber er war kein Schwein, wie ich viele bezeichnen würde, die also aktiv in der Vernichtung von Menschen waren. Borowicz: Also Sie würden ihn nicht als Täter bezeichnen. Jetter : Nein! Er war ein soldatischer Nationalsozialist mit hehren Gefühlen für Adolf Hitler aus seiner Perspektive. Aber die in Konzentrationslagern das waren für mich absolute Verbrecher. Borowicz: Sie haben auch gesagt, Sie hätten nie die Suche angefangen, wenn Sie gewusst hätten, dass er für die Judenvernichtung verantwortlich gewesen wäre. Jetter : Nie, nein das hätte ich nicht gemacht. Das wäre mir die Sache nicht wert gewesen. Mich für ein Schwein auf den Weg zu machen um herauszufinden, dass er in SS war. Das hätte ich ja sowieso schon gewusst. Das hätte ich nicht gemacht. Aber bei einer Lesung, da kam eine Frau, die hat mir ihren Arm gezeigt. Sie hat sich selbst mit einem Messer den Arm abgehackt und sagte: »Ich bin damit einfach nicht fertig geworden, dass mein Vater sowas gemacht hat.« Und da habe ich damals gedacht das könnte ich verstehen, also wenn ich das herausfinden würde. Es gab da auch noch so einen Film »Mein Vater der Mörder.« Da hat die ganze Familie sich von der Frau abgewandt, weil sie das aufgedeckt hat, was ihr Vater wirklich gemacht hat in Polen, in diesen Gaswagen. Und dann haben sie gesagt: »Das musst du nicht machen unseren Vater da rauszerren.« Und das war auch ein wichtiges Buch aber der Film endete mit dem Satz: »Ich will mit diesem Mann, mit diesem Mörder nie wieder etwas zu tun haben.« Und da habe ich mir gedacht: »Warum hast du dann ein Film gemacht?« Also das hätte ich dann vielleicht nicht gemacht. Borowicz: Wurden Sie von jemandem unterstützt?

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Jetter : Ja schon, von meinem Therapeuten natürlich und auch sehr von meinem Lektor. Borowicz: Und in der Familie? Jetter : Ich habe eine ältere Schwester. Das war etwas merkwürdig. Wir hatten was das anging nicht so einen guten Kontakt. Sie war ja der Liebling von Papa, was sie natürlich auch abstreitet. Wir haben uns dann geeinigt und dann hat sie mich sehr unterstützt. Ich habe öfters eine Postkarte von ihr gekriegt »Ich bewundere dich, dass du das machst.« Und als dann das Buch herauskam und ich habe ihr eins geschickt hat sie natürlich sofort gesagt: »Ja, ich habe ja vieles anders gesehen«. So ist das. Erinnerungen sind subjektiv. Und gerade was ich schon vorhin sagte, in der Familien werden Geschichten erzählt die überhaupt nicht stimmen. Borowicz: Haben Sie Ihren Vater in der Kategorie der Abwesenheit oder des Verlusts empfunden? Jetter : Ich bin ihm eigentlich immer nur aus dem Weg gegangen, weil – das kam ja noch dazu – ich Rebellin geworden bin. Er hat mich immer immer kontrolliert. Er war immer hinter mir her. Es war furchtbar. Bis auf die Toilette hat er mich verfolgt und immer wollte er mir irgendwas beweisen, dass er mich im Griff hat. Das war fürchterlich. Es war wirklich fürchterlich. Meine Mutter, die hat auch nichts gemacht. Als er mich eingesperrt hat, dann hat sie mich heimlich immer rausgelassen. Wenn er nicht da war, dann durfte ich schnell die Tassen abtrocknen, damit ich raus darf. Ich hatte pausenlos Angst. Borowicz: Konnten Sie sich von ihrem Vater endgültig verabschieden? Jetter : Ach ja schon. Also früher hatte ich Schwierigkeiten zum Friedhof zu gehen, weil er da nun auch lag. Meine Mutter habe ich immer besucht aber ich stand da immer bei ihm. Als ich ihm – was ja hinten im Buch steht den Brief geschrieben hatte – da habe ich neben seiner Urne ein Loch gegraben. Ich habe den Brief reingesteckt und oben eine schöne Rose drauf gelegt… Borowicz: Am Ende des Buches schreiben Sie das erste Mal »Mein Vater…« Jetter : »Mein Vater« und das war übrigens etwas, was ganz von allein kam, dass ich schrieb »Lieber Vater.« Ich habe sonst immer nur Briefe an meine Mutter geschrieben, »P.S. Gruß an den Vater«.

