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German Pages 442 Year 2014
Jan Gerstner Das andere Gedächtnis
Lettre
Jan Gerstner (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere und Neueste deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Literatur und Gedächtnis, Intermedialität sowie interkulturelle/postkoloniale Literaturwissenschaft.
Jan Gerstner
Das andere Gedächtnis Fotografie in der Literatur des 20. Jahrhunderts
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2010 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Für Lena und Anatol
Inhalt
Einleitung |
Zum Vorgehen | 15 Zur Textauswahl | 22
I. Fotografietheorie als Literatur: Roland Barthes’ La Chambre claire |
1. Fotografietheoretische Einordnung | 34 2. studium und punctum | 38 Exkurs: Benjamin und Barthes | 40 3. Das Unbewusste der Fotografie | 46 4. Der Text der Fotografie | 52 5. Die Recherche als Intertext | 60 6. Fotografie als Monument der Literatur | 68
Walter Benjamin: Fotogeschichte als Geschichte der Moderne |
1. Medium der Moderne | 73 2. Verluste der Fotografiegeschichte | 87 3. Das Porträt: Ähnlichkeit, Entstellung und literarisches Erinnern | 95 Marcel Prousts À la recherche du temps perdu: Das literarische Gedächtnis der Fototheorie |
1. Fototheoretische Rezeption und Proust-Forschung | 109 2. Fotografie und Gedächtnismetaphorik | 113 3. Fotografische Metaphern bei Proust | 119 4. Die Aura der technischen Reproduzierbarkeit | 122 5. Fotografische Gegenmetaphorik | 127 6. Literarisches und fotografisches Gedächtnis: Das Bild der Großmutter | 134 Siegfried Kracauer: Der Blick aufs Verschollene |
1. Theorie des Films und der Geschichte: Der Umweg des Realismus | 143 2. Die Photographie: Oberfläche und Konstruktion | 158 3. Die Theorie des Films angesichts von Auschwitz | 172
Benjamin und Brecht: Geschichte als Konstruktion von Bild und Schrift |
1. Benjamin: Destruktion und Konstruktion | 181 1.1 Metaphern der Lesbarkeit und Entwicklung | 182 1.2 Gedächtnismedien und Verfahren der Konstruktion | 187 2. Brechts Arbeit mit Fotografie | 199 2.1 Text- und Bild-Experimente in den Journalen | 201 2.2 Funktionen der Text-Bild-Beziehungen in der Kriegsfibel | 203 2.3 Poetologie und literarische Tradition in den Journalen | 212 2.4 Das Gedächtnis der Namenlosen | 216
II. Fotografie und Literatur nach Auschwitz | Jorge Semprun: Die andere Erinnerung |
1. Foto und Zeugenschaft | 249 2. Fotografie und Fiktion | 269
Erinnerung als Fotografie und Fiktion: Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance | Exkurs: Autobiografie, Fotografie, Fiktion | Hubert Fichte: Momentaufnahmen und Fragmente |
1. Poetologische Auseinandersetzungen | 314 2. Zeit, Bild und Erzählen | 331 3. Fotografie und Gedächtnis | 341
Fremdheit und Authentizität der Erinnerung in Christa Wolfs Kindheitsmuster | Schluss |
Siglen | 391 Literaturverzeichnis | 393
Einleitung Ab jetzt ist die Geschichte nicht länger gleichbedeutend mit einem nüchternen Buch, schön gedruckt, aber ohne Bilder.1
Spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert ist nicht bloß die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit zunehmend fotografisch vermittelt. Als Medien der familiären Erinnerung sind Fotos schon im 19. Jahrhundert fester Bestandteil der alltäglichen Erfahrung und Praxis;2 ihre Bedeutung im öffentlichen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts wird nicht erst am Beispiel einschlägiger Ausstellungen und Bildbände offensichtlich.3 Die Fotografie scheint nun nicht nur ein Gedächtnismedium unter vielen, sondern das Gedächtnismedium des Jahrhunderts selbst zu sein.
1
George Santayana: Das fotografische und das geistige Bild (ca. 1905). In: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I. 1839-1912. München: Schirmer/Mosel 1980, S. 251-259, S. 255.
2
Vgl. u.a. Geoffrey Batchen: Forget me not. Photography and Remembrance. Amsterdam/New York: Van Gogh Museum/Princeton Architectural Press 2004; aus soziologischer Perspektive vgl. in der klassischen Studie von Pierre Bourdieu u.a.: Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie. Paris: Minuit 21965, S. 53 f.
3
Vgl. exemplarisch die zwei Bände von Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, Bd. 1: 1900 bis 1949, Bd. 2: 1949 bis heute (der größte Teil der behandelten Bilder sind Fotos); zu Ausstellungen sei hier nur auf die enorme Resonanz vor allem der ersten Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« (Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 19411944. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1997) in Deutschland verwiesen und, v.a. für Frankreich, auf die Ausstellung »Mémoire des camps« (Clément Chéroux (Hg.): Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933-1999). Paris: Marval 2001).
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Die Frage nach Medien ԟ das heißt hier zunächst im allgemeinsten Sinn Techniken, Symbolisierungen, materiellen Trägern und Praktiken ԟ und ihrer Funktion bei der individuellen und kollektiven Gedächtnisbildung4 ist in der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung auch in historischer Perspektive längst ein etabliertes Untersuchungsfeld.5 »Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer Speichermedien und kultureller Praktiken. Ohne diese läßt sich kein generationen- und epochenübergreifendes Gedächtnis aufbauen, was zugleich bedeutet, daß sich mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien auch die Verfaßtheit des Gedächtnisses notwendig mitverändert.«6
Mit dem im Anschluss an Maurice Halbwachs entwickelten Theoriemodell Aleida und Jan Assmanns lässt sich diese Externalisierung als Bedingung für ein kulturelles Gedächtnis beschreiben, in dem eine Gruppe ihren Bestand an Tradierbarem objektiviert und darin ihre Identität und Einheit festigt.7 Demnach überführt das kulturelle Gedächtnis Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses, das sich auf direkte Interaktion und meist mündliche Überlieferung stützt und in der Regel nicht mehr als drei Generationen umfasst, in eine symbolische, institutionalisierte Form, die durchaus noch über bestimmte Funktionsträger, wie etwa Geschichtenerzähler, in festen Tradierungsformen mündlich überliefert sein kann. Aleida Assmann hat in diesem Rahmen weitere Differenzierungen vorgenommen, indem sie das kommunikative Gedächtnis durch das soziale ergänzt hat, wobei ersteres noch auf familienähnliche Strukturen, letzteres auf weitere gesellschaftliche Zusammenhänge, jedoch ebenfalls mit beschränktem Zeithorizont, bezogen ist;8 es ist eine Art »›Kurzzeitgedächtnis‹ der Gesellschaft«,9 das sich auf externe Medien wie etwa Fotografien 4
Den Begriff »kollektives Gedächtnis« verwende ich in Anlehnung an Erll als »Oberbegriff für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt.« (Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 6).
5
Vgl. dazu Manfred Weinberg/Martin Windisch: Einleitung. In: Aleida Assmann/Manfred Weinberg/Martin Windisch (Hg.): Medien des Gedächtnisses. Stuttgart, Weimar: Metzler 1998 (=DVjs Sonderheft), S. 1-13, S. 5 sowie die Beiträge im Heft.
6
Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächt-
7
Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität
8
Vgl. Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Ge-
9
Ebd., S. 28.
nisses. München: Beck 1999, S. 19. in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992, S. 53 ff. schichtspolitik. München: Beck 2006, S. 25 ff.
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stützt, im Wesentlichen aber durch die persönliche Erinnerung von Individuen getragen wird. Das langlebigere, symbolisch vermittelte kulturelle Gedächtnis wiederum beruht auf medialen Trägern und wird nur in seiner jeweiligen Aktualisierung durch Individuen gestützt.10 Zentrales Moment einer weitergehenden Differenzierung des kulturellen Gedächtnisses in ein identitätsrelevantes Funktionsgedächtnis und ein Reservoir potentiell aktualisierbarer Inhalte im Speichergedächtnis ist der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, die erst die Möglichkeit einer umfassenden Externalisierung nicht unmittelbar relevanten Wissens erlaubte.11 Mit der Fotografie tritt nun »eine zunehmende visuelle Komplementierung und Korrektur der sprach- und schriftgebundenen Erinnerungskultur«12 auf den Plan. Dies betrifft nicht so sehr die Möglichkeit einer bildlich vermittelten Erinnerung ԟ die ja an sich nichts Neues wäre ԟ, sondern vor allem die mit der apparativen Bilderstellung ermöglichte Menge und den technischen Charakter der Bilder. Insofern Medien das, »was sie speichern, verarbeiten und vermitteln, jeweils unter Bedingungen stellen, die sie selbst schaffen und sind«,13 lässt auch das fotografische Bild, wie immer man es im Einzelnen bestimmen mag, die Darstellung nicht unberührt.14 Bei der unübersehbaren visuellen Erweiterung des Speichergedächtnisses scheint tendenziell der Mensch umgangen werden zu können, zugunsten einer Abbildung der Welt, die keiner willentlichen Vorauswahl mehr unterworfen ist. Trotz allen Wissens um die Manipulierbarkeit des Abzugs oder ein mögliches Arrangement des Motivs, wofür die Geschichte des 20. Jahrhunderts ja genügend Beispiele liefern könnte, bleibt der Eindruck, das Bild gebe die Kontingenz des historischen ԟ oder privaten ԟ Moments selbst wieder. Kleine Gruppen wie die Familie, die ihre Erinnerungen wohl kaum schriftlich fixierten, versammeln ihre Anekdoten um die Bil10 Vgl. ebd., S. 33. 11 Vgl. Aleida Assmann/Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Mertens/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140, S. 121 ff., S. 130 ff. 12 Jens Ruchatz: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen. In: Astrid Erll/Hanne Birk (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin u.a.: de Gruyter 2004, S. 83-105, S. 104. 13 Lorenz Engell/Joseph Vogl: Vorwort. In: Claus Pias u.a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. München: DVA 62008, S. 8-11, S. 10. 14 Vgl. Konrad Köstlin: Photographierte Erinnerung? Bemerkungen zur Erinnerung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. In: Ursula Brunold-Bigler/Hermann Bausinger (Hg.): Hören – Sagen – Lesen – Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag. Bern u.a.: Lang 1995, S. 395-410.
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der eines Albums; die ›große› Geschichte sedimentiert sich zunehmend in ikonischen Bildern, von Robert Capas Fotos des Spanischen Bürgerkriegs über die deutschen Konzentrationslager oder den Vietnamkrieg bis hin zum Fall der Berliner Mauer. »Das Ereignis gewinnt in seiner Reproduktion eine historische Bedeutsamkeit.«15 Die technischen Effekte des Mediums sind ebenso sehr Wahrnehmungseffekte und tragen als solche nicht minder zur Umstrukturierung des kollektiven Gedächtnisses – in seiner kulturellen wie in seiner kommunikativen Variante ԟ bei. Bedeutsamkeit muss dabei, gerade als Medieneffekt, nicht mit dem historischen Gewicht einer Sache zusammenfallen: Die aufgezählte Ereignisreihe sagt als solche letztlich weniger über die spezifische Qualität des jeweiligen Geschehens aus als über die Prominenz der entsprechenden Bilder im kollektiven Gedächtnis. Die Medialität der Bilder liegt bei alledem weniger im Wesen der Technik begründet als im Gebrauch der Fotografie als Gedächtnismedium. In dem Rahmen allerdings dürfte die technische Genese des Bilds für die größten Irritationen innerhalb einer schriftbasierten Erinnerungskultur gesorgt haben. Vilém Flusser, der eine Geschichtsphilosophie der Medien entwirft, die den Bogen von magischen Bildern der Vorgeschichte über die lineare Schrift bis zu den technischen Bildern spannt (oder überspannt),16 sieht in der Erfindung der Fotografie sogar einen Einschnitt, der der Erfindung der Schrift ebenbürtig ist. Mit der Fotografie eröffne sich erst das »Universum der technischen Bilder« und elektronischen Medien, das aus den Aporien der Schriftkultur herausführe.17 Man muss die Dinge nicht unbedingt unter Flussers »apokalyptische[m] Gesichtswinkel«18 betrachten, um in der Fotografie eine Vorläuferin heutiger medialer Entwicklungen zu sehen. Das Interesse an der Fotografie, das sich gegenwärtig artikuliert, könnte aus den aktuellen Umbrüchen im Bereich der Medien – und das betrifft ja nicht nur das Feld des Gedächtnisses ԟ herrühren, und dies umso mehr, als die Fotografie, zumindest in ihrer analogen Form, selbst beginnt, historisch zu werden. Es ist zumindest auffällig, dass mit der zunehmenden Bedeutung der Digitalfotografie auch die Produktion und Sammlung fototheoretischer Schriften, teilweise mit explizit retro15 Hubertus von Amelunxen: Das Memorial des Jahrhunderts. Fotografie und Ereignis. In: Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie. Übers. v. Rolf W. Blum u.a. Köln: Könemann 2001, S. 130-147, S. 133 (Amelunxen bezieht sich auf das 19. Jahrhundert; sein anschließender Kommentar ԟ »Gleichwohl hat die Fotografie einen epilogischen Charakter: Sie beendet die Geschichte« ԟ wäre hinsichtlich des 20. Jahrhunderts wohl eher in Richtung einer Transformation zu korrigieren). 16 Vgl. Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen: European Photography 91999 (= Edition Flusser, Bd. 3). 17 Vgl. Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen: European Photography 61999 (= Edition Flusser, Bd. 4), u.a. S. 86. 18 Flusser: Für eine Philosophie, S. 19.
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spektivem Charakter, zuzunehmen scheint.19 Auch in dieser Hinsicht scheint die Fotografie zum Gedächtnismedium einer Epoche zu werden. Vor dem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Literaturwissenschaften sich in den letzten Jahren verstärkt den Beziehungen von Literatur und Fotografie zugewandt haben.20 Während die dem 19. Jahrhundert gewidmeten Studien dabei zeigen können,21 dass die Reaktion der Literatur auf das neue Medium im entsprechenden 19 Vgl. die beiden von Herta Wolf unter dem Titel Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters herausgegebenen Bände Paradigma Fotografie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002) und Diskurse der Fotografie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003); vgl. auch Hubertus von Amelunxen: Fotografie nach der Fotografie [Ausstellungskatalog]. Dresden u.a.: Verlag der Kunst 1995; auf ein neuerliches Interesse an Fotografie deuten auch die weiteren Einführungen, Fotografiegeschichten und Sammelbände der letzten Jahre hin, vgl. für den deutschsprachigen Raum v.a. Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie. Stuttgart: Reclam 2010; Peter Geimer: Theorien der Fotografie. Hamburg: Junius 2009; Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München: Fink 2006; Michel Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie (frz. EA: Nouvelle histoire de la photographie. Paris: Larousse 2001); Peter Geimer: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; auch die vierbändige, von Wolfgang Kemp und Hubertus von Amelunxen herausgegebene Anthologie Theorie der Fotografie wurde 2006 in einem Band neu aufgelegt (vgl. Wolfgang Kemp/Hubertus von Amelunxen: Theorie der Fotografie I-IV. 1839-1995. München: Schirmer/Mosel 2006 (ich zitiere nach den in dieser Auflage in ihrer Aufteilung und den Seitenzahlen beibehaltenen Einzelbänden)). 20 Vgl. zur frühen Auseinandersetzung die eher motivgeschichtlich angelegte Studie von Erwin Koppen: Literatur und Photographie. Über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung. Stuttgart: Metzler 1987; mit eher methodischen und fototheoretischen Fragen verbunden: Hubertus von Amelunxen: Photographie und Literatur. Prolegomena zu einer Theoriegeschichte der Photographie. In: Peter V. Zima (Hg.): Literatur Intermedial. Musik ԟ Malerei ԟ Photographie ԟ Film. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 209-231; vgl. außerdem die Anthologie von Jane M. Rabb: Literature & photography. Interactions 1840-1990. A critical anthology. Albuquerque: University of New Mexico Press 1995; zu einem grundlegenden Überblick zu den Beziehungen von Literatur und Fotografie vgl. Irene Albers: Das Fotografische in der Literatur. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Ein historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, Bd. 2, S. 534-550, S. 545 f. (Teil des Artikels »Fotografie/fotografisch«, 1. Teil von Bernd Busch, S. 494-534). 21 Vgl. v.a. Daniel Akiva Novak: Realism, photography, and nineteenth-century fiction. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 2008; Jérôme Thélot: Les inventions littéraires de la photographie. Paris: PUF 2003; Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Emile Zolas. München: Fink 2002; Philippe Ortel: La littéra-
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Zeitraum in erster Linie durch Abwehr und eine Konzentration auf den Abbildcharakter der Fotografie gekennzeichnet war, lässt sich für das 20. Jahrhundert eine größere Diversifizierung verzeichnen.22 Die Fotografie wird in die ästhetische Reflektion eingebunden, es entstehen Mischformen von Foto und Text, aber auch weiterhin gibt es kritische Auseinandersetzungen, die sich nun zunehmend mit dem Massenmedium Fotografie und insbesondere der Problematik des Gedächtnisses auseinandersetzen. Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass abgesehen von Irene Albers’ Arbeit zu Claude Simon23 und der unlängst erschienenen Studie von Silke ture à l’ère de la photographie. Enquête sur une révolution invisible. Nîmes: Chambon 2002; Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München: Fink 2001; Rolf H. Krauss: Photographie und Literatur. Zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Ostfildern: Hatje Cantz 2000 (methodisch allerdings problematisch); Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München: Fink 1990. 22 Vgl. unter denen aufs 20. und beginnende 21. Jahrhundert konzentrierten Monographien und Sammelbänden v.a. Roger-Yves Roche: Photofictions: Perec, Modiano, Duras, Goldschmidt, Barthes. Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion 2009; Pierre Taminiaux: The paradox of photography. Amsterdam u.a.: Rodopi 2009; Silke Horstkotte/Nancy Pedri (Hg.): Photography in Fiction (= Poetics Today 29/1 (2008)); Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld: Transcript 2007; Michael Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie. Dresden: Thelem 2006; Michele Vangi: Letteratura e fotografia. Roland Barthes ԟ Rolf Dieter Brinkmann ԟ Julio Cortázar ԟ W.G. Sebald. Pasian di Prato: Campanotto 2005; Anna Dolfi (Hg.): Letteratura & fotografia. Volume I. Rom: Bulzoni 2007 (Bd. II 2005); Christoph Ribbat: Blickkontakt. Zur Beziehungsgeschichte amerikanischer Literatur und Fotografie (19452000). München: Fink 2003; Daniel Grojnowski: Photographie et langage. Fictions, Illustrations, Informations, Visions, Théories. Paris: Corti 2002; Marie-D. Garnier (Hg.): Jardins d’hiver. Littérature et photographie. Paris: Presses de l’École Normale Supérieure 1997; Marsha Bryant (Hg.): Photo-Textualities. Reading Photographs and Literature. Newark/London: University of Delaware Press/Associated University Press 1996; Jürgen Zetzsche: Die Erfindung photographischer Bilder im zeitgenössischen Erzählen. Zum Werk von Uwe Johnson und Jürgen Becker. Heidelberg: Winter 1994; Jefferson Hunter: Image and Word. The Interaction of Twentieth-Century Photographs and Texts. Cambridge (Mass.), London: Harvard University Press 1987; Carol Shloss: In visible light: Photography and the American Writer. 1840-1940. New York u.a.: Oxford University Press 1987. 23 Irene Albers: Photographische Momente bei Claude Simon. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002 (vgl. auch Albers’ Aufsatz zu Proust, der hier natürlich nur stellvertretend
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Horstkotte zur deutschen Gegenwartsliteratur24 die Problematik des Gedächtnisses in den vorliegenden längeren Arbeiten als ein Thema unter vielen oder eher am Rande auftaucht, eine umfassende Untersuchung zur Fotografie als Gedächtnismedium in der Literatur des 20. Jahrhunderts bislang aber fehlt. Auch die vorliegende Arbeit wird das Thema angesichts der breiten Rezeption der Fotografie in der Literatur nach 1900, gerade im Bezug auf die Gedächtnis-Problematik, kaum erschöpfen können, aber zentrale Problemfelder innerhalb der reichhaltigen literarischen Auseinandersetzung mit der Fotografie als Gedächtnismedium im 20. Jahrhundert erarbeiten.25
Z UM V ORGEHEN Ähnlich wie Horstkotte in ihrer Untersuchung zu »Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur«, deren Untersuchungszeitraum dort einsetzt, wo die vorliegende Arbeit aufhört, nehme ich eine intermediale Perspektive auf literarische Gedächtnisdarstellungen ein, bei der sowohl die »gedächtnispragmatischen Funktionen, die Fotografien innerhalb ästhetischer Inszenierungen und in Kombination mit anderen Medien übernehmen«, als auch die »medientheoretische Beschreibung der Integrationsformen von Fotografien in der Literatur«26 untersucht werden sollen. Es geht mir dabei nicht allein um den Status von Fotografien als Objekten in der literarischen Gedächtnisinszenierung, sondern auch um die spezifischen Aneignungsformen des Gedächtnismediums Fotografie durch den literarischen Text. Insofern ist die Untersuchung der gedächtnispragmatischen Funktion der Fotografie durch ihre poetologische und rhetorische zu ergänzen. Damit ist zugleich die Frage nach der Medialität der Literatur aufgeworfen: »Wenn in der Literatur über Photographie phantasiert wird, so handelt es sich selbstverständlich mehr um Projektionen als um ›gerechte‹ Einschätzungen des Mediums; und eher um die
für andere kürzere, aber wichtige Beiträge zum Thema genannt werden kann: Irene Albers: Prousts photographisches Gedächtnis. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 111 (2001), S. 19-56). 24 Silke Horstkotte: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln: Böhlau 2009. 25 Seit Fertigstellung der Arbeit sind weitere Titel zum Thema erschienen. Hingewiesen sei insbesondere auf: Kentaro Kawashima: Autobiographie und Photographie nach 1900. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald. Bielefeld: Transcript 2011; Jessica Nitsche: Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie. Berlin: Kadmos 2010. 26 Horstkotte: Nachbilder, S. 17.
16 | EINLEITUNG selbstbezügliche Konzentration auf die Medialität von Schrift und Literatur als um die Erforschung des neu hinzugetretenen Mediums.«27
Die Bezugnahme auf Fotografien wird daher in dieser Arbeit auch im Rahmen einer Selbstreflektion der Literatur als Gedächtnismedium betrachtet. In ihrer Darstellung der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses weist Astrid Erll darauf hin, dass literarische Texte als »Zirkulationsmedien […] ihr erinnerungskulturelles Leistungsvermögen aus ihrer Modellfunktion« beziehen. Zwei Funktionspotentiale sind hierbei zentral: »das der Gedächtnisbildung und das der Gedächtnisreflexion.«28 Beide Funktionen sind nicht exklusiv zu betrachten, sondern gerade literarische Texte »zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Lesern in der Regel beides ermöglichen, die Beobachtung erster und zweiter Ordnung«,29 den Anschluss an Inhalte der Erinnerungskultur (sei es affirmierend oder destruierend) und die Reflektion über Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses. Diese Reflektion kann nicht nur die Erinnerungskultur als solche betreffen, sondern eben auch die Funktion literarischer Texte selbst. In diesem Sinn hat Renate Lachmann das Gedächtnis des Textes als »Intertextualität seiner Bezüge«30 dargestellt. Gegenüber Lachmanns semiotisch orientierter Intertextualitätstheorie geht es hier (ohne dass diese Herangehensweise vollständig ausgeschlossen würde) um die Intermedialität als Möglichkeit medialer Selbstreflektion der Literatur im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Medialität des kollektiven Gedächtnisses. Während Intertextualität, zumindest in der üblicherweise praktizierten pragmatischen Verengung des poststrukturalistischen Modells,31 weiterhin auf das Medium 27 Gisela Ecker: Neugier und Gefahr. Skopisches Begehren am Schnittpunkt von Literatur und Photographie. In: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. München: Fink 1999, S. 377-387, S. 377. 28 Astrid Erll: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 249-276, S. 265 (Hervorhebungen sind hier wie im Folgenden, soweit nicht anders angegeben, aus dem Original übernommen). 29 Ebd. (Erll bezieht sich auf Luhmanns Unterscheidung von Beobachtern erster und zweiter Ordnung); vgl. auch dies.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 165. 30 Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 36. 31 Vgl. zu letzterem v.a. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. Übers. v. Michel Korinmann u. Heiner Stück. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 1317-1375; dies.: Zu einer Semiologie der Paragramme. Übers. v. Michel Korinmann u. Heiner Stück. In: Helga Gallas
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Literatur beschränkt bliebe, rückt mit der intermedialen Herangehensweise eben nicht allein der zwischenmediale Aspekt in den Blick, sondern auch der »Aspekt der Materialität und die soziale Funktion dieser Prozesse.«32 Anders als beim intertextuellen Bezug kommt es beim Bezug auf ein fremdmediales Produkt »aufgrund der Mediendifferenz gleichzeitig immer auch zu einer Thematisierung bzw. Indizierung des medialen Systems, dessen sich das aufgerufene Produkt bedient.«33 Mit dem intermedialen Bezug ist eine vergleichende Perspektive auf die Leistungen der involvierten Medien eröffnet. Kirsten Dickhaut hat in dem Zusammenhang gegen Tendenzen der Intermedialitätsforschung und vor allem im Blick auf Rajewskys Systematik darauf hingewiesen, dass die Medienkonkurrenz als wesentliches Element intermedialer Bezüge oft vernachlässigt wird. Insbesondere hinsichtlich der Gedächtnisproblematik, die im Zusammenhang intermedialer Fragestellungen zu selten Beachtung findet, kommt der Konkurrenz von Einzelmedien aber eine entscheidende Bedeutung zu, da »intermediale Phänomene gerade nicht allein als kooperierende, sich ergänzende Tradierungsleistung im diskursiven Zusammenhang funktionieren, sondern […] vielmehr im Sinn von Paragoni Medien versuchen, die jeweils eigene Instanz als Leitmedium zu etablieren und die eigenen Vorteile gegenüber dem oder den anderen auszuspielen und dergestalt möglichst allein ein Thema im ›kulturellen Gedächtnis‹ zu verankern«.34 Auch wenn die subjektivierenden Formulierungen hier ein wenig missverständlich erscheinen mögen, ist der Hinweis für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit wertvoll. Es wird im Folgenden auch darum gehen müssen, literarische und essayistische Auseinandersetzungen mit der Fotografie als Ausdruck der Irritationen, die die zunehmende Bedeutung von Fotos als Gedächtnismedien im 20. Jahrhundert auslöste, zu lesen und anhand der entsprechenden Texte Strategien herauszuarbeiten, mit denen die Schriftkultur auf diese Irritationen reagierte. Dies muss sich nicht immer im (Hg.): Strukturalismus als interpretatives Verfahren. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1972, S. 163-200; zur Vermittlung zwischen »weitem« und »engem« Intertextualitätsbegriff vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1-30. 32 Jürgen E. Müller: Intermedialität und Medienhistoriographie. In: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität ԟ analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen. München: Fink 2008, S. 31-46, S. 39. 33 Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen, Basel: Francke 2002, S. 73; vgl. zur ästhetischen Relevanz medialer Grenzen auch dies.: Das Potential der Grenze. Überlegungen zu aktuellen Fragen der Intermedialitätsforschung. In: Dagmar von Hoff/Bernhard Spies (Hg.): Textprofile Intermedial. München: Meidenbauer 2008, S. 19-47. 34 Kirsten Dickhaut: Intermedialität und Gedächtnis. In: Erll/Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, S. 203-226, S. 214.
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Rahmen einer Medienkonkurrenz artikulieren, vielmehr wird sich zeigen, dass teilweise die der Konkurrenzperspektive zugrunde liegende Differenzierung der Einzelmedien durch Figuren der literarischen Aneignung des Fotografischen wieder innerhalb des Textes unterlaufen wird. Trotz ԟ bzw. gerade wegen ԟ dieser Möglichkeiten des ›Wiedereintritts‹ ist die Frage nach den medialen Differenzen zentral,35 allerdings nicht im Sinn einer statischen Konzeption der involvierten Medien: »Um die ›Intermedialität‹ zwischen einem literarischen Text und der Photographie, der literarischen und der photographischen Medialität (also nicht allein zwischen einer speziellen Passage und einem speziellen Photo) zu untersuchen, reicht es nicht aus, einen ahistorischen Begriff des Mediums an den Text heranzutragen (als gäbe es die Photographie). Vielmehr ist es nötig, die diskursive und historisch wandelbare Konstitution von Konzepten des Photographischen zu reflektieren.«36
Das kann auch für punktuelle Bezüge auf einzelne Fotos in einem Text gelten, wenn diese ԟ auch rezeptionsgeschichtlich – eine über die alltagspraktische Relevanz von Fotos hinausgehende intermediale Auseinandersetzung nach sich ziehen. Intermediale Auseinandersetzung ist vor diesem Hintergrund ganz wörtlich zu lesen, sozusagen mit Bindestrich, indem Intermedialität sich als konstitutiv für die Unterscheidung eines Mediums erweist. »Als Theorie der Medien hätte Intermedialität nicht nur die technischen und ästhetischen Möglichkeiten des Wiederauftauchens von Medien in Medien zu thematisieren, sondern auch die historischen, sprachlichen und symbolischen Kopplungen, die einem Medium durch den Vergleich oder Bezug zu anderen zugeschrieben werden. […] Intermedialität hätte damit auch die Spannung von technischem und kulturellem Diskurs, ja diese Unterscheidung selbst, zum Thema.«37 35 Vgl. Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration. In: Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 14-30, S. 25: »Formen von Intermedialität sind Brüche, Lücken, Intervalle oder Zwischenräume, ebenso wie Grenzen und Schwellen, in denen ihr mediales Differenzial figuriert. Das Verfahren, dieses ›mediale Differenzial‹ wiederum als (Trans-)Form durch die Wiedereinführung der Form sichtbar zu machen und zu formulieren (oder zu symbolisieren), ist fester Bestandteil der kunstund mediengeschichtlichen Diskurse […].« 36 Albers: Sehen und Wissen, S. 27. 37 Matthias Bickenbach: Die Intermedialität des Photographischen. In: Jürgen Fohrmann/ Erhard Schüttpelz (Hg.): Die Kommunikation der Medien. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 123-162, S. 140; vgl. auch im selben Band: Jürgen Fohrmann: Der Unterschied der Medien, S. 5-19.
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Solche Unterscheidungen gilt es, als rhetorische und poetologische Operationen herauszuarbeiten. Unter dem Aspekt einer selbstbezüglichen Konzentration auf die Medialität von Schrift und Literatur lässt sich die Auseinandersetzung von Literatur und Fotografie rückbeziehen auf das darin implizierte Konzept der Schriftlichkeit bzw., unter der spezifischeren Frage nach der Medialität des Gedächtnisses, auf den Gedächtnisentwurf des jeweiligen Textes. Vor allem in der ersten Hälfte der Arbeit wird es darum gehen, zum einen die gedächtnistheoretischen Implikationen einiger Konzepte des Fotografischen in klassischen Texten zur Fotografie herauszuarbeiten und zum anderen nachzuweisen, dass dabei gleichzeitig Konzepte der Textualität und Sprache umgesetzt und diskutiert werden. Zugleich möchte ich zeigen, wie die Reflektion über Fotografie innerhalb der Texte selbst auch dann produktiv werden kann, wenn sie das Foto einem literarisch gefassten Gedächtnis entgegensetzt. Mit der Fotografie kann ein Element ins Spiel kommen, das den Gedächtniskonstruktionen des Textes ebenso zu entgehen scheint wie den Formen des kulturellen Gedächtnisses. Gegen das Assmann’sche Konzept des kulturellen Gedächtnisses hat bereits Vittoria Borsò eingewandt, dieses überspringe bei aller Betonung der Medialität des Gedächtnisses die darin implizierte Alterität um einer sinnstiftenden Kontinuität willen. Als kritisches Gegenmoment zur Auffassung des Mediums als mehr oder weniger transparentem Vermittler von Inhalten dient Borsò neben der »écriture« im Sinne Roland Barthes’ gerade die Fotografie: »Die Materialität der Einschreibungen führt zu einer empfindlichen Interferenz für die Funktionsgedächtnisse, die als Aufbewahrungsspeicher von identitätsbezogener Selbstvergewisserung verstanden werden.«38 Dagegen ließe sich wiederum einwenden, dass die Vorstellung einer materiellen Einschreibung jenseits aller sinnbezogenen Zurichtungen bereits höchst voraussetzungsvoll und in ihrer Opposition zur Selbstversicherung im kulturellen Gedächtnis Assmann’scher Prägung auch nicht unmittelbar einsichtig ist. Die hier skizzierte kritische und destabilisierende Funktion des Medialen verwirklicht sich in erster Linie im Ästhetischen und betrifft darin eine Möglichkeit literarischen Schreibens, die innerhalb der Literatur deren Funktionalisierung als Medium des kollektiven Gedächtnisses entgegenwirkt. In welcher Weise die untersuchten Texte solche Momente in Auseinandersetzung mit der Fotografie ins Spiel bringen und inwiefern ihre Gedächtnisinszenierungen generell um etwas zentriert sind, das keinen Platz in einem kulturellen Gedächtnis findet, wird in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein.
38 Vittoria Borsò: Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität. Eine medienphilosophische und medienhistorische Perspektivierung des Gedächtnis-Begriffs. In: Vittoria Borsò/Gerd Krumeich/Bernd Witte (Hg.): Medialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, S. 23-53, S. 49.
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Indem die Arbeit sich dabei zunächst auf die Analyse von Texten konzentriert, die normalerweise zur theoretischen Bestimmung der Fotografie herangezogen und meist an fiktionale Texte einfach herangetragen werden, sind die jeweiligen Konzepte von vornherein aus einer distanzierten Perspektive betrachtet, zugleich aber eingeführt. Diese doppelte Herangehensweise erscheint nötig, da sie es einerseits erlaubt, der Wirkungsgeschichte der jeweiligen theoretischen Entwürfe Rechnung zu tragen, an der schließlich auch die anschließend behandelten Texte partizipieren, und damit Begriffe einzuführen, mit denen gearbeitet werden kann und muss. Andererseits verhindert die analytische Distanz substanzialistische Missverständnisse einer unkritischen Übernahme dieser Begriffe und kann sie in ihrem Wert als poetologische und Denkfiguren herausstellen. Ein wichtiger Bereich der Aneignung der Fotografie als poetologische und philosophische Reflektionsfigur ist zweifellos die Metaphorik.39 Es geht dabei weniger um die metaphorischen Umschreibungen, mit denen die Fotografie seit ihren Anfängen gefasst wurde ԟ bereits der Name »Fotografie« ist eine Metapher ԟ,40 sondern um fotografische Metaphern, also die Verwendung der Fotografie als Metapher. Dieser Aspekt steht im Zentrum der Studie von Michael Neumann, der sich allerdings vor allem auf Begriffe der Wahrheit, der Evidenz und der Präsenz konzentriert,41 dem Bereich einer fotografischen Metaphorik des Gedächtnisses jedoch kaum Beachtung schenkt. Die Verwendung der Fotografie als Metapher lässt sich aber in zumindest zwei oft konträr konzipierte Bereiche aufteilen: den Bezug aufs fertige Bild und den Prozess der Entwicklung. Während das Bild oft im Zusammenhang der von Neumann dargelegten Topik der Oberfläche steht, die besonders im 19. Jahrhundert, im Umkreis von Realismus und Naturalismus, zum Tragen kommt, aber unter kulturkritischen Vorzeichen bis ins 20. Jahrhundert wirksam bleibt,42 kommt mit dem Entwicklungsprozess eine zeitliche Komponente ins Spiel, die im Bild fotografischer Evidenz und Präsenz nicht aufgeht. Wesentlich für die 39 Vgl. zur Intermedialität und dem Problem der Mediengrenzen unter dem Gesichtspunkt der Metapher die Überlegungen von Torsten Scheid: Fotografie als Metapher. Zur Konzeption des Fotografischen im Film. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2005, S. 22 f. 40 Vgl. hierzu Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album fotografischer Metaphern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006; Stefanie Diekmann: Mythologien der Fotografie. Abriß zur Diskursgeschichte eines Mediums. München: Fink 2003; Geoffrey Batchen: The Naming of Photography. »A Mass of Metaphors«. In: History of Photography 17/1 (1993), S. 22-32; zur Metaphorik der Medien allg. (mit dem Schwerpunkt auf dem Computer) vgl. Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 19 ff. 41 Vgl. Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie, S. 15 ff. 42 Vgl. ebd., S. 62 f., S. 259 f.; zur Vieldeutigkeit der Oberflächentopik im 19. Jahrhundert vgl. Stiegler: Philologie des Auges, v.a. S. 325 ff.
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Fotografie als Gedächtnismedium in der Literatur des 20. Jahrhunderts sind gerade Verfahren des Aufschubs und der Nachträglichkeit, und dies nicht allein im Bereich der Metaphorik im engeren Sinn. Es wird also ebenso darum gehen, die jeweilige Metaphorik der Texte mit deren Verfahren zu vermitteln. Dies gilt bereits für die Topik der Oberfläche und ihr Verhältnis zu Verfahren der Montage, das heißt hier auch einer Kombination von Text und Bild. Solche Möglichkeiten der Medienkombination stehen zwar nicht im Zentrum der Arbeit,43 lassen sich aber gerade im Fall der Montage an die im Fokus der übrigen Textanalysen stehenden Beschreibungen von Fotografien anschließen. Die Metaphorik einer opaken fotografischen Oberfläche kreuzt sich in den hier untersuchten Montage-Entwürfen mit einer Metaphorik der Lesbarkeit von Bildern. Dort, wo die Differenz von Bild und Text durch ihre Kombination am augenfälligsten ist, wird sie dem ästhetischen Anspruch der Kombination nach nivelliert. Im Fall der Foto-Ekphrasis44 treten dagegen Prozesse des Aufschubs und der Nachträglichkeit stärker in den Vordergrund, die tendenziell die Differenz zwischen Bild und Text betonen und die Möglichkeit einer sprachlichen Aufhebung der Fotografie ins »visuelle Gedächtnis der Literatur«45 verhindern können. »The ekphrastic image acts […] like a sort of unapproachable and unrepresentable ›black hole‹ in the verbal structure, entirely absent from it, but shaping and affecting it in fundamental ways.«46 Eben diese ԟ auch inszenierte ԟ Fremdheit im literarischen Bezug auf Fotografien soll in den Textanalysen vor allem in der zweiten Hälfte der Arbeit mit einer spezifischen Problematik des kollektiven und individuellen Gedächtnisses nach 1945 verknüpft werden. Die Frage des ›Undarstellbaren‹ ist gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untrennbar mit Auschwitz verknüpft und dies betrifft in mehrfacher Hinsicht das Verhältnis von Literatur und Fotografie als Gedächtnismedien. Die Fotos der deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager
43 Vgl. dazu zuletzt: Steinaecker: Literarische Foto-Texte. 44 Vgl. dazu Laura Barrett: Ekphrastic Photographs. A Study in Time and Timelessness. In: Corrado Federici/Esther Raventos-Pons (Hg.): Literary texts and the arts. Interdisciplinary perspectives. New York u.a.: Lang 2003, S. 81-98. 45 Monika Schmitz-Emans: Das visuelle Gedächtnis der Literatur. Allgemeine Überlegungen zur Beziehung zwischen Texten und Bildern. In: Manfred Schmeling/SchmitzEmans/Winfried Eckel (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 17-34, vgl. v.a. S. 20 f., im Sinn der hier entwickelten Thesen: S. 34. 46 W.J.T. Mitchell: Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representations. Chicago, London: University of Chicago Press 1994, S. 158.
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gehören zu den zentralen ›Ikonen‹47 eines kollektiven visuellen Gedächtnisses des 20. Jahrhunderts und werfen zugleich die ethische Frage der Darstellbarkeit in besonderer Dringlichkeit auf. Literarische Texte, vor allem von Überlebenden der Lager, denen es um Gedächtnisbildung geht, stehen so durchaus in einer gewissen Medienkonkurrenz, die reflektiert werden muss. Diese Reflektion muss gleichwohl nicht immer die Form einer Konkurrenz annehmen bzw. müssen in den hier behandelten Texten nicht immer die Schreckensbilder aus den Lagern im Mittelpunkt stehen. Es wird an den einzelnen Texten zu verfolgen sein, welche Strategien jeweils in der Annäherung an die Vergangenheit zur Anwendung kommen und in welcher Weise der Bezug auf fiktive oder auch außerhalb des fiktionalen Texts vorliegende Fotos der Reflektion auf die eigene Medialität und Gedächtnisinszenierung dient. Es wird sich zeigen, wie die Medialität der Fotografie vor allem dann ins Spiel kommt, wenn die Grenzen der textuellen Gedächtnisinszenierung und auch eines kollektiven Gedächtnisses überhaupt aufgezeigt werden sollen.
Z UR T EXTAUSWAHL Wie gesagt steht am Anfang der Arbeit die eingehende Analyse sozusagen klassischer Texte zur Fotografie ԟ Texte, die offenbar in keiner Arbeit zur Fotografie fehlen dürfen, aber oft nur als mehr oder weniger autoritative Zitate fungieren. Dieser Status darf nicht unbeachtet bleiben. Soll durch die ausführliche Behandlung dieser Texte einerseits eine literarische Dimension erschlossen werden, die in ihrer Reduktion auf Belegstellenlieferanten notwendig verlorengeht, so sollen dadurch zugleich die wesentlichen Funktionen eines Diskurses über die Fotografie im 20. Jahrhundert deutlich werden. Obwohl eine Zusammenstellung der wichtigsten ›Topoi‹ oder Gemeinplätze der Fotografie, wie dem »toten Bild«, dem »Memento Mori« oder der »Vera Ikon« nicht intendiert ist,48 werden einige dieser Topoi von Kapitel zu Kapitel wieder auftauchen und, wenn nötig, einer genaueren Betrachtung unterzogen. Der Einfluss der behandelten Texte dürfte auch in der spezifischen Ausformulierung begründet sein, die solche Gemeinplätze in ihnen gefunden haben, ebenso aber in ihrer Verbindung der Reflektion über die Fotografie mit anderen Diskursfeldern. In diesem Sinne geht es der Darstellung zwar notwendigerweise darum, die Logik und Funktion zentraler Begriffe dieser Texte herauszuarbeiten, und dies auch im Hinblick darauf, dass diese in der Rezeption fast ein Eigenleben entfalteten – Prägungen wie »studium« und »punctum« (Barthes) oder »Aura«, 47 Vgl. v.a. Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945. Berlin: Akademie Verlag 1998. 48 Vgl. dazu z.B. Stiegler: Bilder der Photographie, S. 233 ff., S. 139 ff., 238 ff.
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»Konstruktion« und »Spur« (Benjamin) sind teilweise selbst wieder zu Gemeinplätzen geworden. Ebenso ist der Darstellung aber daran gelegen, der diese Rezeption begünstigenden Anschlussfähigkeit und Flexibilität der jeweiligen Begriffe Rechnung zu tragen und sie durch Querbezüge der Lektüren in Konstellationen zu setzen, die nicht nur in der Begriffslogik, sondern auch hinsichtlich der in den Texten selbst explizierten Querbezüge Verbindungslinien wie Brüche gleichermaßen zutage treten lassen. Es lassen sich so literarische Wahrnehmungsmuster der Fotografie herausarbeiten, die weniger auf der Ebene eines ›fotografischen Blicks‹ etwa in der Beschreibungstechnik als auf der einer diskursiv vermittelten Betrachtung der Fotografie und von Fotografien anzusiedeln sind. Die skizzierte literarisch orientierte Begriffsarbeit verfährt dezidiert nicht chronologisch. Der Einstieg mit Roland Barthes’ La Chambre claire bietet sich aus verschiedenen Gründen an. Zunächst erscheint Barthes’ grundsätzliche, ›ontologische‹ Herangehensweise an die Fotografie geeignet, nicht nur in der systematischen Darlegung sozusagen ›gründlich‹ anzufangen, sondern ebenso eine in anderen Texten gleichermaßen zu beobachtende Faszination für das Medium Fotografie in ihrer literarischen Funktion als Phantasma herauszuarbeiten und so auch methodisch Zugänge für die späteren Textlektüren modellhaft anzuzeigen. Der systematische Aspekt hebt sich hierbei freilich gleichsam auf. Jenseits des Begrifflich-Systematischen ist der Beginn mit Barthes’ Foto-Buch in dessen Popularität begründet. Zweifellos handelt es sich bei La Chambre claire um einen der einflussreichsten Texte zur Fotografie im 20. Jahrhundert, der den (theoretischen) Blick auf Fotografien und ihr Verhältnis zu Texten bis heute prägt. Gemäß der benannten Doppelperspektive einer Einführung von Begriffen und der distanzierten (und distanzierenden) Untersuchung ihrer textuellen Einsätze reflektiert die Arbeit an Barthes’ Text einerseits dessen Historizität in Bezug auf den vorgängigen Fotodiskurs, andererseits aber auch die Historizität des gegenwärtigen Blicks, der frühere Texte nicht anders als im Licht der späteren lesen kann. Da es bei alledem in erster Linie um die Verquickung von theoretischer und literarischer Reflektion über die Fotografie geht, wird auf eine genauere Untersuchung des autobiografischen Texts Roland Barthes par Roland Barthes, der immerhin durch eine Reihe von privaten Fotos eingeleitet wird,49 verzichtet.
49 Vgl. dazu v.a. Nancy Pedri: Documenting the Fictions of Reality. In: Poetics Today 29/1 (2008), S. 155-174; Gabriele Schabacher: Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion »Gattung« und Roland Barthes’ Über mich selbst. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 237 ff.; Maryse Fauvel: Photographie et autobiographie. Roland Barthes par Roland Barthes et L’Amant de Marguerite Duras. In: Romance Notes 34/2 (1993), S. 193-202; Anna Whiteside: Autobiographie ou anti-autobiographie? Le cas Barthes. In: Neophilologus 65 (1981), S. 173-184.
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Bei Benjamin, dem anderen notorischen Stichwortgeber in Sachen Fotografie, liegt eine stärkere Aufteilung entlang der Rezeptionsschemata theoretisch und literarisch näher, wenngleich die Trennung sich weder bei der Betrachtung seiner essayistisch-reflexiven Texte und erst recht nicht der literarischen Texte gänzlich aufrechterhalten lässt. Die Aufteilung und Verteilung der jeweiligen Kapitel zu Benjamin hat eher konstruktive Gründe. Hier wie im Fall der anderen Texte vor allem der ersten Hälfte der Arbeit geht es darum, in der Anordnung der Lektüren Texte zu kontrastieren und Verbindungen nachzugehen, die nicht zwingendermaßen chronologisch oder an der Einheit des Textes, geschweige denn an der Trennung theoretisch-literarisch orientiert sind. So ist Marcel Prousts À la recherche du temps perdu in beinahe allen hier behandelten theoretischen Entwürfen ein deutlicher Bezugspunkt, insbesondere, was die die Gedächtnisleistung der Literatur angeht. Dies verlangt nicht nur, in einzelnen Kapiteln – in diesem Fall bei Barthes – auf bestimmte Zusammenhänge aus Prousts Roman vorzugreifen, sondern zugleich einen Rückbezug der in Auseinandersetzung mit der Recherche entwickelten theoretischen Positionen auf die Fotografie-Bezüge im Roman selbst. Die enge Verbindung von theoretischer Reflektion und den ästhetischen Positionen eines literarischen Texts prägt ebenso das spätere Kapitel zu Bertolt Brechts Kriegsfibel in ihrem Bezug zu Benjamin und der Diskussion des Verfahrens Montage in den zwanziger Jahren. Mit dem Gegenstand der Kriegsfibel ist zugleich die Zäsur verbunden, die die Arbeit auch in ihrer Aufteilung prägt. Schon das dem Brecht-Kapitel vorangehende Kapitel zu Kracauer arbeitet Auschwitz als beinahe unausgesprochenen Hintergrund von dessen Film- wie Geschichtstheorie heraus und setzt dies von der Auseinandersetzung mit der Bildkultur der zwanziger und dreißiger Jahre ab, bei der vor allem konstruktive Verfahren wie die Montage im Vordergrund standen. Die Problematik der von Kracauer sowie Brecht entwickelten unterschiedlichen Positionen des Umgangs mit einer zunehmend visuell vermittelten und geprägten Wirklichkeit, insbesondere in historischer und memorialer Hinsicht, wird anhand des schwierigen kulturellen, wissenschaftlichen, ästhetischen und literarischen Umgangs mit Fotografien des Holocaust deutlich. In den Analysen von Texten Jorge Sempruns, Georges Perecs, Hubert Fichtes und Christa Wolfs steht die Funktion fotografischer Bezüge in der literarischen Auseinandersetzung mit Auschwitz und dem Nationalsozialismus daher im Vordergrund. Da diese literarischen Texte weniger stark in die Diskussion theoretischer Reflektionen der Fotografie als Gedächtnismedium eingebunden werden, setzt die zweite Hälfte der Arbeit auch in dieser Hinsicht einen anderen Akzent. Im Verhältnis zu den Theorielektüren der ersten Hälfte geht es weniger um die Applikation vorgängiger theoretischer Erörterungen, als um die Übertragung von Begriffs- und Problemzusammenhängen in einen veränderten Kontext. Über den bereits vorher präsenten Komplex Auschwitz hinaus bestimmt diesen Kontext vor allem der lebensgeschichtlich vermittelte, und darin
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faktuale, Hintergrund der behandelten Texte und deren – gerade im Bezug auf den Holocaust nicht unproblematisches – Verhältnis zur eigenen Fiktionalität. Die Verbindung von fiktionalen und faktualen Darstellungen wird in einem kurzen Exkurs durch allgemeinere Überlegungen zum Verhältnis von Fotografie, Autobiografie und Fiktion aufgenommen. Dabei geht es weniger um eine erschöpfende Erörterung des Themas als um die Erarbeitung analytischer Zugänge, die auf die behandelten Texte anwendbar sind und diese vergleichbar machen. Insofern sowohl Fotografie und Autobiografie in nicht unproblematischer Weise mit Begriffen der Authentizität verbunden sind, vor allem im Hinblick auf Fragen der Referenz,50 scheint sich eine Engführung auch in dieser Hinsicht anzubieten. Bei den hier untersuchten Texten wird jedoch deutlich, dass fotografische und autobiografische Authentizitätsbegriffe durchaus unterschiedlich eingesetzt (und gebrochen) werden können. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Arbeit ist vor allem die in struktureller und hermeneutischer Hinsicht an die Referenzfrage in der Autobiografie gekoppelte Identitätsproblematik interessant. Eine Auseinandersetzung etwa mit dem ebenfalls naheliegenden Konzept der »autofiction« erscheint für diesen begrenzten Zweck weniger ergiebig.51 Angesichts der Bedeutung von Fotografien im 20. Jahrhundert auch in der Literatur ist es nicht einfach, die Ausschlüsse einer Arbeit wie der vorliegenden zu begründen. Wie Albers richtig feststellt, gibt es »[k]aum ein[en] Autor des 19. oder 20. Jahrhunderts, bei dem die Untersuchung dieses thematischen Feldes nicht vielversprechend wäre.«52 Die Konzentration auf das Gedächtnis und die zentralen Texte zu Fotografie und Gedächtnis einerseits sowie die Eingrenzung bei der Textauswahl in der zweiten Hälfte der Arbeit auf den Themenkomplex Auschwitz und Nachleben des Nationalsozialismus andererseits legen bereits eine gewisse Auswahl nahe. Ein Autor, dessen Fehlen dabei vielleicht, auch angesichts seiner Popularität, besonders ins Auge fällt und der daher hier stellvertretend für alle anderen Ausschlüsse genannt sei, ist W.G. Sebald. Angesichts der ständig wachsenden For50 Vgl. zum Begriff der Referenzauthentizität: Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg: Winter 2007, zur Fotografie v.a. S. 25 f., S. 86 ff., zur Autobiografie S. 153 ff.; S. 177 ff. 51 Vgl. zu einem Überblick Philippe Gasparini: Autofiction: une aventure du langage. Paris: Seuil 2008; Vincent Colonna: Autofiction & autres mythomanies littéraires. Auch: Tristram 2004 (im Hinblick auf die hier behandelten Texte v.a. S. 93 ff; 135 ff.); zur Einführung des Begriffs vgl. Serge Doubrovsky: Autobiographie/vérité/psychanalyse. In: Ders.: Autobiographiques: de Corneille à Sartre. Paris: Presses Universitaires de France 1988, S. 61-79 (bei der Analyse der Texte Sempruns verwende ich gelegentlich den Begriff »Autofiktion« als Umschreibung der Strategie, autobiografische Elemente in die Romanfiktion einzuführen, meine dies aber nicht streng terminologisch). 52 Albers: Photographische Momente bei Claude Simon, S. 11.
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schungsliteratur53 erschien der Bedarf, Sebald unter die Auswahl einiger exemplarischer AutorInnen in der zweiten Hälfte der Arbeit aufzunehmen, relativ gering. Es 53 Neben Horstkotte: Nachbilder, Vangi: Letteratura e fotografia; Steinaecker: Literarische Foto-Texte vgl. zur Fotografie bei Sebald: Richard Crownshaw: The Limits of Transference: Theories of Memory and Photography in W.G. Sebald’s Austerlitz. In: Astrid Erll u.a. (Hg.): Mediation, Remediation, and the Dynamics of Cultural Memory. Berlin u.a.: de Gruyter 2009, S. 67-90; George Kouvaros: Images that Remember Us: Photography and Memory in Austerlitz. In: Gerhard Fischer (Hg.): W.G. Sebald: Schreiben ex patria/ Expatriate Writing. Amsterdam: Rodopi 2009, S. 389-412; Sibylle Omlin: Die Realität von reproduzierten Dingen. Fotografien in »Die Ringe des Saturn« von W.G. Sebald. In: Alexandra Kleihues (Hg.): Realitätseffekte. Ästhetische Repräsentationen des Alltäglichen im 20. Jahrhundert. Paderborn: Fink 2008, S. 171-184; die Beiträge in: Lise Patt/Christel Dillbohner (Hg.): Searching for Sebald: Photography after W.G. Sebald. Los Angeles: Institute of Cultural Inquiry 2007; Andrea Gnam: Fotografie und Film in W.G. Sebalds Erzählung »Ambros Adelwarth« und seinem Roman »Austerlitz«. In: Sigurd Martin (Hg.): Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W.G. Sebalds. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 27-47; Maya Barzilai: On Exposure: Photography and Uncanny Memory in W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten and Austerlitz. In: Scott Denham (Hg.): W.G. Sebald. History ԟ Memory ԟ Trauma. Berlin u.a.: de Gruyter 2006, S. 205-218; Lilian R. Furst: Realism, photography, and degrees of uncertainty. In: ebd., S. 219-229; Torsten Hoffmann/Uwe Rose: »Quasi jenseits der Zeit«. Zur Poetik der Fotografie bei W.G. Sebald. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 125/4 (2006), S. 580608; Edit Kovács: Halbdunkel. Zum Beschriften und Lesen von Fotografien in W.G. Sebalds Roman »Austerlitz«. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik (2006), S. 87-96; Jan Ceuppens: Realia: Konstellationen bei Benjamin, Barthes, Lacan und Sebald. In: Claudia Öhlschläger/Michael Niehaus (Hg.): W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 241-258; Alexandra Tischel: Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W.G. Sebalds Austerlitz. In: ebd., S. 31-45; Doren Wohlleben: Über die Illustration hinaus. Zur paraliterarischen Funktion der Photographien in W.G. Sebalds Austerlitz. In: Urs Meyer (Hg.): Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfahren. Göttingen: Wallstein 2006, S. 185-202; Richard Crownshaw: Reconsidering Postmemory: Photography, the Archive, and Post-Holocaust Memory in W.G. Sebald’s Austerlitz. In: Mosaic 37/4 (2004), S. 215-236; Peter Drexler: Erinnerung und Photographie. Zu W.G. Sebalds Austerlitz. In: Renate Brosch (Hg.): Ikono-Philo-Logie: Wechselspiele von Texten und Bildern. Berlin: trafo 2004, S. 279-302; Anne Fuchs: »Die Schmerzensspuren der Geschichte«. Zur Poetik der Erinnerung in W.G. Sebalds Prosa. Köln u.a.: Böhlau 2004, v.a. S. 138 ff.; Mark Anderson: Fino allo sciogliersi delle cose: la fotografia nell’opera di W.G. Sebald e la prosa della fotografia. In: Grazia Pulvirenti/Renata Gambino/Vincenza Scuderi (Hg.): Le muse inquiete. Sinergie artistiche nel novecento tedesco. Atti del Con-
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wurde stattdessen stärker darauf geachtet, Texte aufzunehmen, die gerade hinsichtlich der Fotografie in ihren Werken relativ wenig untersucht wurden. Der Ausschluss, auch vieler anderer aktueller Texte, ist auch in den literarischen Strategien und damit zusammenhängend dem zeitlichen Rahmen der Arbeit begründet. Um weitere Kohärenz und Vergleichbarkeit zu erreichen, stehen Texte im Vordergrund, in denen sich ein fiktionalisierender Zugriff auf die Biografie des Autors oder der Autorin feststellen lässt und bei denen diese Fiktionalisierung sich als Ausdruck einer literarisch in Szene gesetzten, gleichwohl autobiografisch vermittelten Identitätsproblematik lesen lässt. Die Identitätsproblematik wird demnach an die Zeitgenossenschaft zum Nationalsozialismus gekoppelt, was sich sicherlich als latent biografistische Herangehensweise kritisieren ließe. Es geht mir jedoch weniger darum, aus den Texten die Biografien ihrer Verfasser oder Verfasserin herauszuziehen oder diese jenen zugrunde zu legen, noch will ich die Frage literarischer Zeugenschaft über Gebühr ausdehnen. In den behandelten Texten zeigt sich auch eine Zeitgenossenschaft zu einem noch existierenden kommunikativen und vor allem natürlich einem individuellen Gedächtnis an den Nationalsozialismus. Bei aller Nähe von Sebalds Erzählern zu ihrem Autor fällt vor allem letztere Ebene bei ihm eher weg. Gerade die Konfrontation von individueller Erfahrung und Fotografie spielt aber in den meisten der behandelten Texte neben der rekonstruierenden Erinnerung eine wesentliche Rolle. Ungefähr ab den neunziger Jahren lässt sich in literarischen Texten ein neuer Zugang zum Gedächtnis und ebenso zur Fotografie feststellen, der sich zum einen als (individuelle) Spurensuche nach einer zunehmend dem kulturellen Gedächtnis überantworteten Vergangenheit, zum anderen als Ausdruck einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Fotografie lesen lässt. Im Schlusswort werde ich entsprechende Schlussfolgerungen am Beispiel der deutschsprachigen Gedächtnisliteratur in Form eines Ausblicks andeuten.
vegno Internazionale Catania 4-6 dicembre 2001. Firenze: Olschki 2003, S. 141-154; Heiner Boehncke: Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder. In: Text + Kritik 158: W.G. Sebald (2003), S. 43-62; J. J. Long: History, Narrative, and Photography in W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten. In: Modern Language Review 98/1 (2003), S. 117-137; Christian Scholz: Photographie und Erinnerung. W.G. Sebald im Porträt. In: Akzente 50/1 (2003), S. 73-80; Elinor Shaffer: W.G. Sebald’s Photographic Narrative. In: Rüdiger Görner (Hg.): The anatomist of melancholy. Essays in memory of W.G. Sebald. München: Iudicium 2003, S. 51-62; Stefanie Harris: The Return of the Dead: Memory and Photography in W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten. In: German Quarterly 74/4 (2001), S. 379-391.
I.
Fotografietheorie als Literatur: Roland Barthes’ La Chambre claire
Kaum ein Text, der sich heute auf Fotografie bezieht, scheint ohne wenigstens eine Referenz auf Roland Barthes auszukommen, und sei es nur, wie bei Christoph Ribbat, in der Form ironischer Abwehr: »Wie ich lernte, über Fotografie zu schreiben, ohne Roland Barthes zu zitieren.«1 Zweifellos zählen Barthes’ Schriften zur Fotografie, insbesondere La Chambre claire, zusammen mit den Texten Susan Sontags und Walter Benjamins zu den populärsten Ansätzen der Fotografietheorie im 20. Jahrhundert. Herta Wolf, die Barthes’ »Theorie-Roman über Fotografie« neben den beiden genannten, Siegfried Kracauer, Gisèle Freund und André Bazin zu jenen »Leittexten« der Fototheorie zählt, die »im Sinne Thomas Kuhns als Paradigma einer wissenschaftlichen Gemeinschaft fungieren«2, beklagt zugleich den Mangel an kritischen Lektüren innerhalb dieser Gemeinschaft. Die kraft ihrer Verbreitung erlangte Autorität solcher Texte verleitet nicht selten dazu, die Reflektion über den Gegenstand durch das allgemein bekannte Zitat zu ersetzen. Die folgende Darstellung versucht, das Problem zu umgehen, jedoch nicht, indem sie Ribbats Anstrengungen aufgreift – denn es geht hier nicht darum, über Fotografie zu schreiben ԟ, sondern indem sie es sozusagen offensiv angeht. Barthes’ Aussagen sollen nicht zur Bestimmung der Fotografie – oder gar ihres ›Wesens‹ – übernommen werden, vielmehr muss sein Text über die Fotografie als Text, in seiner ihm eigenen Produktivität, betrachtet werden. John Taggs scharfe Kritik an Barthes’ phänomenologischer Suche nach einer reinen, vor aller Bedeutung liegenden Evidenz in der Fotografie, der er eine historische Genealogie der Praktiken, die diese erst produzierten und innerhalb derer das Foto immer schon mit Bedeutungen
1
Christoph Ribbat: Smoke gets in your eyes oder: Wie ich lernte, über Fotografie zu schreiben, ohne Roland Barthes zu zitieren. In: Kunstforum International 172 (2004), S. 38-43.
2
Vgl. Herta Wolf: Einleitung. In: Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie, S. 7-19, S. 11
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versehen ist, gegenüberstellt,3 ist aus einer fotografietheoretischen, historischen Perspektive zwar berechtigt, im vorliegenden Zusammenhang verstellt sie allerdings den Blick auf die zentrale Frage, wie sich diese Evidenz im Medium von Barthes’ eigener Theorie produziert: in der Schrift. Barthes’ »désir ›ontologique‹«,4 sein Versuch, das ›Wesen‹ der Fotografie zu erfassen, hat, so problematisch es sonst sein mag, im vorliegenden Zusammenhang den Vorteil, einen ›Extrempunkt‹ vorzugeben, von dem aus die Probleme, die sich für literarisches Schreiben angesichts der der Fotografie zugeschriebenen Authentizität ergeben, besonders plastisch werden. Die Evidenz der Fotografie, die so nie von der Sprache erreicht werden kann, erweist sich in La Chambre claire als äußerst fruchtbares Phantasma des Schreibens. Gerade aus der mit dem ontologischen Anspruch einhergehenden Behauptung eines grundlegenden Unterschieds zwischen Fotografie und Sprache oder Schrift erwächst die Funktion der Fotografie für den literarischen Gedächtnisdiskurs in La Chambre claire. Die Ontologisierung der fotografischen Referenz kann für eine Analyse des Schreibens über Fotografie also aufschlussreich werden, wenn man sie gegen den Strich liest. Indem Barthes das Spezifische der Fotografie mit dem Begriff der Evidenz, der Sicherheit im phänomenologischen Noema des »ça-a-été« (CC, S. 1163), gerade auch in Abgrenzung zur Sprache bestimmt, wird diese als Medium seiner Theorie in ihren Grenzen selbst thematisch: »Cette certitude, aucun écrit ne peut me la donner. […] Le noème du langage est peut-être cette impuissance, ou, pour parler positivement: le langage est, par nature, fictionnel« (CC, S. 1169). Das einzelne Medium ist gerade dort, wo es ontologisierend in seiner reinen Spezifik von einem (oder mehreren) anderen abgegrenzt wird, umso stärker an jenes andere verwiesen. Die Dialektik der gegenseitigen Bestimmung betrifft nicht nur das behandelte Medium, sondern auch das Medium, in dem sie formuliert wird. Gerade beim Versuch einer ontologischen Stillstellung der relationalen und differentialen Bestimmung von Medien kommt allerdings der Sprache ein Sonderstatus zu: »Jedoch ist auch das radikalste Zugeständnis einer irreduziblen Andersheit etwa des Bildes immer noch darauf angewiesen, sprachlich ausgedrückt zu werden. Sprache/Schrift ist kein Medium unter anderen, es verhält sich asymmetrisch zu den anderen Medien, insofern es der Ort ist, wo die ›Wahrheit‹, das ›Wesen‹, die ›Spezifik‹ aller anderen Medien einzig ausgesagt werden können. Und umgekehrt kann kein Medium ›als es selbst‹, in seiner reinen Spezifik
3
Vgl. John Tagg: The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories.
4
Roland Barthes: La Chambre claire. Note sur la Photographie. In: Ders.: Œuvres com-
Houndmills u.a.: Macmillan 1988, S. 3 ff. plètes. Bd. III 1974-1980. Hg. v. Éric Marty. Paris: Seuil 1995, S. 1107-1200, S. 1111 (im Folgenden Seitenangaben mit der Sigle CC im Text).
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und Wesenhaftigkeit erscheinen, ohne durch die Relationalität und Differentialität der Sprache/Schrift gegangen zu sein.«5
So ist auch das von Barthes formulierte Wesen der Fotografie abhängig von seiner sprachlichen Formulierung. Zugleich bleibt die Sprache davon nicht unberührt. Mit dem Postulieren einer »irreduziblen Andersheit« der Fotografie geht es auch um die Ausdrucksmöglichkeiten des Schreibens. Durch seine Behandlung der Fotografie bringt Barthes etwas zur Sprache, was sich dieser scheinbar entzieht. Besonders der Begriff des punctum, weitergehend dann auch der Gedächtnisdiskurs, der sich am »photo du jardin d’hiver« entzündet, stehen hierbei im Vordergrund. Barthes’ methodischer Ausgangspunkt, die Phänomenologie, und die Beziehung von La Chambre claire zu Sartres L’Imaginaire, dem der Text immerhin gewidmet ist, sind ebenfalls im Rahmen textueller Prozesse zu sehen. Hier kann es weniger um den Nachvollzug der methodischen Anleihen gehen, zumal sie innerhalb des Texts selbst wieder unterlaufen werden. Barthes’ »phénoménologie vague, désinvolte, cynique même« (CC, S. 1121) entfernt sich schon in ihrem Beharren auf dem »affect« (CC, S. 1122), der das Subjekt in seiner Selbstpräsenz erschüttert, als Ausgangspunkt der Reflektion von den Voraussetzungen der Phänomenologie, auch Sartre’scher Prägung.6 Der Bezug auf die Phänomenologie ist eingebunden in das relativierende Spiel der übrigen intertextuellen Bezüge, welches seinerseits wiederum auf das Subjekt des Texts zurückschlägt. Bereits zu Anfang erwähnt Barthes die Erfahrung »d’être un sujet ballotté entre deux langages, l’un expressif, l’autre critique; et au sein de ce dernier, entre plusieurs discours […]« (CC, S. 1114). Für Tzvetan Todorov liegt gerade darin der eigentümliche Status von Barthes’ Schreiben: »Seine eigene Modalität entsprach der der Fiktion, dergegenüber die Frage nach Wahrem und Falschem hinfällig ist: der Modalität der Zitation.«7 Eben dem entspricht der Status des Subjekts. Die Ablehnung aller wissenschaftlichen Diskurse zugunsten der »›antique souveraineté du moi‹ (Nietzsche)« (CC, S. 1114) als heuristischem Prinzip kennzeichnet dieses mit der Berufung auf Nietzsche nicht nur be5
Jens Schröter: Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs. In: montage/av 7/2 (1998), S. 129-154, S. 148.
6
Vgl. den Ausgangspunkt von der cartesianischen Gewissheit einer Selbstpräsenz des Bewusstseins bei Sartre und seine explizite Ausklammerung der Annahme eines Unbewussten (Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Reinbek: Rowohlt 1971, S. 43, S. 65 u. passim); vgl. auch: Michele Vangi: Letteratura e fotografia, S. 73; Carlo Brune: Roland Barthes. Literatursemiologie und literarisches Schreiben. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 278.
7
Tzvetan Todorov: Der letzte Barthes. Übers. v. Joseph Vogl. In: Hans-Horst Henschen (Hg.): Roland Barthes. Mit Beiträgen zu seinem Werk von Jacques Derrida u.a. München: Boer 1988, S. 129-137, S. 131.
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reits als heterogenes, nicht-cartesianisches Ich, sondern dezentriert es selbst wieder in seiner Artikulation im Zitat. Der Begriff des Subjekts ist in La Chambre claire – trotz der phänomenologischen Anleihen ԟ immer im Sinne einer »non-identité du sujet«8 zu sehen, die eingebunden ist in die Bewegungen eines erweiterten Intertextualitätsbegriffs. Wenn im Folgenden dennoch die textinterne Instanz mit dem Namen Barthes belegt wird,9 so ist dies im Sinne einer ›Rückkehr‹ des Autors als »fiction«10 zu lesen. Der Name steht dabei weniger für die Verankerung des Textes in der Biografie des Autors als für die Figuration der ›Spur des Realen‹, wie sie Barthes in der Fotografie sieht.11
1. F OTOGRAFIETHEORETISCHE E INORDNUNG In fotografietheoretischer Hinsicht verweist Barthes’ Rede von einer Ontologie auf André Bazins Aufsatz Ontologie de l’image photographique von 1945, dem er auch in seiner Bestimmung der Spezifik des fotografischen Bildes folgt. Bazin sieht die Fotografie im Kontext eines seit den ägyptischen Mumien manifesten menschlichen Bedürfnisses nach der Überwindung von Zeit und Vergänglichkeit im Bild. Diese Gedächtnisfunktion, die die Malerei seit der Neuzeit nur um den Preis der Illusion erfüllen konnte und von der sie durch das Aufkommen der Fotografie entbunden wurde, erfüllt Letztere umso besser, als sie auf »der Übertragung der Realität des Objektes auf seine Reproduktion«12 beruht. Zwar betont Bazin weiterhin den über den Begriff der Ähnlichkeit bestimmten Realismus, doch liegt für ihn wie später für 8
Philippe Roger: Roland Barthes, roman. Paris: Grasset 1986, S. 252.
9
Vgl. zum »Ich« in La Chambre claire: Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 462 f.
10 Vgl. hierzu Roland Barthes: Le Plaisir du texte. In: Œuvres complètes Bd. II, S. 14931532, S. 1508, S. 1526; man könnte es auch als eine Selbstinszenierung im Sinne des »retour amical de l’auteur« lesen (Roland Barthes: Sade, Fourier, Loyola. In: Œuvres complètes Bd. II, S. 1139-1178, S. 1044); auch Brune sieht in Barthes späten Schriften allgemein das Subjekt »als eine genuin ästhetisch-literarische und folglich fiktionale Kategorie« wirksam (vgl. Brune: Roland Barthes, S. 35, zu La Chambre claire vgl. ebd., S. 258 ff.); zu einer Einordnung von Barthes’ späten Schriften v.a. im Bezug auf Roland Barthes par Roland Barthes vgl. Schabacher: Topik der Referenz, v.a. S. 194 ff. 11 Vgl. auch: Michael Moriarty: Roland Barthes. Cambridge: Polity Press 1991, S. 199: »The first person […] reintroduces the oscillation of enunciation, brings back the immediacy of the act of narration: so that the first person of the past historic functions as a kind of verbal photograph, coupling together the here-and-now and the then.« 12 André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes. In: Ders.: Was ist Kino? Köln: DuMont Schauberg 1978, S. 21-27, S. 24.
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Barthes das Entscheidende der Fotografie »nicht im Ergebnis, sondern in der Entstehung.«13 Dank seiner mechanischen Aufzeichnung gehört im Foto »das fotografierte Objekt zu seinem Modell wie der Finger zu seinem Abdruck.«14 Das Spezifische der Fotografie liegt also darin, dass hier keine bloß mimetische Nachahmung vorliegt, sondern ein unmittelbarer physischer Zusammenhang des Fotos mit dem abgebildeten Objekt. Für Philippe Dubois steht Bazin damit »gewissermaßen am Schnittpunkt zwischen einem Diskurs der Mimesis und dem Diskurs der Spur«,15 welchem auch Barthes zuzuordnen wäre. Dubois sieht die Fotografiegeschichte im Wesentlichen durch drei Phasen bzw. zu bestimmten Zeiten jeweils vorherrschenden theoretischen Zugängen geprägt.16 Während im 19. und frühen 20. Jahrhundert das fotografische Bild als »Spiegel des Wirklichen« hauptsächlich unter dem Aspekt abbildlicher Ähnlichkeit betrachtet wurde, richtete sich die Aufmerksamkeit im 20. Jahrhundert – vor allem im Zuge des Strukturalismus – auf die »Transformation des Wirklichen« vermittels Kadrierung, visueller Codes und Ähnlichem. Dubois’ eigener Ansatz siedelt sich schließlich in einem Verständnis der Fotografie als Spur an,17 das zwar in gewisser Weise zum Realismus zurückkehrt, diesen aber nicht mehr mit Kategorien der Ähnlichkeit fasst, sondern mit Charles Sanders Peirce’ Begriff des Index. Peirce selbst führt bei seiner Differenzierung von ikonischen Zeichen, die zu ihrem Referenten in einer Beziehung der Analogie stehen, und symbolischen Zeichen, die aufgrund konventioneller Verknüpfungen an ihren Referenten gebunden sind, sowie indexikalischen Zeichen, die zum bezeichneten Objekt in einer unmittelbaren physischen Beziehung stehen, neben Rauch, Fußspuren oder einem Wegweiser auch Fotografien als Beispiel für letztere an.18 Selbstverständlich ist ein Foto als Index allein nicht ausrei13 Ebd., S. 23. 14 Ebd., S. 27. 15 Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Aus dem Französischen v. Dieter Hornig. Hg. v. Herta Wolf. Amsterdam, Dresden: Verlag der Kunst 1998, S. 50, vgl. auch S. 38 f. 16 Vgl. ebd., S. 27 ff. 17 Zu einer kritischen Bestandsaufnahme des Topos der Fotografie als Spur vgl. Peter Geimer: Das Bild als Spur. Mutmaßung über ein untotes Paradigma. In: Sybille Krämer/ Werner Kogge/Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 95-120. 18 Vgl. Charles Sanders Peirce: Die Kunst des Räsonierens. In: Ders.: Semiotische Schriften. Hg. u. übers. v. Christian Kloesel u. Helmut Pape. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, Bd. 1, S. 191-201, S. 193: »Photographien, besonders Momentaufnahmen, sind sehr lehrreich, denn wir wissen, daß sie in gewisser Hinsicht den von ihnen dargestellten Gegenständen genau gleichen. Aber diese Ähnlichkeit ist davon abhängig, daß Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Origi-
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chend charakterisiert, zumal die einzelnen Zeichenkategorien bei Peirce selten in Reinform auftreten.19 Dies reflektiert Dubois durchaus, doch die Möglichkeiten der Codierung liegen für ihn vor oder nach dem fotografischen Akt der Einschreibung des Lichts auf den Bildträger, welcher selbst einen »Augenblick der reinen Indizialität«20 darstellt. Eine Bedeutung ergibt sich erst aus der Pragmatik, dem Kontext, in den das indexikalische Zeichen gesetzt wird. Die Peirce’sche Semiotik gibt Dubois allerdings nicht nur das Werkzeug an die Hand, die Fotografie als Index gemäß ihrer Pragmatik zu analysieren. Indem er die Kategorien jener Semiotik auf die Phasen der Theoriegeschichte der Fotografie selbst anwendet, die durch die Auffassung der Fotografie als zunächst ikonisches, dann symbolisches und schließlich primär indexikalisches Medium bestimmt sei, gibt er auch ein gutes Beispiel dafür ab, wie neue Konzeptualisierungen das Bild der Geschichte neu prägen.21 Dabei läuft das rückblickende Einholen früherer Theorien in den Horizont der eigenen Begrifflichkeit allerdings Gefahr, teleologisch zu werden. Obgleich Dubois den Schematismus seiner Einteilungen zugibt, drohen die Anknüpfungspunkte, die eine Theorie der Fotografie als indexikalischer Spur in früheren Zugängen – gerade in denen des wegen seines ›naiven‹ Realismus eher unbeachteten 19. Jahrhunderts – finden könnte, unterzugehen.22 Umgekehrt dürfte besonders die gleichzeitige Zugehörigkeit der Fotografie zur Klasse ikonischer wie indexikalischer Zeichen gerade innerhalb solcher Ansätze, die wie Barthes einen richtiggehenden »Kult […] der Referenz um der Referenz willen«23 betreiben, stärker hineinspielen, als dort deutlich gemacht wird.
nal zu entsprechen. In dieser Hinsicht gehören sie also zu der […] Zeichenklasse, die Zeichen aufgrund ihrer physischen Verbindung sind.« 19 Vgl. in Bezug auf die Fotografie: Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. und übers. v. Helmut Pape. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 65. Es versteht sich, dass diese Diskussion in erster Linie die analoge Fotografie betrifft. Zur digitalen Fotografie vgl. u.a. William J. Mitchell: The reconfigured Eye: Visual Truth in the Postphotographic Era. Cambridge (Mass.): MIT Press 1994; Peter Lunenfeld: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie, S. 158-177; einen guten Überblick über die Diskussion bietet Stiegler: Theoriegeschichte, S. 403-422. 20 Dubois, S. 55. 21 Vgl. ebd., S. 49, S. 55. 22 Ansätze zu einem Verständnis der Fotografie als Spur finden sich schon in den frühesten Texten zur Fotografie, so z.B. bei Jules Janin: Der Daguerreotyp (1839). In: Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I, S. 46-51, S. 47; vgl. auch Stiegler: Philologie des Auges, S. 55; in allgemeinerer Hinsicht vgl. S. 18. 23 Dubois: Der fotografische Akt, S. 53, vgl. zu weiterer Kritik an Barthes S. 86, S. 89 f.
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Über eine reine Bestimmung der Fotografie als »émanation du référent« (CC, S. 1166)24 geht Barthes aber hinaus. Rosalind Krauss, die mit ihren Anmerkungen zum Index den Begriff schon 1976 als Ausgang nahm, um von der Fotografie her Tendenzen der zeitgenössischen bildenden Kunst und deren Präfiguration bei Marcel Duchamp neu zu betrachten,25 begründet in ihrer Aufsatzsammlung Das Photographische einen solchen Gebrauch der Fotografie, wie sie ihn auch bei Barthes am Werk sieht. Es geht dabei weniger um die Fotografie als Gegenstand eines Diskurses, als Forschungsobjekt, sondern um ihre Verwendung als »theoretische[s] Objekt, das heißt […] eine[r] Art Raster oder Filter, durch die die Gegebenheiten eines anderen, zweiten Feldes organisiert werden können.«26 Im Fall Barthes’ ist die Fotografie allerdings weniger als theoretisches, sondern – soweit dies gerade beim späten Barthes sich überhaupt trennen lässt – eher noch als literarisches Objekt relevant. Wie sich zeigen wird, hilft sie so, sowohl in ihrer allgemeinen Behandlung als auch in der spezifischen Form des Fotos der verstorbenen Mutter, den Gedächtnisdiskurs in La Chambre claire zu organisieren. Für diesen Gebrauch der Fotografie gilt ebenfalls, in mehr als einem Sinn, was Krauss über die Fotografie als theoretisches Objekt sagt: »Die Photographie ist dabei das Zentrum, von dem aus dieses Feld genauer betrachtet werden kann. Insofern sie allerdings ein Zentrum ist, wird die Photographie selbst, so kann man sagen, zum blinden Fleck.«27 Dies betrifft nicht allein die Tatsache, dass die Aussagen über die Fotografie in La Chambre claire bei aller Insistenz auf der Fotografie ›an sich‹ recht wenig zu fotografischen Praktiken und konkreten Fotografien zu sagen haben, sondern es folgt in gewisser Weise auch der Logik des Index. Als indexikalisches Zeichen leitet die Fotografie »eine Unterbrechung in der Autonomie des Zeichens ein. Eine Bedeutungslosigkeit umgibt sie, die nur durch das Hinzufügen eines Textes ausgefüllt werden kann.«28 Diese Bedeutungslosigkeit kann aber auch – trotz Anwesenheit eines Textes ԟ in gewisser Weise unausgefüllt bleiben. Barthes geht es gerade um den stummen Aufweis einer Realität, den der indexikalische Charakter der Fotografie verspricht.
24 Barthes zitiert hier Susan Sontag, bei der sich in diesem Zusammenhang mit den Vergleichen »footprint« und »deathmask« ähnliche Formulierungen wie im früheren Aufsatz von Bazin finden (vgl. Susan Sontag: On Photography. London u.a.: Penguin 2002, S. 154). 25 Vgl. Rosalind Krauss: Anmerkungen zum Index: Teil 1. In: Dies.: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne. Aus dem Amerikanischen v. Jörg Heininger. Hg. v. Herta Wolf. Amsterdam, Dresden: Verlag der Kunst 2000, S. 249-264. 26 Rosalind Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände. Übers. von Henning Schmidgen. München: Fink 1998, S. 14. 27 Ebd. 28 Krauss: Anmerkungen zum Index, S. 259.
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2.
STUDIUM UND PUNCTUM
Zur ›zweiten Phase‹ der Fototheorie nach Dubois, der Untersuchung der codierten Anteile des fotografischen Bildes, hatte Barthes in den sechziger Jahren mit den Aufsätzen Le message photographique und Rhétorique de l’image entscheidend beigetragen. Bereits hier nahm er allerdings neben den ›konnotativen‹ Anteilen, die das Bild zur Botschaft machen, eine ›denotative‹ Ebene an, in der Signifikant und Signifikat beinahe zusammenfallen.29 Die in Rhétorique de l’image noch hypothetisch gefasste Perspektive, unter der das Foto als reines, uncodiertes Analogon erscheinen könnte, deutet jedoch bereits auf La Chambre claire hin: »on comprend que dans une perspective esthétique le message dénoté puisse apparaître comme une sorte d’état adamique de l’image; débarrassée utopiquement de ses connotations«.30 Die ›ästhetische‹ Perspektive löst dann im späten Buch über die Fotografie mit dem zentralen Begriffspaar studium und punctum die um Konnotation und Denotation zentrierte semiotische Fragestellung ab. Zwar lassen sich jene neuen Begriffe durchaus noch zeichentheoretisch umschreiben – »Le studium est en définitive toujours codé, le punctum ne l’est pas« (CC, S. 1144) –, doch ist es bereits bezeichnend, dass Barthes, wenn er auf seinen früheren Aufsatz anspielt, die dortige Formulierung vom »message sans code«31 zum »image sans code« (CC, S. 1170) transformiert. Nicht mehr unter dem kommunikativen Aspekt der Botschaft ist das Bild relevant, sondern die Art und Weise des Bezugs auf den Referenten und seine affektive Wirkung auf den Betrachter treten in den Vordergrund. Da das studium sich auf ein allgemein kulturell bestimmtes Interesse am Bild bezieht, umfasst es durchaus kommunikative Elemente der Fotografie. Das punctum hingegen bricht in die ruhige Rezeptionshaltung des studium ein und erschüttert die kontemplative Selbstgewissheit des Subjekts.32 Es wird im ersten Teil von La
29 Roland Barthes: Le message photographique. In: Œuvres complètes. Bd. I 1942-1965. Hg. v. Éric Marty. Paris: Seuil 1993, S. 938-948, v.a. S. 939; vgl. auch Roland Barthes: Rhétorique de l’image. In: Œuvres complètes. Bd. I, S. 1417-1429, v.a. S. 1419. 30 Barthes: Rhétorique de l’image, S. 1423. 31 Barthes: Le message photographique, S. 939. 32 Vgl. u.a. die Formulierungen in CC, S. 1126; die geistesgeschichtlichen Parallelen, vor allem zu Kants Erhabenem, wurden verschiedentlich herausgestellt (vgl. v.a. Judith Kasper: Sprachen des Vergessens. Proust, Perec und Barthes zwischen Eingedenken und Verlust. München: Fink 2003, S. 276 ff.). Bedenkt man die Präsenz Nietzsches in La Chambre claire, so wäre vielleicht eher noch das Begriffspaar Apollinisch-Dionysisch heranzuziehen – insbesondere der mit dem Dionysischen verbundene Selbstverlust wie auch die Assoziationen von punctum und Fotografie mit der Musik (vgl. u.a. CC, S. 1126, S. 1147) und dem Theater (vgl. CC, S. 1129) legen dies nahe. Vgl. zu einer weiteren
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Chambre claire zunächst als ästhetische Wirkung der spezifisch fotografischen Referenz eingeführt, wie sie v.a. in der Kontingenz eines Details hervortritt: »Le punctum d’une photo, c’est ce hasard qui, en elle, me point« (CC, S. 1126). Das punctum ist in gewisser Weise ›zwischen‹ dem Betrachter und dem Bild angesiedelt: »c’est un supplément: c’est ce que j’ajoute à la photo et qui cependant y est déjà« (CC, S. 1147). Zwar ist das entsprechende Detail im Foto immer schon und für jeden Betrachter sichtbar, aber erst dadurch, dass es das Individuum ›besticht‹,33 tritt es hervor. Indem Barthes auf den aus Texten Jacques Derridas bekannten Begriff des Supplements rekurriert,34 wird gleichzeitig deutlich, dass sich die Erfahrung des punctum keinesfalls einfach einer Präsenz des Referenten im Bild verdankt. Als Supplement tritt das punctum zur scheinbaren Fülle und Präsenz des Fotos hinzu, dies aber, um diese zu ersetzen und als grundsätzlichen Mangel zu enthüllen: »Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere auffüllt.«35 Das paradoxe Zusammenspiel von Zusatz und Ersetzung im Supplement, das »weder die Anwesenheit noch die Abwesenheit ist«,36 betrifft die Fotografie allgemein und darüber hinaus das Verhältnis der Sprache zum Foto wie zum punctum gleichermaßen. Durch seine supplementäre Struktur bedingt geht das punctum über das einzelne Bild hinaus und stößt, wie noch genauer zu beschreiben sein wird, Textprozesse an, die sich jenseits einer genauen Beschreibung der einzelnen Fotografie bewegen: »[…] comme si la vision directe engagerait à faut le langage, l’engageant dans un effort de description qui, toujours, manquera le point de l’effet, le punctum« (CC, S. 1144).37 Die Frage nach der Möglichkeit einer Bildbeschreibung gewinnt hier also neue Virulenz. Wenn jede Beschreibung als performativer Sprechakt das Beschriebene hervorbringt,38 indem sie geistesgeschichtlichen Einordnung: Detlef Hoffmann: Eduard und Charlotte, studium und punctum. In: Fotogeschichte 29/114 (2009), S. 5-12. 33 Vgl. die Metaphorik der Verletzung in Ausdrücken wie »piqûre«, »petit trou«, »coupure«, »blessure« (CC, S. 1126). 34 Als Markierung des »supplément« im Sinne einer intertextuellen Anspielung kann der in unmittelbarer Nähe stehende Rückgriff auf Bazins Begriff des »champ aveugle« im Kino gesehen werden, den Barthes nun auch im punctum wirksam sieht (vgl. CC, S. 1147 f.). Derrida bezeichnet in seiner Rousseau-Lektüre das Supplement als »tache aveugle« in dessen Texten (Vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris: Minuit 1997, S. 234). 35 Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 250. 36 Ebd., S. 268. 37 Vgl. auch ebd., S. 1144: »Ce que je peux nommer ne peut réellement me poindre.« 38 Vgl. in allgemeiner Hinsicht: Emil Angehrn: Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung. In: Gottfried Boehm/Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst ԟ Kunstbe-
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signifikante Elemente des Bildes auswählt und hervorhebt, so produziert die Beschreibung der Fotografie bei Barthes in erster Linie etwas, was sie selbst nicht assimilieren kann. Angesichts der meisten Beschreibungen von Fotografien vor allem im ersten Teil von La Chambre claire bestätigt sich Barthes’ Aussage hinsichtlich der Unbeschreibbarkeit des punctum, denn die Faszination des jeweils herausgehobenen Details ist nicht immer nachvollziehbar. Allgemein ist jedoch weniger die konkrete inhaltliche Bestimmung der Elemente des Bildes entscheidend für die Möglichkeit eines punctum als vielmehr das plötzliche Bewusstsein des Bezugs der Fotografie auf einen existenziell einmaligen Referenten im unbeabsichtigten Detail. Die Möglichkeit des Eingriffs durch den Fotografen leugnet Barthes dabei durchaus nicht,39 aber er beharrt auf jenem überschüssigen oder überschießenden Detail, das nicht auf Können oder Inszenierung zurückgeführt werden kann: »il [sc. le détail] n’atteste pas obligatoirement l’art du photographe; il dit seulement que le photographe se trouvait là, ou bien, plus pauvrement encore, qu’il ne pouvait pas ne pas photographier l’objet partiel en même temps que l’objet total« (CC, S. 1142). Nur eine rein negative Bedingung ist dem allen begrifflichen Bestimmungen nicht assimilierbaren Moment des punctum adäquat, und die doppelte Verneinung rückt auch den Fotografen als eingreifende Instanz umso wirksamer aus dem Blickfeld.
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Die Insistenz auf dem Zufälligen in der Fotografie, die sich letztendlich deren Einordnung als Kunst entziehen muss – jene ist für Barthes ohnehin nur eine Art, das in der Fotografie aufscheinende Reale zu ›zähmen‹40 – drängt theoriegeschichtlich den Vergleich mit Walter Benjamins Kleiner Geschichte der Photographie geradezu auf.41 Barthes beschreibt mit dem punctum tatsächlich »etwas, was im Zeugnis für schreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Fink 1995, S. 59-74, S. 71 f. 39 Es ist allerdings auffällig, wie sehr Barthes die Frage der Fotomontage oder der Fälschung in der Fotografie umgeht ԟ wobei diese Möglichkeiten nicht unbedingt gegen seine Argumentation sprechen müssen, da gerade die Täuschung in der Fotografie von deren Authentizitätsversprechen zehrt. 40 Vgl. CC, S. 1190. 41 Einen solchen Vergleich führt Rolf H. Krauss durch, für den La Chambre claire »Benjamin zutiefst verbunden« ist; auf die Stelle, auf die es mir hier ankommt, geht er aber nur in einer Anmerkung ein, in der er das punctum mit dem Begriff der Aura bei Benjamin vergleicht (vgl. Rolf H. Krauss: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern: Cantz 1998, S. 107 ff., v.a. S. 111). Zu einem weiteren Vergleich der Fotografietheorie beider Autoren – allerdings mit einigen theoretischen Verkürzungen –
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die Kunst des Photographen […] nicht aufgeht«.42 Es soll hier nicht darum gehen, zu zeigen, dass Barthes Benjamins Text zur Vorlage genommen habe oder über Parallelen sonstige ›Einflüsse‹ nachzuweisen,43 sondern anhand der offenkundigen Gemeinsamkeiten der Texte die allgemeine Fruchtbarkeit einer bestimmten Auffassung der Fotografie für das Schreiben über sie herauszustellen und von da aus die Differenzen der Herangehensweisen genauer zu bestimmen. Wie Barthes geht es Benjamin zunächst nicht um stilistische Fragen, sondern um das, was bei jenem dann der Referent oder das Spectrum der Fotografie genannt werden wird. Dabei fällt etwas auf, das sich nicht nur der Kunst entzieht, sondern sich auch nicht in den Diskurs über sie übersetzen lässt: »Bei der Photographie begegnet man aber etwas Neuem und Sonderbarem: in jenem Fischweib aus New Haven, das mit so lässiger, verführerischer Scham zu Boden blickt, bleibt etwas, was im Zeugnis für die Kunst des Photographen Hill nicht aufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, ungebärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier noch wirklich ist und niemals gänzlich in die ›Kunst‹ wird eingehen wollen.« (GS II.1, S. 370)
Die Beschreibung hebt mit dem Hinweis auf den Blick zwar ein bestimmtes Element heraus, verstärkt durch dreimalige Wiederholung des »etwas« sonst jedoch eher den Eindruck des Unbestimmten, auf den es hier ankommt. Der Leser ist aufgefordert, dem Bild nachzuforschen und dieses Element, das in nichts aufgehen will, selbst zu erfahren. Für Sigrid Weigel nimmt das beschriebene »etwas« das spätere punctum Barthes’ vorweg, als »materielle Spur des gewesenen Augenblicks, die dem Bild
vgl. Tim Dant/Graeme Gilloch: Pictures of the Past. Benjamin and Barthes on photography and history. In: European Journal of Cultural Studies 5/1 (2002), S. 5-23. 42 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Bd. II.1, S. 368-385, S. 370 (aus den Gesammelten Schriften wird im Folgenden mit der Sigle GS und der entsprechenden Band- und Seitenzahl zitiert). 43 Es ist auch nicht direkt nachzuweisen, dass Barthes die Kleine Geschichte der Photographie kannte. Er erwähnt in einem Interview von 1977 zwar einen »texte de W. Benjamin qui est bon parce qu’il est prémonitoire« (Roland Barthes: Sur la photographie. In: Œuvres complètes III, S. 1235-1240, S. 1235), jedoch könnte es sich dabei auch um den bekannteren Kunstwerk-Aufsatz handeln. Laut Grojnowski waren Auszüge aus der Kleinen Geschichte der Photographie allerdings im »Spécial photo« des Nouvel Observateur, der im Literaturverzeichnis von La Chambre claire aufgeführt ist, abgedruckt (vgl. Grojnowsky: Photographie et Langage, S. 300 f.).
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anhaftet.«44 Der Name und damit die Identität der Abgebildeten spielt bei Barthes’ Fixierung aufs Detail allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Beim »photo du jardin d’hiver«, dem Foto von Barthes’ verstorbener Mutter, wird etwas Entsprechendes wieder relevant. Die Frage nach denen, die da gelebt haben oder noch leben, deutet sich in La Chambre claire aber schon an, wenn auf die Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Vergangenheit im Foto hingewiesen wird.45 Mit diesem Hinweis bereitet sich die zweite Formulierung des punctum vor, das nun nicht mehr an den formalen Aspekt des Details gekoppelt ist, sondern an die Intensität des Bewusstseins der Zeit, die im Foto als zugleich vergangen und präsent erfahren wird.46 Barthes’ Beispiel eines zum Tode Verurteilten, der, als Lebender fotografiert, doch gleich sterben wird, macht dies auf dramatische Weise anschaulich: »La photo est belle, le garçon aussi: c’est le studium. Mais le punctum, c’est: il va mourir. Je lis en même temps: cela sera et cela a été; j’observe avec horreur un futur antérieur dont la mort est l’enjeu« (CC, S. 1175). Der Tod, der die Fotografie auf diese Weise immer – prinzipiell auch wenn sie keine zum Tode Verurteilten zeigt – begleitet und auf den sie vorausweist, spielt in La Chambre claire noch eine entscheidende Rolle. In verschiedener Weise ist er ein konstantes Thema der Fotografiegeschichte, sei es in den Praktiken der Geister- und der Totenbettfotografie des 19. Jahrhunderts,47 im damit zusammenhängenden Diskurs über das ›tote Bild‹ der Fotografie zu jener Zeit48 oder im Hinweis auf die mortifizierende Kraft der Fotografie, wie er sich zum Beispiel bei Susan Sontag findet.49 Auch Benjamin greift das Thema des Todes auf, um etwas ganz Ähnliches wie Barthes zu beschreiben.50 In der Bespre44 Vgl. Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München: Fink 2004, S. 50. 45 Vgl. CC, S. 1167. 46 Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion des punctum der Zeit vor dem Hintergrund des modernen Zeitbegriffs Nancy M. Shawcross: Roland Barthes on Photography. The Critical Tradition in Perspective. Gainesville u.a.: University Press of Florida 1997, S. 86 ff. 47 Vgl. Christiane Arndt: Der reproduzierte Tod. Leichenfotografie im 19. Jahrhundert. In: Fotogeschichte 25/97 (2005), S. 47-56; Krauss: Das Photographische, S. 29 ff. 48 Vgl. u.a. Stiegler: Philologie des Auges, S. 225 ff.; Plumpe: Der tote Blick, S. 26 f. 49 Vgl. Sontag: On Photography, S. 70 f.; vgl. allg. zum Komplex Fotografie und Tod v.a. auch die Stichworte »Memento mori« und »Tod« in: Stiegler: Bilder der Fotografie, S. 139 ff., S. 233 ff. Die Verbindung von Fotografie und Tod ist sehr prominent bei Iris Därmann: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte. München: Fink 1995, vgl. v.a. S. 398 ff.; vgl. als Überblick: Martin Schulz: Die Sichtbarkeit des Todes in der Fotografie. In: Thomas H. Macho/Kristin Marek (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München: Fink 2007, S. 401-425. 50 Die Verbindung von Fotografie und Tod wird, allerdings nicht ohne eine etwas pathetische Dramatisierung, sehr stark herausgearbeitet bei Eduardo Cadava: Words of light:
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chung eines Bilds des Fotografen Karl Dauthendey mit seiner Braut ist es besonders der Umstand, dass die Frau sich später umbrachte, die dem Bild eine besondere Suggestivkraft zu verleihen scheint. Benjamin kommt hier zu Formulierungen, die eine direkte Übertragung beider Aspekte des punctum – den zeitlichen wie den des Details ԟ besonders nahezulegen scheinen: »Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können.« (GS II.1, S. 371)
Mit der Metapher des »Fünkchens«, das die Fotografie über den Status eines Bildes hinaushebt, liegt der semiotische Begriff des Index recht nahe.51 Der Blick der Frau auf dem beschriebenen Foto, »saugend an eine unheilvolle Ferne geheftet« (GS II.1, S. 371), stellt in Barthes’ Worten das punctum dar, das hier nun nicht allein mit der Metaphorik einer Verletzung oder Verbrennung am Detail festgemacht wird, sondern zudem auf das künftige Ende bereits vorauszuweisen scheint: »cela sera et cela a été.« Nun handelt es sich bei der abgebildeten Frau, wie André Gunthert gezeigt hat, allerdings nicht um die erste Frau Dauthendeys, die Selbstmord beging, sondern um seine zweite Frau, was Benjamin aus den ihm zur Verfügung stehenden Quellen durchaus hätte entnehmen können.52
Theses on the Photography of History. In: Diacritics 22/3/4 (1992), S. 84-114, v.a. S. 89 ff., S. 111. 51 Dementsprechend wird die Passage von Dubois auch als früher Beleg für den Diskurs der Spur angeführt (vgl. Dubois: Der fotografische Akt, S. 50). 52 Vgl. André Gunthert: Le complexe de Gradiva. Théorie de la photographie, deuil et résurrection. In: Études photographiques 2 (1997), S. 115-128, S. 119 f. Die erste Frau tötete sich 1855, das Bild stammt aber aus dem Jahr 1857. Das Aufnahmedatum der Fotografie ist auch im Artikel in der Literarischen Welt abgedruckt (vgl. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: Die literarische Welt 7/38 (1931), S. 3). Max Dauthendey beschreibt in der Biographie seines Vaters, aus der auch Benjamin zitiert, lediglich ein Bild der ersten Frau, auf dem noch nichts das spätere Unglück erahnen ließe – höchstens der Blick des Vaters verrate vielleicht eine Härte, »die der ihn horchend prüfenden Frau weh tun konnte« (Max Dauthendey: Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 1. München: Langen 1925, S. 139). Auch der Sohn kann sich offenbar nicht enthalten, das »winzige Fünkchen Zufall« im Bild zu suchen.
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Es entbehrt in der Tat nicht einer gewissen »ironie amère«, dass gerade dieses Foto verwendet wurde, »pour démontrer l’exemplarité du caractère référentiel de la photographie.«53 Allerdings referiert in Benjamins Beschreibung das Foto weniger auf die abgebildete Frau als auf das ihr vermeintlich bevorstehende Ende. Das »Fünkchen Zufall«, das auf den künftigen Tod hinweisen könnte, begründet weniger den spezifischen Referenzcharakter der Fotografie, als dass sich der unwiderstehliche »Zwang«, es zu suchen, aus dem Wissen um jenen ableitet. Im Gegensatz zu Barthes’ punctum springt das Detail dabei nicht aus dem Bild hervor, sondern es ist kaum wahrnehmbar. Nur wenn man sich »lange genug in so ein Bild vertieft [hat], erkennt man […]: die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann« (GS II.1, S. 371). Dieser magische Wert entspringt aus dem Zusammenspiel der Faszination für die spezifische Referenz der Fotografie und ihrer textuellen Einkleidung, den Memoiren Max Dauthendeys ebenso wie Benjamins Text selbst. Die Fotobeschreibungen in der Kleinen Geschichte der Photographie können vor diesem Hintergrund als Versuch gelesen werden, einen bestimmten Blick auf Fotos erst einzuüben. Der Text ist so nichts, was nachträglich zum Bild hinzutritt, sondern er schafft erst die Zugänge zum Bild, die dieses ›lesbar‹ machen. Benjamins Forderung nach einer Beschriftung, die »zum wesentlichen Teil der Aufnahme werden« (GS II.1, S. 385) soll, muss auf seine eigenen Bildbeschreibungen rückbezogen werden. Schrift und Bild sind hier eng verwoben, und dies nicht allein in dem Sinne, dass die Kleine Geschichte der Photographie die Bilder lesbar macht, sondern auch, weil der Text auf vorgängige Kommentare zurückgreift: »Benjamins Vorbilder sind bereits durch das Buchmedium gegangen und kommentiert worden. Sie sind im Archiv des Intellektuellen niedergelegt, der sich in der Versenkung in die Details […] das Werk zugänglich macht.«54 Die Frage der Beschriftung ist bei Benjamin immer auch mit einem politischen Anspruch verbunden. Im Fall der Besprechung des Bilds von Dauthendey und seiner Braut tritt dies gewiss nicht im selben Maß hervor wie etwa in der Forderung nach einem »revolutionären Gebrauchswert« durch die Überwindung der »Schranke zwischen Schrift und Bild« (GS II.2, S. 693) in Der Autor als Produzent. Und doch bestimmt auch diese Bildbeschreibung ein geschichtsphilosophisches Motiv, das in Benjamins späten Überlegungen, etwa im Begriff des dialektischen Bildes, sich als politischer Anspruch der Vergangenheit an die Gegenwart artikuliert. Gerhard Schweppenhäuser hebt diesen Aspekt bei Benjamins Fotobeschreibung gerade im Vergleich mit Barthes besonders hervor:
53 Gunthert: Le complexe de Gradiva, S. 120. 54 Heiko Reisch: Das Archiv und die Erfahrung. Walter Benjamins Essays im medientheoretischen Kontext. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992, S. 124.
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»Im Vergangenen, Unwiederholbaren, Unwiederbringlichen steckt noch immer das Zukünftige, das es zu entbinden gilt. Erinnerung, als Zitat der Jetztzeit des Vergangenen, die im Blick des Heutigen gerettet werden will, ist in Benjamins geschichtsphilosophischer Ästhetik der Verweis auf die Zukunft des Vergangenen, die es vielleicht nie hatte und die doch unabgegolten ist.« 55
Die Zukunft des Vergangenen liegt für Barthes dagegen im Verweis auf dessen Tod, der nur im weitergehenden Hinweis auf den künftigen Tod des Betrachters einen Bezug zur Gegenwart herstellt.56 Das punctum kann deshalb trotz aller Nähe nicht umstandslos in das »Fünkchen Zufall« übersetzt werden.57 Wo dieses für Benjamin den historischen Index darstellt, der die Authentizität der Fotografie ausmacht, geht es Barthes mit jenem um die existenzielle Dimension einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Der Taumel, der ihn angesichts der Zeitlichkeit des Bildes erfasst, leitet sich gerade aus dessen zukunftslosem Stillstand ab. Zumindest hinsichtlich der phänomenologischen Ebene von Barthes’ Text, auf der die abgeschlossene Vergangenheit der Fotografie das allgemeine Merkmal aller Fotos darstellt, kann die Differenz beider Texte mit einer Notiz aus dem Passagen-Werk benannt werden: »Was die Bilder von den ›Wesenheiten‹ der Phänomenologie unterscheidet, das ist ihr historischer Index. […] Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen« (GS V.1, S. 577). »Bild« in diesem Sinne wäre nicht bereits das Foto, sondern erst die Konstellation von Text und Bild in der Kleinen Geschichte der Photographie.
55 Vgl. Gerhard Schweppenhäuser: Bildkraft, prismatische Arbeit und ideologische Spiegelwelten. Medienästhetik und Photographie bei Walter Benjamin. In: Weimarer Beiträge 46/3 (2000), S. 390-408, S. 393. 56 Vgl. CC, S. 1176. 57 Vgl. auch Liliane Weissberg: Bilderwechsel: Barthes, Benjamin, Freud und der Exkurs der Photographie. In: Ortrud Gutjahr (Hg.): Kulturtheorie. Würzburg 2005 (= Freiburger Literaturpsychologische Gespräche 24), S. 217-240, S. 222: »Bei Barthes kann ein bestimmtes Detail die Aneignung des Bildes als Gedächtnis evozieren und die Vergangenheit wieder herbeibeschwören. Bei Benjamin hingegen soll eine ›unscheinbare Stelle‹ die Photographie in das ›Hier und Jetzt‹ überführen und ihre gegenwärtige Bedeutung aufzeigen.« Dazu ist allerdings anzumerken, dass sich das Verhältnis des Fotos als Gedächtnis bei Barthes – wie noch zu zeigen sein wird ԟ komplizierter gestaltet, als es in dieser Darstellung erscheint.
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Im Kontrast zu Benjamins Foto-Reflektion lässt sich auch Barthes’ Bezug auf psychoanalytische Begrifflichkeiten genauer fassen. In einer berühmten Formulierung parallelisiert Benjamin die Visualisierungsleistungen der Fotografie mit den Entdeckungen der Psychoanalyse: »Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ›Ausschreitens‹. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.« (GS II.1, S. 371)
Das Beispiel des Ausschreitens lässt vermuten, dass Benjamin hier die Experimente Eardward Muybridges oder Étienne-Jules Mareys im Sinn hatte.58 Die Passage fungiert im Kontext des Fotografie-Aufsatzes als Schnittstelle zwischen der frühen Fotografie, die mit den Beispielen Hills und Dauthendeys noch mit dem Begriff der Aura59 beschrieben werden konnte, und der zeitgenössischen Fotografie, die Benjamin anhand von Karl Bloßfeldts Pflanzenaufnahmen an dieser Stelle kurz streift. Die Erhellung des Optisch-Unbewussten ist dabei in erster Linie an die technischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten des Mediums gebunden, die sich im Gegensatz zur auratischen Wirkung bis in die zeitgenössische Fotografie durchgehalten haben und auch erst in dieser klar hervortreten. Den Vergleich mit der Psychoanalyse greift Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz im Hinblick auf den Film wieder auf und bezieht ihn, in der dritten Version des Aufsatzes, explizit auf Freuds Psychopathologie des Alltagslebens. Indem Fehlleistungen im Gespräch durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse eine neue Dimension bekamen, wurden Phänomene »isoliert und zugleich analysierbar gemacht, die vorher im breiten Strom des Wahrgenommenen mitschwammen« (GS I.2, S. 498). Etwas Ähnliches leiste der Film mit seinen technischen Möglichkeiten auf visueller Ebene.60 58 Vgl. hierzu Stiegler: Theoriegeschichte, S. 90 ff.; Michel Frizot: Geschwindigkeit in der Fotografie. Bewegung und Dauer. In: Ders. (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, S. 242-257, v.a. S. 244 ff. 59 Zur Aura vgl. das folgende Kapitel zu Benjamin. 60 Der Unterschied von Film und Fotografie ist für den vorliegenden Zusammenhang zweitrangig, zumal die Perspektive auf den Film in der Kleinen Geschichte der Photographie bereits mit dem Hinweis auf die Zeitlupe angedeutet war. Für Benjamin liegt er an der
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Der Bezug auf Freud wirft die Frage auf, in welcher Weise hier denn von einem Unbewussten geredet werden könnte, das mit der Kamera sichtbar werde. Krauss’ diesbezügliche Kritik geht allerdings an Benjamins Argument vorbei, wenn sie fragt: »But what can we speak of in the visual field that will be an analogue of the ›unconscious‹ itself, a structure that presupposes first a sentient being within which it operates, and second a structure that only makes sense insofar as it is in conflict with that being’s consciousness?«61 Dies legt nahe, es ginge Benjamin um das Unbewusste dessen, was zu sehen ist, wohingegen die Analogie von Psychoanalyse und visuellen Medien, wie Weigel richtig bemerkt, auf »die Ersetzung des Bewußtseins als Raum strukturierende Instanz«62 abzielt.63 Dennoch bleibt Benjamin bei der reinen Analogie der jeweiligen Erkenntnisleistung nicht stehen, denn die Fotografie eröffnet mit ihren technischen Möglichkeiten »Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verborgen genug, um in Wachträumen Unterschlupf gefunden zu haben« (GS I.2, S. 371). Wenn jene sonst üblicherweise der Wahrnehmung entzogenen Dimensionen den Stoff für Wachträume bietet, wird die Kategorie des Unbewussten an ihre psychoanalytische Herkunft wieder angenähert. In den ersten beiden Fassungen von Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit geht Benjamin in diese Richtung noch einen Schritt weiter. Indem »die mannigfachen Aspekte, die die Aufnahmeapparatur der Wirklichkeit abgewinnen kann, […] zum großen Teile nur außerhalb eines normalen Spektrums der Sinneswahrnehmungen« liegen (GS I.2, S. 461; GS VII.1, S. 376), betreffen sie diese »in der Tat in Psychosen, in Halluzinationen, in Träumen« (GS I.2, S. 462; GS VII.1, S. 377). Mithilfe der Kamera könne so die Wahrnehmung des Träumers oder des Psychotikers erschlossen werden. Es ist also weniger das Unbewusste des visuellen Feldes selbst, das durch die Kamera er-
Stelle vor allem darin, dass bei der Fotografie künstlerische und wissenschaftliche Verwertbarkeit auseinanderfallen, während sie beim Film tendenziell als identisch erkennbar werden (vgl. GS I.2, S. 499). 61 Rosalind Krauss: The Optical Unconscious. Cambridge (Mass.), London: MIT Press 1994, S. 178 f. Krauss’ eigene Verwendung des Begriffs, bei dem sie sich auf Lacans Konzept des Blicks bezieht, kann für Barthes hingegen einige Geltung beanspruchen. 62 Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte, S. 48. 63 Benjamin kann sich in diesem Zusammenhang mit einigem Recht auf Freud berufen, der einen durchaus ähnlichen Vergleich, in entgegengesetzter Richtung, anführt: »Das Unbewußte ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewußtseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.« (Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe Bd. II. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt a.M.: Fischer 1972, S. 580).