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Borowicz: War es für Sie schwierig eine passende Sprache für die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu finden? Jetter : Merkwürdigerweise kam das dann nachher in dem Buch, bis auf seine soldatische Laufbahn eigentlich gar nicht mehr vor – also, dass ich mich da nationalsozialistisch mit ihm auseinandersetzen musste. Einfach nur, dass ich herausfinden wollte, warum er das gemacht hat? Wo er gewesen ist? Was er gemacht hat? Und warum gerade Kreta für ihn sowas schreckliches war? Das habe ich dann herausgefunden, was da los war. Aber ansonsten ging es eigentlich um die Wunde in unserer Familie – wie in einer Truhe, da war ein Deckel drauf. Niemand durfte den Deckel hochheben. Es wurde gesungen, es wurde gefeiert. Was war hinter dem Deckel, das wollte ich gerne wissen. Und als ich das dann herausgefunden habe: »Ach ja, so war es. So hing das Ganze zusammen,« merkte ich, dass es Stück für Stück von mir abfiel. Dieser Druck. Gott sei dank war das nicht mehr. Und Gespräche mit ihm über den Nationalsozialismus gab es überhaupt nicht. Von der Ordensburg wusste ich gar nichts. Ich wusste nicht einmal was es war bis ich ja in Polen war. Und dann habe ich mich erst einmal natürlich gefragt: »Was ist denn da passiert? Was sollten sie denn da nun lernen und studieren?« Bis ich dann gelesen habe, dass es darum ging die ganzen Ostgebiete, die es ja noch zu erobern galt mit diesen dann gebackenen Junkern zu besetzen um dort diese Länder zu regieren. Aber das hat mich dann auch nicht so interessiert, weil das hat ja Gott sei dank, nicht stattgefunden. Insofern war das dann auch egal. Borowicz: Hatten die 68er-Postperspektive oder die Wiedervereinigung bzw. die ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur oder öffentliche Debatten zu diesem Thema Ihre Auseinandersetzung beeinflusst? Jetter : Nein, überhaupt nicht. Die ganze Geschichte mit der DDR, auch nach dem Fall der Mauer hat mich insofern gar nicht angegangen, obwohl das jetzt zwei Spuren sind. Die eine Spur ist natürlich, dass es auch dort eine große Widerstandsbewegung gegeben hat. Aber ich fand das so unglaublich, dass nach dieser Geschichte sofort wieder eine Diktatur sein konnte. Und wieder wurde marschiert und wieder die Fahnen, wieder das Singen. Das fand ich so abartig. Wobei ich mir natürlich kein Bild machen kann, ich habe ja in Westberlin gelebt. Ich habe ja nicht da gelebt. Und durch die Trennung und natürlich durch die Partei, sowieso ist man da wieder so als Kind aufgewachsen. Und jetzt sind wir wieder wieder vereint. Ich muss Ihnen ehrlich Sagen, es ist an mir vorbeigegangen. Ich kannte da niemanden. Ich bin da nie gewesen und sofern dachte ich: »Na ja mal gucken, ob denn die Leute, die mit diesem Regime dort gelebt haben alle die Jahre, das wirklich wollen« und das ist ja nicht so. Es gibt ja ganz viele, die es

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heute gerne wieder zurück haben wollten, weil nämlich da tatsächlich jeder Arbeit hatte, Jeder günstige Wohnung hatte. Die Kinder waren versorgt, wie – ist eine andere Geschichte. Aber das was hier mit den Drogen mit der Kriminalität passiert, das hat es da nicht gegeben. Das sagte aber auch mein Vater immer »Zu Hitlers Zeiten hätte so etwas nie gegeben. Da konnte eine Frau nachts noch über die Strasse gehen mit ihren Kindern. Da wäre nichts passiert. Und Drogen soweiso gar nicht.« Borowicz: Sehen Sie bei der ›Aufarbeitung‹ gewisse Ähnlichkeiten? Jetter : Also ich weiß es jetzt nicht genau, ob in der ehemaligen DDR überhupt eine Aufarbeitung stattgefunden hat. Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass es hier nicht so war. Das kann man auch nachlesen, das hat es nicht gegeben. Man hat es totgeschwiegen und ist einfach nach vorne gegangen. Und dann lauerte es hinten. In der DDR weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass natürlich dann die SED gegründet wurde und das ganze kommunistische Bild da hereinkam. Wie man ja immer sagt, im Grunde ist ja Kommunismus nicht verkehrt, aber in dem Moment wo es eine Diktatur wird mit allen Folgen, ist es von Übel. Das finde ich. Also sofern würde ich mich zum Beispiel, als Sozialistin einschätzen. Borowicz: Sehen Sie die neuen Vätertexte noch als tabubrechend? Würden Sie Ihren eigenen Text als tabubrechend bezeichnen? Jetter : Tabubrechend würde ich nicht sagen. Türöffnend. Türöffnend für eigene Gefühle, für eigene Geschichten in der Beobachtung. Das ist ja erstaunlich, die Kinder dieser Zeit waren ja sehr geübt in der Beobachtung, weil ja nicht gesprochen wurde. Die haben ja den Onkel beobachtet, die Tante beobachtet was die machten, was die geredet haben. Aber kein Tabu. Ich glaube es ist kein Tabu mehr. Das ist es nicht mehr Tabu. Borowicz: Auch nicht auf der öffentlichen Ebene? Jetter : Nein, es sei denn bei diesen – ich sage etwas Hässliches – bei diesen erzkonservativen adligen Familien, die ja immer deutschnational waren. Auch wenn sie heute sagen: »Wir nennen uns jetzt konservativ, wobei der Hitler die ja auch auf dem Picker hatte. Die würden nie so ein Buch rüberbringen. Nie. Also das glaube ich nicht. Also hier nebenan wohnt zum Beispiel eine Frau, deren Großvater war dieser von Trotha, der die Hereros zu Kolonialzeiten in die Wüste geschickt hat zum Verhungern. Der wurde immer noch als der große General gefeiert bis ich gesagt habe: »Die haben ja nicht alle Tassen im Schrank, wisst ihr

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nicht was das für ein Verbrecher war?« Aber er war unter Wilhelm II General und es gab Kolonien. Das finde ich so ekelhaft. Das können sie sich gar nicht vorstellen. Ganz furchtbar. Borowicz: Wie beurteilen Sie die aktuelle Gedächtnispolitik? Jetter : Also bis auf die wenigen Fälle von Bekannten, Freunden, und Kollegen, die dann bei der Arbeit an dem Buch auch erzählten: »Du, ich habe es dir nie erzählt, mein Vater war bei der SS oder mein Vater war dies und das. Ich will jetzt auch nicht darüber reden. Ich finde es mutig was du jetzt machst, aber das hätte ich nie gemacht«, glaube ich schon dass Viele danach auch nachgeguckt haben, auch wenn sie nicht darüber geredet haben. Aber allgemein glaube ich und das hoffe ich auch, dass das Schamgefühl – obwohl wir eine andere Generation waren – aber das Schamgefühl in uns ist, was da passiert ist als Deutsche. Ich zum Beispiel betrachte mich als Kosmopolitin. Ich betrachte mich nicht als Deutsche. Das habe ich schon ganz früh so auch für mich entschieden. Da kenne ich aber Viele, die das ganz anders sehen, die wenn Fußball ist, gleich mit der deutschen Fahne herumrennen oder sich ein Hütchen aufsetzen mit diesen Farben. Blödsinn. Aber das ist so: »Ich bin stolz darauf eine Deutsche zu sein.« Ich wüsste nicht worauf ich stolz sein sollte, es sei denn auf unsere Kultur. Also »stolz« ist das verkehrte Wort. Aber ohne – wie man in Amerika zu mir sagt: »You and your Goethe and your Schiller« – aber ohne diese Vordenker wäre Europa schon sehr viel ärmer. Das betrachte ich auch als Kulturerbe und pflege das auch sehr für mich selber und auch für meine Familie. Aber so Wandervogellieder oder so, da hört es bei mir schon auf. Das ist dann schon wieder für mich geprägt von dieser Zeit. Borowicz: Hatten Sie bei der Recherche Probleme beim Zugang zum Aktenmaterial? Jetter : Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ob das an der Uni war, ob es an diesem wunderbaren Hamburger Institut für Sozialforschung war – das ist ja ein herrliches Arbeiten da, da können sie für paar Cents alles fotokopieren. Und auch in Bundesbehörden hatte ich nur Unterstützung, ich habe nie irgendeine Behinderung dort gehabt. Gar nicht. Im Gegenteil. Sie haben dann gefragt: »Wann kommt das Buch heraus? Und kann ich es dann auch mal lesen?« Und das ist in so vielen Archiven, das glauben Sie gar nicht, von der Kirche angefangen bis in die Schulen. Überall. Das Buch hat sich sehr gut verkauft und immer noch. Und wahrscheinlich, weil es eine kleine menschliche Geschichte ist. Borowicz: Das ist eben das Phänomen der Väterbücher glaube ich.