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schlossen wird, sondern etwas in ihm, das ins Bewusstsein des Subjekts nie eingeht, im Unbewussten aber eine gewisse Wirkung zu entfalten scheint. Insofern mit dem punctum ebenfalls ein Element aus dem Bild hervortritt, das in der alltäglichen Wahrnehmung unsichtbar bleiben musste, scheint der Begriff eines Optisch-Unbewussten auch im Fall von La Chambre claire angebracht. Anders als bei Benjamin wäre das Unbewusste hier aber stärker in der Fotografie selbst angesiedelt, sozusagen als sichtbares, aber nicht wahrnehmbares oder »formulierbar[es]« (GS II.1, S. 371) Element. In einer Passage, die auffällig viele Stichwörter aus Benjamins Schriften zur Fotografie anklingen lässt, grenzt er die Erschließung von bisher unbemerkten Bereichen durch das Foto deutlich vom punctum ab: »le ›choc‹ photographique (bien différent du punctum) consiste moins à traumatiser qu’à révéler ce qui était si bien caché, que l’acteur lui-même en était ignorant ou inconscient« (CC, S. 1130). Der hier nahegelegte Bezug zu psychoanalytischen Begrifflichkeiten ist demnach weniger in der Erhellung eines Optisch-Unbewussten im Sinne Benjamins zu suchen als in der Beziehung der Fotografie zum Trauma. Diese Beziehung kann auf verschiedenen Ebenen verfolgt werden. In grundsätzlicher, freilich metaphorischer Weise lassen sich strukturelle Analogien zwischen psychoanalytischen Trauma-Beschreibungen und der Fotografie herstellen.64 Anders als bei Freuds gelegentlichem Rückgriff auf Metaphern aus dem Bereich der Fotografie, um den Übergang von unbewussten zu bewussten psychischen Vorgängen anhand der Entwicklung von Negativen zu veranschaulichen,65 ist es hier weniger der eigentliche Entwicklungsprozess als vielmehr die momenthafte Aufnahme eines Bilds und dessen nachträgliche Betrachtung sowie die Wiederholung in der Reproduktion, die sich als Vergleichsmomente anbieten. Freuds Beschreibung des Traumas als Folge einer Durchbrechung des Reizschutzes, der das System
64 Um eine solche »structural analogy« geht es auch Ulrich Baer: Spectral evidence. The photography of trauma. Cambridge (Mass.) u.a.: MIT Press 2002, v.a. S. 1-24, hier: S. 11. 65 Vgl. u.a. Sigmund Freud: Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse. In: Ders.: Studienausgabe Bd. III: Psychologie des Unbewußten, S. 2936, S. 34; ders.: Zur Dynamik der Übertragung. In: Studienausgabe. Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, S. 158-168, S. 159; ders.: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Studienausgabe Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, S. 455-583, S. 571; ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Studienausgabe Bd. I, S. 292 f.; in der Traumdeutung wird zur Erläuterung der Funktionsweise des psychischen Apparats neben einem Fernrohr auch ein Fotoapparat erwähnt (vgl. ders.: Die Traumdeutung, S. 512). Vgl. zur Fotografie als Metapher bei Freud: Sarah Kofman: Freud – Der Fotoapparat. In: Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie, S. 60-66, v.a. S. 64 f.; vgl. auch unten, Abschnitt 2 im Kapitel zu Proust.
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Wahrnehmung-Bewusstsein vor zu großen Erregungsmengen bewahren sollte,66 ließe sich in Verbindung bringen mit der ›Einschreibung‹ des Lichts auf den Film. Die fotografischen Bilder kämen damit für die Beharrlichkeit von Bildern einer Vergangenheit zu stehen, deren Wirklichkeit sich nicht leugnen lässt, die aber als solche dem Bewusstsein nie gegenwärtig war. Der so skizzierte metaphorische Gebrauch der Fotografie als Bild des Traumas wäre nun aber – denn dies scheint auch Barthes zu suggerieren – stärker auf Verbindungen fotografischer Bilder mit traumatischen Erlebnissen zu beziehen. Bei Benjamin beträfe dies in erster Linie den Begriff des »Chocks« und die Erfahrungsund Gedächtnistheorie, wie er sie v.a. in Über einige Motive bei Baudelaire unter anderem in enger Auseinandersetzung mit Freuds Jenseits des Lustprinzips entwickelt.67 Das Bewusstsein erfüllt demnach die Funktion eines Reizschutzes, zur Abwehr von Schocks. Benjamin geht es in erster Linie um den Wandel der Wahrnehmungs- und Erfahrungsstrukturen in einer Umgebung wie der modernen Großstadt, in der das Individuum in zunehmendem Maße Schocks ausgesetzt ist. Im dem Zusammenhang heißt es, der Fotoapparat »erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock« (GS I.2, S. 630). Zwar führt Benjamin die Fotografie an der betreffenden Stelle als Beispiel für haptische Erfahrungen in Verbindung mit Verrichtungen der modernen Technik – hier dem »Knipsen« – an, jedoch kann das ›Posthume‹ des Schocks im Grunde nur sinnvoll auf die nachträgliche Sichtbarkeit des Fotos bezogen werden. Dies beträfe aber eine visuelle Erfahrung, bei der ein Reiz, der eigentlich abgewehrt werden sollte, nun doch bewahrt wäre. Bezogen auf den Begriff des Traumas würde der »posthume[ ] Chock« demnach die Bedingung der Nachträglichkeit erfüllen. Als Mediation durch den technischen Apparat ist an der betreffenden Stelle für Benjamin eine wirkliche traumatische Wirkung aber dennoch abgewehrt, indem »die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art« unterwirft (GS I.2, S. 630). Gerade in der nachträglichen Konfrontation mit dem Bild könnte also eine Möglichkeit des Reizschutzes oder seines Trainings liegen. Obgleich Barthes’ Ablehnung des »›choc‹ photographique« nicht direkt auf Benjamins Begriffsverwendung abzielen muss, sind deren Implikationen schwerlich in den Ansatz von La Chambre claire zu integrieren. Nicht das Training seines Sensoriums sucht Barthes in der Fotografie, sondern die Überwältigung des Bewusstseins durch einen gerade nicht abgewehrten traumatischen Schock, der sich im punctum manifestiert. Dies betrifft sowohl den Aspekt des Details als auch die Evidenz der vergangenen Zeit im Foto. Mit der Reaktion auf die Überkreuzung der
66 Vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Studienausgabe Bd. III, S. 215-272, S. 237, S. 241. 67 Vgl. Abschnitt 2 im folgenden Kapitel.
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Zeitebenen im Foto ist ebenso gut die Dynamik des Traumas beschrieben: »je frémis […] d’une catastrophe qui a déjà eu lieu« (CC, S. 1175). Legt die zeitliche Struktur der Fotografie zumindest den Vergleich mit dem Trauma nahe, so wäre diese Parallele doch auch im Hinblick auf das punctum als Detail zu verfolgen, dem an der oben zitierten Stelle im Gegensatz zum Schock eine traumatisierende Wirkung zugesprochen wird. Es muss unterschieden werden zwischen dem Foto als einem aufgrund seiner Zeitlichkeit sozusagen ›strukturell traumatischen‹ Medium und einem Trauma des Subjekts, das durch das Foto in irgendeiner Weise affiziert wird. Der durch Barthes’ Formulierungen scheinbar nahegelegte Schluss, das Bild selbst habe traumatische Wirkung auf den Betrachter, erscheint zunächst fragwürdig. Eine solche Wirkung mag in Einzelfällen, angesichts tatsächlich erschreckender Tatsachen, die durch das Foto erfahren, in ihrer gesamten Tragweite aber nicht verarbeitet werden können, durchaus eintreten. Susan Sontags Bericht von ihrer ersten Konfrontation mit Fotografien aus Bergen-Belsen führt einen solchen Fall drastisch vor Augen68 und sagt tatsächlich etwas über den spezifischen Eindruck von Authentizität angesichts der Fotografie aus. Doch geht es Barthes – zumindest in La Chambre claire ԟ weniger darum, dass das im Bild Sichtbare aufgrund der Qualitäten des Dargestellten direkt traumatisiert, als um eine traumatischen Schocks ähnliche Visualisierungsleistung, die wiederum an eine traumatische Konstellation im Subjekt rührt. Das punctum als Detail ist dabei im Zusammenhang mit der Zeitlichkeit der Fotografie zu denken, so dass beide Aspekte des punctum sich im Begriff des Traumas als Ausdruck der spezifischen Referenz der Fotografie nach Barthes treffen. In seiner Behandlung des Traumas ist Barthes’ Text weniger Freud verpflichtet als dessen Rezeption durch Lacan. Bereits im ersten Abschnitt von La Chambre claire wird explizit auf Lacans Kapitel »Tyche und Automaton« aus dem Séminaire XI verwiesen. Das Foto, heißt es bei Barthes, »est le Particulier absolu, la Contingence souveraine, […], bref, la Tuché, l’Occasion, le Rencontre, le Réel, dans son expression infatigable« (CC, S. 1112). Die Stelle ist eine Wiederaufnahme der wesentlichen Formulierungen von Lacans Einführung des aus Aristoteles’ Physik übernommenen Begriffs der Tyche: »Wir übersetzten: la rencontre du réel […]. Das Reale ist jenseits des Automaton, der Wiederkehr, des Wiedererscheinens, des Insistierens der Zeichen, auf die wir durch das Lustprinzip verpflichtet sind. Das Reale liegt stets hinter dem Automaton.«69 Die tychische Begegnung mit dem Realen, die im Trauma »wesentlich eine verfehlte Begegnung ist«,70 entzieht sich dem 68 Vgl. Sontag: On photography, S. 19 f.; vgl. dazu unten, das Kapitel zu Fotografie und Literatur nach Auschwitz. 69 Jacques Lacan: Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Übers. v. Norbert Haas. Olten, Freiburg: Walter 1978, S. 60. 70 Ebd., S. 61
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»Signifikantennetz«71 des Automaton. Für Barthes zeigt sie sich als verpasste im Foto, das ein vergangenes Reales zwar wiederholt, aber darin zugleich entzieht: »elle [la Photographie] répète mécaniquement ce qui ne pourra jamais plus se répéter existentiellement« (CC, S. 1112). Die Fotografie wird so zum technischen Analogon des Wiederholungszwangs als dem »Signum des Unassimilierbaren, Unbezähmbaren«72 im Trauma.73 Mit dem Lacan-Bezug wird aber nicht nur ein weiteres Mal das problematische Verhältnis des Realen in der Fotografie zur Sprache variiert, sondern spezifischer noch der traumatisch vermittelte Bezug des punctum auf den Betrachter. Im Feld des Sehens figuriert die Tyche bei Lacan als Blick oder Fleck, als eine Störung, die der perspektivischen Beherrschung des visuellen Felds, also dem optischen Äquivalent des cartesianischen Subjekts, entgegenläuft.74 Mit dem Blick als dem, was dem Subjekt aus dem Bild selbst entgegentritt, ist etwas angesprochen, das in einem ganz anderen Sinne als dem Benjamins ein Optisch-Unbewusstes darstellt.75 Verstanden als tychischer Fleck, als »petit trou, petite tache, petite coupure« (CC, S. 1126), dezentriert das punctum das Bewusstsein und verweist es letztlich auf seine eigene Nichtigkeit. Im Bezug auf Lacan treten beide Arten des punctum, das der Zeit und das Detail, zusammen,76 insofern es im Detail als Blick im Sinne Lacans eine ähnliche Bedeutung bekommt, wie sie Barthes beim punctum der Zeit 71 Ebd., S. 58. 72 Margaret Iversen: Was ist eine Fotografie? In: Wolf (Hg.): Paradigma Fotografie, S. 108134, S. 113. 73 Freuds wohl prominentestes Beispiel für den Wiederholungszwang, das Fort-Da-Spiel seines Enkels (vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 225), kehrt in La Chambre claire in der Umschreibung der ›fotografischen Geste‹ als der eines Kindes wieder, »qui désigne quelque chose du doigt et dit: Ta, Da, Ça!« (CC, S. 1112). Insofern das Spiel in Freuds Interpretation dazu dient, die Abwesenheit der Mutter zu verarbeiten, klingt das die zweite Hälfte von La Chambre claire beherrschende Thema schon hier an. Zum Fort-DaSpiel in La Chambre claire vgl. auch: Eilene Hoft-March: Barthes’s Real Mother: The Legacy of La Chambre claire. In: French Forum 17/1 (1992), S. 61-76, S. 67 ff. 74 Vgl. Lacan: Die vier Grundbegriffe, S. 80. 75 Wie erwähnt, wendet Krauss den Begriff in diesem Sinne in The Optical Unconscious auf die Kunst der Avantgarde an (vgl. Krauss: The Optical Unconscious, v.a. 71 ff., S. 87 f.). 76 Vgl. Gabriele Schabacher: Den Blick im Auge. Ein gespenstisches punctum der Photographie (Barthes, Derrida, Lacan). In: Erich Kleinschmidt/Nicolaus Pethes (Hg.): Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 203-231, S. 224; vgl. auch Iversen, für die das zugrunde liegende Thema von La Chambre claire aus »Lacans Darstellung der Begegnung mit dem Realen, die letztendlich eine Begegnung mit der beharrlich geleugneten Tatsache der eigenen Sterblichkeit ist,« (Iversen: Was ist eine Fotografie, S. 110) stammt.
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unterstreicht: »[…] il y a toujours en elle [la photo] ce signe impérieux de ma mort future« (CC, S. 1176).
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Der Komplex einer traumatischen Konfrontation mit einem sich entziehenden Realen, der Wiederholung und dem darin konstituierten Begehren prägt in Barthes’ Text nicht nur das begriffliche Profil des punctum. Die Bewegung des Texts selbst ist gerade in der Auseinandersetzung mit der Fotografie von den in der Nachträglichkeit der Wiederholung wirksamen Prozessen der Verschiebung und Substitution bestimmt. »Alles fängt mit der Reproduktion an. Immer schon, das heißt Niederschlag eines Sinns, der nie gegenwärtig war, dessen bedeutete Präsenz immer ›nachträglich‹, im Nachhinein und zusätzlich (supplémentairement) rekonstituiert wird. Das Aufgebot des Nachtrags (supplément) ist hier ursprünglich und untergräbt das, was man nachträglich als Präsenz rekonstituiert.«77
Was Derrida über die Implikationen der Textmetapher bei Freud sagt, lässt sich auf die Dynamik von Text und Fotografie bei Barthes übertragen. Die Präsenz ist nie anders als im Nachhinein festzustellen und bleibt in ihrem Sinn immer prekär. Ist bereits das »punctum selbst […] kein Trauma, wohl aber seine verschobene Wiederholung auf der Ebene lesender oder schauender Wahrnehmung als schockartiger Affekt«,78 so wird durch den Versuch, das punktierende Element im Foto zu benennen, eine weitere Wiederholung, die zugleich Substitution dessen ist, was sie zu fassen sucht, innerhalb des Texts eingeführt. Die supplementäre Struktur des punctum geht über auf die Sprache, mit entscheidenden Konsequenzen für das Verhältnis von Fotografie und Text. Für die generierte »Abfolge von Supplementen« gilt in ähnlicher Weise, was Derrida in seiner Rousseau-Lektüre feststellt: Auch hier »wird die Notwendigkeit einer unendlichen Verknüpfung sichtbar, die unaufhaltsam die supplementären Vermittlungen vervielfältigt, die gerade den Sinn dessen stiften, was sie verschieben: die Vorspiegelung der Sache selbst, der unmittelbaren Präsenz, der ursprünglichen Wahrnehmung.«79 Geht es Derrida noch um den ständigen Aufschub des Signifikats als Garant des Sinns, so ist in La Chambre claire das eigentliche Problem der Referent, der in der Fotografie bereits nur als abwesender
77 Jacques Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. Rodolphe Gasché. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 302-350, S. 323. 78 Kasper: Sprachen des Vergessens, S. 289. 79 Derrida: Grammatologie, S. 272.
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sichtbar wird und sprachlich nicht anders als in immer neuen Annäherungen umkreist werden kann. Begünstigt wird dies durch die metonymische Funktionsweise des punctum: »Si fulgurant qu’il soit, le punctum a […] une force d’expansion. Cette force est souvent métonymique« (CC, S. 1138).80 Über seine metonymische Expansion tritt das punctum in den Zusammenhang eines Gedächtnisses ein, dessen Referent im Gegensatz zur Vermittlung eines positiven Wissens von der Geschichte durchs lesbare Detail im studium der Fotografie81 jedoch im Wesentlichen unbewusst bleibt. Barthes deutet auf das Modell eines solchen Gedächtnisses hin, indem er den metonymischen Aspekt des punctum »proustien« (CC, S. 1138) nennt. Anders als bei Prousts aus der Erfahrung einer Kontiguität von Eindrücken entspringenden Erinnerungserfahrungen bleibt das aufgerufene Gedächtnis hier aber zunächst in der Latenz; wichtiger als die Restitution der Vergangenheit ist die Bewegung der Metonymie selbst, wie sie im Text sich niederschlägt. Barthes führt die Funktion metonymischer Verweisungen im Zusammenspiel von sprachlicher und fotografischer Referenz bereits zu Beginn von La Chambre claire vor. Beim Anblick eines Fotos von Napoleons jüngstem Bruder habe er erstaunt gedacht: »Je vois les yeux qui ont vu l’Empereur« (CC, S. 1111). Nicht am Bild der historischen Person selbst exemplifiziert er die eigentümliche Referenz der Fotografie (natürlich ist Napoleon auch die imposantere Persönlichkeit), sondern am metonymischen Verweis der gesehenen Augen, die Napoleon gesehen haben. Der Einwand, die auf dem Fotopapier sichtbaren Augen könnten unmöglich etwas gesehen haben,82 verfehlt die Suggestivkraft dieses Auftakts, wenn er den Text rein auf seinen fotografietheoretischen Anspruch festlegt. Eher noch ist hier tatsächlich ein Miniaturmodell der rhetorischen Operationen geliefert, mittels derer Bild und Text innerhalb der literarisch-theoretischen Erzählung von La Chambre claire in eine Konstellation treten können. Das narrative Incipit »Un jour, il y a bien longtemps […]« führt in seiner bereits Proust aufrufenden Formulierung das Thema der lange vergangenen und nun erzählten Zeit ein, dessen Gegenpart die ganz andere Referenz auf die Vergangenheit in der Fotografie Jérôme Bonapartes darstellt. Die fotografische Evidenz transportiert sich in die Erzählung nur über das Erstaunen des Betrachters und eben die Konstellation des doppelten, metonymisch verschobenen Blicks, der den eigentlichen Bezugspunkt dieses Erstaunens – Napoleon – ausklammert, ihn dadurch aber umso wirkungsvoller in die Erzählung eingehen lässt. 80 Insofern sie sich aus einer Kontiguitätsbeziehung mit dem fotografierten Objekt herleitet, könnte die Fotografie selbst als ein metonymisches Medium bezeichnet werden (vgl. Dubois: Der fotografische Akt, S. 73). 81 Vgl. zu dieser Funktion des Details im studium CC, S. 1127. 82 Vgl. Thomas Zaunschirn: Vom Leben der Fotos. In: Norbert Bolz/Ulrich Rüffer (Hg.): Das große stille Bild. München: Fink 1996, S. 218-231, S. 222.
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Der Problematik sprachlicher Referenz im Vergleich zur Fotografie kommt die Metonymie des punctum insofern entgegen, als sie es ermöglicht, die Singularität des Referenten in die Allgemeinheit und ›Fiktionalität‹ der Sprache eingehen zu lassen. Derrida weist in seiner Lektüre von La Chambre claire darauf hin, dass dank dieser Prozesse die sprachliche Artikulation im Kontext des Gedächtnisses erst ermöglicht wird: »So skandalös die Metonymie des punctum auch sein mag, sie macht es möglich, daß man sprechen kann, vom Einzigartigen sprechen, von ihm und zu ihm.«83 Zugleich dringt das punctum über seine metonymische Expansion in den Bereich des studium – und das heißt hier auch in den theoretischen Diskurs über die Fotografie – ein und »sucht ihn heim.«84 Unter dem Aspekt des Traumas betrachtet, stellt diese Heimsuchung sich als Beharren dessen dar, was sich nicht in die Sprache transferieren lässt. Mit dem punctum bietet das Gedächtnismedium Fotografie etwas, das in ein sprachlich strukturiertes Gedächtnis nicht zu assimilieren und dennoch in diesem wirksam ist. Dies aber gerade nicht im Sinne einer tatsächlichen Präsentation oder Präsentierung des Referenten. Es geht Barthes bei der Fotografie schließlich nicht – und dies wird besonders im zweiten Teil von La Chambre claire wichtig – um die unmittelbare Anwesenheit des fotografierten Objekts, sondern um die Struktur des Bezugs auf den Referenten und die darin implizierte Evidenz. Derrida weist darauf hin: »der Referent ist offensichtlich abwesend, suspendierbar, in dem vergangenen, einzigartigen Mal seines Erscheinens verschwunden, aber die Referenz dieses Referenten, sagen wir die intentionale Bewegung der Referenz (denn zu Recht rekurriert Barthes in diesem Buch auf die Phänomenologie) impliziert ebenso irreduzibel das Gewesensein eines einzigartigen und invariablen Referenten.«85
Mit dem Rückgriff auf die Fotografie und der Behauptung einer grundsätzlichen Alterität von Schrift und Fotografie kann diese Implikation als Anwesenheit eines abwesenden Anderen in den Text eingehen. Da es bei dieser Anwesenheit nicht um einen Sinn als ›transzendentales Signifikat‹ geht, sondern um das, was in der fotografischen Referenz gerade keinen Sinn generiert, kann, soll es eine textuelle Entsprechung des punctum geben, diese nicht allein im Schreiben über jenes Element bestehen. Die Metonymie des punctum stößt im Text Prozesse an, die nicht mehr im
83 Jacques Derrida: Die Tode von Roland Barthes. Hg. v. Hubertus von Amelunxen. Aus dem Französischen v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin: Nishen 1987, S. 41. 84 Ebd., S. 16. 85 Ebd., S. 34 f.
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Dienst der Sinnproduktion stehen, sondern diese tendenziell blockieren oder durchkreuzen.86 Die Verbindung solcher Textprozesse mit technisch produzierten Bildern stellt Barthes, expliziter als in La Chambre claire, in Le troisième sens anhand von Filmstills her, wenn er zur Charakterisierung des »sens obtus« auf Kristevas Konzept der Signifiance zurückgreift.87 In wesentlichen Punkten steht der »sens obtus« im Bereich des Films in enger Verbindung mit dem fotografischen punctum.88 Die Metaphorik des Stumpfen, oder auch Stumpfsinnigen, weist zwar in eine andere Richtung als die stechenden und verletzenden Konnotationen des punctum, geht im Kern aber auf ein ähnliches Phänomen. Die Lektüre als Sinnproduktion wird hier weniger ›durchlöchert‹ oder ›punktiert‹, als dass sie am »sens obtus« ›abgleitet‹ und nicht zu einem Abschluss kommen kann. Der ›stumpfe Sinn‹ ist ein »signifiant sans signifié«.89 Bezogen auf die Unterscheidung der beiden Modalitäten des Semiotischen und des Symbolischen in Kristevas Konzept der Signifiance korrespondiert er ebenso wie das punctum vor allem mit Ersterem. Da Kristeva das »triebhafte Semiotische, das dem Sinn und der Bedeutung vorgängig, mobil, amorph und doch schon reglementiert ist«,90 an die frühkindliche, vorsymbolische Phase der Subjektwerdung bindet, »in der das Sprachzeichen noch nicht die Stelle des abwesenden Objekts einnimmt und noch nicht als Unterscheidung von Realem und Symbolischem artikuliert wird«,91 ist seine Bedeutung in La Chambre claire auch in Bezug zum psychoanalytischen Intertext zu sehen. Es verweist auf eine frühere Einheit mit dem Körper der Mutter, steht dadurch aber auch mit dem Todestrieb als Streben nach der Rückkehr in einen früheren Zustand, letztlich einer Negation des Subjekts, in Verbindung.92 Die Vorstellung, das Semiotische sei dem Symbolischen ԟ der Modalität der Bedeutungssetzungen, die mit der Teilung von Signifikat und Signifikant einhergehe ԟ vorgängig, stellt für Kristeva freilich nur eine »theoretische An86 Von hier aus ergeben sich, wie Martina Wagner-Egelhaaf anhand von Musils Mann ohne Eigenschaften gezeigt hat, Anknüpfungsmöglichkeiten von Barthes’ Termini an die Analyse anderer Texte, vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: »Wirklichkeitserinnerungen«. Photographie und Text bei Robert Musil. In: Poetica 23 (1991), S. 217-256, S. 243 ff. 87 Vgl. Roland Barthes: Le troisième sens. Notes de recherche sur quelques photogrammes de S.M. Eisenstein. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. II, S. 866-884, S. 868. 88 Zum genaueren Vergleich von »sens obtus« und punctum vgl. Ette: Roland Barthes, S. 458 ff.; Herta Wolf: Das, was ich sehe, ist gewesen. Zu Roland Barthes’ Die helle Kammer. In: Dies. (Hg.): Paradigma Fotografie, S. 89-107, S. 100 ff. 89 Barthes: Le troisième sens, S. 878. 90 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Übers. v. Reinold Werner. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 58. 91 Ebd., S. 37. 92 Vgl. ebd., S. 39 ff.
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nahme« dar: »praktisch gesehen ist es dem Symbolischen inhärent«, und zwar als dessen »Übertretung«.93 Die »Praxis des Strukturierens und Destrukturierens«94 im Zusammenspiel des geregelten Diskurses des Symbolischen und dessen Überschreitung durch das Semiotische, die Kristeva vor allem in der modernen Literatur, im Text verwirklicht sieht, überträgt Barthes in Le troisième sens auf das Verhältnis des »sens obtus« zur syntagmatischen Reihe der Filmbilder. Ohne in die Diegese des Films integriert werden zu können, tritt der ›dritte Sinn‹ an manchen Stellen auf und legt eine andere Abfolge der Bilder nahe, die sich gegen eine thematische oder logische Einordnung sperrt. Seine eigentümliche Bewegung lässt ihn innerhalb der filmischen Erzählung kaum wahrnehmbar werden: »le sens obtus ne peut se mouvoir qu’en apparaissant et disparaissant«.95 Auch wenn dieses »jeu de la présence/absence«96 so nur am Filmstill wahrzunehmen ist, bleibt es dennoch an die Bewegung des Films gebunden und wird als Möglichkeit in der Fotografie eindeutig verneint. 97 Lassen sich in dieser Hinsicht die Bemerkungen zum »sens obtus« also kaum auf das stille Bild der Fotografie und das punctum direkt übertragen, so eröffnen sich hinsichtlich der Verknüpfung von Text und Bild in La Chambre claire doch neue Anschlussmöglichkeiten. Die Beschreibung der Bilder und der Versuch einer Benennung des punctum geben Anlass zu immer neuen Ketten von Verweisungen, die die Unbestimmtheit des punktierenden Elements im Bild auf der Ebene der Verknüpfungen von Signifikanten innerhalb des Textes nachstellen.98 Victor Burgin hat auf die Relevanz des Begriffs der Signifiance bei der Beschreibung von James Van der Zees Foto einer afroamerikanischen Familie hingewiesen, dessen punctum Barthes immer neu bestimmt, um es schließlich, nach einer gewissen Phase der Latenz, an die Erinnerung an eine alte Tante zu knüpfen, die mit ihrer Mutter zusammenlebend alterte.99 Wie Burgin richtig feststellt, geht es hier nicht um die »identi-
93 Ebd., S. 77. 94 Ebd., S. 31. 95 Barthes: Le troisième sens, S. 881. 96 Ebd. 97 Vgl. ebd., S. 883; in einer Anmerkung weist Barthes darauf hin, dass im Fotoroman aufgrund der Kombination von Bild und Diegese diese Möglichkeit wiederum gegeben ist. 98 Vgl. Ronald Berg: Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes. München: Fink 2001, S. 245: »Die Analyse des punctums funktioniert nur in freier Assoziation, ohne Berechnung, ohne Logik, ohne Sinn – deshalb die literarische Form der Erzählung, die den Prozeß von metonymischen [sic] Verschiebung und metaphorischer Übertragung im Laufe der Signifikanten nachstellt.« 99 Vgl. CC, S. 1137 f., S. 1144.
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fication of such ›sources‹« (den unbewussten Inhalten des Gedächtnisses), sondern um das »potential field of such displacements and their ›mechanisms‹.«100 Während hier die Expansion des punctum noch wesentlich an ein Foto und seine Nachwirkung im Text gebunden bleibt, greift sie an anderen Stellen über das einzelne Bild hinaus. Die Einmaligkeit des fotografischen Referenten entgeht zwar den im Zusammenspiel von Text und Bild initiierten Verweisungsketten, jedoch fügt sich, was im wörtlichen Sinn die Geste der Referenz ausmacht, selbst wieder in die Verschiebungsprozesse auf der Ebene der Signifikanten ein. Wenn Barthes die Fotografie mit der Geste eines Kindes, das auf etwas zeigt, vergleicht,101 gibt er nicht nur eine Parallele hinsichtlich der Funktionsweise des Index an, sondern führt auch das Mittel des Zeigens, den Finger, als metonymischen Verweis auf die in Frage stehende Referentialität ein. Weniger der Referent selbst als die Bewegung der Referenz steht dabei im Vordergrund. In vielen der in La Chambre claire beschriebenen und abgebildeten Fotografien tritt ein Finger in Assoziation mit dem punctum auf.102 So richtet sich Barthes’ Faszination bei den Fotografien Tzaras und Warhols jeweils auf die Nägel,103 die ihrerseits natürlich metonymisch auf den Finger hindeuten. Der indirekte Verweis auf die Geste des Zeigens potenziert sich, indem das, was auf diese hindeuten könnte, selbst wieder nur verschoben oder verdeckt bezeichnet wird. In der relativ konventionellen Unterscheidung zwischen dem pornographischen und dem erotischen Foto betont Barthes die Bedeutung des Indirekten für das punctum im Sinne des »érotisme«. Es ist »une sorte de hors-champ subtil, comme si l’image lançait le désir au-delà de ce qu’elle donne à voir« (CC, S. 1148). Die zugehörige Illustration durch das Foto Mapplethorpes zeigt die Hand des jungen Mannes nicht nur »dans son bon degré d’ouverture« (ebd.), sondern auch die Spitze des Fingers am äußersten Rand des Bildes, als würde sie auf etwas außerhalb desselben hindeuten (vgl. CC, S. 1150) ԟ »hors-champ.« Das folgende Foto schließlich, auf das der ausgestreckte Arm des Mannes – folgt man Ette ԟ tatsächlich hindeutet, die Fotografie Nadars,104 ist selbst nur Platzhalter und indirekter Aufweis der Kunst des Fotografen desjenigen Bilds, das Barthes nicht abdruckt: des »photo du jardin d’hiver«. Es ist nicht dessen einziges Substitut. Insbesondere das Bild mit der Unterschrift »La Souche« (CC, S. 1183) erfüllt, indem es ebenfalls die 100 Victor Burgin: Re-Reading Camera Lucida. In: Ders.: The End of Art Theory. Criticism and Postmodernity. Houndsmills u.a.: Macmillan 1986, S. 71-92, S. 86. 101 Vgl. CC, S. 1112. 102 Vgl. Michael Halley: Argo sum. In: Diacritics 12/4 (1982), S. 69-79, S. 76 ff.; Halley betont in seiner Besprechung vor allem die Rolle von Sartres L’Imaginaire und das mit dem Finger verbundene Thema von An- und Abwesenheit, auch in Bezug auf das FortDa-Spiel bei Freud. 103 Vgl. CC, S. 1138. 104 Vgl. Ette, S. 467.
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Mutter als kleines Mädchen zeigt, diese Funktion. Die wegen des Zustands der Fotografie kaum erkennbare Klarheit der Augen und vor allem die Haltung der Hände lassen es wie eine exakte Entsprechung des Bildes aus dem Wintergarten erscheinen.105 Das Entscheidende des indirekten Verweises sind wieder die Finger, die, wie im Fall des bandagierten Fingers des Mädchens auf dem Foto Lewis W. Hines,106 gerade als verdeckte, abwesende thematisch werden. Der deiktische Marker des Fingers ist im Text von La Chambre claire selbst ein Signifikant, der im ständigen Aufschub der Verweisung das Spiel von An- und Abwesenheit im Wechsel von Text und Fotografie reproduziert. Vor dem Hintergrund der Aussagen zum »sens obtus« und der Signifiance führen diese Prozesse, zusammen mit der intertextuellen Heterogenität des Texts sowie seiner Zwischenstellung zwischen literarischem und theoretischem Schreiben,107 auf der Ebene der Signifikanten eine Pluralität in den Text ein, in der die Verweigerung eines Sinnbezugs im punctum tendenziell ihr textuelles Äquivalent findet. Dies zumal, wenn man La Chambre claire im Kontext anderer, v.a. später Schriften von Barthes betrachtet.108 Die scheinbar irreduzible Differenz von Fotografie und Sprache erweist sich hier als Differenz, die auch in der Sprache wirksam ist. So variiert der Gegensatz von studium und punctum die in Le Plaisir du texte vorgenommene Unterscheidung von »texte de plaisir« und »texte de jouissance«.109 In einem Interview 105 Knight hält dieses Bild denn auch für das Bild, um das es eigentlich geht, und das Wintergartenbild für eine Erfindung, die hauptsächlich wegen des Symbolismus der ›hellen Kammer‹ gewählt wurde (vgl. Diana Knight: Roland Barthes, or The Woman Without a Shadow. In: Jean-Michel Rabaté (Hg.): Writing the Image after Roland Barthes. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1997, S. 132-143, S. 138). 106 Vgl. CC, S. 1143 f. 107 Vgl. CC, S. 1114. 108 Auf den Zusammenhang, in dem das punctum mit generellen Anliegen Barthes’ steht, weist auch Wolf hin: »Barthes scheint von einer Idee besessen, die er in unterschiedlichen methodischen Zusammenhängen anhand unterschiedlicher Beispiele zu exemplifizieren sucht (und diese Idee manifestiert sich in der Schreibweise der Aussage wie der Äußerung). Immer – ob im punctum, im stumpfen Sinn, im Haiku, in der Katachrese – geht es um eine Störung der Signifikation, um einen Hieb, der das Feld der symbolischen Ordnung perturbiert.« (Wolf: Das, was ich sehe, ist gewesen, S. 102 f.). Zur Verortung von La Chambre claire im Kontext von Barthes’ späten Texten vgl. auch: Paul Smith: We always fail – Barthes’ Last Writings. In: SubStance 36/3 (1982), S. 34-40, v.a. S. 36 ff. 109 Barthes spielt auf den früheren Text auch an, wenn er die Funktionen des studium benennt: »Ces fonctions sont: informer, représenter, surprendre, faire signifier, donner envie. Et moi, Spectator, je les reconnais avec plus ou moins de plaisir: j’y investis mon studium (qui n’est jamais ma jouissance ou ma douleur)« (CC, S. 1127); vgl. Barthes:
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antwortet Barthes auf die Frage bezüglich seines Fotografie-Buchs: »Un ›plaisir de l’image‹ après le ›plaisir du texte‹?« daher auch: »La première partie de mon livre aurait pu s’appeler ainsi.«110 Mit der zweiten Hälfte verschiebt sich schließlich der Schwerpunkt, in den Mittelpunkt tritt die Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter. In der Dramaturgie der theoretischen Narration äußert sich dies als Rücknahme eines methodischen Ansatzes, der, trotz aller Ambiguität von punctum und »jouissance« in ihrer Nähe zum Trauma,111 noch mit Lust assoziiert ist. Mit der Abwendung von der »subjectivité réduite à son projet hédoniste« (CC, S. 1151) überführt Barthes die angestrebte »mathesis singularis« (CC, S. 1114) nun in einen Diskurs der Trauer, der im Foto der Mutter die »science impossible de l’être unique« (CC, S. 1160) auf utopische Weise verwirklicht sieht. In diesem Diskurs kommt die letztlich literarische Orien-
Le Plaisir du texte, v.a. S. 1501; vgl. zu den Parallelen auch Ralph Sarkonak: Roland Barthes and the Spectre of Photography. In: L’Esprit créateur 22/1 (1982), S. 48-68, S. 53 ff. 110 Barthes: Du goût à l’extase. In: Œuvres complètes Bd. III, S. 1233-1234, S. 1234. 111 Vgl. Andrew Brown: Roland Barthes. Figures of Writing. Oxford: Oxford University Press 1992, S. 236, S. 278; die Themen des Todes, der Abwesenheit und der Mutter sind im ersten Teil untergründig ständig präsent; etwa in der Anspielung auf das »FortDa-Spiel« oder der Bemerkung zur »micro-expérience de la mort« (CC, S. 1117) beim Fotografiert-Werden: »la seule chose que je supporte, que j’aime, que me soit familière, lorsque on me photographie, c’est le bruit de l’appareil« (CC, S. 1118). Die Vertrautheit des Geräuschs bezieht sich weniger auf den Akt des Fotografierens, der in seiner Gesamtheit nicht unvertrauter sein dürfte als das Geräusch des Apparats. Erst bei der Beschreibung der Fotografien seiner Mutter im zweiten Teil findet diese Stelle ihr Echo im Text, wenn Barthes unter den wenigen Objekten auf den Fotos, die in ihm eine flüchtige Erinnerung wachrufen, eine Puderdose erwähnt, bei der er den »bruit du couvercle« (CC, S. 1156) liebte. Das Thema der Identität wird wiederholt mit der Mutter verknüpft: Dem Scheitern imaginärer Identifikation angesichts der Fotografien von sich selbst, die das Subjekt letztlich doch nur zum Objekt sozialer und institutioneller Identifizierungen machen, stellt Barthes so relativ unvermittelt die Liebe seiner Mutter gegenüber (vgl. CC, S. 1116). Zur Verbindung der Möglichkeit imaginärer Identifikation mit der Mutter vgl. auch ein Bild in Roland Barthes par Roland Barthes. Über der Bildunterschrift »Le stade du miroir: ›tu es cela‹« sieht man Barthes als Säugling in den Armen seiner Mutter. Beide sehen in die Kamera, als ob sie dem Kind sein eigenes Spiegelbild zeigen wolle (Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes. In: Œuvres complètes, Bd. III, S. 79-252, S. 105; vgl. auch Martin Jay: Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought. Berkeley u.a.: University of California Press 1994, S. 445 ff., v.a. S. 448).
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tierung des Schreibens über Fotografie zu ihrer vollen Entfaltung. Als Modell dieses Schreibens tritt immer mehr Proust in den Vordergrund.
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Während am Anfang des ersten Teils mit dem »longtemps« der erste Satz von Prousts Roman nur implizit aufgerufen wird, setzt die zweite Hälfte mit einer markierten Bezugnahme auf die Recherche ein: »Or, un soir de novembre, peu de temps après la mort de ma mère, je rangeai des photos. Je n’espérais pas la ›retrouver‹, je n’attendais rien de ›ces photographies d’un être, devant lesquelles on se le rappelle moins bien qu’en se contentant de penser à lui‹ (Proust)« (CC, S. 1155). Der Rückgriff auf den Text, der wie kein anderer im 20. Jahrhundert für einen emphatischen Gedächtnisbegriff der Literatur steht, dient hier nicht einfach der rhetorischen Einkleidung negativer Erwartungshaltungen, sondern vielmehr sind diese zutiefst von jenem geprägt. Der in Anführungszeichen gesetzte Ausdruck »retrouver«, der auf der folgenden Seite in derselben Weise markiert wieder auftaucht, ist ebenso Zitat wie das als solches gekennzeichnete Ende des Satzes. Er zieht sich wie eine Spur zu der Stelle hin, an der die Erwartungshaltung trotz allem doch erfüllt wird: der Entdeckung des Fotos aus dem Wintergarten, die wiederum mit einem Proust-Zitat unterstützt wird: »Pour une fois, la photographie me donnait un sentiment aussi sûr que le souvenir, tel que l’éprouva Proust, lorsque se baissant un jour pour se déchausser il aperçut brusquement dans sa mémoire le visage de sa grand-mère véritable, ›dont pour la première fois je retrouvais dans un souvenir involontaire et complet la réalité vivante‹.« (CC, S. 1158, Hervorhebung J.G.)
Die Proust-Zitate geben als Rahmen, aber auch thematisch, einen Spannungsbogen vor, der die Suche, die Reflektion über die im Foto sichtbare Geschichte und die lediglich fragmentarische Erinnerung, die dabei zustande kommt, bis hin zum epiphanischen Moment des Wiederfindens in der »photographie du jardin d’hiver« umfasst. Schon im ersten längeren Proust-Zitat ist die Epiphanie des einen Fotos sorgfältig vorbereitet; die Wahrheit, die Barthes in diesem Foto findet, erweist sich als »eine Wahrheit dem Photo zum Trotz, der Literatur.«112 Das bloße »ça a été« der Fotografie bedarf der Ergänzung durch den literarischen Text, um die Möglichkeiten der Fotografie als Gedächtnismedium erst auszuschöpfen: »Auswendigkeit des 112 Anselm Haverkamp: Lichtbild. Das Bildgedächtnis der Photographie: Roland Barthes und Augustinus. In: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München: Fink 1993 (= Poetik und Hermeneutik XV), S. 47-66, S. 57.
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Erinnerten, die im Medium solcher Auswendigkeit die Schrift als Markierung, Erfüllung der Versprechung von Referenz verlangt.«113 Bedauerlicherweise bezieht sich Haverkamp in seiner Diskussion des Proust-Zitats in La Chambre claire aber lediglich auf eine – von Barthes nicht zitierte ԟ Stelle aus Le Côté de Guermantes und verfehlt so eine Pointe des Zitats.114 An dessen Herkunftsort, dem mit »Les intermittences du cœur« betitelten Abschnitt in Sodome et Gomorrhe, treten nicht allein euphorische und dysphorische Elemente in der mémoire involontaire so eng zusammen wie sonst nie in der Recherche, sondern darüber hinaus geschieht dies in Auseinandersetzung mit der Fotografie. Ein Jahr nach ihrem Tod tritt Marcel in einem Hotelzimmer, ausgelöst durch die Wiederholung derselben Bewegung beim Öffnen der Schuhe wie Jahre zuvor, die vollständige Erinnerung seiner Großmutter entgegen. Erst aus dieser plötzlichen Erfahrung einer Anwesenheit heraus entwickelt sich ein wirkliches Bewusstsein ihres Todes: »je venais, en la sentant pour la première fois vivante, véritable, gonflant mon cœur à le briser, en la retrouvant enfin, d’apprendre que je l’avais perdue pour toujours« (RTP III, S. 155). Die aus dem Schmerz um den Verlust resultierende Intensität der Erinnerung will der Erzähler allerdings nicht mittels einer Fotografie der Großmutter abschwächen: »Je ne cherchais pas à rendre la souffrance plus douce, à l’embellir, à feindre que ma grandmère ne fût qu’absente et momentanément invisible, en adressant à sa photographie […] des paroles […] comme à un être séparé de nous mais qui, resté individuel, nous connaît et nous reste relié par une indissoluble harmonie. Jamais je ne le fis, car je ne tenais pas seulement à souffrir, mais à respecter l’originalité de ma souffrance telle que je l’avais subie tout d’un coup sans le vouloir, et je voulais continuer à la subir […] à chaque fois que revenait cette contradiction si étrange de la survivance et du néant entrecroisés en moi.« (RTP III, S. 156) 113 Ebd., S. 58. 114 Vgl. ebd.; Haverkamp bezieht sich auf die bekannte Szene, in der Prousts Erzähler seine Großmutter wie in einer ›Fotografie‹ wahrnimmt. Durch seine selektive Zitierweise scheint es zudem, als ob der ›fotografische‹ Blick bei Proust »etwas enthüllt, was ›seit langem nicht mehr existiert […]‹« (ebd.), während es dort heißt, der Blick zeige die Großmutter in ihrer aktuellen Gebrechlichkeit »au lieu de l’être aimé qui n’existe plus depuis longtemps […]« (Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Hg. v. JeanYves Tadié. Paris: Gallimard (Pléiade) 1987-89 Bd. II, S. 439 (Hervorhebung J.G.); Verweise auf Prousts Roman im Folgenden aus dieser Ausgabe unter der Sigle RTP mit der jeweiligen Bandnummer in römischen und der Seitenzahl in arabischen Zahlen im Text). Zum genaueren Zusammenhang zwischen den jeweiligen Stellen bei Proust vgl. das Kapitel zu Proust, Abschnitt 6; zur Gedächtnisleistung der Fotografie bei Proust und Barthes vgl. Jan Gerstner: »…rien de proustien dans une photo«. Zu literarischen Aneignungen der Fotografie. In: Hoff/ Spies (Hg.): Textprofile Intermedial, S. 311-324.
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Die Ablehnung der Fotografie begründet sich hier darauf, dass diese eine »Illusion der Nähe« ermöglichen würde, wo das »Ereignis des Todes« gerade angesichts der Anwesenheit in der Erinnerung gedacht werden muss.115 Barthes bezieht sich auf diese Szene mit einem weiteren Zitat. In einer erneuten Ablehnung wissenschaftlicher Diskurse, die die Mutter oder die Familie als ›Institutionen‹ behandeln, während es ihm doch um diesen einen geliebten Menschen geht, beruft er sich wieder auf Prousts Erzähler: »Je pouvais dire, comme le Narrateur proustien à la mort de sa grand-mère: ›Je ne tenais pas seulement à souffrir, mais à respecter l’originalité de ma souffrance‹; car cette originalité était le reflet de ce qu’il y avait en elle d’absolument irréductible, et par là même perdu d’un seul coup à jamais.« (CC, S. 1162)
Die Nähe des zitierten Satzes zur Erwähnung des Fotos der Großmutter kann ebenso wie die Häufung der Bezüge auf die gesamte Szene in Prousts Roman116 als (wieder metonymischer) Hinweis auf die Rolle der Fotografie bei Proust gelesen werden, wobei deren direkte Erwähnung gerade unterdrückt wird. Strukturell wiederholt Barthes’ Zitierweise das Spiel von An- und Abwesenheit, um dessentwillen Prousts Erzähler sich dem Trost vor der Fotografie verweigert und das auf anderer Ebene in La Chambre claire seinen Niederschlag im verweigerten Abdruck der Wintergartenfotografie findet.117 Der Rückgriff auf Prousts mémoire involontaire ruft das literarische Modell selbst wieder in der Art einer Erinnerung auf, bildet es dabei jedoch um, indem er »Gedächtnisformen zusammen[führt], die bei Proust kontrastiv gegenübergestellt werden und sich gegenseitig ausschließen.«118 Bei aller Nähe, die der von Prousts Erzähler in der mémoire involontaire erfahrene Widerspruch von »survivance« und »néant« zur Verbindung von »réalité et […] passé« (CC, S. 1165) in Barthes’ Konzeption der Fotografie haben mag, können die Bezüge auf die Recherche doch nicht als Aktualisierung der Proust’schen 115 Vgl. dagg.: Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München: Hanser 1986, S. 98: »Das Photo der Verstorbenen erzeugt nicht die Illusion der Nähe, sondern besiegelt das Ereignis des Todes.« 116 Vgl. zu weiteren Referenzen auf den mit der Erinnerung an die Großmutter verbundenen Komplex in Sodome et Gomorrhe: Knight: Roland Barthes, S. 137 ff. 117 Ungar sieht in der Weigerung Marcels wie in der Tatsache, dass Barthes das Wintergartenfoto nicht abdruckt, »the very same gesture of refusal« am Werk, mit der »the force of the photographic image« bestätigt werde (Steven Ungar: Barthes via Proust: Circular Memories. In: L’Esprit créateur 22/1 (1982), S. 8-19, S. 16). Allerdings wird an beiden Stellen der Fotografie gerade nicht dieselbe Kraft zugeschrieben. Außerdem betrifft diese Geste bei Proust den Erzähler, bei Barthes aber den Leser. 118 Kasper: Sprachen des Vergessens, S. 247.
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Erinnerungspoetik unter dem Vorzeichen der Fotografie verstanden werden. Der Fund des Wintergartenbilds gibt als Ergebnis einer gezielten Suche nicht die eigene Vergangenheit wieder, sondern »l’être de ma mère« (CC, S. 1160). Die unwillkürliche Erinnerung dient dabei als Vergleichsmoment für ein »sentiment aussi sûr que le souvenir« (CC, S. 1158), welches der Betrachtung der Fotografie aber nur seiner Intensität, nicht der Sache nach, gleichzusetzen ist. In der Repräsentation der Vergangenheit zeitigt die Fotografie andere Effekte: »La Photographie ne remémore pas le passé (rien de proustien dans une photo). L’effet qu’elle produit sur moi n’est pas de restituer ce qui est aboli (par le temps, la distance), mais d’attester que cela que je vois, a bien été« (CC, S. 1166). Proust liefert nicht das Modell für die Möglichkeit einer Erinnerung in La Chambre claire, sondern die Möglichkeit einer neuen Schreibweise.119 Schon in Le Plaisir du texte galt sein Werk als »l’œuvre de référence, la mathesis générale, le mandala de toute la cosmogonie littéraire«.120 Zur Zeit der Abfassung von La Chambre claire häufen sich bei Barthes die Bezugnahmen auf die Recherche als Vorbild für eine »nouvelle pratique d’écriture«, 121 zwischen Roman und Essay, theoretischem und narrativem Schreiben.122 In seinem letzten Seminar am Collège de France mit dem bezeichnenden Titel La préparation du roman geschieht dies wieder in direkter Auseinandersetzung mit Proust und der Fotografie.123 Auch hier ist es weniger das Thema der Erinnerung, das Prousts Roman mit der Fotografie verbindet, als die Möglichkeit einzelner »moments de vérité«, dem Niederschlag einer »conjonction d’une émotion qui envahit (jusqu’aux larmes et au trouble) et 119 Vgl. dazu Kathrin Yacavone: Reading through photography. Roland Barthes’s Last Seminar »Proust et la photographie«. In: French Forum 34/1 (2009), S. 97-112; Florian Pennaech: Proust et le roman de Roland Barthes. In: Sjef Houppermans u.a. (Hg.): Proust dans la littérature contemporaine. Amsterdam u.a.: Rodopi 2008 (= Marcel Proust aujourd’hui, 6), S. 235-253; zum Wandel in Barthes’ Proust-Rezeption: Antoine Compagnon: Proust et moi. In: Mary Donaldson-Evans/Lucienne Frappier-Mazur/ Gerald Prince (Hg.): Autobiography, historiography, rhetoric. A Festschrift in Honor of Frank Paul Bowman by his colleagues, friends, and former students. Amsterdam u.a.: Rodopi 1994, S. 59-73. 120 Barthes: Le Plaisir du texte, S. 1512. 121 Vgl. Barthes: »Longtemps je me suis couché de bonne heure«. In: Œuvres complètes Bd. III, S. 827-836, S. 833. 122 Vgl. hierzu auch Patricia Lombardo: The three Paradoxes of Roland Barthes. Athens u.a.: University of Georgia Press 1989, v.a. S. 116 ff. 123 Vgl. Roland Barthes: La préparation du roman I et II. Cours et séminaires au Collège de France (1978-1979 et 1979-1980). Hg. v. Nathalie Léger. Paris: Seuil 2003; vgl. Peter Geimer: »Ich werde bei dieser Präsentation weitgehend abwesend sein.« Roland Barthes am Nullpunkt der Fotografie. In: Fotogeschichte 29/114 (2009), S. 21-30.
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d’une évidence qui imprime en nous la certitude que ce que nous lisons est la vérité (ça a été la vérité)«.124 Zugleich ist mit dem projektierten ›Roman‹ ein Gedächtnisprogramm verbunden, wie es emphatischer kaum sein könnte: »j’espère du Roman une sorte de transcendance de l’égotisme dans la mesure où dire ceux qu’on aime, c’est témoigner qu’ils n’ont pas vécu (et bien souvent souffert) ›pour rien‹«.125 Dieser Begriff von Literatur trägt die Züge einer Utopie, die sich gerade als noch ausstehende verwirklichen könnte: »Ce Roman utopique, il m’importe de faire comme si je devais l’écrire. Et je retrouve ici […] la méthode.«126 Bereits an dieser Stelle verweist Barthes auf einen Trauerfall in der eigenen Familie.127 In La Chambre claire steht die vorausweisende Geste auf das Buch, das noch zu schreiben ist, schließlich in enger Verbindung mit der Möglichkeit eines Gedenkens an die Mutter: »Non, je voulais, selon le vœu de Valéry à la mort de sa mère, ›écrire un petit recueil sur elle, pour moi seul‹ (peut-être l’écrirai-je un jour, afin qu’imprimée, sa mémoire dure au moins le temps de ma propre notoriété)« (CC, S. 1155). Nimmt man die Aussage wörtlich, so scheint La Chambre claire tatsächlich nur eine »Note sur la photographie« zu sein, nicht aber das Buch zum Gedenken der Mutter. Éric Marty sieht aufgrund dieser »mise en abyme négative« Barthes’ Text in einer »opposition symmétrique«128 zu Prousts Recherche, die schließlich mit dem Vorsatz endet, das Buch zu beginnen, das die Leserin oder der Leser gerade gelesen hat. Ob sich die Identität beider Texte bei Proust tatsächlich so unproblematisch darstellt, soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Der negative Charakter der mise en abyme gestaltet sich bei Barthes jedenfalls komplexer als eine bloße Verneinung: »dire que l’œuvre n’est pas là, qu’elle est encore à faire, qu’elle n’aura lieu que dans un futur lointain, n’est qu’un mode (inverse à celui de Proust) de l’affirmer au présent dans une sorte de théologie négative de la littérature […].«129 Dieser Hinweis scheint mir auch hinsichtlich der Bedeutung der Fotografie für das Schreiben als Verwirklichung eines Gedenkens in die richtige Richtung zu weisen.
124 Barthes: La préparation du roman, S. 156; vgl. zu diesen Überlegungen als Modell für Barthes’ Schreiben: Maria Giulia Dondero: Barthes, la photographie et le labyrinthe. In: communication & langages 147 (2006), S. 105-118. 125 Barthes: »Longtemps…«, S. 835. 126 Ebd. 127 Vgl. Barthes: »Longtemps…«, S. 833; Henriette Barthes starb am 25. Oktober 1977 (vgl. Luis-Jean Calvet: Roland Barthes. Eine Biographie. Aus dem Französischen v. Wolfram Bayer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 309). 128 Éric Marty: Marcel Proust dans »la chambre claire«. In: L’Esprit créateur 46/4 (2006), S. 125-133, S. 130. 129 Ebd., S. 131
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Während bei Proust die Erinnerung das Schreiben selbst ermöglicht und in ihm verwirklicht wird, kann die Fotografie für Barthes nicht in eine Kontinuität überführt werden. Die Vergangenheit zeigt sich hier als angehaltene Zeit: »il y a en elle comme un point énigmatique d’inactualité, une stase étrange, l’essence même d’un arrêt […]. Non seulement la photographie n’est jamais, en essence, un souvenir […], mais encore elle bloque, devient très vite contre-souvenir. […] Entouré de ces photos, je ne pouvais plus me consoler des vers de Rilke: ›Aussi doux que le souvenir, les mimosas baignent la chambre‹: la Photo ne ›baigne‹ pas la chambre […].« (CC, S. 1173)
Mit dem Zitat Rilkes ist der Kontrast zur Erinnerung zugleich als einer gegenüber der Literatur gekennzeichnet. Dem Statischen des Bildes entspricht die Stase des Leidens in der Melancholie.130 Insofern sie ein tatsächlich vollendetes und vollständiges Bild darstellt, dem sich nichts mehr hinzufügen ließe, vereitelt die Fotografie jegliche Aufhebung in eine Kontinuität des Erinnerns oder Sprechens: »Je suis seul devant elle, avec elle. La boucle est fermée, il n’y a pas d’issue. Je souffre, immobile. Carence stérile, cruelle: je ne puis transformer mon chagrin, […] aucune culture ne vient m’aider à parler cette souffrance que je vis entièrement à même la finitude de l’image […]. Et si la dialectique est cette pensée qui maîtrise le corruptible et convertit la négation de la mort en puissance de travail, alors, la photographie est indialectique: elle est un théâtre dénaturé où la mort ne peut ›se contempler‹, se réfléchir ou s’intérioriser […].« (CC, S. 1172)
Die Fotografie wird hier zum Bild eines Todes, der keiner symbolischen Bewältigung, keiner Trauerarbeit mehr zugänglich ist. Barthes fasst dies in der Metapher des ›platten Todes‹: »Avec la Photographie, nous entrons dans la Mort plate« (CC, S. 1174). Auf die unvollkommene dialektische Überwindung des Todes kommt er bereits vorher zu sprechen. Gegenüber dem Theorem von der Negation und Aufhebung des Individuums im Überleben der Gattung durch Tod und Fortpflanzung sieht er in einer eigentümlichen Kreisbewegung seine einzige Nachkommenschaft in seiner Mutter, die er vor ihrem Tod wie sein Kind pflegte. Mit ihrem Tod ist auch für ihn die Aufhebung ins Allgemeine unmöglich geworden: »Elle morte, je n’avais plus aucune raison de m’accorder à la marche du Vivant supérieur (l’espèce). Ma particularité ne pourrait jamais plus s’universaliser (sinon, utopiquement, par l’écriture, dont le projet, dès lors, devait devenir l’unique but de ma vie). Je ne pouvais plus qu’attendre ma mort totale, indialectique.« (CC, S. 1161)
130 Vgl. zu diesem Zusammenhang: Lawrence D. Kritzman: Barthes’s Way: Un Amour de Proust. In: The Yale Journal of Criticism 14/2 (2001), S. 535-543, S. 539, S. 541.
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Wie im Vortrag über Proust wird das Schreiben hier zur Utopie, in welcher der Tod überwunden wäre. Diese Utopie sieht Roger bereits in der Existenz von La Chambre claire verwirklicht: »témoignage et preuve que la dialectisation est possible […]; que la Mort n’est pas intraitable, si de la photographie, son esclave et son double, il a pu finalement été traité. À l’écriture reste le dernier mot, qui serait: ›Photographie où est ta victoire?‹«131 Das Hugo’sche Pathos dieses Triumphes ist jedoch zu relativieren, da, um im Bild zu bleiben, das Problem für die Schrift nicht unbedingt darin besteht, das ›letzte Wort‹ zu behalten, denn dieses ist ihre eigene Domäne. Die Fotografie hingegen ist stumm. Es ist konsequent, wenn die utopische Möglichkeit einer Überwindung des Todes durch das Schreiben in Parenthesen zwischen die Erwähnung der beiden Tode, den der Mutter und den eigenen (dessen tatsächliches Eintreten kurz nach der Abfassung von La Chambre claire zur ›Aura‹ des Buches beigetragen haben dürfte), gesetzt ist. Ebenso wie die Überlegung, vielleicht eines Tages ein Buch für die Mutter zu schreiben, ist sie im Text sozusagen ausgeklammert, zwar anwesend, aber doch offen. Das »Zwischen« charakterisiert die prekäre Situation des Schreibens angesichts des ›platten Todes‹: »L’horreur, c’est ceci: rien à dire de la mort de qui j’aime le plus, rien à dire de sa photo, que je contemple sans jamais pouvoir l’approfondir, la transformer. La seule ›pensée‹ que je puisse avoir, c’est qu’au bout de cette première mort, ma propre mort est inscrite; entre les deux, plus rien, qu’attendre; je n’ai d’autre ressource que cette ironie: parler du ›rien à dire‹.« (CC, S. 1174)
Die Ironie, über etwas, wovon man nicht sprechen kann, zu schreiben, ist der von Marty benannten negativen mise en abyme vergleichbar. Das Buch für die verstorbene Mutter muss deren Abwesenheit im Text weiter bestehen lassen. Getreu Barthes’ Beharren auf der Singularität der Toten wie des fotografischen Referenten, das sich für ihn im Wintergartenbild wiederum »utopiquement« als »science impossible de l’être unique« (CC, S. 1160) erfüllt, kann das Andenken an die Tote im notwendig allgemeinen sprachlichen Diskurs allein nicht eingelöst werden. Das Schreiben dessen, was der Sprache in seiner Partikularität heterogen bleiben muss, verwirklicht im utopischen Charakter des »projet« sich nur als noch ausstehend. Durch diese Ausrichtung auf die Zukunft transzendiert es tatsächlich die Abgeschlossenheit der Vergangenheit im Foto, bleibt aber auf dessen Authentizitätsanspruch wie auf seine problematische Verbindung von An- und Abwesenheit bezogen. Diese Verbindung wiederholt Barthes auf der Ebene des Textes, wenn er das Wintergartenbild nicht abdruckt, sondern lediglich beschreibt. Die Beschreibung tritt hier zwar tatsächlich an die Stelle des Bildes, aber nur, indem der Text von des131 Roger: Roland Barthes, S. 272.
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sen Abwesenheit markiert bleibt. Der Verweis auf ein nicht-vorhandenes Bild als Garant der behaupteten Wahrheit ist der beschriebenen metonymischen Expansion des punctum vergleichbar. Was Brown über die Funktion deiktischer Ausrufe wie »tel!«, »c’est ça!« in ihrem Bezug zu Barthes’ Werk sagt, kann ebenso für das Fehlen der Wintergartenfotografie gelten: Auch hier fungiert »the literary text as a figure that points in silence to something outside itself, but to which our only access is the text itself.«132 Barthes’ Insistenz auf der uncodierten Referenz der Fotografie, die radikale Entgegensetzung zur Sprache, erweist sich so in ihrer Fruchtbarkeit für den Text. »Die Bezugnahme auf die Photographie thematisiert und erweitert […] die medialen Grenzen der Literatur; zugleich wird damit die Frage nach dem NichtDarstellbaren aufgeworfen.«133 Die Nicht-Darstellbarkeit betrifft nicht unbedingt die Fotografie der Mutter selbst, diese ist eher deren Vermittler. Mit der Bestimmung fotografischer Referenz als einer schmerzhaft empfundenen Präsenz des längst Vergangenen, der reinen Präsentation eines »réel qu’on ne peut plus toucher« (CC, S. 1170), bleibt die Literatur an die Auseinandersetzung mit dem Tod, sofern er sich gerade nicht in der Repräsentation aufheben lässt, gebunden. Die Fotografie wird zum Medium der Literatur, mittels dessen das Gedenken der Toten als des Anderen, das der sprachlichen Aufhebung inkommensurabel bleiben muss, offen gehalten wird.134 Keine direkte Referenz auf die Verstorbene ist möglich, ihre 132 Brown: Roland Barthes, S. 279; Browns folgender Hinweis deutet bereits auf einen Gebrauch der Fotografie in literarischen Texten hin, dem im weiteren Verlauf dieser Arbeit genauer nachzugehen sein wird: »What is pointed to may be unsayable in more radical senses than those I will deal with here.« In der dazugehörigen Anmerkung wird er konkreter: »I have already mentioned Auschwitz […].« 133 Doris Kolesch: Vom Schreiben und Lesen der Photographie. Bildlichkeit und Textualität bei Marguerite Duras und Roland Barthes. In: Poetica 27 (1999), S. 187-214, S. 202; vgl. auch ebd., S. 208. 134 Vgl. zur Problematik des Gedenkens wieder Derrida: Die Tode von Roland Barthes, S. 29 f.: »Soll man abschließende Bewertungen aussprechen? Sich versichern, daß der Tod nicht stattgefunden hat oder daß er nicht mehr rückgängig zu machen ist und daß man sich somit gegen die Rückkehr des Toten gesichert hat? Oder soll man ihn zu seinem Verbündeten machen (›Der Tote mit mir‹), ihn auf seine Seite ziehen, ihn in sich aufnehmen, […], ihn vollenden, indem man ihn exaltiert, ihn in jedem Fall auf das reduzieren, was eine literarische oder rhetorische Leistung davon bewahren kann, wenn sie sich nach Strategemen bewertet, deren Analyse unendlich wäre, wie alle Tricks der individuellen oder kollektiven ›Trauerarbeit‹? Und auch die genannte ›Arbeit‹ bleibt hier der Name eines Problems. Wenn er arbeitet, so nur um den Tod zu dialektisieren […].« Vgl. zu Derridas Theorie der Trauer in Bezug auf Barthes auch Stiegler: Theoriegeschichte, S. 354 f. Vgl. auch Därmann: Tod und Bild, S. 439 f.; zu Barthes v.a. S. 468 ff.
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singuläre Existenz lässt sich sprachlich nicht adäquat wiedergeben, aber in der Fotografie ist sie sichtbar, wenn auch stumm.
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Es muss hier nicht eigens betont werden, inwiefern der ›Sieg‹ des Schreibens über die Fotografie sich auf ein bereits literarisch konstituiertes Bild der Fotografie bezieht. In La Chambre claire wird dieses Bild allerdings nicht einfach im Sinne einer Medienkonkurrenz oder eines Wettstreits der Medien eingesetzt,135 sondern im Rahmen einer spezifischen Praxis des Totengedenkens. Barthes setzt die Fotografie in Beziehung zu einer »›crise de mort‹« (CC, S. 1173) in der Moderne. In der Metapher der »Mort plate« (CC, S. 1174) tritt die reine Oberfläche des fotografischen Bildes136 in Beziehung zum Niedergang religiöser oder sonstwie ritueller Bewältigungsversuche des Todes. Dem entspricht die Ersetzung des »monument« durch die Fotografie in der modernen Gesellschaft.137 Statt der Verewigung der Erinnerung an die Toten im Denkmal ist nun das selbst vom Verfall bedrohte Foto zum »témoin général et comme naturel de ›ce qui a été‹« (CC, S. 1174) geworden. Der veränderte Bezug auf die Vergangenheit seit dem 19. Jahrhundert drückt sich für Barthes im ›Paradox‹ des gleichzeitigen Aufkommens von Fotografie und »Histoire« aus. Das Paradoxe dieser parallelen Erfindung liegt in der verschiedenen Art der Referenz: »l’Histoire est une mémoire fabriquée selon des recettes positives, un pur discours intellectuel qui abolit le temps mythique; et la Photographie est un témoi135 Vgl. zum Wettstreit der Medien: Kirsten Dickhaut: Intermedialität und Gedächtnis, S. 213 ff.; vgl. skeptisch zu diesem Konzept angesichts der Situation des Gedenkens nach Auschwitz: Hartmut Böhme: Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten. In: Hans Belting/Dietmar Kamper (Hg.): Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion. München: Fink 2000, S. 23-42. 136 Vgl. hierzu, auch im Hinblick auf den antimetaphysischen Aspekt des Fotos, CC, S. 1178: »le noème de la Photo, c’est précisément que cela a été, et que je vis dans l’illusion qu’il suffit de nettoyer la surface de l’image pour accéder à ce qu’il y a derrière: scruter veut dire retourner la photo, entrer dans la profondeur du papier, atteindre sa face inverse (ce qui est caché est pour nous, Occidentaux, plus ›vrai‹ que ce qui est visible). Hélas, j’ai beau scruter, je ne découvre rien […].« 137 Barthes scheint hier eher noch an antike Effigies zu denken – die Versicherung historischer Kontinuität und Identität durch die Verewigung der Vergangenheit im Denkmal ist ja durchaus auch ein modernes Phänomen (vgl. im Zusammenhang des Totengedenkens aus allgemeiner Sicht: Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Fink 2001, S. 143 ff., zur Fotografie S. 184 ff. (Belting beruft sich dort seinerseits wieder auf Barthes)).
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gnage sûr, mais fugace […]« (CC, S. 1174). Mit der Moderne tritt eine Verschiebung im Verhältnis zur Vergangenheit ein. Die mythische Gültigkeit des Vergangenen zerfällt in den Bereich des wissenschaftlichen Diskurses von der Geschichte und die Beglaubigung durch die Fotografie.138 Was dabei vor allem verlorengeht, ist – setzt man die Funktion des Denkmals in Beziehung zum Mythos – die langfristige Kontinuität des Gedächtnisses. Zum einen ist eine Fotografie selbst kein dauerhafter Speicher, da sie mit der Zeit verblasst, zum anderen steht sie im Zusammenhang moderner Phänomene der Beschleunigung: »l’ère de la Photographie est aussi celle des révolutions, des contestations, des attentats, des explosions, bref des impatiences, de tout ce qui dénie le mûrissement« (CC, S. 1174). Ohne dass es in dieser suggestiven Aufzählung explizit wird, spielt hier selbstverständlich die Zeitlichkeit der Momentaufnahme, der »posthume Chock« des Augenblicks, herein.139 Mit der Fotografie drohen aber nicht allein die Kontinuität und das Gedenken der Verstorbenen verlorenzugehen, sie ist selbst von einem Verschwinden bedroht. Bereits auf der ersten Seite von La Chambre claire berichtet Barthes, niemand habe sein Erstaunen angesichts der Fotografie Jérôme Bonapartes teilen können. Barthes, der nicht zum Zeugen der großgeschriebenen »Histoire« werden möchte, sondern statt dessen auf »ma seule histoire« beharrt (vgl. CC, S. 1156), wird doch zum Zeugen dessen, was als einziges die Singularität und Kontingenz des Individuellen vermitteln kann: des Erstaunens angesichts der Spur der Vergangenheit im Bild. Allerdings ein Zeuge des Unzeitgemäßen, und das Buch wird dabei selbst zur Spur: »Et aussi, sans doute, l’étonnement du ›Ça a été‹ disparaîtra, lui aussi. Il a déjà disparu. J’en suis, je ne sais pas pourquoi, l’un des derniers témoins (témoin de l’Inactuel), et ce livre en est la trace archaïque« (CC, S. 1174). Im letzten Abschnitt von La Chambre claire wird das Verschwinden dieses Erstaunens auf die soziale Rolle der Fotografie zurückgeführt. Durch die Einbindung in konventionelle ästhetische Praktiken, ihre Rezeption als Kunst, wird sie in gleicher Weise ›gezähmt‹ wie durch ihre Allgegenwart. Im Sinne des medientheoretischen Topos einer Ersetzung der Wirklichkeit durch ihre Simulation im Bild140 droht die Fotografie die indivi138 Vgl. auch CC, S. 1170; vgl. weiter John Tagg: Der Zeichenstift der Geschichte (1993). In: Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV. 1980-1995. München: Schirmer/Mosel 2000, S. 297-317, zu Barthes S. 311 ff. 139 Vgl. zu einer vergleichbaren Verbindung von Beschleunigung und Wandel im Totengedenken bei Benjamin das folgende Kapitel, Abschnitt 2. 140 Vgl. v.a. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Französischen von Gerd Bergfleh, Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. München: Matthes & Seitz 1991, v.a. S. 112 ff.; der Fotografie kommt bei Baudrillard allerdings eine Sonderrolle zu, die in manchen Punkten Barthes’ Position nicht unähnlich ist: vgl. Jean Baudrillard: Die Fotografie und die Dinge. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks. In: Kunstforum International 172 (2004), S. 71-83; vgl. Stiegler: Theoriegeschichte, S. 398 ff.
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duelle Erfahrung selbst verkümmern zu lassen und, indem sie alle anderen Bildtypen verdrängt, ihre eigene Spezifik zu verlieren. Angesichts dessen bleibt am Ende die Wahl, sich für den »code civilisé des illusions parfaites« zu entscheiden oder »d’affronter en elle [sc. la Photographie] le réveil de l’intraitable réalité« (CC, S. 1192).141 Bei aller Problematik, die dabei in Barthes’ Beharren auf dem ›Authentischen‹ liegen mag (das er allerdings selbst wohlweislich in Anführungszeichen setzt (vgl. CC, S. 1191)), ist der Appell am Ende des Texts auch im Zusammenhang einer Ethik des Gedenkens zu lesen. Von hier aus könnten sich Anschlüsse zu Überlegungen ergeben, die in verschiedener Form bei Kracauer und bei Benjamin relevant werden.142 Barthes’ Realismus der Fotografie entfaltet auf dieser Ebene sein literarisches Potential. Es geht ihm schließlich nicht allein um die Beweiskraft der Fotografie im Hinblick auf die Vergangenheit, sein Bestreben nach Authentifizierung richtet sich auch auf eine ›Wahrheit‹ im Bild, bis zu jenem Punkt, an dem sich »réalité et vérité dans une émotion unique« (CC, S. 1164) vermischen, »où l’affect […] est garant de l’être« (CC, S. 1188). Wie bei der Bestimmung des Realismus der Fotografie wendet sich Barthes hier gegen eine Abhängigkeit dessen, was ihn im Foto fasziniert, vom Begriff einer rein identifikatorischen Ähnlichkeit: »la ressemblance renvoie à l’identité du sujet, chose dérisoire, purement civile, pénale même; elle le donne ›en tant que lui-même‹, alors que je veux un sujet ›tel qu’en lui-même‹« (CC, S. 1179). Die Formulierung »tel qu’en lui-même« verwendet Barthes, zum Teil mit leichten Abweichungen, an mehreren Stellen, unter anderem beim Fund der Wintergartenfotografie: »je la retrouvais enfin telle qu’en elle même…« (CC, S. 1160). Das Markieren durch die Kursivierung und die Auslassungspunkte deuten bereits auf einen weitergehenden Kontext hin. Es handelt sich um ein – hier leicht abgewandeltes ԟ
141 Vgl. hierzu im Bezug auf die Auseinandersetzung von Moderne und Postmoderne auch Haverkamp: Lichtbild, S. 64; zur Einordnung bzw. Nicht-Einordnung Barthes’ in diese Zusammenhänge vgl. Ette: Roland Barthes, S. 475 ff. 142 Vgl. Kasper: Sprachen des Vergessens, die Barthes’ Text unter anderem mit Benjamins Begriff des Eingedenkens liest (vgl. v.a. S. 287 ff.); Caroline Heinrich widmet bei ihrer Diskussion von Benjamins Geschichtsphilosophie ebenfalls ein kurzes Kapitel dem punctum (vgl. Caroline Heinrich: Grundriß zu einer Philosophie der Opfer der Geschichte. Wien: Passagen 2004, S. 197 ff.); zu Kracauer – allerdings unter Betonung der Unterschiede – vgl. Gertrud Koch: Das Bild als Schrift der Vergangenheit. In: Birgit Erdle/Sigrid Weigel (Hg.): Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste. Köln u.a.: Böhlau 1996, S. 7-22, S. 15 f.; Meir Wigoder: History Begins at Home. Photography and Memory in the Writings of Siegfried Kracauer and Roland Barthes. In: History and Memory 13/1 (2001), S. 19-59.
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Zitat des Anfangs von Mallarmés Tombeau d’Edgar Poe.143 Mit der Anspielung auf dieses aus Anlass der Errichtung eines Gedenksteins für Poe in Baltimore geschriebene Gedicht wird das Foto nicht mehr nur zum Ersatz für das Denkmal, sondern tritt in Wechselwirkung mit einem literarisch verfassten Gedenken. Ein weiteres Mal erweist sich die Wahrheit der Fotografie hier als eine Wahrheit der Literatur; sie wird nun allerdings vollständig auf das fotografische Bild übertragen. Barthes zitiert aus der ersten Zeile des Gedichts ein letztes Mal, wenn er auf die »expression de vérité« (CC, S. 1184) im Foto zu sprechen kommt.144 Er fasst sie mit dem Begriff »air«. Wie das punctum ist dieses durch seine supplementäre Struktur gekennzeichnet; als »supplément intraitable de l’identité« (ebd.) übersteigt es die reine Ähnlichkeit. Dem punctum ähnelt es auch in seiner Wirkung: »je la [sc. la mère] retrouve: éveil brusque, hors de la ›ressemblance‹, satori, où les mots défaillent, évidence rare, peut-être unique de ›Ainsi, oui, ainsi, et rien de plus‹« (ebd.). Die wesentlichen Aussagen zur Fotografie in La Chambre claire finden sich hier noch einmal versammelt, um die Möglichkeit eines Überlebens in der Fotografie zu umschreiben: »C’est par cet ombilic que le photographe donne vie; s’il ne sait pas, soit manque de talent, soit mauvais hasard, donner à l’âme transparente son ombre claire, le sujet meurt à jamais« (CC, S. 1184 ff.).145 Die Fotografie wird zum wahrhaften Bild des Gedächtnisses, indem sie zunächst von allen Bedeutungen befreit, auf ihre reine Referentialität reduziert wurde, um anschließend in das Spiel eines hochgradig intertextuell determinierten Textes eingebunden zu werden. Das bloße »tel« der fotografischen Evidenz muss zum »tel qu’en lui-même« erweitert werden. So sehr dabei die Wahrheit, die Barthes in der Fotografie verortet, durch literarische Muster geprägt ist und sich in anderen Zusammenhängen seiner Schriften anhand der Literatur äußert, so sehr ist sie hier in die Fotografie gelegt. Diese wird tatsächlich zu einem literarischen Medium, einem Mittler zur Darstellung eines Nicht-Darstellbaren. Die Spur des fotografischen Bildes tritt in den Dienst eines Gedächtnisses, das sprachlich nicht zu fassen ist.
143 Bei Mallarmé heißt es »Tel qu’en Lui-même […]« (Stéphane Mallarmé: Le Tombeau d’Edgar Poe. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. v. Henri Mondor u. G. Jean-Aubry. Paris: Gallimard (Pléiade) 1984, S. 189); Mallarmé ist bereits seit der Charakterisierung des punctum als »coup de dés« (CC, S. 1126) präsent. Vgl. zu den Anspielungen auf Mallarmé: Laurent Milesi: Point de Photographie. Entre Barthes et Derrida. In: Garnier (Hg.): Jardins d’Hiver, S. 231-275, S. 240 ff., S. 249. 144 Vgl. CC, S. 1183. 145 Vgl. zur Metapher des Lichts als Nabelschnur CC, S. 1166.
Walter Benjamin: Fotogeschichte als Geschichte der Moderne
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Nicht erst mit dem Begriff des »air« führt Barthes ein Moment in seine Betrachtung der Fotografie ein, das vor allem in der Beschreibung als »ombre lumineuse qui accompagne le corps« (CC, S. 1184) seine unmittelbare Übersetzung mit Aura nahelegt.1 Die in den unterschiedlichen Kontexten, in denen Benjamin den Begriff entwickelt, stets gleichbleibende Charakterisierung der Aura als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (GS II.1, S. 378; VII.1, S. 355),2 lässt sich zu einem gewissen Grad bereits auf Barthes’ Erfahrung vor dem Wintergartenbild übertragen. Das einmalige Wiederfinden des Wesens seiner Mutter ist durchsetzt mit dem Bewusstsein ihrer irreduziblen Ferne. Das Zusammenspiel von Nähe und ihrem gleichzeitigen Entzug verdankt sich als quasi-auratische Wirkung auch für den Leser der eindringlichen Beschreibung eines abwesenden Bilds. Barthes’ Entscheidung, das Wintergartenbild nicht abzudrucken, scheint diesem in der Tat etwas von der Verborgenheit eines Kultbilds zu geben: »Barthes substracts its exhibition value and restores it to the realm of ritual and magic.«3 Nicht zuletzt in den
1
Auf die konzeptuelle Nähe wurde verschiedentlich hingewiesen. Nach Berg muss der »air« »in weiten Teilen als Paraphrase auf die Benjaminsche Aura betrachtet werden« (Berg: Die Ikone des Realen, S. 292); vgl. auch Moriarty: Roland Barthes, S. 205 f.; Brune: Roland Barthes, S. 283 ff.
2
In Über einige Motive bei Baudelaire wird aus dem Kunstwerk-Aufsatz dann die »einmalige Erscheinung einer Ferne« zitiert (vgl. GS I.2, S. 647).
3
Vgl. Beryl Schlossman: The Descent of Orpheus. On Reading Barthes and Proust. In: Rabaté (Hg.): Writing the Image, S. 144-159, S. 155. Schlossmans Aussage ist allerdings insofern einzuschränken, als die beschriebene ›Plattheit‹ der Fotografie ihre Aufhebung in einem tatsächlichen Ritual, das zur Trauerarbeit zu zählen wäre, verhindert (Vgl. CC,
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frühen fotografischen Porträts sieht Benjamin die »letzte Verschanzung« des Kultwerts: »Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Fotografien die Aura zum letzten Mal« (GS VII.1, S. 360). Dies scheint in La Chambre claire der Fall zu sein. Damit ist auch die Perspektive angegeben, die für Barthes’ Auratisierung der Fotografie ausschlaggebend zu sein scheint. Es ist inzwischen ein in der Literatur zu Benjamin gängiger Hinweis, dass jenes ›letzte Winken‹ die Form ist, in der die Aura überhaupt erscheint. In den kulturtheoretischen Texten, in denen der Begriff am weitreichendsten zur Anwendung kommt,4 taucht er kaum anders als in Verbindung mit seinem Verfall auf. Zunächst könnte die Aura daher selbst als ein Verschwinden interpretiert werden, als »the singular leave-taking of the singular«,5 das erst im Verfallen seine Schönheit entfaltet. Im Aufsatz über den Erzähler, der mit dem über die technische Reproduzierbarkeit in enger Verbindung steht,6 findet sich
S. 1172). Zum Ausstellungs- und Kultwert bei Benjamin vgl. GS I.2, S. 443 ff., S. 482 ff., VII.1, S. 357 ff. 4
Andere Erwähnungen finden sich vor allem in den Drogenprotokollen, wo er noch in einer gewissen Nähe zu spiritistischen Aura-Vorstellungen steht (vgl. u.a. GS VI, S. 558, 563); aber z.B. auch in Formulierungen wie derjenigen von den »Dinge[n] in der Aura ihrer Aktualität« in den Illustrierten (GS IV.1, S. 449) – eine Formulierung, die in direktem Gegensatz zur späteren Unterscheidung von »Bild« und »Abbild« steht (vgl. GS II.1, S. 379). Als polemische Spitze gegen kulturkonservative Verdammungen der Massenpresse weist diese Stelle bereits auf den strategischen Wert von Benjamins Begriffsverwendungen hin.
5
Samuel Weber: Mass Mediauras, or: Art, Aura and Media in the Work of Walter Benjamin. In: Ders.: Mass Mediauras. Form, Technics, Media. Hg. v. Alan Cholodenko. Stanford: Stanford University Press 1996, S. 76-107, S. 104; Webers Deutung ist allerdings nicht unproblematisch, wenn er zwar den Bezug zum Wahlverwandtschaften-Essay und das für Benjamin dort zentrale Motiv des fallenden Sterns (vgl. GS I.1, S. 200) herstellt, dieses aber ohne weiteres in die Nähe zur Allegorie stellt, ohne auf den – für die Aura sehr viel zentraleren ԟ Begriff des Symbols einzugehen (vgl. GS I.1, S. 199 zum »Symbol des Sterns«; vgl. zu Symbol und Allegorie GS I.1, S. 342; zum Bezug der Aura zum Thema der Wahlverwandtschaften vgl. GS VII.1, S. 368; Adorno stellt in einem Brief den Zusammenhang explizit her, wenn er von der »Scheidung der Allegorie vom (in der neuen Terminologie: ›auratischen‹) Symbol« schreibt (GS I.3, S. 1001)).
6
Vgl. Benjamins Brief an Adorno: »Ich habe in der letzten Zeit eine Arbeit über Nikolai Lesskow geschrieben, die, ohne im entferntesten die Tragweite der kunsttheoretischen zu beanspruchen, einige Parallelen zu dem ›Verfall der Aura‹ in dem Umstande aufweist, daß es mit der Kunst des Erzählens zuende geht.« (Walter Benjamin: Gesammelte Briefe.
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eine verwandte Denkfigur, wenn Benjamin schreibt, dass mit dem Verschwinden der Erzählung sich »zugleich eine neue Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar macht« (GS II.2, S. 442). Der Blick auf diese Schönheit ergibt sich aber aus der Art der Darstellung, die, von der Gegenwart her kommend, »den rechten Abstand und den richtigen Blickwinkel« (GS II.2, S. 439) erst zu konstituieren hat. In ähnlicher Weise ist die Kleine Geschichte der Photographie eingerahmt durch die Hinweise am Anfang und Ende des Aufsatzes, dass die Aura früher Fotografien erst aus der Perspektive der Gegenwart und ihrer fotografischen Praktiken erkennbar wird: »Im Scheine dieser Funken ist es, daß die ersten Photographien so schön und unnahbar aus dem Dunkel der Großvätertage heraustreten« (GS II.1, S. 385).7 Es ist demnach weniger der Verfall selbst, der die Aura dieser Fotos konstituiert; vielmehr stellt diese eine besondere Qualität dar, die nur als vergangene oder vergehende thematisch wird. Liegt also jene »Unnahbarkeit«, die bereits das Kultbild kennzeichnet,8 für die Gegenwart in eben der Nachträglichkeit, die die Erfahrung der Aura nur als Verlusterfahrung zulässt, so ist nicht allein das Phänomen selbst vom gegenwärtigen Blick konstituiert, sondern es erweist sich andererseits auch der Begriff des Verfalls als ebenso konstitutiv für ebendiese Gegenwart, wie er von ihr aus erst seinen Sinn bekommt. In einem Brief an Gretel Adorno betont Benjamin diese Perspektive in Anspielung auf den geplanten Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, um sein Konzept des »Jetzt der Erkennbarkeit« zu umschreiben: »Ich habe denjenigen Aspekt der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts gefunden, der nur ›jetzt‹ erkennbar ist, der es nie vorher war und der es nie später sein wird.«9 In diesem Sinne ist der Begriff der Aura bzw. ihres Verfalls »kein historisches ›Faktum‹, sondern eine geschichtsphilosophische Konstruktion«, er ist »weniger Begriff als performativer Eingriff.«10 Freilich ist Konstruktion bei Benjamin die Herangehensweise an Geschichte schlechthin, und auch die Performativität des Konzepts spricht, gerade bei diesem Autor, nicht gegen dessen Begriffscharakter. Eine Perspektive, in der das Vergangene als solches erst in seiner Verschränkung mit einer bestimmten gegenwärtigen Situation, die seine Erfahrung zugleich zu verhindern droht, hervortritt, bestimmt auch Barthes’ Text. Wie gezeigt, gewinnt Hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995-2000, Bd. V, S. 307). 7 8
Vgl. auch GS II.1, S. 368. »Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach ›Ferne, so nah es sein mag‹.« (GS I.2, S. 480).
9
Benjamin: Briefe, Bd. V, S. 171.
10 Eva Geulen: Zeit der Darstellung. Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. In: Modern Language Notes 107/3 (1992), S. 580-605, S. 597 f.
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sein Erstaunen angesichts der »intraitable réalité« (CC, S. 1192) im Foto seine Konturen vor allem vor dem Hintergrund von dessen Verschwinden innerhalb einer zunehmend von fotografischen Bildern geprägten Gesellschaft. Die Auratisierung der Fotografie dient hier mit der gleichzeitigen Erfahrung von Präsenz und Entzug als Anstoß für ein Schreiben, das selbst auf flüchtige Momente des Eingedenkens abzielt. Die Konstitution der Aura in ihrem Verfall verdankt sich der Aufmerksamkeit für die Singularität des Referenten in einer Gegenwart, in der das fotografische Bild mit seiner massenhaften Verbreitung selbst seine Singularität zu verlieren droht. Die Technik der analogen Fotografie, die diese Singularität in beiden Fällen für Barthes garantiert, beginnt zudem zu veralten. Mit der Verbreitung digitaler Bildtechniken lässt sich eine Fotografie nur noch bedingt als ›Emanation des Referenten‹ ansehen. Barthes’ Pathos entfaltet vielleicht gerade deshalb seine Wirkung, als »swan song for an artifact on the brink of fundamental change.«11 Die Betonung des Vergänglichen bzw. des Veralteten stellt außerdem, im Rückgriff auf einen sehr viel älteren Bildtypus, eine weitere Strategie zur Auratisierung der Fotografie dar. Über einen metaphorisch verstandenen Kult der Erinnerung geht Barthes hinaus, wenn er sein Erstaunen angesichts der im Bild sichtbaren Realität auf die »substance religieuse dont je suis pétri« zurückführt: »la Photographie a quelque chose à voir avec la résurrection: ne peut-on dire d’elle ce que disaient les Byzantins de l’image du Christ dont le suaire de Turin est imprégné, à savoir qu’elle n’était pas faite de main d’homme, acheïropoïétos?« (CC, S. 1167). Gerade der technische Aufzeichnungsprozess der Fotografie erlaubt es, in der Emphase der spurhaften Ikonizität an frühere religiöse Bildtraditionen anzuknüpfen. Bereits die christlichen Legenden zur Authentisierung der ›wahren‹ Bilder des ›Antlitz Christi‹, wie eben des byzantinischen Mandylion oder des Grabtuchs von Turin, beruhen auf der Behauptung einer Berührungsbeziehung, mithin einer indexikalischen Relation, zwischen dem Bild und dem abgebildeten Körper.12 Wie in Barthes’ Fotobetrachtung wird hier der repräsentative Aspekt des Bildes vom Wissen um oder Glauben an dessen physische Entstehungsursache überlagert.13 Die suggestive Kraft der 11 Michael Fried: Barthes’s Punctum. In: Critical Inquiry 31 (2005), S. 539-574, S. 563. 12 Vgl. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: Beck 1991, S. 66 ff.; auch Belting weist darauf hin, dass sich heute »der Vergleich mit der Photographie anbieten« würde (S. 66). Bazin bezieht sich in einer Anmerkung ebenfalls auf das »Leichentuch von Turin, das die Synthese von Reliquie und Fotografie darstellt« (Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes, S. 25, Anm. 5, vgl. auch die Abbildung auf S. 26). Vgl. zum Fortwirken religiöser Authentisierungsmuster in Barthes’ und Bazins Fototheorien: Volker Wortmann: Authentisches Bild und authentisierende Form. Köln: von Halem 2003, v.a. S. 146 ff. 13 Wortmann weist darauf hin, dass oft gerade technische und ästhetische ›Mängel‹ des Bildes ein wichtiger Bestandteil von Authentisierungsstrategien sind (vgl. Wortmann: Au-
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christlichen Kultbilder ԟ und das Gleiche gilt für die Wintergartenfotografie ԟ rührt dabei »gerade von ihrer Fähigkeit her, den Gedanken an eine Verbindung, eine Berührung, einen Abdruck hervorzurufen, obwohl sie selbst nur einen leeren Raum, eine Entfernung, die Spur einer Abwesenheit darstellen.«14 Diese Dynamik einer Nähe, in der sich die absolute Ferne des Heiligen ԟ bzw., im Fall Barthes’, die reale Abwesenheit der Toten ԟ zeigt, lässt sich Georges Didi-Huberman zufolge durchaus mit Benjamins Begriff der Aura umschreiben. Die damit aufkommende »Frage einer Auratisierung der Spur«15 muss allerdings nicht unbedingt in Widerspruch zu Benjamins vielzitierter Notiz zu Aura und Spur stehen: »Spur und Aura. Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser« (GS V.1, S. 560).16 Zweifellos stellen die sogenannten acheiropoietischen Bilder eher die »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« dar, als dass sie es ermöglichten, des absolut Fernen, des Heiligen, in der von ihm hinterlassenen Spur habhaft zu werden. Und doch wäre etwas Ähnliches in ihnen angelegt, wenn sie nicht mehr im Zusammenhang des Ritus betrachtet werden. Weniger als sie strikt einander entgegenzusetzen, stellt die zitierte Notiz beide Begriffe gerade in einen gegenseitigen Bezug. Die Spur bezeichnet dabei weniger einen Abdruck oder sonstigen Spurbegriff im landläufigen Sinne. Wie die Aura ist sie nicht auf ein vorliegendes Objekt bezogen, sondern wird als Begriff erst bestimmt aus der Beziehung zum Begriff der Aura. »›Spur‹ und ›Aura‹ sind Facetten, ›Erscheinungen‹, Wahrnehmungsweisen, Strategien an ein und demselben Gegenstand – dem ›historischen Gegenstand‹ […]. Spur und Aura sind zwei Seiten einer Figur.«17 Allerdings zeigen sich diese beiden Seiten nicht immer in derselben Weise. Anhand ihrer Verwendung, oder ihres Einsatzes, lässt sich innerhalb von Benjamins Schriften eine historische Dynamik rekonstruieren, die sowohl auf Benjamins Begrifflichkeit als auch auf seine verstreute Theoriebildung zur Moderne Licht wirft.18 Die Stellung der Fotografie innerhalb thentisches Bild, S. 219 f.). Es sei daran erinnert, dass das Wintergartenbild bereits stark verblasst ist. 14 Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks. Köln: DuMont 1999, S. 46. 15 Ebd., S. 49. 16 Vgl. zu dieser Notiz im Bezug auf Barthes auch Haverkamp: Lichtschrift, S. 64. 17 Bettine Menke: Sprachfiguren. Name, Allegorie, Bild nach Benjamin. München: Fink 1991, S. 361. 18 Vgl. zu beiden Begriffen auch Mika Elo: Spur und Aura in der Fotografie. In: Peter Rautmann (Hg.): Urgeschichte des 20. Jahrhunderts. An Walter Benjamins Passagen-Projekt weiterschreiben. Ein künstlerisch-wissenschaftliches Symposion der Hochschule für Künste Bremen. Bremen: Hauschild 2006 (= Einwurf, 04), S. 191-200.
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dieser Theorie ist nicht zuletzt von der jeweiligen Fassung der Begriffe Spur und Aura relativ zum argumentativen Kontext bestimmt. Als Wahrnehmungsweisen sind diese an das gebunden, was Benjamin das »Medium« (GS VII.1, S. 354) nennt, in dem die menschliche Wahrnehmung erfolgt, d.h. die jeweilige historische Art und Weise von deren Organisation.19 So zeigen sich bereits am auratischen Kunstwerk Spuren; allerdings solche, die weniger dazu dienen, des Gegenstands ›habhaft‹ zu werden, indem er dem Betrachter nähergebracht würde. An den Spuren der »Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Struktur erlitten hat« wie denen der »wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag« (GS I.2, S. 437, S. 475 f.; VII, S. 352) manifestiert sich die geschichtliche Existenz des Kunstwerks, sein »einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet« (ebd.). Eben diese »Einzigartigkeit des Kunstwerks«, die »identisch [ist] mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition« (GS I.2, S. 441, S. 480; VII.1, S. 355), macht seine Aura aus. Bei den christlichen Kultbildern liegt daher in der Tat ein Sonderfall vor. Hier scheint sich die Aura nicht allein an den Spuren der Tradition zu zeigen, sondern dem Objekt aufgrund seines Spurcharakters selbst, verstanden als physischer Abdruck, erst zuzukommen. Es ist dabei nicht ohne eine gewisse Ironie, dass die Authentizität des Turiner Grabtuchs, und damit seine auratische Wirkung, ausgerechnet durch eine Fotografie, also seine technische Reproduktion, einen neuerlichen Schub bekam. Nachdem der Fotograf Secondo Pia 1898 eine Fotografie des Tuchs angefertigt hatte, wurden auf dem Negativ sehr viel deutlicher die Gesichtszüge eines Mannes sichtbar als auf dem Stoff selbst, so dass dieser als eine Art natürliches Negativ angesehen werden konnte.20 Es erscheint schon trivial, darauf hinzuweisen, dass die Aura auch solcher Bilder sich schwerlich aus ihrer bloßen Existenz herleitet. Sowohl die Legende vom Abdruck des Gesichts Christi als auch das Prestige, das diese Darstellung vor allen anderen Repräsentationsformen auszeichnet, sind Teil der Geschichte des Objekts und auf dieser erst gründet sich ihr Kultwert: »Der Kultwert (das Heilige) ist als eine mit historischem Gehalt gesättigte Aura zu definieren. Die Aura war ursprünglich (solange sie den Kultwert begründete) mit Geschichte geladen« (VII.2, S. 677). Diese Geschichte, so legendär sie sein mag, 19 Zum Medienbegriff Benjamins vgl. Uwe C. Steiner: »Eine gelungene Anmaßung?« – Die Aura der Reproduktion und die Religion des Medialen bei Walter Benjamin und Patrick Roth. In: Homepage der internationalen Walter Benjamin-Gesellschaft (IWBG) (http:// www.iwbg.uni-duesseldorf.de/Pdf/Steiner11.pdf (zuletzt abgerufen am 15.8.2012)), S. 2: »Medialität kommt vor der Apparatur, Wahrnehmung findet grundsätzlich in einem Medium statt, in einem Milieu, in dem sich natürliche, soziale, historische und apparative Tatsachen zu einem ›historischen Apriori‹ konstellieren.« 20 Vgl. Stefanie Diekmann: Mythologien der Fotografie, S. 160 ff.; Stiegler: Bilder der Photographie, S. 238 f., Wortmann: Authentisches Bild, S. 143 f.
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wurde beim Turiner Tuch gerade durch die Fotografie reanimiert – allerdings weniger durch ihr Bild als durch das Verfahren. Die Fotografie des Grabtuchs funktionierte wie eine Probe seiner Echtheit; sie schien die Legende zu bestätigen, indem sie das Tuch selbst als einen Negativabdruck erscheinen ließ. Die Einzigartigkeit dieses Gegenstands, die ihm durch die angebliche Berührung mit dem Körper des Gekreuzigten zukommt, wurde durch diese Reproduktion zunächst nicht berührt. Umgekehrt kann über diese Verbindung auch das theologische Erbe acheiropoietischer Bilder in eine Legende der Fotografie eingehen. Barthes bedient sich, wie gezeigt, aus diesem Fundus. Die Spuren der geschichtlichen Existenz am auratischen Gegenstand lassen diesen also nicht in die Nähe treten, sondern sie weisen zurück in die Ferne der Zeit, auf die »Vorstellung einer Tradition, welche dieses Objekt bis auf diesen Tag als ein Selbes und Identisches weitergeleitet hat« (GS I.2, S. 437; VII.1, S. 352). Seine Identität bekommt der Gegenstand demnach erst aus der Vorstellung einer durch die Tradition gestifteten Kontinuität. In Wahrheit ist die Tradition »freilich etwas durchaus Lebendiges, etwas ganz außerordentlich Wandelbares« (GS I.2, S. 441; VII.1, S. 355). Dies trifft in gleicher Weise auf kultische wie im engeren Sinne ästhetische Gegenstände zu. Seinem »geschichtlichen Dasein nach« ist das Schöne »ein Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. […] Der Schein im Schönen besteht für diese Bestimmung darin, daß der identische Gegenstand, um den die Bewunderung wirbt, in dem Werke nicht zu finden ist. Sie erntet ein, was frühere Geschlechter in ihm bewundert haben« (GS I.2, S. 639). Ebendieser Schein ist Teil der Tradition, in die der Gegenstand eingebettet liegt. Die Einzigartigkeit des Gegenstands leitet sich damit aus dessen Stellung im kulturellen Gedächtnis ab.21 Diese sieht Benjamin nun durch die technische Reproduzierbarkeit einer grundlegenden Transformation unterworfen: »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache, ihr traditionelles Gewicht.« (GS I.2, S. 438; VII.1, S. 353)
21 Vgl. zum hier referierten Zusammenhang auch Burkhardt Lindner: Les médias, l’art et la crise de la tradition. Pour une théorie de la reproductibilité. In: Louise Merzeau/Thomas Weber (Hg.): Mémoire et médias. Paris: Avinus 2001, S. 13-25 (auch unter: http://www. mediologie.avinus.de/2008/02/21/lindner-burkhardt-les-medias-lart-et-la-crise-de-la-tradi tion-pour-une-theorie-de-la-reproductibilite-220208/ (zuletzt geprüft am 15.8.2012)).
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Es geht mir hier nicht so sehr um die »kathartische Seite« der damit verbundenen »Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe« (GS VII.1, S. 354), sondern die Konsequenzen des medialen Umbruchs für die Verbindung von Wahrnehmung und Gedächtnis. Mit der Vervielfältigung des Kunstwerks tritt an die Stelle der bestimmenden, von Unnahbarkeit gezeichneten Präsenz des Gegenstands an einem Ort seine massenhafte Verbreitung, an die Stelle der kontemplativen Versenkung ins Kunstwerk und der Teilnahme an der in ihm materialisierten Überlieferung seine ständige Verfügbarkeit und Aktualisierbarkeit unabhängig vom Traditionszusammenhang. Ursächlich ist hier nicht die Reproduktion allein, denn das »Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen« (GS VII.1, S. 351).22 Mit den neuen Reproduktionstechniken, die ebenso den Bereich des Reproduzierbaren erweitern wie sie es erlauben, von vornherein auf Reproduktion angelegte Werke herzustellen, schlägt aber zum einen die wachsende Quantität der Reproduktionen in eine neue Qualität um, zum anderen ändert sich grundsätzlich die Haltung gegenüber den nun prinzipiell nicht mehr einmaligen Werken. Der reproduzierte Gegenstand erscheint so untrennbar in die Warenproduktion eingebunden. Dies geht weit über den engeren Bereich der Kunst hinaus; schließlich »hat die Photographie immer zahlreichere Ausschnitte aus dem Feld optischer Wahrnehmung verkäuflich gemacht. Sie hat der Warenzirkulation Objekte erobert, die ehedem so gut wie nicht in ihr vorkamen« (GS III, S. 502). Es wird deutlich, dass die Auswirkungen der technischen Reproduzierbarkeit mit dem Gegensatz von Original und Kopie nur unzureichend erfasst sind, denn es geht um die prinzipiell unabschließbare Erweiterung des Bereichs dessen, was im Bild zugänglich gemacht werden kann. Wesentlich betrifft dies auch das Rezeptionsverhalten: »Die Dinge sich ›näherzubringen‹ ist ein genauso leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen, wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion darstellt. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener.« (GS VII.1, S. 355)23
22 Vgl. zum Verhältnis von Reproduktion und Tradition: Alexander García Düttman: Tradition and Destruction. Benjamin’s Politics of Language. In: Modern Language Notes 106/3 (1991), S. 528-554, S. 546 ff. 23 Vgl. auch die leicht abweichenden Formulierungen in: GS I.2, S. 440, S. 479; II.1, S. 379.
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Benjamins Theorie der technischen Medien zielt damit auf eine allgemeine Veränderung raum-zeitlicher Wahrnehmungsformen ab, die eng mit einem entsprechenden Wandel in den Formen des Gedächtnisses verschränkt ist. Das Kunstwerk ist in diesem Rahmen, insofern es von der Tradition ebenso getragen wird wie es deren Fortdauern garantiert, Medium des kulturellen Gedächtnisses, welches durch die »Entortung«24 des reproduzierten Gegenstands und seine Zirkulation als Ware einer tiefgreifenden Transformation unterworfen ist. Einen vergleichbaren Umbruch im Bereich der Kommunikationsformen beschreibt Benjamin im Aufsatz über den Erzähler,25 wenn er die durch lange Überlieferung und eine entsprechende Nachwirkung im Gedächtnis der Hörenden garantierte Dauer der Erzählung der kurzlebigen Information in modernen Medien wie eben der Wochenschau oder der Zeitung gegenüberstellt.26 Statt eines integralen Erfahrungszusammenhangs vermitteln die neuen Kommunikationsmedien nur noch ephemere, diskontinuierliche Erlebnisse.27 Die Gegenüberstellung der traditionsgebundenen bäuerlich-handwerklichen Welt des Erzählers und der Welt der Moderne, der Großstädte und Fabriken, strukturiert über das Oppositionspaar Erfahrung-Erlebnis Benjamins Theorie der Moderne auf verschiedenen Ebenen; in der Trennung von Kommunikationsmedien und Lebenspraxis durch die vom Arbeitsprozess abgelöste Rezeption der Presse anstelle des Erzählens beim Arbeiten,28 in der Transformation der Arbeit von der handwerklichen »Übung« (GS I.2, S. 631) hin zur industriellen »Dressur« (GS I.2, S. 631)
24 Boris Groys: Die Topologie der Aura. Über Original, Kopie und einen berühmten Begriff Walter Benjamins. In: Neue Rundschau 113/4 (2002), S. 84-94, S. 86; die Bedeutung der Verschränkung von topologischer und geschichtlicher Bestimmtheit des auratischen Kunstwerks stellt Groys zwar richtig heraus, verfehlt jedoch Benjamins Argumentation in wesentlichen Punkten, wenn er jegliche situative Einbindung bis hin zur Verortung einer Webseite auf dem Server als hinreichend ansieht, um den entsprechenden Gegenständen eine Aura zuzusprechen (vgl. S. 89 ff.). 25 Vgl. die in Anm. 6 zitierte Briefstelle. Vgl. zur, auch entstehungszeitlichen, Nähe von Kunstwerk-Aufsatz und Der Erzähler: Gerhard Wagner: Walter Benjamin. Die Medien der Moderne. Berlin: Vistas 1992, S. 115 ff. 26 Vgl. Kai Pfankuch: Die Erfahrungstheorie Walter Benjamins als integraler Bestandteil seiner Geschichtsphilosophie und Kunsttheorie. Dissertation Frankfurt a.M. 1984, v.a. S. 86 ff. 27 Vgl. v.a. GS I.2, S. 610 f., S. 613; zur Differenzierung von Erfahrung und Erlebnis vgl. Michael Makropoulos: Subjektivität zwischen Erfahrung und Erlebnis. Über einige Motive bei Walter Benjamin. In: Gérard Raulet/Uwe Steiner (Hg.): Walter Benjamin. Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Bern: Lang 1998, S. 69-81. 28 Vgl. u.a. GS II.2, S. 447; GS I.3, S. 1183 f., GS V.2, S. 964.
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und nicht zuletzt im allgemein veränderten Zeiterleben.29 Der »Dekomposition des geschlossenen narrativen Raums entspricht die Traumatik des Zeiterlebnisses.«30 Vor allem unter diesem Aspekt ist die Stellung der Fotografie in Benjamins verstreuter Theorie der Moderne, neben dem Problem der Reproduktion, zu betrachten. Ein zentraler Begriff, der es erlaubt, die verschiedenen Stränge von Benjamins Theorie der Moderne zu bündeln, ist der »Chock«. Im »posthumen Chock« (GS I.2, S. 630) der Fotografie treten bereits wichtige Momente – die Bewältigung (visueller) Reize, die Diskontinuität und deren haptisches Korrelat im Bedienen des Mechanismus – zusammen.31 Eine Notiz zum Baudelaire-Essay stellt fotografische Wahrnehmungsformen darüber hinaus in den kommunikativen Rahmen der Moderne: »Es etabliert sich der Chock als das tertium, in dem das Erlebnis und der Automatismus zusammen kommen. Die Momentaufnahme, die den ›historischen Augenblick‹ oder das tête à tête der [ein Wort nicht zu entziffern (Anm. d. Hg.)] ›knüpft‹, das ein Ereignis war, macht die Probe auf das Exempel. Sie bringt den Chock des Erlebnisses und des Automaten zur Kongruenz.« (GS I.3, S. 1172)
Die Bedeutung des »historischen Ereignisses« wird in diesem Fall, durch die Konstruktion eines ›entscheidenden Augenblicks‹, vom Journalisten gestiftet: »Ihm kommt es auf ein Erlebnis an, das dem Bewußtsein wie angegossen sitzt. Er stellt fest, daß etwas ein Ereignis war – im Feuilletonteil ein ›unvergessliches‹, im politischen Teil des Blatts ein ›historisches‹« (GS I.3, S. 1184). Der dem zugrunde liegende Wandel in den Erfahrungs- bzw. Erlebnisformen findet schließlich seinen Fluchtpunkt in einer Krise des Gedächtnisses. Bei der Reformulierung des Aura-Begriffs in Über einige Motive bei Baudelaire entwickelt Benjamin vor allem unter Bezug auf Prousts Konzept der mémoire involontaire und Freuds metapsychologische Spekulationen in Jenseits des Lustprin29 Vgl. u.a. GS I.2, S. 632: »Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das ›Erlebnis‹ des Arbeiters an der Maschinerie.« 30 Michael Wetzel: Il y aura. Über die Kunst, die Herzen schneller schlagen zu lassen. In: Fotogeschichte 9/32 (1989), S. 11-20, S. 13. 31 Vgl. oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Barthes; die Differenzierung von Erlebnis und Erfahrung anhand des Schockmoments betrifft natürlich in besonderer Weise den Film (vgl. I.3, S. 1176). Die Verknüpfung industrieller Produktionsprozesse und fotografischer Wahrnehmungsmöglichkeiten fand ihre tatsächliche Umsetzung z.B. bei Frederick W. Taylor – den Benjamin mit dem Untergang der Flanerie in Verbindung bringt (vgl. GS I.2, S. 557) ԟ, dessen Untersuchungen zur Optimierung von Arbeitsschritten auf die Fotografie zurückgriffen (vgl. Stephen Kern: The culture of time and space. 1880-1918. Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1983, S. 116 f.).