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Jetter : Ja, dass man einfach sagt: »Ja, die hat das erlebt und der hat das auch erlebt« Und es sind nicht nur Paragraphen und Absätze, sondern das ist mir passiert und das habe ich durchstehen müssen als Kind und so habe ich es geschafft. Es ist ja eigentlich von mir so gedacht, dass es Mut macht, dass es Mut macht sich damit auseinanderzusetzen, dass das Leben wieder schöner wird. Borowicz: Das heißt also es hatte eine therapeutische Bedeutung… Jetter : Auf jeden Fall, weil wir Frauen einfach nicht in der Lage waren uns einem Mann – ich sage das jetzt generell – wirklich anzuvertrauen. Wir waren immer besetzt von dieser Angst vor dem Mann, vor dem Mann damals. Egal jetzt welcher, weil man uns das ausgeprügelt hat, sage ich mal so. Und diese Beschädigungen, das war schon heftig. Insofern tut mir das Leid, dass sie das nicht mehr lesen können. Es war grauenvoll. Es war wirklich so grauenvoll, was viele Mädchen erlebt haben. Jungs auch. Das ist wirklich furchtbar. Dieses Kriechen, wie Tiere, von oben getreten werden also wirklich… wenn man sich das vorstellt. Ich war damals erst fünf, fünf oder sechs. Dann dieses besonders schreckliche Erlebnis, wo ich dann auch gesagt habe, da hatte ich ihn von mir abgeschnitten also da war dann Schluss. Ich nahm ihn zwar wahr, aber nur am Rand. Und wissen Sie das Verrückte war, dass er ja immer sagte – und das hat er auch gemacht bei allen schweren Zeiten – »Wir haben nichts mehr aber ihr werdet eine gute Ausbildung bekommen. Das wird euch nie jemand nehmen können.« Deshalb war ich auch auf der Klosterschule mit sechs Schülerinnen. Damals waren die Klassen 40, 50 Schüler. Ich habe Latein, Französisch und Englisch gelernt. Damals sagte er schon: »Ihr müsst Chinesisch lernen, Japanisch« – das hat er damals schon gesagt – »Das werden mal die Weltsprachen werden.« Ja, er hatte einen großen Weitblick und ein irrsinniges Wissen. Borowicz: Sehen sie noch Forschungslücken im Hinblick auf Nationalsozialismus? Ist das Thema des Nationalsozialismus pass¦ in der Öffentlichkeit? Jetter : Also, was ich jetzt interessant finde, was hochaktuell ist – ich kenne eine Frau die arbeitet gerade am Buch, das kommt jetzt auch heraus im Herbst – dass man jetzt über dieses PTSD von der Bundeswehr spricht. Und das gab es schon früher bei den Soldaten. Nur früher hatte man das nicht beachtet. Und im Ersten Weltkrieg wurden die auch schon behandelt aber nicht um sie zu heilen sondern um sie wieder rauszuschicken. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich kein Mensch darum gekümmert um Soldaten, die aus dem Krieg kamen. Keiner. Und das Bewusstsein geht glaube ich auch nach hinten: »Ach, guck mal das waren die da auch. Was die da alles erlebt haben.« Und das kann vielleicht auch bis dahin gehen – wenn man so wie ich Pazifistin ist natürlich – dass man sagt: »Wann

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wird das endlich aufhören, dieser Wahnsinn?« Immer wieder werden da die Jungs verfeuert. Wie meine Mutter immer sagte: »Sei froh, dass du ein Mädchen bist. Jungs sind nur Kanonenfutter.« Stimmte ja auch, aber für meinen Vater war ich natürlich leider wieder kein Sohn. Borowicz: Die letzte Frage: Es findet gerade der Übergang des Themas des Nationalsozialismus vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis. Sehen sie auch Ihren Text in diesem Kontext? Jetter : Na ja, ich meine das findet ja statt. Bedauerlicherweise wird das nicht mehr lange stattfinden, dass zum Beispiel Juden, die wieder hier leben in die Schulen gehen und mit den Schulkindern sprechen. Es gibt ja auch genug Bilder, und Videos und DVDs was man alles gucken kann, denn die letzten Zeitzeugen sterben ja langsam aus. Ich höre immer wieder : »Ach, da bauen sie schon wieder ein Museum für die Juden. Mein Gott, wer will denn das jetzt noch alles wissen.« Und ich weiß auch nicht ob dieses Stelenfeld da in Berlin, ob ich das nun so gut finde, lauter Säulen anzugucken aber wenn ich in Ausstellungen gehe und das heißt dann nicht »sechs Millionen Juden,« sondern »das ist Sarah so und so und das ist das« und man sieht die Leute, das ist dann anderes als eine anonyme Zahl. Deshalb finde ich auch diese Stolpersteine so gut. Das ist wirklich eine herausragende Idee. Abgeschlossen? Ich kann nur hoffen, dass es nie abgeschlossen ist. Aber für einen Großteil der Bevölkerung ja, vor allem für die jetzige Generation. Also wenn sie mal fragen, die wissen es nicht, aber sie können die auch etwas anderes fragen, z. B. was ist denn Ostern? Das wissen sie auch nicht. Das Interesse der Generation von heute und davor ist in ganz andere Bahnen gelaufen und nicht zu besten, muss ich ehrlich sagen. Ich kann das Wort nicht ausstehen »Werteverfall,« aber da ist schon etwas dran und das bedauere ich sehr. Aber wir sind natürlich anders aufgewachsen: Immer noch Sachen auftragen, immer noch was ändern. Die Jungs hatten Schuhe vorne abgeschnitten von den Schuhen der Väter. Wir sind so arm aufgewachsen. Es gab ja so gut wie nichts. Und trotzdem gab es Glücksmomente. Wenn der Vater z. B. vom Schwarzmarkt einmal eine Wurst mitbrachte, dann saß man zusammen, und man war stolz auf den Vater, dass er das herangeschafft hatte. Heute wenn ich so sehe, was die Kinder alles so kriegen. Die können sich ja gar nicht mehr freuen. Wir konnten uns noch freuen. Aber gut, die Zeiten sind eben vorbei und man kann ja nur froh sein, dass es vorbei ist. Borowicz: Ich danke Ihnen für das Interview. Hamburg, 08. 06. 2010

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Interview mit Jens-Jürgen Ventzki Dominika Borowicz: Die Väterbücher werden seit den 1970er Jahren durchgehend publiziert. Worauf beruht das Phänomen der Väterliteratur? Jens-Jürgen Ventzki: Kann ich so gar nicht beantworten. Borowicz: Sind Ihnen Väterbücher aus den 1970er/1980er Jahren bekannt? Hatten andere Väterbücher auf Ihr Schreiben, auf Ihre Auseinandersetzung mit dem Vater Einfluss gehabt? Ventzki: Nein, einen Einfluss auf mein Schreiben über die Biographie meines Vaters hatten diese »Väterbücher« der 1970er/1980er Jahre nicht, da meine Herangehensweise an das Schreiben eine andere als die der angesprochenen Autoren war. Borowicz: Sehen Sie Unterschiede zwischen den Publikationen der 1970er/1980er und denen, die nach der Jahrtausendwende erschienen sind? Hat sich Ihrer Meinung nach, die Art und der »Inhalt« der deutschen ›Vergangenheitsaufarbeitung‹ im Laufe der Zeit verändert? Ventzki: Ich denke schon, dass es Veränderung gegeben hat, allein dadurch, dass wesentlich mehr wissenschaftliche Publikationen erschienen sind und die Quellenlage für Recherchen seit der politischen Wende 1989/1990 und später in Europa sich entscheidend verbessert hat. Borowicz: Warum haben Sie diese Art der Auseinandersetzung mit dem Vater und seiner Vergangenheit gewählt? Ventzki: Das Schreiben zwingt zu einer intensiveren Auseinandersetzung, einer sorgfältigen Umgangsweise und Verbesserung des Kenntnisstandes der historischen Fakten. Erst ein fundiertes Wissen in Zusammenhang mit der Biographie des Vaters kann Grundlage einer schriftlichen Arbeit zu dieser Thematik sein. Borowicz: Wie würden Sie Ihren Text gattungsmäßig definieren? – Ist der Autor mit der Erzählfigur gleichzusetzen, oder würden Sie doch eher von einer literarischen Bearbeitung mit autobiographischem Kern sprechen? Würden Sie den Text selbst den Väterbüchern zuordnen?