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zips ein Modell, das die skizzierten gesellschaftlichen Prozesse eng an das individuelle Gedächtnis knüpft. Der zitierte Hinweis auf das Bewusstsein, dem ein Ereignis »wie angegossen« zu ›sitzen‹ hat, spielt bereits auf Freuds Bemerkung an, »das Bewußtsein entstehe an Stelle der Erinnerungsspur«.32 Erinnerungsspuren, das heißt unbewusste Dauerspuren des Gedächtnisses, sind es aber, auf denen Prousts mémoire involontaire aufbaut: »Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹ widerfahren ist« (GS I.2, S. 613). Die ständige Bereitschaft zur Abwehr von Schocks, denen das Subjekt in der modernen Großstadt ausgesetzt ist, erfordert dagegen einen Grad an Bewusstheit, der die Aufnahme von Dauerspuren gerade verhindert. Benjamin geht jedoch über Freud hinaus, wenn er die »Registrierung« (GS I.2, S. 613) von Schocks durch das Bewusstsein als Ergebnis einer Gewöhnung an die Bedingungen des modernen Lebens darstellt. Nach Freud gäbe es neben den unbewussten Dauerspuren nur die reizaufnehmende Schicht des Systems Wahrnehmung-Bewusstsein, die von traumatischen Schocks schlimmstenfalls durchbrochen würde, diese jedoch nicht im Sinne einer Fixierung registrieren kann.33 Im Kontext seiner Gedächtnis- und Erfahrungstheorie und deren Anbindung an Proust geht es Benjamin aber um die Etablierung eines der mémoire involontaire und der Erfahrung konkurrierenden Gedächtnissystems als Ergebnis kultureller Umbrüche. Bilden sich sowohl die kollektive, von der Tradition abgesicherte, wie auch Prousts »ausweglos private[ ]« (GS I.2, S. 610) Erfahrung »weniger aus einzelnen, in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis zusammenfließen« (GS I.2, S. 608), so steht ihnen mit dem Erlebnis eine Aufnahme von Außenreizen gegenüber, bei der »dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewußtsein« (GS I.2, S. 615) zugewiesen wird, »unmittelbar der Registratur der bewußten Erinnerung ihn einverleibend« (GS I.2, S. 614). Prousts mémoire volontaire steht in diesem Zusammenhang: »von ihr gilt, daß die Informationen, welche sie über das Verflossene erteilt, nichts von ihm aufbehalten« (GS I.2, S. 610).34 Was diese Informationen dagegen aufbewahren, ist jene »exakte Zeitstelle«, die sie der Zeitlosigkeit eines unbewussten Gedächtnisses entgegenstellt.
32 Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 235; Benjamin zitiert allerdings, »das Bewußtsein entstehe an der Stelle der Erinnerungsspur« (GS I.2, S. 612, Hervorhebung J.G.). 33 Vgl. zu einem kritischen Nachvollzug der Übernahme von Freuds Thesen in Über einige Motive bei Baudelaire: Christine Schmider/Michael Werner: Das Baudelaire-Buch. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2006, S. 567-584, S. 577 f. 34 Vgl. auch GS V.1, S. 280: »Die mémoire volontaire dagegen ist eine Registratur, die den Gegenstand mit einer Ordnungsnummer versieht, hinter der er verschwindet.«
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Die suggerierte Analogie von medialen Gedächtnistechniken des Archivs mit psychischen Prozessen, die der »produktive[n] Unordnung« (GS V.1, S. 280) der mémoire involontaire entgegenstehen, findet ein weiteres Pendant in der »chronologischen Präzisierbarkeit« (GS V.2, S. 844) der Fotografie. Stellt die Fotografie zwar sowohl bei Freud wie auch bei Proust und Benjamin die konzeptuellen Mittel bereit, metaphorisch den Prozess der Erinnerung als Entwicklung des vergessenen Bildes der Vergangenheit zu beschreiben,35 so steht sie als fertiges Bild dem Erlebnis in seinem Gegensatz zur unbewussten Dauerspur des Gedächtnisses näher.36 Ein großer Teil von Benjamins Theorie der Moderne operiert mit Entsprechungen und Analogien, wie sie hier anhand des individuellen Gedächtnisses und der Medien eines kollektiven Gedächtnisses umrissen sind. Der Fotografie kommt dabei die Funktion einer teilweise selbst wieder metaphorischen Vermittlung beider Bereiche zu. Wenn Benjamin im Baudelaire-Essay auf Prousts mémoire involontaire zurückkommt und mit ihr dem Begriff der Aura eine neue Akzentuierung verleiht, bezieht er die individuelle Gedächtniserfahrung auf die zunehmende soziale Bedeutung technischer Speichermedien: »Wenn man die Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura nennt, so entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt. Die auf der Kamera und den späteren entsprechenden Apparaturen aufbauenden Verfahren erweitern den Umfang der mémoire volontaire; sie machen es möglich, ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzuhalten. Sie werden damit zu wesentlichen Errungenschaften einer Gesellschaft, in der die Übung schrumpft.« (GS I.2, S. 644)
Einem Verfall der Aura im Verschwinden der Möglichkeiten unwillkürlicher Erinnerungen entspräche demnach die Entwicklung technischer Medien als Symptom paralleler gesellschaftlicher Prozesse. Insofern vor allem im »Chock« sowohl apparative als auch psychische Aspekte zusammentreffen, stellt er einen Kondensationspunkt der Theorie der Moderne dar, die in der These einer »Krise in der Wahrnehmung selbst« (GS I.2, S. 645) kulminiert.37 Zwar wird die tatsächliche Verbindung 35 Vgl. hierzu unten, Abschnitt 2 im Kapitel zu Proust und Abschnitt 1.1 im Kapitel zu Benjamin und Brecht. 36 Vgl. zur Unterscheidung des metaphorischen Gebrauchs der Fotografie vom technischen Diskurs bei Benjamin: Norbert Bolz: Der Fotoapparat der Erkenntnis. In: Fotogeschichte 9/32 (1989), S. 21-27. Auf die Vermittlung zwischen beiden, die sich durchaus in der Beschreibung einzelner Fotografien bei Benjamin findet, geht Bolz allerdings nicht ein. 37 Weigel weist darauf hin, dass Benjamins Theorie des »Chocks« sich aus seiner gegenwärtigen Situation herleitet und dieser daher als »medientheoretisch generiertes Disposi-
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beider Aspekte für Benjamin vollständig erst in der Filmrezeption eingelöst, doch steht bereits die zeitliche Dimension der Momentaufnahme ԟ ebenso wie in räumlicher Hinsicht das Detail38 ԟ für eine Fragmentierung der Wahrnehmung, die zwar einerseits neue »Bildwelten« (GS II.1, S. 371) eröffnet, andererseits aber nicht nur die Wahrnehmung des Ganzen verhindert, sondern auch die Struktur der Zeitwahrnehmung hin zur ›Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit‹ einzelner Momente prägt. Pointiert ließe sich die Erhellung des Optisch-Unbewussten39 als Registrierung von Reizen umschreiben, die eine tatsächliche Aufnahme unbewusster Dauerspuren verhindert. Auf eine solche Ineinanderführung von technischer Wahrnehmungserweiterung und individueller Reizverarbeitung zielt Benjamins Argumentation in Über einige Motive bei Baudelaire allerdings weniger ab. Ihm geht es um die Auswirkungen der konstatierten Wahrnehmungskrise auf die Wahrnehmung des Schönen in der Kunst. Benjamin greift dabei aber nicht auf die vorhergehenden Ausführungen zum »Chock« zurück sondern führt eine durchaus eigenwillige Begründung für den ›entscheidenden‹ Anteil der Fotografie »an dem Phänomen eines ›Verfalls der Aura‹« (GS I.2, S. 646) an: »Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche mußte empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (die ebensowohl, im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.« (GS I.2, S. 646)
Benjamins Argument bewegt sich in eigentümlicher Weise zwischen Apparat und Bild. Die blicklose Erfassung durch den Apparat scheint so Auswirkungen auf das Resultat der Aufnahme zu haben; auch diese kann den Blick, den die Technik nicht erwiderte, nicht zurückgeben. Die Wirkung der langen Belichtungszeit bei den ersten Fotografien beschrieb Benjamin, darauf wird noch zurückzukommen sein, in der Kleinen Geschichte der Photographie durchaus anders. Im vorliegenden Zusammenhang steht die Gegenüberstellung der Fotografie zur »Definition der Aura tiv betrachtet werden [kann], das der Untersuchung der optischen Medien zur Zeit des Films entspringt, in der Urgeschichte der Moderne aber auf das 19. Jahrhundert zurück projiziert wird« (Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte, S. 60). 38 Vgl. zu den Entsprechungen räumlicher und zeitlicher Bestimmungen bei Benjamin: Stiegler: Theoriegeschichte, S. 272, Weigel spricht von einer »Verzeitlichung des Details im Chock« (Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte, S. 58). 39 Vgl. oben, Abschnitt 3 im vorhergehenden Kapitel.
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als der Ferne des im Angeblickten erwachenden Blicks« (GS V.1, S. 396) aber im Dienst der Absicht, an ihr die Pointe von Benjamins Baudelaire-Deutung zu erweisen. Dem Motiv des im vollen Sinn des Ausdrucks erfüllten Augenblicks, paradigmatisch in der europäischen Lyrik verkörpert im Blick der Geliebten, steht bei Baudelaire mit dem komplementären Motiv der toten Augen ein weiterer leerer Blick gegenüber.40 Baudelaires Originalität besteht für Benjamin gerade darin, dass in den Fleurs du mal die Erfahrung der Aura immer schon durchbrochen ist von modernen Phänomenen der Fragmentierung und Diskontinuität. Wie der »spleen« »den Schwarm der Sekunden« gegen »die Kraft des Eingedenkens« im »idéal« (GS I.2, S. 641) aufbietet, so tritt das Motiv der »Augen, von denen man sagen möchte, daß ihnen das Vermögen zu blicken verlorengegangen ist« (GS I.2, S. 648), den »regards familiers« aus dem Gedicht Correspondances gegenüber. Vom Verlust einer Erfahrung, wie das in den »correspondances« aufscheinende Eingedenken der »Vorgeschichte« (GS I.2, S. 639), einer mit dem Menschen versöhnten Natur, sie noch behauptet, zeugt nicht allein die antithetische Struktur der Baudelaire’schen Lyrik, sondern in anderer Weise auch Prousts »private Veranstaltung« eines Eingedenkens mit ihrem »bruchlosen Gelingen der Endabsicht« (GS I.2, S. 643).41 Die sich darin andeutende – und von Benjamin ob ihrer Privatheit und Isolation problematisierten – Möglichkeit einer Aura, die sich von kultischen, traditionellen Elementen losgelöst hat, scheint er, wie aus einigen Notizen zum Baudelaire-Essay hervorgeht, auch in einer anderen Richtung zumindest in Erwägung gezogen zu haben: »vielleicht ist es notwendig, es mit dem Begriff einer von kultischen Fermenten gereinigten Aura zu versuchen? Vielleicht ist der Verfall der Aura nur ein Durchgangsstadium, in dem sie ihre kultischen Fermente ausscheidet um sich mit noch nicht erkennbaren anzunähern [anzureichern? J.G.42]. Die auf das Spiel bezügliche Stel[l]e der Reproduktionsarbeit heranziehen.« (GS VII.2, S. 753)
An der entsprechenden Stelle der zweiten Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes wird das Spiel als der wesentliche Zug der neueren, ›zweiten‹, Technik bestimmt, der es nicht mehr auf Naturbeherrschung im engeren Sinn früherer, ›erster‹, Technik, die für Benjamin bis auf magische Ritualpraktiken zurückgeht, ankommt, sondern auf ein experimentelles »Zusammenspiel zwischen der Natur und der Menschheit« (GS 40 Vgl. GS I.2, S. 648 f.; vgl. auch Fürnkäs: Aura, S. 136. 41 Vgl. zu Benjamins Proust-Deutung unten, den Anfang des Kapitel zu Kracauer. 42 Das ebenfalls abgedruckte Faksimile des Manuskriptblatts erlaubt auch eine andere Lesart als die der Herausgeber – möglich wäre natürlich auch, dass das vorangehende »mit« auf einem Verschreiben Benjamins beruht.
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VII.1, S. 359). Das utopische Bild einer von der Technik versöhnten Natur verbindet Benjamin mit der Ablösung des einen der in der »Mimesis als dem Urphänomen aller künstlerischen Betätigung« (GS VII.1, S. 368) wirksamen Pole durch den anderen: die Ablösung des Scheins durch das Spiel. Beide Momente, die, wie es die Lehre vom Ähnlichen nahelegt, in den »mimetischen Verhaltensweisen« des Kindes wie ԟ in einer zweifellos problematischen Parallele ԟ der »alten Völker oder auch der Primitiven« (GS II.1, S. 205 f.) noch nicht auseinandergetreten seien, entsprechen der Gegenüberstellung von Kultwert und Ausstellungswert. Das Überhandnehmen des Letzteren durch den massenhaften Gebrauch der Reproduktionstechniken eröffnet »mit der Verkümmerung des Scheins, dem Verfall der Aura in den Werken der Kunst, […] ein[en] ungeheure[n] Gewinn an Spiel-Raum« (GS VII.1, S. 369). Dies zielt zweifellos auf den Film und die Fotomontage ab oder auch die »profane Erleuchtung« (GS II.1, S. 307) der Surrealisten.43 Doch es ist durchaus denkbar, dass etwa auch Karl Bloßfeldts Nahaufnahmen von Pflanzen einen »Kosmos der Ähnlichkeiten« erschließen, von dem die Ähnlichkeiten von »Architekturen und Pflanzenformen« (GS VI, S. 192), wie es in einem Fragment Zur Astrologie heißt,44 nur ein Teil seien. Die neuen Möglichkeiten der Fotografie deuten sich nicht zuletzt darin an, dass sie »die Differenz von Technik und Magie als durch und durch historische Variable ersichtlich […] machen« (GS II.1, S. 371 f.).
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Die Möglichkeiten einer ›neuen Aura‹ bleiben bei Benjamin freilich im Vagen. Signifikanter vielleicht als die spärlichen Hinweise in diese Richtung ist das Fehlen einer entsprechenden theoretischen Ausarbeitung.45 Die Fotografie allerdings partizipiert als Übergangsmedium zwischen traditioneller und nicht-auratischer Kunst durchaus am Phänomen der Aura. In gewisser Weise ist es gerade diese Schwellen43 Nicht zuletzt ist für Benjamin die »surrealistische Photographie« die »einzige[ ] wirklich breite[ ] Kolonne, die der Surrealismus hat in Bewegung setzen können« (GS II.1, S. 378). 44 Vgl. zur Andeutung eines Zusammenhangs zwischen der Aura, der Astrologie und dem mimetischen Vermögen die Notiz zur Lehre vom Ähnlichen bzw. Über das mimetische Vermögen in GS II.3, S. 958. 45 Fürnkäs’ abschließender Frage zu seinem Artikel kann ich mich daher nur anschließen: »So mag zuletzt die Frage erlaubt sein, ob Benjamins ›Lust, Abschied zu nehmen‹ (III, 197) vielleicht nur deshalb auf den Spuren der Aura das Wort Aura in den Mund nimmt, um schließlich besser davon zu schweigen.« (Josef Fürnkäs: Aura. In: Michael Opitz/Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, Bd. 1, S. 95146, S. 143).
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situation, die in der Kleinen Geschichte der Photographie die Verwendung des Begriffs motiviert. Zugleich wird dabei ein weiteres Mal dessen strategischer Wert deutlich, denn mit den Zusammenhängen der Tradition oder des schönen Scheins ist die Aura hier zunächst nur bedingt in Einklang zu bringen. Sie leitet sich vielmehr aus einer historischen Konstellation ab, in der »jedem Kunden im Photographen vorab ein Techniker nach der neuesten Schule entgegentrat, dem Photographen aber in jedem Kunden der Angehörige einer im Aufstieg befindlichen Klasse mit einer Aura, die bis in die Falten des Bürgerrocks oder der Lavallière sich eingenistet hatte« (GS II.1, S. 376). Mehrere Faktoren spielen in diese komplexe Relation von Technik, Fotograf und Fotografierten hinein.46 Sozusagen als »einmalige Erscheinung« trifft in den frühen Fotoporträts der Aufstieg einer neuen Technik mit den Repräsentationsbedürfnissen einer aufstrebenden Klasse zusammen. Wie die Bourgeoisie die Herrschaft des Adels ablöste, so begann die Fotografie »von der Malerei die Stafette zu übernehmen« (GS II.1, S. 374).47 Die Wahrnehmung dieses Momentes ist hier wieder bedingt durch dessen konstellative Verschränkung mit einer Gegenwart, in welcher die Avantgardefotografie erneut »von der Malerei die Stafette sich geben« (GS II.1, S. 382) lässt. Aus der Perspektive einer ›postauratischen‹ Avantgarde-Kunst, die in der frühen Fotografie einen historischen Umschlag erkennen lässt, ist auch Benjamins Hinweis auf das »technische[ ] Bedingtsein der auratischen Erscheinung« (GS II.1, S. 376) zu lesen.48 Einerseits geht es hier um eine »›Synchronie‹ von Wahrnehmung und Technik«,49 also wieder eine momentane historische Konstellation. Zugleich hat Benjamins Betonung des technischen Moments strategischen Wert. Bereits der Hinweis, die Aura werde »von Hause aus mit der Verdrängung des Dunkels durch lichtstärkere Objektive aus dem Bilde […] verdrängt« (GS II.1, S. 377) überführt die ursprüngliche spiritistische Bedeutung der Aura als Lichtkreis in den Bereich der Technik.50 Ähnlich verhält es sich hinsichtlich des vieldiskutierten Felds Fotografie und Kunst. 46 Vgl. auch die klare Darstellung bei Stiegler: Theoriegeschichte, S. 262 f. 47 Vgl. zur Funktion der Fotografie als Nachfolge des Adelsporträts: Gisèle Freund: Photographie und Gesellschaft. Aus dem Französischen von Dietrich Leube. Reinbek: Rowohlt 1979, S. 26; Benjamin hebt in seiner Rezension von Freunds Dissertation (auf der Photographie und Gesellschaft basiert) besonders diesen Aspekt hervor (vgl. GS III, S. 542). 48 Vgl. zu den Irrtümern Benjamins hinsichtlich der frühen Kameratechnik: Heinz W. Puppe: Walter Benjamin on Photography. In: Colloquia germanica 12 (1979), S. 273-291, S. 286. 49 Stiegler: Theoriegeschichte, S. 263. 50 Vgl., zwar mit Verkürzungen hinsichtlich Benjamins Aura-Begriff, zum Komplex von spiritistischer Aura und Fotografie: Wolfgang Braungart: Walter Benjamin, Stefan George und die Frühgeschichte des Begriffs der Aura. Anmerkungen mit Blick auf die Geschichte des fotografischen Porträts. In: Castrum Peregrini 46/230 (1997), S. 38-51.
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Immer wieder betont Benjamin den nicht-künstlerischen Aspekt der frühen Fotografie, die »handwerkliche Vorbildung« (GS II.1, S. 374) der ersten Fotografen, die ihnen mehr als ihre künstlerische zugute kam. Die Wirkung der frühen Fotografien rührt gerade daher, dass sie zwar noch an Funktionen der Malerei partizipierten, in ihnen aber bereits der »fetischistische, von Grund auf antitechnische Begriff von Kunst« (GS II.1, S. 369) einer idealistischen Ästhetik, die mit den im KunstwerkAufsatz verworfenen Kategorien von »Schöpfertum« und »Genialität« (GS VII.1, S. 350) operiert, in seiner Hinfälligkeit sichtbar wird. Die Verschränkung kultureller und technischer Faktoren im Begriff der Aura tritt vielleicht nirgends so deutlich hervor wie in Benjamins dichter Beschreibung der Friedhofsbilder Hills. Entscheidend ist dabei, dass die frühe Porträtfotografie in mehrfacher Hinsicht durch eine Dauer bestimmt war, in der sich kulturelle und soziale Bedürfnisse sowie technische Möglichkeiten genau entsprachen: »alle Möglichkeiten dieser Porträtkunst beruhen darauf, daß noch die Berührung zwischen Aktualität und Photo nicht eingetreten ist. Auf dem Edinburgher Friedhof von Greyfriars sind viele Bildnisse Hills entstanden – nichts ist für diese Frühzeit bezeichnender, es sei denn, wie die Modelle auf ihm zu Hause waren. Und wirklich ist dieser Friedhof nach einem Bilde, das Hill gemacht hat, selbst ein Interieur, ein abgeschiedener, eingehegter Raum, wo, an Brandmauern gelehnt, aus dem Grasboden Grabmäler aufsteigen, die, ausgehöhlt wie Kamine, in ihrem Innern Schriftzüge statt der Flammenzungen zeigen. Nie aber hätte dies Lokal zu seiner großen Wirkung kommen können, wäre seine Wahl nicht technisch begründet gewesen. Geringere Lichtempfindlichkeit der frühen Platten machte eine lange Belichtung im Freien erforderlich. Diese wiederum ließ es wünschenswert scheinen, den Aufzunehmenden in möglichster Abgeschiedenheit an einem Orte unterzubringen, wo ruhiger Sammlung nichts im Wege stand. […] Das Verfahren selbst veranlaßte die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus, sondern in ihn hinein zu leben; während der langen Dauer dieser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein […]. Alles an diesen frühen Bildern war angelegt zu dauern […].« (GS II.1, S. 372 f.)
Im Gegensatz zur Staffage eines nachgebildeten Interieurs in der späteren PorträtFotografie verdankt sich die eigentümliche Wirkung dieser Bilder der Entsprechung von Mensch, Technik und dem aus deren Notwendigkeiten heraus gewählten Setting. Die einzelnen Faktoren treffen sich im Begriff der Dauer. Die Bilder selbst waren auf Dauer angelegt und zugleich durch die Dauer der Aufnahmezeit bestimmt, die den Modellen eine stärkere Sammlung abverlangte, als dies bei späteren Aufnahmen der Fall ist.51 Vor allem das nachträgliche Wissen um die Bedeutung der Technik und der Kontrast der Dauer zur Flüchtigkeit der jüngeren Fotografie ru51 Vgl. Eric Downing: After images. Photography, archaeology, and psychoanalysis and the tradition of Bildung. Detroit: Wayne State University Press 2006, S. 231 ff.
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fen so den entsprechenden Eindruck hervor; wie gezeigt bewertet Benjamin in Über einige Motive bei Baudelaire die Wirkung der langen Belichtungszeit ganz anders. Die Betonung des technischen Aspekts richtet sich auch auf das, was bereits bei der Besprechung von Hills Fotografie des ›Fischweibs von New Haven‹ die Fotografie als Gedächtnismedium vor der Malerei auszeichnete.52 Während deren Bilder am Ende nur »als Zeugnis für die Kunst dessen, der sie gemalt hat«, gelten, bleibt in jener »etwas, was im Zeugnis für die Kunst des Fotografen Hill nicht aufgeht, […] ungebärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat« (GS II.1, S. 370). In diesen Bildern ist eine neue Dauer des Subjekts ermöglicht, gerade weil sie sich dem Diskurs der Kunst entziehen.53 Was einst »eines der Paradestücke, die Virtuosität des Künstlers zur Geltung zu bringen,«54 war, die »Falten, die ein Gewand […] wirft« (GS II.1, S. 373), wird nun zum Zeichen, dass dessen Träger seinen Tod überdauert: »Man betrachte nur Schellings Rock; der kann recht zuversichtlich mit in die Unsterblichkeit hinübergehen« (GS II.1, S. 373). Aus diesen Gründen entfaltet auch die Wahl des Friedhofs als Aufnahmeort ihre besondere Wirkung. Keine einfache Symbolik oder Metaphorizität55 des Ortes begründet dessen Bedeutung, sondern die Zwanglosigkeit, mit der er sich in die technischen und sozialen Erfordernisse der Dauer einfügt. So wie die Grabsteine den Modellen eine Stütze während der langen Belichtungszeit gaben, so geben sie mit dem Verweis auf eine Dauer, die über den Tod hinaus bestehen kann, der Hoffnung auf eine Bewahrung im Bild Ausdruck. Die Symbolik der Grabsteine wird nicht im Bild selbst konstruiert, sondern als bereits vorliegende in dieses integriert. Damit ist der Friedhof gerade nicht das Zeichen einer Komplizenschaft der Fotografie mit dem Tod und die Botschaft jener Fotos ist eben nicht: »we live as if we were always in a cemetery, and we live in this deadly way among and as inscriptions«.56 Was immer es heißen mag, als Inschrift zu leben, an dieser Stelle scheint die Erwähnung der Grabinschriften eher noch wie eine mise en abyme zu funktionieren. Die Transformation des Bilds in den Text der Beschreibung findet das Bild selbst schon von der Schrift markiert – einer Schrift aber, die in einen Grabstein gemeißelt ist, zum dauerhaften Gedenken an die Toten. Statt einer pathetisch symbolisierten Synony52 Vgl. den Abschnitt zu Barthes und Benjamin im vorhergehenden Kapitel. 53 Zugleich wird diese Dauer natürlich erst garantiert durch den Text, der auf jenes Element fokussiert. Das ›Fischweib von New Haven‹ – Elizabeth Hall – bleibt im Gedächtnis nicht zuletzt deshalb, weil Benjamin ihr eine seiner meistzitierten fototheoretischen Bemerkungen gewidmet hat. 54 Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin: Vorwerk 8 2000, S. 305. 55 Vgl. dagg.: Alan J. Bewell: Portraits at Greyfriars. Photography, History, and Memory in Walter Benjamin. In: Clio 12/1 (1982), S. 17-29, S. 22. 56 Cadava: Words of Light, S. 89 f.
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mie von Fotografie und Tod lässt sich aus dem Bild eine Erfahrung des Todes herauslesen, deren Verschwinden eines der zentralen Motive des Aufsatzes über den Erzähler darstellt. Mit der Unterbringung der Sterbenden in Hospitälern und ähnlichen Einrichtungen, heißt es dort, werde das Sterben »im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt«, so dass »im Gemeinbewußtsein der Todesgedanke an Allgegenwart und Bildkraft Einbuße leidet« (GS II.1, S. 449). In Benjamins vormoderner Welt des Erzählers ist dieser Todesgedanke noch aufgehoben in »einer Kollektiverfahrung, für die selbst der tiefste Chock jeder individuellen, der Tod, keinerlei Anstoß und Schranke darstellt« (GS II.2, S. 457). Von einer solchen Kollektiverfahrung kann auf den Bildern Hills und zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme zweifellos keine Rede mehr sein. Doch scheint noch etwas davon zu überdauern in den »unvergleichlichen Gruppen, zu denen die Leute zusammentraten – und deren Verschwinden gewiß eins der präzisesten Symptome dessen war, was in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in der Gesellschaft vorging« (GS II.1, S. 373). Eben dieses Verschwinden lässt sich auf späteren Fotografien nachverfolgen. Seinen Höhepunkt erreicht es in den von Benjamin enthusiastisch besprochenen menschenleeren Bildern Atgets. Benjamins Kommentar zu den Fotografien Hills stellt demnach weniger eine Aussage zur ›wesentlichen‹ Verbindung der Fotografie mit dem Tod dar als vielmehr eine weitere Kennzeichnung der historischen Zwischenstellung früher Fotografie, im Rahmen derer sie noch an Funktionen früherer Gedenkpraktiken partizipiert, bevor sie unter veränderten sozialen, ökonomischen, technischen und ästhetischen Bedingungen zum Medium einer wachsenden Beschleunigung wird. Doch ist die Einsicht selbst wieder an einen kurzen Moment gebunden. Sie stellt sich, gemäß Benjamins Theorie historischer Erkenntnis, im Text selbst »blitzhaft« ein. In einer bemerkenswerten Formulierung schließt er das Verschwinden der »unvergleichlichen Gruppen« mit der Entwicklung der Fotografie im 19. Jahrhundert zusammen: »Besonders manche Gruppenaufnahmen halten ein beschwingtes Miteinander noch einmal fest, wie es hier für eine kurze Spanne auf der Platte erscheint, bevor es an der ›Originalaufnahme‹ zugrunde geht« (GS II.1, S. 376). Verschiedene Zeitebenen treten hier ineinander. Das Erscheinen auf der Platte kann sich im Grunde nur auf die Belichtungszeit beziehen, oder, was angesichts einer etwa 80 Jahre alten Fotografie ebenso unsinnig wäre, auf das Erscheinen des Bilds im Entwicklerbad. Jedoch geht der Hinweis auf die kurze Spanne des Erscheinens in eine andere Richtung. In ihr ist jenes Jetzt der Erkennbarkeit gefasst, in dem der historische Index des Bilds – der Verweis auf eine Situation, in der sich »Objekt und Technik genauso scharf« entsprachen, »wie sie in der anschließenden Verfallsperiode auseinandertreten« (GS II.1, S. 376) – erst von diesem Verfall her erfasst werden kann. Das »hier« im zitierten Satz bezieht sich sowohl auf die Fotografie wie auf den Ort, in dem diese als Objekt historischer Erkenntnis konstituiert wird: den Text der Kleinen Geschichte der Photographie. Objekt und Beschreibung entsprechen sich dabei
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solchermaßen, dass der Text seine eigene Operation mittels der Fotografie konzeptualisiert, die Fotografie aber erst im Text das letzte Winken der Aura zum Vorschein bringt. In der Ursache für deren Zugrundegehen wird deutlich, dass der Verfall der Aura sich bei Benjamin komplexer darstellt denn als bloßer, und an beliebte ›postmoderne‹ Topoi anschlussfähiger, ›Verlust des Originals‹.57An dieser Stelle resultiert er vielmehr daraus, dass die Fotografie unter die Kategorien subsumiert wird, die mit ihr ins Wanken geraten: Der Begriff der ›Originalaufnahme‹ ist im Grunde ein Oxymoron, denn »die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn« (GS I.2, S. 442, S. 482; VII.1, S. 357). Wenn sie dennoch aufkommt, so kann sie dies nur im Rahmen sozialer Praktiken, die, indem sie die Fotografie unter dem Aspekt der Kunst angehen, in und mit ihr auratische Wahrnehmungsformen zu konservieren suchen. Die Versuche einer solchen Konservierung oder Restaurierung von Aura, die Suche nach dem Original, als die Serienproduktion seinen Begriff obsolet macht, lässt sich in den Kontext einer Restitution von Ursprüngen stellen, der ›Erfindung von Tradition‹ in einer Zeit, in der alle »festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen aufgelöst«58 werden. Auch Benjamins Darstellung des bürgerlichen Interieurs zielt auf die Kompensation des Ausfalls kollektiv abgesicherter auratischer Wahrnehmungsformen durch den »Privatmensch« ab: »In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit« (GS V.1, S. 52). Während die »historische Zeugenschaft« des auratischen Kunstwerks sich aus dessen »Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition« herleitete, schlägt der Versuch, im 19. Jahrhundert diese Einbettung herzustellen, in historistischen und exotistischen Eklektizismus um, der auch in der fotografischen Ästhetik der Zeit seine Spuren hinterlässt: »über das Interieur des bürgerlichen Speisezimmers schiebt sich ein Festsaal Cesare Borgias, aus dem Boudoir der Hausfrau steigt eine gotische Kapelle heraus, das Arbeitszimmer des Hausherrn spielt irisierend in das Gemach eines persischen Scheichs hinüber. Die Photomontage, die uns solche Bilder fixiert, entspricht der primitivsten Anschauungsform dieser Generationen.« (GS V.1, S. 282)
Hier ist offensichtlich nicht von der avantgardistischen Fotomontage der zwanziger und dreißiger Jahre die Rede, sondern eher dürften Montagepraktiken im Hintergrund stehen, die, wie beispielsweise in O. G. Reijlanders The two ways of life, auf 57 Vgl. zu einem solchen simplifizierenden Zugang zu Benjamins Fototheorie allgemein: Mary Price: The Photograph. A Strange Confined Space. Stanford: Stanford University Press 1994, S. 47 ff. 58 Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies.: Werke. Berlin: Dietz 1977, Bd. 4, S. 459-493, S. 465.
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malerische Gestaltungsmittel zurückgriffen.59 Der Versuch, mittels nachträglicher Retuschen, Gummidruck und ähnlichen Verfahren Fotos an Sehgewohnheiten aus der Malerei anzunähern, mithin so etwas wie eine ›Kunstaura‹ in der Fotografie herzustellen, zeugt allerdings umso nachdrücklicher von deren Krise. Zwar spricht Benjamin im Fall der Retusche von Fotografien von einem »Verfall des Geschmacks« (GS II.1, S. 374), und nicht von einem Verfall der Aura, mit der Formulierung eines ›Vortäuschens der Aura‹ sowie den positiven Konnotationen der ›Reinigung der Atmosphäre‹ durch Atgets »Befreiung des Objekts von der Aura« (GS II.1, S. 378) ist der Bruch in der Begriffsverwendung allerdings deutlich. Jene, wenn man so will, ›falsche‹ Aura resultiert aus einer in gewisser Weise anachronistischen Verkennung der Möglichkeiten des Mediums, wenn es, statt auf seine Konsequenzen für den überkommenen Diskurs der Ästhetik hin betrachtet zu werden, umstandslos in diesen eingebunden wird. Ein Beispiel aus dem Zweiten Pariser Brief illustriert die Problemstellung sehr dicht: »Man schrak nicht davor zurück, den Bildhauer Kallimachus zu photographieren, wie er beim Anblick einer Akanthuspflanze das Korinthische Kapitäl erfindet; man stellte die Szene, wie ›Leonardo‹ die ›Mona Lisa‹ malt, und diese Szene photographierte man« (GS III, S. 503). Mit solchen, sowohl von der Darstellungsweise wie vom Sujet bestimmten, Anbindungen der Fotografie an vorhergehende Kunstformen und ihrem Festhalten an überkommenen Vorstellungen vom ›Schöpfertum‹ ist implizit bereits das Gegenbeispiel aufgerufen. Auch Bloßfeldts Fotografien von Pflanzen als Urformen der Kunst legen eine Verbindung von Kunst und Natur nahe. Sie tun dies aber nicht, indem sie eine unmittelbare Nachahmung der Natur durch den Künstler selbst wieder nachstellen, sondern machen in einer »großen Überprüfung des Wahrnehmungsinventars« (GS III, S. 151) erst »innere Bildnotwendigkeiten« (GS III, S. 151) sichtbar, aus der solche Nachahmungen entspringen könnten. Benjamins Kritik der künstlerischen Fotografie des späten 19. Jahrhunderts zielt damit auch auf die Ungleichzeitigkeit der ästhetischen Wahrnehmung und der durch die Technik eröffneten Möglichkeiten ab. Eben diese Ungleichzeitigkeit bestimmt in der Kleinen Geschichte der Photographie auch die Opposition der Porträtfotografie des späten 19. Jahrhunderts zur frühen, auratischen Fotografie, »auf welcher die Menschen noch nicht abgesprengt und gottverloren in die Welt sahen« (GS II.1, S. 376):
59 Vgl. hierzu z.B. Mike Weaver: Künstlerische Ambitionen. Die Versuchung der schönen Künste. In: Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, S. 185-195, zu The Two Ways of Life v.a. S. 188; Beaumont Newhall: Geschichte der Photographie. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 75 ff.; Fotomontagen waren bei diesen künstlerischen Ambitionen allerdings nicht unbedingt das bevorzugte Verfahren.
94 | W ALTER B ENJAMIN »Damals sind jene Ateliers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten und aus denen ein erschütterndes Zeugnis ein frühes Bildnis von Kafka bringt. Da steht in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art Wintergartenlandschaft. Palmwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen unmäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben. Gewiß, daß es in diesem Arrangement verschwände, wenn nicht die unermeßlich traurigen Augen diese ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen würden.« (GS II.1, S. 375)
Der Unterschied zur Beschreibung der Fotografien Hills könnte kaum größer sein. Die Einrichtung des Ateliers, die in früheren Jahren durchaus noch als Stütze der Porträtierten diente, auch wenn sie diese Funktion bereits mit Staffage-Elementen zu kaschieren suchte, ist nun nur noch schwülstiges Stilelement, dem das Modell sich einzufügen hat. Einzig sein Blick scheint das Kind in der Beschreibung aus dieser Umgebung herauszuheben. Er ist aber auch das Unterscheidungsmerkmal, das diese Fotografie von den frühen Bildern trennt. Um die Menschen war auf diesen Bildern »eine Aura […], ein Medium, das ihrem Blick, indem er es durchdringt, die Fülle und Sicherheit gibt« (GS II.1, S. 376). Jene Sicherheit des Blicks weicht, wie gezeigt, bei der späteren Fassung der Aura in Über einige Motive bei Baudelaire einer fatalen Verunsicherung des Subjekts angesichts der Kamera. Um eine Blickerwiderung im Sinne des späteren Texts geht es in der Kleinen Geschichte der Photographie freilich noch nicht. Der Begriff der Aura zielt hier schließlich auf andere Zusammenhänge ab. In ganz anderer Weise als im Baudelaire-Essay trifft die »Definition der Aura als der Ferne des im Angeblickten erwachenden Blicks« (GS V.1, S. 396) auf die Verwendung des Begriff in der Kleinen Geschichte der Photographie zu. Der Blick erwacht hier erst unter dem Auge des späteren Betrachters, der angesichts der zeitlichen Ferne, die ihn von den ersten Fotografien trennt, die »diskrete Zurückhaltung« (GS II.1, S. 372) ihrer Modelle wahrnimmt. Es ist aber keine unmittelbare, wörtliche Erwiderung des Blicks. Vielmehr wird gerade die Scheu vor den Bildern, die nach Zeugnissen der Frühzeit mit der Furcht verbunden war, dass der Blick von den Fotografierten zurückgegeben werden könnte, zum Zeichen für den damals der Aufnahme noch zukommenden »magischen Wert« (GS II.1, S. 371). Sie garantierte eine Distanz, die mit dem Eintritt der Fotografie in die Warenwirtschaft zunehmend schwindet. Überbrückt wird diese bezeichnenderweise durch das »›sehen dich an‹ von Tieren, Menschen oder Babys […], das den Käufer auf so unsaubere Weise einmengt« (GS II.1, S. 372). Nicht jede Erwiderung des Blickes bringt auch gleich die Aura mit sich.
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Das im Baudelaire-Aufsatz benannte »Tödliche« der Fotografie betraf – wenn auch im Zusammenhang nicht ausschließlich – die Erfahrung vor dem Apparat.60 Sie wäre nun auf das Bild von Kafka zu beziehen, wenngleich in der zitierten Passage zweifellos eher die Staffage, in der das Kind zu verschwinden droht, als der ›Blick‹ des Objektivs das dominante Element ist. Der Blick des Kinds kann hier nur zum Indiz für dessen Qual beim Fotografen werden, das sich der nachträglichen Entzifferung in der Beschreibung erschließt.61 Zwangsläufig muss sich die Perspektive des späteren Betrachters an solche Indizien halten. Doch während in der Beschreibung der frühen Fotografien die historische Distanz die Verwendung des Aura-Begriffs motivierte, betrifft der Blick aus dem Kinderporträt die eigene Lebensgeschichte. Schon in der Kleinen Geschichte der Photographie wird der Absatz zur verkitschten Porträtfotografie des späten 19. Jahrhunderts mit der »Schande« (GS II.1, S. 375), sich selbst auf solchen Bildern sehen zu müssen, eingeleitet. In den beiden frühen Fassungen der Berliner Kindheit62 überträgt Benjamin die Beschreibung des Fotos von Kafka schließlich in den Zusammenhang der eigenen Erfahrung. Zugleich inszeniert diese Übertragung in der Beschreibung das Spannungsfeld von fotografischen und sprachlichen Prozessen.
3. D AS P ORTRÄT : ÄHNLICHKEIT , E NTSTELLUNG UND LITERARISCHES E RINNERN In enger Bindung an die zeitgleich entwickelte Lehre vom Ähnlichen beschreibt Benjamin im Die Mummerehlen betitelten Abschnitt der Berliner Kindheit, wie dem Kind sprachliche Missverständnisse die Welt »auf gute Art« verstellten: »es wies die Wege, die in ihr Inneres führten« (GS IV.1, S. 261). Wie die »Muhme Rehlen« des Kinderlieds dem Kind als das jeder Bedeutung entleerte Wort »Mum60 Es ist tatsächlich auffällig, dass Benjamin in der Kleinen Geschichte der Photographie noch vom Verhältnis des Fotografen zum Modell spricht, während von jenem im Baudelaire-Aufsatz keine Rede mehr ist. 61 Versuche, aufgrund dieses Blicks das Bild selbst wieder mit einer Aura zu belegen, wie dies jüngst Duttlinger tut, blenden die textinterne Funktion des Begriffes aus. Die Bezeichnung des Kafka-Bilds als »Pendant der frühen Photographie« (GS II.1, S. 375) führt in diesem Zusammenhang weniger eine »unsettling ambivalence in Benjamin’s argument« ein, als einen dialektischen Gegensatz (vgl. Carolin Duttlinger: Imaginary Encounters: Walter Benjamin and the Aura of Photography. In: Poetics Today 29/1 (2008), S. 79-101, S. 88 f.). 62 Zu den Fassungen der Berliner Kindheit vgl. den Bericht der Herausgeber in GS VII.2, S. 691 ff.
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merehlen« Ähnlichkeiten in der Welt erschließt, die der, wie Benjamin es in der Lehre vom Ähnlichen nennt, »semiotischen« Seite der Sprache (GS II.1, S. 208, S. 213) entgehen, so prägt sie als Fähigkeit, sich »in die Worte, die eigentlich Wolken waren, zu mummen« (GS IV.1, S. 261), auch den Bericht der Kindheit.63 In einer Kette von Substitutionen wandert die Mummerehlen, das »Flockige, das […] sich im Kern der Dinge wölkt«, durch die Orte, an denen das Kind sie vermutet: den »Dunst von Graupen« in der Suppe, die »trägen Wasser« des »Mummelsee[s]« (GS IV.1, S. 262) oder die »unentschlossenen Flocken des ersten Schnees« (GS VII.1, S. 418) in der ›Fassung letzter Hand‹. Das »Mummen«, in das die Mummerehlen sprachlich eingeht, betrifft schließlich den »Zwang[ ], ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den übten Worte auf mich aus« (GS IV.1, S. 261). Die in der durchs Missverständnis entstellten Sprache gefundenen Korrespondenzen agiert das Kind selbst aus: Über die Worte macht es sich den Dingen ähnlich. Doch kommt dieser spielerische Austausch mit der Welt an eine Grenze: »Nur meinem eigenen Bilde nie. Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographen. Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten, wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertieres. Am Ende brachte man mich einem roh gepinselten Prospekt der Alpen dar, und meine Rechte, die ein Gemsbarthütlein erheben mußte, legte auf die Wolken und Firnen der Bespannung ihren Schatten. Doch das gequälte Lächeln des kleinen Älplers ist nicht so betrübend wie der Blick, der aus dem Kinderantlitz, das im Schatten der Zimmerpalme liegt, sich in mich senkt. Sie stammt aus einem jener Ateliers, welche mit ihren Schemeln und Stativen, Gobelins und Staffeleien etwas vom Boudoir und von der Folterkammer haben. Ich stehe barhaupt da; in meiner Linken einen gewaltigen Sombrero, den ich mit einstudierter Grazie hängen lasse. Die Rechte ist mit einem Stock befaßt, dessen gesenkter Knauf im Vordergrund zu sehen ist, indessen sich sein Ende in einem Büschel von Pleureusen birgt, die sich von einem Gartentisch ergießen. Ganz abseits, neben der Portiere, stand die Mutter starr, in einer engen Taille. Wie eine Schneiderfigurine blickt sie auf meinen Samtanzug, der seinerseits mit Posamenten überladen und von einem Modeblatt zu stammen scheint. Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist. Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt.« (GS IV.1, S. 261)
Der Tempuswechsel in der Beschreibung vollzieht die Aufnahme der Fotografie nach. Die Situation des »kleinen Älplers«, dessen Hand in Inversion des Schattens,
63 Vgl. zu Benjamins Sprachtheorie in der Berliner Kindheit ausführlich: Werner Hamacher: The Word Wolke – if it is one. In: Studies in Twentieth Century Literature 11/1 (1986), S. 133-162.
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den der Zweig auf den Ruhenden in der Erfahrung der Aura wirft,64 einen Schatten auf die gemalte Gebirgslandschaft im Hintergrund legt, spielt sich noch in der erzählten Zeit der Kindheit ab, während der darauf folgende Wechsel ins Präsens dann den Übergang ins bereits aufgenommene Foto markiert. Die Beschreibung des zweiten Bilds, die sich so deutlich an der Beschreibung des Kinderbilds von Kafka orientiert, ist in der Gegenwartsform der Betrachtung gehalten; in ihr scheint das Kind wie im Foto selbst als bleibende Gegenwart dargestellt. Nur bei der Erwähnung der Mutter im Präteritum bleibt unklar, ob diese auf dem Bild selbst zu sehen ist oder außerhalb des Ausschnitts steht. Die Entstellung vor Ähnlichkeit an dieser Stelle allerdings ist mehrdeutig. Die im Bild des Flockigen und der Worte als Wolken noch amorph und fließend gefassten Ähnlichkeiten, die das Kind in der Sprache und im Spiel erfährt, sind nun als Entstellung im fotografischen Bild fixiert.65 Die Ähnlichkeit mit den Dingen ist allerdings kaum die vom Kind verlangte. Eine Variante zu der Stelle legt es zumindest nahe, die hier wirkende Mimikry als Ausweichstrategie zu lesen: »Denn das war die Tortur: daß wir uns selbst dort ähnlich zeigen sollten, während doch und gerade dort nichts ferner lag[,] so daß wir uns vielmehr […] dem straminbestickten [K]issen, das man uns untergeschoben hatte oder dem Ball, den man uns in die Hand gegeben hatte, ähnlich machten als einem Augenblicke unseres wirklich gelebten Lebens.« (GS VII.2, S. 794)66
Die verlangte »Ähnlichkeit mit mir selbst« liefe letztlich auf eine stabile Identität hinaus. Den vom Kind sprachlich erfahrenen und körperlich ausagierten Ähnlichkeiten steht der Abschluss der fotografischen Pose gegenüber,67 und mit ihr die ab-
64 »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.« (GS VII.1, S. 355). 65 Stüssi weist in dem Zusammenhang auf die Parallele zum Abschnitt Verstecke hin, in dem das spielerische Angleichen an die Dinge mit der Gefahr verbunden wird, für immer ins Versteck gebannt zu bleiben. Die Möglichkeit, »mit einem Schrei der Selbstbefreiung« (GS IV.1, S. 254) dieser Gefahr zu begegnen, ist auf dem Foto nicht mehr möglich (vgl. Anna Stüssi: Erinnerung an die Zukunft. Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977, S. 191). 66 Eckige Klammern bis auf die Auslassung durch die Hg. 67 Vgl. Anja Lemke: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 125: »nichts scheint besser geeignet, eine Art ›Gegenkonzept‹ zu den Analogiebeziehungen der entstellten Ähnlichkeit zu bilden, als die Photographie, dieses Medium des eingefrorenen Moments,
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bildliche Ähnlichkeit im Sinne der von Barthes verworfenen »ressemblance«. Wie diese – »chose dérisoire, purement civile, pénale même« (CC, S. 1179) – richtet sich auch die Pose im Studioporträt auf die öffentliche Erscheinung der Person, die sich über die in der Fotografie verkörperten identifizierenden Blicke der anderen und deren Antizipation konstituiert. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Fotografie als »micro-expérience de la mort« (CC, S. 1117) erfahren: als Einfügen des Subjekts in die objektivierenden Raster der öffentlichen Existenz, wie sie in der Pose vorweggenommen ist.68 Liest man die verschiedenen Tempora in der von Benjamin beschriebenen Szene als Hinweise auf die Zeitebenen der Aufnahme und der späteren Betrachtung, so wäre der Wechsel von Präteritum und Präsens bei der Erwähnung der Mutter in diesem Sinne konsequent: Selbst wenn sie nicht auf dem Bild anwesend ist, so war sie doch als kontrollierender Blick der elterlichen Autorität präsent. In der Fotografie von Kafka, die Benjamin als Vorlage diente, ist die Mutter jedenfalls nicht zu sehen.69 Mit der Überblendung der beiden Fotos aber wird die andere Seite der fotografischen Inszenierung von Identität deutlich: Die Fotografierten werden letztendlich nicht sich selbst ähnlich, sondern einander gleich.70 Gerade angesichts der immer das sich ausschließlich auf die Bannung der äußeren Form verlegt und keine Wandlung mehr zuläßt.« 68 Vgl. CC, S. 1116, S. 1179; das dieser Festlegung der Individualität im Bild widerstrebende, intertextuell bestimmte Subjekt-Verständnis Barthes’ kann wiederum, angesichts seiner Nähe zu Kristevas Begriff des Semiotischen, in einer gewissen Parallele zu Benjamins Theorie der »unsinnlichen Ähnlichkeiten« betrachtet werden (vgl. zu Analogien von Benjamins Mimesis-Konzeption und Kristevas Semiotischem: Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur. Reinbek: Rowohlt 1990, S. 26 ff.). Ein unmittelbarer Vergleich, wenn auch eher als Nebeneinander der jeweiligen Textstellen, findet sich in: Gabriele Röttger-Denker: Roland Barthes zur Einführung. Hamburg: Junius 1989, S. 107 ff. 69 Was nicht heißen soll, dass aus der Nähe der Beschreibung auch eine wirkliche Identität der Bilder gefolgert werden müsste ԟ schließlich kommt bereits durch den Wechsel von Kafka zum »Ich« eine fiktionale Komponente ins Spiel. Vgl. zum Kafka-Bild den Abbildungsteil am Ende von GS VII.1, Abb. 24. 70 Zur Abgrenzung der Ähnlichkeit bei Benjamin vom Begriff der Gleichheit vgl. Doris M. Fittler: »Ein Kosmos der Ähnlichkeit«. Frühe und späte Mimesis bei Walter Benjamin. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 414 ff.; auch wenn Fittler auf diesen Unterschied zu Recht hinweist, geht sie bei der Kommentierung der Mummerehlen-Episode ganz selbstverständlich von einem stabilen, selbstidentischen Ich aus, dem in der Ähnlichkeit mit den Dingen Gewalt angetan werde. Dementsprechend kann die Entstellung hier nur als Selbst-Entfremdung gefasst werden; die implizierten »subjekttheoretischen Fragestellungen« (ebd., S. 495), deren Verfolgung eine sehr viel komplexere Dialektik enthüllte, er-
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gleichen Posen der Porträtfotografie drängt sich Barthes’ Feststellung »personne n’est jamais que la copie d’une copie« (CC, S. 1179) geradezu auf. Allerdings geht es hier nicht nur um das Identische der Person in der repetitiven Gleichheit ihrer Fotografien, sondern mehr noch um die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ im Imaginären bürgerlicher Subjektkonstruktionen: »Die Haltungen der Abgebildeten, ihre Posen weichen kaum voneinander ab. Sie wiederholen sich so häufig, daß bereits Zeitgenossen darüber klagten, daß das Foto keineswegs dem Einzelnen ähnle, sondern dem kollektiven Wunschbild, von dem sich die bürgerliche Gesellschaft bereits ein Bild gemacht hatte, bevor sie ins Atelier ging.«71
In gleicher Weise, wie sich hier die Personen über ihre normierte Repräsentation einander annähern, bildet ihre bürgerliche Identität selbst sich heraus. In den jeweiligen Beschreibungen der Kinderfotografien findet so im doppelten Sinne die Aufnahme des Kindes in die Vorstellungswelt der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts ihren Niederschlag. Das betrifft zunächst das Sujet des Bilds selbst: »Ein vom Anspruch repräsentativer Porträtkunst klar abgrenzbares Bildprogramm sah für Kinder die Position der Naiven vor; daher die exotistischen Zitate von Palmwedel und Tigerfell bis zum obligatorischen Matrosenanzug. Und doch ging diese ›Entdeckung der Kindheit‹ als eigener (und somit: fremder) Lebensphase einher mit ihrer Austreibung.«72
Diese Austreibung kündigt sich nicht zuletzt in der Disziplinierung des Kindes vor dem Apparat an. Doch spricht die Pose nicht bloß von dessen reiner Überwältigung. Sowohl in der Kleinen Geschichte der Photographie wie in der beinahe wörtlichen Übernahme der Bildbeschreibung im Essay über Kafka ist auch davon die Rede, dass die Augen des Knaben die »ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen« (GS II.1, S. 375).73 Die Kindheit wird hier nicht nur zum exotisierten Anderen, sondern mit der Herrschaft über diese Exotik als Nachahmung kolonialer Machtentfaltung kündigt sich gleichzeitig der Eintritt ins bürgerliche Leben an.74 wähnt Fittler lediglich, geht ihnen aber nicht weiter nach. Auch auf die noch anzusprechende Verbindung der Entstellung mit dem Vergessen geht sie nicht weiter ein. 71 Sigrid Schade: Posen der Ähnlichkeit. Zur wiederholten Entstellung der Fotografie. In: Erdle/Weigel (Hg.): Mimesis, Bild und Schrift, S. 65-81, S. 74. 72 Honold: Der Leser Walter Benjamin, S. 308. 73 Vgl. auch GS II.2, S. 416. 74 Vgl. Carolin Duttlinger: Kafka and photography. Oxford: Oxford University Press 2007, S. 27 ff., die darüber hinaus sehr schlüssig diese Dialektik von Unterwerfung und Herrschaft anhand des Kafka-Fotos auf Assimilationsbestrebungen des jüdischen Bürgertums
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Ist damit die der Konstitution bürgerlicher Subjektivität inhärente Dialektik von Ermächtigung und Unterwerfung im Studioporträt implizit sichtbar, so gilt dies umso mehr für die sozialen Verwendungsweisen der Fotografie. »Damals sind jene Ateliers […] entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten« (GS II.1, S. 375), heißt es in der Kleinen Geschichte der Photographie.75 Mit der Gegenüberstellung von Exekution und Repräsentation sind sozusagen die Pole gesellschaftlicher Anwendungen der Porträtfotografie benannt. Die Rolle der Fotografie als bürgerlicher Nachfolgerin des klassischen Adelsporträts ging einher mit ihrem Einsatz zur sozialen Klassifizierung und Kontrolle: »Wir sehen uns also mit einem doppelten System konfrontiert: einem Repräsentationssystem, das sowohl nobilitierend als auch repressiv wirken kann. Diese doppelte Funktion zeigt sich am deutlichsten im fotografischen Porträt. […] Die Fotografie unterminierte die mit dem Porträt verbundenen Privilegien, doch konnten diese auf einer neuen Grundlage mangels einer weitreichenden Nivellierung der sozialen Beziehungen wieder aufgebaut werden. […] Gleichzeitig begann das fotografische Porträt eine Rolle zu übernehmen, die kein gemaltes Porträt auf dieselbe gründliche und rigorose Weise hätte erfüllen können. […] So begann die Fotografie, das Terrain des anderen zu konstituieren und abzustecken und sowohl das verallgemeinerte Aussehen ԟ die Typologie ԟ als auch den kontingenten Einzelfall der Abweichung und des sozial Pathologischen zu definieren.«76
Vor diesem Hintergrund emanzipiert sich der Spur-Begriff bei Benjamin endgültig von der Aura. Die »Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge« (GS I.2, S. 546) machte erst Maßnahmen nötig, um in »der Spur […] der Sache habhaft« (GS V.1, S. 560) zu werden. Statt der Spuren der Tradition oder der Überlieferung, an denen die Dignität des Gegenstands auratischer Erfahrung sich erweist, geht es nun um die gezielte Produktion von Spuren. Diese sind nicht mehr zufälliges, aber unverzichtbares Beiwerk des Einzigartigen, sondern streng festgelegte Indizes zur Bestimmung des Individuums: »Am Anfang des Identifikationsverfahrens, dessen derzeitiger Stand durch die Bertillonsche Methode gegeben ist, steht die Personalbestimmung durch die Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. […] Die Phobezieht. Als weitere Implikation weist sie auf die Kehrseite dieser Funktion der Fotografie hin: die Rolle fotografischer Bilder beim Erstellen von ›Rassentypologien‹. 75 Vgl. auch in Franz Kafka (GS II.2, S. 416), wo jedoch nur von »Folterkammer und Thronsaal« die Rede ist. 76 Allan Sekula: Der Körper und das Archiv. In: Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie, S. 269-334, S. 273.
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tographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten.« (GS I.2, S. 550) 77
Angesichts der Zusammenstellungen von schriftlichen Angaben über die Person, der Unterschrift und einer entsprechend normierten Fotografie in diesen Identifikationssystemen gewinnt die Bemerkung, die »ersten reproduzierten Menschen traten in den Blickraum der Photographie unbescholten oder besser gesagt unbeschriftet« (GS II.1, S. 372), einen zusätzlichen Sinn. Auch wenn es wohl etwas zu einfach ist, die Aura »als staatliches Unwissen über den einzelnen«78 dingfest machen zu wollen, steht die Entstehung neuer Techniken der Überwachung im Umfeld jener Phänomene der Moderne, deren Gipfelpunkt in ästhetischer und gedächtnistechnischer Sicht mit dem Verfall der Aura gefasst wird. Die »Vermehrung der Spuren durch den modernen administrativen Apparat« (GS V.1, S. 297) betrifft schließlich auch Benjamins Situation in den dreißiger Jahren. Wenn er den Absatz, in dem er die Fotografie als »die einschneidendste Eroberung über das Inkognito des Menschen« beschreibt, mit der Bemerkung schließt: »Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen« (GS I.2, S. 550), hat er zweifellos die politische Situation seiner Zeit vor Augen. Vor diesem Hintergrund in den sukzessiven Überarbeitungen der Berliner Kindheit und insbesondere dem Streichen der Fotobeschreibung in der Fassung letzter Hand einen Versuch zu sehen, die eigene Identität als jüdischer Emigrant zu verbergen, überzeugt als These allerdings nicht.79 Zwar erlauben es die Unterschiede 77 Alphonse Bertillon war Direktor des Identifikationsbüros der Pariser Polizeipräfektur. Unter seiner Leitung wurde ein systematisches Ordnungssystem unter Verwendung standardisierter Fotos zur Identifikation von Delinquenten eingeführt; vgl. Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München: Fink 1999, zu Bertillon S. 130 ff., zum Vergleich der Inszenierung bürgerlicher Porträts und früher Verbrecherfotografien S. 40 ff.; vgl. zu Bertillons Archiv: Sekula, S. 297 ff. 78 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, S. 111. 79 Vgl. Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, S. 117 ff. (»Eine allgemeine Veränderung läßt sich markieren: Die Taktiken der optischen Unerkennbarkeit, die von den technischen/bürokratischen Erkennungsdiensten provozierte Verhüllung, verwandelt sich in zwei Phasen, vor und in der Berliner Kindheit, in das Anonymat des Akustischen.« (ebd., S. 118)); noch weiter geht Rugg, die in der Streichung des Kinderbilds in der Fassung letzter Hand einen Versuch sieht, Hinweise auf die jüdische Identität des Verfassers aus dem Text zu tilgen, um eine Publikation in Deutschland zu ermöglichen (vgl. Linda Haverty Rugg: Picturing ourselves. Photography & autobiography. Chicago, London: University of Chicago Press 1997, S. 179 ff.). Allerdings erschien gerade die frühe Fassung
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zwischen den verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit tatsächlich, das Verwischen distinkter Spuren als Verfahren des Texts zu betrachten,80 doch beträfe dies eher die Verfasstheit der Erinnerung an die Kindheit als die Erkennbarkeit ihres Verfassers. Abgesehen davon, dass gerade das Vorwort der Fassung letzter Hand Benjamins Exilsituation von vornherein benennt,81 ist es doch sehr zu bezweifeln, dass persönlichere Erinnerungen an die eigene Kindheit den Nazis einen »Steckbrief«82 an die Hand gegeben hätten. Auch in der letztlich gestrichenen Szene aus dem Fotoatelier erscheint mit der standardisierten Inszenierung bürgerlicher Porträtfotografie eher noch das Bild einer Klasse als das einer bestimmten Person. Um »Bilder […], in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt« (GS VII.1, S. 385) geht es schließlich in der Berliner Kindheit. Bild ist auch hier nicht die Fotografie selbst, sondern erst die Beschreibung, die die in jener verschlossene Erfahrung freizulegen sucht. Diese Erfahrung lässt sich auf die Verwendung der Fotografie zu Fahndungszwecken höchstens als dialektisches Gegenstück beziehen. Die Dualität von repräsentativem und kontrollierendem Gebrauch der Fotografie ist dabei Teil einer Dialektik der Spurensicherung in der Moderne, als dem Versuch, angesichts der zunehmenden Anonymität in der modernen Gesellschaft mithilfe eines Systems von Spuren die Parameter der Subjektivität festzulegen. Dem staatlichen »Bestreben, durch ein vielfältiges Gewebe von Registrierungen den Ausfall von Spuren zu kompensieren, den das Verschwinden der Menschen in den Massen der großen Städte mit sich bringt« (GS I.2, S. 549 f.), steht »im Bürgertum das Bestreben, sich für die Spurlosigkeit des Privatlebens in der großen Stadt zu entschädigen« (GS I.2, S. 548), gegenüber. Es entschädigt sich, indem es den privaten Raum der Wohnung zu einem Archiv von Spuren umgestaltet: »Die Etuis, die Überzüge und Futterale, mit denen der bürgerliche Hausrat des vorigen Jahrhunderts überzogen wurde, waren ebensoviele Vorkehrungen, um Spuren aufzufangen und zu verwahren« (GS V.1, S. 298). Die Gegenstände des Interieurs sind der Mummerehlen unter Benjamins Pseudonym Detlev Holz im Mai 1933 im Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung (vgl. den Textnachweis in GS IV.2, S. 971). Eine Erwähnung des Judentums strich Benjamin auf Anraten Scholems mit dem Stück Erwachen des Sexus tatsächlich. Dies jedoch, wie Scholem ausführt, v.a. weil, indem es die einzige explizite Erwähnung gewesen wäre, »eine besonders schiefe Assoziation geschaffen würde«, nicht aber, um eine Identifizierung als Jude zu verhindern (vgl. Walter Benjamin/Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940. Hg. v. Gershom Scholem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 36 f., v.a. S. 37, Anm. 3). 80 Vgl. Davide Giuriato: Mikrographien. Zu einer Poetologie des Schreibens in Walter Benjamins Kindheitserinnerungen (1932-1939). München: Fink 2006, S. 187. 81 Vgl. GS VII.1, S. 385. 82 Schneider, S. 117, S. 126.
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»Andenken«, in denen »die zunehmende Selbstentfremdung des Menschen, der seine Vergangenheit als tote Habe inventarisiert, sich niedergeschlagen hat« (GS I.2, S. 681). Die gesamte Wohnung wird so im 19. Jahrhundert zu »einer Art Gehäuse« (GS I.2, S. 549), das »den Abdruck seines Bewohners« (GS V.1, S. 292) trägt. Auch das Fotoatelier ist ein »Gehäuse«, in das die Fotografierten um ihrer Bewahrung willen eingebettet sind. In Benjamins Beschreibung wird es zur Allegorie des 19. Jahrhunderts: »Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr« (GS IV.1, S. 261). Von den im Foto aufgehobenen Spuren bleibt einzig die Hohlform übrig; die Erfahrung des Kinds ist vergessen und nur in der auf dem Bild wahrnehmbaren Entstellung bewahrt. Die Transformation der Fotografie bzw. der Staffage auf dem Bild in eine Muschelschale ist aber zugleich Teil der Überblendung des eigenen Bilds mit dem Kafkas. Eines der Details, die im Essay über Kafka bei der Beschreibung der Fotografie hervorgehoben werden, ist »die Muschel eines großen Ohrs«, das in die »Landschaft« des Ateliers »hineinhorcht« (GS II.2, S. 416). Gemeinsam mit dem Blick, der in allen Beschreibungen des Kinderbilds wiederkehrt,83 gibt wieder ein Detail des Bilds den Anstoß für die Beschreibung. Doch geht dieses Detail in der Transposition der Beschreibung selbst in Sprachprozesse ein, die der Entstellung der Worte durch das Kind vergleichbar sind. Wie im Fall der »Mummerehlen« das »Mummen« in Worte bereits im Wort selbst enthalten ist und im Text durchgespielt wird, verweist hier die Deskription zugleich auf das Verfahren. Die Entstellung des Kinds vor Ähnlichkeit mit seiner Umgebung wird im Übergang von einer Beschreibung zur nächsten mit der Produktion von Ähnlichkeiten in der Sprache nachvollzogen. Die Muschel verschiebt sich von einem Detail, dem Ohr, auf die Beschreibung des gesamten Bilds, das nun, dem Vexierbild, als das Benjamin in der Lehre vom Ähnlichen die Handschrift bezeichnet,84 vergleichbar, etwas freigibt, das einer an der fotografisch vermittelten Identität des Kinds interessierten Betrachtung verschlossen bleiben muss. Nicht die Ähnlichkeit des Kinds mit sich selbst, sondern seine Entstellung kommt in den Blick und mit ihr als verschüttete die Erfahrung der Kindheit selbst. Weigel hat darauf hingewiesen, dass der Begriff der Entstellung bei Benjamin auch im Sinne der von Freud beschriebenen Mechanismen der Traumarbeit zu ver83 Vgl. GS II.1, S. 375; II.2, S. 416; IV.1, S. 261; VII.2, S. 794; auffällig ist dabei, dass an den ersten beiden Stellen, die sich auf das Bild Kafkas beziehen, nur die traurigen Augen erwähnt werden, bei den beiden Beschreibungen, die dies aufs eigene Bild beziehen, »senkt« sich der Blick aber in den Betrachter. 84 Vgl. GS II.1, S. 208; vgl. auch die Notiz zum Mobiliar des 19. Jahrhunderts: »Vexierbilder als Schematismen der Traumarbeit hat längst die Psychoanalyse aufgedeckt. Wir aber sind mit solcher Gewißheit der Seele weniger als den Dingen auf der Spur.« (GS V.1, S. 281).
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stehen ist. Die Formulierung von der »im Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt« (GS II.1, S. 314) im Essay über Proust deutet demnach an, »daß jenen Ähnlichkeiten, die die Erinnerungsspuren in Prousts ›Recherche‹ strukturieren, immer auch ein Moment der Entstellung, d.h. der Traumarbeit eingeschrieben ist.«85 Indem die Fotobeschreibung in der Berliner Kindheit die ›Entstellung vor Ähnlichkeit‹ wiederholt, lässt sie sich als Nachvollzug der Entstellung von Gedächtnisspuren lesen, als verschobene Darstellung einer Erfahrung, die selbst nicht mehr zugänglich ist. Die mit dem Wort »Muschel« geschaffene »unsinnliche Ähnlichkeit« der Fotografie mit dem Ohr Kafkas transformiert diese in ein Textbild, das es erlaubt, in einer Art Inversion nicht etwa mit dem Bild zu hören, sondern die Alltagsgeräusche der Kindheit als Bild der unbewussten Gedächtnisspuren zu evozieren: »Ich halte sie ans Ohr. Was höre ich? Ich höre nicht den Lärm von Feldgeschützen oder von Offenbachscher Ballmusik, auch nicht das Heulen der Fabriksirenen oder das Geschrei, das mittags durch die Börsensäle gellt, nicht einmal Pferdetrappeln auf dem Pflaster oder die Marschmusik der Wachparade. Nein, was ich höre, ist das kurze Rasseln des Anthrazits, der aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen niederfällt, es ist der dumpfe Knall, mit dem die Flamme des Gasstrumpfs sich entzündet, und das Klirren der Lampenglocke auf dem Messingreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbeikommt, die beiden Klingeln an der Vorder- und der Hintertreppe; endlich ist auch ein kleiner Kindervers dabei: ›ich will dir was erzählen von der Mummerehlen.‹ Das Verschen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz.« (GS IV.1, S. 261f.)
Die Beschreibung eines Fotos, die sich nicht auf das Bild des Bürgertums, wie es sich dem Apparat präsentiert, sondern auf die Entstellung der Pose richtet und sie an die alltägliche Erfahrung des Kindes rückbindet, geht in die Evokation von Geräuschen über, die nicht von einer Militär-, Kultur- oder Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts erfasst werden. Nur auf die alltäglichen, kaum bewusst wahrgenommenen Klänge der elterlichen Wohnung kommt es an. Aus ihnen lassen sich die »Bilder […], in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt«, rekonstruieren (GS VII.1, S. 385). Das so gewonnene Bild geht als geschriebenes wieder auf technische Bilder jener Kindheit zurück. Das Geräusch des Gasstrumpfs taucht noch einmal am Ende des Texts auf. Auch hier wird das gewohnte Geräusch aus der Wohnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts verbunden mit einem Vers der Kindheit, der mit Motiven der Entstellung durchsetzt ist. Im letzten Satz der Berliner Kindheit »wispert« die Stimme des »bucklicht Männleins« aus dem Kinderlied, »welche an das Summen des Gas85 Vgl. Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 48.
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strumpfes anklingt, […] über die Jahrhundertschwelle mir die Worte nach: ›Liebes Kindlein, ach, ich bitt, / Bet fürs bucklicht Männlein mit‹« (GS IV.1, S. 304).86 Das bucklige Männlein ist eine im Werkkontext Benjamins äußerst vieldeutige und vielschichtige Figur.87 In engster Nähe zur ›entstellten Ähnlichkeit‹ in der Mummerehlen steht die Bestimmung des Buckligen im Essay über Kafka als »Urbild[ ] der Entstellung« und der Entstellung als der Form, »die die Dinge in der Vergessenheit annehmen« (GS II.2, S. 431). Dieses Vergessen betrifft auch das »Bucklicht Männlein« am Ende der Berliner Kindheit. Es ist »der Kokon, in den die Erinnerung sich einspinnt«,88 und aus dem sie nie anders als mit einem Moment der Entstellung entwickelt werden kann. In der hier zitierten Nachlassnotiz spricht Benjamin explizit von »Fehlleistungen, die entstehen, wenn das bucklige Männlein uns helfen will«.89 Dies muss sich nicht nur auf das »Ungeschick« des Kindes beziehen, sondern auch auf die entstellte Sprache der Erinnerung. Tatsächlich trägt das Spiel mit Mehrdeutigkeiten im Abschnitt über das »Bucklicht Männlein« dazu bei, Sinn in einzelnen Formulierungen zu verdichten und ihn im Fortgang des Diskurses zu verschieben: »Das Männlein kam mir überall zuvor. Zuvorkommend stellte sich’s in den Weg. Doch sonst tat er mir nichts, der graue Vogt, als von jedem Ding den Halbpart des Vergessens einzutreiben: ›Will ich in mein Stüblein gehn, / Will mein Müslein essen: / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat’s schon halber ’gessen.‹« (GS IV.1, S. 303)
Der »Halbpart des Vergessens«, der nicht allein die Hälfte des »Müsleins« betrifft, sondern auch das Verb ԟ »’gessen« ist schließlich auch eine ›entstellte‹ Form von »vergessen« ԟ, macht die nachträgliche Rekonstruktion notwendig. »Wo es erschien, da hatte ich das Nachsehen. Ein Nachsehen, dem die Dinge sich entzogen […]« (GS IV.1, S. 303): Die Nachträglichkeit der Erinnerung ist der Tollpatschigkeit des Kinds analog; auch der Erinnernde steht vor einem »Scherbenhaufen« (GS IV.1, S. 303) einzelner Bilder. 86 Vgl. GS VII.1, S. 430: »Seine Stimme, die wie das Summen des Gasstrumpfes ist […].« 87 Vgl. hierzu Burkhardt Lindner: Engel und Zwerg. Benjamins geschichtsphilosophische Rätselfiguren und die Herausforderung des Mythos. In: Lorenz Jäger/Thomas Regehly (Hg.): »Was nie geschrieben wurde, lesen«. Frankfurter Benjamin-Vorträge. Bielefeld: Aisthesis 1992, S. 236-265, v.a. S. 245 ff. S. 254 ff. 88 Nachlassnotiz zum Bucklicht Männlein (Akademie der Künste, Berlin, Walter Benjamin Archiv, Ms 906; hier zitiert nach dem Transkript in: Giuriato: Mikrographien, S. 286). 89 Zit. nach Giuriato: Mikrographien, S. 286; auch Meiffert spricht von »ungeschickten Fehlleistungen des Kindes«, in denen die »verdrängten mimetischen Erfahrungen« wiederkehrten (Torsten Meiffert: Die enteignete Erfahrung. Zu Walter Benjamins Konzept einer »Dialektik im Stillstand«. Bielefeld: Aisthesis 1986, S. 26).
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Von solchen Bildern handelt der in der Fassung letzter Hand schließlich gestrichene letzte Abschnitt: »Ich denke mir, daß jenes ›ganze Leben‹, von dem man sich erzählt, daß es vorm Blick der Sterbenden vorbeizieht, aus solchen Bildern sich zusammensetzt, wie sie das Männlein von uns allen hat. Sie flitzen rasch vorbei wie jene Blätter der straff gebundenen Büchlein, die einmal Vorläufer unserer Kinematographen waren. Mit leisem Druck bewegte sich der Daumen an ihrer Schnittfläche entlang; dann wurden sekundenweise Bilder sichtbar, die sich voneinander fast nicht unterschieden. […] Das Männlein hat die Bilder auch von mir.« (GS IV.1, S. 304)
Es folgt eine Aufzählung einiger Schauplätze der Berliner Kindheit. Das Bild des Abblätterheftchens verwendet Benjamin auch in seiner Kleinen Rede über Proust, an meinem vierzigsten Geburtstag gehalten.90 Dort heißt es von den »Bilder[n], welche wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten«: »Wir stehen vor uns, wie wir wohl in Urvergangenheit einst irgendwo, doch nie vor unserem Blick, gestanden haben. Und gerade die wichtigsten – die in der Dunkelkammer des gelebten Augenblicks entwickelten – Bilder sind es, welche wir zu sehen bekommen. Man könnte sagen, daß unseren tiefsten Augenblicken gleich jenen Päckchenzigaretten – ein kleines Bildchen, ein Photo unserer selbst – ist mitgegeben worden.« (GS II.3, S. 1064)
Wie in der Mummerehlen wohnt den Erinnerungsbildern ein Moment der Entfremdung bei, doch vertritt die Fotografie diesmal nicht den Blick der Anderen. Im Blick des Buckligen steht sie für die Erfahrung des Vergessenen und Erinnerten »als entfremdete Form von Eigenem«.91 Sie wird zur Metapher einer Erinnerung, die dem Subjekt nicht ohne weiteres verfügbar ist. Dem öffentlichen Gebrauch des Studioporträts als »Salontiroler« oder »Spanier« steht der metaphorische Gebrauch des Mediums gegenüber, das die intimsten Erinnerungen als unbewusste Gedächtnisspuren aufzeichnet.
90 Bedenkt man, dass Benjamin an seinem vierzigsten Geburtstag wahrscheinlich Selbstmord begehen wollte (vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin – die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 231; vgl. auch: Bernd Witte: Paris – Berlin – Paris. Zum Zusammenhang von individueller, literarischer und gesellschaftlicher Erfahrung in Walter Benjamins Spätwerk. In: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts. München: Fink 1984, S. 17-26, S. 18), wirft dies auch ein Licht auf die Erinnerungsanstrengung der im Anschluss daran erst verfassten Berliner Kindheit und den dortigen Bezug auf den »Sterbefilm«. 91 Stüssi: Erinnerung an die Zukunft, S. 70.
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Als »Vorläufer unserer Kinematographen« (GS IV.1, S. 304) ist das Abblätterheftchen zugleich »Ausdruck einer bestimmten Epoche, der Jahrhundertwende, in der das Kind aufwuchs«.92 In der medialen Metaphorik der Berliner Kindheit verbindet sich so der Prozess der Erinnerung mit der in dieser Erinnerung aufgehobenen Medienerfahrung. Im Gegenzug kann sich in den erinnerten Medien das Schreiben der Erinnerung reflektieren. Exemplarisch führt dies der Abschnitt Kaiserpanorama vor Augen.93 Es ist hier nicht das Dargestellte allein, das den stereoskopischen Bildern des Panoramas ihren Zauber verleiht, sondern ein »eigentlich störender Effekt«: »Das war ein Klingeln, welches wenige Sekunden, eh das Bild ruckweise abzog, um erst eine Lücke und dann das nächste freizugeben, anschlug. Und jedesmal, wenn es erklang, durchtränkten sich die Berge bis auf ihren Fuß, […] die Rebenhügel bis ins kleinste Blatt mit wehmutsvoller Abschiedsstimmung.« (GS IV.1, S. 239)
Eingedenk der Umstände ihrer Niederschrift, des Exils, spiegelt sich die Berliner Kindheit insgesamt in dieser Abschiedsstimmung des Kaiserpanoramas. Im Vorwort der Fassung letzter Hand bezeichnet Benjamin den Versuch, »die Bilder, die im Exil das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit –«, hervorzurufen, als ein »Verfahren der Impfung« gegen die Sehnsucht (GS VII.1, S. 385). Der Blick und die Rezeptionsweise, wie sie im Kaiserpanorama eingeübt werden, finden im Schreiben des späteren Erwachsenen ihren Widerhall. Das visuelle Medium wird zum Vermittler zwischen einer Erfahrung in der Vergangenheit und einer Schreibweise, die unter anderem auf dieses Medium zurückgreift, um die eigenen Vorgehensweisen zu illustrieren. Die Fotografie und vergleichbare Techniken sind weniger als Medien des Gedächtnisses bedeutsam, die das Vergangene bewahren, sondern als Techniken, in denen sich historische Erfahrung ausgeprägt hat, und die nun »mit dem zwanzigsten Jahrhundert ausgestorben sind« (GS VII.1, S. 388). Das Verschwinden, Vergehen und der Abschied sind Motive, die, wie eingangs deutlich wurde, in der einen oder anderen Weise den Begriff der Aura bestimmen. So unterschiedlich der Einsatz dieses Begriffs im Einzelnen ist, mag er sich immerhin zusammenführen lassen in der Erkenntnis einer verlorenen Entsprechungsfülle, die an einen gegebenen Augenblick des Erkennens gebunden ist. Die Frage, ob dies nicht auch auf die Berliner Kindheit zutrifft, liegt nahe. Sie müsste jedoch ihrerseits auf die Frage antworten, was damit gewonnen wäre, auch hier von Aura zu sprechen. Die Qualität der Erinnerung an die Kindheit bei Benjamin ließe sich so in der Tat rückbeziehen auf seine medientheoretischen Überlegungen, ohne dabei den Be92 Ebd., S. 71. 93 Vgl. zum Kaiserpanorama: Lemke: Gedächtnisräume, S. 99 ff.
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zug auf optische Medien in der Berliner Kindheit abzudecken. Mag es beim Kaiserpanorama noch legitim erscheinen, von so etwas wie einer auratischen Dimension der Bilder zu sprechen, so kann das Porträtfoto eine vergleichbare Erfahrung nur negativ, im textuellen Nachvollzug seiner Entstellungen, freisetzen.
Marcel Prousts À la recherche du temps perdu: Das literarische Gedächtnis der Fototheorie
1. F OTOTHEORETISCHE R EZEPTION UND P ROUST -F ORSCHUNG In den beiden vorangehenden Kapiteln wurde deutlich, dass die Reflektion über die Fotografie nicht allein im Dienst der Theorie steht. Das »theoretische Objekt«1 Fotografie ist gerade bei Barthes und Benjamin eingespannt in literarische Strategien, in eine Auseinandersetzung mit der Medialität und den spezifischen Gedächtnisleistungen der Literatur. Einer der wichtigsten Bezugspunkte ist dabei in beiden Fällen kein seinerseits mit theoretischem Anspruch auftretender Text, sondern Prousts Recherche. Der Roman, der wie kaum ein anderer Text des 20. Jahrhunderts für einen emphatischen Begriff der Gedächtnisleistung von Literatur und darüber hinaus eines authentischen Erinnerns überhaupt steht, ist schon aufgrund dieser Wirkungsgeschichte Teil der Geschichte einer Fotografietheorie, der es neben der Reflektion des Fotografischen immer auch um die eigene Textualität und Schriftlichkeit geht. In Über einige Motive bei Baudelaire beruft sich Benjamin auf eine zentrale Stelle aus Le Temps retrouvé, um den Verfall der Aura an die Erweiterung der mémoire volontaire durch die Fotografie zu koppeln.2 Dass es hierbei nicht nur um einen Kommentar zu Proust, sondern die produktive Assimilation von dessen Text geht, wird über die Einbindung in die Theorie der Aura hinaus in der Auseinandersetzung mit Proust im Kontext der eigenen literarischen Arbeiten deutlich.3 Im ei1
Krauss: Das Photographische, S. 14.
2
Vgl. GS I.2, S. 646.
3
Zu Benjamins Proust-Rezeption liegt bereits eine Fülle von Publikationen vor; vgl. v.a. die hervorragende Arbeit von Ursula Link-Heer: Benjamin liest Proust. Köln: Marcel Proust Gesellschaft 1997 (= Sur la lecture, III); vgl. u.a. auch Dominik Finkelde: Benjamin liest Proust. Mimesislehre – Sprachtheorie – Poetologie. München: Fink 2003;
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nen wie im anderen Fall steht der kritisch wertenden Abgrenzung zur Fotografie die Anbindung fotografisch orientierter Motive, Wahrnehmungsweisen und einer entsprechenden Bildlichkeit an Funktionen des Textes und dessen Gedächtnisentwürfe gegenüber. Bei Barthes folgt der Bezug auf Proust, wie sich gezeigt hat, ebenfalls komplexen Strategien der Aneignung und Transformation. Indem das ästhetische Programm von À la recherche du temps perdu aufgerufen, aber innerhalb der fotografischen Gedächtnistheorie von La Chambre claire letztlich nicht erfüllt wird, dient der Rekurs auf Proust als Antrieb eines Schreibens, das sein eigenes Scheitern angesichts des Todes als Möglichkeit in der Auseinandersetzung mit der Fotografie offen hält. Kann bei Barthes und bei Benjamin – sowie, wie noch zu zeigen ist, bei Siegfried Kracauer – von einer produktiven Proust-Rezeption in dem Sinne gesprochen werden, dass der Bezug auf die Recherche Konsequenzen für die Verfahren des eigenen Textes hat bzw. im Dienste einer Auseinandersetzung mit der Medialität des Textes selbst steht, so fällt die Erwähnung Prousts in Susan Sontags On Photography vergleichsweise konventionell aus. Sontags Bezug auf die Entgegensetzung von Fotografie und mémoire involontaire, um die Kunstferne des fotografisch vermittelten Zugriffs auf die Vergangenheit zu belegen, kann allerdings als Beleg für die prägende Wirkung der Proust’schen Gedächtnispoetik im 20. Jahrhundert gelesen werden. Ihr Urteil freilich wäre zu relativieren: »Whenever Proust mentions photography, he does so disparagingly: as a synonym for a shallow, too exclusively visual, merely voluntary relation to the past, whose yield is insignificant compared with the deep discoveries to be made by responding to cues given by all the senses – the technique he called ›involuntary memory‹. One can’t imagine the Overture to Swann’s Way ending with the narrator coming across a snapshot of the parish church at Combray and the savoring of that visual crumb, instead of the taste of the humble madeleine dipped in tea, making an entire part of his past spring into view.«4
Robert Kahn: Images, passages. Marcel Proust et Walter Benjamin. Paris: Kimé 1998; Louis Simon: Narrative and Simultaneity. Benjamin and the Image of Proust. In: Studies in Twentieth Century Literature 21/2 (1997), S. 361-380; Ignaz Knips: Eingedenken und »mémoire involontaire«. In: Weimarer Beiträge 40/1 (1994), S. 128-134; Beryl Schlossman: Proust and Benjamin: The Invisible Image. In: Studies in Twentieth Century Literature 11/1 (1986), S. 91-103; Carol Jacobs: The dissimulating harmony. The image of Interpretation in Nietzsche, Rilke, Artaud, and Benjamin. Baltimore, London: Johns Hopkins University Press 1978. 4
Sontag: On Photography, S. 164.
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Was den Unterschied der Madeleine zum Foto angeht, ist dem prinzipiell nichts entgegenzusetzen;5 ob Proust – oder sein Erzähler ԟ jedoch immer abschätzig von der Fotografie spricht, ist, jenseits aller Zweifel, ob dies so zutrifft, vielleicht auch nicht die richtige Fragestellung. Fruchtbarer dürfte es sein, nicht die am Ende der Recherche formulierte und in ihr inszenierte Poetik gegen das Medium Fotografie auszuspielen, sondern den Einsatz der Fotografie innerhalb des Textes ԟ und damit die Wechselwirkungen mit dieser Poetik ԟ näher zu untersuchen. Sontag geht es aber um eine allgemeine Inkompatibilität dessen, wofür »Proust« hier steht, zur Fotografie: »Nothing could be more unlike the self-sacrificial travail of an artist like Proust than the effortlessness of picture-taking, which must be the sole activity resulting in accredited works of art in which a single movement, a touch of the finger, produces a complete work.«6 Das Werk, seine Abfassung und der in ihm inszenierte Anstoß zum Erzählen sind so in gleicher Weise der Fotografie entgegengesetzt. Auch in der Forschungsliteratur zu Proust wird oft eine generell ablehnende, mit kulturkritischen Untertönen durchsetzte Haltung Prousts zur Fotografie behauptet.7 So stellt etwa Walburga Hülk Proust in eine Tradition mit Baudelaires Verdammung der Fotografie,8 und Giubertoni, die in ähnlicher Weise mit dem bereits im Salon de 1859 wirksamen Gegensatz zwischen ›Kunst‹ und ›Realismus‹ operiert, kommt zu dem Schluss: »Nella formazione della visione proustiana della realtà il ruolo della fotografia rappresenta quindi un termine di riferimento essenzialmente
5
Auch das von Chevrier abgedruckte Fragment aus den Cahiers kann daran nichts ändern, obgleich es in textgenetischer Hinsicht interessant ist: »Tandis que si brusquement de telle chose que nous voyons (même dans un album une photographie qui ressemble un peu à Illiers) sans que nous puissions y penser, se dégage brusquement, chimiquement, le passé, alors nous sentons en nous une substance entièrement différente de ce que nous pensons maintenant, substance composé sans doute des parfums d’alors, de la proportion de lumière des jours d’alors […]. Si je veux peindre Combray, c’est avec ces couleurs grises, cette odeur de paille et de confiture […]« (zit. nach: JeanǦFrançois Chevrier: Proust et la photographie. Paris: Ed. de l’Étoile 1982 (= Écrit sur l’image), S. 78).
6
Ebd., S. 163 f.
7
Albers stellt dabei fest, dass »in vielen neueren Publikationen zum Thema häufig in Zirkeln argumentiert [wird], wenn die Interpreten aus Prousts Text genau die Reflexionen über Photographie herauslesen, welche selbst aus der Reflexion seines Textes entstanden sind.« (Irene Albers: Proust und die Kunst der Photographie. In: Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser (Hg.): Marcel Proust und die Künste. Frankfurt a.M.: Insel 2004, S. 205-239, S. 209).
8
Vgl. Walburga Hülk: »Clichés« und die Liebe. Medien, Impressionen, Transfigurationen. In: Friedrich Balke/Volker Roloff (Hg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust. München: Fink 2003, S. 133-142.
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negativo.«9 Problematisch ist hierbei der Versuch, eine ›Bewertung‹ der Fotografie aus dem literarischen Text herauszuziehen, wo viel eher zu fragen wäre, inwiefern die Fotografie jenseits aller Aussagen des Erzählers oder sonstiger Beurteilungen des Mediums den Text selbst strukturiert und unter Umständen die am Ende der Recherche entwickelte Poetik expliziert, transformiert oder sogar konterkariert. Den eher medienkritisch inspirierten Zugängen stehen Ansätze gegenüber, die, ausgehend vom metaphorischen Gebrauch der Fotografie in der Recherche, den Text selbst mit Metaphern der Fotografie zu erfassen suchen. So schreibt Roxanne Hanney: »It is interesting to note how much Proust used photography not only as a metaphor is [sic] the course of his descriptions, but as an actual process in the very text he writes. Proust functions photographically, moving from the figure to the letter, from the image to the text.«10 Der »actual process« ist freilich selbst metaphorisch zu nehmen. Eine solche Metaphorik muss ihrerseits dann problematisch werden, wenn sie nicht in heuristischer Absicht eingesetzt wird, wie dies etwa in Mieke Bals Versuch, spezifische Aspekte der Visualität der Darstellung in der Recherche mit fotografischen Metaphern zu erfassen, der Fall ist,11 sondern so etwas wie ›Einflüsse‹ der Fotografie auf Prousts Schreiben konstatieren möchte. Dies ist vielleicht einer der problematischsten Aspekte von Brassaïs Buch Proust und die Liebe zur Photographie. Für ihn ist die »heimliche Vorläuferin« der mémoire involontaire, »die Proust vielleicht am meisten inspiriert hat, […] die Photographie und ihr latentes Bild«, so dass die Recherche selbst als »Riesenphotographie« erscheint.12 Gegenüber den methodisch teilweise abenteuerlichen Konstruktionen Brassaïs ist allerdings zum einen zwischen den im engeren Sinne metaphorisch und vergleichend verfahrenden Passagen, in denen von der Fotografie die Rede ist, einerseits und der Beschreibung von fiktionsimmanent vorliegenden Fotografien andererseits zu unterscheiden;13 zum anderen ist der Funktion nachzugehen, die der 9
Anna Giubertoni: Fotografia e aura nella narrativa di Proust. In: Rivista di letterature moderne e comparate 28 (1975), S. 12-27, S. 27.
10 Roxanne Hanney: Proust and Negative Plates: Photography and the Photographic Process in À la recherche du temps perdu. In: Romanic Review 74/3 (1983), S. 342-354, S. 343. 11 Vgl.: Mieke Bal: The Mottled Screen. Reading Proust Visually. Translated by AnnaLouise Milne. Stanford: Stanford University Press 1997, S. 201: »Photography has to be taken as a figure, as a repeated theoretical metaphor that helps to describe an aspect of this work that is more specific than the more general word ›visual‹ would suggest.« 12 Brassaï: Proust und die Liebe zur Photographie. Aus dem Französischen von Max Looser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 133, S. 16. 13 Die Marcel Proust Enzyklopädie unterscheidet zwischen »Momentaufnahmen und Kunstphotographie«, wobei allerdings die Bezeichnung »Kunstphotographie« etwas unspezifisch bleibt und offenbar in erster Linie so etwas wie den Entwicklungsvorgang zu bezeichnen scheint (vgl. Luzius Keller (Hg.): Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu
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Rekurs auf die Fotografie jeweils erfüllt.14 Dies verlangt auch einen Blick auf die konkrete fotografische Metaphorik im Roman vor dem Hintergrund einer Metaphorologie des Gedächtnisses in medialer Hinsicht.
2. F OTOGRAFIE
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Einen ausführlichen Versuch, Prousts Roman auf seine fotografische Metaphorik und deren poetologische Funktion hin zu untersuchen, hat zuletzt Michael Neumann unternommen. Da es ihm dabei in erster Linie um die »Ineinanderführung physiologischer, photographischer und ästhetischer Diskurse«15 geht, nimmt die Frage nach den Wahrnehmungsmomenten in der Recherche einen großen Stellenwert ein: »der Roman reflektiert in der photographischen Metaphorik die Bedingungen der Möglichkeiten seiner Bilder. […] Der Text seziert die Wahrnehmung Marcels, indem er das ›wahrgenommene Bild‹ sprachlich auf seine Entstehungsbedingungen zurückführt; die Inanspruchnahme der kinematographischen und photographischen Metaphern implementiert den ›Bildern‹ im Text, was die Physiologie über deren technisches Zustandekommen in Erfahrung gebracht hatte. Im Ergebnis weiß der Erzähler in der Auseinandersetzung mit seiner Wahrnehmung dem Text jene ›aperspektivische Objektivität‹ anzuverwandeln, die den technischen Medien unterstellt wurde.«16
So fruchtbar die dabei gewonnenen Einsichten sein mögen – auch wenn der Begriff einer »aperspektivischen Objektivität« ausgerechnet bei Proust etwas irreführend erscheint17 ԟ, so erstaunlich ist es doch, dass ein explizit metaphorologisch orientierter Ansatz wie der Neumanns gerade im Fall von Prousts Roman den Bereich einer Metaphorik des Gedächtnisses weitgehend außer Acht lässt. Eben deren Wandel aber kann nicht zuletzt »die Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte und Sichtweisen selbst zum Vorschein«18 bringen. Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Hamburg: Hoffmann und Campe 2009, S. 662 f. (Lemma »Photographie I«)). 14 Vgl. in diesem Sinne Albers’ Vorschlag, mit »›lokalen Begriffen‹ von Photographie [zu] argumentieren, welche je nach Kontext konfiguriert sind und sich nicht zur bruchlosen Verallgemeinerung eignen« (Albers: Proust und die Kunst der Photographie, S. 210). 15 Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie, S. 18. 16 Ebd., S. 132. 17 Neumann greift dabei einen Ausdruck von Lorraine Daston auf, vgl. ebd., S. 111. 18 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 13.
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Die Reflektion über die Funktionsweise und die Grenzen des Gedächtnisses und der Erinnerung war schließlich schon immer in höchstem Maße durch dessen jeweilige metaphorische Fassung vermittelt: »Das Phänomen Erinnerung verschließt sich offensichtlich direkter Beschreibung und drängt in die Metaphorik. Bilder spielen dabei die Rolle von Denkfiguren, die die Begriffsfelder abstecken und die Theorien orientieren. ›Metaphorik‹ ist auf diesem Gebiet deshalb nicht umschreibende, sondern den Gegenstand allererst erschließende, konstituierende Sprache.«19
Es erstaunt daher nicht, wenn sich in einem Text wie der Recherche eine Fülle von verschiedenen Metaphern der Erinnerung findet. Elisabeth Gülich hat in ihrer Untersuchung zur Metaphorik der Erinnerung in Prousts Recherche diese Fülle ausführlich dargelegt und kommentiert. Im »Bild des Photoapparats« sieht sie unter Bezug auf Weinrichs Typen der Gedächtnismetaphorik »die beiden traditionellen Gedächtnismetaphern«20 der Wachstafel und des Magazins kombiniert.21 Während für Weinrich aber die Fotometapher – er bezieht sich dabei auf Bergson ԟ nur eine ›Modernisierung‹ der Wachstafel darstellt, jedoch »im Wesen das gleiche Bildfeld«22 bleibt, weist Gülich darauf hin, dass sich mit ihr »im Unterschied zu den anderen Bildfeldern auch die Entwicklung eines Eindrucks zur Erinnerung darstellen«23 lässt. Eine tatsächliche Historisierung der Metaphorik, wie sie gegenüber Weinrichs allzu statischer Konzeption allerdings angebracht wäre,24 liegt dabei jen19 Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 13-35, S. 13; anders als Butzer lese ich diese Bemerkung Assmanns weniger als Versuch, der Metapher »ontologische Dignität« zuzuweisen, sondern bereits im Sinne eines »Modell[s] kultureller Selbstbeschreibung« (Günter Butzer: Gedächtnismetaphorik. In: Erll/Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, S. 11-30, S. 13, S. 24), das durchaus im Sinne von Blumenbergs Konzept der »absoluten Metapher« (Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 10) gelesen werden kann; vgl. als Überblick zum Thema den Artikel von Nicolas Pethes: Gedächtnismetapher. In: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek: Rowohlt 2001, S. 196-199. 20 Elisabeth Gülich: Die Metaphorik der Erinnerung in Prousts À la recherche du temps perdu. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 75 (1965), S. 51-74, S. 62. 21 Vgl. Harald Weinrich: Typen der Gedächtnismetaphorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 9 (1964), S. 23-26, S. 23. 22 Ebd., S. 25. 23 Gülich, S. 65; zur Entwicklung des Bildes bzw. der Erinnerung siehe unten. 24 Vgl. Ulrich Hortian: Metaphorae Memoriae. Zur Metaphorik des Gedächtnisses bei Walter Benjamin. In: Klaus Garber/Ludger Rehm (Hg.): Global Benjamin. Internationaler
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seits ihres Untersuchungsfelds. Assmanns Feststellung, dass »die Bilder, die von Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern für die Prozesse des Erinnerns und Vergessens gefunden wurden, […] jeweils den derzeit herrschenden materiellen Aufschreibsystemen und Speichertechnologien« folgten,25 eröffnet nicht nur einen Einblick in die historische Herkunft des Metaphernmaterials, sondern verweist auf weitere historische Korrelationen von Medienwandel und Gedächtnisentwürfen. Nimmt man die Rede von den »Denkfiguren« ernst, so kann sich mit dem Wandel des Vergleichsmediums die Auffassung des Gedächtnisses entscheidend ändern. Medialität erwiese sich demnach als konstitutiv für das Gedächtnis nicht nur hinsichtlich der Aufbewahrungsmöglichkeiten dessen, was dem individuellen Erinnern sich zu entziehen droht, sondern zugleich im Hinblick auf die Möglichkeiten, die dem Speichern und Erinnern von Eindrücken überhaupt zugetraut werden. In ihrer Metaphorik reagieren die jeweiligen Gedächtniskonzepte auf die Irritationen, die das Aufkommen neuer Speicher- und Aufzeichnungsmedien mit sich bringt. Wolfram Nitsch weist darauf hin, dass die neuen technischen Bildmedien im 19. Jahrhundert zunächst über die Metaphorik Eingang in die Literatur fanden. Die literarischen Texte reagierten dabei auf die doppelte Irritation, die diese Medien einerseits als »populäre Konkurrenzmedien«, andererseits »in epistemologischer Hinsicht« mit sich brachten.26 Die damit implizierten Abgrenzungsbewegungen innerhalb der Texte können zugleich Anstoß für Neuorientierungen sein, die sich gerade an der neuen Medialität des Gedächtnisses orientieren. Mediale Metaphorik ist rückgebunden an den realen Gebrauch der jeweiligen Medien zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt und eben darin liegt ihr Potential. Die Metapher der Fotografie ermöglicht so einerseits einen neuen Blick auf das Gedächtnis, andererseits dient sie gerade dazu, auf Prozesse zu fokussieren, die sich der tatsächlichen Funktion der Fotografie als Gedächtnismedium entziehen. Mit dem Aufkommen neuer medialer Metaphern und ihrer Konfrontation mit der traditionellen Bildlichkeit des Gedächt-
Kongress zum Hundertsten Geburtstag Walter Benjamins. München: Fink 1992, Bd. 3, S. 1526-1543, S. 1528: »Der abstraktive Schritt zum ›Wesen‹ eliminiert die Unterschiede und schafft künstlich ein homogenes Bildfeld, dem sich platonische Wachstafel, Buch und Photographie bruchlos einfügen sollen. Das von Weinrich konstruierte unhistorische Metaphernkontinuum zerfällt allerdings, wenn man eine mikroskopische Perspektive wählt. Bruchstellen treten zutage, historischer Wandel setzt sich durch.« Vgl. zur Kritik an Gülich in diesem Sinn: ebd., S. 1533, Anm. 29. 25 Assmann: Erinnerungsräume, S. 149. 26 Wolfram Nitsch: Vom Panorama zum Stereoskop. Medium und Metapher bei Proust. In: Nitsch/Zaiser (Hg.): Marcel Proust und die Künste, S. 240-262, S. 243.
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nisses zeigt sich deren experimenteller Charakter bei der Selbstverständigung von Texten.27 Dies betrifft durchaus auch die in der wissenschaftlichen Theoriebildung zur Veranschaulichung oder Popularisierung gewählten Metaphern und Vergleiche. In dieser Hinsicht konnte die Fotografie im Kontext physiologischer und psychologischer Gedächtnistheorien des 19. Jahrhunderts ein heuristisches Modell stellen: »Während bei der Camera obscura jedes Bild das vorhergehende löschte, blieb in der Fotokamera eine Spur in einer Gestalt erhalten, die nichts mehr mit einer visuellen Kopie zu tun hatte. Erst das Entwickeln der Platte zauberte die Spur wieder in ein optisches Bild zurück. Auf der Platte blieb das Bild eine latente Spur, ›versunken, untätig, unbemerkt‹[…]. Es ist kein Wunder, dass Neurologen und Psychologen dies für eine unwiderstehliche Analogie hielten, ausgezeichnet geeignet, das Gehirn zu einem Instrument zu transformieren, welches keine Repliken, sondern die latente Ablagerung der Erfahrung bewahrt.«28
Es ist vor allem der zeitliche Aspekt des latenten Bildes, der die Fotografie für die Theoriebildung zum Gedächtnis interessant machte und der in der Folge ԟ im Gegensatz zur umgekehrten metaphorischen Beschreibung der Fotografie als »Spiegel, der alle Reflexe bewahrt«29 ԟ gegenüber der genauen Repräsentationsleistung in der Metaphorik des Gedächtnisses betont wird. Nicht zuletzt Freud wird in diesem Sinne, auch wenn er sich später mit der Notiz über den Wunderblock eher an einem Modell der Schriftlichkeit orientiert,30 in der Fotografie »eine grobe, aber ziemlich angemessene Analogie« des »Verhältnisses der bewußten Tätigkeit zur unbewuß27 Vgl. zur Buch- und Fotometapher unter diesem Aspekt bei Benjamin: Hortian: Metaphorae Memoriae, wobei ich den Unterschied, den er hier im Hinblick auf Proust konstatiert, in dieser Schärfe nicht sehe. 28 Douwe Draaisma: Die Metaphernmaschine. Eine Geschichte des Gedächtnisses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 139. 29 Janin: Der Daguerreotyp, S. 49; das Bild hält sich praktisch durch die gesamte Fotografiegeschichte; bekannt ist v.a. Holmes’ Formulierung vom »Spiegel mit einem Gedächtnis« (Oliver Wendell Holmes: Das Stereoskop und der Stereograph (1859). In: Kemp: Theorie der Fotografie I, S. 114-121, S. 116), doch es taucht noch bei Metz auf: »Das Foto ist ein Spiegel, […] in dem wir das ganze Leben lang das Fortschreiten des Alterns messen. Der wirkliche Spiegel dagegen begleitet uns durch die Zeit, vorsichtig, gut gehängt und verlogen: Er verändert sich mit uns, so daß wir nicht sehen, wie wir uns verändern.« (Christian Metz: Foto, Fetisch (1985, 1990). In: Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV, S. 345-354, S. 349). Vgl. allg. auch: Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. 30 Vgl. Sigmund Freud: Notiz über den Wunderblock. In: Studienausgabe Bd. III,
S. 365-369, vgl. dazu: Derrida: Freud und der Schauplatz der Schrift, v.a. S. 330.
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ten« sehen: »jedes photographische Bild muß den ›Negativprozeß‹ durchmachen, und einige dieser Negative, die in der Prüfung gut bestanden haben, werden zu dem ›Positivprozeß‹ zugelassen, der mit dem Bilde endigt.«31 Mit der Metapher der Fotografie tritt die Vorstellung einer dauerhaften Präsenz des Wahrgenommenen im Gedächtnis zugunsten der Nachträglichkeit des Erinnerungsbilds in den Hintergrund. »Erhaltung von Dauerspuren heißt eben nicht Festhalten eines ursprünglichen Wahrnehmungsbildes, sondern nachträgliche Konstitution dieses Wahrnehmungsbildes durch die Erinnerungsarbeit an den Spuren der punktuell, traumatisch chokhaft die Reizoberfläche sensibilisierenden Impressionen, aber als Bild, das so nie präsent war. Ebenso ist die photographische Reproduktion nachträgliche Hervorbringung des vergangenen Augen-Blicks.«32
Unter dem Stichwort »strukturelle Analogien«33 wurde hier bereits auf mögliche Zusammenführungen von psychischem und fotografischem Prozess hingewiesen. Innerhalb literarischer Texte hat solche Metaphorik eine performative Funktion, die in wissenschaftlicher Modellbildung, die bei allem heuristischen Wert der Metapher das Uneigentliche der eigenen Sprache nicht überspringen kann,34 zumindest dem eigenen Anspruch nach wegfallen sollte. Dabei kann eine Verwendung fotografischer Metaphern auch als Auseinandersetzung des literarischen Textes mit der eigenen Gedächtnisleistung und deren Valorisierung angesichts zunehmend von technischen Bildmedien dominierter Erinnerungspraktiken gewertet werden. Bemerkenswerterweise leitet sich die Produktivität solcher Metaphern aber gerade aus dem automatischen Charakter der apparativen Aufzeichnung ab, insofern dieser dem Subjekt entzogen bleibt und dessen fertiges Ergebnis wiederum oft stereotyp mit Metaphern des Toten belegt wird. Auch die Metapher der Spur, des Eindrucks, die bei Barthes schließlich das ganze Prestige der Fotografie ausmacht, hebt die Authentizität von Erinnerungen in eigentümlicher Weise hervor: »Durch das Bild des Mediums Photographie wird paradoxerweise das genaue Gegenteil von Medialität, nämlich die schiere Unmittel-
31 Freud: Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten, S. 34; vgl. hierzu: Kofman: Freud ԟ Der Fotoapparat. 32 Michael Wetzel: Die Zeit der Entwicklung. Photographie als Spurensicherung und Metapher. In: Georg Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim: Acta Humaniora 1990, S. 265280, S. 279. 33 Vgl. oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Barthes. 34 Inwiefern und ob dem ›Uneigentlichen‹ ein ›Eigentliches‹ gegenübergestellt werden kann, ist natürlich eine andere Frage.
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barkeit eines Eindrucks betont.«35 Die Unmittelbarkeit verdankt sich nicht dem eigentlich medialen Charakter der Fotografie, der Vermittlung des Bildes, sondern der Verlagerung des Aufnahmeprozesses ins Subjekt selbst. In Emmy Hennings’ Das Brandmal wird die Fotografie in diesem Sinn eingesetzt, wenn die Erzählerin sich selbst als »gewissenhafter Kodak wider Willen« bezeichnet: »Jeder ehrliche Kodak muß das Bild aufnehmen, das sich ihm darbietet. Ich muß an diesem Tage ganz besonders scharf eingestellt gewesen sein. Und wenn ein Bild auf das Negativ trifft, so wird es sich zeigen müssen.«36 Die Latenz des Bildes tritt hier beinahe vollständig zugunsten der unwillkürlichen Einschreibung zurück. Bei Hennings steht deren Authentizität nicht allein im Dienst einer Zeugenschaft, die auch auf religiöse Motive der vera ikon rekurriert,37 sondern ist darüber hinaus die metaphorische Entsprechung der eigenen Gewalterfahrungen. Wie der Apparat scheinbar nur passiv die Wirklichkeit aufzeichnen kann, so schreibt sich die als ausweglos erfahrene Situation sexueller Ausbeutung in den Körper der Erzählerin ein. In der Anbindung an die Leitmetapher des Brandmals tritt mit der Fotografie die Körperlichkeit des Gedächtnisses bzw. der Körper selbst als Gedächtnismedium in den Vordergrund. Mit dem Aufkommen der Fotografie scheinen sich also Gedächtnismodelle anzubieten, die besonders auf Prozesse fokussieren, welche einem zielgerichteten und bewussten Memorieren entzogen bleiben. Die Latenz der Bilder, die Möglichkeit des Vergessens bzw. des dauerhaften Entzugs des Erinnerungsbilds durch eine innerpsychische Zensur ԟ dies alles hebt in einer Zeit, in der die Fotografie eine vollständige Erfassung der visuellen Welt zu ermöglichen scheint, die Eigengesetzlichkeiten menschlichen Erinnerns hervor. Zugleich kann der automatische Aufzeichnungsprozess der Fotografie einer wesentlichen Erfahrung angesichts dieser Eigengesetzlichkeit Ausdruck verleihen: der Erfahrung, dass das Subjekt nicht Herr über das eigene Gedächtnis sein muss. Die Metaphern der Einschreibung und der Spur, so sehr sie die Authentizität der Erinnerung verbürgen sollen, stehen in literarischen Texten oft im Dienst eines Schockerlebnisses, das dem Bewusstsein nicht zugänglich ist. Gerade darin aber werden sie zum Zeichen einer individuellen Wahrheit, die sich der fotografischen Speicherung entzieht.
35 Assmann: Erinnerungsräume, S. 247 f. 36 Emmy Hennings: Das Brandmal. Ein Tagebuch von Emmy Hennings. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 86; vgl. hierzu: Nicola Behrmann: »…Ein gewissenhafter Kodak wider Willen«. Zur Relation von Text, Körper und Medium in Emmy Hennings Brandmal. In: Birgit Mersmann/Martin Schulz (Hg.): Kulturen des Bildes. München: Fink 2006, S. 101-108. 37 Vgl. ebd., S. 158.
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3. F OTOGRAFISCHE M ETAPHERN
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Die spurhafte Einschreibung der Gedächtnisinhalte prägt schließlich auch Prousts Poetik der »impressions«. Das »livre intérieur de signes inconnus«, das zu übersetzen Marcel am Ende als wahre Aufgabe des Schriftstellers erkennt, ist aus solchen Eindrücken aufgebaut: »Ce livre, le plus pénible de tous à déchiffrer, est aussi le seul que nous ait dicté la réalité, le seul dont l’›impression‹ ait été faite en nous par la réalité même. […] Seul l’impression, si chétive qu’en semble la matière, si insaisissable la trace, est un critérium de vérité« (RTP IV, S. 458). Auch wenn hier die traditionelle Metapher des Gedächtnisbuchs aufgerufen wird,38 ist dessen Schrift in »ihrer Analogie zur photographischen Impression« zu lesen: »Das ist bereits technisch gedacht: Die dem Subjekt entzogene Imprägnierung durch Außenreize ermöglicht den Glauben an ihre Wahrheit.«39 Das ›Fotografische‹ der Schriftmetaphern bei Proust liegt nicht allein in deren Bindung an die Materialität einer Spur. Die Lesbarkeit der Eindrücke selbst steht in Analogie zur Betrachtung von Negativen, die erst in einer ›umkehrenden Lektüre‹ ihren wahren Gehalt enthüllen: »[…] les apparences qu’on observe ont besoin d’être traduites et souvent lues à rebours et péniblement déchiffrées. […] On éprouve, mais ce qu’on a éprouvé est pareil à certains clichés qui ne montrent que du noir tant qu’on ne les a pas mis près d’une lampe, et qu’eux aussi il faut regarder à l’envers: on ne sait pas ce que c’est tant qu’on ne l’a pas approché de l’intelligence.« (RTP IV, S. 475)
Die fotografische Metapher richtet sich hier nicht so sehr auf die unmittelbare Abbildung der Erfahrungen durch Einschreibung, wie dies bei Hennings der Fall war, sondern gerade auf den Aufschub der Erfahrung im Prozess der Erinnerung und Interpretation. Nicht ›wie sie waren‹ zeigt das Foto die Dinge, sondern als Ergebnis eines Umwandlungsprozesses. Dieser Prozess schließt die Latenz und Entstellung der Erinnerungsbilder mit ein, wie sie in fotografischen Erinnerungsmetaphern zum Ausdruck kommen. Bei Proust steht eine solche Metaphorik im Zentrum der fiktionsimmanenten Poetologie und Erinnerungstheorie: »La vraie vie, la vie enfin découverte et éclaircie, la seule vie par conséquent pleinement vécue, c’est la littérature. Cette vie qui, en un sens, habite à chaque instant chez tous les 38 Vgl. hierzu Hortian, S. 1529 ff., der allerdings die Buchmetapher erst bei Benjamin durch die der Fotografie abgelöst sieht. 39 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, S. 87; vgl. zu den Fotometaphern bei Proust ausführlich: Albers: Prousts photographisches Gedächtnis, S. 27 ff., für den vorliegenden Zusammenhang: S. 33 f.
120 | PROUST : À LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU hommes aussi bien que chez l’artiste. Mais ils ne la voient pas, parce qu’ils ne cherchent pas à l’éclaircir. Et ainsi leur passé est encombré d’innombrables clichés qui restent inutiles parce que l’intelligence ne les a pas ›développés‹.« (RTP IV, S. 474)
Ebenso wie die Nachträglichkeit des letztlich ›wahren‹ Bilds vom Leben in der Literatur impliziert die Metapher der Fotografie auch die Gefahr, dass dieses Bild in der Latenz verharrt und als solches nie sichtbar wird.40 Wie entscheidend die Nachträglichkeit für die Struktur des Textes insgesamt ist, wird nicht zuletzt im wiederholten Bezug auf den Entwicklungsprozess deutlich. So heißt es nach dem ersten Gespräch mit Marcels späterer Geliebten Albertine: »Il en est des plaisirs comme des photographies. Ce qu’on prend en présence de l’être aimé, n’est qu’un négatif, on le développe plus tard, une fois chez soi, quand on a retrouvé à sa disposition cette chambre noire intérieur dont l’entrée est ›condamnée‹ tant qu’on voit du monde« (RTP II, S. 227).41
Die in dieser Betonung einer bestimmten Zeitlichkeit entworfene Poetik grenzt sich von einem Literaturverständnis ab, das seinerseits wieder fotografisch bzw. filmisch gefasst ist: »Quelques-uns voulaient que le roman fût une sorte de défilé cinématographique des choses. Cette concéption était absurde« (RTP IV, S. 461).42 Die Metaphern technischer Bildlichkeit spalten sich sozusagen auf in eine innerpsychische Metaphorik der Spur und des Aufschubs und eine auf Repräsentation ausgerichtete, pejorativ konnotierte Metaphorik der bloßen Sichtbarkeit.43 Dies betrifft zunächst zwar das Medium selbst, ebenso jedoch zeitgenössische Schreibweisen; 40 Im früheren Entwurf der unwillkürlichen Erinnerung im Jean Santeuil blieb die produktive Komponente der Nachträglichkeit und Latenz in der Fotometapher noch zugunsten der traditionellen Magazin-Metapher im Hintergrund; vgl. Marcel Proust: Jean Santeuil. Hg. v. Pierre Clarac u. Yves Sandre. Paris: Gallimard (Pléiade) 1971, S. 898: »Et la photographie de tout cela avait pris sa place dans les archives de sa mémoire, des archives si vastes que dans la plus grande partie il n’irait jamais à regarder, à moins d’un hasard qui les fît ouvrir […].« 41 Vgl. ähnlich auch RTP III, S. 193. 42 Vgl. auch die berühmte Stelle zum »beau style« (RTP IV, S. 468): »Ce que nous appelons la réalité est un certain rapport entre ces sensations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément – rapport qui supprime une simple vision cinématographique, laquelle s’éloigne par là d’autant plus du vrai qu’elle prétend se borner à lui – rapport unique que l’écrivain doit retrouver pour en enchaîner à jamais dans sa phrase les deux termes différents.« 43 Chevrier spricht in dem Zusammenhang vom Unterschied zwischen »images à faire« und den »images faites« (vgl. Chevrier: Proust et la photographie, S. 30).
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im vorliegenden Fall etwa durch den Rückgriff auf gängige Topoi des ›fotografisch‹ verfahrenden Naturalismus.44 Die Abgrenzung vom literarischen Modell eines »impressionistischen Realismus etwa der Goncourt und ihrer Notation von ›instantanés‹«45 dürfte dagegen im Hintergrund von Marcels eigenem literarischen Scheitern stehen. Im Anschluss an den misslungenen Versuch, den Anblick von Bäumen auf einer Zugfahrt zu beschreiben, wendet er sich weiter zurück liegenden Erinnerungen zu: »J’essayais maintenant de tirer de ma mémoire d’autres ›instantanés‹, notamment des instantanés qu’elle avait pris à Venise, mais rien que ce mot me la rendait ennuyeuse comme une exposition de photographies […]« (RTP IV, S. 444). Der zunächst wohl auf Schreibweisen bezogene metaphorische Gebrauch der »instantanés« ruft gleich den Vergleich der Erinnerungsbilder mit Fotografien auf, der deren Unzulänglichkeit bei der Repräsentation der Vergangenheit bereits voraussetzt.46 Ihr poetologisches Gewicht gewinnt diese Stelle durch den Kontrast mit der unmittelbar darauf folgenden Szene, die schließlich zur Entdeckung der unwillkürlichen Erinnerung als Prinzip der eigenen Poetik führt. Im Hof des Hôtel de Guermantes tritt Marcel auf zwei ungleiche Pflastersteine und gewinnt über die Ähnlichkeit dieser Empfindung mit derjenigen der unebenen Bodenplatten des Baptisteriums in San Marco die vollständige Erinnerung an Venedig zurück. Was die ›Momentaufnahmen‹ der Erinnerung nicht konnten – Venedig vergegenwärtigen –, kann die körperlich fundierte mémoire involontaire. Die fiktionsimmanente Entgegensetzung von unwillkürlicher Erinnerung und Fotografie unterstreicht ex negativo eine Stelle in Prousts Carnets: »Nous croyons le passé médiocre parce que nous le pensons mais le passé ce n’est pas cela, c’est telle inégalité des dalles du baptistère de St Marc (photographie du Bap de St Marc) à laquelle nous n’avions plus pensé, nous rendant le soleil aveugl sur 44 Vgl. Albers: Prousts photographisches Gedächtnis, S. 29 f.; zur Fotografierezeption im Kontext von Naturalismus und Realismus vgl. Albers: Sehen und Wissen; Stiegler: Philologie des Auges, S. 149 ff.; eine ähnliche Funktion übernimmt das Panorama, vgl. Nitsch: Vom Panorama zum Stereoskop, S. 246 ff. 45 Albers: Prousts photographisches Gedächtnis, S. 30. 46 In vergleichbarer Weise wird die Fotografie beim Fund der Ausgabe von François le Champi in der Bibliothek des Herzogs von Guermantes zu einem Vergleich herangezogen. Im Gegensatz zur Materialität der Bücher – »la manière dont leur dos s’ouvrait, le grain du papier« – weckt deren Inhalt keine Erinnerungen. Der Sinn der Worte verstellt eher die Erinnerung an die Situation ihrer ersten Lektüre »comme ces photographies d’un être devant lesquelles on se le rapelle moins bien qu’en se contentant de penser à lui« (RTP IV, S. 464). Dass Barthes ausgerechnet diese Stelle im Zusammenhang der Suche nach einem Foto seiner Mutter und den Plänen, über sie zu schreiben, zitiert (vgl. CC, S. 1155), bekommt angesichts dieses Kontexts eine zusätzliche Ironie.
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le ciel« (RTP, IV, 1394). Der Hinweis in der (runden) Klammer dürfte sich auf John Ruskins Stones of Venice beziehen, in dessen französischer Übersetzung nicht die Stiche der Originalausgabe, sondern, von Proust in einer Rezension der Übersetzung sehr positiv besprochene, fotografische Illustrationen abgedruckt waren.47 Es kann hier nicht darum gehen, zu spekulieren, ob Proust tatsächlich beim Anblick der Abbildung eine Erinnerung hatte, die über den bloßen Anblick hinausging (was ein wenig an Barthes’ punctum erinnern würde), oder ob ihm diese Fotografie einfach die Idee für eine der entscheidendsten Szenen seines Romans eingab.48 In der Poetik der Recherche hatte der Bezug auf die Fotografie jedenfalls keinen Platz mehr: »Car la mémoire involontaire appartient désormais à la fiction: le récit de la vocation de Marcel. Elle a été soigneusement préparée, annoncée, nettoyée de tout élément parasite. Elle donne une assise sûre au système de valeurs de la Recherche et à la doctrine artistique du narrateur […].«49 Die mémoire involontaire muss innerhalb der Recherche aus dem Zusammentreffen einer gegenwärtigen und einer vergangenen Empfindung entspringen, um ein wesentlich körperlich, eben nicht intellektuell fundiertes Erinnern freizusetzen, das der Gewohnheit und der willkürlichen Erinnerung längst entfallen ist. Der Anblick eines Fotos hätte dies allerdings kaum leisten können.
4. D IE AURA
DER TECHNISCHEN
R EPRODUZIERBARKEIT
Wenn Fotos auch nicht nachträglich Venedig wiedergeben können, so stehen sie bzw. Reproduktionen bekannter Kunstwerke doch am Anfang des Wunsches, dorthin zu fahren. »Le Narrateur de la Recherche apprend en effet à connaître l’art par des reproductions qui fondent sa culture et structurent son imaginaire.«50 Wenn Marcel an seine immer wieder aufgeschobenen Pläne einer Reise nach Venedig 47 Vgl. Marcel Proust: John Ruskin: Les Pierres de Venise (1906). In: Ders.: Contre SainteBeuve. Hg. v. Pierre Clarac u. Yves Sandre. Paris: Gallimard (Pléiade) 1971, S. 520-523, S. 522; vgl. auch Albers: Prousts photographisches Gedächtnis, S. 30 f. 48 Proust griff bei der Abfassung seines Romans bekanntlich auch auf Fotografien zurück. Roland Barthes widmete sein letztes Seminar den Fotografien von ›Vorbildern‹ für einige Gestalten der Recherche (Roland Barthes: Proust et la photographie. Examen d’un fonds d’archives photographiques mal connu. In: Ders. La préparation du roman, S. 385-457); vgl. auch den Band mit Fotografien von Paul Nadar von William Howard Adams: Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Aus dem Amerikanischen von Christoph Groffy. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. 49 Chevrier: Proust et la photographie, S. 79. 50 Jérôme Picon: »Un degré d’art en plus«. In: Jean-Yves Tadié (Hg.): Marcel Proust, l’écriture et les arts. Paris: Gallimard u.a. 1999, S. 81-87, S. 82.
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denkt, führt er seine Sehnsucht noch in La Prisonnière zurück auf »les gravures du Titien et les photographies de Giotto que Swann m’avais jadis données à Combray« (RTP III, S. 895). Während es sich bei Giottos Fresken ԟ die wegen der Nähe Paduas zum Assoziationskomplex »Venedig« gehören ԟ tatsächlich um fotografische Reproduktionen handelt, verweisen die Tizian-Stiche auf ein etwas komplexeres Verhältnis zur Reproduktion. Sie sind Produkt der Sorgen von Marcels Großmutter um die ästhetische Erziehung ihres Enkels: »Elle eût aimé que j’eusse dans ma chambre des photographies des monuments ou des paysages les plus beaux. Mais au moment d’en faire l’emplette, et bien que la chose représentée eût une valeur esthétique, elle trouvait que la vulgarité, l’utilité reprenaient trop vite leur place dans le mode mécanique de représentation, la photographie.« (RTP I, S. 39)
In der Folge versucht sie, die »banalité commerciale« der Fotografie zu reduzieren oder zumindest den Kunstfaktor sozusagen zu erhöhen, indem sie, »comme plusieurs ›épaisseurs‹ d’art« (RTP I, S. 40), nicht ein Bild des Monuments allein, sondern seiner Darstellung durch einen Künstler verschenkt. »Mais si le photographe avait été écarté de la représentation du chef-d’œuvre ou de la nature par un grand artiste, il reprenait ses droits pour reproduire cette interprétation même« (RTP I, S. 40). Die Reproduktion ist unhintergehbar, doch um ihr zumindest ein Stück weit zu entgegnen, greift die Großmutter auf eine noch ältere Reproduktionsform zurück, auf Stiche, vorzugsweise solche, die das Abgebildete in einem früheren Zustand zeigen. Dem Alt-Ehrwürdigen des Gezeigten soll die Reproduktionstechnik entsprechen. Man kann darin, vor allem in der Formulierung ›Schichten der Kunst‹, eine »Archäologie der Wahrnehmung in nuce«51 sehen. Dies betrifft aber auch das seinerseits archäologische Bemühen der Großmutter selbst, das Überkommene – möglichst ›gestaffelt‹ in einem Bild ԟ zu bewahren, dem vor allem ein durch die Reproduktion begünstigter neuer Umgang mit Bildern gegenübersteht. Von den Stichen nach Tizian, die später neben den Giotto-Reproduktionen als Ursache der Venedig-Sehnsucht genannt werden, heißt es: »L’idée que je pris de Venise d’après un dessin de Titien […] était certainement beaucoup moins exacte que celle que m’eussent donnée de simples photographies« (RTP I, S. 40). Die fotografische Reproduktion ist ein Mittel, das, was die Großmutter als Überbleibsel vergangener 51 Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie, S. 145; es geht hier allerdings nicht, wie Neumann, der ausschließlich die deutsche Übersetzung verwendet, meint, um den künstlerischen »Stil« (ebd., S. 147) der Fotografie als deren »Sprache« (vgl. Marcel Proust: Unterwegs zu Swann. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Aus dem Französischen v. Eva Rechel-Mertens, revidiert v. Luzius Keller. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 (= Werke II.1), S. 61: »so kam er [der Fotograf] doch bei der Reproduktion der künstlerischen Darstellung wieder zu Wort« statt »il reprenait ses droits«).
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Zeiten bewahren wollte, in die Gegenwart zu setzen. Später, wenn die lang erwartete Reise nach Italien tatsächlich bevorzustehen scheint, imaginiert sich Marcel auf ein Foto des Markusplatzes: »ce pourrait être moi le personnage minuscule que, dans une grande photographie de Saint-Marc qu’on m’avait prêtée, l’illustrateur avait représenté […] devant les porches« (RTP I, S. 386). Es ist sicherlich verführerisch, diese Stellen mit Benjamins Thesen zur technischen Reproduzierbarkeit zu lesen, und bis zu einem gewissen Grad ließe sich dies auch durchführen. Die fotografische Reproduktion dient im Fall der Fotografie von San Marco tatsächlich dazu, sich die Werke näherzubringen, und wir werden, wenn auch nicht im Fall von Venedig, sehen, dass auch das Original in seinem ›Hier und Jetzt‹ durch die Reproduktion nicht unbeschädigt bleibt. Zugleich lässt sich in der Recherche aber, soweit man hier mit Benjamin argumentieren will, weniger ein Verfall als eine Verschiebung der Aura feststellen. Schon die Imagination der Nähe beim Foto von Venedig gewinnt ihren Reiz zum einen durch die reale Ferne des Orts, zum andern aus der Geschichte der Kunst, die sich in ihm akkumuliert. Auch wenn für Benjamin bei der technischen Reproduktion die Aura ausfallen mag, bei Proust steht sie dem Zauber imaginärer Besetzungen und Projektionen offen: »Die Reproduktion ersetzt nicht die Aura des Originals, sondern sie läßt diese übertragbar werden.«52 Darin tritt sie als Medium einer Erwartung, die in einer bei Proust typischen Bewegung nach ihrer Enttäuschung durch die reale Erfahrung erst im Nachhinein wieder eingeholt werden kann, durchaus in eine Entsprechung zum Werk der Erinnerung. Dem jungen Marcel im »âge des noms«53 scheint im Namen einer Stadt noch ihre Individualität und ihr Wesen wie ein Bild zu wohnen. Der Name Balbecs zeigt ihm, »comme dans le verre grossissant de ces porte-plume qu’on achète aux bains de mer, […] des vagues soulevées autour d’une église de style persan« (RTP I, S. 382). Schon der Vergleich mit einem kitschigen Touristensouvenir deutet die Falschheit dieser Imaginationen an, aber auch hier ist die scheinbar mimetische
52 Horst Bredekamp: Berenson, Horne, Warburg & Co. Die Geschichte der Kunstgeschichte in Marcel Prousts ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹. In: Uwe Fleckner/Martin Schieder/Michael F. Zimmermann (Hg.): Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart. Thomas W. Gaethgens zum 60. Geburtstag. Bd. 3: Dialog der Avantgarden. Köln: DuMont 2000, S. 71-82, S. 76. 53 Zur ursprünglich geplanten Unterteilung des Romans in die Teile »âge des noms«, »âge des mots« und »âge des choses« und deren Spuren in der jetzigen Textgestalt, vgl. Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Heidelberg: Winter 21970, S. 145 ff.; vgl. im vorliegenden Zusammenhang auch Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff. München: Fink 1997, S. 449 f.
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Dimension des Namens54 bereits durch fotografische und andere Reproduktionen unterstützt: »On me mena voir des reproductions des plus célèbres statues de Balbec ԟ les apôtres moutonnants et camus, la Vierge du porche, et de joie ma respiration s’arrêtait dans ma poitrine quand je pensais que je pourrais les voir se modeler en relief sur le brouillard éternel et salé« (RTP I, S. 377). Das Bild, das Marcel in den Namen legt, scheint ihm, als er endlich nach Balbec reisen kann, noch bei der Ankunft am Bahnhof zu begegnen: »au-dessus d’un buffet, en lettres blanches sur un avertisseur bleu, […] je lus le nom, presque de style persan, de Balbec« (RTP II, S. 19). Der Schriftzug wird ihm schon zum Bild, zeigt in der zitierenden Wiederholung der angeblichen Eigenart der Kirche aber auch das Stereotype der Erwartung an. Diese wird dann natürlich enttäuscht: Das Meer ist einige Kilometer entfernt und die Kirche selbst steht in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof, zwischen einer Straßenbahnkreuzung und einem Café. Die Banalität der Umgebung versucht Marcel nun gerade – vergeblich ԟ im Rekurs auf die Reproduktion zu kompensieren: »Je me disais: C’est ici, c’est l’église de Balbec. Cette place qui a l’air de savoir sa gloire, est le seul lieu du monde qui possède l’église de Balbec. Ce que j’ai vu jusqu’ici c’était des photographies de cette église, et, de ces Apôtres, de cette Vierge du porche si célèbres, les moulages seulement. Maintenant, c’est l’église elle-même, c’est la statue elle-même, ce sont elles; elles, les uniques, c’est bien plus. C’était moins aussi peut-être. […] mon esprit qui avait dressé la Vierge du porche hors des reproductions que j’en avais eues sous les yeux, inaccessible aux vicissitudes qui pouvaient menacer celles-ci, […] idéale, ayant une valeur universelle, s’étonnait de voir la statue […] réduite maintenant à sa propre apparence de pierre, occupant par rapport à la portée de mon bras une place où elle avait pour rivales une affiche électorale et la pointe de ma canne, […] soumise à la tyrannie du Particulier au point que, si j’avais voulu tracer ma signature sur cette pierre, c’est elle, la Vierge illustre que jusque-là j’avais douée d’une existence générale et d’une intangible beauté, la Vierge de Balbec, l’unique (ce qui, hélas! voulait dire la seule), qui […] aurait […] montré à tous les admirateurs venus là pour la contempler, la trace de mon morceau de craie et les lettres de mon nom, et c’était elle enfin, l’œuvre d’art immortelle et si longtemps désirée, que je trouvais métamorphosée, ainsi que l’église elle-même, en une petite vieille de pierre […].« (RTP II, S. 20 f.)
Was Benjamin als Entwertung des ›Hier und Jetzt‹ durch die technische Reproduktion beschreibt, entwickelt hier eine komplexere Dialektik. Die technische Reproduktion – die Abgüsse ebenso wie die Fotografie ԟ produzierte erst die Erwartung einer Aura angesichts des abwesenden Originals, indem sie das Einmalige mit dem Versprechen eines Universellen der Kunst verknüpfte. Mit jenem konfrontiert, muss Marcel die Erfahrung machen, dass auch der Anblick der tatsächlichen Kirche diese 54 Vgl. in dem Sinn die sehr Proust-affine Notiz Benjamins in GS V.2, S. 1038.
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Erwartung nicht in volle Präsenz heben kann. Die Verschränkung von Präsenz und Absenz wäre tatsächlich das, was die Aura als ästhetische Erfahrung ausmacht. Sie kann sich jedoch nur als Erwartung an der Reproduktion eines Abwesenden entzünden; angesichts der Präsenz des Originals fällt eines aus: die auratische Dimension der Ferne. Die ständig wiederkehrenden Demonstrativa und Ausrufe wie »c’est elle«, »c’est ici«, die wie eine fortlaufende Versicherung der Einmaligkeit in den Satz einbrechen, stehen sozusagen auf der Kippe zwischen der Erwartung, »unique« meine »bien plus« und der Erfahrung, dass es letztlich nur »la seule« bedeutet. Als Gipfel der Entzauberung erscheint schließlich die Möglichkeit, die Statue mit dem eigenen Namen signieren zu können. Wird die Schrift beim Anblick des Schilds am Bahnhof noch zum Bild, so soll nun, mit der Signatur, die Statue selbst durch die Schrift markiert werden. Damit aber wird, was vorher im Supplement der Reproduktion an der Stelle der auratischen Kunst stand, nun wieder ins Supplement der Schrift überführt. Dies geschieht durch die Beschreibung tatsächlich. Das sprachliche Kunstwerk steht an der Stelle eines Abwesenden, das es immer anstrebt, aber nur in dieser Bewegung verwirklichen kann. Indem die hypothetische Signatur den nie tatsächlich genannten Namen des erinnerten Ich ins Spiel bringt, kehrt sie das romantische Bild im Namen Balbecs um: Wie im Namen der Stadt ein Bild der Kirche zu liegen schien, das so nicht eingelöst werden konnte, liegt im sprachlichen Kunstwerk der Name seines Erzählers, ohne je wirklich genannt zu werden. Den ›orientalischen‹ Charakter der Kirche wird Marcel später erst einsehen. Zur typischen Bewegung des Texts gehört schließlich, dass bewusste Erfahrung nie anders als im Nachhinein möglich ist. Die Abfolge von Erwartung, Enttäuschung und nachträglichem Erkennen eines nicht erfahrenen ästhetischen Genusses findet ihren Abschluss in den Erklärungen des Malers Elstir, der wieder anhand eines Fotos auf die gesuchten orientalischen Motive aufmerksam macht.55 Auf der Handlungsebene erfüllt also durchaus eine Fotografie die Funktion eines Supplements oder Ersatzes für ein Imaginäres, das, wenn es schon keine Entsprechung in der Erfahrung hat, sich immerhin noch der kunstgeschichtlichen Grundlage der eigenen Projektionen versichern kann. In anderen Fällen scheint die Fotografie eher einen ›profanen‹ Ersatz für den verpassten Kunstgenuss zu liefern. Die Schauspielerin Berma scheint für Marcel lange Zeit alle Versprechen und Geheimnisse der Kunst des Theaters zu verkörpern. Der sehnsüchtig erwartete erste Besuch im Theater wird dann allerdings zu einer Enttäuschung, weil es Marcel trotz aller Anstrengung nicht gelingen will, die Schönheit im Spiel der Berma zu entdecken: »J’aurai voulu […] arrêter, immobiliser longtemps devant moi chaque intonation de l’artiste, chaque expression de sa physionomie […]« (RTP I, S. 440 f.). Der Versuch der Fixierung, dem zeitlichen 55 Vgl. RTP II, S. 198.
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Charakter des Geschehens auf der Bühne ohnehin unangemessen, führt schließlich zum Griff nach der Lorgnette der Großmutter. Der Blick durchs optische Gerät macht die Schauspielerin zum Bild, was allerdings keine bessere Erkenntnis verschafft, sondern im Gegenteil die Bildlichkeit des Geschehens selbst nur multipliziert: »Laquelle des deux Berma était la vraie?« (RTP I, S. 441). Diese Frage stellt sich Marcel später nicht mehr. Bei einem Straßenhändler kauft er eine Fotografie der Berma. Wie in einer Parodie auf die später formulierte Theorie der Erinnerung, die Benjamin als Beleg dient, »[w]ie sehr Proust im Problem der Aura bewandert war« (GS I.2, S. 647),56 wird nun das Foto der Berma beschrieben: »Ce visage, d’ailleurs, ne m’eût pas à lui seul semblé beau, mais il me donnait l’idée et par conséquent, l’envie de l’embrasser à cause de tous les baisers qu’il avait dû supporter et que, du fond de la ›carte-album‹, il semblait appeler encore par ce regard coquettement tendre et ce sourire artificieusement ingénu.« (RTP I, S. 478)
Die Multiplikation der technischen Reproduzierbarkeit, sogar die des erotischen Genusses, steht dem Begehren hier nicht entgegen.57 Sie ist es gerade, die dem Bild seinen Wert verleiht, als Wunsch, zu denen sich zu versammeln, die die Schauspielerin früher geküsst haben.
5. F OTOGRAFISCHE G EGENMETAPHORIK Das Problem, das sich im Theater beim Blick durch die Lorgnette stellt, beherrscht auch die tatsächlichen Liebesgeschichten der Recherche. Vor allem Marcels problematische Beziehung zu Albertine nimmt das Problem der Fixierung, wie es sich im Theater stellte, wiederum mit Foto-Metaphern auf, die der Erinnerungspoetik des Endes und ihren Entwicklungs-Metaphern entgegenlaufen. Ging es bei diesen Metaphern um die Differenz von unmittelbarer Wiedergabe und Nachträglichkeit der Erinnerung, so tritt mit der Fotografie hier der Gegensatz einer momentanen 56 Vgl. die entsprechende Stelle: RTP IV, S. 463: »Certains esprits qui aiment le mystère veulent croire que les objets conservent quelque chose des yeux qui les regardèrent, que les monuments et les tableaux ne nous apparaissent que sous le voile sensible que leur ont tissé l’amour et la contemplation de tant d’adorateurs […].« Im Gegensatz zu den erotischen Phantasien seiner Jugend und zu Benjamins Aura-Theorie schränkt Marcel das dann freilich auf die »propre sensibilité« des jeweiligen Betrachters ein. 57 Vgl. zum Komplex von Fotografie und Begehren in der Recherche auch: Marie Miguet: Fonction romanesque de quelques photographies dans la Recherche. In: Bulletin de la Société des amis de Marcel Proust et des amis de Combray 36 (1986), S. 505-516, S. 509 ff.
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Fixierung flüchtiger Augenblicke zur nachträglichen Synthese und Aufhebung des Flüchtigen in den Vordergrund. Vorgeprägt findet sich das Problem schon in Marcels unglücklicher Liebe zu Gilberte Swann: »[…] quand nous n’aimons pas, nous immobilisons. Le modèle chéri, au contraire, bouge; on en n’a jamais que des photographies manquées« (RTP I, S. 481). Gerade der Versuch des Liebenden, das Objekt seiner Liebe vollständig zu erfassen, muss immer wieder an der Erfahrung scheitern. Der Wunsch nach einer solchen Erfassung äußert sich hier schließlich in einer Serie von Substitutionen, die fetischistische Züge annimmt.58 Statt mit Gilberte wäre Marcel bereits mit einer Haarlocke zufrieden, und statt einer Locke wäre auch eine Fotografie ausreichend: »Mais n’espérant point obtenir un morceau vrai de ces nattes, si au moins j’avais pu en posséder la photographie, combien plus précieuse que celle de fleurettes dessinées par le Vinci!« (RTP I, S. 494). Während der Ästhet Swann sich noch über die Reproduktion eines Botticelli-Gemäldes seiner Geliebten Odette zu versichern suchte,59 geht es Marcel um die Authentizität einer Reliquie. In der Beziehung zu Albertine werden der Wunsch, die Geliebte zu besitzen, und dessen Vergeblichkeit schließlich zum beherrschenden Thema.60 Flüchtigkeit und Serialität prägen hier auch die fotografische Metaphorik. Das bestimmende Bild werden die »instantanés«, Momentaufnahmen, die einen Eindruck zwar einfangen, aber gerade als kontingente Bilder des Flüchtigen dem Wunsch des Liebenden nach Fixierung nie genügen. Albertine löst sich in eine Vielzahl heterogener, sich ablösender Perspektiven auf: »Car je ne possédais dans ma mémoire que des séries d’Albertine séparées les unes des autres, incomplètes, des profils, des instantanés; mais aussi ma jalousie se confinait-elle à une expression discontinue, à la fois fugitive et fixée […]« (RTP III, S. 655). Das Flüchtige stellt aber nicht allein ein Problem dar, insofern es sich selbst in der Fixierung wieder entzieht, sondern ist zugleich mit einem spezifischen ästhetischen Reiz verbunden: »Bei jeder Begegnung erscheinen Marcel die Mädchen in der Mannigfaltigkeit ihres Farb- und Linienspiels überraschend neu. Keine einzelne Impression kann diesen Reichtum in
58 Vgl. Jean-Pierre Montier: Un photographe lecteur de Proust: Brassaï. In: Jean Cléder/ Jean-Pierre Montier (Hg.): Proust et les images. Peinture, photographie, cinéma, vidéo. Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2003, S. 139-183, S. 152, S. 157 ff. 59 Vgl. RTP I, S. 221 f. 60 Vgl. im Folgenden ausführlich v.a. Rainer Warning: Proust-Studien. München: Fink 2000, S. 147 ff.; Albers: Prousts photographisches Gedächtnis, S. 52 ff.; aus textgenetischer Sicht vgl. die Beiträge in: Rainer Warning/Jean Milly (Hg.): Marcel Proust. Écrire sans fin. Paris: CNRS 1996; hier v.a. den Beitrag von Luzius Keller: Approche d’Albertine, S. 33-50.
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seiner Totalität erfassen.«61 Ihre künstlerische Entsprechung findet die erotische Faszination in der impressionistischen Malerei Elstirs. Auch dessen Bilder werden, da sie die »illusions optiques dont notre vision première est faite« (RTP II, S. 194) zur Anschauung bringen, in eine Beziehung gesetzt zu Wahrnehmungserfahrungen, wie sie später die Fotografie ›vulgarisiert‹ hat: »Par exemple, telle de ces photographies ›magnifiques‹ illustrera une loi de perspective, nous montrera telle cathédrale que nous avons l’habitude de voir au milieu de la ville, prise au contraire d’un point choisi d’où elle aura l’air trente fois plus haute que les maisons et faisant éperon au bord du fleuve d’où elle est en réalité distante.« (RTP II, S. 194)
Mit beinahe denselben Bildern wird später der erste Kuss Albertines, mit dem Marcel die Hoffnung auf eine »connaissance par les lèvres« (RTP II, S. 659) verbindet, beschrieben62: »Les dernières applications de la photographie – qui couchent aux pieds d’une cathédrale toutes les maisons qui nous parurent si souvent, de près, presque aussi hautes que les tours, […] – je ne vois que cela qui puisse, autant que le baiser, faire surgir de ce que nous croyons une chose à aspect défini, les cent autres choses qu’elle est tout aussi bien, puisque chacune est relative à une perspective non moins légitime. Bref, de même qu’à Balbec, Albertine m’avait souvent paru différente, maintenant, […] dans ce court trajet de mes lèvres vers sa joue, c’est dix Albertine que je vis […].« (RTP II, S. 660)63
Es erscheint weniger fruchtbar, angesichts solcher Bezüge entscheiden zu wollen, ob bei einer bestimmten Beschreibung nun der Impressionismus oder die Fotografie Pate gestanden hat,64 sondern vielmehr kommt es auf ihre Schnittmenge in Begrif61 Warning: Proust-Studien, S. 149; vgl. in dem Zusammenhang auch die Szene, in der Marcel die »petite bande« um Albertine zum ersten Mal sieht (RTP II, S. 146 f.). Dieser Anblick wurde verschiedentlich ebenfalls als ›fotografischer Blick‹ beschrieben, vgl. v.a. Bal: The Mottled Screen, S. 206. 62 Vgl. zu einer ausführlichen Analyse der Szene: Albers: Proust und die Kunst der Photographie, S. 220 ff. 63 Das Problem der Kenntnis Albertines stellt sich ohne Referenz auf die Fotografie bereits vorher als eines wandelnder Perspektiven dar: »Les qualités et les défauts qu’un être présente disposés au premier plan de son visage se rangent selon une formation tout autre si nous l’abordons par un côté différent – comme dans une ville les monuments répandus en ordre dispersé sur une seule ligne, d’un autre point de vue s’échelonnent en profondeur et échangent leurs grandeurs relatives.« (RTP II, S. 229). 64 Der Entschiedenheit von Bals Urteil kann ich mich z.B. nicht anschließen: »La description des jeunes filles de Balbec n’est pas impressioniste, même si le côté essayiste du
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fen des flüchtigen Eindrucks, eines Sehens vor verstandesgemäßen Kategorien und der Durchbrechung eingeschliffener Wahrnehmungsmuster an. Wird dies bei Elstir als ästhetische Neuerung gefeiert, so erscheint es bei Albertine äußerst ambivalent. Ursache für diese Ambivalenz ist Marcels Versuch, den flüchtigen Eindruck und das reine Sehen zu transzendieren. Das Problem einer Kenntnis der Geliebten wird schließlich zum Antrieb einer ganz anders gearteten Recherche und verlagert sich zunehmend auf die Frage nach Albertines möglicher Homosexualität.65 Sind die Foto-Bezüge dabei zunächst an die Frage nach dem Zusammenhang von Erkennbarkeit und Sichtbarkeit geknüpft,66 so entwickelt sich die enge Verbindung von »poetischen, libidinösen und epistemologischen« Problemen67 immer mehr zu einem Problem der Erinnerung und damit des Romans selbst. Angesichts der »fugatexte veut nous le faire croire. C’est une photographie, agrandie ›en cascade‹, […] jusqu’à ce que le groupe se dissolve et que les jeunes filles se détachent les unes des autres et de l’image.« (Mieke Bal: Instantanés. In: Sophie Bertho (Hg.): Proust contemporain. Amsterdam u.a.: Rodopi 1994, S. 117-130, S. 117). 65 Vgl. hierzu Luzius Keller: Literaturtheorie und immanente Ästhetik im Werke Marcel Prousts. In: Edgar Mass/Volker Roloff (Hg.): Marcel Proust. Lesen und Schreiben. Frankfurt a.M.: Insel 1983, S. 153-169, S. 167: »Wesentlich ist dabei, daß in der Recherche Homosexualität nicht […] als eine gelebte, sondern aus der Sicht des Befragenden erscheint. […] Marcel vor dem unergründlichen Geheimnis der Homosexualität, besonders aber jener Marcel vor Albertine kann so für Prousts Roman und seine Leser, oder allgemein für Literatur als Akt des Schreibens und des Lesens, ein gültigeres Bild abgeben als jener Marcel, der in der Bibliothek des Prince de Guermantes darlegt, wie sein künftiges Werk aussehen wird und wie es gelesen werden soll.« 66 Dies ist beim Thema Homosexualität in der Recherche generell der Fall: Marcels Freund Saint-Loup beispielsweise, der einen »Kodak« besitzt, versucht, in der Dunkelkammer einen Liftboy zu verführen (vgl. RTP IV, S. 259 f.; vgl. dazu: Jérôme Thélot: Les inventions littéraires, S. 201 ff., der daraus sehr weitreichende Schlüsse zieht); zwei weitere Stellen, an denen seine Homosexualität ins Spiel kommt und verborgen wird, wurden des Öfteren mit den fotografischen Experimenten Mareys bzw. Muybridges in Verbindung gebracht (vgl. RTP II, S. 480, RTP IV, S. 389; vgl. dazu Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie, S. 153 f.; Valérie Dupuy: Le temps incorporé: chronophotographie et personnage proustien. In: Cléder/Montier (Hg.): Proust et les images, S. 115138; Sandra Poppe: Visualität in Literatur und Film. Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 172; Bal: The Mottled Screen, S. 226, S. 231 ff.; William C. Carter: The Proustian quest. New York: New York University Press 1992, S. 63 ff., S. 76). 67 Mieke Bal: Alle/s in der Familie. Familiarität und Entfremdung nach Marcel Proust. In: Dies.: Kulturanalyse. Hg. v. Thomas Fechner-Smarsly u. Sonja Neef. Übers. v. Joachim Schulte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 146-183, S. 151.
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cité des êtres« (RTP II, S. 154), zu deren Paradigma Albertine wird, ist die Erinnerung immer zu spät. Was im Kontext der ›offiziellen‹ Poetik der Recherche zum Prinzip der zur »vocation« stilisierten Identität von Leben und Werk werden soll – das nachträgliche Aufheben von Ersterem in der Erinnerung –, erweist sich hier als unmögliche Aufgabe. Die Geliebte entzieht sich der Zuschreibung einer festen Identität, die einzelnen Bilder lassen sich nicht mehr in der Erinnerung synthetisieren: »comme la mémoire commence tout de suite à prendre des clichés indépendants les uns des autres, supprime tout lien, tout progrès, entre les scènes qui y sont figurées, dans la collection de ceux qu’elle expose, le dernier ne détruit pas forcément les précédents« (RTP II, S. 230). Diese fotografische Metaphorik lässt sich in die Oppositionen von mémoire volontaire und mémoire involontaire nicht mehr integrieren. Keine ›langweilige‹ »exposition de photographies« (RTP IV, S. 444) präsentiert sich nach Albertines Tod im Gedächtnis, sondern eine Pluralität disparater Bilder: »Pour entrer en nous, un être a été obligé de prendre la forme, de se plier au cadre du temps; ne nous apparaissant que par minutes successives, il n’a jamais pu nous livrer de lui qu’un seul aspect à la fois, nous débiter de lui qu’une seule photographie. Grande faiblesse sans doute pour un être, de consister en une simple collection de moments; grande force aussi; il relève de la mémoire, et la mémoire d’un moment n’est pas instruite de tout ce qui s’est passé depuis; ce moment qu’elle a enregistré dure encore, vit encore, et avec lui l’être qui s’y profilait. Et puis cet émiettement ne fait pas seulement vivre la morte, il la multiplie. Pour me consoler, ce n’est pas une, c’est d’innombrables Albertine que j’aurais dû oublier.« (RTP IV, S. 60)
Statt der Anstrengung, sich die Vergangenheit in ihrer Gänze zurückzurufen, stellt sich die weitere Handlung von Albertine disparue als Versuch eines fortschreitenden Vergessens dar.68 Doch gerade das »fractionnement d’Albertine« (RTP IV, S. 110) widersetzt sich diesem Vergessen ebenso wie es eine einheitliche Erinnerung unmöglich macht. Die Zersplitterung der Personen in ›Einzelbilder‹ ist für die Figurendarstellung in der Recherche generell charakteristisch. So wird auf der Matinée bei den Guermantes am Ende, dem sogenannten »bal de têtes«, die Metapher der Momentaufnahmen wieder aufgegriffen, wenn Marcel die Greise wie »instantanés d’euxmêmes« (RTP IV, S. 520) erscheinen. Der Zerfall der Vergangenheit in diskontinuierliche Einzelmomente stellt sich hier als Problem der Wahrnehmung und begrifflichen Fassung von Zeit überhaupt dar: »notre manière de prendre connaissance et pour ainsi dire prendre le cliché de cet univers mouvant, entraîné par le Temps, l’immobilise […]« (RTP IV, S. 542). Georges Poulet hat vor diesem Hintergrund 68 Vgl. Warning: Proust-Studien, S. 159 ff.
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die Personendarstellung der Recherche konsequenterweise mit einem Fotoalbum verglichen: »[…] les seules images d’eux-mêmes qu’il soit permis aux personnages proustiens de nous offrir, sont semblables à ces photographies d’une même personne, dont nos albums sont pleins. […] Chacune de ces ›photos‹ est rigoureusement déterminée par son cadre; l’ensemble reste discontinu.«69 Poulet geht es dabei auch um den Gegensatz der Proust’schen Zeitkonzeption zu derjenigen Bergsons. Auch dieser greift bekanntlich auf eine ganze Reihe fotografischer und kinematographischer Vergleiche zurück, um eine intellektuelle, verräumlichte Auffassung der Zeit zu charakterisieren.70 Ihr setzt er das Konzept einer kontinuierlichen, unteilbaren Zeit der durée entgegen: »Sur le flux même de la durée la science ne voulait ni pouvait avoir prise, attaché qu’elle était à la méthode cinématographique.«71 Eine in einzelnen, diskontinuierlichen Bildern verräumlichte Zeit, wie sie Prousts Roman prägt, lässt sich damit ebenso schwer vereinen wie die Bedeutung, die dort der Intensität einzelner Erinnerungsmomenten beigemessen wird.72 Richtet sich zwar auch die Ablehnung des »défilé cinématographique« (RTP IV, S. 461) in der Recherche nicht nur gegen die bloße Abbildung, sondern auch gegen eine am chronologischen Nacheinander der Filmbilder orientierte literarische Darstellungstechnik, so zielt dies vor allem auf das Gegenkonzept einer Literatur
69 Georges Poulet: L’espace proustien. Paris: Gallimard 1963, S. 39 f. 70 Vgl. Henri Bergson: Matière et mémoire. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. André Robinet. Paris: PUF 1963, S. 161-381, S. 188; ders.: L’Évolution créatrice. In: Œuvres, S. 487-811, v.a. das Kapitel Le mécanisme cinématographique de la pensée et l’illusion mécanistique (S. 725 ff.), S. 752 f., S. 776. Zur Fotografie bei Bergson vgl. Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie, S. 119 ff., zu Proust und Bergson: S. 131 f.; zu Bergson und Proust vgl. neben Poulet auch Stefano Poggi: Proust, Bergson und der aphasische Symptomkomplex. In: Ursula Link-Heer (Hg.): Marcel Proust und die Philosophie. Frankfurt a.M.: Insel 1994, S. 158-174. 71 Bergson: L’Évolution créatrice, S. 784. 72 Vgl. Poulet, S. 136; vgl. auch Gérard Genette: Proust Palimpseste. In: Gérard Genette: Figures I. Paris: Seuil 1966, S. 39-67, hier v.a. S. 55; dies trifft ebenso auf Benjamin zu, dessen Bild des Abblätterheftchens die gleiche Zeitkonzeption zugrunde liegt (vgl. hierzu, auch in Bezug auf Proust: Jürgen Link/Ursula Link-Heer: Synchronische Diachronie. Von Benjamins »Kleiner Rede über Proust« zu den Aphorismen »Über den Begriff der Geschichte«. In: Harald Hillgärtner (Hg.): Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner. Bielefeld: Transcript 2003, S. 16-33, v.a. S. 22 f.). Eine Orientierung der Zeit des Werks an Bergson betont dagegen Karlheinz Stierle: Zeit und Werk. Prousts »À la recherche du Temps perdu« und Dantes »Commedia«. München: Hanser 2008, S. 127.
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ab, die Zeitlichkeit im eigenen Medium der Sprache reflektiert.73 Das Nebeneinander der einzelnen Erinnerungsbilder soll im Raum der Schrift verknüpft werden, ohne es in eine ԟ sei es chronologisch, sei es lebensphilosophisch verstandene ԟ Kontinuität zu überführen.74 Wie Genette gezeigt hat, gelingt dies Proust vor allem mittels einer metonymisch motivierten Metaphorik,75 welche »eine fast unüberschaubare Kombinatorik selbst auf kleinstem Raum [gewährleistet], indem sie nach dem Prinzip der Setzung von Analogien lokal und temporal Entlegenes mit dem gegebenen Objekt verbindet.«76 Das Problem, inwiefern dieses Verfahren wirklich die in Le Temps retrouvé formulierte Entsprechung von mémoire involontaire und Metapher einlöst77 oder ob sich die beschworenen Analogieerfahrungen nicht erst dem sprachlichen Verfahren verdanken,78 ist im vorliegenden Zusammenhang eher zweitrangig. Entscheidend ist, dass die Metaphorik der Momentaufnahmen im Fall der »série indéfinie d’Albertines imaginées« (RTP II, S. 213) weder auf eine sprachliche noch
73 Hörisch-Helligrath sieht daher mit der »Verräumlichung der Zeit und Verzeitlichung des Raums« in der Recherche »für den Film typische Leistungen« verwirklicht, die aber als genuin literarische Möglichkeiten gefasst werden, »die anders als krud realistische Kunst«, für die der Film steht, »das Subjekt und die Dimension der Zeit zu ihren integralen Bestandteilen erklärt« (Renate Hörisch-Helligrath: Das deutende Auge. Technischer Fortschritt und Wahrnehmungsweise in der Recherche. In: Edgar Mass (Hg.): Marcel Proust. Motiv und Verfahren. Frankfurt a.M.: Insel 1986, S. 14-30, S. 22 ff.). 74 Vgl. auch Vittoria Borsò: Proust und die Medien: Écriture und Filmschrift zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. In: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.): Proust und die Medien. München: Fink 2005, S. 31-60, S. 35: »Proust betont die von Bergson verworfene Simultaneität der Wahrnehmung und damit die Nebeneinanderstellung (juxtaposition) als Verwandlung der Zeit in Raum und geht dabei noch weiter. Nicht nur die Verräumlichung der Zeit, sondern auch die Verzeitlichung des Raums sind das Prinzip seines Schreibens. Der Raum der Schrift als Medium wird die Ermöglichungsbedingung seiner Vision.« 75 Gérard Genette: Métonymie chez Proust. In: Ders.: Figures III. Paris: Seuil 1972, S. 4163, v.a. S. 55 ff. 76 Angelika Corbineau-Hoffmann: Beschreibung als Verfahren. Die Ästhetik des Objekts im Werk Marcel Prousts. Stuttgart: Metzler 1980, S. 107. 77 Vgl. RTP IV, S. 467. 78 Vgl. Ulrike Sprenger: Proust-ABC. Leipzig: Reclam 1997, S. 147; vgl. allg. die gründliche Studie von Roderich Billermann: Die »métaphore« bei Marcel Proust. Ihre Wurzeln bei Novalis, Heine und Baudelaire, ihre Theorie und Praxis. München: Fink 2000, zum vorliegenden Zusammenhang v.a. S. 253 ff., vgl. außerdem Warning: Proust-Studien, S. 97 ff.
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eine erinnernde Synthese angelegt ist, 79 sondern die Vergangenheit hier als fragmentarisches, immer wieder neu zusammenzustellendes Nebeneinander von Oberflächen figuriert.
6. L ITERARISCHES UND FOTOGRAFISCHES G EDÄCHTNIS : D AS B ILD DER G ROSSMUTTER Die diskontinuierliche Zeit und ihre dem Wechselspiel von Erinnern und Vergessen entzogenen Momentbilder wären nun wieder mit der Funktion der im Text vorliegenden Fotos zu vermitteln. Sieht man von einigen mit der Notiz »À mettre quelque part« (RTP IV, S. 655) versehenen Fragmenten aus dem Nachlass ab, schlägt sich die Problematik des »roman d’Albertine« in erster Linie in fotografischen Metaphern nieder. Die Fotografie, die Marcel Saint-Loup nach der Flucht Albertines zeigt, unterscheidet sich zumindest deutlich von den mit unfassbarer Flüchtigkeit konnotierten »instantanés«. Dem Foto der Berma steht sie in gewisser Weise näher, jedoch wird der objektivistische Fehlschluss des jungen Marcel hier korrigiert: Es sind die Augen des Liebenden, die das Bild der Geliebten schön machen. Die ungläubige Reaktion Saint-Loups angesichts des Fotos führt dies Marcel drastisch vor Augen: »›C’est ça, la jeune fille que tu aimes?‹ finit-il par me dire d’un ton où l’étonnement était maté par la crainte de me fâcher. […] Je compris toute de suite l’étonnement de Robert […] Albertine n’était, comme une pierre autour de laquelle il a neigé, que le centre générateur d’une immense construction qui passait par le plan de mon cœur. Robert, pour qui était invisible toute cette stratification de sensations, ne saisissait qu’un résidu qu’elle m’empêchait au contraire d’apercevoir.« (RTP IV, S. 21 f.)
Das Foto gewinnt seinen Wert als Zentrum von Empfindungen, die den Blick auf den rein materiellen Gegenstand, der darauf zu sehen ist, verhindern. Mit der Fotografie Albertines wird daher die Funktion eines großen Teils der fiktiven, nicht metaphorischen Fotografien in der Recherche deutlich. Als Medien des Abwesenden sind sie so etwas wie Sammelpunkte eines Begehrens, die weniger einen wirklichen Gegenstand repräsentieren als vielmehr die Wünsche und Vorstellungen, die der jeweilige Betrachter damit verbindet. In diesem Sinn führt zum Beispiel der Großonkel von Marcels Freund Bloch, Nissim Bernard, als Beweis für seine angebliche Vertrautheit mit Saint-Loups Vater an, er habe zuhause eine Fotografie desselben,80 und M. de Charlus’ Bemerkung: »La photographie acquiert un peu de 79 Vgl. Albers: Prousts photographisches Gedächtnis, S. 54 f. 80 Vgl. RTP II, S. 134.
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la dignité qui lui manque quand elle cesse d’être une reproduction du réel et nous montre des choses qui n’existent plus« (RTP II, S. 123) scheint sich in erster Linie darauf zu beziehen, dass das fotografierte ehemalige Anwesen seiner Familie nun einer jüdischen Familie gehört bzw. dass ein Porträt eine Verwandte zeigt, bevor diese ihren Mann verlassen hat – in beiden Fällen weniger materielle Veränderungen als vielmehr solche, die Charlus’ antisemitisch gefärbtem Standesdünkel entspringen. Die zitierte Passage zur Fotografie Albertines ist besonders dann interessant, wenn sie zu einer der bekanntesten Stellen zur Fotografie in der Recherche in Beziehung gesetzt wird: dem Blick Marcels auf seine Großmutter bei seiner Rückkehr aus Doncières. Als er den Salon des Elternhauses betritt, sieht er seine Großmutter, ohne dass sie seine Anwesenheit bemerkt: »De moi – par ce privilège qui ne dure pas et où nous avons, pendant le court instant du retour, la faculté d’assister brusquement à notre propre absence – il n’y avait que le témoin, l’observateur, en chapeau et manteau de voyage, l’étranger qui n’est pas de la maison, le photographe qui vient prendre un cliché des lieux qu’on ne verra plus. Ce qui, mécaniquement, se fit à ce moment dans mes yeux quand j’aperçus ma grand-mère, ce fut bien une photographie. Nous ne voyons jamais les êtres chéris que dans le système animé, le mouvement perpétuel de notre incessante tendresse, laquelle, avant de laisser les images que nous présente leur visage arriver jusqu’à nous, les prend dans son tourbillon, les rejette sur l’idée que nous nous faisons d’eux depuis toujours, […]. Comment, […] puisque tout regard habituel est une nécromancie et chaque visage qu’on aime, le miroir du passé, comment n’en eussé-je pas omis ce qui en elle avait pu s’alourdir et changer […]? Mais qu’au lieu de notre œil, ce soit un objectif purement matériel, une plaque photographique, qui ait regardé, alors ce que nous verrons, par exemple dans la cour de l’Institut, au lieu de la sortie d’un académicien qui veut appeler un fiacre, ce sera sa titubation, ses précautions pour ne pas tomber en arrière, la parabole de sa chute, comme s’il était ivre ou que le sol fût couvert de verglas. Il en est de même quand quelque cruelle ruse du hasard empêche notre intelligente et pieuse tendresse d’accourir au temps pour cacher à nos regards ce qu’ils ne doivent jamais contempler, quand elle est devancée par eux qui, arrivés les premiers sur place et laissés à eux-mêmes fonctionnent mécaniquement à la façon de pellicules, et nous montrent, au lieu de l’être aimé qui n’existe plus depuis longtemps mais dont elle n’avait jamais voulu que la mort nous fut révélée, l’être nouveau que cent fois par jour elle revêtait d’une chère et menteuse ressemblance. Et […] moi pour qui ma grand-mère était encore moi-même, moi qui ne l’avais jamais vue que dans mon âme, toujours à la même place du passé, […] tout d’un coup, dans notre salon qui faisait partie d’un monde nouveau, celui du Temps, […] pour la première fois et seulement pour un instant […] j’aperçus sur le canapé, sous la lampe, rouge, lourde et vulgaire, malade, rêvassant, promenant au-dessus d’un livre des yeux un peu fous, une vieille femme accablée que je ne connaissais pas.« (RTP II, S. 438 ff.)
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Die Stelle liest sich wie eine Umkehrung des gerade beschriebenen Umgangs mit Fotografien in der Recherche. Entgegen Charlus’ grundsätzlich zutreffender, wenn auch im Kontext falscher, Bemerkung, die Fotografie zeige Dinge, die nicht mehr existieren, ist es hier der »regard habituel«, der eine Person sieht, »qui n’existe plus depuis longtemps«. Der ›fotografische‹ Blick auf die Großmutter hingegen sieht, was Saint-Loup im Gegensatz zu Marcel auf der Fotografie Albertines allein wahrnahm: den Körper jenseits aller affektiven Einkleidungen. Kracauers Bemerkung: »Photography, Proust has it, is the product of complete alienation«,81 kann für die Gesamtheit der Bezüge auf die Fotografie in der Recherche kaum Geltung beanspruchen – zumal es hier gar nicht um eine konkrete Fotografie geht –, in der zitierten Passage allerdings ist der Rückgriff auf den Topos des ›toten Bildes‹ in der Tat das Produkt einer Entfremdungserfahrung. Das Gefühl, der eigenen Abwesenheit beizuwohnen, setzt das gesehene ›Bild‹ aus allen Bezügen zum eigenen Leben heraus und verweist schon auf die endgültige Abwesenheit derjenigen, die hier noch anwesend ist. Der Vergleich mit der Fotografie steht so, ähnlich wie die Metaphern der »instantanés« bei Albertine, für einen Moment der Zeit, der als allzu gegenwärtiger aus dem Kontinuum der Erinnerung herausfällt. In der Differenz des isolierten Augenblicks zum gewohnten Bild der Großmutter eröffnet sich dem Protagonisten zum ersten Mal der Blick auf eine vergehende, hier bereits in der Großschreibung von »Temps« allegorisierte Zeit, wie sie später beim »bal de têtes« im Hôtel de Guermantes zu einer ganzen Serie vergleichbarer Schocks führt.82 Während diese Entdeckung in Le temps retrouvé in eine Reflektion über die Zeit als Form des Werks überführt wird, bleibt es an dieser Stelle noch bei der schockhaften Augenblickswahrnehmung, die nichts als den nahen Tod der Großmutter indiziert. Auch die Möglichkeit des Wiedergewinnens der verlorenen Zeit in der unwillkürlichen Erinnerung ist hier nur in einem Bild angedeutet, das diese Möglichkeit in der reinen Äußerlichkeit und Diskontinuität fotografischer Wahrnehmungsmuster gerade ausschließt. Das Beispiel des »académicien« nimmt Marcels Stolpern im Hof des Hôtel de Guermantes vorweg,83 ruft aber nur den lächerlichen Anblick auf, den dieser, überwältigt von seiner Erinnerung, den Blicken der im Hof versammelten Fahrer bietet. Implizit ist die in ihrer Äußerlichkeit und Diskontinuität fotografisch erscheinende Wahrnehmung der mémoire involontaire schon entgegengesetzt. Die Entfremdung des Vertrauten beim Anblick der Großmutter verweist ebenfalls auf eine spätere Erinnerung. War der bisherige Blick immer schon durch den unbewusst aktualisierenden Rückbezug auf die Vergangenheit geprägt, einer »né81 Siegfried Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York: Oxford University Press 1960, S. 40. 82 Vgl. Chevrier, S. 70 f. 83 Vgl. ebd., S. 76.
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cromancie«, die eben den Charakter einer ›Totenbeschwörung‹ um der Kontinuität des Vergangenen in der Gegenwart willen leugnen musste, so wird mit der Unterbrechung dieser Kontinuität ԟ dem ›fotografischen‹ Vorblick auf den Tod der Großmutter ԟ erst die Notwendigkeit des Erinnerns deutlich. Darauf zielt der Vergleich mit der Arbeit des Fotografen, »qui vient prendre un cliché des lieux qu’on ne verra plus«, ab. Die Entfremdungserfahrung, in der sich die Verknüpfung der Identität der Großmutter mit der eigenen Identität löst, wirft als Erfahrung des Anderen bzw. der Anderen das Problem eines künftigen Gedächtnisses des Anderen auf, das selbst von Fremdheit nie frei sein kann. In der Nichtidentität von Erinnertem und Erinnerung ist dieser ein Moment der Entfremdung ohnehin inhärent. Diese Problematik steht als Auseinandersetzung von Fotografie und mémoire involontaire im Zentrum des Abschnitts »Les intermittences du cœur«. Im Kapitel zu Barthes wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Foto der Großmutter dort »das Ereignis des Todes« durchaus nicht »besiegelt«.84 Was beim ›fotografischen‹ Blick zutrifft, muss nicht unbedingt für die Fotografie auf der Handlungsebene gelten. Gängige Topoi der Fotorezeption und -theorie, wie jener von der Fotografie als ›totem Bild‹, greift Proust vor allem in der Metaphorik auf, wogegen auf der Handlungsebene meist eine etwas andere, nicht einheitlich kategorisierbare fotografische Praxis vorherrscht. Fotografien als Repräsentation von Abwesendem stehen auch in der Recherche häufig im Dienst einer räumlichen oder zeitlichen Überbrückung von Distanz, die Möglichkeiten für Projektionen oder Begehren eröffnet. Eben diese Distanzüberschreitung macht das Foto als Mittel der mémoire volontaire in den »Intermittences du cœur« problematisch. So problematisch wie sonst nirgends in der Recherche erscheint hier aber auch die mémoire involontaire. Während die anderen Momente der mémoire involontaire im Roman unmittelbar den Anstoß zur Erzählung der Kindheit in Combray oder zur Formulierung der Romantheorie geben, stehen die »Intermittences« für ein Aussetzen der Handlung. Im Gegensatz zu den innerhalb der Ästhetik des Romans stehenden Glücksmomenten wie der Madeleine, den ungleichen Pflastersteinen etc. ist das Wiederfinden der Vergangenheit hier durchsetzt mit dem unwiderruflichen Bewusstsein ihres Verlusts85: 84 Schneider, S. 98; vgl. oben, Abschnitt 5 im Kapitel zu Barthes. 85 Vgl. Antoine Compagnon: Proust entre deux siècles. Paris: Seuil 1989, S. 144, der dies auch mit einem biographischen Argument verbindet: »Si la mémoire involontaire est le fondement esthétique du roman, l’intermittence en est peut-être l’origine vécue. La réminiscence est en effet une intermittence dépassée, domestiquée, mais l’intermittence pure, comme au début […] du second séjour à Balbec, […] est une péripétie trop absolue pour faire l’objet d’un apprivoisement théorique, comme la madeleine, les pavés, la cuiller ou la serviette. La réminiscence est d’ailleurs heureuse, elle envahit de joie; l’intermittence est en revanche une catastrophe, un deuil ou une désolation.«
138 | PROUST : À LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU »Perdue pour toujours; je ne pouvais comprendre et je m’exerçais à subir la souffrance de cette contradiction: d’une part, une existence, une tendresse, survivantes en moi telles que je les avais connues, c’est-à-dire faites pour moi, un amour où tout trouvait […] en moi son complément, […]; et d’autre part, aussitôt que j’avais revécu, comme présente, cette félicité, la sentir traversée par la certitude s’élançant comme une douleur physique à répétition, d’un néant qui avait effacé mon image de cette tendresse, qui avait détruit cette existence, aboli rétrospectivement notre mutuelle prédestination, fait de ma grand-mère, au moment où je la retrouvais comme dans un miroir, une simple étrangère qu’un hasard a fait passer quelques années auprès de moi, […] mais pour qui, avant et après, je n’étais rien, je ne serais rien.« (RTP III, S. 155)
Die Einsicht in den Tod der Großmutter lässt diese im Nachhinein zu einer Fremden werden. In der »étrangère« tritt die Erfahrung, die beim ›fotografischen‹ Blick in Le côté de Guermantes zum Tragen kam, wieder hervor, diesmal jedoch gleichzeitig mit dem, was Marcel bei jenem Blick so schmerzlich vermisste: der »réalité vivante« (RTP III, S. 153) der Großmutter. Was aber im Bild des »miroir« noch als gegenseitige Verbundenheit erscheint,86 unterminiert, indem es in reine Kontingenz umschlägt, das Bild der glückenden Erinnerung selbst. Mit der Alterität des Todes bzw. der Toten bleibt der Erinnerung der unaufhebbare Widerspruch einer effektiven Trennung von der Vergangenheit in ihrer vollen Präsenz eingeschrieben. Die Fotografie aber könnte nur dazu dienen, diesen Widerspruch zu verdecken: »Je ne cherchais pas à rendre la souffrance plus douce, à l’embellir, à feindre que ma grandmère ne fût qu’absente et momentanément invisible, en adressant à sa photographie […] des paroles et des prières comme à un être séparé de nous mais qui, resté individuel, nous connaît et nous reste relié par une indissoluble harmonie.« (RTP III, S. 156)
Die Abwesenheit wäre bei der Einbindung der Fotografie in ein Ritual der Trauer zwar durchaus mitgedacht, zugleich jedoch ›domestiziert‹, indem sie die prinzipielle Möglichkeit einer Kontinuität und Verbindung zur Verstorbenen noch suggeriert.87 Noch deutlicher wird dies in den quälenden Reflektionen einer Notiz aus dem Nachlass, die das Verschwinden der Verstorbenen, deren absolute Alterität, gerade in Absetzung vom Trost der Fotografie zu fassen versuchen: »Le grand fait, ce n’est pas, comme essayent de le faire croire nos photographies, etc. qu’il y a entre sa vie et la nôtre une harmonie que la mort n’a pu changer, que notre destinée en son essence la connaissait, était faite pour elle, que son visage, son individualité existait nécessairement dans notre vie; non, le grand [fait], c’est qu’elle ne nous était rien, une étrangère de 86 Vgl. dasselbe Bild beim früheren Blick auf die Großmutter (RTP II, S. 438 ff.). 87 Vgl. Chevrier: Proust et la photographie, S. 50.
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rencontre […]; que rien ne nous prédestinait, que dans l’infini nous ne [nous] reverrons jamais […].«88
Wenn Marcel später doch das Foto betrachtet, ist dies noch ganz eingebunden in die von der mémoire involontaire angestoßene widersprüchliche Bewegung zwischen Verlust und Wiedererkennen. Die Fotografie löst diesen Widerspruch aber nicht »nach einer Seite hin auf« und »zeigt nur noch das Fremde und Ferne«,89 sondern folgt ihm in beinahe spiegelbildlicher Weise.90 Zunächst kehren die »doux souvenirs« wieder: »Elle était ma grand-mère et j’étais son petit-fils. Les expressions de son visage semblaient écrites dans une langue qui n’était que pour moi […]; mais non, nos rapports ont été trop fugitifs pour n’avoir pas été accidentels. […] c’était une étrangère. Cette étrangère, j’étais en train d’en regarder la photographie par Saint-Loup.« (RTP III, S. 172)
Der Anblick der Fremden auf dem Bild folgt hier eher der Bewegung der Erinnerung ԟ die sich langsam vom simultanen zum sukzessiven Erfahren von An- und Abwesenheit wandelt ԟ, als dass dies von der Fotografie ausgelöst wird. Kurz darauf gelingt es Marcel nämlich, bei der Betrachtung des Fotos die vorherige Identifikation der Erinnerung wieder herzustellen: »je tenais mes yeux fixés, comme sur un dessin qu’on finit par ne plus voir à force de l’avoir trop regardé, sur la photographie que Saint-Loup avait faite, quand tout d’un coup, je pensai de nouveau: ›C’est grand-mère, je suis son petit-fils‹« (RTP III, S. 172). Der eigentliche Stachel der unwillkürlichen Erinnerung, das Bewusstsein der unwiderruflichen Vergangenheit, ist hier mit der Verwendung des Präsens schon überspielt. Bevor Marcel sich nun tatsächlich vor dem Foto trösten könnte, wird es jedoch zum Medium ganz anderer Erinnerungen. Durch die Enthüllung Françoises, dass die Großmutter angesichts der Schwere ihrer Krankheit das Foto von Marcels 88 Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Hg. v. Pierre Clarac und André Ferré. Paris: Gallimard (Pléiade) 1954, Bd. 3, S. 1109. 89 Albers: Prousts photographisches Gedächtnis, S. 46; vgl. auch Stierle: Zeit und Werk, S. 63; es ist nebenbei erstaunlich, wie sehr genaue Proust-LeserInnen an dieser Stelle die Chronologie des Erzählten umkehren oder abkürzen, um im Text wieder den Topos des ›toten Bildes‹ bestätigt zu sehen. 90 Anders als Nemoto kann ich bei der Fotografie allerdings kein »rôle déterminant qui justement est de raviver la contradiction« erkennen, sondern eher verschiedene Einstellungen in der Betrachtung, die dem Widerspruch der Erinnerung folgen (vgl. Misaka Nemoto: Le sommeil proustien ou une nouvelle phénoménologie du présent. In: Sjef Houppermans u.a. (Hg.): Mille et une nuits dans la Recherche. Amsterdam u.a.: Rodopi 2004 (= Marcel Proust aujourd’hui, 2), S. 121-138, S. 130).
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Freund Saint-Loup explizit zu dem Zweck aufnehmen ließ, ihrem Enkel ein Erinnerungsbild zu hinterlassen, vermittelt die Fotografie eine Erinnerung an etwas, das nie gewusst wurde. Nicht nur erscheint nun der gesamte erste Aufenthalt in Balbec in einem neuen Licht, sondern auch Marcels Verhalten während der Aufnahme des Bilds bekommt nun eine grausame Ironie. Was ihm als kindische Eitelkeit der Großmutter erschien, war in Wirklichkeit der Versuch, ihn vor dem Wissen zu schützen, das ihn nun vor dem Foto leiden lässt. Mit diesem Wissen vollzieht Marcel, was später im Rahmen der Erinnerungspoetik unter ganz anderen Vorzeichen formuliert wird: »les apparences qu’on observe ont besoin d’être traduites et souvent lues à rebours et péniblement déchiffrées« (RTP IV, S. 475). Anders als die metaphorischen »clichés qui ne montrent que du noir« (RTP IV, S. 475) zeigt das fertige Bild hier eine scheinbar sorglose Großmutter, die sich ihren modischen Hut aber nur aufsetzte, um die Kontraktionen ihres Gesichts zu verbergen. »À rebours« betrachtet, verweist diese Verkleidung auf das Bild, das Marcel bei seiner Rückkehr aus Doncières ›aufnahm‹. Das Foto der Großmutter ist schließlich tatsächlich ein Bild, das aufgenommen wurde, um etwas zu bewahren »qu’on ne verra plus« (RTP II, S. 438). Dem früheren Blick Marcels bei seiner Rückkehr aus Doncières entspricht nun aber eher der Blick der Mutter auf das Foto: Ihr erscheint es »moins une photographie de sa mère que de la maladie de celle-ci, d’une insulte que cette maladie faisait au visage brutalement souffleté de grand-mère« (RTP III, S. 176). Marcel erscheint es dagegen nach einigen Tagen schon wieder »douce à regarder«: »elle ne réveillait pas le souvenir de ce que m’avait dit Françoise parce qu’il ne m’avait plus quitté et je m’habituais à lui. Mais en regard de l’idée que je me faisais de son état si grave, si douloureux ce jour-là, la photographie, profitant encore des ruses qu’avait eues ma grandmère et qui réussissaient à me tromper même depuis qu’elles m’avaient été dévoilées, me la montrait si élégant, si insouciante, sous le chapeau qui cachait un peu son visage, que je la voyais moins malheureuse et mieux portante que je ne l’avais imaginée.« (RTP III, S. 176)
Das Foto rückt so, im Vergleich zur Simultaneität von »survivance« und »néant« (RTP III, S. 156) in der mémoire involontaire, in die Nähe der »images conventionnelles et indifférentes« (RTP III, S. 157), die vorher noch als Substitut des Vergessens galten. Konträr zur vorherigen Weigerung, sich vor der Fotografie zu trösten, »à rendre la souffrance plus douce, à l’embellir«, versöhnt Marcel nun den in der unwillkürlichen Erinnerung erfahrenen Widerspruch, indem er ihn zur scheinhaften Anwesenheit im Bild hin auflöst. Offenbar bewusst blendet Marcel dabei aus, wie hinfällig seine Großmutter auf dem Bild schon ist, dass »ma grand-mère avait un air de condamnée à mort« (RTP III, S. 176). Die sukzessive Gewöhnung an die Fotografie kann in der Passage als fortschreitende Überwindung der Schockerfahrung der »intermittences du cœur« gelesen werden, die diese schließlich wieder in ein Fortschreiten der Handlung über-
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führt.91 Die verschiedenen Haltungen der Mutter und des Sohns lassen an Sontags Bemerkung denken, eine Fotografie könne durchaus Erinnerungen wecken, aber »depending on the quality of the viewer rather than of the photograph«.92 Die Fotografie ist als Mittel der mémoire volontaire – und als solches fungiert sie in der Passage zweifellos – unbestimmt und von der Einbindung in jeweilige Diskurse der Erinnerung und der Trauer abhängig. Sontag fährt fort: »And by considering photographs only as far as he could use them, as an instrument of memory, Proust somewhat misconstrues what photographs are: not so much an instrument of memory as an invention of it or a replacement«.93 Obgleich dies in der analysierten Passage in einem gewissen Sinn zutrifft, liegen dem Urteil doch nicht allein medienontologische Prämissen zugrunde, die ohnehin schon wissen, was Fotografien denn wirklich sind. Sontag geht hier auch von einer authentischen Erinnerung aus, die in Prousts Text selbst schon im Artifiziellen, im Schreiben, aufgehoben ist.94 Das Artifizielle kann aber nichts anderes sein als »invention« oder »replacement« einer vorgängigen Erfahrung, die so nie präsent war. Die »Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten« (GS II.3, S. 1064), wie sie bei Proust in der Metapher der fotografischen Entwicklung gefasst werden, verweisen auf einen Ursprung, der sich erst nachträglich konstituiert. Nur von diesen Bildern geht die Poetik der mémoire involontaire aus. Ihr stehen aber jene, ebenfalls oft in fotografischen Vergleichen gefassten, Momente gegenüber, die sich einem solchen Erinnern entziehen. Die Flüchtigkeit Albertines gehört dazu ebenso wie der Blick auf die Großmutter. Der Erzähler konstruiert hier das Phantasma eines fotografischen Blicks, um etwas darzustellen, das der Erinnerung fremd bleiben muss – ein Bezug auf die Großmutter, der aus allen Bezügen herausfällt. Wie sich das »souvenir involontaire« in den »Intermittences du cœur« nicht in die Erinnerungspoetik des Endes nahtlos einfügen lässt, so inszeniert der Text mit dem ›fotografischen‹ Blick etwas, das als Teil des Kunstwerks der Erinnerung selbst nie gänzlich in dessen Selbstentwurf eingeht. 91 Vgl. Kasper: Sprachen des Vergessens, S. 250 ff., die die »Intermittences du cœur« in diese Richtung liest, wobei sie, mit Freuds Abhandlung über Trauer und Melancholie, in der Melancholie der Mutter und der Trauerarbeit Marcels komplementäre Haltungen am Werk sieht, die sich letztlich beide »als Formen des Vergessens im Erinnern, als Vergessen des Anderen und Vergessen des Todes« (S. 254) erweisen. 92 Sontag: On Photography, S. 164. 93 Ebd., S. 164 f. 94 Vgl. auch Klinkert, für den das »Dilemma«, die momenthafte Aufhebung der Differenz zwischen Erinnertem und Erinnerndem diskursiv zu vermitteln, »die zentrale Leerstelle der Recherche« darstellt, »welche supplementiert wird von einer […] im Prinzip unendlichen Bewegung des Schreibens« (Thomas Klinkert: Bewahren und Löschen. Zur ProustRezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard. Tübingen: Narr 1996, S. 44).
Siegfried Kracauer: Der Blick aufs Verschollene
1. T HEORIE DES F ILMS UND DER G ESCHICHTE : DER U MWEG DES R EALISMUS Weit mehr als ein Beispiel für die Funktionen, die der Fotografie in der Gedächtnisinszenierung und -reflektion eines literarischen Textes zukommen, stellt Prousts Recherche einen der wichtigsten literarischen Bezugspunkte für die theoretisch-essayistische Auseinandersetzung mit der Fotografie dar. Interessanterweise handelt es sich bei den meisten Stellen, an denen Proust gängige Bewertungen der Fotografie fortschreibt und an die die nachfolgende Reflektion bei Benjamin, Sontag, Barthes und eben Kracauer anschließen kann, um Vergleiche und Metaphern. In dem Sinn lassen sich die Recherche und ihre Wirkungsgeschichte auch als Teil einer Topik der Fotografie betrachten, die allerdings, als fortwirkende Tradierung der selben Gemeinplätze gefasst, den Blick auf die spezifischen Transformationen der Bildlichkeit im Text ebenso verstellen kann wie den auf die Brüche und Widersprüche in der Rezeption und Wiederaneignung entsprechender Topoi. Benjamins Proust-Rezeption integriert so unter anderem das Bild der Fotografie als ›GegenErinnerung‹ zur mémoire involontaire in die Reflektionen zur Aura als in der Moderne verlorener Gedächtniserfahrung. Was dabei als Differenz zwischen metaphorischem und materiell-technischem Gebrauch der Fotografie ԟ die auch bei Benjamin so nicht zu halten ist ԟ noch mit dem in der Recherche vor allem am Ende inszenierten poetologischen Wertsystem konform ginge, muss allerdings diejenigen Momente in Prousts Text unterschlagen, die jenem zuwiderlaufen. Gerade die Flüchtigkeit, wie sie in den »instantanés« von Albertine und ihrem Gegensatz zur Poetik gelingender Erinnerung gefasst ist, rückt Prousts Text näher an die von Benjamin bei Baudelaire herausgearbeitete Dichotomie von »spleen« und »idéal«,
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von gleichförmig fragmentierter Zeit und auratischen Korrespondenzen,1 als dies die Formulierung eines »bruchlosen Gelingen[s] der Endabsicht« (GS I.2, S. 643) vermuten lässt. Ebenfalls oft wird in der, wenn man so will, ›topisch‹ interessierten Proust-Rezeption die ästhetische Faszination der Flüchtigkeit und der bloßen Oberflächen bei Proust übersehen, die vor allem im Zusammenhang mit Albertine mit einem fotografisch und impressionistisch vermittelten ›Neuen Sehen‹ verbunden ist. Die Aufmerksamkeit für die Oberfläche wird uns bei Kracauer wieder begegnen. Als Ausgangspunkt seiner Theorie der Fotografie greift er jedoch auf eine Stelle aus der Recherche zurück, die (wohl nicht zuletzt wegen ihrer Rezeption durch Kracauer) inzwischen zum festen Kanon der Interaktionen von Literatur und Fotografie gehört. Die Szene des Blicks auf die Großmutter bei Marcels Rückkehr aus Doncières wird in Kracauers Versuch, »an aesthetics of the photographic media, not less and not more«,2 zu schreiben, zum fototheoretischen Beleg. Wenn nun der Schwerpunkt der folgenden Darstellung auf dem ersten, der Fotografie gewidmeten Kapitel der Theory of Film liegt bzw. auch andere Teile des Texts in der Hauptsache auf die Fotografie bezogen werden, so folgt dies den Grundannahmen von Kracauers Filmtheorie selbst. Die grundlegende Annahme des Filmbuchs, »that film is essentially an extension of photography and therefore shares with this medium a marked affinity for the visible world around us«,3 soll hier nicht in ihrer Gültigkeit diskutiert werden. Viel eher geht es darum, zu sehen, was die ›Affinität‹ zur sichtbaren Welt im Text der Theorie leistet, und besonders, wie sie dort in Szene gesetzt wird. Auch der Versuch, auf der Basis seiner »specific properties« (TF, S. 12) die »nature of the photographic medium« (TF, S. 3) zu bestimmen und aus ihr eine tendenziell normative Ästhetik abzuleiten, wie sie in der Formulierung eines »basic aesthetic principle«4 zum Ausdruck kommt, soll hier
1
Vgl. Warning: Proust-Studien, S. 176, der den »Grundwiderspruch« der Recherche auf Baudelaires Definition der Moderne bezieht: »La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable« (Charles Baudelaire: Le peintre de la vie moderne. In: Ders.: Écrits sur l’art. Hg. v. Francis Moulinat. Paris: Livre de Poche 1992, S. 369-412, S. 381). Vgl. auch Herrmann Doetsch: Flüchtigkeit. Archäologie einer modernen Ästhetik bei Baudelaire und Proust. Tübingen: Narr 2004, zu den Baudelaire-Bezügen in der Recherche v.a. S. 263.
2
Siegfried Kracauer: History. The Last Things Before the Last. New York: Oxford Uni-
3
Siegfried Kracauer: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York:
4
Vgl. TF, S. 12: »It may be assumed that the achievements within a particular medium are
versity Press 1969, S. 4 (im Folgenden mit der Sigle »His« im laufenden Text zitiert). Oxford University Press 1960, S. ix (im Folgenden mit der Sigle TF zitiert). all the more satisfying aesthetically if they build from the specific properties of that medium. To express the same in negative terms, a product which, somehow, goes against the
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nicht eigens problematisiert werden. Ein anderer, seit dem Erscheinen der Theory of Film oft kritisierter Punkt,5 Kracauers Realismus-Konzept, aus dem sich jene normativen Ansprüche hauptsächlich ableiten, kann freilich nicht übergangen werden. Insofern seine Theorie gerade in dem Zusammenhang auf Proust zurückgreift, erscheint die Frage nach dem Realismus – und damit auch nach der essentialistischen Annahme einer ›Natur‹ oder eines ›Wesens‹ ԟ der Fotografie in einem neuen Licht. Den Funktionen des Proust-Zitats im Kontext der Filmtheorie und in den im Anschluss daran formulierten Überlegungen zum historischen Verstehen soll in einem ersten Schritt nachgegangen werden, um dann im Blick auf Kracauers frühere Schriften zur Fotografie aus den zwanziger Jahren die Kontinuitäten und Brüche bestimmter Motive insbesondere im Hinblick auf die geschichtsphilosophische Logik seiner Texte herauszuarbeiten, was schließlich einen neuerlichen Blick auf die Filmtheorie und ihren historischen Hintergrund erlauben wird. Die essentialistische Grundannahme der Theory of Film, es ließen sich besonders der Fotografie bestimmte, wesentliche Eigenschaften zusprechen, ist uns in anderer Form, aber nicht weniger ontologisierend, bereits in Barthes’ La Chambre claire begegnet. Dort wie bei Kracauer geht die Formulierung spezifischer Merkmale des Mediums in Begriffen der Essenz mit der Behauptung eines fotografischen Realismus einher. Das Sein der Fotografie scheint nie anders als in der Wiedergabe des Seienden bestimmt werden zu können. Doch während Barthes’ Realismus den Schwerpunkt eher auf die Spur legt – sozusagen ein ›Realismus des Abdrucks‹ ԟ, liegt das Gewicht bei Kracauer stärker bei den repräsentativen Eigenschaften. Gerade dieser ›Realismus des Abbilds‹ erweckte oft genug den Eindruck der Naivität; ein Eindruck, dem Kracauer mit der Abgrenzung zum »naïve realism« (TF, S. 7) des 19. Jahrhunderts durchaus begegnet. Wenn er dennoch den Realismus des fotografischen Bildes gegen Versuche, die Fotografie mittels künstlerischer Eingriffe in bestehende Kunstpraktiken einzubinden, aufwertet, greift er Valorisationen auf, wie sie sich unter anderem auch im Verdikt des deutlich seltener gescholtenen Benjamin gegen die künstlerische Fotografie finden lassen. Darüber hinaus werden die realistischen Grundannahmen, bevor sie in Kracauers teilweise eigenwillige systematische Herangehensweise an Fotografie und Film eingehen,6 grain of the medium – say, by imitating effects more ›natural‹ to another medium – will hardly prove acceptable […].« 5
Zur Rezeption des Buchs im amerikanischen Kontext vgl. Tara Forrest: The politics of imagination. Benjamin, Kracauer, Kluge. Bielefeld: Transcript 2007, S. 89 ff.; zur Rezeption in Deutschland vgl. Helmut Lethen: Sichtbarkeit. Kracauers Liebeslehre. In: Michael Kessler/Thomas Y. Levin (Hg.): Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Tübingen: Stauffenburg 1990, S. 195-228, S. 197 ff.
6
Eigenwillig wäre unter anderem die Annahme zu nennen, dass die verschiedenen Kunstmedien auf einer Skala angeordnet werden könnten, je nachdem, wie sehr ihre jeweilige
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durchaus als historisch bedingte Sichtweisen eingeführt. Der Durchlauf durch die Fotografiegeschichte bringt dann freilich nur zutage, an was die »Systematic Considerations« (TF, S. 12) unmittelbar anschließen können: dass sowohl in der Praxis der Fotografen wie in ihrer diskursiven Aufnahme die Verteidiger einer »realist tendency culminating in records of nature« denjenigen einer »formative tendency aiming at artistic creations« (TF, S. 11 f.) schon immer gegenüberstehen. Bei aller ԟ durchaus vorhandenen ԟ Relativierung eines Realismus der Kamera, der jede Einwirkung der Fotografin oder des Fotografen prinzipiell ausblendete, sieht Kracauer die ›realistische Tendenz‹ dennoch als die ›specific property of the medium‹ an. Im Teilkapitel »The photographic approach«, dem zentralen Abschnitt der systematischen Überlegungen zur Fotografie, legt er sie als »minimum requirement« seinem ›ästhetischen Grundprinzip‹ zugrunde: »The photographer’s approach may be called ›photographic‹ if it conforms to the basic aesthetic principle. In an aesthetic interest, that is, he must follow the realist tendency under all circumstances« (TF, S. 13). Diese ›Minimalforderung‹ gibt zugleich den Extremwert eines Realismus an, der tatsächlich nur auf die apparative, radikal nicht-subjektive Wiedergabe der äußeren Realität beschränkt wäre. Paradigmatisch verwirklich sieht Kracauer dieses Bild vom »photographer as a ›camera-eye‹« (TF, S. 14) in Prousts Roman, bei der Beschreibung von Marcels Blick auf seine Großmutter. Im Kontext der Argumentation der Theory of Film geht es bei der Interpretation der Stelle nun weniger um die Problematik eines Augenblicks, der, aus der Kontinuität der Erinnerung herausgelöst, deren Gegenstück, die vergehende Zeit, enthüllt, als um einen Blick, der das Gesehene von allen subjektiven Bezügen gereinigt in seiner bloßen Objekthaftigkeit wiedergibt: »Proust starts from the premise that love blinds us to the changes which the beloved subject is undergoing in the course of time. It is therefore logical that he should emphasize emotional detachment as the photographer’s foremost virtue. […] The ideal photographer is the opposite of the unseeing lover. He resembles the indiscriminating mirror; he is identical with the camera lens. Photography, Proust has it, is the product of complete alienation.« (TF, S. 14 f.)7
Kracauer weiß sehr wohl, dass weder die Kamera noch, sozusagen als deren Erweiterung, der Fotograf ein reines Aufzeichnungsinstrument ist, das die Dinge ›an sich‹ wiedergibt: »Actually there is no mirror at all. Photographs do not just copy nature but metamorphose it […]« (TF, S. 15). Bereits der Akt des Sehens involviert eine Organisation des Wahrgenommenen, umso mehr gilt dies für die Wahl des Spezifik sich einer Bestimmung entzieht oder nicht. Die Fotografie bilde hierbei den Gegenpol zur Malerei (vgl. TF, S. 12 f.). 7
Nur am Rande sei hier auf die Umkehrung der Spiegelmetapher im Vergleich zur betreffenden Stelle bei Proust hingewiesen.
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Motivs, des Ausschnitts, der Belichtung und anderer Faktoren durch den Fotografen. Die »formative tendency« kann so durchaus zur Unterstützung des KameraRealismus beitragen, allerdings muss der Fotograf auf »the ›right‹ mixture of his realist loyalties and formative endeavors« achten ԟ »a mixture, that is, in which the latter, however strongly developed, surrender their independence to the former« (TF, S. 16). Auch wenn dies der ›formgebenden Tendenz‹ in der Fotografie ihr Recht einräumt, bleibt sie doch gebunden an die realistische Vorgabe des Mediums bzw. seiner Theorie. Der Realismus der Kamera beschränkt sich in der Theory of Film jedoch nicht auf eine bloße Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern lässt, ähnlich wie Prousts Blick auf »une vieille femme accablée que je ne connaissais pas« (RTP II, S. 440), in der Wiedergabe die Wirklichkeit erst entdecken. Die Stichworte, die bei der Beschreibung dieser Wirklichkeit fallen – »unstaged reality«, »the fortuitous«, »endlessness« und »fragments rather than wholes«, »the indeterminate« (TF, S. 18 ff.) –, erschließen eine kontingente, nicht bereits durch Bedeutungssetzungen begrenzte und strukturierte Welt. Kracauer variiert hier ein Motiv, das seit den frühesten Texten zur Fotografie mit dem Medium verbunden ist. Schon dort findet sich der Hinweis auf das sichtbarmachende Potential einer Technik, die ohne Ansehen der Bedeutung der Gegenstände und der Intentionen des Fotografen alles aufzeichnet, was vor ihre Linse gerät.8 Mit Benjamins Optisch-Unbewusstem ԟ um ein bereits behandeltes Beispiel zu nennen ԟ sind die durch die Fotografie eröffneten Wahrnehmungsmöglichkeiten schließlich explizit jenseits der bewussten 8
Vgl. u.a. Janin: Der Daguerreotyp, S. 50: »Denn so groß ist die Kraft dieses unbeirrbaren Bildners, daß er sogar das Blinzeln des Auges, das Runzeln der Stirn, die geringste Falte des Gesichts, die leiseste Bewegung einer Haarlocke aufzeichnet. Nehmen Sie die Lupe! Sehen Sie auf diesem feinkörnigen Grund diese kleine Stelle, die etwas dunkler ist? Das ist ein Vogel, der durch die Lüfte gestrichen ist« (bedenkt man die damaligen Belichtungszeiten, dürfte der Vogel eher als Hinweis auf die Phantasmata, mit denen die Fotografie seit ihren Anfängen besetzt wurde, gelesen werden. Kontingenz als Indiz des Realismus ist bereits hier ein Effekt des Texts); William Henry Fox Talbot: Der Zeichenstift der Natur [1844]. In: Wilfried Wiegand (Hg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Frankfurt a.M.: Fischer 1981, S. 4590, S. 61: »das Instrument registriert alles, was es wahrnimmt, und einen Schornsteinaufsatz oder einen Schornsteinfeger würde er [sic] mit der gleichen Unparteilichkeit festhalten wie den Apoll von Belvedere«; ebd., S. 74: »Es geschieht häufig ԟ und macht einen Reiz der Photographie aus ԟ, daß der Photograph selbst […] bei der Nachprüfung entdeckt, daß er viele Dinge mit aufgenommen hat, die ihm seinerzeit gar nicht aufgefallen waren«. Lethens Hinweis auf die Ähnlichkeiten von Kracauers Betonung des Insignifikanten mit poststrukturalistischen Denkfiguren ist daher vielleicht weniger hinsichtlich der medientheoretischen als der zeitdiagnostischen Seite der Theory of Film instruktiv (vgl. Lethen: Sichtbarkeit, S. 196 und passim).
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Wahrnehmung angesiedelt. Auch die von Kracauer zitierte Stelle bei Proust ließe sich in diesem Sinne lesen. Doch geht es in der Theory of Film weniger um Ausnahmeerfahrungen oder spektakuläre Wahrnehmungsmomente. Die Spezifik der »camera-reality« (TF, S. 28) liegt zwar durchaus in der Entdeckung von Ansichten, die sich der Wahrnehmung normalerweise entziehen, jedoch beschränkt sich dies nicht allein auf den Bereich des Nicht-Sichtbaren. Vielmehr ist es in gewisser Weise die Banalität der alltäglichen Wirklichkeit selbst, die nun interessant wird. Die Zeitdiagnose des Epilogs, der moderne Mensch sei »ideologically shelterless« (TF, S. 288), nachdem die überkommenen Wertsysteme und Religionen ihre Bindungskraft verloren hätten und die Abstraktionen der Wissenschaften keine neuen lebensweltlichen Orientierungen mehr versprächen, zielt schließlich auf eine Wiedergewinnung bzw. »redemption« eben jener konkreten Lebenswelt als der dem Menschen gemäßen Wirklichkeit durch die fotografischen Medien ab. Wie Poes Purloined letter liegt die »physical reality« offen und zugleich unsichtbar vor uns und wird erst durch die Kamera thematisch und wahrnehmbar.9 In einem eindringlichen Bild führt Kracauer im Vorwort diese spezifische Entdeckung als eine Art ›Urszene‹ der Faszination für den Film anhand seines ersten Kinoerlebnisses ein. Dieses habe ihn als Kind dermaßen aufgewühlt, dass er seine Eindrücke unter einem Titel niederschrieb, der im Grunde bereits das Programm seiner späten Filmtheorie vorgibt: »Film as the Discoverer of the Marvels of Everyday Life«: »And I remember, as if it were today, the marvels themselves. What thrilled me so deeply was an ordinary suburban street, filled with lights and shadows which transfigured it. Several trees stood about, and there was in the foreground a puddle reflecting invisible house façades and a piece of the sky. Then a breeze moved the shadows, and the façades with the sky below began to waver. The trembling upper world in the dirty puddle – this image has never left me.« (TF, S. xi)
Das Bild vom naiven Realismus der Theory of Film, dem der Text an mehr als einer Stelle durchaus genügend Nahrung liefert, wird hier durch die auffallende Vermehrung der Vermittlungsebenen irritiert. Nicht die getreue Widerspiegelung der Welt im Film enthüllt deren Wunder, sondern erst das Bild der Spiegelung der Straße in einer Pfütze. Unvergesslich bleibt dabei gerade eine Störung der Wiedergabe, ihr Zittern im Windstoß. Die mehrfache Kopplung der Verfremdungs- und Vermittlungsebenen des Bilds verleiht der Entfremdung vom Gesehenen, die Kracauer in Marcels Blick auf die Großmutter fand, als Distanznahme des Betrachters ihren positiven Wert.10 9
Vgl. TF, S. 299.
10 Vgl. Forrest, S. 106.
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Die Realität, um die es in der Theory of Film geht, ist, wie bereits Rudolf Arnheim in seiner Lektüre von Kracauers Buch kritisch anmerkte,11 ein Produkt der Medialität der Kamera. Obwohl gerade dies in Kracauers Buch nicht immer deutlich genug wird, vielmehr in der Vorstellung der Realität als »raw material« (TF, S. x und passim) von Fotografie und Film die Materialität des Mediums selbst (die angesichts der Digitalisierung heute vielleicht stärker Beachtung findet und zum Signal von Authentizität avanciert) ausgeblendet bleibt, ist die Vermittlung und Modellierung der Wirklichkeit durch die Kamera in der zitierten Passage durch die mehrfache Reflektion wieder präsent. Noch mehr gilt dies aber vom Text der Theorie als dem Medium, in dem die »physical reality« erst ihre Gestalt gewinnt. In ihrer textuellen Konstitution steht diese gerade mit dem Bezug auf Prousts Recherche im Zeichen mehrfacher Vermittlung. Um den Extrembegriff eines Realismus, der die Fotografie außerhalb jedes Diskurses der Kunst situierte, formulieren zu können, bedarf es des Rückgriffs auf einen fiktionalen Text, in dem die Fotografie als Vergleichsmoment auftritt. Der Realitätseffekt der Fotografie ist ein Phantasma der Texte, das sich in deren Interaktion konstituiert und perpetuiert. Die Realität, von deren Entdeckung die Theory of Film als eigentlicher Leistung des Films handelt, kann in der Medialität des Textes selbst nur auf Umwegen behauptet werden. In Kracauers letztem, unvollendet gebliebenem Buch History ԟ The Last Things Before the Last erfährt diese Strategie des Umwegs eine weitere Potenzierung. Wieder unter Berufung auf besagte Stelle in der Recherche stellt er nun im Hinblick auf die Geschichtsschreibung, den »historical approach«,12 eine formgebende der realistischen Tendenz gegenüber.13 Als paradigmatischer Vertreter einer proklamierten »realist tendency« in der Historiografie figuriert hierbei Ranke. Dessen berühmt-berüchtigtes Diktum, er wolle »bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen«,14 steht für Kracauer nicht umsonst in zeitlicher Nähe zur Erfindung der Fotografie. Nicht nur als Hinweis auf den »Zeitgeist« (His, S. 49) der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann diese Nähe dienen, sondern sie deutet allgemein auf »significant analogies between history and the two media which portray the world about us 11 Vgl. Rudolf Arnheim: Melancholy Unshaped. In: Journal of Aesthetics and Art Criticism 21/3 (1963), S. 291-297, S. 292. 12 So der unverkennbar dem »photographical approach« der Theory of Film nachgebildete Name des entsprechenden Kapitels, vgl. His, S. 45 ff. 13 Vgl. zu einem kritischen Nachvollzug des Fotografie-Historiografie-Vergleichs das Nachwort der Herausgeberin in: Kracauer: Geschichte ԟ Vor den letzten Dingen. Werke Bd. 4. Hg. v. Ingrid Belke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 435-627, S. 573 ff., S. 583 ff., S. 591 f., S. 596, S. 605 ff. (dort auch ein Vergleich mit der Theory of Film). 14 Leopold von Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 14941514. In: Ders.: Historische Meisterwerke. Hg. v. Willy Andreas. Hamburg: StandardVerlag 1957, Bd. 1, S. 4.
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with the aid of the camera ԟ photography itself and photographic film« (His, S. 49). Kracauer geht es in seinem Buch zur Geschichte nun nicht darum, die angedeutete Analogie ihrerseits historisch zu verorten und, wenn schon nicht einen ›Zeitgeist‹, so doch die sie eventuell tragende interdiskursive Formation herauszuarbeiten oder in ihr den Ausdruck einer bestimmten Ideologie des Bürgertums im 19. Jahrhundert zu sehen. Vielmehr dient der Verweis auf die Fotografie der Absicht ԟ ähnlich wie beim in diesem Zusammenhang noch einmal dargelegten »basic aesthetic principle« der Theory of Film ԟ, in kritischer Auseinandersetzung mit dem ›Realismus‹ eines Ranke methodische Prinzipien der Geschichtsschreibung zu erarbeiten. Von der »positivistic notion of the historian as a sheer recording instrument, passively (and impassively) registering a mass of unsifted data and facts« (His, S. 51), setzt Kracauer sich auch an dieser Stelle explizit ab, insofern sie einem naiven Realismus entspringt, der bereits auf der Seite der Fotografie keine Entsprechung hat. Wie dort, so sind auch in der Historiografie immer schon gewisse formgebende Verfahren unumgänglich und auch hier kommt es daher auf »the ›right‹ balance between realistic and formative tendencies« (His, S. 56) an.15 Der Umweg, den Kracauer an dieser Stelle seines Buchs nimmt, um zunächst das »basic aesthetic principle« der Fotografie ein weiteres Mal zu erläutern und schließlich auf den Diskurs der Geschichte zu übertragen, wäre schwer nachvollziehbar, ginge es bloß um die strukturelle Entsprechung des Verhältnisses von Referenz und Darstellungsweise in beiden Bereichen. Die Theorie der Fotografie würde so erst das tertium schaffen, das jene mit der Geschichtsschreibung vergleichbar machte. Kracauer weist der geschaffenen Analogie jedoch eine weitergehende epistemologische Qualität zu. Im Anschluss an eine Reihe von Zitaten bekannter Historiker, in denen der historiografische Diskurs von einer ›bloßen Fotografie‹ der Ereignisse abgesetzt wird, schreibt er: »Such references to the photographic medium would be entirely uncalled for were not the historians making them alert to the possibility that history and photography have something to do with each other after all« (His, S. 51). Die Funktionalität und Historizität der zitierten Vergleiche, die schließlich auf eine regelrechte Tradition polemischer Abgrenzungen der ›Lebendigkeit‹ eines Bereichs (der Literatur, der Kunst, der Sprache …) vom ›toten‹ Bild der Fotografie zurückgreifen können, ist hier nicht das Thema. Statt15 Die Frage, ob die Analogien von Fotografie und Geschichte einem gemeinsamen ›Zeitgeist‹ entspringen, erscheint, auch wenn sie eher rhetorisch zu nehmen ist, vor diesem Hintergrund einigermaßen erstaunlich. Gerade sie zielt in eine Richtung ab, die Kracauer eigentlich als Überhandnehmen der »formative tendency« ablehnen müsste. Die Analogie von Fotografie und Geschichtsschreibung liefe damit Gefahr, letztlich geschichtsphilosophisch begründet werden zu müssen; eine Perspektive, gegen deren Abstraktion von der historischen Evidenz sich Kracauers Entwurf in History explizit richtet (vgl. auch Kracauers Ablehnung von Croces Vorstellung eines »period spirit« (His., S. 67)).
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dessen wird, wenn der Vergleich als Hinweis auf eine reale Entsprechung dient, dem rhetorischen Mittel letztendlich eine ontologische Begründung zugeschrieben. Der Vergleich von Fotografie und Geschichtsschreibung changiert so zwischen einer rein heuristischen Funktion, bei der es um Anschaulichkeit und eine bestimmte Perspektivität des generierten Wissens geht, und der Annahme, die behauptete Analogie leite sich aus einer tatsächlichen Gemeinsamkeit beider Bereiche ab.16 Die Anschaulichkeit des Vergleichs selbst ist angesichts dieser Zweideutigkeit im doppelten Sinn zu verstehen. Expliziert der Rückgriff auf die Fotografie zunächst einfach die Theorie der Geschichte anhand eines Gegenstands, der bereits in der Theory of Film erschlossen wurde und daher als bekannt gelten kann, so ist mit ihm zugleich die Vorstellung einer konkreten Evidenz verbunden, die im Gebiet der Geschichte so nicht ohne weiteres zu haben ist. Eines der Argumente, die Kracauer zugunsten der Analogiebildung von Fotografie und Geschichte anführt, bezieht gerade diesen Doppelsinn mit ein: »Here [in the photographic crafts] implications and solutions hidden from view in the historical dimension stand a fair chance of becoming visible at once« (His, S. 60 f.). Die Kopplung von Sichtbarkeit und Erkenntnis ist hier nicht bloß eine konventionelle Metapher für die erhellende Funktion, welche die Übertragung des Verhältnisses von Referenz und Darstellungsweise erfüllt. Die visuelle Metaphorik eröffnet in ihrer Verbindung mit dem fotografischen Medium die Möglichkeit, die übertragene Bedeutung beim Wort zu nehmen und die Übertragung von »formative« und »realist tendency« in den Bereich der Geschichte auf mehr als eine bloß strukturelle Entsprechung zu beziehen. Übertragung und Vermittlung ist in Kracauers Theorie Medium – und das heißt hier sowohl Mittel wie Milieu – der Erkenntnis selbst. Dies gilt eben auch für die rhetorischen Mittel der Metapher und des Vergleichs. Die Verbindung zweier semantischer Bereiche eröffnet im Text einen vermittelnden Zwischenraum, eine »intermediary area« (His, S. 192), wie es in der räumlichen Metaphorik der epistemologischen Überlegungen des Kapitels »The Anteroom« heißt: »One may define the area of historical reality, like that of photographic reality, as an anteroom area. Both realities are of a kind which does not lend itself to being dealt with in a definite way« (His, S. 191). Dieses nicht abschließbare, niemals systematische Wissen, das in beiden Bereichen zu gewinnen ist, schlägt sich in der rhetorischen Faktur von Kracauers Text nieder. Der Umweg, vom einen ausgehend das andere zu erläutern, verschließt sich nicht allein einem begrifflich-definitorischen Zugang,17 sondern bil16 Vgl. auch die Formulierung, die Analogie zwischen Geschichtsschreibung und Fotografie sei »not an easy expedient, but results from the solid fact that work in the two areas hinges on identical conditions« (His, S. 60, Hervorhebung J.G.). 17 Dass dies bereits für Kracauers Feuilletons aus der Weimarer Republik gilt, wurde schon verschiedentlich betont. Oswald weist darauf hin, dass Kracauers Vorgehen, das konkrete Objekt in die theoretische Reflektion übergehen zu lassen, im Wesentlichen von der
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det in der Übertragung die vermittelnde und in dieser Vermittlung entfremdende Wirkung der beschriebenen Bereiche nach. Die Entfremdung, die in der Theory of Film wiederholt als eigentlicher Erkenntnisgewinn des Proust-Zitats für die Fotografie in Anschlag genommen wurde18 und die auch im Bereich der Geschichte zunächst als Distanznahme zur Gegenwart ihren Platz hat,19 äußert sich rhetorisch als Verfremdung in der Übertragung des einen auf einen anderen Bereich, welche die behandelten Phänomene neu erschließt. Im Zusammenhang mit der Metapher der Sichtbarkeit begründet Kracauer den Vergleich von Fotografie und Geschichte in diesem Sinne: »Not to mention that the analogy with photography helps to defamiliarize habitual aspects in the historical field […]« (His, S. 60).20 Indem hier die rhetorische Funktion die apparative Wirkung der Fotografie nachbildet, die Verfremdung im Vergleich der Entfremdung im ›fotografischen Blick‹ entspricht, kann die Bemerkung als exemplarisch für eine Textstrategie gelten, deren Metaphorik zwischen der Perspektive einer Übertragung und der Behauptung tatsächlicher Entsprechungen zwischen den Gliedern der Analogiefigur ständig zu wechseln scheint. Die Metapher als Medium des Denkens ist als solche wieder eine Analogiefigur für die fotografischen Medien, die unmittelbare und neuartige Erfahrung gerade in der Vermittlung und Modellierung der Wirklichkeit versprechen. sprachlichen Gestaltung abhängt, an der sich »die Schlüssigkeit des Urteils unmittelbar erweisen muß, ohne auf weitere Deduktion rekurrieren zu können. […] Die Anschaulichkeit der Sprache Kracauers, die in Bildern, Metaphern und Allegorien die versteckten Zusammenhänge sichtbar macht, hat darin ihre theoretische Begründung.« (Stefan Oswald: Die gebrochenen Farben des Übergangs. Zum Essay-Band »Das Ornament der Masse«. In: Text + Kritik 68: Siegfried Kracauer (1980), S. 76-81). Aus medientheoretischer Perspektive und mit Bezug auf die Form des Essays vgl. Almut Todorow: Unbegrifflichkeit und Essayismus: Siegfried Kracauers Das Ornament der Masse. In: Dies./Ulrike Landfester/Christian Sinn (Hg.): Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne. Tübingen: Narr 2004, S. 107-123. 18 Vgl. TF S. 16: »And yet Proust is right in relating the photographic approach to a state of alienation. […] Once again, Proust is right: selectivity in this medium is inseparable from processes of alienation.« 19 Vgl. His, S. 5: »History resembles photography in that it is, among other things, a means of alienation.« Zum Stellenwert der Entfremdung im Bereich der Geschichte vgl. auch unten. 20 Kimmich stellt die Parallele von Fotografie und Geschichte in diesem Sinne in den Kontext der Wahrnehmungskritik im Zuge des ›Neuen Sehens der zwanziger Jahre (vgl. Dorothee Kimmich: Geschichte in Großaufnahmen. Siegfried Kracauers Reflexionen zu einer Medientheorie als Geschichtsphilosophie. In: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Bern u.a.: Peter Lang 2003, Bd. 10, S. 359-366 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 62)).
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Im Kontext solcher Textstrategien ist nun auch die Übertragung fotografischer Sichtbarkeit als Mittel der Anschaulichkeit in den Bereich der Historiografie zu betrachten. In den Metaphern der Sichtbarkeit expliziert sich die rhetorische und darin epistemologische Funktion des Bezugs auf die Fotografie in Kracauers Diskurs. Die Entdeckung der äußeren Wirklichkeit, wie die Theory of Film sie als spezifische Leistung der fotografischen Medien behauptete, überträgt sich auf die Historiografie: »Historiography […] is a distinctly empirical science which explores and interprets given historical reality in exactly the same manner as the photographic media render and penetrate the physical world about us« (His, S. 193). Wurde dem Film und der Fotografie die historische Möglichkeit zugetraut, angesichts einer von fehlender ideologischer Bindung wie zunehmender wissenschaftlich-rationaler Abstraktion geprägten Moderne die alltägliche und konkrete Wirklichkeit erst eigentlich zu entdecken und zugänglich zu machen,21 so leistet die Geschichtsschreibung für die historische Welt etwas ganz Ähnliches.22 Die Analogie von Fotografie und Geschichte zielt dabei auch auf eine Parallele der »camera-reality« zur »historical reality in terms of its structure, its general constitution« (His, S. 58) ab. In beiden Fällen geht es um einen an Husserls Begriff der Lebenswelt orientierten Erfahrungsbereich,23 der weder auf die »abstract nature of science« (His, S. 58) reduziert, 21 Vgl. TF, S. 287 ff., S. 299 ff. 22 Vgl. His, S. 192: »the photographic media make it much easier for us to incorporate the transient phenomena of the outer world, thereby redeeming them from oblivion. Something of this kind will also have to be said of history.« 23 Vgl. His, S. 58; vgl. auch S. 46 ff., S. 194; vgl. Ian Aitken: Realist film theory and cinema. The nineteenth-century Lukácsian and intuitionist realist traditions. Manchester u.a.: Manchester University Press 2006, S. 161 ff.; zum Begriff der Lebenswelt vgl. v.a. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hg. v. Walter Biemel. Husserliana Bd. VI. Den Haag: Nijhoff 1954, S. 49 ff., S. 107 ff.; Kracauer zitiert Husserl allerdings nach Blumenberg (vgl. His, S. 225), und es ist in der Tat fraglich, inwieweit Kracauers Vergleich von Fotografie und Geschichte sich mit dem von Husserl nicht eindeutig umrissenen Begriff der Lebenswelt zusammenbringen lässt. Zweifellos stehen einige wichtige Motive – auch am Ende der Theory of Film ԟ in unverkennbarer Nähe zu Husserls Begriff und für die Bindung der Historiografie an die Lebenswelt könnte Kracauer sich ebenfalls auf die Krisis-Schrift berufen (vgl. Husserl, S. 150). Konträr dazu zeichnet die Entfremdungserfahrung, für die das Zitat von Proust einsteht, gerade der Ausfall jener Selbstverständlichkeit aus, die im Begriff der Lebenswelt impliziert ist. Um so etwas wie eine »transzendentale Epoché« (ebd., S. 153) im Sinne Husserls scheint es mir Kracauer bei seiner Entdeckung der Lebenswelt gerade nicht zu gehen; eher noch wäre der Abstand beider Bezugsfiguren – des philosophischen und des literarischen Texts – als Kennzeichen des konstitutiven »Dazwischen« im Erkenntnis- und Utopiebegriff Kracauers zu lesen.