Interview mit Jens-Jürgen Ventzki

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Ventzki: Mein Text ordne ich nicht als eine literarische Bearbeitung, sondern mehr als dokumentarisch-journalistische Darstellung mit autobiographischen Merkmalen. Kindheitserinnerungen, Berichte, Beobachtungen, Impressionen weisen mich deutlich in der Rolle der Erzählfigur aus. Zwar ist mir der Begriff »Väterbücher« ein wenig zu allgemein, doch wenn damit eine umgangssprachliche Definition gemeint ist, würde mein Text in diese Kategorie hineinpassen. Borowicz: Seit den 1990er Jahren ist eine Tendenz zur Authentisierung zu beobachten. Die Texte tragen Züge einer wissenschaftlichen Arbeit (Quellenangabe, Bibliographie, Lebenslauf des Vaters, Expertenstimmen). Die »Vatersuche« der 1970er/1980er Jahre hat sich mittlerweile zur »Vater-Spuren-Suche« entwickelt? Wie erklären Sie sich diesen Prozess? Ventzki: Für mich ist die Erklärung hierfür eindeutig. Ich hatte schon erwähnt, die Möglichkeiten, einen besseren Kenntnisstand über die historischen Fakten des 20. Jahrhunderts zu erlangen, haben sich in den letzten 20, 30 Jahren spürbar verbessert. Viele Archive in Osteuropa sind seit dieser Zeit zugänglicher, die modernen Technologien (Internet usw.), erleichtern nicht nur die Recherchen, sondern fördern sie in einem großen Ausmaß. Die intensive »Spurensuche« nach Dokumenten jeder Art, die internationale Vernetzung, Berichte von Zeitzeugen (»Oral-History«) können vielfach als Basis von Texten herangezogen werden. Borowicz: Während in den 1970er/1980er Jahren die Täterkinder in den Fokus der damaligen psychotherapeutischen und autobiographischen Literatur gerieten, sehen sich viele Autoren der neuen Väterbücher im Kontext der Kriegskindergeneration. In welchem Kontext würden Sie sich selbst verorten? Ventzki: Auf jeden Fall sehe ich mich mehr der Kriegskindergeneration zugehörig, was ja nicht ausschließt, autobiographische Elemente im Text zu verankern. Borowicz: Wie weit wurde Ihr Text durch politisch-gesellschaftliche Debatten und mediale Events beeinflusst und welche waren besonders ausschlaggebend? Ventzki: Das entscheidende Schlüsselerlebnis für mich war der Besuch einer Ausstellung im Jüdischen Museum in Frankfurt/Main 1990 über das Ghetto Lodz/Litzmannstadt (»Unser einziger Weg ist Arbeit«), wo ich Dokumente über die NS-Täterschaft meines Vaters entdeckte. Es war in meinem Falle mehr ein langsam wachsender Prozess, der natürlich beeinflusst war von der fachlichen und in der breiten Öffentlichkeit stattfindenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der Shoah. Verstärkt