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noch in geschlossene ästhetische oder philosophische Systeme überführt werden kann. Historiografie und Fotografie »share their inherently provisional character with the material they record, explore and penetrate« (His, S. 191), indem sie die Inkommensurabilität ihres Gegenstands zu abstrakten Begriffen in der Vorläufigkeit des mit ihnen generierten Wissens bewahren. Als ein Wissen, das im ›Vorraum‹ vor letztgültiger Erkenntnis die Treue zu den Last Things Before the Last bewahrt, soll die Geschichtswissenschaft eine Erkenntnishaltung einnehmen, die wie die Fotografie der Kontingenz der Erscheinungen gerecht wird. Neumanns Kommentar, »der Evidenzanspruch der Interpretationswissenschaften rekurriert auf jene Medien, die zu dessen Erschütterung beigetragen hatten«,24 mag damit zwar auch die rhetorische Funktion der Fotografie im Diskurs über die Geschichte treffen, wäre hier jedoch konsequenter auf den Begriff der Evidenz hin zu befragen. Mit der Indienstnahme der Fotografie für den Evidenzanspruch der Interpretationswissenschaften überträgt sich dieser wiederum auf die Fotografie. Die lebensweltliche Fundierung beider Bereiche schließt das Bild vom rein technischen Aufzeichnungsmedium kurz mit einer Aufmerksamkeit für die Dinge, die sich an hermeneutischen Mustern orientiert.25 Das für die Fotografie wie die Geschichtsschreibung entworfene Erkenntnismodell nimmt freilich seinen Ausgang von einem Begriff, der quer zur klassischen Theorie des Verstehens zu stehen scheint: der Entfremdung (»alienation«), wie sie bereits in der Theory of Film mit dem Zitat aus der Recherche als Spezifikum der Fotografie eingeführt wurde. Im »The Historian’s Journey« betitelten Kapitel greift Kracauer in History auf diese Bestimmung erneut mit einem längeren Zitat besagter Szene aus Prousts Roman zurück. Die Metapher der Reise steht schon zu Beginn des Kapitels im Zeichen fotografischer Praktiken. In kulturkritischer Manier wird das Beispiel touristischer Souvenirfotos angeführt, bei denen der tatsächliche Anblick der besuchten Sehenswürdigkeiten hinter den Bilderwunsch der Touristen zurücktritt: »in shooting unseen objects they irretrievably lose sight of them. Something of this kind may also happen to historians« (His, S. 80). Der Historiker laufe Gefahr, die Vergangenheit in ihrem Eigenwert aus dem Blick zu verlieren, wenn er sie ausschließlich von seinem Gegenwartsstandpunkt aus betrachte und beurteile. 24 Neumann: Literaturgeschichte der Photographie, S. 143; allerdings stellt sich die Frage, ob besagte Medien und die mit ihnen verbundenen Wissenschaften (Neumann bezieht sich hauptsächlich auf die Physiologie der Jahrhundertwende) nicht eher mit der Behauptung einer Eigenständigkeit der »Interpretationswissenschaften« als »Geisteswissenschaften« gegen die »Naturwissenschaften« in Verbindung stehen, als dass sie deren Anspruch selbst erschütterten. 25 Vgl. zur Verbindung von Lebenswelt- und Verstehens-Begriff in History: D. N. Rodowick: The Last Things Before the Last: Kracauer and History. In: New German Critique 41 (1987), S. 109-139, S. 133 ff.
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Wieder ist es Ranke, der die Stichwörter für eine ԟ ebenfalls an der Fotografie orientierte ԟ Gegenposition liefert: »In one of his best known statements Ranke protests his desire to blot out his self so that only the things themselves may do the talking. He wants to suspend his personal learnings and judgements in order to show ›wie es eigentlich gewesen‹« (His, S. 81). Bei aller Distanz zu Rankes letztlich religiös bestimmten Grundlagen kann dieses Programm als methodischer Anstoß dienen: »Ranke’s yearnings point in the right direction« (His, S. 82). Weniger der repräsentative Anspruch im historistischen Programm als die angestrebte Selbstvertilgung angesichts der historischen Phänomene legt für Kracauer die Fotografie als Erkenntnismodell nahe. Im impliziten Gegensatz zu den erwähnten touristischen Fotos erläutert Kracauer die gemeinte Haltung des Historikers mit Marcels ›fotografischem‹ Blick auf seine Großmutter. Rankes »wie es eigentlich gewesen« klingt wieder in der durchaus problematischen Interpretation an, Marcel sehe seine Großmutter »as she really is« (His, S. 83). Was in der Recherche aber noch als erschreckende Entfremdungserfahrung beschrieben wurde, ist nun positiv gewendet zum Musterfall einer Aufmerksamkeit für eine fremd gewordene Vergangenheit; statt des positivistischen Bilds vom Historiker als »sheer recording instrument« (His, S. 51) wird dieser nun zum »sheer receiving instrument« (His, S. 85), dem Selbstverlust und Entfremdung von der Gegenwart Bedingung für die Erkenntnis der Vergangenheit sind. Volker Breidecker hat auf das gebrochene Verhältnis jener an der Fotografie orientierten »active passivity« (His, S. 85) zum Begriff der Einfühlung hingewiesen. Gegenüber dessen Überfrachtung mit »ästhetischen und historistischen Positionen« setze Kracauer im (englischen) Begriff der »›Empathie‹ (empathy, wörtlich: in suffering or passion) […] auf ein ›Pathos der Distanz‹«.26 Das Modell dafür fand Kracauer auch nicht in den Schriften der klassischen Vertreter des Historismus – obwohl diese in History eine größere Rolle spielen, als Breideckers Bemerkung vermuten ließe ԟ, sondern in seiner Theory of Film. Den aus der Proust-Lektüre gewonnenen Begriff der Entfremdung interpretierte er bereits dort als gesteigerte Empfänglichkeit der Fotografin oder des Fotografen für die Außenwelt, die oder der bei aller Notwendigkeit formgebender Entscheidungen sich den überformenden Zugriff auf die Außenwelt versagt: »the photographer’s selectivity is of a kind which is closer to empathy than to disengaged spontaneity« (TF, S. 16). Diese Empfänglichkeit, die als Konvergenzpunkt der Subjektivität der Fotografin oder des Fotografen mit der Gegebenheit der Dinge schließlich das entscheidende Vermittlungsglied zwischen »formative« und »realist tendency« darstellt, steht für Kracauer in engster Verwandtschaft zur Melancholie: 26 Volker Breidecker: »Ferne Nähe«. Kracauer, Panofsky und »the Warburg tradition«. In: Siegfried Kracauer/Erwin Panofsky: Briefwechsel 1941-1966. Mit einem Anhang: Siegfried Kracauer »under the spell of the living Warburg tradition«. Hg. v. Volker Breidecker. Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 129-226, S. 177 f.
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Nun kann bei Proust zwar nicht von einer Selbstentfremdung, sondern in erster Linie einer Entfremdung von Selbst und Umwelt gesprochen werden, welche die gesuchte Identifikation gerade verhindert, doch erlaubt diese ›Fehllektüre‹ die positive Wendung, die Kracauer dem Begriff der Entfremdung in epistemologischer und perzeptueller Sicht zuspricht. Für einen Moment tritt in Prousts Text die Möglichkeit einer Wahrnehmung auf, die die Phänomene in ihrer Eigenständigkeit – und das heißt auch in ihrer Nähe zum Tod ԟ erfassen könnte. In History fasst Kracauer diese Fremdheit des Betrachters mit einer Metapher, die in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für die Theorie der Geschichtsschreibung wie die der Fotografie ist: »No sooner does Marcel enter his grandmother’s room than his mind becomes a palimpsest, with the stranger’s observations being superimposed upon the lover’s temporarily effaced inscription« (His, S. 83). Die Überblendung des ›fotografischen Blicks‹ mit einer Schriftmetapher eröffnet eine selbstreflexive Dimension im Text, die sowohl dessen historische Bedingtheit als auch seine Verfahren sichtbar werden lässt. Den biographischen und historischen Hintergrund seiner Theorie deutet Kracauer selbst an, wenn er Marcels Selbstbezeichnung als »étranger« im Salon seines Elternhauses zum Anlass für den weiteren Vergleich des Historikers mit einem Exilanten nimmt, der aufgrund seiner Existenz »[i]n the near-vacuum of extra-territoriality, the very no-man’s land which Marcel entered when he first caught sight of his grandmother« (His, S. 83), als weitere Vermittlungsfigur zwischen Fremdheit und Nähe und damit als ein weiteres methodisches Vorbild der Historiografie gelten kann. Das persönliche Exil scheint sich palimpsestartig zwischen die Zeilen der späten Texte Kracauers zu schreiben.27 Die selbstreflexive Dimension der Metapher betrifft freilich auch die intertextuelle Struktur von Kracauers Theorie.28 Die Theorie des Kamera-Realismus, die der Theorie der Geschichtsschreibung unterlegt wird, überschreibt selbst bereits einen vorhergehenden Text. Die Metapher des Palimpsests ist nun aber nicht bloß das Zeichen reiner Selbstbezüglichkeit des Textes, sondern nimmt die der Theorie zugrunde liegende Vermittlung über Texte und Lektüre-Akte für das in ihr entworfene Verstehensmodell 27 Vgl. Breidecker, S. 181 f. 28 Neumann verweist im Bezug auf die Metapher des Palimpsests zwar auf Genettes Palimpsestes (vgl. Neumann: Literaturgeschichte der Photographie, S. 141), führt dies aber nicht weiter aus, so dass unklar bleibt, ob er ein ähnliches Argument intendiert.
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in Anspruch. Die in History als methodisches Vorbild für die Entzifferung der Texte der Vergangenheit durch die Historikerin oder den Historiker herangezogene ›fotografische Einstellung‹ folgt schon in der Theory of Film einem metaphorischen Modell des Lesens. Die Fotografin oder der Fotograf »resembles perhaps most of all the imaginative reader intent on studying and deciphering an elusive text. Like a reader, the photographer is steeped in the book of nature« (TF, S. 16). Stand mit dem Rückgriff auf den literarischen Text der Recherche die Theorie der Fotografie bereits im Zeichen textueller Vermittlung, so kennzeichnet die in der Theory of Film mehrfach verwendete Metapher vom Buch der Natur29 nun die fotografische Haltung selbst als einen Akt der Lektüre. Es ist jedoch eine durchaus eigenartige Lektüre, die von melancholischer Selbstentfremdung und gleichzeitiger Distanznahme geprägt ist. Die Versenkung ins ›Buch der Natur‹ wurde schon von Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels als Motiv barocker Melancholie beschrieben.30 Was dort aber noch als kennzeichnend für diese Versenkung galt, der grüblerische Tiefsinn, wird in Kracauers Version der fotografischen Melancholie konsequent ausgestrichen. Keine Topik der Tiefe verbindet sich mit dem »photographic approach«, sondern eine paradoxe Hermeneutik der Oberfläche,31 die gleichzeitig die methodische Relevanz, die diesem Begriff in Kracauers Essays der zwanziger Jahre noch zukam, grundlegend revidiert. Statt einer Analyse der »unscheinbaren Oberflächenäußerungen«, um den »Grundgehalt des Bestehenden« zu erkennen,32 tritt hier die Betonung, »that films cling to the surface of things« (TF, S. x), in den Mittelpunkt.33 Wie sehr diese Wendung von der Erfahrung des Exils
29 Vgl. TF, S. x, S. 18, S. 302; folgt man einer Bemerkung Blumenbergs, so ließe diese Metapher sich wiederum auf den Status lebensweltlichen Wissens im Gegensatz zu systematischen Theoriebildungen und ihren notwendigen Abstraktionen beziehen: »Das ›Buch der Natur‹ […] ist auch eine Orientierung für das Zurückfragen vom faktischen Status des theoretischen Weltverhaltens zu den ihm zugrundeliegenden lebensweltlichen Sinngebungen« (Hans Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: Ders.: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 85-106, S. 91; vgl. auch ders.: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981). 30 Vgl. GS I.1, S. 320. 31 Dies gilt allerdings nur für die Fotografie und den Film. Die Historikerin oder der Historiker als »stranger« dagegen ist in History »faced with the task of penetrating its outward appearances, so that he may learn to understand that world from within« (His, S. 84). 32 Kracauer: Das Ornament der Masse. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 50-63, S. 50 (der Aufsatz wird im Folgenden als »Ornament« zitiert). 33 Vgl. für eine ähnliche Konstellation schon im 19. Jahrhundert: Stiegler: Philologie des Auges, S. 325 ff.; Stiegler konstatiert denn auch Parallelen zwischen der Poetik von Stifters Nachsommer und Kracauers »Errettung der äußeren Wirklichkeit« (vgl. ebd., S. 264).
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getragen wird, wird sich erst nach einem Rückgriff auf Kracauers Essay über die Fotografie aus den zwanziger Jahren ermessen lassen.
2. D IE P HOTOGRAPHIE : O BERFLÄCHE
UND
K ONSTRUKTION
Stand der Realismus der Theory of Film im Dienst der Forderung nach einer eigentümlichen Lektüre der Oberfläche, bei der nichts zu entschlüsseln wäre, da die Dinge nicht als Zeichen, sondern als sie selbst erst zu entdecken sind, so ist die Aufwertung und eigentliche Entdeckung dessen, was als ›Oberfläche‹ zu gelten hat, in Kracauers Texten der späten Weimarer Republik34 noch gekennzeichnet vom interpretierenden Griff ›durch‹ die Phänomene hindurch auf allgemeinere Konstellationen. Die Oberflächenmetapher verknüpft hier ԟ am prominentesten im Essay Das Ornament der Masse ԟ methodische und geschichtsphilosophische Problemstellungen in der Analyse der Populärkultur der zwanziger Jahre.35 Methodisch impliziert sie die Aufwertung eher randständiger kultureller Phänomene als ausgezeichnete Objekte der Analyse. Gerade »ihrer Unbewußtheit wegen«36 können in ihnen Tendenzen der Epoche erkennbar werden, die im Deutungswillen zeitdiagnostischer Proklamationen eher verschleiert bleiben. Geschichtsphilosophisch wird in der Oberflächlichkeit der analysierten Phänomene eine geistfremde Negativität sichtbar, die in letzter Konsequenz umschlagen soll zu einer Emanzipation des Bewusstseins selbst. Die Fotografie nimmt vor diesem Hintergrund eine Sonderstellung ein, tritt bei ihr doch zum allgemeinen Sinn der Oberfläche deren spezifische Bedeutung in doppelter Hinsicht hinzu. Sie ist nicht allein Teil jener ›oberflächlichen‹ Phänomene der Alltagskultur, die bislang nicht zu den aussagekräftigen Zeugnissen einer Zeit gezählt wurden, sondern gibt selbst nichts als den »bloße[n] Oberflächenzu-
34 Zur Entwicklung und dem Kontext von Kracauers Schreiben bis 1933 vgl. Inka Mülder: Siegfried Kracauer ԟ Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913-1933. Stuttgart: Metzler 1985; zum vorliegenden Kontext vgl. v.a. S. 87 und dort Anm. 11 (S. 180), wo Mülder sich mit Blumenberg ebenfalls auf die Metapher der ›Lesbarkeit der Welt‹ bezieht – gerade in diesem Punkt wird der Unterschied in der Einschätzung der Fotografie zwischen Früh- und Spätwerk virulent. 35 Vgl. hierzu konzis: Inka Mülder-Bach: Der Umschlag der Negativität. Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der »Oberfläche«. In: DVjs 61 (1987), S. 359-373. 36 Kracauer: Ornament, S. 50.
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sammenhang«37 der äußeren Wirklichkeit wieder und bleibt dabei wörtlich reine Oberfläche, zweidimensionale Übersetzung räumlicher Tiefe. Zu Beginn des schon zeitlich in enger Beziehung zum Ornament der Masse stehenden Aufsatzes Die Photographie ԟ er erschien im Oktober 1927, wenige Monate nach jenem, in der Frankfurter Zeitung – steht die Beschreibung einer Oberfläche: »So sieht die Filmdiva aus. Sie ist 24 Jahre alt, sie steht auf der Titelseite einer illustrierten Zeitung vor dem Excelsior-Hotel am Lido. Wir schreiben September. Wer durch die Lupe blickte, erkennte den Raster, die Millionen von Pünktchen, aus denen die Diva, die Wellen und das Hotel bestehen.« (PH, S. 21)
Talbot riet den Leserinnen und Lesern seines Pencil of Nature, die Lupe zur Hand zu nehmen, um sich selbst von der Detailgenauigkeit seiner Bilder zu überzeugen;38 in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts enthüllt die Vergrößerung in einer Art Blow-up-Effekt nichts weiter mehr als die Materialität der Reproduktion. Mit dem Blick auf die Oberfläche des Bilds rückt gleich zu Beginn des Essays dessen mediale Konstitution in den Blick, und dies nicht nur im Hinblick auf das Punktraster, sondern auch in der Form der Beschreibung. Deren sylleptische Konstruktion nimmt das Bild als Oberflächenzusammenhang auf, indem sie den Ort der Diva vor dem Hotel und den der Fotografie auf dem Zeitschriftencover praktisch auf einer syntaktischen Ebene zusammentreten lässt. Auch bei der Monatsangabe bleibt ununterscheidbar, ob es sich um den Zeitpunkt der Aufnahme oder die Ausgabe der Illustrierten handelt. Was als Hinweis auf Zeit und Ort der Aufnahme Genauigkeit zu versprechen scheint, wird durch die Zweideutigkeit der Beschreibung zum Verweis auf die mediale Oberfläche. Diese Perspektive, die im Gegensatz zu den Ausführungen der Theory of Film die mediale Logik der (Presse-)Fotografie in den Vordergrund rückt, scheint Kracauer jedoch unmittelbar darauf zu wechseln mit dem Hinweis auf die Zeichenfunktion des Bilds:39 »Aber mit dem Bild ist nicht das Punktnetz gemeint, sondern die lebendige Diva am Lido« (PH, S. 21). Das mit dem Bild Gemeinte ist freilich von seiner massenmedialen Erscheinungsweise nicht unberührt. Ist die Betrachtung der Diva auf der Fotografie bereits von der Bildunterschrift, die sie »dämonisch« (PH, S. 21) nennt, gesteuert, so leitet sich auch der Wiedererkennungswert des Bilds von der medialen Darbietung seines Referenten her, »denn jeder hat das Original schon 37 Siegfried Kracauer: Die Photographie. In: Das Ornament der Masse, S. 21-39, S. 27 (im Folgenden mit der Sigle PH zitiert). 38 Vgl. Talbot: Der Zeichenstift der Natur, S. 74. 39 Zum Unterschied von Zeichen und Medium als verschiedene Beschreibungsperspektiven vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 34.
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auf der Leinwand gesehen« (PH, S. 21). Das fotografische Abbild ist in der visuellen Kultur der zwanziger Jahre immer schon eingebunden in einen Medienkomplex, in dem sich die referierte Wirklichkeit selbst modelliert. Erst innerhalb dieses zeitgenössischen Komplexes kann das Bild überhaupt als Zeichen fungieren: »die gegenwärtige Fotografie leistet Vermittlerdienste, sie ist ein optisches Zeichen für die Diva, deren Erkenntnis es gilt« (PH, S. 29). Eine der Pointen von Kracauers Analyse der Fotografie besteht nun darin, dass er die Eigenschaft, die die Fotografie für eine solche Erkenntnis zu prädestinieren scheint, die Ähnlichkeit, als Eigenschaft des Mediums davon abkoppelt. Ähnlichkeit ist nicht Funktion eines ikonischen Zeichens, sondern ԟ und hier liegt durchaus eine Kontinuität zur späteren Theorie der Fotografie vor ԟ ein spezifisches Merkmal des Mediums Fotografie: »Nicht wegen seiner Ähnlichkeit, sondern trotz seiner Ähnlichkeit denunziert das Bild die Dämonie. Sie gehört einstweilen dem noch schwankenden Gedächtnisbild an, auf das sich die photographische Ähnlichkeit nicht bezieht. Das aus der Anschauung unserer gefeierten Diva geschöpfte Gedächtnisbild aber bricht durch die Wand der Ähnlichkeit in die Photographie herein und verleiht ihr so einige Transparenz.« (PH, S. 29 f.)
Dass das Gedächtnisbild in diesem Fall selbst wieder auf einer medialen Vorlage beruht, spielt zunächst keine Rolle. Zumindest verweist das Bild auf vorgängige Erfahrungen des Betrachters und hilft, die Differenz von Fotografie und Gedächtnisbild in der Aktualität des Bezugs zu überspielen. Aus dieser Differenz schöpft Kracauers Essay jedoch seine Dynamik. Deutlicher wird die gegenläufige zeitliche Struktur fotografischer Bilder und des ›natürlichen‹ Gedächtnisses bei der Betrachtung alter Fotografien. Dem Bild der Filmdiva steht in Die Photographie ein anderes Bild gegenüber, das, von der Theory of Film rückblickend, ebenfalls von Proust inspiriert sein könnte:40 40 Mülder sieht diese Passage »in enger Anlehnung an Proust« (Mülder: Siegfried Kracauer, S. 74). Ob bereits hier von einem Einfluss der Recherche auf die Fototheorie Kracauers gesprochen werden kann, ist im Grunde unerheblich; dagegen spricht jedenfalls ein Brief Kracauers an Beaumont Newhall vom 30.5.1949, der nahelegt, dass die entsprechende Stelle ein relativ rezenter Fund gewesen sein dürfte: »It may interest you that I found two wonderful passages about photography in Proust’s ›The Guermantes Way‹« (zitiert nach: Inka Mülder-Bach: Nachbemerkung und editorische Notiz. In: Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Werke Bd. 3. Herausgegeben von Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 847-874, S. 857). Bei der anderen Stelle dürfte es sich um den Fotovergleich beim ersten Kuss Albertines handeln (vgl. RTP II, S. 660), auf den Kracauer in der Theory of Film anlässlich der verfremdenden und damit entdeckenden Wirkung von Großaufnahmen verweist (vgl. TF, S. 48). Ein früher, allerdings sehr allgemeiner Hinweis auf Proust findet sich im Aufsatz Tonbildfilm von 1928 (vgl. Kracauer: Tonbildfilm.
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»Sah so die Großmutter aus? Die Photographie, über 60 Jahre alt und schon eine Photographie im modernen Sinn, zeigt sie als junges Mädchen von 24. Da Photographien ähnlich sind, muß auch diese ähnlich gewesen sein. Sie ist in dem Atelier eines Hofphotographen mit Bedacht angefertigt worden. Aber fehlte die mündliche Tradition, aus dem Bild ließe sich die Großmutter nicht rekonstruieren.« (PH, S. 21 f.)
Das Verhältnis von Ähnlichkeit und Referenz scheint hier geradezu auf den Kopf gestellt. Wenn aus der allgemeinen Eigenschaft des Mediums auf die Darstellung der Person in einer bestimmten Fotografie geschlossen wird, rückt die Produktivität eines fotografischen Ähnlichkeitsbegriffs in den Blick, der aus dem Gebrauch des Mediums heraus die Regeln der Repräsentation festschreibt.41 Während die Fotografie aber durch die Angleichung an soziale und historische Bildvorstellungen typisierend wirkt, sind die selektiven und verdichtenden Verfahren der »mündlichen Tradition«, die ein kommunikatives ebenso wie das individuelle Gedächtnis bestimmen, auf eine ganz andere Form der Typisierung aus. Das Gedächtnisbild, in dem sich letztlich die »eigentliche Geschichte« (PH, S. 25) eines Menschen ausdrückt, vergleicht Kracauer mit der Stilisierung eines Namenszugs im »Monogramm« (PH, S. 26). Der Verlauf des Lebens zieht sich wie die Schrift zu einem Bild, das diesen Verlauf aufhebt, zusammen. In der Konfrontation mit narrativen Gedächtnisprozessen, implizit auch im Vergleich des Gedächtnisbilds mit der Schriftbildlichkeit des Monogramms, stellt sich das Problem der Ähnlichkeit in der Fotografie als ein Problem verschiedener Medien des Gedächtnisses dar. Ähnlich wie bei Barthes und Benjamin steht die Fotografie dabei stellvertretend für den tiefgreifenden medialen und kulturellen Wandel, dem in der Moderne nicht zuletzt die Gegenwart der Vergangenheit unterworfen ist. Kracauer weist so darauf hin, dass ein mit objektiv-wissenschaftlichem Anspruch auftretender Geschichtsdiskurs im Historismus »ungefähr gleichzeitig mit der modernen photographischen Technik sich durchgesetzt hat« (PH, S. 23). Obgleich er zu Beginn von History mit dem Verweis auf diese Stelle die für ihn selbst unerwartete Kontinuität seines Denkens hervorhebt,42 ist nicht zu übersehen, dass sich im späteren Buch die Wertungen verschoben haben. Im Essay der zwanziger Jahre
In: Werke Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928-1931. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 122-125, S. 124), der im Wesentlichen die Oppositionen aus Die Photographie aufnimmt. 41 Vgl. auch die Ausführungen zu Benjamins »Ähnlichkeit mit mir selbst«, zur Pose und zu Barthes’ Ablehnung der »ressemblance«, oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Benjamin. 42 Vgl. His, S. 4: »Lately I came across my piece on ›Photography‹ and was completely amazed at noticing that I had compared historism with photography already in this article of the ’twenties.«
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kommt ein deutlich polemischerer Begriff des Historismus zur Anwendung.43 In Parallele zur Fotografie läuft die historistische Version der Geschichte auf eine »kahle Selbstanzeige der […] Zeitbestände« hinaus, während jene das Kontinuum des Raums erfasst: »Dem Historismus geht es um die Photographie der Zeit. Seiner Zeitphotographie entspräche ein Riesenfilm, der die in ihr verbundenen Vorgänge allseitig abbildete« (PH, S. 24). Das zeitliche wie räumliche Inventarisieren der Erscheinungen steht den Verfahren des Gedächtnisses entgegen. Statt einer lückenlosen und vollständigen Rekonstruktion produziert dieses in der perspektivierenden Auswahl der Erinnerungen Sinn: »Gleichviel, welcher Szenen sich ein Mensch erinnert, sie meinen etwas, das sich auf ihn bezieht, ohne daß er wissen müßte, was sie meinen. Im Hinblick auf das Gemeinte werden sie aufgehoben« (PH, S. 24 f.). In der Fotografie begegnen den Betrachtenden aber nun Details der Vergangenheit, die sich dem einheitsstiftenden Sinnbezug im »Gemeinten« nicht fügen wollen; sie »faßt den Restbestand, den die Geschichte abgeschieden hat« (PH, S. 30). Das Bild der Großmutter verschwindet so im anonymen Zeitbezug: »So also ging man damals: mit Chignons, um die Taille eng geschnürt, in der Krinoline und dem Zuavenjäckchen. Vor den Augen der Enkel löst sich die Großmutter in modisch-altmodische Einzelheiten auf« (PH, S. 22). Die im Foto zu entdeckenden Details sind vielleicht von kulturgeschichtlichem Wert, im Hinblick auf das organisierende Prinzip des Gedächtnisses bleiben sie sinnlos. Das Motiv einer reinen Materialität und Kontingenz, die vor allem in den fotografierten Details zum Vorschein kommen, kann als beinahe durchgängiges Phantasma der Literatur zur Fotografie gelten. Bei Kracauer erfährt es, wie gezeigt, mit der Theory of Film eine signifikante Umwertung. Er greift hier eine sehr ähnliche Situation wie am Anfang von Die Photographie wieder auf, um den Funktionswandel von Fotografien als Gedächtnismedien zu beschreiben: »Leafing through the family album, the grandmother will re-experience her honeymoon, while the children will curiously study bizarre gondolas, obsolete fashions, and old young faces they never saw. And most certainly they will rejoice in discoveries, pointing to old bagatelles which the grandmother failed to notice in her day.« (TF, S. 21)
Nicht als Entzug des Gedächtnisbilds erscheint die Fremdheit der Vergangenheit hier, sondern als positiv konnotierter Hinweis auf die dokumentarische und entdeckende Funktion von Fotografien. Die Verschiebung der Wertung kann bereits als Hinweis auf die Verschiebungen dienen, die sich im theoretischen Bezugsrahmen Kracauers nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Exils ergaben. Was dann als fotografische Entdeckung der Oberfläche gefeiert wird, steht im Es43 Vgl. zur Begriffsverwendung von »Historismus« allgemein: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. München: Beck 1992, S. 6.
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say der zwanziger Jahre noch für die Verdeckung der mit dem Gedächtnisbild verbundenen Tiefendimension durch den ›abgeschiedenen Rest‹ in der Fotografie: »Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben« (PH, S. 26). Die Fotografie stellt nicht nur eine Gefahr für die Tradierung der Vergangenheit dar, sondern greift entscheidend in den mit der Herausbildung der Gedächtnisbilder verbundenen Erkenntnisprozess ein. In der Beschreibung dieses Prozesses, der bereits auf die Schlussthese vom fotografischen »Vabanque-Spiel der Geschichte« (PH, S. 37) hinführt, treten die aus der Fotobeschreibung des Anfangs bekannten Motive der Dämonie und der Oberfläche zusammen: »Solange sie [die Gedächtnisbilder] in das unkontrollierte Triebleben eingebunden sind, wohnt ihnen eine dämonische Zweideutigkeit inne; sie sind matt wie Milchglas, durch das kaum ein Schimmer dringt. Ihre Transparenz erhöht sich in dem Maße, als Erkenntnisse die Vegetation der Seele lichten und den Naturzwang begrenzen. Wahrheit finden kann nur das freigesetzte Bewußtsein, das die Dämonie der Triebe ermißt.« (PH, S. 25)
Die im Kontext einer Geist-Natur-Polarität geläufigen Metaphern des Lichts und des Vegetativen verbinden sich im Bild des undurchdringlichen Milchglases mit einer Oberflächen-Metaphorik, die an die Opazität des Punktrasters beim Illustrierten-Foto denken lässt. In der »dämonischen Zweideutigkeit« der ins »Triebleben« eingebundenen Gedächtnisbilder spiegelt sich die »Dämonie« der Diva. Das Verdrängte oder scheinbar Überwundene kehrt in der Fotografie sowohl als dem Gedächtnis fremder »Restbestand« wie als medial forcierte Triebnatur wieder.44 Es ist daher nur konsequent, wenn Kracauer bei der Beschreibung des ›Restbestands‹, mit dem sich die Betrachtenden alter Fotografien konfrontiert sehen, auf die Figur des Wiedergängers zurückgreift: »Auf der Photographie wird das Kostüm der Großmutter als ein abgeworfener Rest erkannt, der sich fortbehaupten möchte. […] Nun geistert das Bild wie eine Schloßfrau durch die Gegenwart« (PH, S. 31). Die Komik, die sich mit dem Anblick der altmodischen Kostüme auf dem Bild – und in gewissem Maß auch dem Vergleich mit einer »Schloßfrau« ԟ verbindet, ist vermischt mit einem Schrecken, der letztlich die eigene Vergänglichkeit betrifft. Bereits im ersten Abschnitt begleitet das Lachen der Enkel ein »Gruseln« angesichts der Ahnung, die Fotografie könne eine »Darstellung der Zeit« (PH, S. 23) sein. Die Konfrontation mit der nicht im Gedächtnisbild sublimierten ›Natur‹ auf 44 Zum Dämonischen als »eigentliche[m] Leitwort des Essay« und seiner Beziehung zu Freuds Unheimlichem vgl. Burkhardt Lindner: Augenblick des Profanen. Kracauer und die Photographie. In: Annette Simonis/Linda Simonis (Hg.): Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne. Bielefeld: Aisthesis 2000, S. 287-307, S. 294 f.; vgl. auch Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Studienausgabe, Bd. IV, S. 241-274.
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dem Foto gibt das Bild einer Realität, die gerade darin »gespenstisch« ist, dass sie »unerlöst« (PH, S. 32) bleibt. Der theologische Ton deutet bereits an, dass es hier nicht bloß um ein modernes memento mori geht, sondern um die Enttäuschung der Hoffnung auf eine Dauer über den Tod hinaus45: »Es fröstelt den Betrachter alter Photographien. Denn sie veranschaulichen nicht die Erkenntnis des Originals, sondern die räumliche Konfiguration eines Augenblicks; nicht der Mensch tritt in seiner Photographie heraus, sondern die Summe dessen, was von ihm abzuziehen ist. Sie vernichtet ihn, indem sie ihn abbildet, und fiele er mit ihr zusammen, so wäre er nicht mehr vorhanden.« (PH, S. 32)
Tritt in der alten Fotografie der nicht vom Bewusstsein bewältigte ›Rest‹ hervor und droht, ›den Menschen‹ mit seiner Geschichte abzuschaffen, so verschärft sich die Problematik angesichts einer von vornherein durch Fotografien vermittelten Gegenwart. Der »Ansturm der Bildkollektionen« in den modernen Illustrierten verhindert eine Auswahl der Bilder durch das Gedächtnis und droht letztendlich, »das vielleicht vorhandene Bewußtsein entscheidender Züge zu vernichten« (PH, S. 34). Die Metapher der »Schneedecke«, gleich der die Fotografie die Geschichte eines Menschen unter sich begräbt, steigert sich zum »Schneegestöber der Photographien«, welches die »Gleichgültigkeit gegen das mit den Sachen Gemeinte« (PH, S. 34) verrät. Der subjektiven Gefahr einer allgemeinen Bewusstlosigkeit in der Wahrnehmung entspricht auf der Objektseite das Bestreben der Welt, »in dem räumlichen Kontinuum aufzugehen […], das sich Momentaufnahmen ergibt« (PH, S. 34). Die Fotografietheorie, die ohnehin bereits der Anlass zu einer weiteren Kulturtheorie der Moderne war, mündet, ähnlich wie bei Benjamin, in die Diagnose einer allgemeinen Wahrnehmungskrise, die bei der reinen Wahrnehmung allerdings nicht stehenbleibt. Der veränderten Wahrnehmung entspricht eine Veränderung in der Konzeption der Wirklichkeit überhaupt. »Kein Trennungsstrich zwischen Realität und Fotografie wäre also zu ziehen wie zwischen aktiv und passiv: beide verändern sich miteinander. Nicht die Fotografie hat die Welt abbildbar gemacht; ihre Erfindung setzt vielmehr ihre Abbildbarkeit voraus«.46 Dieses wechselseitige Verhältnis liegt durchaus noch dem Realismus der Theory of Film zugrunde. Die Konsequenzen, die Kracauer hieraus in seinem frühen Text zieht, führen allerdings in eine andere Richtung. Es sind im Wesentlichen zwei, freilich zusammenhängende, Schlussfolgerungen. Zum einen interpretiert Kracauer die allgemeine fotografische Erfassung der 45 Nicht zuletzt das problematische Verhältnis zum Tod gilt für Freud als eine der möglichen Quellen des Unheimlichen, vgl. Freud: Das Unheimliche, S. 264 f. 46 Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie 1912-1945. In: Ders. (Hg.): Theorie der Fotografie II. 1912-1945. München: Schirmer/Mosel 1979, S. 13-38, S. 32.
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Welt in einer durchaus zeittypischen Wendung als »Zeichen der Todesfurcht. Die Erinnerung an den Tod, der in jedem Gedächtnisbild mitgedacht ist, möchten die Photographien durch ihre Häufung bannen« (PH, S. 35). Die These einer ›Verdrängung‹ des Todes, die zu »den wichtigsten Selbstzuschreibungen der Moderne, zu den Stereotypen ihrer Selbstkritik« zählt,47 ist bei Kracauer wiederum mit einer dialektischen Figur der Wiederkehr verbunden. Die Gegenwart scheint mit ihrer ›Verewigung‹ in den Fotos »dem Tod entrissen zu sein; in Wirklichkeit ist sie ihm preisgegeben« (PH, S. 35). Diese Preisgabe, die zunächst auf die Darstellung der Fotografie als dem bloßen ›Rest‹ verweist, der den Fotografierten nur ein Scheinfortleben als »Leiche« (PH, S. 31) ermöglicht, wird nun in einen weiteren geschichtsphilosophischen Rahmen gestellt. In Parallele zur Herausbildung des Bewusstseins bei der Entstehung der Gedächtnisbilder skizziert Kracauer eine anthropologische Geschichte der Bildlichkeit. Ausgehend vom Symbol über die Allegorie bis schließlich zur Fotografie als ihrer letzten Stufe stellt diese Geschichte sich als »Auszug des Bewußtseins aus seiner Naturbefangenheit« (PH, S. 36) dar. Mit der »modernen Photographie« tritt dem Bewusstsein das »bedeutungsleere Naturfundament« (PH, S. 37) schließlich als Fremdes gegenüber. In der Fotografie kondensiert sich damit eine geschichtsphilosophische Dynamik, wie sie bereits im Essay Das Ornament der Masse anhand der Ambivalenzen des Geschichtsprozesses als »Prozeß der Entmythologisierung, der den radikalen Abbau der immer wieder neu besetzten Positionen des Natürlichen bewirkt«,48 herausgearbeitet wurde. Die später von Horkheimer und Adorno zu ihrer äußersten, pessimistischen Konsequenz geführte (Selbst-)Kritik des neuzeitlichen Denkens steht bei Kracauer noch im Programm einer möglichen und nötigen Weiterführung der Aufklärung.49 Die Dialektik einer Vernunft, die die Menschen zwar aus Naturzwängen herausführt, mit ihrer rationalistischen Verwirklichung jedoch zugleich in den neuerlichen Zwang einer in ihrer Abstraktion unverstandenen 47 Thomas H. Macho/Kristin Marek: Die neue Sichtbarkeit des Todes. In: Dies. (Hg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes, S. 9-24, S. 12. 48 Kracauer: Ornament, S. 56. 49 Auf die Parallelen dieser Geschichtstheorie zur Dialektik der Aufklärung wurde bereits des Öfteren hingewiesen. Adorno bescheinigte Kracauer denn auch, dass er »von uns allen die Probleme der Aufklärung neu in Angriff genommen« habe (Theodor W. Adorno/Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923-1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 298 (= Theodor W. Adorno: Briefwechsel, Bd. 7)). Vgl. auch Mülder: Siegfried Kracauer, S. 60 ff., v.a. S. 66; David Frisby: Fragmente der Moderne. Georg Simmel ԟ Siegfried Kracauer ԟ Walter Benjamin. Rheda-Wiedenbrück: Daedalus 1989, S. 156 f.; mit einer stärkeren Betonung der Differenzen: Helmut Stalder: Siegfried Kracauer. Das journalistische Werk in der ›Frankfurter Zeitung‹ 1921-1933. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 161 f.
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zweiten Natur mündet,50 ist für ihn Kennzeichen der »kapitalistische[n] Epoche« als »Etappe auf dem Weg zur Entzauberung«,51 deren Überwindung durchaus möglich ist; nicht aber ist es ein schon immer der Aufklärung inhärentes rückläufiges Moment. Die Fotografie wird nun zu dem Ort, an dem nicht nur die Dialektik von Freiheit und Zwang in der Auseinandersetzung des Bewusstseins oder der Vernunft mit der Natur in Erscheinung tritt, sondern an dem auch der Umschlag des Geschichtsprozesses selbst möglich sein soll. Zunächst ist mit ihr die Gefahr des endgültigen Umschlags rationaler Herrschaft in zweite Natur verbunden: »Dieselbe bloße Natur, die auf der Photographie erscheint, lebt sich in der Realität der von ihm [d.i. dem kapitalistischen Produktionsprozess] erzeugten Gesellschaft aus. Es läßt sich durchaus eine der stummen Natur verfallene Gesellschaft denken, mit der nichts gemeint ist, wie abstrakt immer sie schweige. In den illustrierten Zeitungen tauchen ihre Umrisse auf. Hätte sie Bestand, so wäre die Folge der Emanzipation des Bewußtseins seine Tilgung; die von ihm undurchdrungene Natur setzte sich an den Tisch, den es verlassen hat.« (PH, S. 37)
Die fotografierte Wirklichkeit ist der sozialen Natur, den entfremdeten gesellschaftlichen Zuständen, nicht bloß analog, sondern arbeitet diesen Zuständen unmittelbar zu. Die Tilgung des Bewusstseins gewinnt ihre Plausibilität aus der vorherigen Charakterisierung der Illustrierten als »mächtigste[m] Streikmittel gegen die Erkenntnis« (PH, S. 34). Das »Nebeneinander« (PH, S. 34) der Fotografien in seiner Reduktion der Gegenstände auf ihre räumliche Erscheinung zu einem gegebenen Zeitpunkt verhindert deren Aufhebung durch das Bewusstsein im Gedächtnisbild.52 Doch ist diese Entwicklung durchaus nicht zwangsläufig. Nachdem er bis an den äußersten Punkt der Bedrohung des Menschen ԟ denn auf nichts anderes läuft die Tilgung des Bewusstseins hinaus ԟ herangeführt hat, nimmt Kracauers Text mit der Wendung der Fotografie zum »Vabanque-Spiel der Geschichte« (PH, S. 37) eine letzte Volte. Mit der Entfremdung des Bewusstseins von der Natur kann die Fotografie auch als vollzogene Befreiung aus deren Zwän50 Zum Begriff der Natur in der Kritischen Theorie, der hier auch bei Kracauer angenommen werden kann, vgl.: Gunzelin Schmid-Noerr: Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, v.a. S. 15 ff. 51 Kracauer: Ornament, S. 56. 52 Vgl. PH, S. 34: »In Wirklichkeit aber wird der Hinweis auf die Urbilder von der photographischen Wochenration gar nicht bezweckt. Böte sie sich dem Gedächtnis als Stütze an, so müßte das Gedächtnis ihre Auswahl bestimmen. Doch die Flut der Photographien fegt seine Dämme hinweg. So gewaltig ist der Ansturm der Bildkollektionen, daß er das vielleicht vorhandene Bewußtsein entscheidender Züge zu vernichten droht.« (Auf die Natur-Metaphorik sei hier nur am Rande hingewiesen).
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gen erscheinen. Indem das »photographische[ ] Archiv im Abbild die letzten Elemente der dem Gemeinten entfremdeten Natur« versammelt, sind diese »dem Bewußtsein zur freien Verfügung überantwortet« (PH, S. 38 f.), so dass es, mit »den Naturbeständen unvermischt wie nie zuvor, […] an ihnen seine Gewalt bewähren« (PH, S. 37) kann. Die Entschiedenheit dieses Zugriffs entfernt die utopische Perspektive am Ende von Die Photographie denkbar weit von der empathischen Versenkung, die in der Theory of Film zum Programm des »photographic approach« erklärt werden wird. Gleichwohl nimmt die Sichtbarkeit der Dinge im Foto bereits hier den Charakter einer ›Rettung‹ an. Denn gerade der ›Rest‹, das, was im Gedächtnisbild nicht aufgehoben bleibt, kann nun, im »Hauptarchiv« (PH, S. 38), dem »Generalinventar der nicht weiter reduzierbaren Natur« und »Sammelkatalog sämtlicher im Raum sich darbietender Erscheinungen« (PH, S. 37), doch dem Gedächtnis überantwortet werden. Impliziert dies die Möglichkeit einer Bewahrung dessen, was dem Bewusstsein äußerlich ist, so bleibt doch offen, wie dieser Bezug auf externe Speicher- und Indizierungsmedien mit der Steigerung zum »Vabanque-Spiel der Geschichte« denn tatsächlich zu vereinbaren ist. Die ›Rettung‹ einer rein äußerlichen Wirklichkeit gilt noch in der Theory of Film als eigentümliche Leistung der ›fotografischen Medien‹. Die theologischen Beiklänge, die der Begriff »redemption« in deren Untertitel noch mit sich führen sollte,53 sind dort allerdings offen als ästhetisches Moment gefasst; während der Umschlag der ›leeren Negativität‹ der Oberfläche in Die Photographie zwar auch als »genuin ästhetischer«54 zu betrachten ist, aber diesen ästhetischen Charakter einbindet und zu einem gewissen Grad dissimuliert in einer durchaus eschatologisch zu nennenden, wenn auch rein im Diesseitigen verbleibenden, Geschichtskonstruktion. Die Rede von der »unerlöst[en]« Realität im Foto – die an der entsprechenden Stelle die Erlösung zunächst rein ins Gedächtnisbild zu legen scheint55 – ist nun positiv gewendet zum Hinweis auf ein Erlösungspotential der Fotografie: Wenn alle Bedeutung von ihm abgeflossen ist, kann der vereinzelte Gegenstand im Foto auf eine mögliche Ordnung hindeuten:56 53 Bei der deutschen Übersetzung war lange unentschieden, wie »redemption« zu übersetzen sei – es lagen die Vorschläge »Erlösung«, »Rettung« und schließlich, auf Kracauers Vorschlag hin, die letztendlich übernommene Variante »Errettung der äußeren Wirklichkeit« vor – wobei, wie Kracauer in einem Brief schreibt, »die theologische Bedeutung« durchaus »beabsichtigt [war]« (Kracauer an Unseld, 7.1.1964, zit. nach: Mülder-Bach: Nachbemerkung und editorische Notiz, S. 864; vgl. auch Adorno/Kracauer: Briefwechsel, die Anmerkung S. 653). 54 Mülder-Bach: Umschlag der Negativität, S. 372 f. 55 Vgl. PH, S. 32. 56 Eine weiter reichende Parallele zu Benjamins ohnehin erst 1928 erschienen Ursprung des deutschen Trauerspiels soll hier zwar nicht behauptet werden, es ist aber auffällig, dass
168 | KRACAUER »Zielen aber die naturalen Überreste nicht mehr auf das Gedächtnisbild hin, so ist ihre im Bild vermittelte Anordnung notwendig ein Provisorium. Dem Bewußtsein läge also ob, die Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen nachzuweisen, wenn nicht gar die Ahnung der richtigen Ordnung des Naturbestands zu erwecken.« (PH, S. 39)
Das in der »Anteroom«-Metaphorik von History später so wichtige Motiv der Vorläufigkeit, das auch in früheren Texten wie den Wartenden bereits eingeführt wird, ist hier wie in jenem früheren Text noch verbunden mit der über sie hinausweisenden Perspektive einer prinzipiell erreichbaren Ordnung, die sozusagen aus dem ›Vorraum‹ herausführen könnte.57 Unter dem Eindruck der Marx-Lektüre Mitte der zwanziger Jahre58 und von Max Webers Theorem von der »Entzauberung der Welt« stellt sich die utopische Perspektive in Die Photographie als eine Art säkularisierter Messianismus der Vernunft oder der Aufklärung dar. Lindner, der in dem Zusammenhang von einer »Hoffnung aufs materialistische Überwintern der Transzendenz«59 spricht, sieht in dieser Bewegung des Fotografie-Essays einen »Ikonoklasmus« am Werk, dessen Bildabwehr gleichwohl von einer »latenten Faszination« der Fotos aus den Illustrierten, vor allem natürlich der Diva, aber auch des Fotos der Großmutter getragen wird.60 Nach der Logik des Essays soll diese Faszination aber selbst wieder im Medium des Bildes als Mittel zum Abstandnehmen und vor allem der freien Verfügbarkeit des Sichtbaren bewältigt werden. Was Adorno als »objekKracauer in seiner Rezension des Trauerspielbuchs Motive hervorhebt, die den hier behandelten zumindest verwandt sind (vgl. Kracauer: Zu den Schriften Walter Benjamins. In: Das Ornament der Masse, S. 249-255, v.a. S. 252; vgl. im vorliegenden Zusammenhang bei Benjamin: GS I.1, S. 359, 406). Barnouw bestreitet das theologische Motiv sowohl in Die Photographie wie in den späteren Schriften (vgl. Dagmar Barnouw: Critical realism. History, photography, and the work of Siegfried Kracauer. Baltimore u.a.: Johns Hopkins University Press 1994, S. 31 f., S. 54). Während dies bei den späten – trotz des Untertitels der Theory of Film – noch plausibel erscheinen mag, muss sie in den frühen Schriften einiges ausblenden. Der Wert ihres Buchs wird ohnehin dadurch gemindert, dass es oft mehr um eine reichlich polemische und oft äußerst holzschnittartig wirkende Abgrenzung Kracauers von Benjamin und anderen aus dem Umkreis der Kritischen Theorie (v.a. Adorno und Bloch) zu gehen scheint als um eine nüchterne Behandlung der Texte des Ersteren. Für eine intelligente Gegenüberstellung von Benjamins Geschichtsphilosophie und Kracauers History, die Benjamins Aporien klar benennt, vgl. Vincent P. Pecora: Benjamin, Kracauer and Redemptive History. In: Genre 35 (2002), S. 55-88. 57 Vgl. auch Kracauer: Die Wartenden. In: Ders.: Das Ornament der Masse, S. 106-119, v.a. S. 117 ff. 58 Vgl. dazu Mülder: Siegfried Kracauer, S. 56 ff. 59 Lindner: Augenblick des Profanen, S. 289, S. 293. 60 Vgl. ebd. 293 f.
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tive Tendenz der Aufklärung« bezeichnete, »die Macht aller Bilder über die Menschen zu tilgen«, führt bei Kracauer gerade nicht zur »Bilderlosigkeit«,61 sondern gewissermaßen zur Macht des Menschen über die Bilder und mittels der Bilder. Diese eigentümliche Verbindung fotografischer Bildlichkeit mit aufklärerischutopischen Motiven findet ihre letztendliche Vermittlung aber nur im Ästhetischen. Mülder-Bachs Interpretation, dieser ästhetische Umschlag vollziehe sich erst in der subjektiven Erfahrung des Montage-Elements im Film, scheint mir allerdings etwas zu eng gefasst.62 Wenngleich das traumähnliche »Spiel mit der zerstückelten Natur« (PH, S. 39) tatsächlich in erster Line den Film meint, scheint es weniger auf dessen Gegensatz zur Fotografie bezogen zu sein, als auf ein allgemeiner gefasstes – und damit auch fotografisch zu realisierendes – Prinzip der Montage bzw. der Konstruktion. Auf einen weiteren Begriff des experimentierenden Spiels mit Fragmenten deutet bereits die Erwähnung Kafkas am Ende von Die Photographie hin.63 Und nicht umsonst steht dem Essay mit dem Motto aus Grimms Haus- und Kindermärchen ein Textstück voran, in dem die »Schlauraffenzeit« (PH, S. 21) in kühn konstruierten sprachlichen Bildern entworfen wird. Märchen sind, wie es im Ornament der Masse heißt, dem Projekt der »Einsetzung der Wahrheit in der Welt« eng verbunden: »Vorgeträumt ist ihr Reich in den echten Märchen, die […] die wunderbare Ankunft der Gerechtigkeit meinen.«64 In ähnlicher Weise ›erträumt‹ das Motto-Zitat die Ankunft der Vernunft in der Freiheit der Sprache. Aber auch hier artikuliert sich das Utopische eher in der ästhetischen Form der sprachlichen Kombinatorik selbst als im Inhalt des Gesagten. Die Möglichkeit einer revolutionären Rolle der Montage erinnert, vor allem mit dem Hinweis auf den Traum und das Spiel, an Benjamins Hoffnungen auf den Film und bestimmte Verwendungen der Fotografie.65 Auch bei Kracauer wird deutlich, 61 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Nachrichten aus dem beschädigten Leben. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 159. 62 Vgl. Mülder-Bach: Umschlag der Negativität, S. 373; auch Kemp nimmt den Film als letztlichen Fluchtpunkt der Fototheorie Kracauers an und sieht darin »eine beliebte Fluchtfigur der Theoretiker der 20er Jahre, am Ende alles dem Film zu überlassen, nachdem die Fotografie in die Aporie geführt hat«, bestätigt (Kemp: Theorie der Fotografie 1912-1945, S. 33). 63 Vgl. PH, S. 39; zur Rolle der Fotografie in Kafkas Schreiben vgl. Duttlinger: Kafka and Photography, dort zu Kracauer S. 16 ff.; Neumann: Literaturgeschichte der Photographie, S. 159 ff.; Dieter Mettler: Aufnehmen, aufschreiben. Zu einigen Tagebucheinträgen Kafkas und ihrem Verhältnis zur Fotografie. In: Michael Scheffel/Silke Grothues/Rolf Sassenhausen (Hg.): Ästhetische Transgressionen. Festschrift für Ulrich Ernst zum 60. Geburtstag. Trier: WVT 2006, S. 135-153. 64 Kracauer: Ornament, S. 55. 65 Vgl. oben, Ende Abschnitt 1 im Kapitel zu Benjamin und das folgende Kapitel.
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wie sehr Fotografie und Film gerade in Bezug auf ästhetische Praktiken, die über den reinen Abbildcharakter hinausgehen, in den späten zwanziger und den dreißiger Jahren zum geschichtsphilosophischen und gesellschaftskritischen Modell avancierten. Mehr aber als ein Modell zu sein, die Umwendung der Geschichte in ästhetischen Kategorien zu denken, steht die Montage – oder, allgemeiner, die Konstruktion ԟ für den Anspruch einer Theorie und Ästhetik, diese Umwendung als Bewusstwerdung selbst zu befördern. Sei es metaphorisch, sei es als konkretes Verfahren wird der konstruktive Aspekt visueller Medien gegen eine ›bloße Abbildung‹ der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit, wie sie die Fotografie üblicherweise biete, in Stellung gebracht. Diese Version der in der Auseinandersetzung mit der Fotografie immer wiederkehrenden Gegenüberstellung von mechanischer Aufzeichnung und eingreifender Subjektivität wird in ihren spezifisch politischen Implikationen am Beispiel von Benjamin und Brecht noch genauer zu beobachten sein.66 Kracauers Programm eines kritischen Einsatzes der Konstruktion steht in seiner bekanntesten Formulierung, im ersten Kapitel der Studie Die Angestellten, in merklicher Nähe zu Brechts vielzitierter Bemerkung, eine »Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute«67: »Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage fotografiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.«68
Es kann hier nicht um die Frage eines Einflusses der 1930 erschienenen Angestellten auf den ein Jahr später entstandenen Text Brechts gehen. Vielmehr scheint gerade die Abstraktheit der sozialen Beziehungen im Kapitalismus nicht besser illustriert werden zu können als durch das Unvermögen der Fotografie, jenen in ihrer 66 Für einen Vergleich der Positionen Kracauers, Brechts und Benjamins vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse um Kunst und Fotografie vgl. auch Steve Giles: Realismus nach Modernismus? Photographie und Darstellung bei Kracauer und Brecht. In: Sabine Kyora/Stefan Neuhaus (Hg.): Realistisches Schreiben in der Weimarer Republik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 61-75. 67 Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozess. In: Ders.: Werke. Hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar: Aufbau/Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992, Bd. 21, S. 448-514, S. 469 (im Folgenden Zitate aus dieser Ausgabe mit der Sigle BFA, Bandnummer und Seitenzahl im laufenden Text angeführt); vgl. auch im folgenden Kapitel, Abschnitt 1.2. 68 Siegfried Kracauer: Die Angestellten. In: Werke, Bd. 1, S. 213-310, S. 222.
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scheinbaren Konkretion auf den Leib zu rücken. Bei Kracauer steht der rein kontingenten fotografischen Abbildlichkeit die Erkenntnis des »Gehalts« gegenüber, die erst das »Mosaik«, das »Bild«, konstruieren kann, das über eine Wiedergabe der Oberfläche hinausginge. Was in Die Photographie geschichtsphilosophisch gefasst war, wird hier ins Methodische und Epistemologische gewendet. Die Wirklichkeit kann in ihrer sozialen Konstruktion nur erkannt werden, wenn sie ihrerseits zerlegt und die einzelnen Beobachtungen in eine Konstellation überführt werden, die ihre Strukturgesetze vor Augen führt.69 Der Satz, dass die Wirklichkeit »eine Konstruktion« sei, wurde in der Folge verschiedentlich für den Realismus der Theory of Film in Anspruch genommen, ohne ausreichend zu beachten, wie sehr sich die Rahmenbedingungen der Theorie selbst gewandelt hatten und vor allem ohne den methodischen Stellenwert der Aussage zu bedenken.70 Gerade die unterschiedliche Bedeutung, die dem Konstruktiven beigemessen wird,71 sowie der Status der Oberfläche im Text der Theorie weisen auf den Wandel hin, den Kracauers Denken nach 1945 unterlief. Ist die Oberfläche in den Schriften der zwanziger Jahre noch der Ort, an dem sich die Ideologie der 69 Vgl. dazu in den Angestellten: Stalder: Siegfried Kracauer, S. 199 ff.; vgl. zu den Angestellten auch: Michael Hoffmann: Kritische Öffentlichkeit als Erkenntnisprozeß. Zu Siegfried Kracauers Essay über Die Angestellten in der Frankfurter Zeitung. In: Kessler/Levin (Hg.): Siegfried Kracauer, S. 87-104, die Differenzen im theoretischen Rahmen zwischen den Angestellten und den beiden letzten Büchern Kracauers entgehen Hoffmann allerdings; zu den methodischen Einflüssen von Max Webers Idealtypus und den phänomenologischen Anteilen bei Georg Simmel in der soziologischen Methode Kracauers vgl. Klaus Koziol: Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Zur Methodologie Siegfried Kracauers. In: ebd., S. 147-158. 70 Vgl. z.B. Tobias Korta: Geschichte als Projekt und Projektion. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer zur Krise des modernen Denkens. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2001, S. 139, S. 146; Barnouw: Critical Realism, S. 114. 71 Als Hinweis auf den veränderten Stellenwert der konstruktiven Anteile in der filmischen Montage kann die unterschiedliche Bewertung von Dziga Vertovs ýelovek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera) dienen. Setzt Kracauer dessen Montage-Experimente bei seiner Besprechung des Films 1928 noch Walther Ruttmanns Berlin. Die Sinfonie der Grosstadt entgegen, da Vertov, anders als dieser, »durch die Montage dem Zusammenhang der Wirklichkeitssplitter noch einen Sinn« abgewinne, die »in sich geschlossene Wirklichkeit des Kollektivs« durchstoße und »unter die Oberfläche« greife (Kracauer: Der Mann mit dem Kinoapparat. In: Werke Bd. 6.2., S. 247-251, S. 248; zu Ruttmanns Berlin vgl. auch Kracauer: Wir schaffens. In: ebd. Bd. 6.1, S. 411-413), so heißt es in der Theory of Film, Ruttmann verfahre »much like Vertov«, womit das Urteil, die durch die Montage hergestellten Verbindungen seien »purely decorative and rather obvious« (TF, S. 65), auch ýelovek s kinoapparatom trifft.
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Epoche manifestiert, indem sie ein scheinbar lückenloses Kontinuum darstellt, das ideologiekritisch zerschlagen werden soll, so ist sie in der Theory of Film der letzte Fluchtpunkt. Dabei wird nicht nur die Wirklichkeit, deren Oberfläche die Kamera aufzeichnet, bereits selbst als fragmentarische vorgestellt, sondern auch die Subjektivität, deren Aufgabe es in den früheren Schriften noch war, die Bruchstücke in eine Konstruktion zu überführen, stellt keine Einheit mehr dar: »Fragmentized individuals act out their parts in fragmentized reality« (TF, S. 298). Statt der verwandelnden Kraft der Subjektivität gilt nun gerade deren Zurücktreten im »photographic approach« als Garant für einen Zugang zur Wirklichkeit, der den Bedingungen der Zeit angemessen ist.72
3. D IE T HEORIE
DES
F ILMS
ANGESICHTS VON
AUSCHWITZ
Betrachtet man die Zeitdiagnose des Epilogs der Theory of Film, »Film in Our Time«, so hat sich auf den ersten Blick wenig im Vergleich zu den zwanziger Jahren geändert. Ein allgemeiner Verlust weltanschaulicher Bindungen wird ebenso konstatiert wie die Vergeblichkeit der Versuche, wieder umfassende Wertsysteme zu installieren. Auch die Abstraktheit des Weltzugangs im Zuge der Durchsetzung neuzeitlicher Rationalität gilt weiterhin als allgemeines Kennzeichen der Zeit. Ihr strategischer Ort in der Theorie hat sich jedoch gewandelt. In den Schriften der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre konnte der Abstraktheit des Denkens noch deren Revers, die Möglichkeit einer Weiterentwicklung der Vernunft, abgewonnen werden; die Theory of Film sieht darin nur noch das Zeichen einer fortschreitenden Entwirklichung der Welt. Der Wandel im geschichtsphilosophischen Rahmen verweist auf die Erfahrung der Geschichte selbst. Erwuchs aus der Feststellung einer sich zur leeren Abstraktion entwickelnden Rationalität des Kapitalismus im Ornament der Masse die Forderung, der Kapitalismus rationalisiere »nicht zu viel, sondern zu wenig«,73 so ist die damit verbundene Hoffnung in der tödlichen Rationalität, mit der die nationalsozialistischen Massenmorde durchgeführt wurden, und dem Massenornament der Parteitage endgültig gescheitert. Das »Vabanque-Spiel der Geschichte« ist verloren. Es wurde in der Literatur zu Kracauer bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, wie sehr dessen späte Theorie, vor allem History und die Theory of Film, von
72 Das gleiche gilt für History, vgl. Inka Mülder-Bach: Schlupflöcher. Die Diskontinuität des Kontinuierlichen im Werk Siegfried Kracauers. In: Michael Kessler/Thomas Y. Levin (Hg.): Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen. Tübingen: Stauffenburg 1990, S. 249-266, S. 259. 73 Kracauer: Ornament, S. 57.
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dieser Erschütterung geprägt sind.74 Insbesondere die Filmtheorie entstand 1940 unter dem unmittelbaren Eindruck der nationalsozialistischen Bedrohung, in der problematischen Transitsituation von Marseille. Anhand des dort konzipierten ersten Entwurfs lässt sich ermessen, wie viel davon in die Theorie einging, was später, in der Endfassung, »in die Latenz abgedrängt«75 wurde.76 Bereits im »Marseiller Entwurf« wird jedoch die historische Situation kaum explizit benannt und die Änderung im geschichtsphilosophischen Rahmen nimmt kaum – wie auch später nicht – die Form eines klaren Bruchs an; eher noch handelt es sich um eine Verschiebung. Weiterhin steht der Film im Zusammenhang einer »zunehmende[n] Entmythologisierung«, die im Wesentlichen auf ein neues Verhältnis zur materiellen Natur hinausläuft: »Der Fortschritt des Säkularisierungsprozesses ist darin zu suchen, daß immer mehr das Bloßseiende, Materielle ins Bewußtsein gehoben wird (um ›mitgenommen‹ zu werden).«77 Die »materiellen Phänomene vor Augen« zu stellen78 wird auch – bei allen Differenzen in der Konnotation der Begriffe »material« und »physical reality«79 ԟ in der Theory of Film noch als wesentliche Eigenschaft des Films und der Fotografie gelten. Im Unterschied zu den Schriften aus der Weimarer Zeit geht es nun aber nicht mehr um den Abstand des Bewusstseins von Naturzusammenhängen, sondern die unmittelbare physische Involviertheit des Menschen in die Bildlichkeit des Kinos tritt hervor:
74 Vgl. u.a. Breidecker: »Ferne Nähe«, S. 179 f.; Mülder-Bach: Schlupflöcher, S. 259 ff. zu History; zur Theory of Film vgl. v.a. Gertrud Koch: »Not yet accepted anywhere«: Exile, Memory, and Image in Kracauer’s Conception of History. In: New German Critique 54 (1991), S. 95-109; Heide Schlüpmann: The Subject of Survival: On Kracauer’s Theory of Film. In: New German Critique 54 (1991), S. 111-126. 75 Mülder-Bach: Nachbemerkung, S. 852. 76 Zum sogenannten »Marseiller Entwurf« vgl. ausführlich: Miriam Hansen: »With Skin and Hair«: Kracauer’s Theory of Film, Marseille 1940. In: Critical Inquiry 19/3 (1993), S. 437-469. 77 Siegfried Kracauer: [»Marseiller Entwurf« zu einer Theorie des Films]. In: Ders.: Theorie des Films. Werke Bd. 3, S. 521-803, S. 683. 78 Ebd. 79 In einem Tentative Outline of a Book on Film Aesthetics von 1949 (auf englisch abgedruckt in: Kracauer/Panofsky: Briefwechsel, S. 81-92) findet sich der Zusatz »Es könnte sich als ratsam erweisen, den Ausdruck ›materiell‹ durch den Ausdruck ›physisch‹ zu ersetzen.« (die Zusätze sind in der deutschen Übersetzung abgedruckt, vgl. Kracauer: Vorläufige Übersicht über ein Buch zur Ästhetik des Films. In: Werke Bd. 3: Theorie des Films, S. 825-845, S. 827). Zu den Unterschieden der Begriffe vgl. Mülder-Bach: Nachbemerkung, S. 854; Hansen: »With Skin and Hair«, S. 452, S. 466, v.a. Anm. 51.
174 | KRACAUER »Die materiellen Elemente, die sich im Film darstellen, erregen direkt die materiellen Schichten des Menschen: seine Nerven, seine Sinne, seinen ganzen physiologischen Bestand. […] die Bewußtseinskontinuität des dem Film zugeordneten Menschen […] wird fortwährend durch direkte (intentionslose) Attacken auf sein Sensorium unterbrochen, die dessen unmittelbare Reaktionen provozieren. Das heißt: Das ›Ich‹ des dem Film zugeordneten Menschen ist in ständiger Auflösung begriffen, wird ständig von materiellen Phänomenen gesprengt.«80
Die Überwältigung des Menschen durch die »materiellen Phänomene« im Kino, die in deutlicher Nähe zu Benjamins Thesen zum Film und zum Schock stehen, ist anderer Art als der Sieg der abstrakten Natur, wie er in Die Photographie als Gefahr heraufbeschworen wurde. Es ist eine konkrete materielle Bewegung,81 die den Menschen selbst in seiner Körperlichkeit einbegreift und gerade daraus, nicht aus dem Abstand durch das Bild, befreiendes Potential entwickeln kann. Fast scheint es, als ob die Erfahrung der Ohnmacht angesichts der politischen Verhältnisse ihren Reflex in einer Theorie fand, die der Situation eines Menschen, der im Kino dem Ansturm der »materiellen Phänome« passiv ausgesetzt ist, einen befreienden Sinn abgewinnen sollte. In diesem Sinne parallelisiert Kracauer den Film mit der Entwicklung des »materialistischen Denkens«,82 da beide auf ihre Weise eine je spezifische Form des Materiellen gegen die »intentionalen Konstruktionen«83 ideologischer Entwürfe ins Spiel brachten. Eine instruktive Metapher fasst diese Entwicklung als Sammelpunkt kulturgeschichtlicher und wahrnehmungstechnischer Veränderungen: »Durch den ständigen Wechsel der Distanzen und Einstellungen hebt er [d.i. der Film] die statische Struktur des Menschen in der TOTALE auf, er dynamisiert diesen ganz im Einklang mit der faktischen technischen Situation. […] Der Film erfordert einen Betrachter, der (wie der Flugzeuggast) nicht mehr an den Erdboden gebannt ist und dem die normale, tradierte TOTALE zum Grenzfall wird.«84
Mit der »TOTALEN« treten die Ansprüche philosophischer und weltanschaulicher Systeme, die totalitäre Bedrohung durch den Faschismus sowie überkommene Re-
80 Kracauer: [»Marseiller Entwurf«], S. 577. 81 Der Aspekt der Bewegung als Eigenart des Kinos steht, auch was die Herkunft des Films aus der Fotografie anbelangt, im »Marseiller Entwurf« – im Gegensatz zur späteren Theory of Film ԟ generell stärker im Vordergrund. Vgl. die Herleitung des Films aus den Foto-Experimenten Muybridges und Mareys (Kracauer: [»Marseiller Entwurf«], S. 533) und die Betonung der Dynamik des Films, u.a. ebd., S. 533/35, S. 545. 82 Vgl. ebd., S. 589 ff. 83 Ebd., S. 589. 84 Ebd., S. 587.
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präsentations- und Kunstformen85 in der optischen Metapher einer zentralperspektivischen Organisation des Raums zusammen. In einem Brief an Adorno von 1949 greift Kracauer wieder auf die Metapher der Totalen zurück, um die geschichtliche Verortung des Films in seinem erneut aufgenommenen Projekt, dem »Buch über film aesthetics«, zu veranschaulichen: »Auch in diesem Buch wäre der Film nur ein Vorwand. Ich möchte zeigen, welche affinities für bestimmte Themen ein medium [sic] entwickelt, das zu einer Zeit gehört, in der wissenschaftliches Interesse an Zusammenhängen der kleinsten Elemente die Eigenschaften der großen den ganzen Menschen umgreifenden Ideen und unsere Empfänglichkeit für solche Ideen immer mehr ›aufhebt‹. Oder um es in der Filmsprache auszudrücken: die Ästhetik des Films ist einer Epoche zugeordnet, in der die alte ›long-shot‹ Perspektive, die in irgendeiner Weise das Absolute zu treffen meint, durch die ›close-up‹ Perspektive ersetzt wird, die das mit dem Vereinzelten, dem Fragment, vielleicht Gemeinte anstrahlt. Während der Monate, die wir in Angst und Elend in Marseille zubrachten, habe ich lange Aufzeichnungen darüber gemacht.«86
Die Übernahme des filmtechnischen Begriffs zur Kennzeichnung der Zeit – die freilich selbst eine Perspektive einnehmen muss, für die Kracauer in History wiederum die Metapher der Totalen bzw. des »long-shot« wählen wird87 ԟ vollzieht, was sie behauptet: Die Affinität des Mediums zur Epoche erweist sich darin, dass es die adäquaten Metaphern zu deren Beschreibung liefert. Die visuellen Medien entfalten ihre historische Bedeutung nicht nur in technischer und wahrnehmungsgeschichtlicher Hinsicht, sondern sie erscheinen als exemplarische Repräsentation der Zeit, der sie angehören.88 Prinzipiell gilt dies auch für die Stilisierung der Fotografie zum geschichtsphilosophischen »Vabanque-Spiel« in den zwanziger Jahren, und auch die Betonung des »mit dem Vereinzelten, dem Fragment vielleicht Gemeinte[n]« ist der »dem Gemeinten entfremdeten Natur« (PH, S. 38) gar nicht so fremd. In der Theory of Film stehen diese Motive aber in einer »postapokalyptischen Perspektive […], 85 Als Gegensatz zum Film fungiert hier v.a. das Theater: »Dem Theater ist der Mensch der Totale zugeordnet, der strategisch strukturiert ist und nicht unmittelbar physiologisch erfaßt wird […]. Der dem Film zugeordnete Mensch dagegen ist dynamisch und wird durch die Darstellung des Materiellen als körperlich-materielles Wesen erfaßt« (Ebd., S. 575). 86 Adorno/Kracauer: Briefwechsel, S. 444 f. (12.2.1949). 87 Dort versucht er allerdings, bei aller Vorliebe für den »close-up« oder die Großaufnahme der »micro-histories«, diese mit dem »long-shot« der »macro-history« zu versöhnen (vgl. His, S. 126 ff.). 88 Beyse versucht dies, unter Bezug auf Lukács, anhand von Kracauers Schriften zum Film allgemein nachzuzeichnen, vgl. Jochen Beyse: Film und Widerspiegelung. Interpretation und Kritik der Theorie Siegfried Kracauers. Dissertation Köln 1977, v.a. S. 71 ff.
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einer Perspektive, in der die Geschichte zur Nachgeschichte und das Leben zum Überleben geworden ist.«89 Die Natur – sei es nun die ›erste‹ oder ›zweite‹ Natur – ist nicht mehr einfach der Gegensatz des Bewusstseins, an dem dieses sich zu bewähren oder zu verschwinden hat, sondern sie ist auch das Nicht-Identische, die Möglichkeit eines Überlebens nach der Katastrophe.90 Vor diesem Hintergrund ist Kracauers Idee einer ›Errettung‹ der physischen Wirklichkeit zu lesen: »We literally redeem this world from its dormant state, its state of virtual nonexistence, by endeavoring to experience it through the camera. And we are free to experience it because we are fragmentized. The cinema can be defined as the medium particularly equipped to promote the redemption of physical reality.« (TF, S. 300)
Die Entdeckung einer Welt der Dinge, die nicht im abstrahierenden Zugriff neuzeitlicher Rationalität aufgeht, ist auf die Vermittlung eines Mediums angewiesen, das sonst eher als visuelles Äquivalent jener Rationalität interpretiert wird.91 Die ästhetische Erfahrung der »camera-reality« ermöglicht einen Blick, der nicht auf eine sinnerfüllte, Subjekt und Welt vereinende Totalität rekurrieren muss, sondern eher noch einem »Eingedenken der Natur«92 in ihrer Vereinzelung gleicht. Gerade indem in der Darstellung der Natur durch die Kamera das Subjekt sowie jegliche bedeutungssetzende Voreinstellung ausgeschaltet sein sollen, erlaubt ihr Anblick die Erfahrung der Dinge in ihrer Kontingenz und Konkretion. Die eigentümliche Volte liegt hier im Begriff der Entfremdung. Diese, die in erster Linie als Selbstentfremdung in der Betrachtung einer dem Subjekt fremden »camera-reality« sich darstellt, soll es ermöglichen, die Welt als »world that is ours« (TF, S. 296) oder, mit einem Zitat Gabriel Marcels, »this Earth which is our habitat« (TF, S. 304) zu entdecken. Wenn die (Selbst-)Entfremdung zur Bedingung von so etwas wie ›Heimat‹ wird, bleibt Zugehörigkeit zutiefst problematisch.
89 Mülder-Bach: Nachbemerkung, S. 860 f. 90 Vgl. Schlüpmann: Subject of Survival, S. 114. 91 Vgl. z.B. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S. 91, S. 230 ff. 92 Zur Formulierung vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 58. Vom Sinn, den Horkheimer und Adorno dem Ausdruck geben, unterscheidet sich Kracauers Ansatz freilich nicht nur durch seinen – wenngleich gebrochenen – Optimismus; sondern selbstverständlich darin, dass das Eingedenken hier begriffslos vor sich ginge.
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Adorno, der in seiner Deutung Kracauers den »Vorrang des Optischen« bei diesem auf die »Fixierung […] an die Gutartigkeit der Dinge«93 zurückführte, wies bereits auf den Zusammenhang dieses ›wunderlichen‹ Realismus mit der Erfahrung eines Menschen hin, »der am Furchtbarsten gerade vorbeikam«.94 In der Betonung der Entfremdung als Vorgabe für die fotografische Erfassung der Welt und methodisches Prinzip des Historikers zittert demnach der Schrecken der Verfolgung und des Exils nach. Dies muss durchaus nicht im allzu schlichten psychologischen Sinn verstanden werden. Nicht nur werfen der Nationalsozialismus und insbesondere Auschwitz das objektive Problem ihrer theoretischen und ästhetischen Reflektion auf, sondern mit dem Bezug des Proust-Zitats auf die Situation des Exilierten stellt Kracauer die eigene Erfahrung selbst in unmittelbare Nähe zu dem in Le Côté de Guermantes beschriebenen Entfremdungsmoment.95 Die »extra-territoriality« (His, S. 83) der biografischen Situation wird in den auf Englisch geschriebenen späten Texten zur Möglichkeit einer Erfahrung der Dinge, die der unmittelbaren Wirklichkeit aufgrund ihrer Distanziertheit nicht schutzlos ausgesetzt ist und zugleich kein selbstidentisches Subjekt und keine abstrahierende Vermittlungsinstanz voraussetzen muss. Darin liegt die Rettung der Dinge. Die Verwendung des Proust-Zitats ist im Kontext dieser Rettung zu lesen – als Hinwendung zu einem Moment in der Recherche, in dem die Großmutter in ihrem physischen Dasein und ihrer Sterblichkeit in den Blick gerät; eine Erfahrung, die im Roman der Erinnerung selbst wieder im ästhetischen Entwurf aufgehoben werden muss. Es ist von daher nur konsequent, wenn Kracauer in History Prousts ›Lösung‹ des Problems, einen diskontinuierlichen Begriff der Zeit mit der Kontinuität zu versöhnen, nur in der ästhetischen Sphäre gelten lassen will.96 Die Geschichte hat das Inkommensurable als solches zu belassen, sie muss sich, um es abermals in Bezug auf das Proust-Zitat zu formulieren, auf jene Momente der Fremdheit, der »alienation« stützen, in denen die Dinge in ihrer Vergänglichkeit aufblitzen. Zugleich, und dies ist für die Filmtheorie unmittelbar relevant, gibt die distanzierende Vermittlung 93 Theodor W. Adorno: Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In: Ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Bd. 11, S. 388-408, S. 408; vgl. auch ebd.: »Einem Bewußtsein, das argwöhnt, es sei von den Menschen verlassen, sind die Dinge das Bessere. An ihnen macht der Gedanke wieder gut, was die Menschen den Lebendigen angetan haben. Der Stand der Unschuld wäre der der bedürftigen Dinge, der schäbigen, verachteten, ihrem Zweck entfremdeten; […].« 94 Ebd., S. 407. 95 Vgl. His, S. 83. 96 Vgl. His, S. 163; die andere Figur neben Marcel, die für den »imaginary moment« steht, an dem die Vergangenheit vollständig zugänglich wird, verweist stark auf den autobiographischen Subtext der Geschichtstheorie: Ahasver, der wandernde Jude (vgl. Breidecker: »Ferne Nähe«, S. 179 f.).
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in der Selbstentfremdung, für die das Zitat aus der Recherche einsteht, eine Möglichkeit, dem Tod und dem Schrecken ins Auge zu sehen. Eine Stelle aus dem »Marseiller Entwurf« deutet bereits auf dieses Motiv hin: »Der Film verwickelt die ganze materielle Welt mit ins Spiel, er versetzt zum ersten Mal – über Theater und Malerei hinausgreifend – das Seiende in Umtrieb. Er zielt nicht nach oben, zur Intention, sondern drängt nach unten, zum Bodensatz, um auch diesen mitzunehmen. Der Abhub interessiert ihn, das, was da ist – am Menschen selber und außerhalb des Menschen. Das Gesicht gilt dem Film nichts, wenn nicht der Totenkopf dahinter einbezogen ist: ›Danse macabre‹. Zu welchem Ende? Das wird man sehen.«97
Der »Danse macabre« bezieht sich auf den aus Material zu Sergej Eisensteins unvollendet gebliebenem Mexiko-Film zusammengestellten Film Death Day,98 mit dessen Analyse Kracauer ursprünglich sein Buch beschließen wollte. An ihrer Stelle findet sich in der Endfassung mit dem thematisch wie motivisch verwandten Abschnitt »The Head of Medusa« (TF, S. 305 ff.) die Passage in der Theory of Film, welche am deutlichsten auf die deutschen Konzentrationslager eingeht.99 In Analogie zum Mythos von Perseus ist es hier der Umweg der Medialität, der es den Filmzuschauerinnen und -zuschauern erlauben soll, historischen Schrecken in seiner Darstellung auf der Leinwand überhaupt konfrontieren zu können. »The mirror reflections of horror are an end in themselves. As such they beckon the spectator to take them in and thus incorporate into his memory the real face of things too dreadful to be beheld in reality. In experiencing the rows of calves’ heads100 or the litter of tortured human bodies in films made of the Nazi concentration camps, we redeem horror from its invisibility behind the veils of panic and imagination. And this experience is liberating in as much as it removes a most powerful taboo.« (TF, S. 306)
97
Kracauer: [»Marseiller Entwurf«], S. 531; vgl. hierzu auch Carlo Ginzburg: Minutiae, Close-up, Microanalysis. Trans. by S. R. Gilbert. In: Critical Inquiry 34 (2007), S. 174189, S. 178.
98
Vgl. hierzu die Anmerkung der Herausgeberin zu Kracauer: [»Marseiller Entwurf«],
99
Eine andere Erwähnung finden die Vernichtungslager im Zusammenhang mit dem Film
S. 782 f. und ihr Nachwort: Mülder-Bach: Nachbemerkung, S. 855. Ostatni Etap, vgl. TF, S. 57 (in der deutschen Übersetzung heißt es ein wenig irreführend, der Filme widme sich »der Darstellung eines polnischen Konzentrationslagers« (Kracauer: Werke Bd. 3, S. 109), während im Original »the depiction of a Polish Nazi concentration camp« steht). 100 Kracauer bezieht sich hier auf Georges Franjus Film Le Sang des bêtes (vgl. TF, S. 305), eine Dokumentation über Pariser Schlachthöfe.
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Die spezifische Vermittlungsstruktur, wie sie bereits das Eingangsbild der Theory of Film, die »trembling upper world in the dirty puddle« (TF, S. xi), prägt und die bis in die rhetorischen Verfahren von History reicht, wird nun auf die Erfahrung der Geschichte selbst angewandt, um deren Grauen zu bannen. Den Gedanken, durch die filmische Repräsentation einen Abstand zu gewinnen, der die Reflektion erlauben würde, entwickelte Kracauer schon in früheren, noch unter dem unmittelbaren Eindruck des historischen Schreckens stehenden Texten. Im April 1940, wenige Wochen vor dem deutschen Angriff auf Frankreich, erwog er in einer Glosse zum Grauen im Film, das »Spiel […] mit dem Grauen« ziele vielleicht »darauf ab, daß die Menschen Dinge in den Griff bekommen, denen sie einstweilen noch blind ausgeliefert sind.«101 Ein Text von 1946, der die Schrecken der Nazi-Zeit bis in zeitgenössische Hollywood-Thriller nachwirken sieht, nimmt in dem Zusammenhang bereits den Begriff der »redemption« auf: »Fear can be exorcised only by an incessant effort to penetrate it, to spell out its causes. This effort is the prerequisite of redemption, even though the outcome may be unpredictable.«102 Die Erlösung, um die es hier geht, ist allerdings noch im Sinn einer Erlösung des Zuschauers von Furcht zu verstehen, die zugleich im Dienst einer – allerdings eher vage umrissenen – psycho-politischen Erziehung zum Vorbeugen faschistischer Tendenzen in der amerikanischen Gesellschaft steht.103 Dem Film käme hier so etwas wie eine kathartische Funktion in aufklärerischer Absicht zu. Eine ähnliche Perspektive scheint in der Theory of Film zunächst noch eingenommen zu sein, wenn es um die allgemeine Fähigkeit von Filmen geht, Phänomene zu zeigen, die das Bewusstsein überwältigen würden: »the cinema, then, aims at transforming the agitated witness into a conscious observer« (TF, S. 58). Der Gedanke einer Bewusstheit durch Abstand ist hier allerdings sehr viel prominenter. Dennoch geht der Abschnitt »The Head of Medusa« deutlich darüber hinaus: Hier geht es weder um die Möglichkeit, eine Botschaft im Triumph der Humanität über den Terror zu verbreiten – wie dies noch im Text von 1946 am Beispiel von Rossellinis Roma, città aperta überlegt wurde ԟ, noch geht es allein darum, den Schrecken der Zuschauerinnen und Zuschauer zu bannen. Soll die Erfahrung des Schrecklichen auf der Leinwand »liberating« wirken, so kann sie dies nur, insofern sie ›Selbstzweck‹ ist. Keine Botschaft ist mit den Bildern verbunden.104 In den Bildern aus den Konzentrationslagern konzentriert sich Kracauers Begriff der »redemption« als einer Errettung durch die Entdeckung der äußeren Welt 101 Kracauer: Das Grauen im Film. In: Ders.: Kleine Schriften zum Film 1932-1961. Werke Bd. 6.3. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 312-313, S. 313. 102 Kracauer: Freedom from Fear. An Analysis of popular film trends. In: Werke Bd. 6.3., S. 479-485, S. 485. 103 Vgl. ebd., S. 484 f. 104 Vgl. TF, S. 305.
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im entfremdeten ›Blick‹ der Kamera. Die Vermittlungsebene des Mediums verleiht dem Schrecken eine Sichtbarkeit, die, indem sie ihn in Distanz setzt, erst eine Betrachtung ermöglicht. Die melancholische Selbstentfremdung und gleichzeitige Distanznahme des fotografischen, filmischen, aber auch historischen Blicks ›errettet‹ die Toten dadurch, dass sie sie um ihrer selbst willen zeigt und nicht im Dienst irgendeiner, sei es moralischen, sei es agitatorischen Absicht erscheinen lässt – daher sollen die Bilder »an end in themselves« sein. Anders als in Die Photographie gelten die Bilder hier nicht mehr als Gefahr für das Gedächtnis, sondern als dessen Bedingung. Statt des sich im Prozess der Gedächtnisbildung herauskristallisierenden »Gemeinten« wird auf diesen Bildern etwas sichtbar, was als unmittelbare Erfahrung dem Bewusstsein nicht zugänglich ist, aber nun dem Gedächtnis einverleibt werden kann. Doch so sehr sich damit eine Ethik des Gedenkens begründen lässt, die sich gerade dem »Rest«, der aus dem »Monogramm« der Geschichte hätte ausgeschieden werden sollen, widmet, so sehr bleibt die Bindung dessen ans Bild doch problematisch. Wie Gertrud Koch richtig einwandte, stoßen die »redemption« und die sie ermöglichende Anschaulichkeit der Bilder dann an ihre Grenzen, wenn es nichts mehr gibt, was im Bild betrachtet werden könnte: »Thus arises a horrifying hierarchy extending from the mountains of corpses of those whose bodies remained to be captured on film, to the people who literally went up in smoke, having left behind them no visual mnemonic trace that could serve their redemption.«105 Hier zeigt sich in der Tat ein Problem von Kracauers »Vorrang des Optischen«. Schon Adorno gab, bei aller Zustimmung zum »Gedanken vom Standhalten im Bilde«, zu bedenken, »ob hier nicht die Quantität in Qualität umschlägt. Mir will es vorkommen, daß der Komplex, für den das Wort Auschwitz einsteht, im Bild schlechterdings nicht mehr zu bewältigen ist«.106 Die Zweifel sind berechtigt, wenn man bedenkt, dass an der zitierten Stelle tatsächlich die Bilder geschlachteter Tiere in einem Zug mit den Bildern der Leichen im Konzentrationslager genannt werden. Gerade das Konkrete der Bilder scheint zur Auflösung der spezifischen Qualität dessen, was in Auschwitz passierte, im abstrakten Begriff des Schreckens zu tendieren. Kracauers Theorie ist an dieser Stelle vielleicht weniger als Theorie des Films über Auschwitz zu betrachten denn als Zeugnis für die Problematik einer Theorie des Films nach Auschwitz, in welchem die Erschütterung des Geschehenen noch nachhallt.
105 Koch: »Not yet accepted anywhere«, S. 104. 106 Adorno/Kracauer: Briefwechsel, S. 688.
Benjamin und Brecht: Geschichte als Konstruktion von Bild und Schrift
1. B ENJAMIN : D ESTRUKTION
UND
K ONSTRUKTION
An dem Punkt, an dem die Analogie von Fotografie bzw. Film und Geschichtsschreibung bei Kracauer zu einer tatsächlichen Gemeinsamkeit führen könnte, fallen beide Bereiche auseinander. Die empathische Distanznahme gegenüber den Bildern aus den NS-Vernichtungslagern kann diese in ihrer Sichtbarkeit als »physical reality« vielleicht ›erlösen‹, aber der historischen Realität des Verbrechens wird eine Betrachtung der Bilder kaum gerecht werden. Es ist vor diesem Hintergrund auffällig, dass in History Konzentrationslager nur eine knappe, kursorische Erwähnung finden, dies aber in einem Zusammenhang, der direkt auf die Parallelität von Geschichtsschreibung und fotografischen Medien abzielt. In einer Anmerkung zum Vergleich von Dokumentarfilmen und faktenorientierten Geschichtsdarstellungen – Kracauer spricht auch von »technical history« ԟ erläutert er unter Berufung auf Herbert Butterfield die Möglichkeit, dass in beiden Bereichen menschlichem Leid gerade die »pale objectivity« (His, S. 91) einer möglichst kunstlosen Darstellung am angemessensten sein könnte: »he says that the (technical) historian may assist the cause of morality by describing in concrete detail and in an objective manner, a wholesale massacre, the consequences of religious persecution, or the on-goings in a concentration camp.«1 Er fügt jedoch hinzu: »For the rest, Butterfield’s idea of technical history itself originates in an intricate mixture of theological and scientific notions« (His, S. 233).2 An einer späteren Stelle nimmt Kracauer die Frage nach einer Geschichtsschreibung des reinen Faktensammelns wieder mit merklicher Distanz auf: 1
Butterfields Bemerkung bezieht sich allerdings nicht auf die deutschen Vernichtungslager; sein Aufsatz Moral Judgements in History, den Kracauer hier referiert, erschien 1931.
2
Anmerkung zu His, S. 91.
182 | B ENJAMIN UND BRECHT »So the question as to the meaningfulness of ›technical history‹ would seem to be unanswerable. There is only one single argument in its support which I believe to be conclusive. It is a theological argument, though. According to it, the ›complete assemblage of the smallest facts‹ is required for the reason that nothing should go lost. It is as if the fact-oriented accounts breathed pity with the dead. This vindicates the figure of the collector.« (His, S. 136)
Die beschriebene Haltung kann durchaus seinen Bemerkungen im Abschnitt »The Head of Medusa« in der Theory of Film zugrundegelegt werden. Mehr jedoch als die eigene Theorie einer Errettung der äußeren Wirklichkeit im Film scheint im Hintergrund dieser Passage die Auseinandersetzung mit Benjamins Geschichtsreflektion zu stehen. Dies betrifft nicht nur die zentrale Rolle, die dort die Figur des Sammlers einnimmt,3 sondern vor allem den theologischen Impuls, dass nichts verloren gehen solle. So weit der tendenziell positivistische Begriff einer faktenorientierten »technical history« auch sonst davon entfernt zu sein scheint,4 klingt hier doch unverkennbar die Forderung, »daß nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist«, aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte an, mit ihrem Zusatz: »Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu« (GS I.2, S. 694).
1.1 Metaphern der Lesbarkeit und Entwicklung Die Differenzen der Geschichtstheorien Benjamins und Kracauers lassen sich nun gerade anhand der jeweiligen Kombination von fotografischen und textuellen Me-
3
Vgl. zum Sammler: Heiner Weidmann: Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin. München: Fink 1992, v.a. S. 93 ff. und den Überblicksartikel von Eckhardt Köhn (Eckhardt Köhn: Sammler. In: Opitz/Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Bd. 2, S. 695-724; vgl. auch Adornos Erinnerungen, der das »Moment des […] Sammlers« sogar auf die »physiognomische[ ] Erscheinung« Benjamins ausdehnt (Adorno: Erinnerungen. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 20.1, S. 173-178, S. 176).
4
Wie weit dies tatsächlich voneinander entfernt ist, soll hier nicht weiter erörtert werden; erinnert sei jedoch an Adornos Urteil über Benjamins ersten Entwurf zu Baudelaire: »das theologische Motiv, die Dinge beim Namen zu nennen, schlägt tendenziell um in die staunende Darstellung der bloßen Faktizität. Wollte man drastisch reden, so könnte man sagen, die Arbeit sei am Kreuzweg von Magie und Positivismus angesiedelt.« (Theodor W. Adorno/Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 (= Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel, Bd. 1), S. 368).
G ESCHICHTE ALS K ONSTRUKTION
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taphern im Entwurf historischer Erkenntnis nachverfolgen.5 Kracauers Rückgriff auf den Proust’schen Fotografen und die Konzeption der Theory of Film ermöglicht implizit, indem das Problem historischer Erkenntnis analog zu dem des KameraRealismus konstruiert wird, die Berufung auf das althergebrachte Modell des Lesens: »Like a reader, the photographer is steeped in the book of nature« (TF, S. 16). Das Lesen ist hier das eigentlich Unproblematische; es ist letztendlich die Veranschaulichung der schwer fassbaren Balance zwischen »formative« und »realist tendency«. Bei aller Vertrautheit jedoch, die mit der traditionellen Metapher aufgerufen wird, ist Kracauer von einer Restitution eindeutiger Sinnansprüche an die Welt – die bei richtiger Lektüre ihren Sinn schon preisgeben werde ԟ weit entfernt. Der Text ist längst nicht mehr das Modell autoritär statuierten Sinns, sondern der Pluralität und Unbestimmtheit dessen, was in ihm zu lesen ist.6 Die ›Lesbarkeit der Welt‹ in der Fotografie und, über den metaphorischen Umweg, in der Historiografie verzichtet auf Eschatologie: Die Erkenntnis hat, will sie ihrem Gegenstand gerecht werden, im »Anteroom«, vor den letzten Dingen, zu verbleiben. Wie sehr dagegen ›letzte Dinge‹ Benjamins geschichtsphilosophische Entwürfe prägen, ist bekannt. Dies betrifft nicht allein die Rede vom Messianischen und dem Jüngsten Gericht, sondern auch die Erkenntnishaltung gegenüber dem Vergangenen, die ganz auf den ›kritischen Augenblick‹ des »Jetzt der Erkennbarkeit« ausgerichtet ist. Bereits die Zeitstruktur des Erkenntnismoments in Benjamins Konzept des dialektischen Bildes, legt eine Orientierung an der Fotografie als Hintergrundmetaphorik nahe: »Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten« (GS I.2, S. 695).7 Das zeitliche Moment spielt in Kracauers »photographic approach« dagegen eine auffallend geringe Rolle. Deutlicher wird der Unterschied in der jeweiligen Erkenntnishaltung jedoch in der Ver-
5
Vgl., allerdings stark abweichend von meiner Darstellung, auch Günter Butzer: MedienRevolution. Zum utopischen Diskurs in den Medientheorien Kracauers und Benjamins. In: Frank Grunert/Dorothee Kimmich (Hg.): Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext. Paderborn: Fink 2009, S. 153-168 (Butzer nimmt auch bei Kracauer eine eschatologische Perspektive an (vgl. ebd., S. 162)).
6
Vgl. in allg. Perspektive zum Wandel der Metapher der Lesbarkeit: Anselm Haverkamp: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Theorie der Metapher. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 1-27, S. 23; Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 21, S. 300 ff.
7
Das ›Fotografische‹ von Benjamins dialektischen Bildern wurde oft konstatiert, allerdings z.T. mit erheblichen Verkürzungen; vgl. u.a. bei Dant/Gilloch: Pictures of the Past, S. 8; fruchtbarer, da die metaphorischen Implikationen bedenkend, bezieht Menke die dialektischen Bilder auf die Fotografie (vgl. Menke: Sprachfiguren, S. 345); den offenkundigen Parallelen geht Elo: Spur und Aura in der Fotografie, S. 194 f. nach.
184 | B ENJAMIN UND BRECHT
bindung von Textmetaphern mit einer fotografischen Metaphorik, wie sie uns bereits im Zusammenhang mit Prousts mémoire involontaire begegnet ist:8 »Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könnte, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ›Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen. […]‹« (GS I.3, S. 1238)9
Der »historische Index der Bilder«, der, wie es im Passagen-Werk heißt, nicht nur »sagt […], daß sie einer bestimmten Zeit angehören«, sondern »vor allem, daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen« (GS V.1, S. 577), stellt sich hier als fotografische Entwicklung dar. Dass in ihrer Beschreibung durchaus auch fotografische Bilder in dieser Weise lesbar werden können, haben die Lektüren der Kleinen Geschichte der Photographie bereits gezeigt.10 Zum Bild in diesem Sinn, das heißt zum dialektischen Bild, wurde die Fotografie dort allerdings erst durch ihren Eingang in Benjamins Text. Hier dagegen dient sie als metaphorisches Modell der historischen Erkenntnis und damit der dialektischen Bilder selbst. Der nicht kontinuierliche Prozess der Bildwerdung, bei dem das latente Bild erst nachträglich sichtbar wird, stellt Entwicklung nicht als »Verlauf« (GS I.2, S. 1243) dar, sondern – obgleich das Bild im Entwicklerbad selbst nicht blitzhaft erscheint – als Sprung in der Zeit. Indem die Gegenwart sich im »Bild der Vergangenheit« als »die […] in ihm gemeinte« (GS I.2, S. 695) erkennt, tritt im dialektischen Bild »das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation« (GS V.1, S. 576, S. 578) zusammen. Die Bewegung der metaphorischen Übergänge hat sich hier im Vergleich zu Kracauer umgekehrt. Diente dort die Textmetapher der Stillstellung und Beruhigung epistemologischer Unsicherheit im Rekurs auf ein vertrautes Modell (das gleichwohl keine letzten Wahrheiten mehr garantiert), so wird gerade das Lesen bei Benjamin durch die fotografischen Metaphern problematisiert. Der Text der Geschichte liegt nicht zur Entzifferung bereit, sondern kommt erst in einem bestimmen 8
Die Bedeutung der Proust-Lektüre für Benjamins Geschichtsphilosophie soll hier nicht weiter verfolgt werden. Vgl. v.a. den Bezug auf die unwillkürliche Erinnerung in GS I.3, S. 1233, S. 1243 und die verschiedenen Überlegungen zum »Erwachen« im PassagenWerk, u.a. GS V.1, S. 579 f.; vgl. hierzu: Kahn: Images, passages, S. 175 ff.; Henning Teschke: Proust und Benjamin. Unwillkürliche Erinnerung und dialektisches Bild. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 149 ff.
9
Das Zitat aus André Monglonds Le préromantisme français findet sich auch ausführlich und auf Französisch in GS V.1, S. 603 f.
10 Vgl. oben den Exkurs zu Benjamin und Barthes im Kapitel zu Barthes und Abschnitt 2 im Kapitel zu Benjamin.
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Moment zur Lesbarkeit.11 Beinahe wie ein Gegenentwurf – wäre eine gegenseitige Kenntnis der jeweiligen Texte nicht ausgeschlossen ԟ zum Kracauer’schen Vergleich von Fotografie und Historiografie liest sich vor diesem Hintergrund ein früher entstandenes Fragment aus dem Umkreis zu Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. Aus den zahlreichen Überarbeitungen des Textstücks lässt sich ablesen, wie sehr hier die Arbeit an der fotografischen Metapher der methodischen Selbstverständigung dient:12 »Ein Bild Baudelaires liegt hiermit vor, und zwar ist es das überlieferte. Die Überlieferung […] läßt sich mit einer Kamera vergleichen. Der bürgerliche Gelehrte schaut hinein wie der Laie tut, der sich an den bunten Bildern im Sucher freut. Der materialistische Dialektiker operiert mit ihr. Seine Sache ist, festzustellen. Er mag einen größeren oder kleineren Ausschnitt aufsuchen, eine grellere politische oder eine gedämpftere geschichtliche Belichtung wählen – am Ende läßt er den Schnappverschluß spielen und drückt ab. Hat er die Platte einmal davon getragen – das Bild der Sache, wie sie in die gesellschaftlich[e] Überlieferung einging – so tritt der Begriff in seine Rechte und er entwickelt es. Denn die Platte kann nur ein Negativ bieten. Sie entstammt einer Apparatur, die für Licht Schatten, für Schatten Licht setzt. Dem dergestalt erzielten Bild stünde nichts schlechter an als Endgültigkeit für sich zu beanspruchen. […] Seine Lebendigkeit ist eine scheinbare, und sein Wert beruht ganz gewiß nicht auf ihr. […] Er […] beruht vielmehr darauf, den Dargestellten als Zeugen gegen die Überlieferung aufzubieten, die sein Bild auf die Platte rief […].« (GS I.3, S. 1165 f.)
Es ist klar, dass bei dieser Arbeit an einer Metapher nichts über das Medium Fotografie, etwa in dem Sinn, dieses sei eben ein Ausdruck bürgerlicher Ideologie, ausgesagt ist. Auch Heinrich Kaulens Einwand, das Bild von der Kamera sei »in sich selbst aporetisch«, da die »Analogie einer photographischen Momentaufnahme […] gemäß der immanenten Logik der Bildlichkeit – gegen Benjamins Absicht – notwendig eine statische Identität von Erkenntnisgegenstand und subjektivem historischem Sachbegriff«13 unterstelle, verfehlt die immanente Logik der Bildlichkeit von Benjamins Metaphernexperiment selbst. Die ständigen Neuansätze, wie sie der Ab11 Zur Bedeutung der Schriftlichkeit für Benjamins Erinnerungsbegriff vgl. Nicolas Pethes: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin. Tübingen: Niemeyer 1999. 12 Aus der von den Herausgebern der Gesammelten Schriften gewählten historisch-kritischen Wiedergabe des Fragments ist hier nur der Text, der sich als Ergebnis der letzten Überarbeitungsstufe abzeichnet, übernommen. Die Auslassungen im Zitat beziehen sich fast ausschließlich auf die zahlreichen Varianten und gestrichenen Formulierungen im Original. 13 Heinrich Kaulen: Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins. Tübingen: Niemeyer 1987, S. 159.
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druck in den Gesammelten Schriften wiedergibt, weisen die Stelle als veritables Experiment an und mit der Fotometapher aus, als Test, wie weit die Analogie sich treiben lässt und wie ihrer Logik gemäß die anvisierte Methode expliziert werden kann. Experimentell ist schließlich auch der beschriebene Umgang mit der Kamera. Letztere und die Unterstellung einer Identität von Gegenstand und Begriff beziehen sich hier zunächst einmal auf die gesellschaftliche Überlieferung, mit der der materialistische Dialektiker sich unweigerlich konfrontiert sieht. Nur ist er nicht ohne weiteres bereit, die Überlieferung als solche zu übernehmen. Die Betonung der Operationen, die mit Kracauer als Teil der »formative tendency« bezeichnet werden könnten, bei der Arbeit an der Kamera denunziert die realistische Prätention des bürgerlichen Gelehrten, der die Überlieferung übernimmt, wie andere sich an den bunten Bildchen erfreuen, von vornherein als unzulänglich. Der Metapher liegt hier vielmehr ein Bewusstsein für die konstruktiven Möglichkeiten zugrunde, die gerade im Zug des ›Neuen Sehens‹ der Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre stärker in den Vordergrund rückten. Die Entwicklung durch den Begriff, die Inversion des gesellschaftlich überlieferten Bilds – des ›Negativs‹ ԟ entfernt den Gegenstand der Erkenntnis schließlich noch einmal von der Vorstellung einer Kenntnis der Sache ›an sich‹.14 Das zeitliche Moment in der Entwicklung des Negativs tritt hier in den Hintergrund zugunsten der Inversion als Versuch, die Geschichte, mit der berühmten Wendung der siebten These aus Über den Begriff der Geschichte, »gegen den Strich zu bürsten« (GS I.2, S. 697). Die Überlieferung kann ihren Gegenstand nur verkehrt darstellen, es ist Aufgabe des Kritikers, aus ihr ein kritisches Bild zu entwickeln. Der fotografische Begriff wird zur Chiffre dialektischer Negativität. Sowohl in ihrem fotografischen wie in ihrem historischen Programm unterscheidet sich diese Reflektion doch sehr von Kracauers Blick auf das »book of nature« oder die Geschichte. Die Vermittlungsebenen, die hier eingeschaltet werden, haben nicht empathische Distanz zum Ziel, sondern dienen dem Eingriff in die Überlieferung. Dass Benjamins Wendung gegen die Einfühlung, die letztlich »unweigerlich« auf eine »in den Sieger« (GS I.2, S. 696) hinausliefe und damit jene flüchtig aufblitzenden Momente, in denen eine Tradition der Unterdrückten aufscheint, überdecke, Kracauers Protest hervorrief,15 ist bereits in der jeweiligen fotografischen Metaphorik angelegt. Dementsprechend läuft auch die Textmetapher bei Benjamin auf einen Umgang mit dem Text hinaus, dem es um alles andere als dessen Integrität geht. Der Geste des materialistischen Dialektikers, einen Ausschnitt 14 Vgl. dazu auch die der zitierten Stelle vorhergehende Metapher des »Stroms«, bei der gerade das Bild einer Rückkehr zur »Quelle« abgelehnt wird (GS I.3, S. 1163). 15 In Kracauers Handexemplar von Benjamins Schriften steht am Rand zu jener Stelle, an der Benjamin die »Trägheit des Herzens« – also die Melancholie ԟ auf die Einfühlung in die Sieger zurückführt (vgl. GS I.2, S. 696), eine deutliche Randbemerkung: »NO!« (vgl. Breidecker: »Ferne Nähe«, S. 179).
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zu wählen, den »Schnappverschluß« spielen zu lassen und abzudrücken, entspricht das Zitat: »Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird« (GS V.1, S. 595). Das Zitat stellt, ebenso wie in der Fotometapher des Methodenfragments die Fotografie, eine Technik dar, einen Ablauf zu unterbrechen und stillzustellen, indem ein Gegenstand isolierend aus ihm herausgegriffen wird: »Das destruktive und kritische Moment in der materialistischen Geschichtsschreibung kommt in der Aufsprengung der historischen Kontinuität zur Geltung, mit der der historische Gegenstand sich allererst konstituiert« (GS V.1, S. 594). Als metaphorische Figuren der Unterbrechung können die Techniken des Zitats und der Fotografie genauso Momente der Reflektion in der »Stillstellung der Gedanken«, der »Zäsur in der Denkbewegung« (GS V.1, S. 595), fassen, wie sie als Verfahren in die Geschichtsschreibung integriert werden. Die Tragweite der entsprechenden Figuren und ihrer technischen Entsprechungen zeigt sich in Benjamins Überlegungen zu Brechts epischem Theater und zur Fotomontage, den metaphorischen Bezügen auf Text und Fotografie und schließlich dem methodischen Anspruch des Passagen-Werks selbst, in dem »die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe« entwickelt werden soll: Seine »Theorie hängt aufs engste mit der der Montage zusammen« (GS V.1, S. 572). Die Destruktion ist bei Benjamin immer Voraussetzung für die Konstruktion aus den gewonnenen Bruchstücken.16
1.2 Gedächtnismedien und Verfahren der Konstruktion Neben den metaphorischen und medienästhetischen, über zeitgenössische MontagePraktiken vermittelten Einsätzen der Fotografie,17 steht diese im Kontext von Ben16 Vgl. auch: »Für den materialistischen Historiker ist es wichtig, die Konstruktion eines historischen Sachverhalts aufs strengste von dem zu unterscheiden, was man gewöhnlich seine ›Rekonstruktion‹ nennt. Die ›Rekonstruktion‹ in der Einfühlung ist einschichtig. Die ›Konstruktion‹ setzt die ›Destruktion‹ voraus« (GS V.1. S. 587). Vgl. hierzu ausführlich: Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, v.a. S. 212 ff., S. 289 ff. 17 Die Fotografie trifft sich hier einerseits natürlich mit dem Film, andererseits mit der Montage in der Architektur seit dem 19. Jahrhundert, bei der Gegenstand und Methode der Passagen zumindest partiell zusammenzufallen scheinen (zum Film vgl. GS V.2, S. 1013 f.; zur Architektur vgl. die Exzerpte aus Giedions Bauen in Frankreich im Umkreis der Überlegungen zur Montage im Konvolut N des Passagen-Werks (GS V.1, S. 572); vgl. auch Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus, S. 215; Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk. Übers. v. Joachim
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jamins Geschichtstheorie für ein verändertes Verhältnis zur Vergangenheit insgesamt. »Dem Verhältnis von Überlieferung und Vervielfältigungstechnik ist nachzugehen« (GS V.1, S. 586), heißt es in einer Notiz aus dem Passagen-Werk. Die aus ihrer auratischen Distanz in die Nähe gebrachten Werke können einer neuen Verwertung zugeführt werden, indem sie aus dem Traditionszusammenhang herausgelöst werden. Darin liegt die »positivste Gestalt« des Films, »seine destruktive, seine kathartische Seite […]: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe« (GS VII.1, S. 353 f.). Eine entsprechende Haltung hat Benjamin im Destruktiven Charakter entworfen: »Einige überliefern die Dinge, indem sie sie unantastbar machen und konservieren, andere die Situationen, indem sie sie handlich machen und liquidieren. Diese nennt man die Destruktiven« (GS IV.1, S. 398).18 Während dies zunächst die ›emanzipatorischen‹ Potentiale der medialen und darin auch kulturindustriellen19 Entwicklung insgesamt betrifft, sieht Benjamin die eigentliche Pionierleistung fotografischer Einsätze auf der Höhe ihrer Zeit zunächst bei den Surrealisten und deren gewähltem Vorläufer Eugène Atget.20 Hier lobt er gerade die stimmungs- bzw. auralose Konzentration aufs Detail, das »Verschollene und Verschlagene« (GS I.1, S. 378), das die alte Bildlichkeit zertrümmert, aber in den Trümmern die Perspektive einer Rettung eröffnet. Unter den Bildmotiven avantgardistischer Zeitschriften hebt Benjamin gerade »einen Kandelaber mit einem Rettungsring, auf dem der Name der Stadt steht« (GS I.1, S. 378) hervor. Der Städtename, der bei Proust seinen Zauber noch in den Träumen des jungen Marcel vor den Reproduktionen der Kirche von Balbec oder Venedigs entfalten konnte, ist hier seiner Aura beraubt. Im Essay zu Karl Kraus heißt es: »Ein Wort zitieren heißt es beim Namen zu rufen. […] [Das Zitat] ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zurück an seinen Ursprung« (GS I.1, S. 362 f.).21 Auf den Fotografien der Avantgarde-ZeitSchulte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 83 ff.). Bei der filmischen Montage berücksichtige ich in erster Linie diejenigen Anteile, die für die Untersuchung der Fotografie wichtig sind. 18 In einer Variante zu der Stelle heißt es, die Destruktiven machten »Situationen handlich, zitierbar sozusagen« (GS IV.2, S. 1000). 19 Hier setzt natürlich Adorno kritisch ein, vgl. Adorno: Ästhetische Theorie. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 90. 20 Vgl. zu Benjamin und Atget: Jessica Nitsche: Fotografische Stadträume/Stadt-Bild-Lektüren. Walter Benjamins Rezeption der Paris-Fotografien Eugène Atgets. In: Bernd Witte (Hg.): Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins Passagen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 258-269. 21 Vgl. zum Zitat im Krauss-Essay: Josef Fürnkäs: Zitat und Zerstörung. Karl Kraus und Walter Benjamin. In: Jacques Le Rider/Gérard Raulet (Hg.): Verabschiedung der (Post-) Moderne? Tübingen: Narr 1987, S. 209-225; vgl. zur Parallelisierung von Zitat und Foto-
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schriften wird der Name der Stadt sozusagen zitiert,22 indem ein Detail aus ihrem Zusammenhang gerissen wird, das in die übliche Vorstellung vom ›Flair‹ dieser Stadt nicht recht passen will. Die medienästhetische Verbindung von Zerstörung und Rettung ist bei Benjamin seit den späten zwanziger Jahren freilich von revolutionären Ansprüchen nicht zu trennen, und hier liegt denn auch einer der wesentlichen Kritikpunkte am Surrealismus. 1936 erklärt er schließlich den »Versuch der Surrealisten, die Photographie ›künstlerisch‹ zu bewältigen« (GS III, 504), für gescheitert: »Der Irrtum der kunstgewerblichen Photographen mit ihrem spießbürgerlichen Credo, das den Titel von Renger-Patzschs bekannter Photosammlung ›Die Welt ist schön‹ bildet, war auch der ihre. Sie verkannten die soziale Durchschlagskraft der Photographie und damit die Wichtigkeit der Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge heranführt (wie wir das am besten bei Heartfield sehen).« (GS III, S. 504 f.)