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

wurde dieser Prozess ganz sicher auch durch die jeweiligen neuen Publikationen, konkret z. B. auch von den Tagebüchern von Victor Klemperer (»Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten«, Berlin 1995), für die ich mich durch Organisation von Lesungen und Diskussionsveranstaltungen engagierte. Ich hatte schon früh viel über die NS-Diktatur gelesen, doch bis zur Entdeckung der Wahrheit nie meinen Vater in Verbindung mit den NS-Verbrechen gebracht. Borowicz: Wie sah Ihre Vater-Spuren-Suche von der »technischen« Seite, von der Vorgehensweise aus? Waren Sie in Ihrer Suche konsequent oder sind Sie doch vor Manchem zurückgeschreckt? Gab es Fakten, von denen Sie besser nichts wissen wollten und sie auch für sich selbst ausgelassen haben? Ventzki: Ich war in der glücklichen Lage, Zugang zu vielen aufschlussreichen Dokumenten zu bekommen und über gute Kontakte zu renommierten Historikern zu verfügen. Auch heute ist meine Suche nach Spuren meines Vaters noch nicht ganz abgeschlossen, da immer wieder Dinge auftauchen, die mir bisher unbekannt waren. In meinem Text bin ich zunächst an zwei, drei Stellen doch von Formulierungen meines Vaters, die mir sehr deutlich in Erinnerung sind, zurückgeschreckt, habe diese Zitate nach einiger Überlegung dann aber doch in den Text einfließen lassen. Borowicz: Hatten Sie Probleme während Ihrer Recherchen beim Zugang zum Aktenmaterial? Gab es Sperrvermerke? Ventzki: Ernstzunehmende Probleme in Archiven bei der Akteneinsicht gab es nicht, in einem Archiv gibt es auch für mich unter Umständen Schwierigkeiten, an Dokumente heranzukommen. Doch die Faktenlage wird dadurch nicht maßgeblich verändert, da es eine Zeit betrifft, die deutlich in meinen Erinnerungen präsent ist. Borowicz: Wurden sie von ihren Nächsten unterstützt? Mussten sie auf jemanden Rücksicht nehmen während der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Ventzki: Von meiner Frau und unseren beiden Töchtern hatte ich von Anfang an eine große Unterstützung und Zustimmung zu meiner Arbeit. Dagegen gab es bei meinen Geschwistern zum Teil Vorbehalte gegen meine Absicht, mit unserer Familiengeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Borowicz: Wie stark hat Ihren Text die Post-68er-Perspektive geprägt? Hatte die Wiedervereinigung Deutschlands und Sturz der SED-Diktatur einen Einfluss auf Ihre Sichtweise gehabt?

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Ventzki: Nein, beide angesprochenen Zeitabschnitte hatten keinen bewussten Einfluss auf meine Sichtweise, die sich unabhängig entwickelt hat. Borowicz: Haben Sie Ihren Vater in der Kategorie des Verlusts oder der Abwesenheit empfunden? Ventzki: Da mein Vater faktisch tatsächlich häufig abwesend war, hat sich dies auch entsprechend stark in meinem Bewusstsein niedergeschlagen. Borowicz: Wie gehen Sie mit dem ambivalenten Gefühl Ihrem Vater gegenüber? Ventzki: Ich habe es für mich so bilanziert, dass ich von meinen »zwei Vätern« spreche und eine Ambivalenz mich mein Leben lang begleiten wird. Dies wiederum ist neben der moralischen Verantwortung auch ein wichtiges Motiv, weiterhin nicht zu schweigen und aktiv zu bleiben. Borowicz: Sie haben gesucht. Was haben Sie gefunden? Ventzki: Die historische Wahrheit über die Mittäterschaft meines Vaters bei den Verbrechen der Nazis und bei der Shoah. Borowicz: Wird das Thema der Vater-Spuren-Suche für Sie persönlich und in der Öffentlichkeit je abgeschlossen sein? Ventzki: Nein, denn es können immer weitere Dokumente, auch Aufzeichnungen von Zeitzeugen usw. auftauchen, die mein Nachfragen, mein Studium dieser Dokumente befördern. Ich nehme auch zur Kenntnis, dass eine junge Generation von Historikern, Wissenschaftlern über meinen Vater als »Figur der Zeitgeschichte« (so bezeichnete mein Vater sich selbst) arbeitet und publiziert. Borowicz: Hatte die literarische Auseinandersetzung eine therapeutische Bedeutung für Sie? Ventzki: Ja. Borowicz: Was würden Sie in Ihrem Fall als väterliches Erbe bezeichnen? Ventzki: Das Erbe meines Vaters ist bedingt und fußend auf die gewonnenen historischen Erkenntnisse genauso ambivalent, wie sich die Figur meines Vaters aus meiner heutigen Sicht darstellt.