Sicherlich ist bei solchen Urteilen die Erfahrung des Exils einzurechnen.23 Doch war schon in der Kleinen Geschichte der Photographie das Lob der »heilsame[n] Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch« (GS II.1, S. 379) in der surrealistischen Fotografie mit der Forderung nach einer fotografischen Konstruktion verbunden, eine Forderung, die dann in Der Autor als Produzent weitergeführt wird. Konstruktion, Beschriftung oder Montage – die Begriffe sind bei Benjamin in ihrer Funktion weitgehend synonym verwendbar ԟ sollen als Verfahren in der Fotografie den politischen Eingriff in die Wirklichkeit selbst ermöglichen: »Was wir vom Photographen zu verlangen haben, das ist die Fähigkeit, seiner Aufnahme diejenige Beschriftung zu geben, die sie dem modischen Verschleiß entreißt und ihr den regrafie bei Kraus: »Nicht auszusprechen, nachzusprechen, was ist. Nachzumachen, was scheint. Zu zitieren und zu photographieren. Und Phrase und Klischee als die Grundlagen eines Jahrhunderts zu erkennen« (Karl Kraus in: Die Fackel 16/400-403 (1914), S. 46); vgl. auch die Formulierung »photographische Zitate der Wirklichkeit« auf der darauf folgenden Seite (ebd., S. 47). Vgl. zum Einsatz von Fotografien bei Kraus: Leo A. Lensing: »Photographischer Alpdruck« oder politische Fotomontage? Karl Kraus, Kurt Tucholsky und die satirischen Möglichkeiten der Fotografie. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 107 (1988), S. 556-571. 22 Vgl. allgemein zu Parallelisierung von Fotografie und Zitat auch: John Berger: Erscheinungen. In: John Berger/Jean Mohr: Eine andere Art zu erzählen. Übers. v. Kyro Stromberg. München, Wien: Hanser 1984, S. 85-129, S. 96: »Photographien übersetzen Erscheinungen nicht. Sie zitieren aus ihnen.« 23 Vgl. zur Bedeutung der Exilerfahrung für Benjamins literatur- und kulturpolitische Positionen: Chryssoula Kambas: Walter Benjamin im Exil. Zum Verhältnis von Literaturpolitik und Ästhetik. Tübingen: Niemeyer 1983.
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volutionären Gebrauchswert verleiht« (GS II.2, S. 693). Eine ästhetisierende Fotografie, für die in Benjamins Texten, wohl nicht zuletzt wegen seines Titels, fast durchgängig Albert Renger-Patzschs Band Die Welt ist schön steht, wirkt in ihrer Produktion von Waren für den Kunstmarkt dagegen affirmativ verklärend und bleibt in ihrer Trennung von der gesellschaftlichen Praxis politisch wirkungslos. Text und Fotografie zu kombinieren, die »Schranke zwischen Schrift und Bild« (GS II.2, S. 693) niederzulegen, soll im Gegenentwurf einer politischen Kunst auch die abgeschiedenen Einzelkompetenzen der jeweiligen Kulturschaffenden überwinden und letztlich dazu beitragen, die Trennung von gesellschaftlicher Praxis und Ästhetik aufzuheben.24 Die bei Benjamin mehrfach verwendete Formel einer »Literarisierung aller Lebensverhältnisse« (GS II.1, S. 385)25 verbindet sich in der Kleinen Geschichte der Photographie mit der Forderung nach einer spezifischen Beschriftung der Fotografie in Abgrenzung zur illustrierten Presse. Die »Weisungen, die in der Authentizität der Photographie liegen«, heißt es da, sind nicht immer »mit einer Reportage […] zu umgehen, deren Klischees nur die Wirkung haben, sprachliche im Betrachter sich zu assoziieren«: »Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, flüchtige und geheime Bilder festzuhalten, deren Chock im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie der Literarisierung aller Lebensverhältnisse einbegreift, und ohne die alle photographische Konstruktion im Ungefähren stecken bleiben muß.« (GS II.1, S. 385)
Benjamin verbindet unter Berufung auf László Moholy-Nagys Diktum, dass »in der zukunft nicht nur der schrift-, sondern auch der fotounkundige als analfabet gelten wird«,26 die »Literarisierung« schließlich mit der Frage nach der ›Lesbarkeit‹ von Fotografien. Scheint sich dies zunächst auf die Ergänzung von Fotos durch Texte zu beziehen, so ist es vor dem zeitgenössischen Hintergrund durchaus weiter zu fassen:
24 Vgl. hierzu, auch mit Kritik an Benjamins »technologisch verkürzt[er]« Auffassung des Zusammenhangs von künstlerischer Technik und dem Stand der Produktivkräfte in Der Autor als Produzent: Heinz Brüggemann: Aspekte einer marxistischen Produktionsästhetik. Versuch über theoretische Beiträge des LEF, Benjamins und Brechts. In: Heinz Schlaffer (Hg.): Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaft 4. Erweiterung der materialistischen Literaturtheorie durch Bestimmung ihrer Grenzen. Stuttgart: Metzler 1974, S. 109-144, S. 116 ff., v.a. S. 118. 25 Vgl. auch GS II.2, S. 385. 26 László Moholy-Nagy: fotografie: die objektive sehform unserer zeit. In: telehor (1936), S. 120 ff., zitiert nach: Stiegler: Theoriegeschichte, S. 204.
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»Die Grenze zwischen Bild und Text ist durchlässig: Bilder können ebenso eine textuelle Funktion haben wie Texte bildlich eingesetzt werden können. Die theoretischen Modelle, die eine Lesbarkeit der Photographie proklamieren, implizieren Bilder wie Texte gleichermaßen und integrieren beide in ›intermediale‹ Präsentationsformen.«27
Hinsichtlich einer bildlichen Gestaltung von Texten hatte Benjamin bereits 1928 mit der Einbahnstraße eine experimentelle Reflektion moderner Schriftkultur vorgelegt. Schon angekündigt durch den Titel und die Fotomontage Sasha Stones auf dem Umschlag ›zerrten‹ die typografische Gestaltung und die Anordnung der Textstücke die Schrift hier bildlich »auf die Straße hinaus[…]« (GS IV.1, S. 103).28 Es kann als Hinweis auf den Modellcharakter der Fotografie für bestimmte Formen ästhetischer Montage gelten, wenn Ernst Bloch in einer Rezension die Einbahnstraße als »Photomontage«29 bezeichnet. Einen an der Fotomontage orientierten, jedoch weiter gefassten Montage-Begriff als »Unterbrechung und neue Fügung in einem Sinn, der über die Auswechslung technischer Teile, gar über Photomontage weit hinausliegt und doch dieser Form noch gehorcht, als einem wirklichen ›Stückwerk‹«,30 hebt Bloch an anderer Stelle explizit hervor. Ihm geht es dabei vor allem um die zeitdiagnostische Funktion des Begriffs. Die Montage sei »nach ihren zwei Seiten, nach ihrer unmittelbar kapitalistischen, nach ihrer mittelbar brauchbaren«,31 zu bestimmen. Die Unterscheidung, die an Benjamins Forderung nach einem durch die Beschriftung ermöglichten »revolutionären Gebrauchswert« gegen den am Tauschwert orientierten »modischen Verschleiß« (GS II.2, S. 693) erinnert, umfasst die funktionale Heterogenität der Einsätze von Fotomontage und Text-BildKombinationen in den zwanziger und dreißiger Jahren. Einerseits kommen die Montageverfahren in der Werbegrafik und populären Illustrierten zum Einsatz, zugleich ist aber gerade die Fotomontage das bevorzugte Verfahren zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Bildkultur, am bekanntes27 Stiegler: Theoriegeschichte, S. 287. 28 Vgl. GS IV.1, S. 102 ff.; vgl. auch Gérard Raulet: »Ein Prospekt jäher Tiefe«. Zum Konstruktionsgesetz der Einbahnstraße. In: Witte (Hg.): Topographien der Erinnerung, S. 206-215; Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin: Das Arsenal 1989, S. 200 ff.; Josef Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis. Walter Benjamin ԟ Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen. Stuttgart: Metzler 1988, S. 223 ff. 29 Ernst Bloch: Revueform in der Philosophie. In: Ders.: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 368-372, S. 369. 30 Bloch: Übergang: Berlin, Funktionen im Hohlraum. In: Erbschaft dieser Zeit, S. 212-228, S. 214; in dem Zusammenhang bezieht sich Bloch später auch auf die »philosophischen Querbohrungen Benjamins« (ebd., S. 227). 31 Ebd., S. 215.
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ten wohl in John Heartfields Bildern.32 Auch Benjamin begründet die kritische Funktion der fotografischen Konstruktion mit deren kulturindustrieller Bedeutung als notwendigem Gegenstück: »Weil das wahre Gesicht dieses photographischen Schöpfertums33 die Reklame oder die Assoziation ist, darum ist ihr rechtmäßiger Gegenpart die Entlarvung oder die Konstruktion« (GS II.1, S. 383). Die Fotografie kann beides sein: verfälschende Darstellung der sichtbaren Welt und ein authentisches Dokument, das der richtigen Lesbarkeit zugeführt werden muss. Bei aller Betonung des technischen Aspekts, des artifiziellen Charakters, der der Montage eigen ist, und dem Misstrauen in die Fotografie, die »in den Händen der Bourgeoisie […] ebenso lügen [kann] wie die Setzmaschine« (BFA 21, S. 515), liegt den gesellschaftskritischen Entwürfen doch ein Vertrauen auf die Authentizität des verwendeten Materials bzw. in die »Authentizität der Photographie« (GS II.1, S. 385) zugrunde.34 Die »Alleinherrschaft des Authentischen« scheint ein für die Montage konstitutives Motiv zu sein: »Das Material der Montage ist ja durchaus kein beliebiges. Echte Montage beruht auf dem Dokument« (GS III, S. 232). Im zitierten Zusammenhang beziehen sich die Begriffe der Authentizität und des Dokuments auf die Übernahme von Eigenschaften des Ursprungskontextes bis hin zur materiellen Einfügung eines vorgefundenen Elements in Döblins Berlin Alexanderplatz und den Montagen des Dadaismus. Benjamin knüpft die Authentizität des Materials darüber hinaus an die Erkenntnisfunktion, die dieses im neuen Kontext einnehmen kann: »Was ist nicht alles authentisch, ohne daß wir uns im Vorübergehen davon Rechenschaft geben? Was wird für den, der den Prozeß gegen Ausbeutung, Elend und Dummheit rücksichtslos führt, nicht alles zu einem corpus delicti?« (GS IV.1, S. 561). Wenn den Dingen ihre Authentizität durch ihre Verwendung als 32 Vgl. zu Heartfield: Eckhard Siepmann: Montage: John Heartfield. Vom Club Dada zur Arbeiter-Illustrierten Zeitung. Berlin: Elefanten Press 1977. 33 Die Bemerkung bezieht sich wieder auf Renger-Patzsch bzw. eine mit künstlerischem Anspruch auftretende Fotografie, die Benjamin unter der »Devise« (GS II.1, S. 383) Die Welt ist schön versammelt. 34 Die Einschätzung gilt auch für die spätere Theorie der Montage, z.B. wenn Bürger schreibt, die »Realitätsfragmente[ ]«, die ins avantgardistische Kunstwerk eingefügt werden, »verweisen nicht mehr als Zeichen auf die Wirklichkeit, sie sind Wirklichkeit« (Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
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2002, S. 105); vgl.
nuancierter Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000, S. 279: »Die absichtsvoll für einen neuen Zusammenhang entnommenen Montagefragmente nehmen einzelne bisherige Eigenschaften aus dem alten Kontext mit. Jedes Fragment stammt von einem Hersteller/Verfasser an einem sozialen Ort innerhalb eines historischen Zusammenhangs und bringt daher als dokumentarisches Zeugnis immer eine eigene Perspektive in den neuen Textzusammenhang mit […].«
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Beweismittel zukommt, begründet den dokumentarischen Status eher noch der Gebrauch als die Herkunft. Die Probleme des Authentischen verschärfen sich in der Fotografie. Beruht ihr Wert als Dokument zwar tatsächlich auf der Vorstellung fotografischer Authentizität, so richtet sich die Forderung nach einer fotografischen Konstruktion doch auch gegen die Prätention, in der Fotografie selbst ein authentisches Bild der Wirklichkeit vor sich zu haben.35 Den »Zwang zum Eingriff und zur Konstruktion, der alle politisch bewußten Fotografen und Grafiker der Zeit beherrscht,« sieht Kemp sowohl mediengeschichtlich als auch gesellschaftlich begründet: »es ist die Urangst dieses Mediums, ganz der Kontingenz zu verfallen, eine Angst, die jetzt in dem Maße sich steigert, als das Bewußtsein dafür wächst, die Verfassung der gesellschaftlichen Realität tendiere selbst zur opaken Oberflächlichkeit.«36 Bei Kracauer sind uns bereits entsprechende Motive begegnet. Die Fotografie steht in diesem Sinn metaphorisch und metonymisch für eine Darstellungsweise, die, indem sie sich ganz auf die Außenseite der Phänomene beschränkt, vor einer immer abstrakter werdenden Wirklichkeit versagen muss. Seine wohl bekannteste Formulierung hat dieses Problem in einer längst zum Standardzitat der Fotografiegeschichte avancierten Passage aus Brechts Dreigroschenprozeß gefunden37:
35 Die Überlegungen der dreißiger Jahre, speziell Benjamins und Brechts, sind dementsprechend häufig Bezugspunkt der Kritik am Dokumentbegriff vor allem in der Fotografietheorie seit Ende der siebziger Jahre; so nimmt Burgin Benjamins Der Autor als Produzent in seine Sammlung Thinking Photography auf, auf deren Cover unter anderem die englische Ausgabe der Benjamin-Anthologie Versuche über Brecht abgebildet ist (vgl. Victor Burgin (Hg.): Thinking Photography. London, Basingstoke: Macmillan 1982, S. 15-31); vgl. u.a. auch Herbert Molderings: Argumente für eine konstruierende Fotografie (1982). In: Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV, S. 106-113, S. 111; Alan Sekula: Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Bemerkungen zur Politik der Repräsentation (1976, 1978). In: ebd., S. 120-128, S. 125 f.; Abigail Solomon-Godeau: Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie. In: Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie, S. 53-74, S. 56, S. 73. 36 Kemp: Theorie der Fotografie 1912-1945, S. 35. 37 Vgl. zur Geschichte der – oftmals die ursprüngliche Aussage verfälschenden ԟ Bezugnahmen auf die Passage: Bernd Stiegler: »Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht«. Kapitalismuskritik und Fototheorie. Zur Karriere eines berühmten Zitats. In: Fotogeschichte 27/105 (2007), S. 37-43; Brecht selbst beruft sich auf einen Ausspruch des Soziologen Fritz Sternberg, vgl. Bertolt Brecht: [Durch Fotografie keine Einsicht], BFA 21, S. 443 f.
194 | B ENJAMIN UND BRECHT »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Gestelltes‹.« (BFA 21, S. 469)
Die Stelle lässt sich zwar als Kommentar zu Tendenzen innerhalb der zeitgenössischen Fotografie lesen38 ԟ keinesfalls jedoch der Fotografie überhaupt ԟ, noch eher ist sie aber selbstverständlich eine Aussage über die Realität. Benjamin, der mit der Übernahme dieser Passage in die Kleine Geschichte der Photographie wohl einiges zu ihrer Popularität beigetragen hat, bezieht sie unmittelbar auf die Fotografie und leitet aus ihr die Forderung nach einer fotografischen Konstruktion ab.39 Bei Brecht steht sie im sehr viel weiter gefassten Kontext einer allgemeinen Funktionsbestimmung politisch relevanter Kunst im Verbund neuer Medien wie dem Rundfunk, der Presse und vor allem dem Film. Zur »Umfunktionierung der Kunst in eine pädagogische Disziplin« (BFA 21, S. 466) ist die Abkehr vom »alte[n] Begriff der Kunst, vom Erlebnis her« (BFA 21, S. 469), nötig; dazu muss jedoch den mit diesen neuen Medien entstandenen neuen Produktionsbedingungen auch in der Textproduktion Rechnung getragen werden. Das betrifft die Verfahren des Dreigroschenprozesses selbst. Die »großartig induktive Methode« (BFA 21, S. 465) des Films findet schließlich auch in seinem »soziologischen Experiment« Anwendung. Brechts Zusammenstellung, Montage und Kommentar von Zeitungsberichten oder Gerichtsakten wird erst dadurch aufschlussreich, dass er etwas ›aufbaut‹ und »die Verteilung von Ansichten« als »dramatische Entfaltung einunderderselben Grundhaltung, der bürgerlichen«, inszeniert: »Alle zusammen ergeben erst das Ganze« (BFA 21, S. 489).40 Die Anlage des Dreigroschenprozesses soll darin die Unmöglichkeit ei38 Vgl. Burkhardt Lindner: Der Dreigroschenprozeß. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch. Band 4: Schriften, Journale, Briefe. Stuttgart: Metzler 2003, S. 134-155, S. 145. 39 Zum Vergleich des Dreigroschenprozesses mit Benjamins medientheoretischen Schriften, insbes. dem Kunstwerk-Aufsatz vgl. Wolfgang Gersch: Film bei Brecht. Bertolt Brechts praktische und theoretische Auseinandersetzung mit dem Film. München: Hanser 1975, S. 76 ff.; Steve Giles: Bertolt Brecht and critical theory. Marxism, modernity and the Threepenny lawsuit. Bern: Lang 21998, S. 133 ff.; vgl. zu einem allgemeinen Vergleich von Brechts und Benjamins ästhetischen Positionen Inez Müller: Walter Benjamin und Bertolt Brecht. Ansätze zu einer dialektischen Ästhetik in den dreissiger Jahren. St. Ingbert: Röhrig 1993. 40 Zum »theatrale[n] Moment der Theorie« des Dreigroschenprozesses vgl. Ralf Simon: Medienwechsel der Theatralität? Zu Brechts Dreigroschenprojekt (Oper, Roman, Prozeß). In: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation.
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ner objektiven, von einem externen Standpunkt aufgenommenen Wiedergabe der gesellschaftlichen Realität demonstrieren, wie sie am Beispiel der Fotografie behauptet wurde: »Das soziologische Experiment zeigt die gesellschaftlichen Antagonismen, ohne sie aufzulösen. Die Veranstalter müssen also in dem Kräftefeld der widersprechenden Interessen selber eine Interessentenstellung einnehmen, einen durchaus subjektiven, absolut parteiischen Standpunkt. Dadurch unterscheidet sich das soziologische Experiment wesentlich von andern Methoden der Untersuchung, die einen möglichst objektiven, uninteressierten Standpunkt des Untersuchenden voraussetzen.« (BFA 21, S. 513)
Eine solche parteiische, eingreifende Darstellung zu ermöglichen, wird (im Nachhinein) zum eigentlichen Ziel der im Text kommentierten Klage gegen die Verfilmung der Dreigroschenoper erklärt: »der Prozeß mußte ein Abbild der Wirklichkeit werden, etwas über sie aussagen. Die Wirklichkeit war im Prozeß zu konstruieren« (BFA 21, S. 460). Die Parallelen zu Kracauers gegen die Reportage, die das Leben »photographiert«, gerichteten Satz von der Wirklichkeit als Konstruktion41 sind unverkennbar. Auch die weiteren Parallelen im Beispiel der Fabrik, dem Inbegriff entfremdeter Arbeit, und der allgemeinen Gegenüberstellung eines fotografischen Realitätsund Realismusbegriffs zur Konstruktion weisen darauf hin, wie sehr die grundlegenden Oppositionen von Oberfläche und Konstruktion um 1930 über die medialen Formationen der Zeit vermittelt sind. Unabhängig davon, ob das jeweilige Vorgehen bei der ›Konstruktion der Wirklichkeit‹ denselben Regeln folgt,42 und abgesehen von den deutlichen Differenzen im epistemologischen Programm ԟ eine ›Erkenntnis des Gehalts‹,43 die für Kracauer noch die Ordnung der Teile garantiert, läge Brecht eher fern ԟ, liegen der Einleitung zu den Angestellten und dem Dreigroschenprozeß dasselbe Misstrauen gegen eine angeblich ›einfache‹ Abbildung der Wirklichkeit zugrunde. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001 (= Germanistische Symposien, Berichtsbände, XXII), S. 252-280, S. 259; zum Montage-Charakter vgl. Dieter Wöhrle: Bertolt Brechts ›Dreigroschenprozeß‹ ԟ Selbstverständigung durch Ideologiezertrümmerung. In: Sprachkunst 11 (1980), S. 40-62, S. 46. 41 Vgl. Kracauer: Die Angestellten, S. 222; vgl. zum ausführlichen Zitat oben, Abschnitt 2 im Kapitel zu Kracauer. 42 Vgl. auch Kracauers Einspruch zu Brechts Begriff des »soziologischen Experiments«: Kracauer: Ein soziologisches Experiment? Zu Bert Brechts Versuch: »Der Dreigroschenprozeß«. In: Ders.: Schriften. Bd. 5.3. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 33-39, v.a. S. 38 f. 43 Vgl. Kracauer: Die Angestellten, S. 222.
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Benjamin hat in seiner Rezension der Angestellten die »konstruktive theoretische Schulung« (GS III, S. 225), die Kracauers Buch ermögliche, hervorgehoben. Der Rezension ist anzusehen, wie sehr diese methodische Anlage Benjamin vor dem Hintergrund eigener Arbeiten interessiert. Das Bild von Kracauer als »Lumpensammler […], der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht« (GS III, S. 225), könnte im Licht der methodischen Reflektionen des Passagen-Werks durchaus als Selbstporträt gelesen werden: »Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren, sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Recht kommen lassen: sie verwenden.« (GS V.1, S. 574)
In der Figur des Lumpensammlers44 verdichtet sich das mit dem destruktiven Impuls einhergehende konstruktive Interesse. Gerade im Zusammenhang des Begriffskomplexes Montage, Beschriftung und Konstruktion treffen sich bei Benjamin die Fotografietheorie und die Theorie der Geschichte mit allgemeinen methodologischen, gesellschafts- und medienkritischen Positionen der Zeit. Die Forderung nach einer fotografischen Konstruktion und ihrer Konkretisierung durch die Beschriftung am Ende der Kleinen Geschichte der Photographie rekurriert auf Motive, die auch die geschichtsphilosophischen Überlegungen der dreißiger Jahre strukturieren. Es geht ebenso darum, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen« (GS I.2, S. 701)45 wie mit der Beschriftung »als Zündschnur den kritischen Funken an das Bildgemenge« heranzuführen (GS III, S. 505). In beiden Fällen zielt die Sprengmetaphorik auf die Zerstörung und Unterbrechung eines vorliegenden Zusammenhangs, das Isolieren eines einzelnen Elements und dessen Einbindung in einen neuen Zusammenhang, den es als offen eingesetztes Fremdmaterial oder im Spiel von Bild und Text wieder unterbricht. Denn auch bei der Beschriftung kommt es nicht auf die bloße Illustration des Textes oder die Erläuterung des Bildes an, sondern auf den Kontrast, die Unterbrechung im Transfer vom einen zum anderen.46 Die abermalige Unterbrechung wirkt nicht nur bei der Beschriftung der Fotografie als »Chock«, der »im Betrachter den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt« 44 Zum Lumpensammler vgl. Irving Wohlfahrt: Et cetera? Der Historiker als Lumpensammler. In: Bolz/Witte (Hg.): Passagen, S. 70-95. 45 Vgl. auch GS V.1, S. 592 f. 46 Was Benjamin zur Zusammenstellung von Exponat und Texttafel bei einer Ausstellung Ernst Joëls sagt, gilt auch hier: »Was zu sehen ist, darf nie dasselbe, oder einfach mehr oder weniger sein, als eine Beschriftung zu sagen hätte. Es muß ein Neues, einen Trick der Evidenz mit sich führen, der mit Worten grundsätzlich nicht erzielt wird« (GS IV.1, S. 560).
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(GS II.1, S. 385).47 Auch in der siebzehnten These von Über den Begriff der Geschichte gilt als wesentlich für das »konstruktive[ ] Prinzip« der materialistischen Geschichtsschreibung ein Moment des Schocks: »Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert« (GS I.2, S. 703). Der Schock wird nun zu einem der Unterbrechung entsprechenden, Erkenntnis stiftenden Rezeptionsphänomen. Das fremde Element bricht schockartig in die auf Kohärenz gestimmte Rezeption ein und verlangt die weitergehende Auseinandersetzung mit der unvermittelten Zusammenfügung des Disparaten. Viktor Žmegaþ spricht in diesem Zusammenhang allgemein von einem »Erkenntnisschock«, der die Montage in die Nähe der Verfremdung stelle.48 Gerade bei Benjamin ist dieser Verweis instruktiv, steht doch seine ausführlichste Auseinandersetzung mit der Wirkung und den Verfahrensweisen der Montage im Zusammenhang der Beschäftigung mit Brechts epischem Theater. Als wesentliches Element gilt hier das »Prinzip der Unterbrechung«, wie es »aus Film und Rundfunk, Presse und Photographie geläufig ist […]: das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in welchen es montiert ist« (GS II.2, S. 697 f.). Dies trifft auf die Unterbrechung des Handlungsablaufs durch das Einfügen von Songs oder Schrifttafeln ebenso zu wie auf die Isolation von Handlungselementen durch die ›Zitierbarkeit‹ des Gestus: »Einen Text zitieren, schließt ein: seinen Zusammenhang unterbrechen« (GS II.2, S. 536) ԟ einen Gestus zu zitieren schließt neben seiner Wiederholbarkeit die Hervorhebung durch den Schauspieler ein: »Seine Gebärden muß der Schauspieler sperren können wie der Setzer die Worte« (GS II.2, S. 536). Die Literarisierung nicht nur der Lebensverhältnisse, sondern eben auch des Theaters, verlangt, dass selbst das im herkömmlichen Sinn ›Unliterarische‹, die Geste, behandelt wird wie ein Text. Indem mit der Unterbrechung der Handlung die Zuschauer in eine kritische Distanz zum Geschehen auf der Bühne versetzt werden sollen, geht es auch hier um die »Zurückverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Methoden der Montage aus einem oft nur modischen Verfahren in ein menschliches Geschehen« (GS II.2, S. 698).49 Die neuen Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen vor allem des Films finden ihr Komplement im epischen Theater, das sie in den Dienst eines Erkenntnisgewinns beim Publikum stellt:
47 In gesteigerter Form eignet die »Chockwirkung« selbstverständlich dem Film, bei dem der »Assoziationsablauf dessen, der sie [die Filmaufnahme] betrachtet, […] sofort durch ihre Veränderung unterbrochen« (GS I.2, S. 464) wird. 48 Viktor Žmegaþ: Montage/Collage. In: Dieter Borchmeyer/Viktor Žmegaþ (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 259-264, S. 261. 49 Vgl. auch GS II.2, S. 775.
198 | B ENJAMIN UND BRECHT »Das epische Theater rückt, den Bildern des Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor. Seine Grundform ist die des Chocks, mit dem die einzelnen, wohlabgehobenen Situationen des Stücks aufeinandertreffen. […] So entstehen Intervalle, die die Illusion des Publikums eher beeinträchtigen. Sie lähmen seine Bereitschaft zur Einfühlung.« (GS II.2, S. 537 f.)50
Diese Grundstruktur eines stoßweisen Vorrückens, der Unterbrechung von Abläufen mit dem Ziel, eine einfühlende Identifizierung mit dem dargestellten Geschehen zu verhindern, teilt Brechts episches Theater mit Benjamins Methodologie der Geschichtsschreibung.51 Auch den Begriff einer »Dialektik im Stillstand« verwendete Benjamin noch im ersten Essay über das epische Theater für die Entdeckung von Zuständen im Innehalten des Bühnengeschehens.52 Es liegt nahe, dass zumindest die ersten Versuche einer theoretischen Annäherung an das epische Theater der »Legitimationen seines eigenen Zugangs zum historischen und dialektischen Materialismus« dienten und er daher in seiner Analyse »dasjenige hervorhebt, was ihm im Eigensten schon vertraut scheint.«53 Die Perspektive wäre aber auch umkehrbar. Gerade im konstruktiven Zugang, der Bedeutung des Montierens und Zitierens, liegen Berührungspunkte, die über die Beschäftigung mit Brecht und die Geschichtstheorie, letztlich auch über den engeren Kreis von Brecht und Benjamin seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, hinausgehen. Bei Benjamin steht die Fotografie als Gedächtnismedium so nicht nur in Verbindung mit dem Zerfall von Traditionszusammenhängen durch die technische Reproduzierbarkeit, sondern sie ermöglicht damit auch eine »Liquidierung« der Traditionsbestände ԟ im Sinne der ›Verflüssigung‹ ԟ, in der sich historische Erinnerung und medienästhetische Entwürfe treffen können. Die Entsprechungen in den Verfahren, die im Passagen-Werk mit einer Dialektik im Stillstand verbunden werden, zu den Überlegungen zum epischen Theater und der Beschriftung der Fotografie geben zudem Begriffe an die Hand, mit denen sich wiederum Brechts Umgang mit Fotografien und deren Zusammenstellung mit Texten nicht nur formal, sondern auch in ihrem Zugriff auf die zeitgenössische Wirklichkeit beschreiben lässt.
50 Vgl. auch GS II.2, S. 515. 51 Zu den Gemeinsamkeiten im Geschichtsdenken und der ästhetischen Praxis bei Benjamin und Brecht vgl. auch Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 268 ff.; Anthony Phelan: July Days in Skovsbostrand: Benjamin, Brecht and Antiquity. In: German Life and Letters 53/3 (2000), S. 273-286. 52 Vgl. GS II.2, S. 530. 53 Wolfgang Freese: Benjamin und Brecht. Aspekte ihres Verhältnisses. In: Colloquia Germanica 12 (1979), S. 220-245, S. 240.
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2. B RECHTS ARBEIT
MIT
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F OTOGRAFIE
Brechts Kriegsfibel, in den Jahren 1940 bis 1945 unter dem unmittelbaren Eindruck der Kriegsnachrichten geschrieben und zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung 1955 bereits historisch,54 überführt viele der Elemente, die Benjamin beim epischen Theater hervorhebt, in eine Montage von Fotografie und Schrift.55 Sind bereits bei Benjamin die Überlegungen zum epischen Theater eng mit seinen Entwürfen historischen Eingedenkens verknüpft, so lässt sich bei Brecht ein vergleichbarer Versuch feststellen, im konstruierenden Zugriff auf die massenmediale Darstellung des Krieges darin unterdrückte Momente freizulegen. Die Kombination von Bild und Schrift lenkt den Blick ebenso auf den medial vermittelten Herrschaftszusammenhang wie auf dessen namenlose Opfer und versucht, die verwendeten Fotos so erst als Gedächtnismedien in einem emphatischen Sinn sichtbar zu machen. In der Präsentation ihres Materials ԟ meist grob gerasterte, noch mit Bildunterschriften, Datumsangaben oder Hinweisen auf Fotoagenturen versehene Pressefotos ԟ stellen die von Brecht so genannten ›Fotoepigramme‹ bereits dessen Herkunft aus der Zeitung aus. Die Gestaltung der Buchseiten in der Kriegsfibel verstärkt den Effekt der Isolation des Materials.56 Ausnahmslos stehen die Fotos und die Vierzeiler auf den schwarz grundierten rechten Seiten des Buchs,57 während die linken Sei54 In den Verhandlungen mit dem »Kulturellen Beirat für das Verlagswesen« der DDR zwecks der Publikation 1950 wies Brecht darauf hin, die Kriegsfibel sei »eine Art Journal, während der Hitlerjahre verfaßt,« und müsse daher »historisch genommen werden« (Brecht an Stefan Heymann, ohne Datum, zit. nach: Christiane Bohnert: Brechts Lyrik im Kontext. Zyklen und Exil. Königstein/Ts.: Athenäum 1982, S. 307); dieser Aspekt ist Ausgangspunkt der detaillierten Studie von Welf Kienast: Kriegsfibelmodell. Autorschaft und kollektiver Schöpfungsprozess in Brechts »Kriegsfibel«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 55 Vgl. zu früheren Verwendungen von Fotos bei Brecht: Tom Kuhn: »Was besagt eine Fotografie?«. Early Brechtian Perspectives on Photography. In: Jürgen Hillesheim (Hg.): Young Mr. Brecht becomes a writer/Der junge Herr Brecht wird Schriftsteller. Madison: University of Wisconsin Press 2006 (= The Brecht yearbook, 31), S. 260-283. 56 Vgl. zu diesem Aspekt sehr ausführlich: Stefan Soldovieri: War-poetry, Photo(epi)grammetry: Brecht’s Kriegsfibel. In: Siegfried Mews (Hg.): A Bertolt Brecht Reference Companion. Westport, London: Greenwood Press 1997, S. 139-167, S. 150 ff. 57 In zwei Fällen allerdings nehmen die Fotos die gesamte Seite ein, so dass die schwarze Grundierung ausbleibt (vgl. Bertolt Brecht: Kriegsfibel. Erweiterte Neuauflage. Berlin: Eulenspiegel 1994, Nr. 6, Nr. 65 (die Kriegsfibel wird im Folgenden nach dieser erweiterten Neuauflage der Erstausgabe von 1955 unter der Sigle KF und der Nummer des jeweiligen Fotoepigramms zitiert; gegenüber der Ausgabe im Rahmen der BFA hat sie den Vorteil, die grafische Gestaltung des Bands klarer vor Augen zu führen)).
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ten, bis auf gelegentliche Übersetzungen der Originalbildunterschriften oder Angaben zu Ort und Zeit des Abgebildeten, frei bleiben.58 Indem der vorherige Kontext auf der Zeitungsseite »als absichtsvoll und gewaltsam geschwärzt, überdruckt und ausgelöscht« erscheint, fungiert die schwarze Grundierung wie ein »in Typographie übersetzte[r] V-Effekt«,59 durch den das einzelne Foto ausgestellt und seiner Kommentierung durch das Gedicht überlassen wird, während die weiße Seite links zum einen die Konzentration auf das gerade aufgeschlagene Fotoepigramm in der Rezeption begünstigt, zum anderen Unterbrechungen in der Abfolge der Fotoepigramme einschaltet. Zwar folgt deren Anordnung weitgehend der Chronologie des Kriegsverlaufs und sie lassen sich in größere thematische Blöcke einteilen, doch erscheint dies kaum als kontinuierlicher Übergang oder etwa folgerichtige Entwicklung der dargestellten Geschichte. Zugleich erzeugen die Größe der Fotografien und ihre relative Stellung zur schwarzen Blende einen dynamischen Effekt, der die chronologische und inhaltliche Motivierung der Abfolge stellenweise unterstützt und mit der unterbrechenden Wirkung der weißen Seiten in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis steht.60 Mit der Kombination dynamischer und unterbrechender Effekte in der Gestaltung des Bands entsteht der Eindruck eines stoßartigen Vorrückens, ähnlich wie es Benjamin im Vergleich des epischen Theaters mit dem Film beschrieb. Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs präsentiert sich als diskontinuierliche Reihe. Brechts etwas hämischer Kommentar anlässlich einer positiven Reaktion Lukács’ auf eine Szene aus Furcht und Elend des Dritten Reiches, dieser habe nicht bemerkt, dass es sich bei dem Stück um eine »Montage von 27 Szenen« und eine »Gestentafel« handelt (BFA 26, S. 318), könnte auch auf die Kriegsfibel übertragen werden. Die Fotos der bürgerlichen und faschistischen Presse, auf die Brecht zurückgreift, stellen als Fotografien selbst bereits die Arretierung einer Haltung, einer Pose oder Geste dar, die im Epigramm, teilweise in Konkurrenz zur Originalbildunterschrift, aufgegriffen und durch die Isolation auf der Seite ausgestellt wird.
58 Vgl. zur Symbolik des Schwarz-Weiß-Kontrasts: Roland Jost: Über die Frag-Würdigkeit von Bildern ԟ Brechts »Kriegsfibel« im gegenwärtigen Kontext. In: Diskussion Deutsch 22 (1991), S. 231-239, S. 232 f. 59 Grischa Meyer: »Kann man von Bildern des Krieges etwas für den Frieden lernen?« In: Sabine Kebir/Therese Höringk (Hg.): Brecht und der Krieg. Widersprüche damals, Einsprüche heute. Brecht-Dialog 2004. Berlin: Theater der Zeit 2005 (= Recherchen 23), S. 70-85, S. 81. 60 Vgl. ausführlich Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften. Stuttgart: Metzler 1984, S. 209, der dies mit dem Effekt einer Filmblende vergleicht.
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2.1 Text- und Bild-Experimente in den Journalen Die wachsende Aufmerksamkeit für das verfremdende Potential von Fotografien in der Montage von Bild und Text lässt sich als Vorgeschichte und Hintergrund zur Kriegsfibel in den während der Jahre des Exils geführten Journalen61 verfolgen.62 Seit August 1938 begann Brecht, hier zunächst einige Privatfotografien, später vor allem Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften einzukleben. Der größte Teil der Zeitungsausschnitte fällt in die Zeit des Kriegs, in der unmittelbaren Nachkriegszeit findet sich noch immer eine große Anzahl von Zeitungsartikeln, Fotografien und Grafiken zwischen den Tageseinträgen, während mit dem Umzug in die Schweiz und später in die DDR die Abbildungen abnehmen und eher private Aufnahmen und Szenenfotos, vor allem der Mutter Courage, dominieren. Insbesondere im Sommer und Herbst 1940, der Zeit, in der die ersten Fotoepigramme entstanden,63 lässt sich eine verstärkte Beschäftigung mit dem Verhältnis von Text und Bild im Journal verzeichnen. Die Verbindung des Zugriffs auf das historische Geschehen anhand von Pressefotos mit Verfahren des epischen Theaters stellt Brecht mit der ironischen Kommentierung des Fotos von einem Treffen von Ribbentrops mit Mussolini in einem pompösen Saal des Palazzo Venezia her: »Welche Ausbeute bieten die Fotos der faschistischen illustrierten Wochenblätter! Diese Akteure verstehen die Kunst des epischen Theaters, Vorkommnissen banaler Art den historischen Anstrich zu geben« (BFA 26, S. 431 (Abb. S. 432)). Der an den ›Anstreicher‹ Hitler erinnernde ›historische Anstrich‹ des banalen Treffens zweier Politiker legt es freilich darauf an, diesem den Charakter eines entscheidenden Ereignisses zu geben, das in der Geschichte überdauere, während Historisieren als Verfahren der Verfremdung im epischen Theater darauf hinausläuft, »Vorgänge und Personen als historisch, also als
61 Auch wenn in der Ausgabe der BFA, nach der hier zitiert wird, die tagebuchartigen Notizen aus den Jahren 1938-1955 »Journale« genannt werden, hat sich die Bezeichnung »Arbeitsjournal« der Erstausgabe weitgehend eingebürgert. Hier wird zwischen beiden Bezeichnungen alterniert. Da der Abdruck in der BFA nicht immer die Anordnung von Bild und Text des Typoskripts übernimmt, werden hier stillschweigend die Übersicht zu Beginn der Erläuterungen zum jeweiligen Journal und der entsprechende Zeilenkommentar in der BFA bei Aussagen zur Reihenfolge berücksichtigt. 62 Zu den Fotos in den Journalen vgl. Philip V. Brady: From Cave-Painting to »Fotogramm«: Brecht, Photography and the Arbeitsjournal. In: Forum for Modern Language Studies 14 (1978), S. 270-282. 63 Das erste Fotoepigramm entstand laut Kommentar der BFA am 4.8.1940 (vgl. BFA 12, S. 409). Es handelt sich um das in die Kriegsfibel später nicht übernommene Epigramm »Fliegende Haie nannten wir uns prahlend« (vgl. KF, 82 (Anhang)).
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vergänglich« (BFA 22.1, S. 554 f.), darzustellen. Diese verfremdende Wirkung bekommt das Foto aber erst durch Brechts Kommentar. Mit der »Theatralisierung der Politik durch den Faschismus« (BFA 26, S. 443) beschäftigte Brecht sich ausführlich in einem Dialog über Die Theatralik des Faschismus. Eine Möglichkeit, diese Theatralik zu studieren, bieten dort Fotografien Hitlers,64 die einerseits von dessen Kunst der Selbstinszenierung zeugen, zugleich aber die Gesten dieser Inszenierung ausstellen und analysierbar machen. Brecht sammelte solche Fotografien von Hitler-Gesten,65 von denen einige Eingang ins Arbeitsjournal fanden. Am eindrücklichsten ist wohl die dort unkommentierte Sequenz von Standbildern eines Films von Hitlers Freudentanz nach der Kapitulation Frankreichs,66 die es gerade durch die Zerlegung in einzelne Bilder erlaubt, die Gesten des Tanzes ähnlich wie im epischen Theater auszustellen. Dieser »typisch Brechtsche Gestus des Zeigens«67 prägt den Gebrauch vieler Fotografien in den Journalen und in der Kriegsfibel. Nicht immer, obwohl dies im Arbeitsjournal eher der Regelfall ist, bleiben die Abbildungen, wie bei der erwähnten Bildsequenz, unkommentiert oder werden nur über Umwege vom Text kommentiert. Bereits bei der Fotografie von Ribbentrops und Mussolinis weist der Kommentar explizit auf die Inszenierung des Bilds hin. Im unmittelbar darauf folgenden Eintrag vom 10.10.40 scheint sich Brecht bloß auf die Quelle und die Art der Bilder zu beziehen: »In ›Signals‹ (einer deutschen Propagandaschrift in Englisch) Aufnahmen mit elektrischen Linsen« (BFA 26, S. 433). Der englische Kommentar zu den drei Bildern, auf denen der fortschreitende Befall eines Kolibazillus durch Koliphagozyten zu sehen ist, gibt unter der Überschrift »War among the invisible microbes« neben der Tatsache, dass dies wohl zum ersten Mal fotografisch festgehalten wurde, in scheinbar sachlichem Ton die jeweiligen Stadien des Befalls auf den Bildern wieder. Im Kontext des vorangehenden Eintrags aber gewinnt Brechts Hinweis auf den Charakter der Zeitschrift neue Signifikanz. Die Kriegsmetapher der englischen Überschrift wird als rückwirkende Metaphorisierung der Natur für geschichtliche und soziale Prozesse im nationalsozialistischen Sinne erkennbar: So wie der »harmless colibacillus«, von dem im Begleittext die Rede ist, von den Mikroben befallen und zerstört wird, so könne auch der ›Volkskörper‹ von seinen Feinden ›zersetzt‹ werden, scheint das Bild nahezulegen. Die
64 Vgl. BFA 22.1, S. 564. 65 Vgl. BFA 22.2, S. 1075. 66 Vgl. BFA 26, S. 380 ff. (Brecht entnahm die Bilder der Zeitschrift Life vom 21.10.40 (vgl. BFA 26, S. 651) und setzte sie offensichtlich nachträglich mit dem Datum des 17.6.40, dem Tag, an dem der Film in der »Wochenschau« lief, ein). 67 Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart ԟ Formen ԟ Entwicklung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 187.
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nur angedeutete, aber dennoch wirksame Hervorhebung der ›Gesten‹ der Propaganda zielt hier auf das Verhältnis von Text und Bild. Die beiden Einträge zur Propaganda kulminieren schließlich in den darauffolgenden Einträgen vom 15.10.40, den ersten Beispielen für Fotoepigramme im Arbeitsjournal, die allerdings nicht in die Kriegsfibel aufgenommen wurden. Beide Fotos sollen Hitlers Volkstümlichkeit demonstrieren: am kleinbürgerlichen Familientisch, wie er persönlich die gefüllten Teller unter den anderen Tischgästen verteilt, und beim Gespräch mit einer alten Frau auf der Straße, die ihm vertraulich die Hand hält. Das Epigramm zum ersten Bild lautet: »Hier seht mich froh bei einem Topfgericht Mich, der ich keinerlei Gelüsten fröne Als dem nach Weltherrschaft. Mehr will ich nicht. Ich brauche nichts von euch als eure Söhne.« (BFA 26, S. 434)
Die ersten beiden Zeilen folgen noch der Rhetorik des Bilds und heben die Gesten der Bescheidenheit in ihm hervor. Mit dem überraschenden Enjambement in der dritten Zeile aber schlägt diese, wiewohl sie rhetorisch beibehalten wird, um in den Größenwahn des nationalsozialistischen Führers. Indem das maßlose Verlangen nach Weltherrschaft und schließlich der Preis, den die Menschen dafür zu zahlen haben, wie unwesentliche Einschränkungen nach der durch die subtile Handhabung der Zäsur und der Zeilenenden eingeführten neuerlichen Versicherung der Bescheidenheit erscheinen, stellt sich die im Foto inszenierte Alltäglichkeit als Fassade dar, welche die katastrophalen Folgen der nationalsozialistischen ›Volksnähe‹ verdecken soll. Die Rhetorik des Gedichts hebt, indem es die Gesten der Bescheidenheit im Bild zitiert, diese als Inszenierung hervor.
2.2 Funktionen der Text-Bild-Beziehungen in der Kriegsfibel Viele, wenn auch nicht alle Fotoepigramme der Kriegsfibel übernehmen eine vergleichbare ideologiekritische Funktion. Im Wesentlichen kommen dabei zwei Verfahren zur Anwendung, die sich im Einzelnen überschneiden können: die Umdeutung von Bildelementen oder einer Pose, wie im obigen Beispiel, und der kritische Bezug auf die Bildunterschrift. Das in den Band einführende Fotoepigramm zeigt so wieder Hitler, diesmal in visionärer Pose am Rednerpult.68 Das Gedicht übernimmt die Bildsprache der Propaganda in entsprechenden Sprachbildern, wendet sie jedoch in einer Weise, die auf
68 Vgl. KF, Nr. 1.
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die Wahrnehmung des Bilds zurückschlägt.69 Die Illustration der ›schlafwandlerischen Sicherheit‹ des ›Führers‹ verkehrt sich zum Bild eines Wahnsinnigen, der ins Verderben führt; Hitlers Blick und Gestik wirken nun tatsächlich, als ob er nicht recht sähe, wohin er geht, und tastend seinen Weg suche. Während sich das Epigramm vor allem beim offen propagandistischen Einsatz von Fotos auf die bildliche Ebene beziehen kann, tritt in anderen Fällen die Beschriftung in den Vordergrund. Im Fall von Fotoepigramm Nr. 47 scheint die Unterschrift in neutralem Ton ԟ sieht man von der diskriminierenden Benennung der Japaner ab ԟ die Hintergründe zum Foto eines amerikanischen Soldaten vor drei Leichen zu liefern: »An American soldier stands over a dying Jap whom he had been forced to shoot. The Jap had been hiding in the landing barge, shooting at U.S. troops.« Dass dieser Kommentar das eigentliche Skandalon des Krieges verdeckt, indem er dessen blutige Logik ohne weiteres übernimmt, wird zur Pointe des darunter stehenden Epigramms: »Sie waren, heißt’s, gezwungen, sich zu töten / Ich glaub’s, ich glaub’s. Und frag nur noch: von wem?«70 Mit der offenen Frage verliert das Töten seine Selbstverständlichkeit. Es liegt durchaus nicht im Interesse der unmittelbar Beteiligten, sich gegenseitig umzubringen; die Antwort auf die Frage, in wessen Interesse es liegen könnte, bleibt aber den Leserinnen und Lesern überlassen. Vor allem an solche Kommentierungen dürfte bei Ruth Berlaus Bemerkung, die Kriegsfibel wolle »die Kunst lehren, Bilder zu lesen«,71 zu denken sein. Die Bezeichnung »Fibel« ist demzufolge als Gattungsbezeichnung zu verstehen: Es handelt sich um ein Alphabetisierungsbuch, dessen didaktisches Ziel wegen der »große[n] Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus so sorgsam und brutal aufrechterhält«, nun auch auf »die Tausende Fotos in Illustrierten«72 angewandt werden muss. Das ›Lesen‹ der Bilder liefe demnach darauf hinaus, in der »Bilderwelt der Zeitungen« deren »Weltbild«73 hervorzukehren und die nicht unmittelbar erkennbaren ideologischen Implikationen, Verblendungen und Botschaften des jeweiligen Bilds im Epigramm ans Licht zu zerren. Ob dadurch allerdings die Fähigkeiten der Leserinnen und Leser zur allgemeinen ›Lektüre‹ von Bildern herangebildet würden, ist fraglich. Es wäre darüber hinaus zu fragen, ob mit der Metapher des Lesens im Sinne einer ideologiekritischen Interpreta69 Vgl. KF, Nr. 1; vgl. ausführlich zu diesem Fotoepigramm: Dieter Wöhrle: Bertolt Brechts medienästhetische Versuche. Köln: Prometh 1988, S. 178 f. 70 Vgl. die ausführliche Interpretation hierzu bei Anya Feddersen: »Sie waren, heißt’s, gezwungen, sich zu töten«. In: Jan Knopf (Hg.): Gedichte von Bertolt Brecht. Stuttgart: Reclam 1995, S. 147-160. 71 Ruth Berlau: [Vorwort]. In: KF, o. P. 72 Ebd. 73 Wöhrle: Brechts medienästhetische Versuche, S. 171.
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tion die Verwendung von Fotografien in der Kriegsfibel hinreichend charakterisiert ist. Anya Feddersen hat dagegen eingewandt, die Metapher suggeriere, »man könne nach der Lektüre des Epigramms aus dem Bild etwas herausholen, was man zunächst […] nicht wahrgenommen hatte«, wohingegen das Epigramm vielmehr »etwas ins Bild hinein[legt], das keineswegs von Anfang an darin codiert war«.74 Es gibt allerdings tatsächlich Fälle, in denen ein bestimmtes Element durch das Epigramm erst hervorgehoben und so ›sichtbar‹ gemacht wird. Fotoepigramm Nr. 8 scheint mir ein solcher Fall zu sein. Auf dem Foto sind zwei deutsche Soldaten zu sehen, die aus ihrer Deckung unter einem Zug hervorstürmen. Während die Bildunterschrift die überlegene Feuerkraft der Wehrmacht im Frankreichfeldzug betont, schlägt das Gedicht eine andere Richtung ein: »Nach einem Feind seh ich euch Ausschau halten Bevor ihr absprangt in die Panzerschlacht: War’s der Franzos, dem eure Blicke galten? War’s euer Hauptmann nur, der euch bewacht?«
Nach der Lektüre des Epigramms mit seinem Fokus auf den Blick des Soldaten rechts im Vordergrund bekommt dieser Blick etwas Zweideutiges und wird schließlich zum bestimmenden Element – dem »punctum« ԟ des Bilds. Auch hier steht am Ende wieder eine Frage, die zwar im Bezug auf diese eine Fotografie offen bleibt, in der Artikulation des Zweifels jedoch den internen Zwang als Bedingung der militärischen Einheit voraussetzt. Der korrigierende Bezug zur Aussage der Bildunterschrift, die deutschen Soldaten seien »young, tough and disciplined« gewesen, wird plausibel, indem die Wahrnehmung des Bilds und seiner Details sich ändert. Zweifellos wird hier etwas ins Bild hineingelegt, was nicht von Anfang an darin codiert war, doch sagt das weniger etwas über den Zugang zur Fotografie in der Kriegsfibel aus als über das Verhältnis von Fotografie und Begleittext im Allgemeinen. Was auf einer Fotografie als visueller Code wahrgenommen und vor allem wie dieser aufgefasst wird, ist eben abhängig von ihrer kontextuellen Einbindung, zu der vor allem die begleitenden »signifikativen« oder »denotativen« Texte 74 Anya Feddersen: Kriegsfibel. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart: Metzler 2001, S. 382-397, S. 396; vgl. zu einer weiteren Kritik an der Metapher des Lesens: Sönke Landt: »Der Schoß ist fruchtbar noch«. Brechts Kriegsfibel. In: Wendula Dahle (Hg.): Die Geschäfte mit dem armen B.B. Vom geschmähten Kommunisten zum Dichter »deutscher Spitzenklasse«. Hamburg: VSA 2007, S. 85-99, S. 88 f., dessen Einwand allerdings darauf abzielt, den Bildern ließen sich keine Urteile entnehmen, wogegen es Brecht darum gehe, »über Kriege die richtigen Urteile zu verbreiten.« Das mag zutreffen, aber zu klären ist, wie er dies mit der Kombination von Bild und Text zu erreichen sucht.
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zählen.75 Die Frage nach einer Lesbarkeit der im Bild vorhandenen Codes betrifft so das Verhältnis der Begleittexte untereinander, das heißt des Epigramms, der Bildunterschriften und zum Teil der Nachbemerkungen zu den Bildern am Ende des Buchs. Im Fall der Propagandafotos liegt dagegen meist ein relativ klarer visueller Code vor, der ohne Begleittext auskommt. Hier greift das Epigramm oft tatsächlich im Bild vorhandene Codierungen sprachlich auf, verleiht ihnen aber andere, ursprünglich nicht intendierte Konnotate. Der Bezug der Gedichte auf die Bilder zielt bei alledem, darin ist Feddersen zuzustimmen, nicht auf Lesbarkeit im Sinn der Vermittlung gesellschaftlicher Erkenntnis durch die bloße Bildbetrachtung ab. Eher ließe die vorliegende Textstrategie sich als Sinnzerstreuung beschreiben, als Versuch, die scheinbare Lückenlosigkeit der jeweiligen Darstellungen im Aufweis interner Widersprüche aufzubrechen. Dass gerade die Menge verschiedener Texte in der Kriegsfibel – Berlaus Vorwort und Klappentext, die Epigramme und Originalbildunterschriften sowie die Nachbemerkungen zu den Bildern ԟ zu einer solchen Sinnzerstreuung beiträgt, hat jüngst J. J. Long herausgearbeitet. Das »excess of writing that we find in the War Primer« wäre demnach »a symptom of an abiding mistrust of photographic images, a sense that their power to deceive an untrained reader is so great that one caption alone is insufficient to control the image’s potential for ideological mystification and unregulated polysemy.«76 Die Menge und Heterogenität der rahmenden Texte erzeuge aber selbst wiederum eine Polysemie, die die Äußerung eines ideologisch eindeutigen Standpunkts unmöglich mache.77 Die von Long dabei unterstellte Dichotomie zwischen ›rationaler‹ Sprache und ›irrationalem‹ Bild78 geht in der Form allerdings an der Kriegsfibel vorbei: Deren Kritik richtet sich mit den Bildunterschriften auf Text und Bild gleichermaßen.79 So etwas wie eine ›Kontrollfunktion‹ üben am ehesten noch die Nachbemerkungen zu den Bildern aus, insofern sie tatsächlich oft 75 Vgl. zur Unterscheidung von signifikativen, d.h. dem Aufgenommenen einen bestimmten Anschauungsgehalt gebenden, und denotativen, d.h. nur das Aufgenommene und die Umstände der Aufnahme bezeichnenden Begleittexten: Wolfgang Preisendanz: Verordnete Wahrnehmung. Zum Verhältnis von Photo und Begleittext. In: Sprache im technischen Zeitalter 37 (1971), S. 1-8, S. 2 f.; die Unterscheidung ist allerdings variabler als in Preisendanz’ Modell; gerade am Beispiel der Kriegsfibel – etwa bei Fotoepigramm Nr. 47 ԟ ließe sich zeigen, wie scheinbar denotativ-neutrale Bildtexte vom Epigramm in ihrer signifikativen Funktion herausgestellt werden. 76 J. J. Long: Paratextual Profusion: Photography and Text in Bertolt Brecht’s War Primer. In: Poetics today 26/1 (2008), S. 197-224, S. 209. 77 Vgl. ebd., v.a. S. 218 f. 78 Vgl. ebd., S. 206. 79 Es sei auch daran erinnert, dass ein Fotoepigramm ganz ohne Fotografie auskommt und nur einen Zeitungsartikel ausstellt (vgl. KF, Nr. 31).
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unter dem Anschein historischer Hintergrundinformationen das Verständnis mit wertenden Formulierungen lenken. Waren sie ursprünglich zur Klärung der zum Publikationszeitpunkt nicht mehr vorauszusetzenden geschichtlichen Bezüge geplant80 und arbeiteten damit schon damals der Historisierung der Kriegsfibel zu, so erscheinen sie heute nur noch in ihrer historischen Bedingtheit. Zweifellos dienen oder dienten sie einer Rezeptionssteuerung der Fotoepigramme – weniger der Fotografien selbst ԟ, doch zeugt diese ›Kontrolle‹ eher noch vom ›Misstrauen‹ in die Polysemie literarischer Sprache als in die Polysemie der Bilder. Polysemie bzw. – sie unterstützend – Polyphonie ist jedoch eher Teil des politisch-didaktischen Programms der Kriegsfibel als ein Argument dagegen. Indem in den einzelnen Fotoepigrammen mit dem Bild, der Unterschrift und dem Epigramm ebenso wie im Buch insgesamt verschiedene Stimmen vertreten sind, sind die Leserinnen und Leser gezwungen, ständig neue Standpunkte einzunehmen, ohne dass eine ›Lösung‹ von vornherein präsentiert würde. Die Frage des ›richtigen Standpunkts‹ bleibt zwar nicht offen, denn die Tendenz der Darstellung ist hinreichend deutlich, sie erfordert aber eine aktive Rezeptionshaltung. Die Kriegsfibel zeigt, darin dem Anspruch des Dreigroschenprozesses vergleichbar, »die gesellschaftlichen Antagonismen, ohne sie aufzulösen«, nur sollen hier auch die Rezipierenden »in dem Kräftefeld der widersprechenden Interessen selber eine Interessentenstellung einnehmen, einen durchaus subjektiven, absolut parteiischen Standpunkt« (BFA 21, S. 513). Dem Text kommt es durchaus darauf an, den ›richtigen‹, das heißt den Klassenstandpunkt hervorzubringen, aber dies nicht als von vornherein festgelegten und dekretierten, sondern als selbst beweglichen und in einem beweglichen Interessenfeld zu produzierenden. In Fotoepigramm Nr. 2 wird exemplarisch deutlich, wie sehr dies als poetologisches Konzept auch das einzelne Fotoepigramm prägt. Das Foto von vier Arbeitern, die damit beschäftigt sind, Stahlplatten an einen Kran zu hängen, fällt durch seine klare Komposition auf: Der harte Kontrast der im Licht weißen Platten zum Schatten der Zwischenräume durchzieht es mit diagonalen Linien, die im oberen Drittel quer der dunkle Streifen eines breiteren Gangs zwischen den Plattenreihen schneidet. Die Arbeiter verteilen sich auf zwei Achsen, deren virtueller Berührungspunkt genau in der Mitte des Winkels liegt, den zwei am Kran befestigte Ketten bilden. Das Bild erscheint, indem der Blick dank seiner Komposition von den dargestellten Vorgängen auf die bildinterne Struktur gelenkt wird, beinahe wie eine Illustration der im Dreigroschenprozeß konstatierten Unmöglichkeit, mit einer Fotografie von Industrieanlagen etwas »über diese Institute« auszusagen. Das Epigramm inszeniert einen Dialog:
80 Vgl. Jan Knopf: Zur Entstehung der Kriegsfibel. In: KF, o. P.; bzw. den beinahe textidentischen Kommentar in BFA 12, S. 413.
208 | B ENJAMIN UND BRECHT »›Was macht ihr, Brüder?‹ – ›Einen Eisenwagen.‹ ›Und was aus diesen Platten dicht daneben?‹ ›Geschosse, die durch Eisenwände schlagen.‹ ›Und warum all das, Brüder?‹ – ›Um zu leben.‹« (KF, Nr. 2)
Die Widersprüche der kapitalistischen Produktion, zumal der Kriegsindustrie, erscheinen im bloßen Nebeneinander der Repliken, ohne dass sie als solche eigens bezeichnet, geschweige denn aufgelöst würden. Dem Nebeneinander der Platten auf dem Foto entspricht die Juxtaposition der Aussagen; die einzelnen Teile bleiben so lange unverstanden, wie nicht die Funktionen, die sie im Verhältnis zueinander einnehmen, einsichtig werden. Dies gilt auch für die Stellung des Fotoepigramms im Gesamttext: Da es relativ am Anfang steht, vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, ist es auch auf die nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsprogramme im Zuge der Kriegsvorbereitungen zu beziehen. Da Gegenstand des Bilds die industrielle Montage ist, funktioniert das Foto zudem als eine Art mise en abyme des Verfahrens der Kriegsfibel. Ähnliches gilt für die Form des Dialogs, die durch das Fehlen einer privilegierten Stimme eine eigene Stellungnahme herausfordert, aber nicht anbietet. Eben diese auch im Sinne Bachtins zu verstehende Dialogizität81 der Kriegsfibel übersieht Reinhold Grimms umstrittene These einer Marxistischen Emblematik.82 Zwar erinnert die Zusammenstellung von Fotografie, beigefügter Bildunterschrift und darunter stehendem Epigramm stellenweise tatsächlich an die emblematische Dreiteilung von inscriptio, pictura und subscriptio,83 doch entgeht Grimms An81 Vgl. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Übers. v. Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 156 ff.; die jede Dialogizität ausschließende Selbstgenügsamkeit, die Bachtin der Lyrik zuspricht (vgl. ebd., S. 177 ff.), wäre nicht nur in Brechts Fall zu relativieren. 82 Reinhold Grimm: Marxistische Emblematik. Zu Bertolt Brechts ›Kriegsfibel‹. In: Sibylle Penkert (Hg.): Emblem und Emblematikrezeption. Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, S. 502-542; der kritische Bezug auf Grimm gehört beinahe zum Standard der Literatur zur Kriegsfibel, weitgehend zustimmend beziehen sich dagegen Heukenkamp und Stammen auf seine These (vgl. Ursula Heukenkamp: Den Krieg von unten ansehen. Über das Bild des zweiten Weltkriegs in Bertolt Brechts »Kriegsfibel«. In: Weimarer Beiträge 31 (1985), S. 1294-1312, S. 1303; Theo Stammen: Brechts Kriegsfibel. Politische Emblematik und zeitgeschichtliche Aussage. In: Helmut Koopmann (Hg.): Brechts Lyrik – neue Deutungen. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 101-141, S. 114 ff.). 83 Grimm beruft sich hierbei auf Schönes Darstellung des idealtypischen Emblems (vgl. Grimm: Marxistische Emblematik, S. 522; vgl. auch Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München: Beck 21964, S. 30). Dass nicht alle Fotoepigramme der Kriegsfibel diese Dreiteilung aufweisen, muss nicht gegen die These spre-
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nahme einer historischen Kontinuität im Gebrauch der Gattung die eigentliche Pointe des partiellen Rückgriffs auf die Form des Emblems, wenn er den Bezug der Epigramme auf die Fotografien als marxistische Version christlicher Allegorese deutet.84 Andreas Böhn hat dagegen in seiner Studie über das Formzitat die Rolle der Emblematik in der Kriegsfibel im Rahmen eines »Rückgriff[s] auf Formen, […] die aus einem vergangenen Kontext stammen und nicht mehr in der ursprünglichen Weise Gültigkeit beanspruchen können«,85 überzeugend herausgearbeitet: »Die emblematische Weise der Sinnstiftung wird aufgegriffen, nachgebildet, doch nur um auf sie zu verweisen, sie als Möglichkeit vorzuführen, die nicht durchgehalten wird, sondern vielmehr durch das Nicht-Gelingen ihres Vollzugs der Kritik ausgesetzt wird.«86 Die Fotoepigramme der Kriegsfibel stellen kein Äquivalent der sinnerfüllten Welt der Schöpfung dar, die in den barocken Emblemen gegen alle Erschütterungen der frühen Neuzeit noch einmal ausgelegt werden soll, sondern stellen in ihrem Material die Unmöglichkeit eines einheitlichen, von einer externen, quasi-göttlichen Perspektive aufgenommenen Sinns, der den Erscheinungen zukäme, aus. In den Pressefotografien, zumal, wenn sie noch mit einer Bildunterschrift versehen sind, liegt die Wirklichkeit als immer schon vermittelte und gedeutete vor. Das Zitat der emblematischen Weltdeutung ist damit auch eine Form der historisierenden Verfremdung, die mit dem Gestus des Deutens die Notwendigkeit, aber auch jechen, da es auch in der barocken Emblematik eine größere Variationsbreite gibt, als Schönes »idealtypische Grundform« suggeriert (vgl. Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin: Erich Schmidt 2002, S. 277 ff.). Gravierender ist der Einwand, dass die Bildüberschrift oder -unterschrift nirgends in der Kriegsfibel eine der emblematischen inscriptio oder subscriptio analoge Funktion erfüllt. 84 Vgl. Grimm: Marxistische Emblematik, S. 528 ff.; von so etwas wie einer Allegorisierung könnte in der Kriegsfibel höchstens in einigen Fällen gesprochen werden, bei denen aber das Bild innerhalb des Textes allegorisiert wird, nicht jedoch der dargestellten Wirklichkeit selbst allegorische Qualität zukommt. Dies ist zum einen bei der äußerst problematischen Personalisierung Afrikas im Foto einer halbnackten Schwarzen (KF, Nr. 37) der Fall, die sich mit ihrer sexistischen und exotistischen Darstellungsweise auch im Text kaum von kolonialen Allegorien des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Zum anderen könnte in der Großschreibung von »OBEN« und »UNTEN« in Nr. 19 eine Allegorisierung gesehen werden, insofern hier das im Bild dargestellte räumliche Verhältnis über sich hinaus sowohl auf ein poetologisches Prinzip – das Verhältnis von Bild und Text – der Kriegsfibel wie auf das ihr zugrunde liegende soziale Deutungsmuster verweist und beide engführt (vgl. zum »oben« und »unten«: Feddersen: Kriegsfibel, S. 388). 85 Andreas Böhn: Das Formzitat. Bestimmung einer Textstrategie im Spannungsfeld zwischen Intertextualität und Gattungstheorie. Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 18. 86 Ebd., S. 170.
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weilige historische Bedingtheit, einer aktiven Stellungnahme zur Geschichte und ihren Deutungen vorführt. Wenn in der Kriegsfibel ein weitergehender aktualisierender Bezug zum Barock hergestellt werden kann, der auch die Verfahren des Texts betrifft, so wäre dies nur auf theoretischen Umwegen möglich; über den Begriff der Allegorie, in der spezifischen Ausarbeitung, die er bei Benjamin gefunden hat.87 In dessen unvollendeten Baudelaire-Studien gilt die Verwendung allegorischer Figuren in Baudelaires Lyrik nicht als bloße Neuauflage barocker Denkfiguren, sondern als Reaktion auf die »Entwertung der Dingwelt« (GS I.2, S. 660) in der modernen Warenwirtschaft: »Die Embleme kommen als Waren wieder« (GS I.2, S. 681). Für Brecht kann gewiss nicht in derselben Weise vom Rückgriff auf allegorische Strukturen gesprochen werden, wie dies bei Baudelaire der Fall ist, doch kann hier die Übertragung des Begriffs als analytische Kategorie durch die Kritik der Presse ergänzt werden. Wie in der Warenform die spezifischen Eigenschaften der Gegenstände zugunsten ihrer abstrakten Quantifizierung zurücktreten und diese aus dem Zusammenhang der lebendigen Arbeit ausgesondert werden, so legt die Informationsform der Presse es darauf an, »die Ereignisse gegen den Bereich abzudichten, in dem sie die Erfahrung des Lesers betreffen könnten« (GS I.2, S. 610).88 Die Pressefotografien, auf die Brecht in der Kriegsfibel zurückgreift, wären in diesem Sinn allegorisch zu nennen, insofern sie Bruchstücke des lebendigen, wenn auch oftmals tödlichen, Geschichtsprozesses darstellen,89 die im Zusammenhang der Zeitungen dem müßigen 87 Zu einem Versuch, den Begriff der Allegorie unter Bezug auf Benjamin für die formalen Operationen der Kriegsfibel fruchtbar zu machen vgl. Jan Gerstner: Allegorische Kriegsberichterstattung. Der Einsatz von Pressefotos in Bertolt Brechts Kriegsfibel. In: Kim Gorus/Patrick Lennon/Noël Reumkens (Hg.): Image and Word. Literature and the Pictorial Arts in the Twentieth Century. Brüssel: KVAB 2009, S. 181-189. Auch Bajorek greift in ihrer Interpretation einiger Fotoepigramme auf Benjamins Begriff der Allegorie zurück, bezieht dies aber eher auf Bildinhalte und versucht dann, ihre Schlüsse auf das Medium Fotografie im Allgemeinen zu übertragen (vgl. Jennifer Bajorek: Holding Fast to Ruins: the Air War in Brecht’s Kriegsfibel. In: Wilfried Wilms/William Rasch (Hg.): Bombs Away! Representing the Air War over Europe and Japan. Amsterdam, New York: Rodopi 2006, S. 97-111). 88 Vgl. zu diesem Zusammenhang Ansgar Hillach: Allegorie, Bildraum, Montage. Versuch, einen Begriff avantgardistischer Montage aus Benjamins Schriften zu begründen. In: Martin Lüdke (Hg.): Theorie der Avantgarde. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 105-142, S. 134 ff. 89 Dies ist hier freilich nicht im Sinne eines allegorischen »Wesens« der Fotografie zu fassen (vgl. zu einer solchen Übertragung von Benjamins Allegorie-Konzept auf die Fotografie: Hubertus von Amelunxen: Skiagraphie – Silberchlorid und schwarze Galle. Zur
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Studium des Lesepublikums anheimgegeben sind. Im »konsumtive[n] Praxisverzicht«90 nähert sich die Haltung des Zeitungslesers der »acedia« (GS I.2, S. 696) an, die Benjamin in der Einfühlung der historistischen Geschichtsschreibung am Werk sieht.91 Indem er die Fotografien und Bildunterschriften aus ihrem Ursprungszusammenhang herausnimmt und in neue Konstellationen überführt, geht Brecht aber über deren allegorische »Wendung der Geschichte in Natur« (GS I.1, S. 358) hinaus. Der für die Zeitungslektüre charakteristische Praxisverzicht soll mit der von den Fotoepigrammen eingeforderten Rezeptionshaltung gerade überwunden werden. Eine – allerdings einschneidendere ԟ Erfahrung erzwungenen Praxisverzichts steht auch am Anfang der Arbeit an der Kriegsfibel. Nicht nur, dass für den Exilanten Brecht die Presse und der Rundfunk eine existenzielle Bedeutung bekamen, auch die eigene künstlerische Produktion stand unter dem Zeichen des Verlusts von Wirkmöglichkeiten. Die Trennung von Publikations-, Aufführungs- und Probenmöglichkeiten ebenso wie die vom Publikum musste auch die Bedeutung der Lyrik als »geschichtsbedingt und geschichtemachend« (BFA 26, S. 418), wie es in einer Reflektion im Arbeitsjournal heißt, betreffen. Dem steht die Erfahrung gegenüber, dass es nun Presse und Propaganda sind, die nicht nur geschichtsbedingt, sondern auch im doppelten Sinn geschichtemachend sind. »Ich schreibe selbst die Weltgeschichte« (KF, Nr. 26), heißt es in einem Goebbels in den Mund gelegten Fotoepigramm der Kriegsfibel. Angesichts der problematischen Position der Lyrik fällt der hohe Ton der Kriegsfibel auf.92 Die vorwiegende Verwendung des sonst von Brecht wegen seiner »öligen Glätte« (BFA 22.1, S. 358) abgelehnten fünfhebigen Jambus und der Reime steht in eigentümlichem Kontrast zu den weder in Bildqualität noch Herkunft sonderlich kunstgemäß erscheinenden Fotografien. Christian Wagenallegorischen Bestimmung des photographischen Bildes. In: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 90-108 sowie ders.: D’un état mélancolique en photographie. Walter Benjamin et la conception de l’allégorie. In: Revue des Sciences Humaines 81 (1988), S. 9-23). 90 Hillach: Allegorie, Bildraum, Montage, S. 137. 91 Vgl. zum Zusammenhang von Melancholie, Müßiggang und Einfühlung in Zeitung und (historistischem) Studium vor allem die verstreuten Notizen im Konvolut »m [Müßiggang]« des Passagenwerks (GS V.2, S. 961-970), v.a. S. 969, wo mit demselben Zitat Flauberts zur Abfassung von Salammbô, das in den Thesen Über den Begriff der Geschichte die Verbindung zwischen der »Trägheit des Herzens« (GS I.2, S. 696) und dem Historismus herstellt, der »Zusammenhang des Studiums mit der melencolia« hergestellt und auf alle Formen des Müßiggangs (zu denen das Studium zählt) bezogen wird. 92 Vgl. auch Jost: Über die Frag-Würdigkeit, S. 236; Knopfs in der Forschungsliteratur oft übernommene Behauptung, es handele sich bei den Versen der Kriegsfibel um »Knittelverse« (Knopf: Brecht-Handbuch, S. 214), ist falsch.
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knecht hat als Gegenthese zu Grimms Aufsatz auf die Bedeutung der Epigrammatik für die Kriegsfibel hingewiesen.93 Obwohl er dabei denselben Fehler wie Grimm begeht, wenn er die Kriegsfibel ungebrochen in die Gattungstradition des Epigramms einordnet, kann er immerhin auf eine Form verweisen, die bereits größere Variationen in ihrer jeweiligen historischen Anwendung aufweist als das doch hauptsächlich barock geprägte Emblem, und die darüber hinaus in Brechts Auseinandersetzung mit lyrischen Traditionen in den Journalen einen zentralen Platz einnimmt.
2.3 Poetologie und literarische Tradition in den Journalen Die Probleme einer gegenwärtigen Lyrik, ihrer Wirksamkeit und ihres Verhältnisses zur literarischen Tradition lassen sich anhand verstreuter Aufzeichnungen und Text-Bild-Montagen in den Journalen, die auch in weiten Teilen den poetologischen Hintergrund für die Kriegsfibel darstellen,94 nachverfolgen. Über die Beschäftigung mit der vor allem griechischen Epigrammatik hinaus betrifft dies insbesondere die Auseinandersetzung mit den Klassikern der deutschen Literatur und ihrer Nachgeschichte. So sind die Montage der Überschrift »Deutsche Baumeister« über einer Fotografie des bombardierten Londons und das darauf folgende Bild des nationalsozialistischen Entwurfsplans für die Stadt Salzgitter nicht zufällig von Einträgen eingerahmt, die sich mit Goethe und Schiller bzw. dem Faust, also mit zentralen Bezugspunkten einer ›deutschen Kulturnation‹, beschäftigen.95 Die Bildcollage wird in die deutsche Kulturgeschichte eingebettet, damit aber zugleich die Frage nach den Folgen dieser Geschichte angesichts des Nationalsozialismus gestellt. Auf das Bild Salzgitters ist ein Foto von Brechts Sohn Stefan geklebt, von dessen Schullektüre auch der folgende Eintrag zum Faust handelt. Die Aneignung der literarischen Tradition durch die nachfolgende Generation ist nicht zu trennen von der Frage, welche Welt diese Generation von den »Deutschen Baumeistern« überliefert bekommt.
93 Christian Wagenknecht: Marxistische Epigrammatik. Zu Bertolt Brechts »Kriegsfibel«. In: Penkert (Hg.): Emblem und Emblematikrezeption, S. 543-559. 94 Vgl. Tom Kuhn: Poetry and Photography: Mastering Reality in the Kriegsfibel. In: Robert Gillett/Godela Weiss-Sussex (Hg.): »Verwisch die Spuren!«: Bertolt Brecht’s work and legacy. A reassessment. Amsterdam: Rodopi 2008, S. 169-189, S. 182 ff. 95 Vgl. BFA 26, S. 425 ff.; vgl. hierzu ausführlich Roland Jost: Journale. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Handbuch. Bd. 4: Schriften, Journale, Briefe. Stuttgart u.a.: Metzler 2003, S. 424-440, S. 439. Vgl. BFA 22.1, S. 436 ff.
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Wie sehr diese Fragen die eigene Arbeit betreffen, deutet eine wieder durch den Bezug auf die Weimarer Klassiker eingeleitete Reflektion über die Nachwirkung literarischer Werke an, deren Relevanz angesichts von Brechts eigener Situation 1941 auf der Hand liegt: »Werken eine lange Dauer verleihen zu wollen […] wird ernsthafter, wenn ein Schreiber Grund zu der pessimistischen Annahme zu haben glaubt, seine Ideen (d.h. die von ihm vertretenen Ideen) können eine sehr lange Zeit brauchen, um sich durchzusetzen« (BFA 26, S. 477 ff.). Die darauf folgende Montage von Zeitungsausschnitten nimmt das Thema wieder auf. Die erste Seite zeigt einen Ausschnitt aus der deutschen Wochenschrift Das Reich, bei dem der Zeitschriftentitel über die Fotografie einer Büste Prinz Eugens, dem laut Bildunterschrift »große[n] Feldherr und Staatsmann«, montiert ist. Unter dem Bild ist eine klassizistische Ode Fritz Diettrichs abgedruckt. Auf der folgenden Seite sind verschiedene Artikel zur schweizerischen Uraufführung von Brechts Mutter und der Programmzettel der Mutter Courage-Uraufführung (vgl. BFA, S. 478 ff.) zusammengestellt. Eine der Zeitungsmeldungen zur Mutter ist außerdem vom Bericht einer Gerichtsverhandlung flankiert, der mit einem Zitat aus der Mutter Courage eingeleitet wird. Die Gegenüberstellung der aktuellen Rezeption und Zitierbarkeit der eigenen Dramen und der Kulturpolitik der faschistischen Zeitschrift wird durch die Parallelen der Zusammenstellung von einmontierter Überschrift, Fotografie und Gedicht beim Ausschnitt aus Das Reich zu Brechts Fotoepigrammen noch verstärkt. So wie hier der ›erhabene‹ Gegenstand der Büste und der Ode einander entsprechen sollen, so klaffen in den Fotoepigrammen bildlicher Gegenstand und lyrische Form auseinander. Die Orientierung an klassischen Formen, wie sie die Wochenschrift propagiert, wird in den Journalen nie anders als in ihrer zeitgenössischen Problematik reflektiert. Die Beschäftigung mit den griechischen Epigrammen steht beispielhaft für diese Reflektion. Sie setzt in den Journalen mit der Erwähnung der von August Oehler übersetzten Anthologie griechischer Lyrik Der Kranz des Meleagros im Eintrag des 25.7.40 ein. Nur fünf Tage später heißt es bereits: »Mich in einigen Epigrammen versucht (›Die Requisiten der Weigel‹, ›Die Pfeifen‹, ›Finnische Speisekammer‹). Ganz unfähig, Dramatisches zu arbeiten« (BFA 26, S. 402). Zeugt bereits die Produktion der Epigramme von der Isolation des Flüchtlings und seinen prekären Arbeitsbedingungen,96 so sind den Gedichten selbst die Spuren ihrer Zeit umso deutlicher abzulesen. Die »wunderbare Gegenständlichkeit« (BFA 26, S. 401), die Brecht an den antiken Vorbildern bewundert, weicht hier der Erfahrung des Verlusts, des Exils und des Kriegselends: Die Requisiten der Weigel liegen un96 Vgl. auch den Eintrag vom 19.8.40: »Im Augenblick kann ich nur diese kleinen Epigramme schreiben, Achtzeiler und jetzt nur noch Vierzeiler. […] Und es handelt sich nicht um Hitlers augenblickliche Siege, sondern ausschließlich um meine Isolierung, was die Produktion betrifft« (BFA 26, S. 413 f.).
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benutzt, die Pfeife ist das einzige, was dem Flüchtling noch bleibt, und der Reichtum der finnischen Gutsspeisekammer erinnert an die, die hungern.97 Zwischen die Einträge vom 25. und 30.7.40 klebt Brecht nun allerdings einen Eintrag vom ersten des Monats. Solche chronologischen Sprünge, bei denen einzelne Einträge ausgeschnitten und an anderer Stelle eingeklebt werden, finden sich häufiger in den Journalen und stellen oft, ähnlich wie die Zusammenstellung von Text und Bild, auf den ersten Blick nicht ersichtliche thematische Verbindungen her. Im vorliegenden Fall handelt es sich um das Bild einer chinesischen Pferdestatue aus dem fünften Jahrhundert mit dem knappen Kommentar: »Ausschnitt aus einer Zeitschrift, mehrere Jahre alt, die Ausstellung hat Picasso wohl gesehen« (BFA 26, S. 402). Die Vermutung bezieht sich auf Picassos Guernica, dessen Reproduktion Brecht einige Tage zuvor in einer französischen Zeitschrift wohl zum ersten Mal sah und das »einen starken Eindruck« (BFA 26, S. 393) bei ihm hinterließ.98 Ob Picasso sich tatsächlich an der chinesischen Statue orientierte, sei dahingestellt; eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Pferd in Guernica kann man ihr jedenfalls nicht absprechen. Durch die Platzierung des Zeitungsausschnitts zwischen die beiden auf die Epigrammatik bezogenen Einträge rücken diese in die Nähe von Brechts Vorsatz, angesichts von Picassos Bild »in dieser Richtung einmal etwas zu machen«: »Das ist sehr wohl ein künstlerischer Ausdruck der Zeit, deren Astronomen die Welt mit dem Bild einer platzenden Granate erklären. Barbarischer Sturm, der eine Welt zerschmiß, musischer Sturm, der solche Scherben zusammenfegte! Interessante romantische V-Effekte, dabei klassizistische Form.« (BFA 26, S. 393)
Die der historischen Zerstörungskraft entsprechende Zerstörung der Form und die darauffolgende ästhetische Konstruktionsarbeit kennzeichnen auch Brechts Zusammenführung des Disparaten in den Montagen des Arbeitsjournals; es prägt darin aber ebenso seine Reflektionen zur Lyrik, die unter anderem in die Konstruktion der Kriegsfibel einfließen. Es geht hier durchaus nicht um eine Orientierung an Picassos Ästhetik; dagegen spricht bereits die Bezeichnung »romantische V-Effekte« ԟ eine Qualifizierung, die Brecht für seine eigene Verfremdungstechnik wohl kaum in Anspruch genommen hätte. Gleichwohl steht die »klassizistische Form«, die er in Picassos Bild wahrnimmt, in einer Parallele mit der Bewunderung für die alten Epigramme beim gleichzeitigen Wissen um die Unmöglichkeit, eine solche Lyrik in 97 Vgl. BFA 15, S. 11, BFA 12, S. 109, S. 99. 98 Vgl. zu Guernica im Arbeitsjournal: Philippe Invernel: L’œil de Brecht: à propos du rapport entre texte et image dans le Journal de travail et l’ABC de la guerre. In: Michel Varnoosthuyse (Hg.): Brecht 98. Poétique et politique. Montpellier: Université Paul Valéry 1999, S. 217-239, S. 221 ff.
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diesen Zeiten noch zu schreiben.99 Wieder findet dies seinen Niederschlag im Verhältnis des Texts zu den eingeklebten Bildern. Im Bezug auf die »altgriechischen Epigramme[ ]«, in denen »die von den Menschen verfertigten Gebrauchsgegenstände ohne weiteres Gegenstände der Lyrik [sind], auch Waffen«, weist Brecht auf die »moralischen Hemmungen« hin, »welche das Aufkommen solcher Lyrik der Gegenstände verhindern. Die Schönheit eines Flugzeugs hat etwas Obszönes« (BFA 26, S. 419 f.). Direkt unter den Eintrag ist das Foto der Instrumententafel eines Flugzeugcockpits eingeklebt (vgl. ebd.). Tags darauf, am 29.8.40, gibt Brecht mit dem Kommentar »Noch einmal das griechische Epigramm« (BFA 26, S. 420) drei solcher Epigramme in der von ihm leicht modifizierten Übersetzung Oehlers wieder, die ausnahmslos antike Waffen zum Gegenstand haben. Brechts Einleitungskommentar wird von der Bildunterschrift des hinter die Epigramme eingeklebten Zeitungsausschnitts aufgegriffen. Unter einem Foto mit einem Arm, der zwei Handgranaten hält, während eine dritte an der Wand lehnt, beginnt der Kommentar: »Und zuletzt: Bomben und Granaten in jedermanns Hand« (vgl. BFA 26, S. 421). Der »Abstieg« der Lyrik, den Brecht bereits anlässlich des gegenwärtigen Wissens von »den Problemen der griechischen Epigrammatiker« (BFA 26, S. 401) im Vergleich mit den ›Weimarern‹ beklagt und den er dann im Eintrag vom 22.8.40, motiviert durch die eigene »Sprachwaschung« (BFA 26, S. 416) in den finnischen Epigrammen, von Goethe bis zur Gegenwart weiter verfolgt, wird durch die Zusammenstellung der Epigramme mit dem Bild der Granaten sowie der temporalen Bestimmungen »noch einmal« – »und zuletzt« aus dem rein literarischen in einen sozialen Bezirk überführt. Die Konfrontation von Text und Bild zeigt die Unmöglichkeit einer ungebrochenen »Lyrik der Gegenstände«, wie sie im vorhergehenden Eintrag Gegenstand der Reflektion und bereits dort mit einer bildlichen Demonstration verbunden war. Ungefähr anderthalb Jahre später schreibt Brecht im mittlerweile amerikanischen Exil: »Hier Lyrik zu schreiben, selbst aktuelle, bedeutet: sich in den Elfenbeinturm zurückziehen. Es ist, als betreibe man Goldschmiedekunst. Das hat etwas Schrulliges, Kauzhaftes, Borniertes. Solche Lyrik ist Flaschenpost. Die Schlacht um Smolensk geht auch um Lyrik.« (BFA 27, S. 79 f.) Indem bei Smolensk der deutsche Vormarsch auf Moskau aufgehalten werden konnte, ist eine Situation, in der Lyrik »als menschliche Tätigkeit […], als gesellschaftliche Praxis mit aller Widersprüchlichkeit, Veränderlichkeit, als geschichtsbedingt und geschichtemachend« (BFA 26, S. 418) sinnvoll möglich und rezipierbar wird, zumindest perspektivisch 99 Ginzburg weist anlässlich des Anachronismus der klassizistischen Elemente in Guernica denn auch auf eine Bemerkung Brechts gegenüber Benjamin hin (vgl. Carlo Ginzburg: Das Schwert und die Glühbirne. Eine neue Lektüre von Picassos Guernica. Aus dem Engl. v. Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 52; vgl. auch GS VI, S. 539).
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wieder denkbar. Bis dahin muss sie »Flaschenpost« bleiben, eine Botschaft, in der die Isolation des Exils, das Elend des Kriegs und die Leiden der Zeitgenossen für die Nachgeborenen aufgehoben bleiben. Das unter dem Eintrag eingeklebte Bild einer Frau, die den vor einer zerstörten Rikscha liegenden Leichnam eines Kinds beweint, mit der Bildunterschrift »After the bombing (Singapore)« (vgl. BFA 27, S. 80), verweist so nicht allein auf das aktuelle Weltgeschehen – den Krieg in Südostasien und im Pazifik ԟ, sondern demonstriert damit auch jene Lage, die Lyrik zu einer ›schrulligen‹, ›bornierten‹ Beschäftigung werden lässt. Das Foto tritt hier wie im Fall des Fotos der Granaten nicht als schlicht unlyrischer Gegenstand der Poesie entgegen, sondern als Einspruch gegen die Vorstellung von Dichtung als abgeschlossenem Bezirk.
2.4 Das Gedächtnis der Namenlosen Das Bild der weinenden Frau in den Trümmern Singapurs nach einem japanischen Bombenangriff übernimmt Brecht mit der Bildüberschrift »Singapore Lament« in die Kriegsfibel (vgl. KF, Nr. 39). Kann es im Arbeitsjournal noch als besonders eindrückliches Bild des allgemeinen Leidens der Bevölkerung im Krieg angesehen werden, so wird die Perspektive hier mit der Überschrift spezifiziert. Die Wahl eines anderen Bildausschnitts, der die Frau stärker in den Vordergrund rückt, unterstützt diese Tendenz. Jedoch hat das Bild durch den mit der Überschrift hergestellten Bezug auf Singapur noch immer exemplarischen Charakter: Das Leid der Frau scheint für das Leid der Stadt im Allgemeinen zu stehen. An dieser Stelle setzt das darunter stehende Epigramm ein: »Der Sohn des Himmels, Frau, braucht Singapore / Und niemand als du selbst brauchst deinen Sohn« lauten die letzten beiden Zeilen. Der Gegensatz, der durch den Parallelismus der beiden Zeilen aufgebaut wird, und die chiastische Konfrontation vom »Sohn des Himmels« mit dem toten Kind setzt das persönliche Leid der Frau schließlich in Gegensatz zu dessen exemplarischem Gebrauch, den die Presseüberschrift nahelegt.100 Der ideologiekritische Widerspruch im Fokus auf das Schicksal der Einzelnen kennzeichnet viele der Fotoepigramme der Kriegsfibel. Es überrascht daher nicht, dass in den Fällen, in denen Brecht tatsächlich auf traditionelle Anwendungen des Epigramms zurückgreift, die Fotos Gräber zeigen bzw. die Gedichte als Inschriften für nicht vorhandene Gräber fungieren.101 Die 100 Vgl. hierzu ausführlicher Gerstner: Allegorische Kriegsberichterstattung, S. 188 f.; vgl. auch Kuhn: Poetry and Photography, S. 186 ff. 101 Hierzu sind v.a. die Nummern 5, 7, 10, 33, 44 und 45 zu zählen; die Epigramme 5, 7 und 10 sind als Gedenktafeln für die im Krieg des Hitler gegen Frankreich Gefallenen bzw. Gedenktafel für 4000, die im Krieg des Hitler gegen Norwegen versenkt wurden
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Grabinschrift, eine der ältesten Funktionen der Gattung,102 ist in der Kriegsfibel aber mit dem anonymen und massenhaften Sterben im modernen Krieg konfrontiert. Auf einigen der entsprechenden Bilder ist konsequenterweise das Grab selbst nicht zu sehen: Fotoepigramm Nr. 5, das auch unter die Gedenktafeln in die Steffinsche Sammlung aufgenommen ist, stellt mit dem Foto einer Wagenkolonne die Grabinschrift der triumphalen Ikonografie der Kriegspropaganda gegenüber, Nr. 44 kann als Grab höchstens den ausgebrannten Panzer zeigen, auf den der Schädel eines japanischen Soldaten gespießt wurde, und die Epigramme Nr. 7 und Nr. 33 beziehen sich auf Bilder der Landschaften, in denen die Toten liegen. Das Foto des »fernen Kaukasus«, in dem der »schwäbische[ ] Bauernsohn« laut Fotoepigramm Nr. 33 liegt, ist besonders aufschlussreich, zeigt es doch nicht das Luftbild eines tatsächlichen Schlachtfelds in der Sowjetunion, sondern eine Sandkastensimulation. Die Substitution des Orts, an dem der Tote liegt, durch ein Modell wiederholt und potenziert, was in der Fotografie bereits wirksam ist. Wenn mit dem Grab das »Bild eines Ortes«103 gegeben ist, an dem der Tote zur Ruhe kommen kann und soll, so sind diese Fotos Bilder von Nicht-Orten, Orten, die weder Ruhe noch Erinnerung garantieren. Auch dort, wo das Foto tatsächlich ein Grab zeigt, handelt es sich um Bilder von anonymen Gräbern, so dass der spezifische Objektbezug eines Grabepigramms, der Name des Toten, hier wegfallen muss. Die Anonymität der Toten kann sogar zur eigentlichen Pointe des Epigramms werden. In dem am deutlichsten als Grabinschrift gekennzeichneten Fotoepigramm Nr. 10, das schwarz grundiert wie eine Tafel auf die Fotografie eines Grabs mit der Inschrift »Ynconnu« montiert ist, thematisiert bereits das Bild die Namenlosigkeit des Toten. Der Kontext innerhalb der Kriegsfibel legt es nahe, ihn als in Frankreich gefallenen deutschen Soldaten zu identifizieren, der nun Hitler oder dem Faschismus allgemein als dem »Erzfeind« wünscht, »[d]aß er verrecke«.104 Die Anonymität seines Grabs aber erst erlaubt es, diesen »letzte[n] Wille[n]« zu formulieren: »Und ich kann’s sagen: denn nur die Loire / Weiß, wo ich nunmehr bin und eine Grille.« Indem es erst im Tod möglich wird, gegen die Herrschaft zu zeugen, die den Soldaten ins Grab brachte, wandelt sich das Gedicht von einer Totenklage zur Anklage gegen jene, deren sprechendste Ankläger die Toten sind. Auch das andere Epigramm zu einem Grab endet mit dem Aufruf der Toten an die Lebenden, die Verantwortlichen für ihren Tod zu
ohne Fotografie und mit leichten Varianten in die Steffinsche Sammlung aufgenommen (vgl. BFA 12, S. 99 f.). 102 Vgl. Peter Hess: Epigramm. Stuttgart: Metzler 1989, S. 4. 103 Hans Belting: Bild-Anthropologie, S. 156. 104 Textextern legt dies auch die Aufnahme des Gedichts unter die Gedenktafeln für die im Krieg des Hitler gegen Frankreich Gefallenen in die Steffinsche Sammlung nahe.
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bestrafen.105 Statt auf die Totenruhe, die auch Beruhigung angesichts der Toten bedeutet, zielen die nicht zufällig in der ersten Person geschriebenen Epigramme auf das Weiterwirken der Umstände ab, die zum Tod dieser Menschen führten. Nicht nur die Anonymität des unbekannten Soldaten, sondern auch die Tatsache, dass der Ort seines Grabs unbekannt ist, macht es ihm dabei möglich, die Wahrheit über den »Erzfeind« zu verkünden. Sein Grab kann nicht in eine Heldenverehrung eingebunden werden. Die Beschriftungen der Fotos von Gräbern und Schlachtfeldern nehmen diese aus den hegemonialen Diskursen der Heldenverehrung heraus, indem sie auf die Toten innerhalb der Triumphe hinweisen oder diese selbst als unabgegoltene ԟ aber nicht schuldlose ԟ Opfer der Herrschenden sprechen lassen. »Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht« (GS I.3, S. 1241) heißt es in Benjamins Paralipomena zu Über den Begriff der Geschichte. Auch Brechts Konstruktion einer Geschichte des Weltkriegs arbeitet hier aus den Materialien der Presse jene Dimension heraus, die in den offiziellen Darstellungen zu verschwinden droht. Steinaecker ist daher zuzustimmen, wenn er schreibt, die Kriegsfibel sei ein »Beitrag zur Gedächtnispolitik«.106 Die Funktion der Fotos allerdings dahingehend zu bestimmen, dass sie »das tatsächliche Leid und den Schrecken des Krieges zeigen« und »emotionalisieren […], weil der Betrachter durch die Wahl des Mediums weiß, daß das Abgebildete sich wirklich ereignet hat«,107 greift zu kurz und fällt hinter die eigene Einsicht zurück, dass sich in den Bildern die Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs »als von vornherein vermittelt und codiert«108 zeigt. Die Fotografien dokumentieren nicht einfach die Kriegsereignisse, sondern sind auch und vor allem Dokumente ihrer Herkunft. Dabei geht es nicht einfach um den Aufweis der ideologischen Botschaften der Zeitungen und der Propaganda, es geht auch um die Medialität von Krieg und Geschichte ԟ und das heißt auch der Medialität als Teil der Geschichte ԟ und des darin vermittelten Blicks. Das Motiv des Blicks und seiner Privation in der Blindheit zieht sich ԟ zusammen mit der verwandten Metaphorik des Lichts und der Dunkelheit oder des Schlafens und Wachens ԟ durch die gesamte Kriegsfibel und geht bei einem Werk, das in seiner Gestaltung so sehr auf Visualität setzt, selbstverständlich über die reine The105 Vgl. KF, Nr. 45; Grimm hat bei diesem Fotoepigramm auch auf eine motivische Entsprechung in der Emblematik verwiesen (vgl. Grimm: Marxistische Emblematik, S. 526 f.; vgl. auch Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart, Weimar: Metzler 1996, S. 1021), und in der Tat scheint der Handschuh auf dem Grabkreuz als Verweis auf Gott den Gestus barocker Allegorien zu zitieren, den im gleichen Zug aber die atheistische Wendung des Epigramms negiert. 106 Steinaecker: Literarische Foto-Texte, S. 89. 107 Ebd. 108 Ebd., S. 81.
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matisierung in den Gedichten hinaus.109 Der Blick betrifft aber auch die Wechselwirkungen des Kamera-Blicks und der nachträglichen Betrachtung. Im bereits zitierten Fotoepigramm Nr. 8 deutet sich dies in einem Tempuswechsel von der ersten zur zweiten Zeile an: »Nach einem Feind seh ich euch Ausschau halten / Bevor ihr absprangt in die Panzerschlacht«. Die erste Zeile nimmt noch die Perspektive des gegenwärtigen Betrachters ein,110 der sich über den vorsichtigen Blick des Soldaten vorne im Bild keine Klarheit mehr verschaffen kann: »War’s der Franzos, dem eure Blicke galten? / War’s euer Hauptmann nur, der euch bewacht?« Der Soldat scheint aber in Richtung der Kamera zu sehen. Der Blick des nachträglichen Betrachters, der sich angesichts des Blicks auf dem Bild fragt, ob der Soldat wusste, dass sein wahrer Feind der eigene Hauptmann ist, ist zugleich der Blick dieses Feinds, den der Soldat im Auge behält. Die Perspektive auf die Vergangenheit, zumal die des Krieges, ist von vornherein, und nicht erst mit dem Abdruck in Zeitschriften und den dazugehörigen Bildunterschriften, eine ›interessierte‹ Perspektive und es bedarf der nachträglichen Anstrengung, die Bedingung des Bildes als die der Herrschaft zu erkennen. Fotoepigramm Nr. 12 ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, ist es doch das einzige, das den Moment der Aufnahme eigens thematisiert. Die äußerst unscharfe Fotografie lässt im Vordergrund einen deutschen Soldaten erkennen und weiter hinten, vor einer Wand, zwei Männer, die einem dritten offenbar die Augen verbinden. Dass es sich um die Vorbereitungen zu einer Erschießung handelt, wird vor allem durch den sarkastischen Kommentar der Bildunterschrift deutlich: »The Germans were ›kind‹ to this Frenchman. They blindfolded him before he was shot.« Das Epigramm greift den Zynismus der Szene auf, verzichtet aber im Gegensatz zur Bildunterschrift darauf, die Nationszugehörigkeit der Akteure anzugeben: »So haben wir ihn an die Wand gestellt: Mensch unsresgleichen, einer Mutter Sohn Ihn umzubringen. Und damit die Welt Es wisse, machten wir ein Bild davon.«
109 Vgl. zu dem Motiv Feddersen: Kriegsfibel, S. 389; vgl. in der Kriegsfibel besonders Nr. 56, wo die übertragene und wörtliche Bedeutung von Blindheit und Sehen in komplexer Weise ineinander übergreifen. Sehen kann als physischer Akt mit ideologischer Blindheit einhergehen – was für die Bedeutung der Fotos natürlich nicht ohne Auswirkungen bleiben kann. 110 Lang sieht hier die »Haltung des Exilierten, der über die Denkweise seiner Landsleute nicht sicher sein konnte« (Joachim Lang: Brechts Sehschule. Anmerkungen zur »Kriegsfibel«. In: Jan Knopf (Hg.): Brecht-Journal 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 95-114, S. 101), zum Ausdruck kommen.
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Das Endgültige des Tötens wird im Epigramm nur von der Zäsur in der dritten Zeile angedeutet; der Vorgang der Hinrichtung selbst tritt dann hinter dem Akt des Fotografierens zurück, welcher wiederum in eigentümlicher Umkehrung zu den Erschießungsvorbereitungen steht: Dem zu Erschießenden werden die Augen verbunden, während die Welt gerade dies sehen soll. Man sieht den Blick der Täter, derer, die ausblenden, dass es ein »Mensch unsresgleichen« ist, den sie nun töten werden. Die mediale Vermittlung ist ganz unmittelbar Teil der Schrecken des Kriegs. Der in der Kamera vergegenständlichte distanzierende Blick wird zum Aufweis der Unmenschlichkeit und zur Entsprechung der Erschießungshandlung.111 Die hier vergegenständlichte Gewalt des Blicks in der Fotografie sollte nicht als genereller Kommentar zur Komplizenschaft von visuellen Medien und Kriegstechnik verstanden werden.112 Eher ist die aufgezeigte Verbindung Hinweis auf den Gewaltzusammenhang, aus dem die Überlieferung der Bilder sich herleitet und in dem sie weiterhin steht, der als ihre Bedingung selbst aber nicht sichtbar wird. Die Fotoepigramme kommentieren damit nicht bloß die auf den Fotografien dargestellten Ereignisse,113 sondern in der Übernahme der Fotografien aus der illustrierten Presse auch deren Sichtbarkeit, ihre konstitutiven Ausschlüsse und den Gebrauch, dem sie durch verschiedene Beschriftungen – die der Epigramme eingeschlossen ԟ unterworfen sind.114 Zugleich versucht die Kriegsfibel als Geschichtsschreibung im vorgefertigten Material der Presse eine Perspektive zu finden, die ihrerseits in deren Vermittlung ausgeschlossen bleibt. Anhand von Fotoepigramm Nr. 40 lässt sich vor allem letzterer Aspekt der Auseinandersetzung mit massenmedialen Tradierungsmustern des Krieges verdeutlichen. Das Foto zeigt einen amerikanischen Soldaten vor einer Leiche im Dschungel. Die lässige, an einen Western oder eben Kriegsfilm erinnernde Geste, mit der der Soldat an seiner Zigarette zieht, erklärt sich gewissermaßen aus der Vorgeschichte des Bilds im Begleittext: »An American and the Jap he killed. Pfc Wally Wakeman says: ›I was walking down the trail when I saw two fellows talking. They grinned and I grinned. One pulled a gun. I pulled mine. I killed him. It was just like 111 Ohne dass es im jeweiligen Epigramm thematisiert würde, ist dieser Blick auch in anderen Fällen relevant, u.a. den Luftbildaufnahmen bombardierter Städte (Nr. 16, 17, 21); vgl. hierzu auch Bajorek: Holding fast, S. 105; vgl. allg.: Bernd Hüppauf: Der entleerte Blick hinter der Kamera. In: Heer/Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg, S. 504-527, bzw. die etwas längere englische Version: Emptying the Gaze: Framing Violence through the Viewfinder. In: New German Critique 72 (1997), S. 3-44. 112 Vgl. dazu am prominentesten Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Aus dem Französischen v. Frieda Grafe und Enno Patalas. München, Wien: Hanser 1986. 113 Vgl. dagg. Feddersen: Kriegsfibel, S. 395. 114 Vgl. Hunter: Image and Word, S. 172 f.
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in the movies‹« (KF, Nr. 40). Die Fantasien des Kinos werden zur Vorlage des Kriegserlebnisses und der sich daran anschließenden Erzählung, in ihrer Diktion schon an Groschenromane oder sogar an Filmschnitte erinnernd, sowie der ihr entsprechenden Ikonografie. Der Tod ist in dieser Erzählung die notwendige Konsequenz, unvermeidlich, wenn man den Genrekonventionen folgt, und die Leiche auf der Fotografie ein unverzichtbares Requisit. Das fotografische Nachbild gleicht sich dem Vorbild an, um mit ihm als Erinnerungsschema die Vergangenheit zu beglaubigen; was es darin aber auch beglaubigt, ist in der Bestätigung der Konvention das mediale Vorbild selbst. Es ist bemerkenswert, dass Brecht diese Vorlage seines Materials nicht aufgreift. Im Gegenteil paraphrasiert das Epigramm zwar praktisch die gesamte Erzählung des Soldaten, isoliert sie aber, indem die ›Pointe‹ der unwillkürlichen medialen Selbstreflexivität ausgelassen wird, vom Kontext ihrer massenmedialen Vermittlungen. Die Auslassung ist auffällig genug, um selbst als Betonung zu wirken. Gerade die Diskrepanzen und Abweichungen, sei es im Verhältnis der Epigramme zum Bild oder seinem Text, sei es in der Metrik oder in anderer Hinsicht, sind in der Kriegsfibel oft von größter Bedeutung. So ist es hier nicht bloß der Verzicht auf ein Detail der Erzählung, sondern auch eine Abweichung in der Übersetzung, in der sich eine entscheidende Umwendung der Perspektive vollzieht. Brecht übersetzt das ›grin‹ der Erzählung nämlich nicht, wie dies die Übersetzung der Bildunterschrift auf der linken Seite korrekterweise tut, mit »grinsen«, sondern als Lächeln: »Als wir uns sahn ԟ ’s war alles schnell vorbei ԟ Ich lächle und die beiden lächeln wieder. So lächelten wir erstmal alle drei, Dann zielte einer, und ich schoß ihn nieder.« (KF, Nr. 40)
Das Lächeln macht hier nicht einfach, wie Bohnert meint, indem es »Präliminarium des Mordens« geworden ist, den »Krieg als alleräußerstes Stadium der Entfremdung kenntlich«.115 Zweifellos verstärkt die Übersetzung des Epigramms den Kontrast zwischen dem blutigen Ausgang der Begegnung und der vorhergehenden Situation mehr, als dies das eher verlegen wirkende Grinsen in der Erzählung des Soldaten tut. Indem das Lächeln der ersten Begegnung in der zweiten Zeile aber im Gegensatz zum Rest des Gedichts im Präsens gehalten ist, scheint die Möglichkeit eines humanen und freundlichen Umgangs der Menschen miteinander, kurz bevor sie verschwindet ԟ »’s war alles schnell vorbei« ԟ, noch einmal als noch immer aktuelle, weil uneingelöste Gegenwart auf. Die fertige Fotografie ist so endgültig wie der Tod des Japaners, doch das Epigramm geht auf die Aktualisierung dessen,
115 Bohnert: Brechts Lyrik, S. 272.
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was von der in mehrfacher Hinsicht medial bestimmten Überlieferung ausgeschlossen und auf dem Bild nicht mehr sichtbar ist. Man kann, um abermals Benjamin heranzuziehen, in der Hervorhebung des Lächelns vielleicht den Versuch sehen, dem Bild so etwas wie die »Jetztzeit«, um die sich dessen Geschichtstheorie dreht, abzugewinnen. Wird mit dem Moment der kurzen Begegnung nicht »ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte« (GS I.2, S. 695), beschrieben? Ein solcher Moment muss nicht vom Epigramm allein konstruiert werden; er kann auch im Zusammenspiel von Bild und Text im Foto hervorgehoben werden. Kienast schreibt, ebenfalls mit einem freien Bezug auf Benjamin, die Epigramme »vermögen […] den Zeitungstexten nur deshalb ›Wahrheit‹ […] entlocken, weil die Bilder als ›optisch Unbewußtes‹ schon von vornherein jenes kollektive Erinnerungspotential bergen, daß [sic] ihnen die Epigramme zuschreiben.«116 Ein Beispiel für eine Aktualisierung eines solchen Erinnerungspotentials mag bezogen auf die Fotografie des bombardierten Singapur (vgl. BFA 27, S. 80; KF, Nr. 39) in einer Geste Helene Weigels gesehen werden. In den Modellbüchern zur Mutter Courage gibt es ein Foto, auf dem ihre Darstellung von Mutter Courages Trauer bei der Hinrichtung ihres Sohns die Haltung der Mutter vor dem toten Kind auf dem Foto aus Singapur zu wiederholen scheint.117 Brecht schreibt dazu: »Der Ausdruck äußersten Schmerzes nach dem Anhören der Salve, der schreilos geöffnete Mund bei zurückgebogenem Kopf stammt vermutlich von der Pressefotografie einer indischen Frau, die während der Beschießung von Singapur bei der Leiche ihres getöteten Sohnes hockt. Die Weigel muß sie vor Jahren gesehen haben, wiewohl sie sich auf Befragen nicht daran erinnerte.« (BFA 25, S. 203 f.)
Bei aller Ambivalenz von Mutter Courages Schmerz, die am Tod ihres Sohns schließlich nicht ganz unschuldig ist, scheint hier eine Zitierbarkeit des Gestus vorzuliegen, in der so etwas wie eine unbewusste, körperliche Erinnerung an vergangenes Leid aufgehoben ist und diesem etwas Unabgeschlossenes gibt. Tradierung und Aktualisierung werden auch sonst in der Kriegsfibel mit dem Kommentar der Bilder durch die Epigramme und dem Gestus des Zitierens und Zeigens der Presseausschnitte auf durchaus unterschiedliche Weise angestrebt. Der Bezug auf ältere literarische Formen und der hohe Ton der Epigramme sind dabei Mittel der Verfremdung, die den Gegenstand der Bilder ebenso wie diese selbst und ihre jeweilige 116 Kienast: Kriegsfibelmodell, S. 291. 117 Vgl. BFA 25, S. 318; Invernel weist außerdem auf die Nähe von Weigels ›stummem Schrei‹ zur »mère au cou disloqué dans le Guernica de Picasso« hin (Invernel: L’œil de Brecht, S. 231).