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Gespräche mit Autorinnen und Autoren

Borowicz: Inwiefern hat Ihnen die Auseinadersetzung mit dem Vater zum Verstehenlernen des eigenen Selbst verholfen? Ventzki: Das kann ich gar nicht mit Bestimmtheit beantworten, vielleicht darf ich dies mit einem »jein« andeuten. Borowicz: Konnten Sie sich endgültig von der Vaterfigur verabschieden? Ventzki: Nein, mein Vater bleibt mit in Form seiner zwei Figuren auch weiterhin erhalten. Borowicz: War Ihr Text, Ihrer Meinung nach, tabubrechend? Gibt es noch in der Öffentlichkeit Tabus in Bezug auf das Thema Nationalsozialismus? Ventzki: Tabubrechend nur in Bezug auf meine Familie, also Geschwister und Verwandtschaft. Tabus gibt es in der Öffentlichkeit sicher noch, doch mehr in rechtskonservativen, politisch wenig aufgeklärten Kreisen, aber weniger in der interessierten und engagierten Bevölkerungsschichten. Allerdings bedeutet dies nicht, regelmäßig immer noch einen Ruf nach einem »Schlussstrich« zu hören. Borowicz: »Bewältigung« oder »Aufarbeitung«/»Abarbeitung«? Wie sehen Sie Ihre Auseinandersetzung? Ventzki: Weder »Bewältigung,« »Aufarbeitung« oder »Abarbeitung« sind für mich Begriffe, die ich meiner Arbeit zuordne, allein die Definition »Auseinandersetzung« trifft die Sache, da es ein Vorgang ist, der weiterhin lebt und nicht wirklich abgeschlossen ist. Borowicz: Was hat ihre Generation zur »Bewältigung« der Vergangenheit beigetragen? Ventzki: Der Begriff »Bewältigung« trifft meiner Meinung nicht das, was ich dabei empfinde. Ich denke, dass in meiner Generation eine große Anzahl von Menschen verstanden hat, wie wichtig und unerlässlich es ist, Verantwortung zu übernehmen, das jahrzehntelange Schweigen zu brechen und so der nächsten Generation keine Handhabe für diktatorische Bestrebungen zu geben. Borowicz: Wie beurteilen sie die gegenwärtige Gedächtnispolitik? Darf man von der Normalisierung des Umgangs mit dem Nationalsozialismus sprechen?

Interview mit Jens-Jürgen Ventzki

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Ventzki: Wenn ich heute die Gedächtnispolitik thematisiere, gäbe es dazu viel zu sagen. Es gibt sehr viele, anerkennenswerte – auch vom Ausland – Initiativen, Einrichtungen, die sich der bewussten Auseinandersetzung mit der NS-Zeit stellen. Doch gleichzeitig gibt es vielerorts einen unakzeptablen, weil meist oberflächlich-gedankenlos, Umgang mit der NS-Geschichte. Beispielhaft erscheint mir die Sprache mancher Gedenkveranstaltungen, wo die Rede ist von »den dunkelsten Stunden der deutschen Geschichte,« »unseren jüdischen Mitbürgern« usw. Hier weicht man einer verständlichen und historischen Genauigkeit oft aus und flüchtet sich leicht in eine Sprachfindung, die schnell zu Phrasen werden können. Borowicz: Würden Sie heute ihre Auseinandersetzung, ihren Text anders gestalten? Ventzki: Nein. Borowicz: Vielen Dank für das Interview. Berlin, 03. 06. 2012

Bibliographie

1.

Primärliteratur

1.1

analysierte Väterbücher

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Sekundärliteratur

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2.

Sekundärliteratur

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Bibliographie

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Gegenwartsliteratur Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien, hrsg. v. Carsten Gansel und Hermann Korte

Bd. 9: Frieder von Ammon / Peer Trilcke / Alena Scharfschwert (Hg.) Das Gellen der Tinte Zum Werk Thomas Klings 463 Seiten mit 37 Abbildungen, gebunden ISBN 978-3-89971-874-4 Bd. 10: Carsten Gansel / Elisabeth Herrmann (Hg.) Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 ca. 300 Seiten, gebunden ISBN 978-3-89971-952-9 erscheint August 2013 Bd. 11: Carsten Gansel / Matthias Braun (Hg.) Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung 408 Seiten mit 13 Abbildungen, gebunden ISBN 978-3-89971-997-0 Bd. 12: Kerstin Germer (Ent-)Mythologisierung deutscher Geschichte Uwe Timms narrative Ästhetik 311 Seiten, gebunden ISBN 978-3-8471-0042-3

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