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textuelle Rahmung einmal historisieren und als zeitbedingt herausstellen, damit aber auch die Darstellung auf Distanz bringen. Mit den Fotografien wird so gerade keine Unmittelbarkeit und kein Dokumentarismus verbunden, wenn ›dokumentarisch‹ ein Abbild der Realität sein soll, sondern eine Kritik dieses Dokuments als Kommentar zur Medialität der Geschichte. Das Motiv des »Bilderlesens«, das so oft für eine rein entlarvende, ideologiekritische Lektüre der Kriegsfibel in Anspruch genommen wurde, verknüpft Ruth Berlau in ihrem Vorwort explizit mit dem Thema der Erinnerung: »Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen.«118 Die Pressekritik stünde in dieser Lesart durchaus weiter im Vordergrund, aber sie ließe sich durch den Verweis auf das Vergessen erweitern. Es gibt Repräsentationen der im 20. Jahrhundert zunehmend durch Fotografien überlieferten Geschichte, die einem Vergessen näher stehen als dem Erinnern. Der verfremdende, im doppelten Sinn präsentierende Gebrauch der Fotos in der Kriegsfibel will aus den Zeugnissen der Zeit den Anspruch der Vergangenheit des Nationalsozialismus und des Kriegs an die Gegenwart hervorkehren. Brechts Gebrauch der Fotografie zielt dabei auf eine Transformation der Fotos in Gedächtnismedien in einem emphatischen Sinn ab, indem er sie dem auf schnellen Konsum und Tagesaktualität angelegten Kontext der Presse entnimmt und auf das im Bild Ausgeschlossene hinweist. Das betrifft sowohl den ausgeblendeten medialen Vermittlungszusammenhang der Bilder als auch die anonymen Opfer des Kriegs. Zugleich reißt der Umgang mit diesen Bildern sie aus dem Zusammenhang grandioser Geschichtskonstruktionen und setzt sie im dialogischen Wechselspiel von Bild und Texten der kritischen Aktivität der Leserinnen und Leser aus. Die formale Anlage der Kriegsfibel – und auch die intermedialen Reflektionen Brechts in den Journalen ԟ lassen sich dabei nicht nur an Benjamins Überlegungen zur Montage und zum epischen Theater anschließen, sondern darüber hinaus an dessen geschichtsphilosophische Entwürfe. Auch dort wurde mit fotografischen Metaphern sowie im Bezug auf die Bedeutung der Fotografie für einen veränderten Umgang mit den Traditionsbeständen eine Haltung der kritisch-aktualisierenden Revision der Vergangenheit gefordert, wie sie ähnlich Brechts Umgang mit der literarischen Tradition bestimmt. Die Montage diente dabei als Modell eines diskontinuierlichen Zeitbegriffs, der nicht nur im formalen Aufbau der Kriegsfibel, sondern ebenso in der Zeitstruktur des Mediums Fotografie eine Entsprechung findet. Obwohl die Beschränkung der Fotografie auf einen zeitlichen und räumlichen Ausschnitt den hier diskutierten Verfahren entgegenkommt und gerade in Benjamins Metaphorik ihren Niederschlag gefunden hat, bleibt der ästhetische Umgang mit den Fotos entscheidend. Ähnlich wie in Benjamins fototheoretischen Schriften der »historische Index« der Bilder in deren Beschreibung konstruiert werden muss, zielt Brechts Kombina118 Berlau: Vorwort, o. P.
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tion von Foto und Text auf eine Aktualität der Erinnerung ab, die über den Zeitindex der Fotografie und die Tagesaktualität der Presse hinausgeht.
II.
Fotografie und Literatur nach Auschwitz
Unter den Entwürfen zur Kriegsfibel befindet sich ein Foto, das ohne Epigramm geblieben ist. Es zeigt einen Berg Schuhe mit der Bildunterschrift: »Part of the vast accumulation of shoes which Edgar Snow describes as ›the most sickening display of all in this evidence of mass murder.‹ Among them are hundreds of babies’ shoes« (KF, 89). Das Bild zeugt von einer Abwesenheit in doppelter Hinsicht. Denn nicht nur die Schuhe auf dem Foto verweisen als letzte Überreste auf die Toten, deren Leichen in den Krematorien der Vernichtungslager verbrannt wurden, sondern auch das Bild selbst zeugt als unfertiger Entwurf von einer Lücke in Brechts Darstellung des Weltkriegs. Sieht man von der Thematisierung des Antisemitismus mit der Zeile »Wer schleppt das bißchen Futter weg? Der Jud!« (KF, o. P.) in einem ebenfalls unter den Entwürfen befindlichen, bildlosen Epigramm und dem recht allgemein gehaltenen und von jedem Bezug zu den deutschen Verbrechen freien Verweis auf das Elend der jüdischen Flüchtlinge, die vergeblich nach Palästina zu gelangen versuchen (vgl. KF, 48), ab, ist es die einzige Referenz auf die Vernichtung der europäischen Juden im Kontext der Kriegsfibel. Angesichts des Massenmords in Auschwitz scheinen die Form und vor allem der politische Impetus des Fotoepigramms an ihre Grenzen zu kommen.1
1
Was Brecht unterlässt, holt Gerhard Schoenberner nach: Auf der letzten Seite seines Fotobuchs Der gelbe Stern steht unter dem Bild zweier Frauen nach der Befreiung BergenBelsens das Epigramm Nr. 59 (»Und alles Mitleid, Frau…«) aus der Kriegsfibel, das sich dort auf das Foto einer Frau vor den Leichen eines Massakers der Wehrmacht bezieht (vgl. Gerhard Schoenberner: Der gelbe Stern. Die Judenvernichtung in Europa 1933 bis 1945. Durchgesehene u. erweiterte Neuauflage. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 290). Auch hier bezieht sich das Epigramm aber auf ein Bild der Befreiung, das zudem als Motiv der Hoffnung interpretiert werden kann, nicht auf ein Bild der Vernichtung (zu Schoenberner allg. vgl.: Brink: Ikonen der Vernichtung, S. 146 ff.).
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Brecht scheint dies durchaus reflektiert zu haben. In einer der wenigen Erwähnungen, die der Holocaust2 in den Journalen findet, ist die Rede davon, »daß beim Anblick von Auschwitz die Literatur in Ohnmacht fällt« (GBA 27, S. 312). Diese Ohnmacht ist wohl zunächst als die einer engagierten Literatur zu verstehen. Wie sollte dem massenhaften Mord noch eine ideologiekritische und auf universelle Befreiung abzielende Perspektive, wie sie die Kriegsfibel bestimmt, gegenübergestellt werden? Es wäre allerdings zu fragen, ob dies allein die politische Haltung von Brechts Auseinandersetzung mit den Fotografien des Weltkriegs betrifft oder auch deren formale Herangehensweise. Während der Umgang mit den Fotos in der Kriegsfibel zu großen Teilen noch auf die Bemerkung aus dem Dreigroschenprozeß, die Fotografie moderner Industriebetriebe ergebe »beinahe nichts über diese Institute« (BFA 21, S. 469), beziehbar ist, wird schließlich gerade dort, wo der Tod industriell und mit grauenhafter Funktionalität betrieben wird, auf eine Konstruktion verzichtet und das Foto allein stehen gelassen. Den Verzicht aufs Epigramm nun seinerseits als Konstruktion zu begreifen, etwa im Sinne einer Illustration von Adornos folgenreichem Satz, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch,3 wäre schon angesichts des bloßen Entwurfscharakters der fraglichen Seite etwas zu spekulativ. Und doch ließe Brechts Entwurf sich in den Kontext der Debatte um eine angemessene Darstellung von Auschwitz einbeziehen, die besonders in Deutschland lange Zeit von einer meist einseitigen Interpretation des Adorno-›Diktums‹ beherrscht wurde.4 Dies weniger im Sinn der moralischen Problematik einer (künstlerischen) Repräsentation über-
2
Die angemessene Bezeichnung für den nationalsozialistischen Massenmord gehört bekanntlich selbst zu den Problemen, die dieser der späteren Annäherung stellt. Auch wenn hier zum größten Teil die Chiffre »Auschwitz« verwendet wird, greife ich gelegentlich auf die heute wohl gebräuchlichsten Begriffe »Holocaust« und »Shoah« zurück. Die Festlegung auf einen Begriff dagegen suggeriert, es gäbe tatsächlich einen adäquaten Begriff, dem die Nachteile der übrigen abgehen (vgl. zur Geschichte der Begriffe: Sascha Feuchert: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Holocaust-Literatur. Auschwitz. Arbeitstexte für den Unterricht. Sekundarstufe I. Stuttgart: Reclam 2000, S. 5-29, S. 5 ff.).
3
»Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.« (Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, S. 11-30, S. 30).
4
Vgl. hierzu u.a. die Arbeit von Stefan Krankenhagen: Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln: Böhlau 2001; vgl. auch die Dokumentation von Petra Kiedaisch (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam 1995.
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haupt, die eben auch das Problem der engagierten Literatur beträfe,5 sondern eher im Sinne dessen, was Koch in Abgrenzung von der moralischen als die »materiale Frage« bezeichnet, »wie und ob Auschwitz der ästhetischen Repräsentation und Imagination eingeschrieben werden kann und ist.«6 Selbstverständlich kann auch jenseits einer generellen moralischen Problematisierung von ästhetischen Zugängen zu Auschwitz die Frage nach einer angemessenen Darstellung im Sinne der Repräsentationsmodi von ethischen Aspekten nicht völlig getrennt werden. Hinsichtlich der Frage, wie eine Darstellung des Mords an den europäischen Juden überhaupt erreicht werden kann, verweist Hayden White auf »the kind of style, the modernist style, that was developed in order to represent the kind of experiences which social modernism made possible«.7 Diesem »Stil« ließe sich auch die Konstruktion im Sinne Benjamins und Brechts zurechnen. Whites Begründung, die ästhetischen Formen der Moderne seien deshalb zur Repräsentation der Shoah geeignet, weil sie in einem gesellschaftlichen Umfeld entwickelt wurden, das schließlich auch Auschwitz hervorbrachte,8 ist von Brechts Begründung seines ästhetischen Konzepts durch die zeitgenössische Natur der gesellschaftlichen Antagonismen nicht allzu weit entfernt. Dass im erwähnten Entwurf zur Kriegsfibel aber auf einen entsprechenden Versuch verzichtet oder keine befriedigende Lösung gefunden wurde, mag sicher auch am rhetorischen Gestus der Epigramme liegen. Der Versuch, dort, wo es nicht um unmittelbare Ideologiekritik am Foto geht, den namenlosen Toten ohne Grab eine Stimme zu geben,9 erscheint im Fall der Opfer aus den Vernichtungslagern kaum möglich: Wäre es bereits problematisch, den toten Juden in derselben Weise eine Mahnung in den Mund zu legen, wie dies bei den toten Soldaten, deutschen zumal, geschieht, so ist dies mit ihren Schuhen schlichtweg unmöglich. Die Frage, ob angesichts dessen der Verzicht auf ein Epigramm zu Auschwitz in der Kriegsfibel nun als Zeichen von deren Integrität – da sie den Völkermord gar 5
Gerade unter diesem Aspekt hat Adorno seinen Ausspruch zur Kunst nach Auschwitz in einer Widersprüchlichkeit reformuliert, die sich schwerlich als Verdikt lesen lässt, vgl. Theodor W. Adorno: Engagement. In: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 409-430, S. 422 ff.
6
Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Juden-
7
Hayden White: Historical Emplotment and the Problem of Truth. In: Saul Friedlander
tums. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 143. (Hg.): Probing the limits of representation. Nazism and the »Final Solution«. Cambridge (Mass.), London: Harvard University Press 1992, S. 37-53, S. 52; zur kritischen Auseinandersetzung mit White vgl. im selben Band v.a. Carlo Ginzburg: Just One Witness, S. 82-96; Martin Jay: On Plots, Witnesses, and Judgements, S. 97-108, v.a. S. 100 ff. 8
Vgl. ebd., S. 51 f.
9
Vgl. oben, Abschnitt 2.4 im Kapitel zu Benjamin und Brecht.
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nicht erst ihrer Deutungsperspektive unterwirft und ihn nicht als ein Weltkriegsereignis unter anderen einordnet ԟ oder eben als ein Versäumnis beurteilt werden sollte, soll hier nicht entschieden werden. Für die vorliegende Fragestellung ist es fruchtbarer, ausgehend von dem Foto, das von diesem Fehlen in der Kriegsfibel zeugt, die Frage nach den Problemen der Darstellung gerade im Hinblick auf das Verhältnis von Schreiben und Fotografie zu stellen. Das Problem der angemessenen Repräsentation von Auschwitz – und noch allgemeiner: ihrer Möglichkeit ԟ stellt sich gerade im Fall der Fotografie in besonderer Schärfe. Zwar trifft längst auch hier zu, was Nicolas Berg, Jess Jochimsen und Bernd Stiegler 1996 als Wandel in den allgemeinen Diskussionen zur Darstellbarkeit verzeichneten: Die »Infragestellung der Aussagbarkeit und Tradierbarkeit der Shoah wurde abgelöst durch eine Reflexion über die Darstellungsformen und ihre Voraussetzungen und Konsequenzen.«10 Es gibt inzwischen einige Arbeiten, die sich mit der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte, den Repräsentationsmodi und dem Gebrauch von Fotografien des Holocaust beschäftigen.11 Dennoch bleibt, angesichts des spezifischen Dokumentarismus, der mit Fotos nach wie vor verbunden ist, sowie der scheinbaren Unmittelbarkeit des Anblicks und nicht zuletzt der Verkomplizierung der Blicke im Bild die Problematik der Repräsentation hier in besonderer Weise virulent. Die Virulenz zeigt sich nicht zuletzt in den heftigen Reaktionen, die ein Beitrag Georges Didi-Hubermans zum Ausstellungskatalog Mémoire des camps12 vor allem in der von Claude Lanzmann herausgegebenen Zeitschrift Les temps modernes her10 Nicolas Berg/Jess Jochimsen/Bernd Stiegler: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Shoah - Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München: Fink 1996, S. 7-11, S. 7. 11 Vgl. hier v.a. Brink: Ikonen der Vernichtung; Barbie Zelizer: Remembering to forget. Holocaust memory through the camera’s eye. Chicago, London: University of Chicago Press 1998; Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg: Hamburger Edition 2001; Janina Struk: Photographing the Holocaust. Interpretations of the evidence. London, New York: Tauris 2005. Mit der musealen Präsentation der Bilder und ihrer Verwendung in Werken v.a. der bildenden Kunst beschäftigt sich Andrea Liss: Trespassing through shadows. Memory, photography, and the Holocaust. Minneapolis u.a.: University of Minnesota Press 1998. In Dagmar Barnouws Ansichten von Deutschland (1945) (Basel, Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Nexus 1997) geht es dagegen um die Rolle der Fotos aus den KZs beim amerikanischen Blick auf die Deutschen nach dem Krieg – eine Fragestellung, die bei Barnouw teilweise bedenkliche Züge annimmt, etwa wenn es heißt, die »andauernde politische Verantwortlichkeit« Westdeutschlands für die NS-Zeit sei »den Juden so wichtig« gewesen (S. 48). 12 Clément Chéroux (Hg.): Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d’extermination nazis (1933-1999). Paris: Marval 2001.
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vorrief und die schließlich dazu führten, dass er den entsprechenden Aufsatz mit einer ausführlichen Erwiderung auf die Vorwürfe zu einer eigenständigen Veröffentlichung zusammenstellte.13 Didi-Huberman hatte vier klandestin von Mitgliedern des sogenannten Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau aufgenommene Fotografien untersucht, auf denen das Verbrennen von Leichen im Hof vor dem Krematorium zu sehen ist sowie eine Gruppe von Frauen, die nackt in die Gaskammern getrieben werden. Auf der vierten Fotografie ist kaum etwas zu erkennen: einige Sonnenflecken und Umrisse, wahrscheinlich von Bäumen. Die Fotografien waren lange bekannt; sie wurden ԟ bis auf die vierte, aus naheliegenden Gründen ԟ oft abgedruckt, rekadriert und sogar retuschiert. Didi-Huberman geht es nun darum, die Bilder selbst als Erkenntnisquelle zu rehabilitieren und die spezifische Notwendigkeit der Imagination bei seiner Lektüre der Bilder hervorzuheben. Bei ihrer Beschreibung verfolgt er den Weg des Fotografen um das Gebäude mit dem Krematorium und der Gaskammer herum. Den schwarzen Rand, der bei den meisten Rekadrierungen des ersten Bildes, der Verbrennung von Leichen, entfernt wird, interpretiert er als den Türrahmen der Gaskammer, die der Fotograf, um nicht entdeckt zu werden, für die Aufnahme des Fotos betreten musste; das verschwommene vierte Bild mag zwar nichts Konkretes zeigen, es zeugt aber, wie die anderen auch, von der Gefahr, der sich der Fotograf aussetzte.14 Es sind »Bilder trotz allem« im mehrfachen Sinne: Trotz allem konnten die Mitglieder des Widerstandes im Sonderkommando sie aufnehmen und trotz all ihrer Problematik – sie scheinen das Kerngeschehen des Massenmordes zu erfassen und können doch nicht die gesamte Vernichtung zeigen ԟ sind es doch nur Bilder, denen man sich trotz aller Schwierigkeiten heute imaginativ nähern muss. Dass es bei der Imagination auch um sprachliche Verbildlichung geht, wird deutlich in Didi-Hubermans wiederholtem Rückgriff auf die Metapher von Auschwitz als »Hölle«. Er selbst rechtfertigt sie mit dem Hinweis, sie gehöre zur Reflektion von Auschwitz selbst, in den Zeugnissen der Überlebenden und der Täter ebenso wie bei späteren Denkern. Ob daraus tatsächlich die zwingende Notwendigkeit von Imagination als Verbildlichung abzuleiten ist, wie Didi-Huberman dies meint,15 oder nicht auch ein Vorbehalt vor zu schneller
13 Vgl. Georges Didi-Huberman: Images malgré tout. Paris: Minuit 2003; vgl. zur Debatte: Bruno Chaouat: In the Image of Auschwitz. In: Diacritics 36/1 (2006), S. 86-96; zu einer Einordnung in den weiteren Kontext philosophischer Debatten um Auschwitz vgl. SvenErik Rose: Auschwitz as Hermeneutic Rupture, Differend, and Image malgré tout: Jameson, Lyotard, Didi-Huberman. In: David Bathrick/Brad Prager/Michael D. Richardson (Hg.): Visualizing the Holocaust. Documents, aesthetics, memory. Rochester (NY): Camden House 2008, S. 114-137. 14 Vgl. Didi-Huberman: Images malgré tout, S. 22 f. 15 Vgl. ebd., S. 61 f.
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Unterwerfung unter den »pouvoir des images«,16 sei zumindest als Frage aufgeworfen. Hier deutet sich zugleich die innere Korrelation sprachlicher und visueller – auch fotografischer – Bilder an. Nicht zuletzt an der Konzentration aufs Bild und dem Beharren auf dem imaginativen Potential, das ihm zukommt, entzündete sich dann auch die Kritik. Gérard Wajcman und Elisabeth Pagnoux warfen in Les temps modernes Didi-Huberman unter anderem Fetischismus, Voyeurismus, Idolatrie und eine Beweislogik, der unter anderen Vorzeichen auch die Holocaustleugnung folgt, vor.17 Dass die Zeitschrift, in der die Polemiken veröffentlicht wurden, von Lanzmann herausgegeben wird, ist dabei natürlich nicht nebensächlich; zählt doch der Regisseur von Shoah zu einem der dezidiertesten Kritiker einer Verbildlichung von Auschwitz. In Shoah selbst gibt es bekanntlich keine historischen Aufnahmen. Berühmt wurde Lanzmanns Aussage bei seiner Kritik an Stephen Spielbergs Schindler’s List, dass, wenn er einen geheimen Film, der die Vorgänge in der Gaskammer selbst zeigte, gefunden hätte, er diesen zerstört hätte: »Je ne suis pas capable de dire pourquoi. Ça va de soi.«18 Zur Begründung seiner radikalen Bildkritik bezieht er sich auch auf den für Didi-Huberman so wichtigen Begriff der Imagination, dem er allerdings eine vollständig andere Wendung gibt: »les images tuent l’imagination.«19 Gerade diese Vorstellung verwirft Didi-Huberman mit seinem Vorgehen explizit.20 Die Fotografie, die Brecht in die Entwürfe zur Kriegsfibel aufnahm, entspräche nun durchaus dem, was Lanzmann von einer Darstellung von Auschwitz verlangt. 16 Ebd., S. 62; vgl. zur Problematik von Metaphern, speziell der oft an Dante orientierten Höllen-Metapher, im Fall von Auschwitz: Axel Dunker: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München: Fink 2003, S. 35 ff. 17 Vgl. Gérard Wajcman: De la croyance photographique. In: Les Temps Modernes 56/613 (2001), S. 47-83; Élisabeth Pagnoux: Reporter photographe à Auschwitz. In: ebd., S. 84107. 18 Claude Lanzmann: Holocauste, la représentation impossible. In: Le Monde, 3.3.1994, S. I, S. VII; dass diese Haltung auf ein »quasi-theologisches Dogma von der Wucht des zweiten Gebotes« (Geoffrey Hartman: Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust. Aus dem Engl. v. Axel Henrici. Berlin: Aufbau 1993, S. 135) hinauszulaufen und darin Auschwitz selbst zu ›sakralisieren‹ droht, wurde des Öfteren kritisiert (vgl. v.a. Siegfried Kohlhammer: Anathema. Der Holocaust und das Bilderverbot. In: Merkur 48 (1994), S. 501-509); vgl. auch den Anfang des folgenden Kapitels. 19 Lanzmann: Holocauste, S. VII; zum imaginativen Einsatz der Kamera bei Lanzmann vgl. Koch: Die Einstellung ist die Einstellung, S. 152; Kramer weist in dem Zusammenhang darauf hin, dass Lanzmann sein Darstellungsverbot in Shoah nur auf der bildlichen Ebene durchhält (vgl. Sven Kramer: Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Philosophie und Literatur. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 1999, S. 25). 20 Vgl. Didi-Huberman: Images malgré tout, S. 40 f.
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Nichts wird direkt gezeigt; die Schuhe sind tatsächlich nur Metonymien der Toten, auf die im Grunde nur die Bildunterschrift hinweist, und dies umso nachdrücklicher, als ein Detail hervorgehoben wird, das im Bild selbst nicht zu sehen ist. Die »hundreds of babies’ shoes« (KF 89), von denen die Bildunterschrift spricht, eröffnen eine Dimension der Vernichtung, die in der Imagination der Leser erst ihren ganzen Schrecken, als Widerstand der Imagination selbst, entfaltet. Lanzmanns Film arbeitet streckenweise ähnlich, etwa wenn er zum Bericht des polnischen Exilpolitikers Jan Karski Berge von Schuhen, Toilettengegenständen, Brillen und Essgeschirr im heutigen Museum von Auschwitz-Birkenau zeigt.21 Will man in den bisher behandelten Texten eine Gegenposition zur – zwangsläufig hypothetisch abgeleiteten – Ästhetik von Brechts Entwurf und zur programmatisch formulierten Lanzmanns ausmachen, ist zweifellos an Kracauers Verweis auf die Bilder aus den NS-Konzentrationslagern im letzten Teil der Theory of Film zu denken. In der Tat wäre Lanzmanns Shoah mit Kracauers Filmästhetik kaum zu fassen. Die Montage von Bild und gesprochenem Text, die immer über die gefilmte Realität der Orte, an denen der Massenmord stattfand, in ihrem heutigen Zustand, hinausweist, steht der an Brecht orientierten Benjamin’schen Ästhetik der Beschriftung und Konstruktion deutlich näher.22 Kracauers Konzept der »redemption of physical reality« bezieht sich dagegen gerade auf die historischen Aufnahmen aus den Konzentrationslagern selbst. Auf die Problematik, die sich aus der Evokation der Bilder von Leichenbergen in diesem Kontext ergibt, wurde bereits am Ende des Kapitels zu Kracauer hingewiesen:23 Die »Errettung« der fotografierten und gefilmten Toten kann nicht jene erfassen, von denen in den Krematorien jede Spur vernichtet wurde, und gerade das Ausmaß der Vernichtung kann durch die Verbildlichung allein nicht erfasst werden. Eher besteht die Gefahr, dass die Bilder in ihrer Konkretheit zu abstrakten Bildern des Schreckens werden. Das Problem wurde, meist unter dem Stichwort einer Ikonisierung der Holocaust-Fotografien, bereits ausgiebig diskutiert.24 Sind die Fotografien erst einmal als »Ikonen« universalisier21 Vgl. SHOAH (Frankreich 1985, R: Claude Lanzmann), hier nach der DVD-Edition von Absolut Medien (Berlin) 2007, DVD 4, 00:57:00 ff. 22 Vgl. zu einer solchen Annäherung von Lanzmanns Film an Benjamins Montage-Konzeption: Jürgen Link: Between Goethe’s and Spielberg’s Aura. On the Utility of a Nonoperational Concept. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Michael Marrinan (Hg.): Mapping Benjamin. The work of art in the digital age. Stanford: Stanford University Press 2003, S. 98108, S. 107; Link geht es allerdings eher darum, kontrastierend Spielbergs Schindler’s List unter dem Aspekt einer Produktion von Aura zu analysieren; ein m.E. etwas fragwürdiger Versuch, der eher als Argument gegen den Film dienen könnte. 23 Vgl. oben, am Ende des Kracauer-Kapitels. 24 Der Begriff »icon« taucht in der Forschungsliteratur, z.T. mit sehr unterschiedlichen Bewertungen, immer wieder auf (vgl. u.a. David Bathrick: Introduction: Seeing against the
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bar, indem sie für den gesamten Völkermord an den Juden oder für das gesamte Lager-System des Nationalsozialismus einstehen, so lassen sie sich schließlich auch auf andere Kontexte übertragen. Der Holocaust wird zur Metapher.25 Ansatzweise finden sich solche Tendenzen bereits in Kracauers gemeinsamer Erwähnung eines Films über Schlachthäuser mit den Bildern aus den KZs. Allerdings geht es Kracauer nicht allein darum, ein ›wirkliches‹ Bild der NaziVerbrechen für die Nachwelt zu bewahren, sondern vor allem um die Möglichkeit, diese Verbrechen überhaupt konfrontieren zu können. Im Kapitel zu Kracauer wurde bereits auf die eigentümliche Umwegs-Struktur von dessen Realismus hingewiesen. Mit dem Rekurs auf den Mythos von Perseus, der die Medusa im Reflex seines Schilds betrachtet, wird bei der Erwähnung der KZ-Bilder schließlich die Vermittlung explizit hervorgehoben. Lanzmanns Beharren, »les images tuent l’imagination«, ließe sich gerade mit Kracauer, freilich mit gänzlich anderer Wertung und Perspektive, fast bestätigen: »we redeem horror from its invisibility behind the veils of panic and imagination« (TF, S. 306). Nun bezieht sich Didi-Huberman bei der Verteidigung seines eigenen Vorgehens unter anderem auf Kracauers Evokation der Medusa.26 Es handele sich, anders als ihm vorgeworfen Grain: Re-visualizing the Holocaust. In: Bathrick/Prager/Richardson (Hg.): Visualizing the Holocaust, S. 1-18, S. 1; Monica Bohm-Duchen: The Uses and Abuses of Photography in Holocaust-Related Art. In: Shelley Hornstein/Florence Jacobowitz (Hg.): Image and remembrance. Representation and the Holocaust. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 2003, S. 220-234, S. 220; Carol Zemel: Emblems of Atrocity. Holocaust Liberation Photographs. In: Ebd., S. 201-219, S. 201; Yasmin Doosry: Vom Dokument zur Ikone: Zur Rezeption des Auschwitz-Albums. In: Yasmin Doosry (Hg.): Representations of Auschwitz. 50 Years of Photographs, Paintings, and Graphics. OĞwiĊcim: Auschwitz-Birkenau State Museum 1995, S. 95-104); vgl. zu einer sehr fruchtbaren Reflektion des Begriffs Brink: Ikonen der Vernichtung, S. 232 ff.; vgl. dagg. Knoch: Die Tat als Bild, S. 32 ff., der allerdings mit seinem Begriff »Symbolbild« in eine ganz ähnliche Richtung geht, wie überhaupt seine Kritik an Brink stellenweise der Nähe beider Arbeiten geschuldet zu sein scheint. 25 Vgl. in dem Zusammenhang z.B. Raskins Untersuchung eines der berühmtesten Bilder »des Holocaust«, dem Foto des Jungen aus dem Warschauer Ghetto, und seiner Nachgeschichte bis zur Verwendung in antiisraelischer Propaganda: Richard Raskin: A child at gunpoint. A case study in the life of a photo. Aarhus: Aarhus University Press 2004; das Foto untersucht exemplarisch auch Annette Krings: Die Macht der Bilder. Zur Bedeutung der historischen Fotografien des Holocaust in der politischen Bildungsarbeit. Berlin u.a.: Lit 2006. 26 Er kann dies freilich nur, indem er Kracauers Text in der Übersetzung modifiziert und den für sein eigenes Vorgehen wichtigen Begriff der »imagination« auf Französisch als »fantasme« wiedergibt: »nous sauvons l’horreur de son invisibilité (we redeem horror
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wurde,27 nicht darum, mit dem Bild das Geschehen abzuschirmen, das Bild als Schutzschild zu benutzen, sondern im Gegenteil gerade darum, ähnlich wie Perseus, über das Bild eine Erkenntnis von etwas zu erreichen, das sich direkt nicht konfrontieren lässt. Über den Umweg erst werde das Recht des Realen gewahrt, das er durchaus konstruktiv als Produkt einer ›Montage‹ von Bildern und anderen Wissensformen versteht.28 Kracauers Verweis auf den Mythos der Medusa könnte aber in anderer Weise als ein Ausweichen begriffen werden, ein Versuch, den Schrecken der Konzentrationslager im Rekurs auf Metaphern der alteuropäischen Geistesgeschichte noch einmal zu beruhigen. Der Verweis auf die Medusa selbst ist im Kontext der Konzentrationslager nicht singulär. Auch Primo Levi wird in seinem gut zwanzig Jahre nach der Theory of Film geschriebenen Essay I sommersi e i salvati auf das Bild des tödlichen Blicks zur Charakterisierung der Schwierigkeit einer Zeugenschaft der Überlebenden zurückgreifen: »Noi sopravvissuti siamo una minoranza anomala oltre che esigua: siamo quelli che, per la loro prevaricazione o abilità o fortuna, non hanno toccato il fondo. Chi lo ha fatto, chi ha visto la Gorgone, non è tornato per raccontare, o è tornato muto; ma sono loro, i ›mussulmani‹, i sommersi, i testimoni integrali, coloro la cui deposizione avrebbe avuto significato generale.«29
Vor allem diese Stelle ist es, die Giorgio Agamben zum Ausgang nimmt für seinen nicht unproblematischen Versuch, die von Levi konstatierte Problematik des Überlebenden zur Unmöglichkeit der Zeugenschaft überhaupt zu verallgemeinern.30 Ein geistesgeschichtlicher Exkurs zur Gorgo-Medusa darf dabei nicht fehlen. Anstatt aber Levis Bemerkung auf die Ikonografie der Medusa zu beziehen und aus dem,
from its invisibility) derrière les voiles de la panique et du fantasme.« (Didi-Huberman: Images malgré tout, S. 220). 27 Wajcman: De la croyance photographique, S. 68. 28 Vgl. Didi-Huberman: Images malgré tout, S. 221 ff., zum Montage-Begriff vgl. v.a. S. 151. 29 Primo Levi: I sommersi e i salvati. Turin: Einaudi 1986, S. 64 (Hervorhebung J.G.). 30 Vgl. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Aus dem Italienischen v. Stefan Monhardt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, v.a. S. 30; zu einer Kritik an Agamben vgl. Geoffrey Hartman: Zeugnis und Authentizität. Reflexionen über Agambens Quel che resta di Auschwitz. In: Matías Martínez (Hg.): Der Holocaust und die Künste. Medialität und Authentizität von Holocaust-Darstellungen in Literatur, Film, Video, Malerei, Denkmälern, Comic und Musik. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 99-118.
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»was für die Griechen die Gorgo bedeutete«,31 auf den sogenannten Muselmann zu schließen, von dessen Erfahrung Levis Text nach eigener Aussage ja nichts sagen kann, wäre zu fragen, was der Bezug auf die Medusa in diesem Text denn leistet. Alvin Rosenfeld hat darauf hingewiesen, dass beim Rückbezug auf literarische Traditionen und Topoi sich Texte zu Auschwitz nicht ungebrochen in die Kontinuität dieser Traditionen einordnen lassen.32 Was von einer solchen Tradition bei Levi nun bleibt, was die Metapher der Gorgo motiviert und zugleich bricht, ist die Visualisierung des Schreckens, wie sie in der von Agamben angesprochenen Ikonografie paradoxerweise vollzogen wird. In den Bildern der Medusa ist zu sehen, was – der Logik des Mythos nach – eigentlich nicht betrachtet werden kann. Eben dies geschieht in Levis Übernahme des Bildes aber gerade nicht. Das Medusenhaupt als ästhetische Vorstellung vorweltlichen Schreckens sagt nichts über die Erfahrung des historischen Grauens. Indem es im Text an deren Stelle tritt, hebt die Metapher sich gleichsam auf, wird zum Bild des Sprechens »per delega«, dem »racconto di cose viste da vicino, non sperimentate in proprio.«33 Bei Kracauer, der selbst der Lagererfahrung zwar entkam, dessen Mutter und Tante aber ermordet wurden,34 wird der metaphorische Umweg über den Mythos zur Entsprechung seiner Medientheorie, die in diesem Mythos zugleich ihr Emblem findet. Sprachliche und technisch-mediale Bildlichkeit ließen sich hier parallelisieren als Versuche der Annäherung an eine kaum erträgliche Wirklichkeit. Die mit der Metapher der Medusa beschriebene Schutzfunktion, die Möglichkeit einer Distanznahme durch die Apparatur, bestätigt sich auch im Hinblick auf den Zeitpunkt der Aufnahme – und das heißt: den Akt der Aufnahme selbst. Brink hat darauf hingewiesen, dass bei den alliierten Befreiern der Lager der Wille, durch die Fotos Zeugnis von den Verbrechen abzulegen, oftmals eine Rationalisierung des Impulses darstellte, mit der Kamera, wie Margaret Bourke-White es anlässlich ihres Besuchs im befreiten Buchenwald umschrieb, »eine schwache Barriere zwischen mir und dem bleichen Entsetzen, das ich vor mit hatte«,35 zu schaffen.36 Mag hier 31 Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 46; zum Rekurs auf die Gorgo bei Agamben vgl. ausführlich: Robert Buch: Seeing the Impossibility of Seeing or the Visibility of the Undead: Giorgio Agamben’s Gorgon. In: Germanic Review 82/2 (2007), S. 179-196, S. 181 ff. 32 Vgl. Alvin Rosenfeld: Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust. Übers. v. Annette u. Axel Dunker. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 29 ff. 33 Levi: I sommersi e i salvati, S. 65. 34 Vgl. Marbacher Magazin: Siegfried Kracauer 1889-1966. Bearbeitet v. Ingrid Belke u. Irina Renz 47 (1988), S. 103. 35 Margaret Bourke-White: Deutschland, April 1945. »Dear Fatherland rest quietly«. München: Schirmer/Mosel 1979, S. 90.
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der Vergleich mit Perseus’ Blick zu einem gewissen Grad noch nachvollziehbar erscheinen, so wird er nicht nur in der späteren Rezeption, sondern bereits vorher, beim Gedanken an die Fotos der Täter, höchst problematisch. Denn hier lässt sich das – zum Teil trotz strikten Verbots seitens der Wehrmachtsleitung oder der SS praktizierte ԟ Fotografieren als Versuch interpretieren, Distanz zu den Opfern durch die Einnahme einer im kalten, ›entleerten‹ Blick des Fotografen quasi entkörperlichten Machtposition zu schaffen.37 Für heutige Betrachterinnen und Betrachter präsentieren sich diese Fotografien als »ein Geflecht vielfach sich zeitlich wie räumlich überschneidender Blickbahnen […]: derjenigen der Täter, welche die Bilder produziert haben; der Opfer, die sehen, was die Bilder nicht sichtbar machen; derjenigen, die die Bilder mit bestimmten Absichten präsentieren; und der Rezipienten, die wiederum das sehen, was die Blicke der Fotografierenden vorgegeben haben.«38 Wenn also von einer Verkomplizierung der Blicke gesprochen werden kann, so auch mit dem Implikat einer meist ungewollten Komplizenschaft der Betrachtenden mit jenen, die die Bilder aufnahmen. »Es existiert mithin eine fatale Entsprechung zwischen dem, was die Täter aus den Opfern gemacht haben und der Art, wie wir die Opfer wahrnehmen, und auch hier ist eine Strukturierung vorgelegt, die dazu verführt, sich der Juden hauptsächlich im Sinne dessen zu erinnern, ›was ihnen allen widerfuhr‹.«39 Das Problem ist demnach nicht allein der Täterblick, dem das Bild sich verdankt, sondern die den Bildern als solchen inhärente Objektivierung der Opfer.40 Dies ließe sich zu gewissen Teilen auch auf die Fotos übertragen, die nicht von SS-Leuten oder Wehrmachtssoldaten, sondern, wie der Großteil der Bilder von Leichenbergen und zu Skeletten abgemagerten Häftlingen, von den Befreiern der Lager aufgenommen wurden. Ruth Klüger greift »das Photographieren, diese[n] sublimierte[n] Voyeu36 Vgl. Brink: Ikonen der Vernichtung, S. 28. 37 Vgl. hierzu Dieter Reifarth/Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Die Kamera der Täter. In: Heer/Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg, S. 475-503; Hüppauf: Der entleerte Blick hinter der Kamera. 38 Martin Schulz: Fotografische Repräsentationen der Schoah. Zur ikonoklastischen Kritik an ihrer bildmedialen Vergegenwärtigung. In: Bettina Bannasch/Almuth Hammer (Hg.): Verbot der Bilder ԟ Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Schoah. Frankfurt a.M., New York: Campus 2004, S. 191-210, S. 205. 39 Harald Welzer: Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: Ders. (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen: diskord 1995, S. 165-194, S. 182; mit dem Zitat am Ende bezieht sich Welzer auf: Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 10. 40 Auf die Festschreibung des Opferstatus in den Fotografien weist auch Struk: Photographing the Holocaust, S. 215 f. hin.
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rismus« denn auch im Fall der Befreier scharf an: »Man hat über die eigentlichen Opfer hinweggesehen und sich mit einer Entrüstung begnügt, die durchs Photographieren zu befriedigen war.«41 Dies kann gewiss auch in weiten Teilen dem heutigen Gebrauch der historischen Fotos vorgeworfen werden. Die Entrüstung allerdings dürfte sich angesichts des Bekanntheitsgrads der Bilder und des damit einhergehenden Gewöhnungseffekts verringert haben. Kracauers Bild vom Schild des Perseus bewahrheitet sich darin, dass die Aufnahme der Fotos ins Gedächtnis der Kultur den Schrecken, anders als er es intendierte, in ihrer ständigen Repräsentation bannen, indem sie ihn tendenziell banalisieren. Die Einsprüche gegen Darstellungen der Shoah beharren oft nicht zu Unrecht auf der Tatsache, dass eine solche Darstellung die eigene Problematik nicht reflektiert, sondern vielmehr überspielt. »›Auschwitz‹ in Bildern und Worten wiederzugeben, ist eine Weise, dies vergessen zu machen.«42 JeanFrançois Lyotards Bedenken gegen die Darstellung richten sich auf die Problematik des Gedächtnisses allgemein: »eines ist es, ob die Darstellung der Rettung des Gedächtnisses dient, ein anderes, ob sie versucht, in der Schrift den Rest, das unvergeßlich Vergessene zu bergen.«43 Dieses Vergessene, die Unmöglichkeit, ein Ereignis der Erfahrung zu assimilieren, es zu bewältigen und überhaupt innerhalb einer Diachronie zu situieren, fasst Lyotard im psychoanalytischen Begriff der »Urverdrängung«, einem wesentlich Vergessenen, das nur aus den nachträglichen Symptomen unbewusster Affektbildungen heraus erschlossen werden kann. Die zur Charakterisierung des metapsychologischen Begriffs der Urverdrängung (der bei Lyotard durchaus ins Metaphysische weist44) herangezogenen Merkmale45 lassen sich aber auch auf den weniger dunklen Begriff des Traumas beziehen.46 In diesem Sinn sieht Joachim Paech gerade in der Wiederholung der immer gleichen Fotos ein Zeichen für die traumatische Fixierung an eine Vergangenheit, die ihren Niederschlag in dem findet, was er »ent/setzte Erinnerung« nennt. Der Schrägstrich markiert dabei den Doppelsinn von Schrecken und Befreiung in den beiden Bedeutungen des 41 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München: dtv 1995, S. 193. 42 Jean-François Lyotard: Heidegger und »die Juden«. Wien: Passagen 22005, S. 37. 43 Ebd., S. 38. 44 Darin liegt allerdings auch eine Problematik von Lyotards Modell: Indem er dieses über die Erfahrung der Konzentrationslager hinaus, die für die Überlebenden oftmals ebenso unzugänglich ist wie – freilich in gänzlich anderer Weise ԟ für die Nachgeborenen, auf ein allgemeines Prinzip abendländischer Geschichte bezieht, löst er tendenziell die konkrete Schwierigkeit der historischen Erfahrung in eine wie auch immer darin problematisierte geschichtsphilosophische Perspektive auf (vgl. ebd., S. 36, S. 39). 45 Vgl. v.a. ebd., S. 21 ff. 46 Obgleich der Begriff heute selbst wieder eine gewisse »Sakralisierung« erfährt bzw. in seiner ubiquitären Anwendung einiges an deskriptivem Potential zu verlieren droht.
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Wortes: »Als ›ent/setzte‹ versucht sich die Erinnerung aus der traumatischen Blockierung durch die Wiederholung an einem anderen Ort, zum Beispiel in den Bildern und Diskursen der Medien, zu lösen.«47 Die Besetzung der Fotografie mit der Erinnerung macht jene zur »ent/setzten« Erinnerung, lässt sie zum Fetisch werden.48 Demgegenüber seien ästhetische Verfahren notwendig, die über die Konkretheit der Bilder hinaus auf das aus diesen Ausgeschlossene verweisen. Paech meint damit vor allem die Verwendung von Dokumentarmaterial in Filmen. Mit ihrem Konzept der »postmemory« – der imaginativen Reaktion der zweiten Generation auf das kollektive Trauma der Generation der Überlebenden49 ԟ versucht Marianne Hirsch dagegen, verschiedene Formen der künstlerischen Bearbeitung der bekannten Holocaust-Fotografien zu beschreiben. Die Wiederholung der Bilder intendiert dabei kein Abschirmen der traumatischen Erfahrung, die so den Nachkommen ohnehin nicht zugänglich ist; im Gegenteil: »compulsive and traumatic repetition connects the second generation to the first, producing rather than screening the effect of trauma that was lived so much more directly as compulsive repetition by survivors and contemporary witnesses. […] the postmemorial generation – in displacing and recontextualizing these well-known images in their artistic work ԟ has been able to make repetition not an instrument of fixity or paralysis or simple retraumatization (as it often is for survivors of trauma), but a mostly helpful vehicle of working through a traumatic past.«50
Auf das Konzept der »postmemory« wird bei einigen der folgenden Textanalysen zurückzukommen sein. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang der Hinweis, dass durchaus auch Fotografien für die Nachkommen oder diejenigen, die an der Erfahrung der Lager noch vorbeikamen, eine traumatisierende Rolle übernehmen können bzw. eher als ein Gedächtnisbild überdauern können, das das Grauen der Konzentrationslager weniger im Sinne einer Deckerinnerung abschirmt oder verschiebt, sondern als unassimilierbares Element dem weiteren Durcharbeiten präsent hält. Einer der bekanntesten Berichte von einem traumatisierenden Potential von 47 Joachim Paech: Ent/setzte Erinnerung. In: Sven Kramer (Hg.): Die Shoah im Bild. München: Edition Text + Kritik 2003, S. 13-30, S. 29, Anm. 1. 48 Paech bezieht sich dabei (vgl. ebd., S. 20) auf Metz (vgl. Christian Metz: Foto, Fetisch); auch Didi-Huberman wehrt sich im Übrigen gegen die Vorstellungen eines fetischisierten »image-tout« und hebt in seinem Verfahren die Lückenhaftigkeit des Bildes hervor (vgl. Didi-Huberman: Images malgré tout, S. 85, S. 94 ff.). 49 Vgl. Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, narrative, and postmemory. Cambridge (Mass.), London: Harvard University Press 1997, S. 22. 50 Marianne Hirsch: Surviving Images: Holocaust Photographs and the Work of Postmemory. In: Yale Journal of Criticism 14/1 (2001), S. 5-37, S. 8 f.
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Fotos ist zweifellos Sontags Erwähnung ihrer ersten Begegnung mit Fotografien aus Bergen-Belsen und Dachau, der allerdings unmittelbar der Hinweis auf den Gewöhnungseffekt von erschreckenden Fotografien folgt51: »Nothing I have seen – in photographs or in real life – ever cut me so sharp, deeply, instantaneously. Indeed, it seems plausible to me to divide my life into two parts, before I saw those photographs (I was twelve) and after, though it was several years before I understood fully what they were about. […] When I looked at those photographs, something broke. Some limit had been reached, and not only that of horror; I felt irrevocably grieved, wounded, but a part of my feelings started to tighten; something went dead; something is still crying.«52
In ihrem letzten Essay Regarding the Pain of Others nimmt Sontag die Frage nach der Nachwirkung solcher Fotos wieder auf und setzt sie von der Erkenntnis ermöglichenden Funktion sprachlicher Vermittlungsformen ab: »Quälende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los.«53 Es lässt sich hier natürlich einwenden, dass dies durchaus nicht immer gelten kann, dass die Funktion von Fotografien im kulturellen Gedächtnis – wie von kanonisierten Texten im Grunde auch ԟ eben als Kulturgut der Beruhigung des Vergangenen dienen kann. Die Untauglichkeit zum »Begreifen«, die Sontag den Fotos attestiert ԟ was im Übrigen zu relativieren wäre ԟ muss aber, wenn sie betont wird, angesichts von Auschwitz keinen Nachteil darstellen. Das Unbegreifliche des Massenmordes kann freilich, soviel dürfte deutlich sein, durch eine Fotografie allein kaum übermittelt werden. Gerade in ästhetischen Zugängen zu den Bildern kann jedoch, wie Harald Welzer auch gegen den wissenschaftlichen Versuch zu begreifen hervorhebt, eine Möglichkeit liegen, einer »Normalisierung des Geschehenen«, wie sie der Vorstellung, »es gäbe so etwas wie eine ›Theorie des Holocaust‹«, zumindest tendenziell inhärent sei, entgegen zu arbeiten: »Vor diesem Hintergrund gilt es, sich der Verstehensgrenze bewußt zu sein, die der Holocaust markiert, denn nur diese hält das Grauen fest, das ihn ausmacht. Ästhetische Auseinandersetzungen mit dieser Geschichte laufen weniger Gefahr, der Täuschung zu unterliegen, 51 Vgl. Sontag: On Photography, S. 20: »Images transfix. Images anesthetize. An event known through photographs certainly becomes more real than it would have been if one had never seen the photographs […]. But after repeated exposure to images it becomes also less real.« 52 Ebd. 53 Susan Sontag: Das Leid anderer betrachten. Übers. v. Reinhard Kaiser. München: Hanser 2003, S. 104.
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man habe begriffen, als die ihrem Wesen nach totalitären wissenschaftlichen Zugänge, die von der prinzipiellen Begreifbarkeit jedes Phänomens ausgehen müssen. Die Ermordung von Millionen von Menschen läßt sich nicht begreifen. Und daß sie bis heute nicht begriffen worden ist, ist das einzige, was an dem Ganzen noch Hoffnung aufscheinen läßt.«54
Damit ist selbstverständlich kein Einsatz der Fotos als Schockeffekte oder als Dokumente bloßen, stummen Entsetzens gemeint, sondern vielmehr eine neuerliche Distanzierungsleistung im Zugang zu den Bildern, die die Fremdheit des auf den Bildern Gezeigten in die eigene Darstellung aufnimmt.55 Vor diesem Hintergrund können gerade literarische Texte die von Sontag beschriebene Spannung zwischen dem Bemühen einer Erzählung ԟ oder allgemeiner: sprachlichen Zugängen ԟ, trotz allem zu begreifen, was in Auschwitz geschehen ist, und den fotografischen Zeugnissen dieses Geschehens für die eigene Darstellung fruchtbar machen. Wie diese Spannung sich jeweils darstellt, wie sie innerhalb der Texte funktionalisiert wird, hängt dabei ebenso von der Produktion der Differenzen von Fotografie und Text im jeweiligen Text selbst ab wie von der Art der jeweiligen Fotografien. Ein Propagandafoto der Nazis verlangt andere Zugänge als die Bilder von Leichenbergen ԟ aber auch Fotos, die nicht unmittelbar auf die Lager referieren, können im Text zum Anstoß für eine verschobene Auseinandersetzung mit Auschwitz und seinen Nachwirkungen werden. Den propagandistischen Gehalt von Bildern, die teilweise recht unkritisch als Dokumente betrachtet und dementsprechend illustrativ eingesetzt werden, kann zweifellos eine im weiteren Sinn ideologiekritisch zu nennende Perspektive auf Fotografien, wie sie anhand von Brechts Kriegsfibel beschrieben wurde, hervorheben. Ein sehr überzeugendes Beispiel dieser Art beschreibt Dieter Lamping anhand von Johannes Bobrowskis Bericht. Das Gedicht erzählt in knappen Worten die Geschichte der jüdischen Partisanin Bajla Gelblung bis zu ihrem Verhör durch deutsche Offiziere: »[…] es gibt / ein Foto, die Offiziere sind junge / Leute, tadellos uniformiert / mit tadellosen Gesichtern, / ihre Haltung / ist einwandfrei.«56 Durch die Wiederholung des »tadellos« und »einwandfrei« wird deutlich, wie sehr dem 54 Welzer: Die Bilder der Macht, S. 189. 55 Vgl. auch Detlef Hoffmann: Ein Foto aus dem Ghetto Lodz oder: Wie die Bilder zerrinnen. In: Hanno Loewy (Hg.): Holocaust: die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 233-247; der einen solchen Zugang auch für eine bildwissenschaftlich (wenngleich er den Begriff noch nicht verwendet) erweiterte Geschichtswissenschaft skizziert. 56 Johannes Bobrowski: Gesammelte Werke. Hg. v. Eberhard Haufe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1987, Bd. 1, S. 133; vgl. Dieter Lamping: Bilder und Worte. Zur Kritik der Fotografie in der Holocaust-Literatur. In: Martínez (Hg.): Der Holocaust und die Künste, S. 119-134, v.a. S. 126 ff.
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beschriebenen Foto ԟ das reale Vorbild ist in Schoenberners Der gelbe Stern57 abgedruckt ԟ das Bemühen um einen ›ordentlichen‹ Eindruck der deutschen Offiziere gegenüber der im Bild an den Rand gedrängten und konsequenterweise bei der Beschreibung des Fotos gar nicht mehr erwähnten Partisanin anzusehen ist. Es wird ein kritischer Blick auf die Fotografie eingenommen, der die vorgebliche Neutralität des Bildes als scheinhafte offenlegt, indem er die Zeichen propagandistischer Inszenierung mimetisch hervorhebt. In seinen allgemeinen Schlussfolgerungen bezieht Lamping dann eine ähnliche Position wie Susan Sontag: »Um wirklich sprechen zu können, bedürfen die Bilder – der Worte: der sprachlichen Auslegung und Übersetzung. […] Fotos machen also die Literatur nicht überflüssig. Sie verlangen geradezu nach ihr: nach dem besonderen Wissen, der Stimme, der individuellen Sprache und dem Gedächtnis der Schreibenden.«58
Allerdings ließe sich einwenden, dass dieses emphatische Verständnis von Literatur im Zusammenhang mit Auschwitz kaum ungebrochen gehalten werden kann. Die »Worte«, die »individuelle Sprache« – all das muss sich durchaus mit dem Verstummen auseinandersetzen können und mit der Unmöglichkeit, den Massenmord letztendlich begreiflich zu machen. In eine andere Richtung als Lamping geht im Bezug auf das Verhältnis von Literatur und Fotografie nach Auschwitz Jürgen Zetzsche. Nach seiner Deutung ist es gerade die Entgegensetzung der Fotografie zur verbalen Sprache, die es deutschsprachigen Schriftstellern ermöglichte, nach 1945 überhaupt einen Zugang zur problematisch gewordenen Wirklichkeit zu finden: »Die Sprachform des fotografischen Mediums versprach ein Mehr an Wirklichkeit als die durch nationalsozialistische Ideologien verseuchte Wortsprache. Die Fotografien in der Nachkriegsliteratur sind von daher zu begreifen als Bewußtseinsschwellen für ein zeitgenössisches Schreiben, das mit der Aufarbeitung eines schwierigen historischen Erbes beauftragt war.«59
Zwar kann er für diese Versuche einer literarischen Aufarbeitung einige Beispiele anführen, unter anderem Hubert Fichte, auf den ich noch zurückkommen werde, doch werden diese leider nicht weiter vertieft, sondern es bleibt bei einer allgemeinen Darstellung der Bedeutung und Rezeption von Fotografien der Konzentrations-
57 Vgl. Schoenberner: Der gelbe Stern, S. 138. 58 Lamping: Bilder und Worte, S. 134. 59 Jürgen Zetzsche: Beweisstücke aus der Vergangenheit. Fotografien des Holocaust und ihre Spuren in der Literatur. In: Fotogeschichte 11/39 (1991), S. 47-60, S. 47.
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und Vernichtungslager nach 1945.60 Die Beurteilung scheint allerdings auch ein Vertrauen auf die fotografische Referentialität zu unterstellen, das mit der Bemerkung, die Betrachtung der Fotos habe eine »Teilnahme am Leid, an der Sterblichkeit und Verletzlichkeit von Millionen von Menschen«61 ermöglicht, doch einer kritischeren Betrachtung bedurft hätte. Jenseits einer solchen Vorstellung von Empathie mit den Opfern, die die historische Distanz ebenso überspränge wie den Unterschied der jeweiligen Erfahrungen von Betrachtenden und Fotografierten, weist James E. Young auf die Möglichkeit einer literarischen Funktionalisierung des fotografischen Wirklichkeitsversprechens hin. Ihm geht es dabei vor allem um die rhetorische Funktion, die die Berufung auf die Fotografie erfüllen kann, um das Fehlen eigener Erfahrungen zu kompensieren: »Als metonymischer Tropus der Zeugenschaft überzeugt das Foto den Betrachter auf eine Weise von seiner Autorität als Zeugnis und der Autorität der Fakten, wie es die Literatur nicht vermag. Einer der Gründe dafür, daß das Miteinander von Literatur und Fotografie solche Überzeugungskraft besitzt, liegt darin, daß sie den Anschein erwecken, als wäre das, was sie wiedergeben, eine Kombination aus reinem Objekt und Kommentar zum Objekt, bei der beide einander zu ergänzen scheinen gerade dadurch, daß sie den Eindruck erwecken, es handele sich um zwei kontrastierende Funktionen.«62
Young problematisiert diese mit der Berufung auf die Fotografie verbundene »Rhetorik des Tatsächlichen [rhetoric of fact]«,63 wenn sie der Rekonstruktion durch den Text eine größere Glaubwürdigkeit und Autorität verschaffen soll und darin ihre eigene Fiktionalität verschleiert. Dass der Aufbau von kontrastierenden Funktionen von Fotografie und Text in der Textproduktion selbst jedoch auch auf eine ganz andere Weise fruchtbar werden kann, indem nämlich der Text nicht einfach durch das Bild sich einer Faktizität versichert, die er aus sich nicht begründen kann, sondern um über sich hinaus auf ein nicht zugängliches Anderes hinzudeuten, wurde in einigen der vorangegangenen Kapiteln gezeigt. Insbesondere in Barthes’ Chambre claire stößt die These einer radikalen Alterität des fotografischen Bildes ԟ der unmittelbare Bezug auf den Referenten und das punctum ԟ Textprozesse an, die immer wieder die uneinholbare Referentialität der 60 Eine ausführliche Untersuchung hat Zetzsche dafür am Beispiel von Uwe Johnson und Jürgen Becker vorgelegt, vgl.: Jürgen Zetzsche: Die Erfindung photographischer Bilder im zeitgenössischen Erzählen. Zum Werk von Uwe Johnson und Jürgen Becker. Heidelberg: Winter 1994. 61 Zetzsche: Beweisstücke aus der Vergangenheit, S. 50. 62 James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 101. 63 Ebd., S. 108.
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Fotografie umkreisen. Wenn die Fotografie hier so etwas wie ›Faktizität‹ vermitteln soll, so doch immer als ein dem Text entzogenes und sich noch im Referenzversprechen der Fotografie entziehendes Reales. Das Bild als ›Anderes‹ des Textes steht hier auch für die Andere, die tote Mutter, die das Erinnern unmöglich inkorporieren kann, exemplarisch verdeutlicht im Wintergartenbild. Wie gezeigt, verläuft die asymptotische Annäherung an jenes nicht-assimilierbare Element, das der Text gleichwohl aus sich heraus produziert, bei Barthes vor allem über Metonymieketten, die durch den Text und die Fotografien gleichermaßen verlaufen.64 Hier deutet sich eine weitere Möglichkeit an, den Bezug auf Fotografien im Rahmen eines Schreibens nach Auschwitz einzusetzen, ohne sich auf den motivischen Einsatz von Fotografien des Holocaust zu beschränken. Statt der visuellen Repräsentation können andere, mediale Eigenschaften der Fotografie bedeutsam werden; ähnlich wie etwa bei der in Prousts Recherche beobachteten Metapher der fotografischen Entwicklung für Erinnerungsbilder, die sich der willkürlichen Evokation entziehen.65 Am Beispiel einiger Texte Jorge Sempruns soll unter anderem dies im folgenden Kapitel genauer verfolgt werden. Der Bezug auf die Fotografie könnte so etwas Ähnliches leisten, was Axel Dunker für eine genuin literarische Auseinandersetzung mit Auschwitz dargelegt hat: »Repräsentation eines Abwesenden meint hier, daß dieses nicht unbedingt diskursiv benannt, daß darüber nicht gesprochen werden muß, sondern daß andere, zeichenhafte oder ästhetische und formale Entsprechungen dafür konstruiert werden.«66 Eine besondere Rolle kommt hierbei gerade der Metonymie zu, die nach Dunker »Psychologisches (Verschiebung, Deckerinnerung), Reales (die Relikte der Opfer stehen in einem metonymischen Verhältnis zu den verschwundenen Ermordeten) und Sprachliches (Metonymie als eine der beiden Achsen der Rede im Sinne Jakobsons)«67 bündelt. Im Gegensatz zu Annäherungen an Auschwitz, die vor allem auf Verbildlichung aus sind, auf Ähnlichkeitsbeziehungen, die ihr rhetorisches Äquivalent in der Metapher finden, kann die auf einer Kontiguitätsbeziehung beruhende Metonymie die direkte Repräsentation vermeiden helfen und stattdessen gerade die Abwesenheit präsent halten, »sie im Erfahrungsraum der folgenden Generation schockartig auftauchen«68 lassen. Nun wurde nicht nur dieser nachträgliche Schock im Rahmen dieser Arbeit schon mehrfach im Zusammenhang mit der Fotografie erwähnt,69 sondern eben auch die rhetorische Figur der Metonymie steht, wie
64 Vgl. oben, Abschnitt 4 im Barthes-Kapitel. 65 Vgl. oben, Abschnitt 3 im Proust-Kapitel. 66 Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 14. 67 Ebd., S. 291, vgl. auch S. 30 f., S. 132 f. 68 Ebd., S. 291. 69 Vgl. v.a. Abschnitt 3 im Kapitel zu Barthes.
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vor allem bei Barthes gezeigt wurde,70 in mehrfacher Hinsicht in Beziehung zu einer bestimmten Auffassung der Fotografie. Fotos werden dabei nicht so sehr als Speichermedien für Gedächtnisbilder, als ähnliche Stellvertreter des Erinnerten oder Simulakren ԟ semiotisch gesprochen: als Ikons ԟ relevant, sondern vielmehr als Index oder Spur, ausgehend von einer Kontiguitätsbeziehung zu ihrem Referenten. In dieser Beziehung ist Abwesenheit stärker konnotiert als Repräsentation.71 Eine Betrachtung der Fotografie unter dem Aspekt der Metonymie kann aber auch, jenseits ihrer Verbindung mit dem Referenten, auf das in ihr Ausgeschlossene hindeuten. Fotografie ist in der Hinsicht Spur eher im Sinn des Fragments oder Überrestes. Marianne Hirsch und Leo Spitzer fassen den Verweis auf das Außerhalb des Bildraumes in der Interaktion von Fotografien und literarischen Texten mit dem Begriff der »Erinnerungspunkte (points of memory)«, für den sie sich unter anderem wiederum auf Barthes’ punctum berufen.72 Im Begriff des »Punktes« ist demnach das Fragmentarische und Interpretationsbedürftige des fotografischen Bilds ebenso gefasst wie die punktuelle Verbindung eines zeitlichen und räumlichen Ausschnitts mit der Gegenwart. »Die Wahrheit über die Vergangenheit scheint stets anderswo zu liegen, gleich hinter dem Bildrand. Fotografien können bestenfalls auf dieses Anderswo hindeuten und auf diese Weise eine starke Verbindung zwischen dem Damals und dem Heute herstellen.«73 In bemerkenswerter Weise kommt das hier skizzierte Verständnis der Fotografie im Zusammenhang der Problematik einer Zeugenschaft nach Auschwitz in einer kurzen Erzählung Ida Finks mit dem bezeichnenden Titel Die Spur zum Ausdruck. Der Text beschreibt die Konfrontation einer namenlosen Überlebenden eines jüdischen Ghettos in Polen mit einer Fotografie dieses Ghettos durch ebenfalls anonyme Gesprächspartner:
70 Auch Dunker bezieht sich bei seinen Ausführungen zur Metonymie auf Barthes’ punctum und Derridas Lektüre von La Chambre claire, vgl. Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 291 f. 71 Vgl. in allg. Hinsicht: Sybille Krämer: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Krämer/Kogge/Grube (Hg.): Spur, S. 11-33, S. 14; vgl. zum Verständnis der Fotografie als Spur auch den Aufsatz von Peter Geimer im selben Band: Peter Geimer: Das Bild als Spur. Mutmaßungen über ein untotes Paradigma, S. 95-120. Im hier vorliegenden Zusammenhang geht es freilich nicht darum, zu überlegen, ob ein Foto eine Spur ist, sondern um ihren imaginären Einsatz in literarischen Texten und dessen Einbettung in die Diskursgeschichte des Mediums. 72 Marianne Hirsch/Leo Spitzer: Erinnerungspunkte. Shoahfotografien in zeitgenössischen Erzählungen. In: Fotogeschichte 25/95 (2005), S. 29-44. 73 Ebd., S. 37 (Hirsch und Spitzer erläutern dies an Rachel Seifferts The Dark Room und W.G. Sebalds Austerlitz).
246 | FOTOGRAFIE UND L ITERATUR »Das Foto, Kopie einer ungeschickten Amateuraufnahme, ist undeutlich und verwackelt. Viel Weiß – es lag Schnee. Das Foto wurde im Februar gemacht. Hoher lockerer Schnee. Im Vordergrund Spuren menschlicher Schritte, an den Rändern zweier Reihen von Holzbuden. Das ist alles. Ja. Hier haben sie gewohnt. Sie erkennt die Buden.«74
Natürlich drängt die Anwesenheit von Spuren in der Fotografie den fototheoretisch Geschulten, den Leserinnen und Lesern von Susan Sontag oder Roland Barthes, eine Interpretation, die sich auf das indexikalische Verständnis der Fotografie stützt, geradezu auf. Hirsch nimmt dies auch zum Ausgang, um die Notwendigkeit der Fotografie in Finks Geschichte zu unterstreichen: »the photograph of the footprint is the index par excellence, pointing to the presence, the having-been-there of the past – here is why Fink needed the description of the photograph to underscore the material connection between past and present that is embodied in the photograph and underscored by the witness who recognizes it. The photo – even the fictional photo – has, as Barthes would say, evidential force.«75
Nun ist es sicherlich wahr, dass Fotografien häufig auch innerfiktional dazu eingesetzt werden, um die Evidenz der Vergangenheit zu verstärken. Die Funktion der Fotografie in Finks Geschichte erschöpft sich darin allerdings nicht. Die Spuren im Schnee werden bei der weiteren Betrachtung noch einmal thematisiert und heben die Zeitlichkeit der Fotografie ebenso hervor wie sie über sie hinausweisen: »Wer das wohl fotografiert hat? Und wann? Vermutlich gleich danach. Die Spuren sind deutlich sichtbar, aber schon mittags, als sie erschossen wurden, schneite es heftig. Die Menschen gibt es nicht mehr – ihre Schritte sind geblieben. Sehr seltsam.«76 Die Bewohner des Ghettos sind ermordet und die einzige Spur, die von ihnen bleibt, sind jene ephemeren Spuren im Schnee, die die Fotografie bewahrt. Die Spuren verweisen dabei nicht nur auf die Abwesenheit derer, die sie hinterlassen haben, sondern – motiviert über die Frage nach dem Zeitpunkt der Aufnahme – auf ihr eigenes Verschwinden im Schneefall, das selbst wiederum nicht anders erschlossen werden kann als über den Zeitpunkt des Mordes. Die Fotografie ist das Einzige, das diesem allgemeinen Verschwinden entkommt, und sie kann doch nichts anderes zeigen als eine mehrfache Abwesenheit, die narrativ erschlossen werden muss. Eben dies leistet die Erzählung der Überlebenden, die nun ihrerseits zur Spur wird:
74 Ida Fink: Die Spur. In: Dies.: Eine Spanne Zeit. Übers. v. Klaus Staemmler. München: Piper 1992, S. 158-160, S. 158. 75 Hirsch: Surviving Images, S. 14. 76 Fink: Die Spur, S. 159.
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»Sie unterbricht sich. ›Ich möchte mich lieber nicht daran erinnern.‹ Plötzlich aber ändert sie ihre Meinung und bittet, daß alles, was sie sagt, aufgeschrieben und für immer festgehalten wird, denn sie möchte, daß eine Spur bleibt. ›Was für Kinder?77 Was für eine Spur?‹ Eine Spur dieser Kinder. Nur sie kann diese Spur hinterlassen, denn nur sie ist am Leben geblieben.«78
Selbstverständlich kann auch in der Erzählung Finks eine Bestätigung gesehen werden, dass eine Fotografie der sprachlichen Auslegung bedarf. Das scheint mir hier aber nicht der wesentliche Impuls des Rückgriffs auf ein fiktives Foto zu sein. Mit der Übertragung des Begriffs Spur von den Spuren im Schnee auf die Erzählung der Zeugin, ihrer Vermittlung durch die Fotografie, die in dieser Funktion durchaus als eine weitere Spur betrachtet werden kann, wird die Annäherung an das Geschehen zu einer ständigen Verfolgung von Spuren, die aufeinander verweisen, deren Objekt aber entzogen bleibt. Die Spuren folgen einander, sie umkreisen das Ereignis, aber können es nicht zeigen. Konsequenterweise endet die Erzählung auch nicht mit der Erschießungshandlung: »Mit ruhiger Stimme bittet sie um eine kurze Pause. […] Nach der Pause wird sie erzählen, wie sie alle erschossen wurden.«79 Wichtig erscheint mir deshalb nicht so sehr der Evidenz-Charakter der Fotografie, sondern die potenzierte Vermittlung der Gedächtnismedien und Überreste (Spuren, Fotografien, Berichte) und deren Aussparung des eigentlichen Zentrums der Handlung, auf das sie verweisen. Dies ist allgemein charakteristisch für Finks Vorgehen in Eine Spanne Zeit. Die Vernichtung wird hier nie selbst, unmittelbar erzählt, sondern immer die Ereignisse um sie herum, der Moment vor dem Abtransport, die Berichte von Augenzeugen oder Gerüchte – die Spuren dessen, was geschah, und die, in denen sich das unmittelbar Folgende ankündigt.80 Dieses Vorgehen rückt, wie Saul Friedländer bemerkt, Finks Erzählungen in die Nähe zu Lanzmanns Shoah: »Reality is there, in its starkness, but perceived through a filter: that
77 Im unmittelbar vorhergehenden, hier nicht zitierten Absatz wurden von der Überlebenden Kinder erwähnt (vgl. ebd., S. 159). 78 Ebd., S. 159; (Anführungszeichen gegenüber der Übersetzung korrigiert; vgl. Ida Fink: ĝlad. In: Dies.: Skrawek czasu. London: Aneks 1987, S. 100-101, S. 100). 79 Ebd., S. 160. 80 Vgl. Marek Wilczynski: Trusting the Words: Paradoxes of Ida Fink. In: Modern Language Studies 24/4 (1994), S. 24-38, S. 29: »Instead of reconstructing the last moment, the loss of life (can language enter and survive the gas chamber, doesn’t it die together with the gassed and the shot who speak it?), Fink’s prose repeatedly concentrates on awaiting, on anticipating the moments of recognition and disclosure which lead up to the death sentence.«
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of memory (distance in time), that of spatial displacement, that of some sort of narrative margin which leaves the unsayable unsaid.«81 Fotografien können, wie gezeigt, ebenfalls als solche ›Filter‹ eingesetzt werden, um in der ästhetischen Konstruktion eines literarischen Textes eine Annäherung an Auschwitz zu ermöglichen, die das, was sich dem Gedächtnis entzieht, bewahrt, ohne es unmittelbar zu zeigen. Gerade das scheinbar unmittelbare Zeigen von Vorgängen, die der Erfahrung unzugänglich sind, wie es ein realistisches Verständnis der Fotografie oft unterstellt, fordert Verfahren der Distanzierung heraus, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Die Spannung zwischen Unmittelbarkeit und Distanz – selbst nicht unmittelbar gegeben, sondern Teil immer schon Abstand nehmender Reflektion ԟ findet in den Extrempositionen zur fotografischen und filmischen Repräsentation von Auschwitz ihren Ausdruck. In gewisser Weise spricht eine Position wie diejenige Lanzmanns, der jede Repräsentation verwirft, dem Bild größere Macht zu als Kracauer, der zwar auf das Bild vertraut, aber gerade darin dessen Macht relativierend bricht. Trotz seiner proklamierten Nähe zu Kracauers Position erweitert Didi-Huberman dessen Vertrauen aufs Bild, wenn er nicht beim reinen Betrachten stehenbleibt, sondern die Fotos des Sonderkommandos zum Ausgang nimmt, sich von den Umständen ihrer Aufnahme ›ein Bild zu machen‹. Seine empathische und in mehrfacher Hinsicht imaginativ vermittelte Bildlektüre geht zweifellos sehr weit, steht aber doch im Kontext jüngerer bildwissenschaftlich inspirierter historischer Forschung,82 die daran erinnert, dass Fotografien auch im Kontext von Auschwitz Gedächtnismedien nicht nur in dem Sinn sind, dass sie visuelle Daten der Vergangenheit aufbewahren, sondern vor allem Artefakte, in denen sich vergangene Einstellungen objektivieren. Dies betrifft über die Entstehungszeit hinaus auch deren Nachgeschichte, die diskursiven, familiären, politischen und weiteren Rahmungen, die Fotografien im Lauf der Zeit erfuhren und die noch ihre heutige Rezeption prägen. Literarische Texte sind ebenso Teil dieser Rahmungen, wie sie sie selbst inszenieren, nachvollziehen und darin reflektieren. Wie sehr die Fotografie innerhalb von literarischen Texten zum Gedächtnismedium in diesem mehrfachen Sinn wird, wie sie Gedächtnisinszenierungen im Text durchkreuzt und auf ein Vergessenes verweist, das sie doch nicht darstellen kann, wird in den folgenden Kapiteln näher zu untersuchen sein.
81 Saul Friedlander: Introduction. In: Ders. (Hg.): Probing the limits of representation, S. 121, S. 17. 82 Vgl. als Überblick: Miriam Y. Arani: Die fotohistorische Forschung zur NS-Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History (Online-Ausgabe) 5/3 (2008) (http://www.zeithistorische-forschungen.de/ 16126041-Arani-3-2008 (zuletzt geprüft am 26.8.2010)).
Jorge Semprun: Die andere Erinnerung
1. F OTO
UND
Z EUGENSCHAFT
Die Debatte um Didi-Hubermans Images malgré tout hatte in Frankreich (zumindest) einen Vorläufer, der unmittelbar für das Verhältnis fotografischer und literarischer Repräsentationen von Auschwitz interessant ist. Im Mai 2000 veröffentlichte die Zeitschrift Le Monde des Débats ein Interview mit dem Buchenwald-Überlebenden Jorge Semprun, in dem dieser unter anderem Lanzmanns Position zu Bildern des Holocaust scharf angreift: »Certains font de l’Holocauste un tabou. On en trouve une formulation extrême, fondamentaliste, chez Claude Lanzmann. Il est allé jusqu’à dire que si l’on trouvait un document sur les chambres à gaz, il faudrait le détruire. C’est aberrant, parce que les ›révisionnistes‹ ont précisément axé leur campagne sur cette question.«1
Unmittelbar im Anschluss daran war eine Stellungnahme Lanzmanns abgedruckt, in der dieser sich natürlich dagegen verwahrte, »d’être traiter de fondamentaliste de l’Holocauste […]. Je n’ai jamais parlé de détruire un document sur les chambres à gaz.« Mit seiner Insistenz auf den Dokumenten schreibe sich Semprun in ein »univers de la preuve« ein, während es ihm im Gegenteil um die »absence des traces« gegangen sei. Die »images sans imagination« der Archive dagegen überspielten diese Abwesenheit.2 Lanzmann wendet sich dabei auch gegen Sempruns Behauptung, in Bezug auf die Verfilmung von William Styrons Sophie’s Choice, das Geschriebene sei öfter stärker als das Bild3: »La question de l’image est centrale. On
1 2
Jorge Semprun: L’art contre l’oubli. In: Le Monde des Débats, Mai 2000, S. 11-13, S. 11. Claude Lanzmann: Parler pour les morts. In: Le Monde des Débats, Mai 2000, S. 14-16, S. 14.
3
Vgl. Semprun: L’art contre l’oubli, S. 11.
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ne peut pas voir, mais ce qu’on ne peut pas voir, il faut le montrer et avec des images. J’ai fait une œuvre visuelle de la chose la plus irreprésentable.«4 Nun hat Lanzmann in der Tat nicht, wie Semprun unterstellt, zur allgemeinen Zerstörung von Dokumenten aufgerufen, und es ließe sich darüber streiten, was aus einem hypothetischen SS-Film, der die Vergasung von 3000 Menschen zeigte,5 denn zu erfahren wäre oder ob es eines solchen Beweises für die Existenz der Gaskammern überhaupt bedürfte.6 Auffällig ist allerdings der unmittelbare Übergang in Lanzmanns Verteidigung seiner Haltung gegenüber Archivbildern zur Verteidigung seines eigenen Films. Die Frage nach dem Bild ist hier tatsächlich zentral. Der öffentliche Streit zweier Intellektueller, denen zudem ein gewisser Hang zu prononcierten Positionen nicht abzusprechen ist, wäre hier nicht weiter von Interesse, wenn die in ihm angesprochenen Fragen der Repräsentation nicht auch in der literarischen Praxis Sempruns selbst ausgetragen würden. Ein detaillierter Vergleich der Positionen und der jeweiligen Ästhetik Lanzmanns und Sempruns ist allerdings nicht angestrebt; die in der jeweiligen Arbeit verkörperte Mediendifferenz jedoch kann als Anstoß dienen, die Bedeutung von Fotografien und Filmbildern in Sempruns eigener Gedächtnispoetik genauer zu betrachten. Dass bei der Kontroverse die Position des Schriftstellers auf die des Filmemachers trifft, mutmaßte bereits Jean-Jacques Delfour in seinem ԟ in Bezug auf Lanzmann teilweise etwas apologetischen ԟ Kommentar zum »dialogue entre Semprun et Lanzmann«7: »Semprun défend plus ici les droits de l’écrivain qu’il ne veut prendre à partie Lanzmann luimême. […] Écrire, c’est convertir une image obsédante en littérature; il est alors normal qu’il oppose une pellicule filmée par les nazis à Shoah où il s’agit, à rebours, de convertir de la parole en image.«8
4
Lanzmann: Parler pour les morts, S. 15.
5
Darum ging es in Lanzmanns Aussage, vgl. Lanzmann: Holocauste, S. VII; vgl. zu Lanzmanns Position auch das vorhergehende Kapitel.
6
In dem Sinn hält Chéroux ein solches Bild v.a. hinsichtlich der theoretischen Kontroverse, die darum geführt wird, für fruchtbar. Es sei »una specie di nodo della riflessione ԟ ma un nodo che occulta il ramo, l’albero e la foresta che si trovano intorno.« (Clément Chéroux: Le camere oscure o l’immagine assente? In: Ders. (Hg.): Memoria dei campi. Fotografie dei campi di concentramento e di sterminio nazisti (1933-1999). Rom: Contrasto 2001, S. 213-217, S. 216 (= ital. Ausgabe v. Chéroux (Hg.): Mémoire des camps)).
7
Jean-Jacques Delfour: La pellicule maudite. In: L’Arche 508 (2000), S. 14-17, S. 14.
8
Ebd., S. 17.
D IE ANDERE E RINNERUNG
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In der Form ist diese Dichotomie angesichts von Sempruns Arbeit als Drehbuchautor9 und, mit der Dokumentation Les deux mémoires, als Filmemacher sicherlich überspitzt, so wie es diesem auch überhaupt nicht um eine Entgegensetzung von Shoah und einem Nazi-Film ging, sondern um den Status eines solchen Films als Dokument und Beweis. In Sempruns L’écriture ou la vie10 findet sich allerdings eine Szene, die Delfours Hypothese eines Schreibens, das vom Bild ausgeht, recht nahe kommt, sie zugleich aber entscheidend modifiziert. Der Erzähler, den man hier weitgehend mit Semprun gleichsetzen kann,11 berichtet von einem Kinobesuch in Locarno im Winter 1945/46, wo er versucht, die Erfahrung seiner Haft in Buchenwald zu verarbeiten. Während des Vorfilms sieht er sich plötzlich mit den Filmen, die die Alliierten bei der Befreiung der deutschen Konzentrationslager aufnahmen, konfrontiert: »Il y en avait aussi de Buchenwald, que je reconnaissais. Ou plutôt: dont je savais de façon certaine qu’elles provenaient de Buchenwald, sans être certain de les reconnaître. Ou plutôt: sans avoir la certitude de les avoir vues moi-même. Je les avais vues, pourtant. Ou plutôt: je les avais vécues. C’était la différence entre le vu et le vécu qui était troublante.« (EoV, S. 259)
Die ständigen Präzisierungen, die den Absatz skandieren, zeugen noch in der Schreibsituation, mehr als 40 Jahre nach dem Kinobesuch, von der Schwierigkeit, die Verquickung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit angesichts des Zwiespalts zwischen den Filmbildern und der eigenen Erfahrung zu beschreiben. In seiner 9
U.a. für Alain Resnais’ La guerre est fini (1966), Costa Gavras’ Z (1968) und L’Aveu (1970).
10 Jorge Semprun: L’écriture ou la vie. Paris: Gallimard (folio) 1996 (fortan zitiert als EoV). 11 Dies ist nicht bei allen Buchenwald-Büchern Sempruns so einfach – oft wird die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist durch Pseudonyme verwischt oder im Unklaren gelassen. Auf der anderen Seite gibt es in den eindeutig fiktionalen Romanen Sempruns immer wieder Figuren, die deutliche Parallelen zum Verfasser aufweisen. Ich folge hier der pragmatischen Lösung Neuhofers, die Buchenwald-Texte aufgrund der vorliegenden Kommunikationssituation als autobiografisch anzusehen (vgl. Monika Neuhofer: »Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé.« Jorge Sempruns literarische Auseinandersetzung mit Buchenwald. Frankfurt a.M.: Klostermann 2006 (= Analecta Romanica, 72), S. 38; vgl. auch Connie Anderson: Artifice and Autobiographical Pact in Semprun’s L’Écriture ou la vie. In: Neophilologus 90 (2006), S. 555-573; Laia Quílez Esteve/Rosa-Àuria Munté Ramos: Autobiography and Fiction in Semprún’s Texts. In: CLCWeb: Comparative Literature and Culture 11/1 (2009) (http://docs.lib.purdue.edu/clcweb/vol11/iss1/4, zuletzt geprüft am 12.9.2010)). Um die Mischung von autobiografischen Details und fiktional markierter Erzählsituation geht es im zweiten Teil dieses Kapitels.
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medialen Form tritt das Gesehene Semprun als Fremdes gegenüber und konfrontiert ihn mit einem Blick von außen, zwingt ihn, diesen Blick selbst einzunehmen. Es ist ein Blick, in dem bereits auf den ersten Seiten des Buches sich die Kluft zwischen der Erfahrungswelt der Häftlinge und der Außenwelt niederschlägt.12 »Ils sont en face de moi, l’œil rond, et je me vois soudain dans ce regard d’effroi: leur épouvante« (EoV, S. 13): Der Schrecken im Blick der drei alliierten Offiziere, denen der Erzähler am Anfang entgegentritt, ist für ihn zunächst nicht verständlich. Fast zwei Jahre hat er ohne Spiegel gelebt und kann die Veränderungen seines Gesichts nicht abschätzen. Er kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass es der Schrecken seines eigenen Blicks sein muss, der sich in dem der anderen spiegelt. Die im anschließenden Gespräch mit den Offizieren sich offenbarende Schwierigkeit,13 die Erfahrung des Lagers der Außenwelt zu kommunizieren, findet ihren ersten Niederschlag bereits in der Unmöglichkeit, die jeweiligen Blicke zu erwidern.14 Diese Unmöglichkeit muss Semprun nun im Kino von Locarno selbst erfahren, wenn ihm der fremde Blick als Teil eines schon kollektiven Gedächtnisses wiederbegegnet.15 Bisher habe er Bilder wie die gerade gesehenen immer vermieden: »J’avais celles de ma mémoire, qui surgissaient parfois, brutalement. Que je pouvais aussi évoquer délibérément, leur donnant même une forme plus ou moins structurée, les organisant dans un parcours d’anamnèse, dans une sorte de récit ou d’exorcisme intime. […] Soudain, cependant, dans le silence de cette salle de cinéma de Locarno […] ces images de mon intimité me devenaient étrangères, en s’objectivant sur l’écran. Elles échappaient aussi aux procédures de mémorisation et de censure qui m’étaient personnelles.« (EoV, S. 260)
Die Differenz zwischen Gesehenem und Erlebtem überschwemmt das Bewusstsein und die Zensurmechanismen des Gedächtnisses, die Filmbilder erreichen eine »dimension de réalité démesurée, bouleversante, à laquelle mes souvenirs eux-mêmes 12 Vgl. zum Motiv des Blicks: Neuhofer: »Écrire un seul livre«, S. 232 ff.; Herrmann Krapoth: Schreiben im Zeichen des Todes. Motivkonstellationen in Jorge Sempruns L’écriture ou la vie. In: Hinrich Hudde/Alfred Noe (Hg.): Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag. Heidelberg: Winter 1997 (= Studia Romanica, 87), S. 503-516, S. 508 ff; vgl. von dieser Stelle ausgehend zum Blick bei Semprun allgemein: Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 223 ff. 13 Vgl. zu der Szene auch Ulrike Vordermark: Das Gedächtnis des Todes. Die Erfahrung des Konzentrationslagers Buchenwald im Werk Jorge Semprúns. Köln u.a.: Böhlau 2008, S. 53. 14 Segler-Meßner liest die Szene des Blicktauschs im Sinne Lévinas’ als Begegnung mit dem Anderen, vgl. Silke Segler-Meßner: Archive der Erinnerung. Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoah in Frankreich. Köln u.a.: Böhlau 2005, S. 207 ff. 15 Darauf weist Didi-Huberman hin, vgl. Didi-Huberman: Images malgré tout, S. 112.
D IE ANDERE E RINNERUNG
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n’atteignaient pas« (EoV, S. 260 f.). Indem die überwältigende Realität der Filmbilder aber jede weitere Verarbeitung der persönlichen Erfahrung blockiert, bestätigt sie zugleich deren fortdauernde Realität: »Comme si, paradoxalement à première vue, la dimension d’irréel, le contenu de fiction inhérents à toute image cinématographique, même la plus documentaire, lestaient d’un poids de réalité incontestable mes souvenirs les plus intimes. D’un côté, certes, je m’en voyais dépossédé; de l’autre, je voyais confirmé leur réalité: je n’avais pas rêvé Buchenwald. Ma vie, donc, n’était pas qu’un rêve.« (EoV, S. 261)
Für einen Moment tritt angesichts der dem Film eigenen Mischung aus faktualem Gestus und fiktionaler bzw. narrativer Verknüpfung der Bilder das Gefühl der traumartigen Unwirklichkeit der eigenen Existenz in den Hintergrund. Das Thema des eigenen Lebens als Traum ԟ »le rêve de la mort, seule réalité d’une vie qui n’est elle-même qu’un rêve« (EoV, S. 313) ԟ, die Angst, man selbst sei immer noch im Lager oder sogar der Traum eines anderen, der dort umgekommen ist, ist in Sempruns Büchern, oft mit dem Bezug auf das Ende von Levis La tregua verbunden,16 ständig präsent.17 Die sich daraus ergebende Problematik der Identität wird, auch anhand einiger Romane Sempruns, noch genauer zu betrachten sein. Nimmt der Film dem Leben zwar seine Unwirklichkeit, so lässt die Konfrontation mit der Wirklichkeit der eigenen Erfahrung die Möglichkeiten gegenwärtigen Erlebens und der Zeiterfahrung doch nicht unberührt. Bereits in der Betrachtung des anschließenden Hauptfilms schlägt sich dies nieder: »Les images se succédaient, hachées, sans grande cohésion entre elles, malgré leur force indiscutable. Sans que je fusse toujours capable de les insérer dans la continuité d’un récit, le flux d’un déroulement temporel« (EoV, S. 258). Der durch die Bilder der Wochenschau ausgelöste Schock zerbricht die Möglichkeiten einer narrativen Kohärenzstiftung sogar dort, wo diese 16 Vgl. EoV, S. 304, S. 313; vgl. Primo Levi: Se questo è un uomo/La tregua. Turin: Einaudi 1989, S. 325; Levi berichtet hier von einem immer wiederkehrenden Traum nach der Befreiung: »È un sogno entro un altro sogno, vario nei particolari, unico nella sostanza. Sono a tavola con la famiglia, o con amici, o al lavoro, o in campagna verde: in un ambiente insomma placido e disteso, apparentemente privo de tensione e di pena; eppure provo un’angoscia sottile e profonda, la sensazione definitiva di una minaccia che incombe. E infatti, al procedere del sogno, […] tutto cade e si disfa intorno a me, lo scenario, le pareti, le persone, e l’angoscia si fa più intensa e più precisa. Tutto è ora volto in caos: sono solo al centro di un nulla grigio e torbido, ed ecco, io so che cosa questo significa, ed anche di averlo sempre saputo: sono di nuovo in Lager, nulla era vero all’infuori del Lager. Il resto era breve vacanza, o inganno dei sensi, sogno […].« 17 Vgl. u.a. Semprun: Quel Beau Dimanche! Paris: Grasset 1980, S. 58, S. 97, 313; EoV, S. 203, 240 f., 304, 313 ff., 316.
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eigentlich schon Teil der ästhetischen Konstruktion ist. Dass dies im Bezug auf das eigene Leben weitaus gravierendere Folgen hat, liegt auf der Hand. In seinem zweiten Buch zu Buchenwald, Quel beau dimanche!, beschreibt Semprun mit ähnlichen Formulierungen die Schwierigkeit, seinem eigenen Leben eine (narrative) Form zu geben: »Ma vie n’est pas un flux temporel, une durée fluide mais structurée, ou pire encore: se structurant, un faire se faisant soi-même. Ma vie est constamment défaite, perpétuellement en train de se défaire, de s’estomper, de partir en fumée. Elle est une suite hasardeuse d’immobilités, d’instantanés, une succession discontinue de moments fugaces, d’images qui scintillent passagèrement dans une nuit infinie. […] La vie comme un fleuve, comme un flux, est une invention romanesque. Un exorcisme narratif, une ruse de l’Ego pour faire croire à son existence éternelle, intemporelle – même si c’est sous la forme perverse et pervertie du temps qui passe, perdu et retrouvé – et pour s’en convaincre soi-même en devenant son propre biographe, le romancier de Soi-même.«18
Die Unmöglichkeit und Künstlichkeit chronologischen Erzählens – »Mais essayez de raconter vraiment une histoire dans l’ordre chronologique! C’est impossible«19 ԟ ist nicht nur auf der Ebene der histoire ständiges Thema von Sempruns Büchern, sie strukturiert auch den discours mit den ständigen Analepsen und Prolepsen der Erinnerung und dem Bezug auf den Zeitpunkt des Schreibens. An der zitierten Stelle wird die mit der Fotometapher der »instantanés« bezeichnete Diskontinuität durch den Bezug auf den Rauch wieder an die Todeserfahrung des Konzentrationslagers rückgebunden. Der Rauch des Krematoriums, bei Semprun ein ständiges Erinnerungssymbol für die Lagererfahrung,20 kann für die Holocaust-Literatur allgemein nicht erst mit Celans »Grab in den Wolken« als feststehende Trope für den Tod im Lager gelten.21 Die fortdauernde Präsenz des Erlebten macht dessen literarische Verarbeitung unmittelbar nach der Rückkehr unmöglich: »le récit que je m’arrachais de la mémoire, bribe par bribe, dévorait ma vie. […] Non pas parce que je ne parvenais pas à écrire: parce que je ne parvenais pas à survivre à l’écriture, plutôt« (EoV, S. 254). 18 Semprun: Quel beau dimanche!, S. 325; zu den Anspielungen auf Prousts Recherche siehe unten. 19 Semprun: Yves Montand. La vie continue. Paris: Denoël (folio) 1985, S. 308. 20 Vgl. Neuhofer: »Écrire un seul livre«, S. 235 ff. 21 Vgl. z.B. Rosenfeld: Ein Mund voll Schweigen, S. 33, der auch darauf hinweist, dass streng genommen hier von einer Trope nicht gesprochen werden kann. Semprun verwendet Celans Zeile als Titel für seine Dankesrede bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (vgl. Semprun: »…vous avez une tombe au creux des nuages…« In: Ders.: Mal et modernité. Paris: Seuil 1997, S. 68-93).
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Die letztendliche Entscheidung, das Schreibprojekt aufzugeben, die titelgebende Wahl zwischen dem Schreiben oder dem Leben zugunsten von Letzterem zu treffen, fasst er schließlich im Anschluss an den Besuch des Kinos.22 Dies, wie die Tatsache eines langen Verdrängens der Erfahrung, bevor sie literarisch verarbeitet werden kann, modifiziert zumindest Delfours These, Sempruns Schreiben beruhe auf der Transformation einer »image obsédante en littérature.«23 Innerhalb der Erzählung wird die Entscheidung freilich auf den Moment der Betrachtung eines vergessenen Regenschirms von Bakunin gelegt, den Lorène, eine junge Frau, die der Erzähler auf der Fahrt nach Locarno kennengelernt hat, diesem in der Villa ihrer Eltern zeigt.24 Dieser Schirm, »Symbol des Vergessens schlechthin«,25 ist auch in der Inszenierung seiner Besichtigung, in einer Vitrine im Empfangsraum einer bürgerlichen Villa am Lago Maggiore, stark symbolisch aufgeladen. Der Weg zur Vitrine führt den Erzähler – nachdem er mit der Tochter des Hauses geschlafen hat ԟ durch die Bibliothek, was auf der Ebene der Erzählzeit mit der Erinnerung an eine andere Bibliothek, in Mailand, wo er zum ersten Mal Levis La tregua las, verknüpft wird. Der Durchgang durch die Bibliothek, der vergessene und doch bewahrte Schirm und auch die vorhergehende sexuelle Erfüllung erscheinen beinahe wie die sekundäre Bearbeitung einer traumatisch bedingten Unmöglichkeit zu schreiben, deren ›tatsächliche‹ Einsicht im Kino zu verorten dann allerdings wohl doch etwas spekulativ wäre.
22 Didi-Hubermans Kommentar zu der Stelle, in der er zwar sehr richtig die subjektive Erinnerung des Überlebenden mit den bereits einem kollektiven Gedächtnis überantworteten Filmbildern konfrontiert sieht, ist in seiner Schlussfolgerung deshalb so nicht haltbar: »À seulement regarder ces images – et à réfléchir aussi intensément sur ce regard ԟ, Semprun entrait pour de bon dans son œuvre de témoignage et de transmission.« (Didi-Huberman: Images malgré tout, S. 112). Auf die Problematik, umstandslos das Werk als autobiografische Quelle zu nehmen, weist Einfalt unter anderem anhand dieser Szene hin, die im fiktionalisierten, aber stark autobiografischen Roman L’évanouissement ganz ohne den Bezug aufs Kino auskommt (vgl. Jorge Semprun: L’évanouissement. Paris: Gallimard 1967, S. 109 ff.; vgl. Michael Einfalt: Die Konstruktion der Erinnerung als Aufgabe der Literatur. In: Silke Segler-Meßner (Hg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2006, S. 125-139, S. 127 ff.). 23 Delfour: La pellicule maudite, S. 17; in dem Sinn wäre auch seine Vermutung zu relativieren, »qu’il [Semprun] protège une position, celle de l’écriture, celle de la littérature de fiction, précisément parce que c’est par elle qu’il a quitté les camps, qu’il s’en est ›guéri‹ selon ses propres mots, et qu’il a pu y ›revenir‹ sans être anéanti« (ebd., S. 16). 24 Vgl. EoV, S. 270 ff. 25 Neuhofer: »Écrire un seul livre«, S. 216.
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Die nach dem mehr als 15 Jahre lang aufrechterhaltenen Vergessen oder Verdrängen der Erfahrung von Buchenwald verfassten Bücher Sempruns ließen sich mit ihrer Fülle literarischer Bezüge in der Tat als Durchgang durch eine Bibliothek bezeichnen. Sie sind aber auch aufgrund ihrer relativ späten Abfassung bereits mit einem Kanon von Lagerliteratur konfrontiert. Insbesondere in L’écriture ou la vie wird Primo Levi zu Sempruns zentralem Referenzautor.26 An Levi orientiert und unter dem Eindruck von dessen Selbstmord entwickelt sich vor allem hier und in Sempruns bislang letztem Text über Buchenwald, Le mort qu’il faut,27 das eigene Selbstverständnis als Zeuge.28 Auch wenn in der Intensität, mit der Semprun von der Nachwirkung Buchenwalds in seinem Leben und von der ständigen Präsenz des Todes im Lager selbst berichtet, diese Erfahrung mit der des Auschwitz-Überlebenden Levi vergleichbar sein dürfte (während die Schreiberfahrung allerdings eine andere ist), besteht doch ein fundamentaler Unterschied zwischen Sempruns vergleichsweise ›privilegierter‹ Position als politischer Funktionshäftling in einem Lager mit gut organisierter Widerstandsstruktur und der spezifisch jüdischen Erfahrung der Shoah. Semprun hat diesen Unterschied durchaus reflektiert. 29 Schon in seinem ersten Buch, das von der ›großen Reise‹ der Deportation erzählt und weitgehend dem früheren, in Frankreich vor allem von ehemaligen Résistance-Kämpfern geprägten Lagerdiskurs zuzurechnen ist,30 stellt der Erzähler fest: »il y a une autre façon de voyager, pour les juifs«.31 Aus der Inkommensurabilität der Erfahrungen folgt für ihn aber bereits hier die Verpflichtung, auch im Namen der Toten zu sprechen: »C’est vrai que j’ai décidé d’oublier. […] C’est bon, j’avais oublié, je peux me souvenir de tout, désormais. Je peux raconter l’histoire des enfants juifs de Pologne pas comme une histoire qui me soit arrivée, à moi particulièrement, mais qui est arrivée avant tout à ces enfants 26 Vgl. neben den bereits erwähnten Passagen v.a. EoV, S. 318 ff. (zum Zeitpunkt der Abfassung von Le grand voyage (Paris: Gallimard (folio) 1972 [EA 1963]) kannte er Levis Bücher, von denen nur Se questo è un uomo relativ unbeachtet schon erschienen war, freilich noch nicht; der zentrale Intertext wäre hier eher noch Proust (s.u.). In Quel beau dimanche! steht die Auseinandersetzung mit der eigenen stalinistischen Vergangenheit stärker im Vordergrund; die zentralen Intertexte hier stammen eher von Solschenizyn und Schalamow). 27 Semprun: Le mort qu’il faut. Paris: Gallimard (folio) 2002. 28 Vgl. hierzu v.a. Neuhofer: »Écrire un seul livre«, S. 35, S. 221. 29 Vgl. z.B. das Gespräch mit Elie Wiesel: Jorge Semprun/Elie Wiesel: Schweigen ist unmöglich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 7 ff. 30 Vgl. zum anfänglichen Ausblenden der jüdischen Opfer im französischen Erinnerungsdiskurs: Segler-Meßner: Archive der Erinnerung, S. 42 ff. 31 Semprun: Le grand voyage, S. 110.
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juifs de Pologne. C’est-à-dire, maintenant, après ces longues années d’oubli volontaire, non seulement je peux raconter cette histoire, mais il faut que je la raconte. Il faut que je parle au nom des choses qui sont arrivées, pas en mon nom personnel. L’histoire des enfants juifs au nom des enfants juifs. L’histoire de leur mort […] au nom de cette mort elle-même.«32
Obwohl der Erzähler in Quel beau dimanche! eben dies zurückweist, wenn er schreibt »rien ne m’autorisera jamais de parler au nom des morts, l’idée même de m’attribuer ce rôle me remplit d’horreur«,33 kommt diese Stellvertreterrolle hier wieder im Gespräch mit einer jungen Polin ins Spiel, der kein anderes Zeugnis als Le grand voyage die Erfahrung ihres in Buchenwald ermordeten Vaters vermitteln kann.34 In den folgenden Buchenwald-Büchern wird die Rolle als Zeuge dann explizit und in zunehmender Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Diskursen angenommen. In deutlicher Anspielung an Levi heißt es in L’écriture ou la vie: »les revenants doivent parler à la place des disparus, parfois, les rescapés à la place des naufragés« (EoV, S. 182). Die Selbstcharakterisierung als »revenant«, als Wiedergänger, betrifft nicht nur die immer wieder empfundene Unwahrscheinlichkeit des eigenen Überlebens, sondern hier auch die Zugehörigkeit zur »mémoire collective de notre mort« (EoV, S. 160). Der Anklang an den zentralen Begriff von Maurice Halbwachs, dessen Sterben im Kleinen Lager von Buchenwald immer wieder in Sempruns Büchern erzählt wird,35 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein »sozialer Rahmen«36 für dieses Gedächtnis immer problematisch ist. Die Singularität der Erfahrung steht mit einem kollektiven Gedächtnis, das über die Gruppe der ehemaligen Häftlinge hinausginge, immer in einem Spannungsverhältnis.37 Das »Mit-Sein-zum-Tode« (EoV, S. 121), wie Semprun die spezifische Erfahrung der Häftlinge in Umkehrung von Heidegger nennt, wird in Le mort qu’il faut in der 32 Ebd., S. 193. 33 Semprun: Quel beau dimanche!, S. 216; der Unterschied zu Le grand voyage beim Verständnis der eigenen Position im Gedächtnis der Lager (eine Position, die sich von Text zu Text ändert, vgl. Neuhofer: »Écrire un seul livre«, S. 35) liegt hier sicherlich auch in der Abwendung vom Kommunismus begründet – der Anspruch einer stellvertretenden Zeugenschaft, der sich aus einem universellen Anspruch ableitet, wird unter anderen Vorzeichen und in modifizierter Form in den späteren Schriften wieder aufgenommen. 34 Vgl. ebd., S. 365 f. 35 Vgl. z.B. EoV, S. 36 ff.; Le mort qu’il faut, S. 111 f.; zum ersten Mal erzählt Semprun davon in L’évanouissement, S. 73 ff. 36 Vgl. Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Übers. v. Lutz Geldsetzer. Berlin, Neuwied: Luchterhand 1966, S. 21 u. passim; vgl. zu Halbwachs bei Semprun, allerdings mit anderem Schwerpunkt als hier: Vordermark: Das Gedächtnis des Todes, S. 162 f. 37 Wie erwähnt, spielt dies auch in die Szene im Kino in Locarno hinein.
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Teilhabe am Sterben des Muselmanns François und der Übernahme von dessen Zeugenschaft umgesetzt. Darin ist auch eine deutliche Reaktion auf die Aufmerksamkeit zu erkennen, die in der Holocaust-Forschung seit den neunziger Jahren und insbesondere im Gefolge von Agamben dem Muselmann und dem Status des Zeugen zukommt. Diesen Status verteidigt der Erzähler dann auch mit beißender Ironie gegen die »spécialistes«, für die als »meilleur témoin« nur derjenige in Frage komme »qui n’a pas survécu, celui qui est allé jusqu’au bout de l’éxpérience, et qui en est mort.«38 Bald aber werde der »point idéal auquel aspirent les spécialistes«39 erreicht sein, wenn auch die letzten Zeugen gestorben sind. Sempruns Schreiben begreift sich auch als Widerstand gegen dieses Verschwinden der Zeugen. In L’écriture ou la vie erzählt er, wie er bei seinem ersten Besuch in Buchenwald seit der Befreiung eine Hand auf die Schulter des ihn begleitenden jungen Thomas Landman legte, »comme un passage de témoin« (EoV, S. 374). Diese Weitergabe der Zeugenschaft weist als paratextuelle Geste über den Bereich des jeweiligen Buches hinaus. Wie an der Stelle erinnert wird, ist Thomas Landman auch Quel beau dimanche! gewidmet.40 Man könnte Sempruns Konzept der Zeugenschaft dialogisch nennen, in einem über die bloße Tautologie hinausgehenden Sinn. Dialogisch ist es nicht nur in der Kommunikation und Kommunizierbarkeit des Gesehenen, sondern auch im Bachtin’schen Sinne, als intertextuelle Auseinandersetzung mit anderen Zeugen und Theoretikern, der literarischen Tradition und nicht zuletzt den vorhergehenden eigenen Texten. Die Konstruktion eines Gedächtnisraums der Literatur lässt das Zeugnis selbst zum genuin literarischen werden.41 Die Literatur schafft einen Rahmen, in dem die Singularität der Erfahrung des Todes im Lager ԟ wie unvollständig auch immer ԟ Teil eines kollektiven Gedächtnisses werden kann. Eine zentrale Rolle nimmt in der Kette von Weitergaben der Zeugenschaft auf der Ebene der histoire von L’écriture ou la vie der von der Häftlingsorganisation im Lager organisierte Bericht eines ehemaligen Mitglieds des Sonderkommandos von Auschwitz-Birkenau, der nun nach Buchenwald deportiert wurde, ein. Mit dem Versuch der politischen Häftlinge, diesen Bericht zu verarbeiten, endet das Buch. 38 Semprun: Le mort qu’il faut, S. 17. 39 Ebd., S. 218. 40 Dies betrifft ebenso Sempruns andere Buchenwald-Texte: Le grand voyage ist Sempruns Sohn Jaime gewidmet, der bei Erscheinen 16 Jahre alt war – so alt wie die jüdischen Kinder, deren Ermordung durch die SS der Erzähler beobachten muss (vgl. Le grand voyage, S. 192) ԟ, L’écriture ou la vie der dreijährigen Cécilia Landman (vgl. zu ihr EoV, S. 354), der, zusammen mit zwei weiteren »jeunes lectrices exigeantes et gaies«, auch Le mort qu’il faut gewidmet ist (vgl. Le mort qu’il faut, S. 7). Zur Weitergabe der Zeugenschaft und den Widmungen vgl. auch Neuhofer, S. 260. 41 Vgl. Neuhofer, S. 36.
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Auf dem Rückweg in seine Baracke betrachtet der Häftling Semprun die nächtliche Ebene von Thüringen: »J’ai dû m’arrêter, pour reprendre mon souffle. Mon cœur battait très fort. Je me souviendrai toute ma vie de ce bonheur insensé, m’étais-je dit. De cette beauté nocturne. J’ai levé les yeux. Sur la crête de l’Ettersberg, des flammes orangées dépassaient le sommet de la cheminée trapue du crématoire.« (EoV, S. 396)
»Ja, davon, vom Glück im Konzentrationslager müßte ich ihnen erzählen«42 ԟ Imre Kertész’ in französischer Übersetzung erst nach L’écriture ou la vie publizierter Roman eines Schicksallosen spricht mit der Provokation seiner letzten Sätze ein Problem an, das sich auch bei Semprun mit der Zeugenschaft verbindet. Denn es geht hier natürlich nicht um die Frage, ob ein Glück tatsächlich möglich war oder in der Erinnerung als Ausdruck gelungener Ich-Findung empfunden werden könnte.43 Der Kontrast zwischen dem Glücksgefühl und dem Schein des Krematoriums sowie die unmittelbare Nähe zum Bericht vom Tod der Juden in der Gaskammer von Birkenau setzen auf eine gezielte Verstörung des Rezipienten, eine Durchbrechung der gängigen Wahrnehmungsmuster des Konzentrationslagers, deren Klischees das Verständnis von vornherein blockieren. Es handelt sich hier in erster Linie um die Frage der Darstellbarkeit des Lagers. Schon aufgrund des späten Beginns der literarischen Auseinandersetzung mit Buchenwald, aber auch wegen der dialogischen Struktur der Semprun’schen Zeugenschaft, ist dessen Schreiben »mit dem Topos der Undarstellbarkeit unweigerlich konfrontiert.«44 Es liegt nahe, den eingangs angesprochenen Dissens mit Lanzmann 42 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Reinbek: Rowohlt 2004, S. 287. 43 Mullor-Heymann scheint mir daher etwas zu weit zu gehen, wenn sie die ›Rückkehr‹ 1992 nach Buchenwald als Moment »wirkliche[r] Ichfindung« und »Vollendung des eigenen Lebens« ansieht und von da aus (also nicht auf die hier zitierte Stelle bezogen) auf Kertész als Gewährsmann für ein Glück im KZ verweist (vgl. Montserrat Mullor-Heymann: Der verborgene Sinn einer absurden Sehnsucht: Jorge Semprún und Buchenwald. In: Thomas Bremer/Jochen Heymann (Hg.): Sehnsuchtsorte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Titus Heydenreich. Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 421-432, v.a. S. 431 f.). Dass die Identitätsproblematik bei Semprun als solche sich nicht zuletzt aus der Erfahrung des Lagers (neben der des Exils) erst herleitet, wird auf den folgenden Seiten deutlich werden. 44 Vordermark: Das Gedächtnis des Todes, S. 77; vgl. dort auch den Überblick zur Form der Debatte in Frankreich; vgl. dazu auch Judith Klein: Schreiben nach Auschwitz. Die französische Debatte. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 75 (1994), S. 205-214; um
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auch in dem Zusammenhang zu sehen. Sein Kern dürfte allerdings weniger im Bereich der oft zitierten Wendung gegen das Klischee vom Unsagbaren am Anfang von L’écriture ou la vie liegen.45 In seiner Reaktion auf Semprun betont auch Lanzmann, er habe »jamais accepté l’idée de l’indicible ou de l’ineffable.«46 Bei Semprun schließt sich an die Ablehnung des Unsagbaren ein Zweifel an: »Mais peut-on tout entendre, tout imaginer? Le pourra-t-on?« (EoV, S. 26). Die Frage der Darstellbarkeit ist vor allem ein Problem der Kommunikation und der Rezeption. Dieses Problem entwickelt sich an der betreffenden Stelle schon aus einer konkreten Situation, der Begegnung mit den alliierten Offizieren unmittelbar nach der Befreiung, und wird in ähnlichen Konstellationen in Sempruns Texten immer wieder durchgespielt.47 Es liegt auch der Betrachtung des Vorfilms in Locarno zugrunde. Nach seinem Erschrecken über die veräußerlichten Bilder der eigenen Erfahrung reflektiert der Erzähler das Problem, dass diese zwar die »vérité de l’expérience vécue« bestätigen können, zugleich aber von der »difficulté éprouvée de la transmettre, à la rendre sinon transparente du moins communicable« (EoV, S. 261) zeugen: »Les images, en effet, tout en montrant l’horreur nue, la déchéance physique, le travail de la mort, étaient muettes. […] Muettes surtout parce qu’elles ne disaient rien de précis sur la réalité montrée […]. Il aurait fallu travailler le film au corps, dans sa matière filmique même, en arrêter parfois le défilement: fixer l’image pour en agrandir certains détails; reprendre la projection au ralenti, dans certains cas, en accélérer le rythme, à d’autres moments. Il aurait surtout fallu commenter les images, pour les déchiffrer, les inscrire non seulement dans un contexte historique mais dans une continuité de sentiments et d’émotions. Et ce commentaire, pour s’approcher de plus près possible de la vérité vécue, aurait dû être prononcé par les survivants eux-mêmes: les revenants de cette longue absence, les Lazares de cette longue mort. Il aurait fallu, en somme, traiter la réalité documentaire comme une matière de fiction.« (EoV, S. 262)
Obgleich die Überlegungen, da es um Aufnahmen unmittelbar nach der Befreiung der Lager geht, eher noch an einen Film wie Alain Resnais’ Nuit et brouillard denken lassen, steht die Grundkonzeption durchaus in gewisser Nähe zu Lanzmanns Vorgehen in Shoah. Die Betonung der Notwendigkeit von Fiktion widerspricht an dieser Stelle nicht unbedingt dessen im Zusammenhang mit Spielbergs Film geäueine Einordnung Sempruns in den Kontext geht es auch Patricia A. Gartland: Three Holocaust Writers: Speaking the Unspeakable. In: Critique 25 (1983), S. 45-56. 45 Vgl. EoV, S. 26: »On peut toujours tout dire, en somme. L’ineffable dont on nous rebattra les oreilles n’est qu’un alibi. Ou signe de paresse. On peut toujours tout dire, le langage contient tout.« 46 Lanzmann: Parler pour les morts, S. 14. 47 Vgl. hierzu wieder ausführlich Vordermark: Das Gedächtnis des Todes, S. 51 ff.
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ßerter Verdammung der »fiction« als »transgression«.48 David Carroll, der Sempruns Fiktions-Begriff als »narrative to the second degree, narrative that has been transformed and recreated as an aesthetic object«49 umschreibt, weist im Zusammenhang mit der zitierten Passage auf die Nähe der Idee, »documentary images as material for fiction« zu behandeln, zu Lanzmanns Ablehnung der reinen Dokumentarbilder als »images sans imagination« hin.50 Auch Lanzmann grenzt seinen eigenen Film von der Fernsehserie Holocaust mit der Begründung ab, bei jenem handele es sich um »eine Fiktion aus dem Wirklichen, was etwas völlig anderes ist.«51 Dies betrifft vor allem die wörtliche Verkörperung des Zeugnisses durch die befragten Zeugen,52 den Versuch, diese in gewisser Weise zu Schauspielern ihrer eigenen Geschichte zu machen in Form einer »Inszenierung als Wiederkehr des Erlebten.«53 Im einen wie im anderen Fall ist mit Fiktion zunächst eine ästhetische Transformation gemeint, zum Zweck der Kommunizierbarkeit einer Wahrheit, die über die bloß dokumentarisch aufzeigende Referenz hinausgeht. Die Ablehnung des Dokumentarischen bei Lanzmann zielt aber nicht nur, wie bei Semprun, auf eine durch den bloßen Schrecken nicht kommunizierbare Wahrheit ab, sondern vor allem auch auf das Problem der Spurlosigkeit des Massenmords an den europäischen Juden. Ein Problem, das sich in der Radikalität für Sempruns literarisches Zeugnis vom Überleben des Todes nicht stellt. 48 Lanzmann: Holocauste, la représentation impossible, S. VII. 49 David Carroll: The Limits of Representation and the Right to Fiction: Shame, Literature, and the Memory of the Shoah. In: L’Esprit créateur 39/4 (1999), S. 68-79, S. 74. 50 Ebd., S. 78, S. 79, Anm. 11; vgl. zu Lanzmanns Formulierung auch Lanzmann: Parler pour les morts, S. 14; auf die Problematik von Carrolls Übersetzung von »matière de fiction« als »material for fiction« statt als »material of fiction« weist Anderson hin (vgl. Anderson: Artifice and Autobiographical Pact, S. 256 f.). 51 Claude Lanzmann: Der Ort und das Wort. Über Shoah. In: Ulrich Baer (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 101-118, S. 112; vgl. auch Lanzmanns Aussage in einem Interview mit Heike Hurst: »Was ich gemacht habe: Ich habe wirkliche Gestalten der Geschichte in Darsteller verwandelt, die dabei fast zu Gestalten der Literatur oder des Theaters werden.« (Eine befreiende Wirkung. Gespräch mit Claude Lanzmann. In: Claude Lanzmann: Shoah. Deutsch v. Nina Börsen u. Anna Kamp. Düsseldorf: claasen 1986, S. 269-277, S. 276). 52 Vgl. Lanzmann: Der Ort und das Wort, S. 113; dieses Vorgehen führt durchaus in ethische Grenzbereiche, etwa bei der Befragung Abraham Bombas, der in Treblinka den Menschen vor ihrer Ermordung die Haare schneiden musste, in einem Friseursalon in Tel Aviv. Als Bomba, von seinen Erinnerungen überwältigt, nicht mehr weitersprechen kann, bedrängt ihn Lanzmann, seine Erzählung zu Ende zu führen. 53 Koch: Die Einstellung ist die Einstellung, S. 168; Koch weist in dem Zusammenhang auf die Bedeutung der Sartreschen Psychoanalyse für Lanzmann hin.
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Semprun geht mit seiner Betonung der Notwendigkeit von Fiktion aber einen Schritt weiter, bei dem ihm Lanzmann schwerlich folgen dürfte. Seine BuchenwaldTexte sind nicht nur ԟ stellenweise ԟ fiktional im Sinn ihres pragmatischen Status’, indem sie eine autobiografische Kommunikationssituation zwar herstellen, aber zugleich die Künstlichkeit der narrativen Mittel offenlegen.54 Sie enthalten zudem erfundene Elemente,55 die, wie der »gars de Semur«, mit dem der Erzähler in Le grand voyage während der Deportation spricht, als solche erst in späteren Texten benannt werden: »J’ai inventé le gas56 de Semur, j’ai inventé nos conversations: la réalité a souvent besoin d’invention, pour devenir vraie. C’est-à-dire vraisemblable« (EoV, S. 336 f.).57 Die Betonung der Wahrscheinlichkeit spielt nicht bloß auf Aristoteles an,58 sondern gewinnt im Fall der Konzentrationslager eine eigene Virulenz. Die Wahrheit selbst erscheint hier unwahrscheinlich. In einer Diskussion der ehemaligen Häftlinge direkt nach ihrer Befreiung, wie sich die Erfahrung des Lagers denn erzählen lasse, ist es diese Frage, die der Erzähler nun mit dem berüchtigten »inimaginable« verbindet: »La vérité que nous avons à dire […] n’est pas aisément crédible… elle est même inimaginable… […] ԟ Comment raconter une vérité peu crédible, comment susciter l’imagination de l’inimaginable, si ce n’est pas en élaborant, en travaillant la réalité, en la mettant en perspective? Avec un peu d’artifice, donc!« (EoV, S. 166)
54 Vgl. Anderson: Artifice and Autobiographical Pact. 55 Da es im Fall von Sempruns Texten nicht unproblematisch ist, »Fiktivität« als Eigenschaft der Objekte fiktionaler Texte, wie dies etwa Zipfel tut, mit »nicht-wirklich« gleichzusetzen (vgl. Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 19), folge ich hier dem Vorschlag von Bunia, »Erfundenheit« von Fiktion abzugrenzen (vgl. Remigius Bunia: Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien. Berlin: Erich Schmidt 2007, S. 136: »Erfundenheit ist stets ein Indiz für Poiesis und für Fiktion; Fiktion dagegen kommt mit wenig oder gar keiner Erfindung aus. […] Eine Begebenheit soll e r f u n d e n heißen, wenn unwahrscheinlich ist, daß sie sich belegen lässt. Als Beleg gilt jede Beschreibung, die ihrerseits nicht erfunden ist.«) 56 Semprun übernimmt in L’écriture ou la vie die Schreibweise aus Jean Paulhans Lektoratsgutachten zu Le grand voyage (vgl. EoV, S. 335 f.). 57 Vgl. auch Le mort qu’il faut, S. 187. 58 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, S. 28/29 (1451 a f.).
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Die Präzisierung dieser Ideen legt Semprun einem anderen Häftling, einem Professor der Universität Straßburg, in den Mund, dessen Ausführungen die späteren Überlegungen angesichts des Dokumentarfilms in Locarno zum Teil vorwegnehmen: »Le cinéma paraît l’art le plus approprié, ajoute-t-il. Mais les documents cinématographiques ne seront sûrement pas très nombreux. Et puis les événements les plus significatifs de la vie des camps n’ont sans doute jamais été filmés… De toute façon, le documentaire a ses limites, infranchissables… il faudrait une fiction, mais qui osera? Le mieux serait de réaliser un film de fiction aujourd’hui même, dans la vérité de Buchenwald encore visible… La mort encore visible, encore présente. Non pas un documentaire, je dis bien: une fiction… c’est impensable…« (EoV, S. 169)
Im Anschluss greift der Erzähler seine Reflektionen wieder im Bezug auf die Unmöglichkeit einer vollständigen Vermittlung der Lagererfahrung auf: »Il restera des livres. Les romans, de préférence. Les récits littéraires, du moins, qui dépasseront le simple témoignage, qui donneront à imaginer, même s’ils ne donnent pas à voir« (EoV, S. 170). Was nicht gesehen werden kann, auch nicht in der filmischen oder fotografischen Repräsentation, muss durch die literarische Imagination vermittelt werden. Der hier eher implizit aufgestellte Gegensatz von Literatur und Film wird in einer poetologischen Überlegung an späterer Stelle innerliterarisch wieder aufgenommen. In einem Gespräch mit der Literaturkritikerin Claude-Edmonde Magny, die vor seiner Verhaftung eine Art literarische Mentorin Sempruns war, über dessen Projekt, das Konzentrationslager literarisch zu verarbeiten, und die Schwierigkeiten, die ihm dies bereitet, kommt er auf seine Bewunderung für William Faulkners Absalom! Absalom! zu sprechen: »[…] la complexité du récit faulknérien, toujours construit en arrière, vers le passé, dans une spirale vertigineuse. C’est la mémoire qui compte, qui gouverne l’obscurité foisonnante du récit, qui le fait avancer […] Hemingway construit l’éternité de l’instant présent par les moyens d’un récit quasiment cinématographique… Faulkner, quant à lui, traque interminablement la reconstruction aléatoire du passé […].« (EoV, S. 218)
Die Charakterisierung von Faulkners Stil ist hier auch Porträt des eigenen. Die ständigen Neuansätze und Abschweifungen in Sempruns Büchern, in denen »es sich größtenteils um Erinnerungen an Erinnerungen handelt [...] auch um Erinnerungen an Selbsterinnerungen«,59 halten den »interdit de la figuration du présent« (EoV, S. 218) ein, indem sie sich dieser Gegenwart nie anders als von ihrer Nach59 Richard Faber: Erinnern und Darstellen des Unauslöschlichen. Über Jorge Sempruns KZLiteratur. Berlin: tranvia 1995, S. 47.
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geschichte her nähern.60 Diese Nachgeschichte ist aber keine Geschichte des Überlebens, sondern eines Nachlebens des Todes.61 Die ständige Bedrohung durch den Tod in Buchenwald und das Miterleben des Sterbens der anderen bleibt als unassimilierbarer Rest im weiteren Leben präsent und wird im Schreiben, wie Ofelia Ferrán herausgearbeitet hat, performativ ausgetragen, »by making that experience come into being, in a sense, at the time of its articulation in language.«62 Auf dieser Dynamik dürften die Probleme, die das Schreiben nach der unmittelbaren Rückkehr Semprun bereitete, beruhen, und von ihr aus sind auch die häufigen Identitätswechsel und Pseudonyme, generell der Hang zur Autofiktion in Sempruns Büchern zu verstehen. Der Versuch, die traumatische Erfahrung in der aktiven Wiederholung zu bewältigen,63 geht dabei auch in den späteren, geglückten literarischen Versu-
60 Stefan Hesper hat anhand von L’évanouissement überzeugend dargelegt, dass gerade dieser Zug von Sempruns Schreiben mit Deleuze’ Philosophie des Films sehr gut beschrieben werden kann (vgl. Stefan Hesper: »Jedes Ereignis befindet sich sozusagen in der Zeit, in der nichts passiert«. Das Ereignis als Wunde im Gewebe der Zeit bei Jorge Semprún und Gilles Deleuze. In: Inke Arns u.a. (Hg.): Kinetographien. Bielefeld: Aisthesis. 2004, S. 125-139). Wenn er allerdings in einem früheren Aufsatz konstatiert, Semprun benutze »Filmtechniken beim Schreiben«, indem »Erinnerungen […] bei ihm unmittelbar aufeinander, wie durch Schnitte verkettete, kombinierte Bilder« folgten (Stefan Hesper: Man kann alles sagen - Man kann alles vergessen. Der Taumel des Gedächtnisses bei Jorge Semprun. In: Kristin Platt (Hg.): Reden von Gewalt. München: Fink 2002, S. 346-362, S. 356), scheint er die transmediale Anwendbarkeit eines Verfahrens als intermediale Systemkontamination – wie es in Rajewskys Systematik wohl genannt werden müsste (vgl. Rajewsky: Intermedialität, S. 143, S. 161) ԟ anzusehen. Im Fall der Fotografie bleibt die hier benannte Differenz ohnehin bestehen, da diese gerade kein »Zeitbild« ist (zu einem weiteren Vgl. v. Sempruns Erzähltechnik mit dem Film, allerdings im Verbund mit einer Reihe weiterer fragwürdiger Bezüge, vgl. Franz H. Schrage: Weimar ԟ Buchenwald. Spuren nationalsozialistischer Vernichtungsgewalt in Werken von Ernst Wiechert, Eugen Kogon, Jorge Semprun. Düsseldorf: Grupello 1999, S. 72). 61 Vgl. Lawrence L. Langer: Pursuit of Death in Holocaust Narrative. In: Partisan Review 68/3 (2001), S. 379-395, zu Semprun vgl. S. 387 ff.; Tidd bezeichnet Sempruns Bücher deshalb als »Autothanatographies« (vgl. Ursula Tidd: The Infinity of Testimony and Dying in Jorge Semprún’s Holocaust Autothanatographies. In: Forum for Modern Language Studies 41/1 (2005), S. 407-417). 62 Ofelia Ferrán: »Cuanto más escribo, más me queda por decir«: Memory, Trauma, and Writing in the Work of Jorge Semprun. In: Modern Language Notes 116/2 (2001), S. 266-294, S. 271. 63 Vgl. auch Bella Brodzki: Can these bones live? Translation, survival, and cultural memory. Stanford: Stanford University Press 2007, S. 159, 166.
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chen Sempruns einher mit der Gefahr, selbst von den eigenen Erinnerungen überwältigt zu werden.64 In L’écriture ou la vie beschreibt er einen Moment, als bei der Abfassung seines Romans Netchaïev est de retour plötzlich die eigene Erinnerung an Buchenwald in die Erzählung einbricht. In der Handlung des Romans erinnert sich ein Protagonist an einen jungen spanischen Häftling, den er als Offizier der französischen Armee kurz nach der Befreiung des Lagers vor der Tür des Gestapo-Büros trifft. Unter der Hand, erzählt Semprun, sei die Erzählung plötzlich in die erste Person geglitten: »J’envahissais le récit même« (EoV, S. 296). Aus den dabei entstandenen Entwürfen wird später L’écriture ou la vie entstehen. Die langsam zur Präsenz kommende Erinnerung beim Abfassen eines Textes, der im Grunde nur kurz und eher indirekt auf die eigene Biografie verweisen sollte, fasst Semprun mit einer Metapher, die uns in ähnlichen Formen bereits bekannt ist: »Le souvenir réel des trois officiers d’une mission alliée qui se dévoilait derrière la fiction a commencé à prendre forme et contour, comme les images qui émergent dans le flou originaire d’une photographie Polaroïd« (EoV, S. 295). Die nicht zuletzt von Proust her geläufige Entwicklungsmetapher legt in dieser gleichsam modernisierten Form den Fokus ganz auf das gegenwärtige Erscheinen der Gedächtnisbilder. Dennoch ist auch hier, ähnlich wie in Prousts Recherche, das zeitliche Moment des langsamen Auftauchens einer Erinnerung zugunsten der Präsenz des fertigen Fotos, oder, wie im Vergleich von Faulkner und Hemingway aufgerufen, des Kinobilds, hervorgehoben. Allerdings ist das Foto dabei weniger Teil einer unzulänglichen mémoire volontaire als vielmehr einer zu direkten Präsentierung des Vergangenen, die dessen wesentliche Dimension – nicht nur vergangen zu sein, sondern bis in die Gegenwart nachzuwirken ԟ ausblendet. An einer früheren Stelle nimmt Semprun die Entwicklungsmetapher in ihrer herkömmlichen Form, mit stärkerem Gewicht auf dem latenten Bild, auf, um die im »Verwahrensvergessen«65 aufbewahrten Erinnerungen zu kennzeichnen: »Mais le souvenir existe, quelque part, au-delà de l’oubli apparent. Il me suffit de m’appliquer, de faire en moi le vide des contingences du présent, de m’abstraire volontairement de l’entourage ou de l’environnement […]. Des visages émergent alors, des épisodes et des rencontres reviennent à la surface de la vie. […] Comme si, en quelque sorte, la pellicule impressionnée autrefois par une caméra attentive n’avait jamais été développée […].« (EoV, S. 230)66
64 Vgl. zu einem Beispiel hierzu Ferrán: »Cuanto más escribo«, S. 275. 65 So der treffende Begriff, den Gülich von Jünger zur Charakterisierung von Prousts Gedächtnisentwurf übernimmt (Gülich: Metaphorik der Erinnerung, S. 54; vgl. Friedrich Georg Jünger: Gedächtnis und Erinnerung. Frankfurt a.M.: Klostermann 1957, S. 17). 66 Vgl. zu einer ähnl. Metapher auch Quel beau dimanche!, S. 206 f.
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Die Entwicklung des vergessenen Bildes wird hier, mit der entsprechenden Metapher und der Betonung, dass dies »volontairement« geschehe, als deutlicher Gegenentwurf zu Proust formuliert. Sempruns Verhältnis zu Proust ist nicht unkompliziert; in beinahe allen seiner Bücher nimmt er auf die eine oder andere Weise auf ihn Bezug, betont aber ԟ oft gegen entsprechende literaturwissenschaftliche Untersuchungen gewandt ԟ, die Recherche erst 1981 zu Ende gelesen zu haben und sie schlecht zu kennen. Außerdem seien Prousts überbordende Sätze zu nah am Spanischen, wie auch die Erinnerungen selbst seinen eigenen Kindheitserinnerungen zu sehr glichen, um ihn wirklich zu interessieren.67 Es ist hier nicht der Ort, dieser Abwehr oder Ironisierung im Einzelnen nachzugehen. Der erwähnte Gegenentwurf in der willkürlichen Erinnerung kann an dieser Stelle noch als Versuch gelesen werden, die Herrschaft über die eigene traumatische Erfahrung zu behaupten – ein Versuch, dessen Kehrseite: der plötzliche, eben unwillkürliche Einfall der KZ-Erinnerungen, weitere Kontrafakturen von Prousts Poetik herausfordert. In Le grand voyage löst so der Biss in ein Stück Schwarzbrot in deutlicher Parallele zur Proust’schen Madelaine die Erinnerung an den Hunger im Konzentrationslager aus.68 Auf der anderen Seite steht die Recherche in diesem Roman im Zusammenhang der Versuche, sich in der Erinnerung an literarische Texte einen ästhetischen Rückzugsraum zu schaffen, um eine unerträgliche Gegenwart zu überleben69 ԟ etwa, wenn der Erzähler während der Deportation versucht, sich Du côté de chez Swann in Erinnerung zu rufen.70 Gerade 67 Vgl. u.a. EoV, S. 189, S. 193 f.; Yves Montand, S. 30; vgl. auch die Ablehnung, die Rafael Artigas, dem Protagonisten und teilweisen Alter Ego Sempruns (s.u.) in L’Algarabie (Paris: Gallimard (folio) 1996; im Folgenden als »Alg« im Text zitiert) unter Bezug auf eine Studie Péter Egris (Péter Egri: Survie et réinterprétation de la forme proustienne. Proust – Déry – Semprun. Debrecen: Tudományegyetem 1969) in den Mund legt (Alg, S. 38 ff.). 68 Vgl. Semprun: Le grand voyage, S. 150 f. 69 Vgl. Brett Ashley Kaplan: »The Bitter Residue of Death«: Jorge Semprun and the Aesthetics of Holocaust Memory. In: Comparative Literature 55 (2003), S. 320-337; vgl. auch die in ihren Schlussfolgerungen vielleicht etwas zu optimistische Einschätzung von Manuel S. Koppisch: Buchenwald, Books, and the Identity of the Intellectual in the Works of Jorge Semprun. In: Papers on Language and Literature 45 (2009), S. 386-410; dass im Bezug zur literarischen Tradition ein Unterschied zur Erfahrung des AuschwitzÜberlebenden Jean Améry liegt, hat Siguán herausgearbeitet, vgl. Marisa Siguán: ›Bethsaïda, la piscine des cinq galeries‹: Literarische Tradition und Schweigen im Werk von Jorge Semprún und Jean Améry. In: Marisa Siguán/Karl Wagner (Hg.): Transkulturelle Beziehungen. Spanien und Österreich im 19. und 20. Jahrhundert. Amsterdam u.a.: Rodopi 2004, S. 215-232. 70 Vgl. Semprun: Le grand voyage, S. 86 f.
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dies aber stellt die ästhetische Tradition umso nachhaltiger, auch rückwirkend, in den Schatten Buchenwalds.71 Die Erinnerung an den Tod kann vielleicht nur im literarischen Schreiben ihren adäquaten Ausdruck finden, doch fällt dies auf die literarischen Intertexte und die ästhetische Dimension dieses Schreibens wieder zurück. In einer Passage von L’écriture ou la vie wird diese Verbindung von nur noch imaginär einzuholender Abwesenheit und literarischem Gedächtnis auf eine Fotografie bezogen. Semprun beschreibt ein Foto, das bei der Verleihung des Prix Formentor für Le grand voyage aufgenommen wurde. Dem Bild selbst lassen sich nur einige Informationen entnehmen – die Personen, soweit sie identifizierbar sind, der ungefähre Zeitpunkt der Aufnahme am betreffenden Abend ԟ, aber wenig über die damalige Situation: »La photographie a capté un instant de connivence détendue, conviviale. Faisons-nous seulement semblant, pour les besoins de la photographie? Comment savoir? Le semblant serait la vérité de cette image, dans ce cas. Le faux semblant ou la vraie semblance« (EoV, S. 325). Bei der auf dem Foto sichtbaren Realität ist nicht zu entscheiden, ob es sich um jene »vraisemblance« handelt, die zur Wahrheit manchmal nötig ist, oder um bloßen Schein. Dem Erzähler geht es bei seiner Betrachtung des Bildes vor allem um eine bestimmte junge Frau auf dem Foto. »Pourquoi cette jeune femme m’avait-elle fait penser à Milena?« (EoV, S. 324) lautet der erste Satz des Kapitels. Erst auf der nächsten Seite präzisiert Semprun, dass es sich bei jener Milena, mit der er die junge Frau auf dem Foto nun vergeblich vergleicht, um Milena Jesenská handelt. Der Gedanke an diese ist natürlich wieder literarisch vermittelt, durch einen Satz aus einem Brief Kafkas: »Es fällt mir ein, dass ich mich an Ihr Gesicht eigentlich in keiner bestimmten Einzelheit erinnern kann[…] Nur wie Sie dann zwischen den Kaffeehaustischen weggingen, Ihre Gestalt, Ihr Kleid, das sehe ich noch« (EoV, S. 326 f.). Es ist die Bewegung, mit der die junge Frau einen Raum des Salzburger Schlosses, in dem die Preisverleihung stattfand, durchquerte, die ihn an diesen Satz aus Kafkas Briefen an Milena erinnert habe. Diese Bewegung ist auf der Fotografie natürlich nicht mehr zu sehen, sondern nur das Gesicht, auf dessen Fehlen in der Erinnerung Kafka »a construit l’édifice littéraire, aérien, superbe et poignante, d’un amour stérile, destructeur, se nourrissant exclusivement de l’absence, de la distance, du manque […]« (EoV, S. 343). Im Zusammenhang des Kapitels mit dem Rimbaud entlehnten Titel »Ô saisons, ô châteaux…« gibt die Evokation Kafkas Anlass zu einer längeren und Sempruntypischen Abschweifung über den Kauf der Briefe an Milena 1956 auf einer Reise im Auftrag der spanischen kommunistischen Partei, den eigenen Parteiausschluss 1964, der ausgerechnet in einem Schloss in der Nähe Prags entschieden wurde, und verbindet Kafka so mit der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert. Für 71 Vgl. hierzu, auch von Proust ausgehend, Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 253 ff.
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unseren Zusammenhang ist aber ein anderer Strang der Milena-Kafka-Assoziation wichtig. Semprun erzählt, wie er kurz nach seinem Parteiausschluss ein letztes Mal seine bevorzugten Orte in Prag, darunter Kafkas Grab und ein Bild Renoirs in der Nationalgalerie, besuchte. Er erinnerte sich, dass ihm einige Jahre zuvor, 1960, beim Anblick des Bilds von Renoir einfiel, dass dieses Bild auch Milena Jesenská betrachtet haben könnte. »Je m’étais souvenu du tremblement qui m’avait gagné à l’idée que Milena avait sans doute dû se trouver plus d’une fois à cette même place, immobile, contemplant la toile de Renoir. Je m’étais souvenu d’un souvenir de neige scintillant à la lumière des projecteurs, souvenir poignant que venait de faire éclater comme un feu glacé le souvenir de Milena elle-même: Milena Jesenskà, morte dans le camp de concentration de Ravensbrück.« (EoV, S. 348)
Die Blickerwiderung bei der Betrachtung des Kunstwerks, von der Benjamin spricht, ist hier tatsächlich so etwas wie ein »ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten« (GS I.2, S. 639). Der im Blick erinnerte eigene Blick wird zum Index eines abwesenden, der auch die Schönheit des Bildes mit dem Tod in den NS-Lagern kontaminiert. In Quel beau dimanche! ist fast wörtlich dieselbe Situation schon einmal beschrieben. Die dort nachfolgenden Sätze führen die Formulierung vom »édifice littéraire, aérien«, das Kafka auf der Abwesenheit von Jesenskás Gesicht aufgebaut habe, aus dem rein literarischen Kontext heraus und verleihen ihr etwas erschreckend Abgründiges: »Je me souviens du souvenir du visage de Milena s’en allant en fumée, s’estompant au gré du vent. Je me souviens d’un souvenir évanescent de moi-même dans le souvenir de Milena, comme si c’était elle qui avait rêvé, un dimanche de Ravensbrück, la visite que je ferais vingt ans plus tard au palais Sterberk, pour y contempler cette toile de Renoir qu’elle connaissait sans doute. Je me souviens d’un rêve de Milena rêvant mon existence.«72
Das eigene Leben als Traum eines Toten bzw. einer Toten wird hier auf die Spitze getrieben. Der Schnee, dessen Assoziation die Erinnerung an Jesenská einleitet, ist wie der Rauch des Krematoriums eines der häufigsten Erinnerungssignale für Buchenwald (und darüber hinaus auch die stalinistischen Lager) bei Semprun.73 Seine Erwähnung findet im Kapitel »Ô saisons, ô châteaux…« in L’écriture ou la vie ein 72 Semprun: Quel beau dimanche!, S. 313. 73 Vgl. u.a. EoV, S. 185, S. 205, S. 275, S. 282, S. 306, S. 310, S. 393; in Quel beau dimanche! wird das Motiv auch auf die Erinnerungen der ehemaligen Gulag-Häftlinge bezogen, vgl. S. 135 ff.; vgl. zum Schnee auch Krapoth: Schreiben im Zeichen des Todes, S. 512 ff.; Neuhofer: »Écrire un seul livre«, S. 237 ff.
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weiteres Echo. Da der Verleger der spanischen Ausgabe von Le grand voyage nicht rechtzeitig zur Verleihung des Prix Formentor ein fertiges Exemplar der wegen der frankistischen Zensur in Mexiko gedruckten Übersetzung bekommen hat, übergibt er dem Erzähler ein Exemplar, dessen Seiten noch vollständig unbedruckt sind. Die weißen Seiten rufen über die Assoziation des Schnees auf dem Ettersberg die »présence de la mort« ins Gedächtnis: »la neige d’antan était de nouveau tombée sur ma vie« (EoV, S. 350). Wieder kehrt sich mit der Anspielung an François Villons Ballade des Dames du temps jadis ein literarisches Motiv um: Die »neiges d’antan«74 sind nicht mehr Motiv der Vergänglichkeit, sondern einer Wiederkehr des Vergangenen. Für Semprun werden die weißen Seiten – neben dem Verweis auf das Verschwinden der spanischen Muttersprache75 ԟ zum Symbol für die »tâche interminable […] que la transcription de l’expérience de la mort« (EoV, S. 351).76 Das leere Buch am Ende des Kapitels ist das Gegenstück zur Fotografie am Anfang, auf der die Präsenz der jungen Frau in Salzburg 1964 in ihrer Unähnlichkeit an das vergessene Gesicht Milena Jesenskás erinnert und über diese Abwesenheit an deren Tod in Ravensbrück. Was auf dem Foto fehlt, die Bewegung, verweist auf Kafkas Vergessen von Jesenskás Gesicht und stellt dieses in den Horizont der eigenen Erfahrung: »Depuis deux ans, je vivais sans visage« (EoV, S. 13). Die Anwesenheit einer Unbekannten im Foto wird über die Umwege der Literatur zum Zeichen eines darunterliegenden Vergessens, das in immer neuen Schreibansätzen aufgerufen, aber nie ausgeschöpft werden kann.
2. F OTOGRAFIE
UND
F IKTION
Die Erinnerung an Milena Jesenská bindet die Fotografie im Text in ein komplexes Spiel mit der Abwesenheit ein. In gewisser Weise gilt dies bereits für die Entgegensetzung der eigenen Zeugenschaft zu den Bildern der Wochenschau in L’écriture ou la vie. Schließlich ruft auch dort die Abwesenheit dessen, was als das Wesentliche der Erfahrung des Konzentrationslagers erlebt wurde, den Widerspruch des Be74 François Villon: Ballade des Dames du temps jadis. In: Ders.: Sämtliche Dichtungen. Aus d. Franz. v. Walther Küchler, bearbeitet v. Marie-Luise Bulst. Frankfurt a.M.: Insel 1988, S. 82. 75 Zu Sempruns Zweisprachigkeit vgl. Georg Kremnitz: Ein Autor zwischen zwei Sprachen: Jorge Semprun. In: Siegfried Loewe/Alberto Martino/Alfred Noe (Hg.): Literatur ohne Grenzen. Festschrift für Erika Kanduth. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1993, S. 200-212. 76 Vgl. zur Unabschließbarkeit auch Karsten Garscha: Semprúns Rückkehr nach WeimarBuchenwald. In: Sybille Große/Axel Schönberger (Hg.): Dulce et decorum est philologiam colere. Festschrift für Dietrich Briesemeister zu seinem 65. Geburtstag. Berlin: Domus Editoria Europaea 1999, Bd. 1, S. 239-250.
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trachters hervor. In der Fotografie und den Dokumentarfilmen wiederholt sich das Problem des Überlebenden, die Lagererfahrung überhaupt kommunizieren zu können. Sie sind Stellvertreter des Blicks der Außenstehenden und dessen Transfer in ein kollektives Gedächtnis, das durch den Bericht der Überlebenden ergänzt werden muss. Die Notwendigkeit der Fiktion, des Artifiziellen der ästhetischen Form, um eine der Erfahrung adäquate Kommunikationssituation überhaupt herzustellen, wäre nun nicht allein auf die autobiografisch markierten, sondern auch die eindeutig fiktionalen Texte Sempruns zu beziehen. Diese stellen gleichsam das Revers der Einbindung fiktionaler Elemente in den autobiografischen Text dar: die Durchsetzung der Fiktion mit der eigenen Biografie.77 Anhand zweier Romane Sempruns, La deuxième mort de Ramón Mercader (1969)78 und L’Algarabie (1981), kann beispielhaft gezeigt werden, wie sehr diese Verbindung das besagte ›Nachleben des Todes‹ in der literarischen Form selbst wieder aufnimmt und welche Funktion dabei gerade Fotografien zukommt. Wenn der oft kryptische Verweis auf die eigene Biografie auch über Fotos vollzogen wird, ist darin freilich kein Rekurs auf einen ›Realismus‹ oder Dokumentarismus der Fotografie zu sehen, der über die Fiktion hinauswiese. Die Funktion der Fotografie im literarischen Text gestaltet sich komplexer. In beinahe allen Romanen Sempruns spielen Fotografien in der einen oder anderen Weise eine wichtige Rolle.79 In seinem letzten Roman, Veinte años y un día,80 eröffnen erotische Bilder der Hochzeitsreise ihrer verstorbenen Eltern dem Geschwisterpaar Isabel und Lorenzo Avendaño einen bisher unterdrückten Aspekt der vom spanischen Bürgerkrieg geprägten Familiengeschichte; in Netchaïev est de re-
77 Vgl. Fransiska Louwagie: L’imaginaire de Jorge Semprun. Narcisse entre miroir et fleur. In: Orbis litterarum 63 (2008), S. 152-171, die diese Verbindung am Beispiel der Verknüpfungen von Quel beau dimanche! und L’Algarabie untersucht. Louwagies Hinweis, dass es hierbei nicht um die »intimité de l’écrivain« gehen kann, sondern vielmehr um den »espace autobiographique« als intertextuellem Raum der Schriften Sempruns (ebd., S. 152), gilt auch für das hier zugrunde liegende Vorgehen. 78 Jorge Semprun: La deuxième mort de Ramón Mercader. Paris: Gallimard (folio) 1984 (im Folgenden RM). 79 Eine eingehendere Analyse der Fotografie-Bezüge bei Semprun hat bislang nur Streiff Moretti anhand von La deuxième mort de Ramón Mercader vorgelegt; da sie die auf der Handlungsebene vorliegenden Fotografien aber sowohl als Metapher, Allegorie und Symbol für einen ›denotativen‹ (die Autorin orientiert sich stark an Barthes, was sie auf Semprun rückprojiziert), besitzergreifenden Zugang zur Welt liest, trifft sie sich mit dem hier unternommenen Versuch nur in Ansätzen (vgl. Monique Streiff Moretti: La métaphore photographique: Jorge Semprun. In: Micromegas 13 (1986), S. 57-64). 80 Jorge Semprun: Veinte años y un día. Barcelona: Tusquets 2003.
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tour81 zeigt eine vergrößerte Fotografie das Gesicht des tot geglaubten Terroristen Daniel Laurençon – jenes »Netchaïev«, von dessen Rückkehr der Roman handelt ԟ, und ein Gruppenfoto der linksradikalen Gruppierung, deren ehemalige Mitglieder sich nun mit der Wiederkehr ihres früheren Gefährten auseinandersetzen müssen, zieht sich wie ein Leitmotiv durch die gesamte Handlung. In La montagne blanche treten zwar auch Fotos auf, aber für die Handlung entscheidender sind hier die Fernsehbilder einer Dokumentation über Konzentrationslager, die, gewissermaßen in Umkehrung der Kinoszene von L’écriture ou la vie, den Protagonisten Juan Larrea nach jahrzehntelangem Schweigen dazu veranlassen, von seiner Haft in Buchenwald zu erzählen.82 Am darauffolgenden Morgen ertränkt er sich in der Seine. Die Biografie des spanischen Protagonisten, dessen Name einer der vielen Decknamen Sempruns bei seiner Untergrundarbeit für die kommunistische Partei im Spanien Francos war,83 weist bereits deutliche Nähe zu der seines Autors auf; er ist »mort à ma place« (EoV, S. 317), wie Semprun in L’écriture ou la vie schreibt, nicht ohne das Thema des eigenen Lebens als Traum wieder aufzugreifen und zu fragen, ob nicht vielleicht das eigene Leben von Larrea geträumt worden sei. Die Vermengung von Fiktion und Biografie, Zeugnis des Bewusstseins der Unwahrscheinlichkeit des eigenen Überlebens, bestimmt auch die beiden hier genauer zu behandelnden Romane.84 Beide Texte präsentieren sich nicht in erster Linie als Erinnerungen an Buchenwald, sondern als sehr offen mit Elementen der Kolportage-Literatur arbeitende Romane, in denen die Probleme, das Scheitern und die Irrtümer der europäischen Linken verhandelt werden. Insbesondere La deuxième mort de Ramón Mercader wurde so oft nicht zu Unrecht als »eine[ ] Art Geschichte der kommunistischen Revolution in unserem Jahrhundert, […] eine[ ] Reflexion über ihren Aufstieg und Niedergang«85 gelesen. Die Geschichte des KGB-Agenten Ramón Mercader, eigentlich Ievgueni Davidowitch Guinsburg, der versucht, über einen Kontakt 81 Jorge Semprun: Netchaïev est de retour. Paris: Lattès 1987. 82 Vgl. Jorge Semprun: La montagne blanche. Paris: Gallimard 1986, S. 255. 83 Zu einer Aufzählung der verschiedenen noms de guerre von Semprun vgl. Wilfried F. Schoeller: Jorge Semprún. Der Roman der Erinnerung. München: Edition Text + Kritik 2006, S. 14 f.; Gérard de Cortanze: Jorge Semprun, l’écriture de la vie. Paris: Gallimard (folio) 2004, S. 84. 84 Zur Rolle der »doubles romanesques de l’auteur« vgl. Françoise Nicoladzé: La deuxième vie de Jorge Semprun. Une écriture tressée aux spirales de l’Histoire. Castelnau-le-Lez: Climats 1997, 74 f. 85 Karl Kohut: Die Problematik von Literatur, Revolution und Exil in Jorge Semprúns »La deuxième mort de Ramón Mercader«. In: Romanistisches Jahrbuch 24 (1973), S. 141162, S. 149; zu einer ähnlichen Lesart vgl. Lutz Küster: Obsession der Erinnerung. Das literarische Werk Jorge Semprúns. Frankfurt a.M.: Vervuert 1989, S. 98 ff.
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in Amsterdam mit seinen Vorgesetzten in Verbindung zu treten, um vor einem Verräter in den eigenen Reihen zu warnen, und der dadurch eine Ereigniskette auslöst, die vom CIA über den ostdeutschen SSD bis hin zur niederländischen Polizei alle möglichen Geheimdienste beschäftigt, bis er am Ende durch den CIA ermordet und selbst als Verräter dargestellt wird, involviert freilich mehr, als ein solches Handlungsresümee an politischer Zielrichtung erwarten ließe. Kathleen A. Johnson hat in ihrer Lektüre des Romans das Moment der kritischen Auseinandersetzung mit Geschichtsdarstellungen und den Versuch, in diesen eine revolutionäre Perspektive zu eröffnen, hervorgehoben.86 Auch wenn ihre Interpretation im Einzelnen nicht immer ganz überzeugend ist, ist ihr Hinweis auf die Bedeutung von Rahmungen, mithin der bildlichen Dimension der Geschichtsrepräsentation und ihrer Ausschlüsse – insbesondere angesichts der großangelegten Ekphrasis von Vermeers Ansicht von Delft, mit der der Roman eröffnet87 ԟ, instruktiv. Die Bedeutung des Abwesenden im Bild, die auch hier mit herein spielt, wurde ja bereits anhand der Fotografie von der Verleihung des Prix Formentor und der Erinnerung an Milena Jesenská herausgearbeitet. In La deuxième mort de Ramón Mercader findet sich eine weitere Szene, die ähnlich strukturiert ist, hier aber auch als Anstoß dient, die Biografie des Autors in die Fiktion des Agentenromans einzuführen. Der SSD-Agent Walter Wetter betrachtet bei seiner Verfolgung eines Kollegen vom CIA eine Fotografie an der Wand von Anne Franks früherem Versteck: »En haut, dans le logement clandestin, aux murs nus, des plaques de verre protégeaient quelques souvenirs jaunis de l’enfance d’Anne. Il y avait une photo de jeune fille fraîche et joyeuse et une voix de femme avait dit, à ses côtés: ›Oh G.A.! It’s Deanna Durbin!‹« (RM, S. 54). Wetter kann mit dieser Information zunächst nichts anfangen, aus den Gesprächen der amerikanischen Touristen im Anne Frank-Haus aber erraten, dass es sich um eine amerikanische Schauspielerin der dreißiger Jahre handeln muss ԟ »Bien sûr, il ne pouvait pas connaître« (RM, S. 54). »Il avait regardé le visage frais, l’inaltérable joie de vivre qu’il exprimait, malgré le jaunissement de cette méchante photo. Il avait regardé le visage de cette jeune femme inconnue, cette 86 Vgl. Kathleen A. Johnson: The Framing of History: Jorge Semprun’s La Deuxième Mort de Ramón Mercader. In: French Forum 20 (1995), S. 77-90. 87 Vgl. ebd., S. 81 ff.; vgl. zur Vermeer-Beschreibung auch Dietrich Schlumbohm: Prousts Page sur Vermeer: Durchgesehene, erweiterte und verbesserte Auflage von Jorge Semprun. In: Andreas Kablitz/Ulrich Schulz-Buschhaus (Hg.): Literarhistorische Begegnungen. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Bernhard König. Tübingen: Narr 1993, S. 319-327; zu Bildbeschreibungen bei Proust allg., mit Schwerpunkt auf La Montagne Blanche vgl. Manfred Schmeling: Europäisches Gedächtnis. Zur Text-Bild-Dialektik bei Jorge Semprún. In: Schmeling/Schmitz-Emans/Eckel (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur, S. 215-230.
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Deanna Durbin, comme s’il avait été l’image la plus troublante d’un bonheur inaccessible, d’une innocence à jamais perdue. Deanna Durbin? Il se sentait vieux, tout à coup, déraciné du paradis perdu des rêves enfantins. Il avait été arrêté à quinze ans, en 1934, lorsque la Gestapo avait démantelé l’organisation clandestine des jeunesses communistes de Berlin-Moabit.« (RM, S. 55)
Im Bild der unbekannten Schauspielerin konkretisiert sich für Wetter zunächst die eigene, in den Konzentrationslagern der Nazis verlorene Jugend. Nach einer längeren Erinnerung an die blutigen Kämpfe der kommunistischen Häftlinge mit den ›grünen Kapos‹ in den ersten Jahren in Buchenwald kommt Wetter wieder auf das Foto Durbins zurück: »Alors, au fond de lui-même, il souhaite désespérément que Deanna Durbin soit encore en vie, quelque part, qu’elle ait réussi à préserver la fraîcheur de ce regard enfantin qui veillait sur Anne Frank et sur Peter Van Daan, sur tous les autres emmurés […]« (RM, S. 57). Das Foto ist mehr als nur ein Erinnerungsanstoß, der durch den Kontrast seiner inszenierten Unbeschwertheit zur eigenen verlorenen Jugend die erfahrenen Leiden ins Gedächtnis ruft. In ihm überdauert auch etwas von der Jugend Anne Franks und zugleich verweist es, mit der Frage nach dem Leben der Schauspielerin, auf deren Ende. Anders als bei Durbin ist die Antwort auf die Frage, »ce qu’elle est devenue« (RM, S. 57), bei Frank bekannt. Die Biografie der Amerikanerin ist Stellvertreter und darin gleichsam negativer Hinweis auf die Ermordete. Indem nicht eines der bekannten und längst zu einer der vielen ›Ikonen‹ des Holocaust gewordenen Fotos von Frank beschrieben wird,88 tritt das Abwesende in eine Gegenwärtigkeit, die dem routinierten Gedenken vor den Bildern der Toten allzu oft abgeht. Innerhalb der Konstruktion des Romans ist diese Gegenwärtigkeit freilich an das individuelle Gedächtnis des Buchenwald-Überlebenden Wetter gebunden, der sich in der Folge auch an einen jüngeren spanischen Häftling erinnert, der mit ihm in der Arbeitsstatistik des Lagers arbeitete. Über die Identität dieses Häftlings kann für Semprun-Leserinnen und Leser kein Zweifel bestehen; im Übrigen gab es, wie Wetter später im Gespräch mit einem ehemaligen Mithäftling präzisiert, nur einen Spanier in diesem Bereich der Lagerverwaltung. Die Frage, wie dieser Spanier denn hieß, kann aber auch dieser nicht mehr beantworten: »Les noms, tu sais!« (RM, S. 301). »Présentes dans le premier roman de pure fiction, ces intrusions de l’auteur dans son texte, sont tout sauf ludiques. Le je n’est pas un jeu.«89 Roger Chemains 88 Vgl. dazu u.a. Willi Goetschel: Zur Sprachlosigkeit von Bildern. In: Manuel Köppen/ Klaus R. Scherpe (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur ԟ Film ԟ Bildende Kunst. Köln u.a.: Böhlau 1997, S. 131-144, v.a. S. 138. 89 Roger Chemain: Un imaginaire lazaréen: L’Expérience concentrationnaire dans l’œuvre de Jorge Semprún. In: Roger Chemain/Arlette Chemain Degrange (Hg.): Imaginaires
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prinzipiell zutreffendem Hinweis ließe sich entgegnen, dass es sehr ernste Spiele geben kann. Vor allem in L’Algarabie wird, weit über die autobiografischen Anspielungen im Ramón Mercader hinausgehend, die Problematik einer Identität nach Buchenwald in ein komplexes literarisches Spiel eingebunden, das sich auch in der Auseinandersetzung mit Fotografien äußert. Der Roman präsentiert sich in der Tat als äußerst spielerische und anspielungsreiche Geschichtsfiktion, »das Transkript einer überschießenden, phantastischen Narretei«,90 wie Schoeller es in offenbarer Verkennung der ernsten Thematik nennt. Der ausgiebige Rekurs auf trivialliterarische Vorlagen wie Eugène Sues klassischen Feuilletonroman Les mystères de Paris, der in L’Algarabie sogar verfilmt wird,91 den spanischen Picaro-Roman,92 aber auch die klassische Moderne,93 legen ein rein selbstbezüglich-literarisches Spiel durchaus nahe. Spielerisch erscheint auch der Handlungsrahmen, eine Geschichtskontrafaktur oder »Uchronie«,94 nach der die Revolte des Mai 68 in Frankreich zu einem allgemeinen Bürgerkrieg führte, in dessen Folge sich schließlich eine zweite Commune von Paris etablieren konnte, die nun, zur Zeit der Handlung, auf einige Arrondissements des linken Seine-Ufers reduziert, im Niedergang begriffen ist. Ausgangspunkt und einer der Hauptstränge der verzweigten Handlung, der durch verschiedene Zwischenfälle und Parallelhandlungen immer wieder aufgeschoben wird und schließlich mit dem Tod des Protagonisfrancophones. Nizza: Université de Nice Sophia-Antipolis 1995 (= Publications de la Faculté des Lettres, Arts et Sciences Humaines de Nice, Nouvelle série, 22), S. 335-350, S. 348 (Interpunktion so im Original). 90 Schoeller: Jorge Semprún, S. 131. 91 Vgl. zum Bezug auf Sue: Jörg Türschmann: Socialisme délabré et fatalisme littéraire: La »Zone d’Utopie Populaire« dans L’Algarabie de Jorge Semprun (1981). In: Elisabeth Arend/Dagmar Reichardt/Elke Richter (Hg.): Histoires inventées. La représentation du passé et de l’histoire dans les littératures française et francophones. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2008, S. 253-269, S. 262 ff. 92 Zu den pikaresken Elementen vgl. Tijana Miletic: European literary immigration into the French language. Readings of Gary, Kristof, Kundera and Semprun. Amsterdam u.a.: Rodopi 2008, S. 175 ff. 93 Vgl. auch die – selbst ironisch zu nehmende – ›Leseanleitung‹ des Romans selbst: »le lecteur de notre choix, astucieux lecteur, notre semblable, notre frère, n’a rien à apprendre à ce sujet: d’Eugène Sue à James Joyce, il aura déjà pratiqué, répertorié et peut-être même épuisé les joies, les ruses et les ficelles du roman picaresque ou épisodique, ou plutôt à épisodes […]« (Alg, S. 195). 94 Christoph Rodiek: Raumdarstellungen in neueren uchronischen Romanen. In: Roger Bauer/Douwe Fokkema (Hg.): Proceedings of the XIIth Congress of the International Comparative Literature Association. Space and Boundaries in Literature. München 1988. München: iudicium 1990, Bd. 2, S. 491-496, S. 491.
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ten Rafael Artigas in einer Schießerei ein abruptes Ende findet, ist dessen Versuch, bei der Präfektur der bürgerlichen Zentralregierung den endgültigen Beweis seiner Identität zu erbringen, um gültige Ausreisepapiere zu bekommen. Dies erweist sich als schwierig, da, wie die Lesenden sehr früh erfahren, es sich bei dem Namen Artigas um ein Pseudonym handelt und sämtliche offiziellen Papiere auf seinen richtigen Namen bei den Kämpfen um die Commune zerstört wurden. Bei diesem ›richtigen Namen‹ beginnt das Spiel der Identität, über die literarische Fiktion hinauszuweisen. Nicht nur war Rafael Artigas ein Deckname Sempruns während seiner Untergrundarbeit für den PCE, der Roman enthält auch sonst zahlreiche Verweise auf den Autor Semprun: Unter anderem wird eine längere Passage aus der englischen Übersetzung von La deuxième mort de Ramón Mercader als Zitat aus einem von Artigas’ Romanen präsentiert,95 oder dieser verweist hinsichtlich des von ihm geleugneten, aber von anderen oft behaupteten Einflusses Prousts auf sein Schreiben auf Peter Egris Studie Survie et réinterprétation de la forme proustienne, die sich mit seinem erstem Roman beschäftige,96 dessen Titel später wiederum auf Ungarisch zitiert wird.97 Auf dem Foto, das dem Umschlag der ungarischen Ausgabe beigegeben ist, erkennt Judit Szentjóby, eine junge Ungarin, den Autor wieder, den sie einige Jahre zuvor, allerdings unter einem anderen Pseudonym, in einer Ferienanlage für kommunistische Funktionäre auf der Krim kennenlernte und kurz darauf bei einem Filmfestival in Karlový Vary wiedersieht.98 Von den Ferien auf der Krim erzählt Semprun in Quel beau dimanche! und das Filmfestival ist seinen Leserinnen und Lesern aus der Autobiografía de Federico Sánchez bekannt.99 Denn selbstverständlich ist die Lebensgeschichte von Artigas mit der Sempruns weitgehend identisch. Auch die Kindheitserinnerungen, die Arti-
95 Vgl. Alg, S. 305. 96 Vgl. Alg, S. 38; vgl. oben, Anm. 67. 97 Vgl. Alg, S. 177: »A nagy utazás«, es handelt sich um Le grand voyage. 98 Vgl. Alg, S. 176 f.; von den Ferien auf der Krim existieren selbstverständlich auch Fotos, auf denen Szentjóby neben Artigas zu sehen ist. Auf Artigas’ Urlaubsfotos ist er allerdings mit Santiago Carillo und anderen Funktionären des PCE zu sehen – sein ›tatsächliches‹, durch die Autobiografía de Federico Sánchez (Barcelona: Planeta 1977) bekanntes, damaliges Pseudonym wird fast offensiv verschwiegen: »›Tu t’appelais Gómez?‹ […] Mais non, pas Gómez! Ensuite, il sourit: Gómez ou Martínez, ou Rodríguez, quelle importance désormais? C’était un pseudonyme banal et qui lui avait plu, justement, par sa banalité« (Alg, S. 174). 99 Vgl. Semprun: Quel beau dimanche!, S. 64 ff.; Autobiografía de Federico Sánchez, S. 284 ԟ da die biografischen Daten hier in erster Linie als intertextuelle Signale, die schon in der Erstausgabe erkennbar waren, begriffen werden, beziehe ich mich auf Bücher, die vor L’Algarabie erschienen sind.
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gas’ Geliebte Anna-Lise auf Tonband aufnimmt, sind, wie zumindest im Licht späterer Texte deutlich wird, diejenigen Sempruns. Wenn Semprun in Adieu, vive clarté… nun bezüglich der Kindheitserinnerungen in L’Algarabie schreibt: »J’avais inventé ce personnage de roman fantastique – ou simplement fantasque? ԟ politique-fiction […] pour pouvoir parler, sous ce masque, de mes vérités les plus intimes«,100 so mag dies für die Psychologie des Autors aufschlussreich sein oder nicht, in literaturwissenschaftlicher Hinsicht interessiert die Intimität der Kindheitserinnerungen weniger als die Maskerade, die dabei aufgeführt wird. Statt eines biografistischen Erklärungsmodells weist der Aufwand, mit dem die Anspielungen hier deutlich, aber nie zu deutlich (der ungarische Titel, ein englisches Zitat…), eingesetzt werden, auf die Verwischung der eigenen Identität als poetologisches Prinzip hin. Dass Szentjóby Artigas ausgerechnet durch ein Foto auf dem Buchumschlag wiedererkennt, könnte beinah als mise en abyme bezeichnet werden: Der Autor wird erkennbar durch seine Bücher, zugleich aber versteckt er sich hinter ihnen. Ein weiterer, eher versteckter biografischer Verweis deutet in eine ähnliche Richtung. Im Lauf einer der zahlreichen Nebenhandlungen blättert Fabienne Debrèze, eine junge Frau bürgerlicher Herkunft, die mit einem weiteren, noch entscheidenden Protagonisten, Carlos Bustamante, ein Verhältnis hat, während sie auf ihren Liebhaber wartet, in einem Buch über London. Es ist bereits sprechend für die Anlage von L’Algarabie, dass die dort abgedruckten Fotos keine persönliche Erinnerung, sondern die an einen anderen Bildband wachrufen, bedeutsamer ist aber dieser Bildband selbst: Alain Resnais’ Répérages.101 Dass das Vorwort des Bands von Semprun stammt, dürfte kaum überraschen. Semprun schreibt hier über Nadars Fotos von Baudelaire, sie gäben »une image de Baudelaire saisissante de ressemblance, non pas seulement avec la réalité naturelle et physique du personnage […] mais saisissante surtout de ressemblance avec la vérité imaginaire d’un rêve qu’on aurait pu faire, après une lecture prolongée, tard la nuit, des cahiers intimes de Baudelaire.«102 Vergleichbares ließe sich in Bezug auf die literarische Fiktion wiederum von der Ähnlichkeit des Protagonisten und des Autors von L’Algarabie sagen. Die Ähnlichkeit, die an der zitierten Stelle, Barthes’ Suche nach dem »air« der Fotografie vergleichbar,103 eher ideell im Imaginären der Literatur als administrativ-identifizierend gefasst und mit dem für Semprun nicht unbedeutenden Thema des Traums verknüpft wird, stellt dann schließlich auf der Handlungsebene des Romans eben in Bezug auf diese Dopplung des Ähnlichen ein Problem dar. 100 Jorge Semprun: Adieu, vive clarté… Paris: Gallimard 1998, S. 48. 101 Vgl. Alg, S. 109 f. 102 Jorge Semprun: [Vorwort]. In: Alain Resnais/Jorge Semprun: Répérages. Photographies de Alain Resnais, texte de Jorge Semprun. Paris: Chêne 1974, o.p. 103 Vgl. oben, Abschnitt 6 im Kapitel zu Barthes.
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Das größte Hindernis bei Artigas’ Vorsprachen in der Präfektur, »pour y retrouver, sinon son identité, c’est trop demander, du moins des papiers d’idem« (Alg, S. 369), ist die Abwesenheit sämtlicher Fotos auf den Dokumenten, die auf seinen eigentlichen Namen ausgestellt sind. Er verweist sogar auf einige Ausgaben der Bücher, die unter seinem »nom d’autrefois« veröffentlicht wurden und mit einem Foto versehen sind. Die zuständige Beamte will dies aber nicht anerkennen: »Mais Rose Beude s’était refusée obstinément à considérer ces pièces comme des documents officiels. En littérature, on le sait bien, les exemples ne manquent pas de gens qui se font passer pour qui ils ne sont pas, qui se cachent sous de fausses identités dont le mystère est difficile à percer, ou qui mettent carrément quelqu’un d’autre à leur place.« (Alg, S. 383)
Die metafiktionale Ironie dieser Passage – sie steigert sich am Ende des Romans, wenn Artigas den Plan zu seinem nächsten Buch entwirft, das nicht nur L’Algarabie heißen soll, sondern auch inhaltlich mit dem vorliegenden Roman übereinstimmt104 ԟ verweist gleichwohl auf den Ernst, der diesem Spiel mit der literarischen Fiktion zugrunde liegt. Das Gefühl, ein anderer zu sein, der Unwirklichkeit der eigenen Existenz, bestimmt schließlich auch Sempruns Erinnerungsbücher an Buchenwald. Hier wird es in die Fiktionalität der Literatur selbst transferiert. Die Fotografien auf den Buchumschlägen können nur eine imaginäre Wahrheit dokumentieren, wie sie sich in der Autofiktion des Romans niederschlägt und wie sie in ähnlicher Form Semprun auch für seine Buchenwald-Zeugnisse in Abgrenzung tatsächlich dokumentarischer – das heißt: eine dokumentarische Funktion erfüllender ԟ Film- und Fotoaufnahmen in Anspruch nimmt. Die Verbindung des Problems der Identität einerseits mit Buchenwald, auf der anderen Seite mit der Fotografie wird an späterer Stelle deutlich, wenn Artigas als letztes Dokument seine Häftlingskarte aus dem Konzentrationslager vorlegt. Auch diese enthält kein Foto, was eigentlich der Regelfall ist. Allerdings kann die Beamtin Rose Beude die Karte eines anderen Häftlings vorzeigen, auf der es eine Fotografie gibt. Schwerwiegender ist jedoch, dass aus einem nicht näher erläuterten Grund auf der »carte de rapatrié«, die Artigas nach der Befreiung ausgestellt bekam, sich am vorgesehenen Ort keine Fotografie befindet. Dass es letzten Endes die Fingerabdrücke auf dieser Karte sind, mit denen er seine Identität unter Beweis stellen kann, bzw. eine Fotografie auf einem Universitätsausweis von 1941-42, deutet darauf hin, dass die Fotos hier mehr sind als ein notwendiges Detail bei der Schilderung bürokratischer Hürden. »Depuis deux ans, je vivais sans visage« (EoV, 104 Vgl. Alg, S. 441 ff.; in einem Detail unterscheidet es sich freilich vom vorliegenden Buch: die Geschichtsfiktion soll von der Folgenlosigkeit der Unruhen des Mai 68 handeln. Eine weitere Steigerung des Metafiktionalen liegt natürlich noch mit dem Hinweis auf Gides’ Paludes vor (vgl. Alg, S. 536).
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S. 13), heißt es schließlich zu Beginn von L’écriture ou la vie. Die von der Erfahrung des Lagers beschädigte Identität, die Unmöglichkeit, sich im Blick der anderen wiederzuerkennen, und auch die Heimatlosigkeit des Exilierten, kann zwar scheinbar im Rückgriff auf die Jugend vor Buchenwald überbrückt werden, doch kurz nachdem er sich seiner Papiere sicher sein kann, wird Artigas umgebracht. Wie tief die Beschädigung der Identität nach Buchenwald reicht, deutet sich bereits im Namen der Beamtin an: »Rose Beude« ist die phonetische Umschreibung der französischen Aussprache von »Rosebud«, den letzten Worten Charles Foster Kanes in Orson Welles’ Citizen Kane.105 Nur vordergründig deutet dies darauf hin, dass Artigas »mit den Erinnerungen an seine Kindheit beschäftigt« sei.106 Die letzte Szene des Films, der rauchende Schornstein des Kamins, in dem der Schlitten mit der Aufschrift »Rosebud« verbrannt wird, ebenso wie die Schneekugel, die immer wieder mit Kanes Ausspruch verbunden wird,107 verweisen auf Motivkomplexe, die bei Semprun von der Erinnerung an das Lager nicht zu trennen sind. Die Kindheitserinnerung ist, ähnlich wie beim Film Mazurka, von Buchenwald kontaminiert. Das Gefühl des eigenen Lebens als Traum nach dem Lager spricht Artigas an zentraler Stelle in einer der als Tonbandaufzeichnungen Anna-Lises gekennzeichneten Passagen selbst an: »Ma vie n’était qu’un rêve depuis la fumée grise du camp Ce nuage où s’en allaient en fumée mes camarades inconnus Ou connus Halbwachs et Maspero Piotr et Pedro« (Alg, S. 188). Er zitiert in dem Zusammenhang die auch in L’écriture ou la vie so zentrale Stelle aus Levis La tregua und unmittelbar darauf aus Adornos Negativer Dialektik. Die Stelle steht dort unmittelbar nach dem wiederholten Rekurs auf den berühmten Ausspruch zu den Gedichten nach Auschwitz: »Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast 105 Ein ähnliches Spiel mit Homophonen liegt auch bei der Kubanerin Paula Negri vor, die in französischer Aussprache von Pola Negri nicht zu unterscheiden ist – jener Schauspielerin, die Semprun als Kind in Mazurka bewunderte und später wieder auf der Leinwand des Kinos von Buchenwald sah (vgl. EoV, S. 99 ff.). 106 Franziska Augstein: Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert. München: Beck 2008, S. 304; vgl. in gleicher Weise Miletic: European literary immigration, S. 182. 107 Vgl. CITIZEN KANE (USA 1941, R: Orson Welles), 0:02:20, 1:45:51, 1:51:12 ff.
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worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führe, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten.«108
»Toute mon existence n’est peut-être que l’imaginaire pétri de désir fou d’un mort d’il y a vingt ans […] Trente ans désormais« (Alg, S. 190) kommentiert Artigas das Zitat. Wenn »Auschwitz […] das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod«109 bestätigt, kann dies die Identität eines Erzählers mit vergleichbaren Erfahrungen nicht unberührt lassen.110 In der Konstruktion des Romans ist es letztlich auch nicht Artigas, der den Roman tatsächlich schreibt, denn er stirbt an dessen Ende. Es sind seine Geliebte Elisabeth, die im Roman Anna-Lise heißt, und sein Freund Carlos Bustamante, die sich an die »folle entreprise« machen: »écrire à la place d’un mort, en son nom effacé« (Alg, S. 584). Die Worte, mit denen Bustamante das Problem des Buches, in dem Artigas seinen eigenen Tod schon von den ersten Skizzen an vorgesehen habe, charakterisiert, sind fast dieselben, wie sie Semprun an anderen Stellen bezüglich seiner Buchenwald-Texte verwendet: »C’était littéralement un roman interminable, une entreprise infinie, que de raconter sa mort tant qu’on était vivant« (Alg, S. 587).111 Die Herausgeberfiktion überführt das Problem eines Schreibens nach der Erfahrung des Konzentrationslagers in das literarische Spiel. Das Gefühl der eigenen Existenz als »imaginaire pétri de désir fou d’un mort« schlägt sich im Text in einem weiteren, genuin (trivial-)literarischen Element nieder. Bustamante wird seit einiger Zeit von Erinnerungen heimgesucht, die nicht seine eigenen sind, sondern, wie sich herausstellt, diejenigen Artigas’.112 Die Auflösung dieses Vorgangs ist den Mustern der Trivialliteratur entsprechend fadenscheinig: Artigas’ Seele spürt den nahenden Tod und versucht, in den Körper Bustamantes zu transmigrieren. So wie die autobiografische Ebene des Romans mit der 108 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 355 f. Die kursiv gesetzte Passage ist in L’Algarabie auf Französisch zitiert (vgl. Alg, S. 189 f.); allerdings ist dort von der »question culturelle« statt der »minder kulturelle[n] Frage« die Rede. Vgl. zu der Stelle auch Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 246. 109 Adorno: Negative Dialektik, S. 355. 110 Vgl. auch Bernhard J. Dotzler: Lektüre der Libertinage. Autorschaft und Medienkritik, Kulturindustrie und Erzählform in Jorge Sempruns L’Algarabie. In: Felix Philipp Ingold/Werner Wunderlich (Hg.): Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven. Konstanz: Universitäts-Verlag Konstanz 1992, S. 133-148, S. 138, der die Frage nach den Erzählinstanzen auf Adornos Aufsatz zum Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman bezieht, ansonsten aber eine medientheoretisch inspirierte Lesart verfolgt, bei der die Frage des Gedächtnisses eine untergeordnete Rolle spielt. 111 Vgl. auch Sempruns Kommentar zu L’Algarabie in Adieu vive clarté…, S. 49. 112 Vgl. hierzu auch Vordermark: Das Gedächtnis des Todes, S. 256 ff.
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»ressemblance avec la vérité imaginaire d’un rêve«113 spielt, wird Bustamante hier zum Traum eines anderen, der schon ԟ oder immer noch ԟ unter dem Eindruck des Todes steht. Die Parallelen zwischen den Protagonisten selbst und deren Nähe wiederum zum Autor – Bustamonte lautete ein weiterer von Sempruns Decknamen ԟ setzt Semprun »kalkuliert […] ein, um die völlige Identitätslosigkeit der Überlebenden der Lager, deren Ich um ein leeres, nur noch imaginiertes Zentrum kreist, das aber einmal äußerst real gewesen war, zum Ausdruck zu bringen.«114 Fand Artigas’ Identitätslosigkeit bereits in der Abwesenheit von Fotografien auf seinen offiziellen Dokumenten ihren Niederschlag, so tritt sie im Zusammenhang mit den Fremderinnerungen Bustamantes auch als Objektivierung und Ablösung der eigenen Erinnerung in der Fotografie auf. Kurz bevor er Levi und Adorno zitiert, spricht Artigas von einem Urlaubsfoto aus Den Haag, das Anna-Lise ihm gezeigt hatte, ohne zu ahnen, dass es den Ort zeigt, an dem Artigas einen Teil seiner Jugend verbracht hatte: »Sur cette photo le fond du jardin du Plein 1813 ressort avec la précision froide Presque de cauchemar Le court de tennis parmi les arbres du jardin Cette image au fond de cette photographie comme elle est au fond de ma mémoire« (Alg, S. 185). Die Attribuierungen des Alptraums und der Kälte deuten bereits auf das Gefühl der Entfremdung hin, die Erinnerungen an die »premières années de mon adolescence« (Alg, S. 185) in einem etwa 30 Jahre später aufgenommenen Bild objektiviert zu sehen. Das Gebäude – in dem Semprun, dessen Vater während des Bürgerkriegs Geschäftsträger der spanischen Republik in Den Haag war, tatsächlich einen Teil seiner Jugend verbrachte115 ԟ ist nun, in einer weiteren Steigerung der Erinnerungsentfremdung, auch Teil der Halluzinationen Bustamantes. Erst angesichts des Fotos von Anna-Lise bestätigt sich schließlich dessen Verdacht, dass es sich dabei um Artigas’ Erinnerungen handelt: »La photographie, du moins, était une preuve de la réalité de ce cauchemar. Preuve qu’ils n’avaient pas rêvé tout cela« (Alg, S. 266). Wenn aber diese halluzinierte Wirklichkeit kein Traum ist, zieht dies die gesamte Realität in Zweifel: »[…] que ces moments d’apparente irréalité puissent être les seuls moments réels de sa vie, dont tout le reste ne serait qu’un rêve« (Alg, S. 266). Die im Foto vergegenständlichte Erinnerung beansprucht eine Realität für sich, die die 113 Semprun: [Vorwort], o.p. 114 Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 246. 115 Die Evokation des Hauses und seines Gartens mit den Magnolien ist eines der immer wiederkehrenden Elemente in Sempruns Büchern, vgl. L’évanouissement, S. 163 ff., Quel beau dimanche!, S. 107; EoV, S. 222 u. v.a. Adieu, vive clarté…, S. 27, wo die Erinnerung wiederum von einer Fotografie ausgeht. Der Komplex des Exils, der mit diesem Gebäude aufgerufen wird und der in L’Algarabie ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, muss hier leider ausgeklammert werden; vgl. zur Bedeutung des Ortes auch Nicoladzé: La deuxième vie de Jorge Semprun, S. 61 ff.
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Wirklichkeit der Protagonisten – die ja auch eine Wirklichkeit nach Auschwitz ist ԟ immer unwirklicher erscheinen lässt, die jede Identität in Zweifel zieht. Wenn Anna-Lise und Bustamante für einen Moment meinen, aus der Fotografie heraus andere Bilder der Vergangenheit, unter anderem »l’image sans doute floue, mais reconaissable, d’Artigas adolescent« (Alg, S. 272), aufsteigen zu sehen, wird die Vergangenheit vollständig aus der Handlung des Romans in die Wirklichkeit des imaginären Raums gelegt. Die Erinnerung hat sich emanzipiert, sie ist, nach dem Modell von Bustamantes Fremderinnerungen, zu einem Anderen geworden. Das Haus am Plein 1813 spielt auch eine gewisse Rolle in La deuxième mort de Ramón Mercader und ist hier wieder mit so etwas wie einer Fremderinnerung verknüpft. Nachdem ihm am Abend zuvor ein niederländischer Geschäftspartner von einem Besuch als Jugendlicher 1938 in der spanischen Gesandtschaft erzählte, in dessen Verlauf er auch den damaligen Geschäftsträger kennengelernt hatte, steht Mercader nun, wenn auch im Konditional erzählt, vor dem Gebäude: »[…] et il aurait marché vers cette grille fermée, cette maison blanche aux fenêtres closes, ce jardin dépouillé, ces magnolias aux larges feuilles vertes, (ce passé impossible) Debout, devant la grille fermée ԟ et une plaque indiquait que cette maison dépendait maintenant du ministère hollandais des Affaires étrangères ԟ il aurait attendu que quelque chose se passe.« (RM, S. 103 f.)
Natürlich passiert nichts, so wie auch – dem Protagonisten selbst sogar – unklar bleibt, weshalb er dort steht. Die ›unmögliche Vergangenheit‹, von der die anonyme Stimme in Klammern spricht, bleibt selbst anonym; es könnte sich um diese Vergangenheit, die nicht die Mercaders ist, handeln, aber auch um eine andere, die tatsächlich mit dem Gebäude verknüpft ist. Eine solche, fremde Vergangenheit ist auf den entsprechenden Seiten stets präsent. Kurz bevor er zum Plein 1813 fährt, verlässt Mercader das Mauritshuis, wo der Roman, mit der langen, ebenfalls im Konditional gehaltenen, Beschreibung von Vermeers Ansicht von Delft beginnt. Es ist Mitte April, doch er erinnert sich an eine verschneite Straße: »il s’était attendu à trouver, ou plutôt il avait vécu dans cette attente d’un paysage enneigé au sortir du Mauritshuis, une douceur de neige crissante et feutrée sur le Binnenhof, mais d’où cette neige serait-elle venue se glisser dans cette journée d’avril, à La Haye? d’où cette neige d’autrefois, au sortir du Musée Pouchkine, par exemple? et il serait immobile, sur le perron du Mauritshuis, la cigarette à la bouche, touché au plus profond d’une angoisse viscérale par ce souvenir de neige, sur l’esplanade devant le Musée Pouchkine, autrefois, dans une vie antérieure, une autre vie, même, comme si c’était quelqu’un d’autre, dont il aurait connu et la vie et la mort, intimement […], un autre, vraiment, qui serait mort, mais dont lui seul aurait pu évoquer les sensations […]« (RM, S. 101 f.)
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Das Thema der Erinnerung eines anderen, eines Toten, lässt sich innerhalb der Handlung des Romans zunächst ganz konkret auf die Situation des KGB-Agenten beziehen, der unter dem falschen Namen Ramón Mercader lebt und zur ständigen Verleugnung seiner Vergangenheit gezwungen ist. Auch er hat mit der Übernahme der Identität des als Kind gestorbenen Ramón Mercader den Platz eines Toten eingenommen,116 der zudem denselben Namen hatte wie der Mörder Trotzkis. In der Anlage der Figur selbst sind also bereits mehrere Identitäten und Vergangenheiten gewissermaßen aufeinander geschichtet. Die Erinnerung an den Schnee im Binnenhof ist aber nicht nur über die Erinnerung an eine eigene, verleugnete Vergangenheit der Figur Mercaders in Moskau motiviert, sondern sie ist auch tatsächlich eine fremde Erinnerung. Der Erzähler des Romans berichtet einige Seiten vorher in einer in die Erinnerungen von Mercaders Geschäftspartner eingeschalteten Abschweifung von einer eigenen Reise nach Den Haag, zur Zeit der Handlung des Romans, Ostern 1966: »A La Haye, nous avions visité le Mauritshuis. J’avais été déçu, sottement, parce que dans mon souvenir le Binnenhof était toujours couvert de neige« (RM, S. 75). Auch dieser Erzähler trägt Züge Sempruns.117 Die Verwendung des Konditionals bei Mercaders Betrachtung des Hauses am Plein 1813 lässt sich mithin als Rückverweis auf die Ekphrasis am Anfang des Romans lesen: Wie Mercader dort sich an die Stelle eines von Vermeer später aus dem Bild getilgten Betrachters imaginiert,118 so steht er hier an der Stelle eines anderen, des Erzählers, der mit diesem Haus eigene Erinnerungen verbinden kann. Mercaders Erinnerungen hingegen, die in einer Art Parallelmontage zwischen die Betrachtung des Hauses eingeschoben sind, betreffen seine vermeintliche Rückkehr zum Landsitz der Mercaders, wo er von Adela, der einzigen Überlebenden der Familie, als zurückgekehrter Stammhalter begrüßt wird. Die Erinnerungsstücke, die er dort zu sehen bekommt, betreffen selbstverständlich wieder die Erinnerung eines anderen. Die Überblendungen der Identitäten treten hervor, als er ein Kinderfoto entdeckt, das ausgerechnet am Toilettenspiegel der Mutter des wirklichen Ramón Mercader befestigt ist. Hier ist er tatsächlich mit einem »souvenir impossible« konfrontiert: »et tu te demandais, dans la nausée de ce souvenir inaccessible, si c’est le pressentiment de cette mort prochaine [gemeint ist der Tod der Mutter] qui assombrissait les yeux du petit garçon en costume marin, sur la photographie jaunie de la coiffeuse, ou bien si c’était la prémo116 Vgl. RM, S. 258: »Il a pris la place d’un mort«. 117 So erwähnt er etwa, dass er »deux ans, de 1937 à 1939«, am Plein 1813 gewohnt habe. Auch dass seine Reisebegleitung mit der Initiale »C.« genannt wird, dürfte ein Hinweis auf die Widmung sein: »à Colette, pour les soleils partagés« (RM, S. 75, S. 7). 118 Vgl. RM, S. 16, vgl. hierzu auch Schlumbohn: Prousts Page sur Vermeer, S. 322; Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 225.
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nition de ton intrusion, vingt ans après, dans cet univers intact que ta présence actuelle faisait éclater en mille morceaux de verre coupant […]« (RM, S. 107 f.)
Wie im Text die Kontiguität des Ortes, des Plein 1813, und der Erinnerungen Mercaders – als ob der Ort mit den erzählten Erinnerungen zusammenhinge – Identitäten suggeriert, die so nicht bestehen, scheint hier die Verbindung des Spiegels mit dem Foto eine letztlich unmögliche Identifikation anzubieten. Man kann nie beides zugleich ansehen: das Spiegelbild und das Foto in dessen Rahmen. In der Metapher der »mille morceaux de verre coupant« zerschlägt sich auch die metaphorische Bedeutung des Spiegels; Mercaders Identität bleibt hoffnungslos zersplittert. Inés, Mercaders Frau, die nichts von der Doppelexistenz ihres Mannes weiß, meint dagegen, im Blick des Kindes auf dem Foto – »mais peut-être n’était-ce que la projection de sa propre angoisse« (RM, S. 122) ԟ den Gesichtsausdruck ihres Mannes wiederzufinden, »comme si ce regard d’il y a trente ans était la manifestation anticipée, mais fidèle – et d’autant plus fidèle qu’elle était prémonitoire ԟ de l’angoisse […] que Ramón avait fugacement, parfois, ces derniers temps« (RM, S. 122). Natürlich ist das reine Projektion, aber dass die falsche Zuschreibung einer Identität in der Zeit durchaus Aufschluss über etwas anderes geben kann, zeigt der Roman in seinen Verfahren mehr als einmal, und es sind oft Fotografien als Medien der Identifikation par excellence, auf die hierbei rekurriert wird. Bei der Betrachtung von Mercaders Foto denkt Inés an den vorhergehenden Abend, als sie mit Adela das Familienalbum durchblätterte. Während ihr selbst die Bilder naturgemäß nicht viel sagen, geht Adela ganz in den Erinnerungen, die durch die alten Fotografien wachgerufen werden, auf. Ausgehend von den einzelnen Bildern, den Personen und den Umständen der Aufnahme versetzen ihre Erklärungen die Menschen in ihre Geschichte, das Einzelbild geht über in den Fluss der Erzählung. Erzähltechnisch erfüllt das Fotoalbum so zunächst einmal die Funktion, die Geschichte der Familie Mercader und damit die Geschichte der ersten Jahre der spanischen Republik zu erläutern. Als überzeugter Republikaner war Mercaders Vater befreundet mit einem der ersten republikanischen Gouverneure der Provinz, der ebenfalls auf einem Gruppenfoto zu sehen ist: Semprún Gurrea,119 der Vater Jorge Sempruns. Inés kann indes nur mit einer »sourde irritation […] les images fantomatiques de ce passé impassible« (RM, S. 132) betrachten. Was schon Kracauer als die Fremdheit und Unerlöstheit des lange Vergangenen in der Fotografie beschrieb,120 gilt hier für die verschüttete und tatsächlich unerlöste Geschichte Spaniens vor dem Bürgerkrieg. Fast alle Personen auf dem Gruppenfoto haben während des Bürgerkriegs oder in seiner Folge den Tod gefunden, auch die Frau Semprún Gurreas, Susana Maura, ist kurz nach der Aufnahme gestorben. 119 Vgl. RM, S. 128 ff.; S. 245 f. 120 Vgl. oben, Abschnitt 2 im Kapitel zu Kracauer.
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Anders als in L’Algarabie, wo die Protagonisten als fiktionale Stellvertreter des Autors inszeniert werden, werden Elemente der eigenen Biografie hier nur ԟ über das Fotoalbum, die Erzählung des Niederländers von der spanischen Gesandtschaft 1938, aber auch die Erinnerung Wetters an den jungen Spanier in Buchenwald ԟ an die der Romanpersonen herangeführt. Es fällt auf, dass in beiden Romanen viele der autobiografischen Verweise über Fotos operieren.121 Darin einen Rekurs auf den ›Realismus‹ der Fotografie zu sehen, wäre sicherlich zu einfach, ebenso wie die Subversion der vermeintlichen fotografischen Evidenz durchaus nicht zum Interessantesten zählen muss, was literarische Texte mit Fotos machen können. Die Fotografien und die autobiografischen Verweise im Ramón Mercader nähern zwei Bereiche einander an, ähnlich wie auf dem vom CIA inszenierten Foto, das Mercader scheinbar im Gespräch mit einem amerikanischen Agenten im Mauritshuis zeigt,122 eine Beziehung nahegelegt wird, die in Wirklichkeit nicht bestand. Hans Menzel, ein DDR-Agent, der auf dem Foto selbst zu sehen ist (was wiederum die Wahrheit seiner Geschichte beweist), deckt die Inszenierung schließlich auf. Seine Bemerkung zu dem Bild kann durchaus auf den Roman selbst und die autofiktionalen Aspekte von Sempruns Romanen allgemein bezogen werden: »Mais alors, cette photo? Que signifie-t-elle? […] Elle ne signifie rien, camarade colonel. Elle ne reflète absolument pas la réalité de ce qui s’est passé. C’est-à-dire, si on savait qui l’a faite, on pourrait peut-être deviner pourquoi elle a été faite« (RM, S. 480). Für Streiff Moretti stellt dieses Foto eine Allegorie dar (insofern es auf den Autor Semprun, der ebenfalls von der kommunistischen Partei als Verräter angesehen wurde, verweist) bzw. spricht aus ihm die »verité symbolique«, »de témoigner, par son mensonge apparant, de cette sépération entre l’événement et le sens, qui est le problème fondamental de l’homme contemporain«, und schließlich sei es noch eine »métaphore de l’œuvre d’art«.123 So überspannt diese Interpretation im Detail erscheint, sie weist doch richtig darauf hin, dass sich die Bemerkung des Agenten auf den Text als solchen übertragen lässt. Selbstverständlich nicht als Frage, wer ihn geschrieben hat, aber als Verweis auf die Verfahren des Fingierens und der autofiktionalen Maskerade, die sich in der Spionagehandlung selbst wiederum spiegeln. Noch mehr aber tritt der Akt des Maskierens in L’Algarabie in den Vordergrund. Auch wenn Semprun schreibt, es sei ihm hier gelungen, unter der Maske 121 Nicoladzé weist darauf hin, dass dies auch von einem der Fotos gilt, das die CIA bei der Beschattung Mercaders verwendet: »Les photographies qui le désignent à ses meurtriers le montrent à Madrid, dans ce parc du Retiro si cher à l’enfance de Jorge Semprun. Mais c’est surtout son regard singulier ›dévasté par le courage, le désespoir ou la haine (p. 84)‹ qui l’apparente à l’auteur de l’Écriture ou la vie.« (Nicoladzé: La deuxième vie de Jorge Semprun, S. 69). 122 Vgl. RM, S. 399 f. 123 Streiff Moretti: La métaphore photographique, S. 63 f.
D IE ANDERE E RINNERUNG
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Artigas’ von der eigenen Kindheit zu sprechen, ist diese Intimität nicht das Wesentliche. Küsters Versuch, die Kindheitserinnerungen in eine psychoanalytische Lesart zu überführen, nach der Semprun auf »dem Umweg über ein fiktionales alter ego […] verdrängten Gefühlen wie vor allem regressiven Tendenzen in bezug auf die Mutter, Ausdruck zu verleihen«124 vermag, legt vielleicht – gerade angesichts der Offenheit, mit der diese Ebene ins Werk gesetzt wird ԟ ein zu einfaches Schema der Verdrängung zugrunde. Als literarische Auseinandersetzung mit der psychischen Problematik der Überlebenden lassen sich L’Algarabie und La deuxième mort de Ramón Mercader aber durchaus lesen. Auch die Geschichtsfiktion in L’Algarabie korrespondiert mit dem existenziellen Problem des Überlebenden: Die beständige Möglichkeit des Todes im KZ lässt rückwirkend das Leben danach als nur eine Möglichkeit, und nicht einmal die wahrscheinlichste, erscheinen. Diese Problematik wird durch die Fotografien in den Texten aufgegriffen. Besonders dort, wo sie als Gedächtnismedien eingesetzt werden, bringen sie so etwas wie eine Fremderinnerung in den Text ein. Wenn Bustamante die Realität der Halluzinationen, die ihn heimsuchen, auf dem Foto des Plein 1813 bestätigt sieht und in der Folge die Wirklichkeit um ihn herum traum- oder eher alptraumartige Qualität annimmt, entspricht dies der textuellen Präsenz des Hauses in Den Haag, das bereits im Mercader sozusagen als Fremdkörper in den Text und die Erinnerungen des Protagonisten eingeführt wurde. Auch die anderen Erinnerungsbilder, das Kinderfoto des wirklichen Ramón Mercader und das Familienalbum ebenso wie das Bild Deanna Durbins im Anne Frank-Haus, stehen für eine andere Erinnerung, einerseits auf der Handlungsebene, andererseits aber auch auf der Ebene dessen, was man den memorialen Subtext des Romans nennen könnte. Dieser betrifft zwar auch die autobiografischen Verweise, erschöpft sich jedoch nicht im Hinweis auf den Autor, sondern setzt diesen in einem literarischen Spiel ein, das seine eigene Fiktionalität und Genre-Gebundenheit immer wieder offenlegt und dabei auf etwas anderes, in ihm selbst abwesendes, verweist.125 Wenn im Mercader die Nebenfigur William Klinke von seinem Drehbuch für einen Film über Trotzki sagt, dieser müsse »au centre de cette histoire« sein, »mais invisible« (RM, S. 388), so ist damit zwar selbstverständlich auch das andere Thema des Romans, das Scheitern der mit den sozialistischen Systemen verbundenen Hoffnungen, aufgerufen, doch es ist auch als darüber hinausgehender struktureller Hinweis zu lesen. In L’Algarabie heißt es von Perséphone, einer jungen Frau, deren eher freiwillige Entführung Anlass für weitreichende Handlungsverwicklungen ist und die sich am Ende noch als Tochter Artigas’ herausstellt, sie sei »toujours au centre vertigineux de la péripétie, mais tou124 Küster: Obsession der Erinnerung, S. 236. 125 Vgl. Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 241: »In diesem wie in den anderen Romanen stehen Buchenwald und das Überleben ebenso unsichtbar im Zentrum, müssen unsichtbar dort stehen, weil sie eben untergründig die Psychologie bestimmen.«
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jours absente. Au centre précisément, parce qu’absente« (Alg, S. 588). Zwar hat diese Zuordnung auf einer symbolischen Ebene, die im Text selbst erläutert wird und die auf die Verbindung von Sexualität und Tod – bereits in der mythologischen Kontur der Figur angelegt ԟ abzielt,126 durchaus eine gewisse Plausibilität, in letzter Konsequenz allerdings muss auch diese Symbolik als ›Zudecken‹ oder Verschiebung eines Zentrums angesehen werden, das von keiner Symbolik wirklich gefüllt werden könnte. Während fotografische und filmische Zeugnisse der Konzentrationslager L’écriture ou la vie, also einem Text, der sich explizit mit Buchenwald auseinandersetzte, in ihrer Unzulänglichkeit als Hinweis auf die Notwendigkeit literarischen Schreibens dienen, weisen die Fotografien im literarischen Text selbst auf die Problematik des Überlebens nach Buchenwald als organisierendem Prinzip der literarischen Fiktion hin. Sie werden so zur Figur des Texts. Was Blanchot von Prousts Schreiben sagt – und Barthes überträgt dies auf die Fotografie127 ԟ, kann, unter den benannten anderen Vorzeichen, von der Fotografie im Schreiben Sempruns in ähnlicher Weise gelten: »es liegt im Wesen des Bildes, ganz und gar außerhalb zu sein, jeder Heimlichkeit entkleidet, dabei aber unzugänglicher und geheimnisvoller als der innerlich gehegte Gedanke, ohne Bedeutung, aber die Tiefe jeglichen Sinns ansprechend, nicht enthüllt und doch offenbar, begabt mit […] gegenwärtig-abwesende[m] Charakter […]«128
Sempruns Schreiben gewinnt seinen Antrieb aus der Unmöglichkeit und gleichzeitigen Notwendigkeit, die Erinnerung zu veräußerlichen und darin so etwas wie eine Wahrheit der Erfahrung des Lagers auszusprechen. In seinen Romanen wird es zur Erinnerung eines anderen, nicht nur zur kollektiven Erinnerung, sondern auch, in den Texten, notwendigerweise zur Wahrheit der eigenen Erinnerung als Erinnerung anderer.
126 Vgl. hierzu Louwagie: L’imaginaire de Jorge Semprun, S. 160 ff. 127 Vgl. CC, S. 1183. 128 Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. Übers. v. Karl August Horst. Frankfurt u.a.: Ullstein 1982, S. 25 f.
Erinnerung als Fotografie und Fiktion: Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance
Fotografien spielen, wie anhand der fiktionalen, aber auch der autobiografischen Romane Sempruns gezeigt werden konnte, eine wichtige Rolle, wenn es in mehrfacher Hinsicht um die Fremdheit von Erinnerungen geht. Wurde der Erzähler in L’écriture ou la vie durch die Dokumentarfilme noch mit einem von außen kommenden Blick auf das Lager konfrontiert, der nur in einer fiktionalisierenden Darstellungsform mit der eigenen Perspektive zur Deckung zu bringen ist, so treten an anderen Stellen von Sempruns Texten Fotografien auf, die zunächst einmal nichts mit den Konzentrationslagern zu tun haben, aber entweder auf deren fortdauernde Präsenz in der Gegenwart verweisen oder das Gefühl der Unwahrscheinlichkeit der eigenen Vergangenheit oder des eigenen Überlebens in ein metafiktionales Spiel mit den Erzähleridentitäten überführen. In den untersuchten Romanen dienen Fotos so als Verweis auf den Autor Semprun selbst und spiegeln zugleich diesen Verweis auf der Handlungsebene, indem sie mit dem Thema unsicherer oder untergeschobener Identitäten der Protagonisten verknüpft werden. Das Ineinander von Fiktion und autobiografischer Erinnerung im Zusammenhang mit einer Fremdheit und Unzugänglichkeit der Erinnerung, wie es bei Semprun in erster Linie im Kontext des Gesamtwerks relevant wird, ist in Georges Perecs eigentümlicher Autobiografie W ou le souvenir d’enfance verdichtet und radikalisiert. Anders als Semprun blieb dem 1936 als Sohn jüdisch-polnischer Einwanderer geborenen Perec die Erfahrung des Konzentrationslagers erspart; er konnte in Villard-de-Lans, einem Dorf bei Grenoble, versteckt überleben. Seine Mutter allerdings wurde 1943 nach Auschwitz deportiert, von wo sie nicht mehr zurückkehrte; der Vater fiel bereits in den letzten Tagen der »drôle de guerre«. W handelt im Grunde von der Abwesenheit der Erinnerungen an die Eltern und die frühe Kindheit, von den wenigen, unsicheren Erinnerungen an die Zeit vor der Flucht aus dem von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs und, in der zweiten Hälfte des Buchs, von den vagen, episodischen Erinnerungen an Villard-de-Lans. Parallel dazu wird in von Kapitel zu Kapitel alternierender Reihenfolge eine fiktionale Geschichte er-
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zählt, laut Perec die Rekonstruktion einer Erzählung, die er sich im Alter von dreizehn Jahren ausdachte und anschließend vergaß. Dieser, durch Kursivierung vom autobiografischen Teil typografisch abgesetzte Text, der über verschiedene, zum Teil recht versteckte Verknüpfungen mit dem autobiografischen Text in W verbunden ist,1 erzählt zunächst die Geschichte eines Deserteurs, der unter falscher Identität lebt und eines Tages erfährt, dass es sich bei dem, dessen Identität er angenommen hat, um ein Kind handelt, das auf einer Schiffsreise verschollen ist. Das Schiff selbst hat in der Nähe von Feuerland Schiffbruch erlitten, alle an Bord, auch die Mutter des Jungen, sind tot, nur von dem Kind fehlt jede Spur. Als der Erzähler den Auftrag annimmt, nach ihm zu suchen, bricht die Handlung ab und es beginnt, parallel zur autobiografischen Erinnerung an die Zeit in Villard-de-Lans, mit der zweiten Hälfte des Buchs die Beschreibung einer unzugänglichen Insel namens »W« bei Feuerland, auf der eine Gesellschaft lebt, die sich voll und ganz dem Sport verschrieben hat. Diese Beschreibung wird von Kapitel zu Kapitel beklemmender, bis die Parallelen zu einem Konzentrationslager unübersehbar sind und am Ende, im autobiografischen Teil, auch benannt und mit einem Zitat aus David Roussets L’Univers concentrationnaire flankiert werden.2 Schon aus dem kurzen Resümee dürfte hervorgehen, dass die fiktionale Geschichte Elemente der autobiografischen Erzählung in verschobener Weise wiederholt bzw. mit der Beschreibung des Sportstaats auf W »das Nicht-Zugängliche, das traumatisch-schuldhaft Nicht-Erlebte – Auschwitz – […] erleb- und beschreibbar und durch Kopplung an die Autobiographie zu einem Teil des Lebens des Autors«3 macht. Im Klappentext von W schreibt Perec, erst im Zusammentreffen beider Textteile zeige sich, »ce qui n’est jamais tout à fait dit dans l’un, jamais tout à fait dit dans l’autre, mais seulement dans leur fragile intersection.«4 Die thematischen Übereinstimmungen, von der Unterbrechung der Lebensgeschichte durch die übernommene Identität über das verschwundene Kind bis zum Phantasma der Insel W, sind dabei nur Teil der »lesbaren Unlesbarkeiten«, die den »blinde[n] Fleck, de[n] Weg der Mutter in die Gaskammer, die Abreise nach Villard-de-Lans, das Gefühl, von der Mutter verlassen worden zu sein, auf einer von der Außenwelt abgeschnit-
1
Vgl. Bernard Magné: Les sutures dans W ou le souvenir d’enfance. In: Cahiers Georges Perec 2: W ou le souvenir d’enfance: une fiction. Séminaire 1986-1987 (= Textuel 21 (1998)), S. 27-44.
2
Zu einem detaillierten Vergleich mit Zeugnissen der Lager-Literatur vgl. Timo Obergöker: Écritures du non-lieu. Topographies d’une impossible quête identitaire: Romain Gary, Patrick Modiano et Georges Perec. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2004, S. 168 ff.
3 4
Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 187 f. Georges Perec: W ou le souvenir d’enfance. Paris: Gallimard (L’imaginaire) 1993 (künftig als WSE im Text zitiert).
E RINNERUNG
ALS
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tenen Insel allein zu leben/Zuflucht gefunden zu haben«5 umkreisen. Der »blinde Fleck« ist in der Mitte des Buchs typografisch durch eine weiße Seite mit Auslassungszeichen gekennzeichnet: »(…)« (WSE, S. 89). Er bestimmt nicht nur die »fragile intersection« der fiktionalen und autobiografischen Erzählung, sondern betrifft auch die gleich zu Beginn des autobiografischen Teils behauptete Abwesenheit von Kindheitserinnerungen. »Je n’ai pas de souvenirs d’enfance« (WSE, S. 17) ԟ denn die ›große Geschichte‹, die »Histoire avec sa grande hache« (ebd.), hat ihn sozusagen buchstäblich von der eigenen Kindheit abgeschnitten. Die Trennung von der Vergangenheit, bei der mehr im Spiel ist als ein gewöhnliches Unvermögen, sich an die früheste Kindheit zu erinnern, schlägt sich auf der Textoberfläche in der Häufung von Vermittlungsebenen nieder, vor allem im Rückgriff auf und in der detaillierten Beschreibung von Fotos, sowie den ständigen Anmerkungen und Berichtigungen, denen die vorhergehenden Erinnerungen ausgesetzt sind. Am weitesten geht dies beim einzigen Foto, das Perec von seinem Vater besitzt. Dieses Bild erscheint zunächst nicht als Repräsentation der Vergangenheit, als Bild, sondern als ein materielles Objekt, das schon immer in Gedenkpraktiken eingebunden war, deren Spuren im Text auch sorgfältig dokumentiert werden. Auch bei anderen Fotografien in W sind akribisch die Beschriftungen auf der Rückseite und teilweise die Rekadrierungen vermerkt, doch ist der Vermerk in diesem Fall eher kurios: »au dos de la photo de mon père, j’ai essayé d’écrire, à la craie, un soir que j’étais ivre, sans doute en 1955 ou 1956: ›Il y a quelque chose de pourri dans le royaume de Danemark.‹ Mais je n’ai même pas réussi à tracer la fin du quatrième mot« (WSE, S. 45). Höchstens wenn man »il y a« insgesamt als ein Wort und »de« überhaupt nicht zählt, erscheint es noch wahrscheinlich, dass aus dem vor 15-20 Jahren im Rausch abgebrochenen Satz das Hamlet-Zitat rekonstruiert werden kann; innerhalb des Textes scheint der Verweis mit dem Foto nicht nur die geisterhafte Präsenz des Vaters/der Eltern aufzurufen, sondern sie auch auf ein literarisches Modell der Trauerarbeit und des Aufschubs zu beziehen.6 Insofern ist es nur konsequent, wenn das Zitat nicht zu Ende geschrieben ist: Es entspricht darin einer Annäherung an die Vergangenheit, die, Hamlets Zögern vergleichbar, keinen Abschluss findet. 5
Wolfgang Orlich: Buchstäblichkeit als Schutz und Möglichkeit von/vor Erinnerung. Anmerkungen zu Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance. In: Berg/Jochimsen/Stiegler (Hg.): Shoah ԟ Formen der Erinnerung, S. 183-200, S. 192.
6
Vgl. zum Hamlet-Verweis auch Anne Roche: Anne Roche présente W ou le souvenir d’enfance de Georges Perec. Paris: Gallimard (Foliothèque) 1997, S. 205 ff., die weitere Anspielungen auf das Stück nachweist, und Joanna Spiro: The Testimony of Fantasy in Georges Perec’s W ou le souvenir d’enfance. In: Yale Journal of Criticism 14/1 (2001), S. 115-154, S. 120 ff., S. 141 ff., die vor allem den psychoanalytischen Implikationen nachgeht.
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Von einem Aufschub wird auch die nachfolgende Annäherung an das Foto des Vaters beherrscht, das über mehrere Zeit- und Vermittlungsebenen präsentiert wird. Zunächst greift Perec auf einen mehr als fünfzehn Jahre alten Text zurück, den er sogar mit den Anfängen seiner schriftstellerischen Tätigkeit überhaupt in Verbindung bringt: »Le projet d’écrire mon histoire s’est formé presque en même temps que mon projet d’écrire. Les deux textes qui suivent datent de plus de quinze ans« (WSE, S. 45 f.). Perecs gesamtes Schreiben erscheint unter diesem Gesichtspunkt als eine ständige Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Eltern.7 Die älteren, in fettem Schriftsatz gehaltenen Texte – der erste setzt sich, vom Foto ausgehend, mit der Biografie des Vaters, der zweite mit der der Mutter auseinander ԟ versieht Perec im Anschluss mit Anmerkungen, die jene beständig ergänzen, korrigieren, auf Ungereimtheiten hinweisen oder die vorhergehende Darstellung als reine Spekulation herausstellen. Die Fotobeschreibung unterscheidet sich darin kaum von den ähnlich isolierten Erinnerungsbildern der frühesten Kindheit, bei denen ebenfalls in Anmerkungen auf die Unwahrscheinlichkeit des Erinnerten hingewiesen wird; mit dem Unterschied freilich, dass die Unwahrscheinlichkeit dort den Inhalt eines subjektiven Bildes, hier aber die Spekulation über ein vorliegendes Bild betrifft. Zur Annäherung an die Vergangenheit bleiben nur weitere Überlieferungen. So heißt es in der Beschreibung des Fotos: »Le père sourit. C’est un simple soldat. Il est en permission à Paris, c’est la fin de l’hiver, au bois de Vincennes2.« (WSE, S. 46)
In der dazugehörigen Anmerkung folgt nun der Hinweis, dass die Aussagen über den Kontext der Aufnahme reine Spekulationen waren, die sich aus einem anderen Foto herleiteten: »2. Dimanche, permission, bois de Vincennes: rien ne permet de l’affirmer. La troisième photo que j’ai de ma mère – l’une de celles où je suis avec elle – a été prise au bois de Vincennes« (WSE, S. 53). Das vorliegende Foto ordnet Perec wegen seines Formats nun eher einem Armeefotografen zu. Die nachträgliche Korrektur einer Bemerkung, die das Foto doch mehr oder weniger in eine präsente Erinnerung und in eine Familiengeschichte eingeordnet hätte, initiiert eine Bewegung im Text, die den Sinn der Vergangenheit nicht in der Präsenz des Erinnerns restituiert, sondern ihn auf etwas Späteres, auf eine Korrektur, ein anderes Foto,
7
Vgl. Charlotte Wardi: Mémoires romanesques de la Shoah. In: Elrud Ibsch (Hg.): The conscience of humankind. Literature and traumatic experiences. Amsterdam u.a.: Rodopi 2000 (= Proceedings of the XVth Congress of the International Comparative Literature Association, 3), S. 117-131, S. 119: »La parution de W ou le souvenir d’enfance en 1975 obligea les critiques à reconsidérer leurs interprétations des œuvres de Perec.«
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verweist.8 Vergleichbare Textprozesse sind uns bereits im Zusammenhang mit der supplementären Struktur des punctum in Barthes’ La Chambre claire begegnet:9 Sinn oder Erinnerung sind hier nicht gegenwärtig, sondern immer aufgeschoben, flüchtig und in ihrer Nachträglichkeit selbst auf eine nachfolgende Präzisierung verwiesen. Unter Bezug auf das punctum wurde oben auf Hirschs und Spitzers Begriff der »Erinnerungspunkte« verwiesen, deren Bemerkung auch auf Perecs Fotobeschreibungen zuzutreffen scheint: »Die Wahrheit über die Vergangenheit scheint stets anderswo zu liegen, gleich hinter dem Bildrand. Fotografien können bestenfalls auf dieses Anderswo hindeuten […].«10 Ob »auf diese Weise eine starke Verbindung zwischen dem Damals und dem Heute«11 hergestellt werden kann, ist im Fall von Perec freilich zweifelhaft; mehr als eine starke Verbindung betont der Verweis auf das ›Anderswo‹ die Fremdheit der Vergangenheit. Bei dem Bild aus dem Bois de Vincennes, auf das die Anmerkung zum Foto des Vaters verweist, deutet dann allerdings tatsächlich ein Detail über den Bildrand hinaus: »C’est l’automne. Ma mère est assise, ou plus précisément appuyée à une sorte de cadre métallique dont on aperçoit derrière elle les deux montants horizontaux et qui semble être dans le prolongement d’une clôture en pieux de bois et fils de fer comme on en rencontre fréquemment dans les jardins parisiens. Je me tiens debout près d’elle, à sa gauche – à droite sur la photo ԟ, et sa main gauche gantée de noir s’appuie sur mon épaule gauche. À l’extrême droite, il y a quelque chose qui est peut-être le manteau de celui qui est en train de prendre la photo (mon père?). Ma mère a un grand chapeau de feutre entouré d’un galon, et qui lui couvre les yeux. Une perle est passée dans le lobe de son oreille. Elle sourit gentiment en penchant très légèrement la tête vers la gauche. La photo n’ayant pas été retouchée […], on voit qu’elle a un gros grain de beauté près de la narine gauche (à droite sur la photo). […] Mes mains sont potelées et mes joues rebondies. J’ai de grandes oreilles, un petit sourire triste et la tête légèrement penchée vers la gauche.« (WSE, S. 74 f.)
Vom Vater bleibt auf diesem Bild nur eine unsichere Spur, der Schatten am Rand des Bildes, der vielleicht ein Mantel sein könnte, der vielleicht dem Vater gehören könnte und der bei der ersten Beschreibung des Fotos vom Vater zu der Vermutung geführt haben könnte, es sei am selben Ort aufgenommen. 8
Vgl. zum Zusammenhang von »Anamnese und Nachträglichkeit« auch Anita Miller: Georges Perec. Zwischen Anamnese und Struktur. Bonn: Romanistischer Verlag 1996, S. 43 ff.
9
Vgl. oben, Abschnitt 4 im Barthes-Kapitel.
10 Hirsch/Spitzer: Erinnerungspunkte, S. 37. 11 Ebd.
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Es gibt in der Beschreibung weitere Verbindungen zu den Anmerkungen des älteren Textes über den Vater. Wenn es heißt, die Mutter lehne sich an einen Rahmen, der Teil des »prolongement d’une clôture« sei, ist damit ein Begriff aufgerufen, der bei Perec mehr als eine Raseneinfassung meint. Anlässlich seines ersten – und scheinbar einzigen ԟ Besuchs am Grab seines Vaters auf einem Soldatenfriedhof schreibt Perec: »cette mort […] cessait enfin d’être abstraite […], comme si la découverte de ce minuscule espace de terre clôturait enfin cette mort que je n’avais jamais apprise, jamais éprouvée, jamais connue ni reconnue, mais qu’il m’avait fallu, pendant des années et des années, déduire hypocritement des chuchotis apitoyés et des baisers soupirants des dames.« (WSE, S. 59)
Es ist unwahrscheinlich, dass das Verhalten der Umwelt sich allein auf den Tod des Vaters bezieht; ein anderer Tod, der der Mutter, bleibt hier ungenannt im Hintergrund. Was von Ersterem gesagt wird, dauert im Fall der Mutter an; anders als beim Vater gibt es hier keinen Ort, der als »clôture« dieses Todes fungieren könnte: »Ma mère n’a pas de tombe« (WSE, S. 62). Unter dem Titel La Clôture veröffentlichte Perec 1976, etwa ein Jahr nach W ou le souvenir d’enfance, auch 17 heterogrammatische (das heißt ein festgelegtes Set von Buchstaben variierende) Gedichte, zusammen mit Fotografien Christine Lipinskas, die die Rue Vilin in Paris, die Straße, in der Perec geboren wurde, zeigten.12 In der Straße, die heute vollständig umgestaltet ist, wurde schon damals ein großer Teil der Häuser abgerissen, so dass die Bilder vom Verschwinden des Ortes der (vergessenen) Kindheit zeugen und dazu beitragen, das Projekt zum »double farewell to Perec’s childhood in Belleville, to his absent memories and to the mother he could not recall«13 zu machen. Schon in W heißt es von der Abwesenheit der Erinnerungen:
12 Vgl. Mireille Ribière: La photographie dans la Clôture. In: Le Cabinet d’amateur 7-8 (1998), S. 107-119; Jacques Neefs/Hans Hartje: Georges Perec, images. Paris: Seuil 1993, S. 140 f. (dort auch eine Abbildung); Roger-Yves Roche: Photofictions, S. 71 ff.; die Gedichte und Fotografien selbst wurden in einer Auflage von 100 Stück auf Subskriptionsbasis vertrieben, so dass sie mir leider nicht zugänglich waen. Auf der Erstausgabe von W ou le souvenir d’enfance war ebenfalls ein Foto Lipinskas von einem Haus in der Rue Vilin abgebildet. Die Straße war auch Teil des abgebrochenen Langzeitprojekts Lieux, bei dem es um die Beschreibung und fotografische Erfassung einzelner Orte in Paris über einen Zeitraum von zehn Jahren ging. Zu den Fotos dabei vgl. Philippe Lejeune: La mémoire et l’oblique. Georges Perec autobiographe: essai. Paris: P.O.L. 1991, S. 176 f. und die Abbildungen in Neefs/Hartje: Georges Perec, images, S. 120 f. 13 David Bellos: Georges Perec. A Life in Words. London: Harvill 1993, S. 588.
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»Même si je n’ai pour étayer mes souvenirs improbables que le secours de photos jaunies, de témoignages rares et de documents dérisoires, je n’ai pas d’autre choix que d’évoquer ce que trop longtemps j’ai nommé l’irrévocable; ce qui fut, ce qui s’arrêta, ce qui fut clôturé: ce qui fut, sans doute, pour aujourd’hui ne plus être, mais ce qui fut aussi pour que je sois encore.« (WSE, S. 26)
In der »clôture« ist der Abschluss der Vergangenheit gefasst, der Einschluss der Kindheit in einen unzugänglichen Bezirk des Gedächtnisses, was aber auch die Unmöglichkeit impliziert, dies tatsächlich zu benennen und im Schreiben zu einem Abschluss zu bringen. Zugleich kann es ganz unmetaphorisch die Einhegung eines Bereichs sein und darin wiederum auf eine andere Umzäunung verweisen. So schließt in der Beschreibung des Fotos mit der Mutter im Park die »clôture en pieux de bois et fils de fer« (WSE, S. 75) den Verweis auf den Zaun des Konzentrationslagers mit ein.14 Gedächtnismedien sind die Fotografien in W vor allem, indem sie in der sprachlichen Form ihrer Beschreibung die Unzugänglichkeit der Kindheitserinnerung nachvollziehen. Bei der zitierten Fotobeschreibung betrifft dies auch die häufigen Hinweise darauf, dass etwas sich auf der linken Seite befindet oder nach links neigt, und vor allem die zweimalige Betonung, auf dem Foto sei das rechts. Sind mit dem Unterschied von Betrachterperspektive und Blickrichtung der Fotografierten zunächst einmal die Medialität des Bildes und der Abstand zur Vergangenheit betont, so schaffen die Präzisierungen nicht unbedingt Klarheit. Beim mutmaßlichen Mantelzipfel des Vaters, dem einzigem Objekt, das rechts verortet wird, ist schon nicht mehr ganz klar, ob es nun rechts von den Personen oder ›rechts auf dem Bild‹ liegt.15 Dass bei ihm offenbar die Betrachterperspektive eingenommen wird, könnte auf die Projektionsleistung hindeuten, die es verlangt, aus einem Schatten am Rand den möglichen Mantel des Vaters zu machen. Die Häufung der Hinweise auf Linksneigungen im Bild, bis hin zur identischen Kopfhaltung von Mutter und Kind, findet ein Echo im Text, wenn Perec von seiner »gaucherie contrariée« (WSE, S. 184) spricht: »j’aurais été, en effet, gaucher de naissance; à l’école on m’aurait imposé d’écrire de la main droite; cela se serait traduit […] par une légère inclinaison de la tête vers la gauche (sensible jusqu’à il y a encore quelques années) et surtout par une incapacité à peu près chronique et 14 Vgl. Odile Martinez: Un Trompe-l’œil photographique dans W ou le souvenir d’enfance. In: Monique Streiff Moretti (Hg.): Il senso del nonsenso. Scritti in memoria di Lynn Salkin Sbiroli. Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane 1995, S. 531-548, S. 541 f. 15 Das Bild ist, wie die übrigen in W erwähnten Fotos auch, abgedruckt in Neefs/Hartje: Perec images, S. 33; der fragliche Schatten am Rand ist tatsächlich rechts auf dem Bild, auf der linken Seite der Personen.
294 | G EORGES PEREC toujours aussi vive à distinguer, non seulement la droite de la gauche […], mais aussi […] tous les énoncés impliquant à plus ou moins juste titre une latéralité et/ou une dichotomie […]« (WSE, S. 184 f.)
Aus dieser Unfähigkeit leite sich eine Vorliebe für »procédés mnémotechniques« ab, wobei es sich bei den genannten dann in erster Linie um Wortspiele handelt, wie die Unterscheidung von »bâbord« und »tribord« durch das Wort »batterie«, von konkav und konvex über das Wort »cave«, oder um Merksprüche wie »l’accent circonflexe de cime tombe dans l’abîme« (WSE, S. 185). In einem Text, der so sehr vom Vergessen handelt und erst recht bei einem Schriftsteller, der dermaßen am Material der Sprache arbeitet, sind Mnemotechniken, die über sprachliche Verschiebungen, Assoziationen und die Gestalt der Wörter funktionieren, selbstverständlich von Relevanz für den Text selbst.16 Das zu Memorierende ist weniger im Inhalt des Erzählten oder Beschriebenen, zu suchen, sondern kryptisch im Material der Sprache aufgehoben bzw. als Unzugängliches eingeschlossen. Bei der Beschreibung des Fotos mit der Mutter im Park könnte ein vergleichbares Vorgehen in der »clôture en pieux de bois et fils de fer« ausgemacht werden. Anhand der Beschreibung eines anderen Fotos lässt sich eine Fülle von verschlüsselten Hinweisen auf den Tod der Mutter nachweisen. Es handelt sich um ein Bild von 1943, dem Jahr, in dem seine Mutter deportiert wurde, das Perec mit seiner Tante vor einer Alpenkulisse zeigt: »Sept individus – quatre appartenant à diverses espèces animales, trois à l’espèce humaine – apparaissent au premier plan. Ce sont, de droite à gauche (sur la photo): a) une chèvre noire avec quelques taches blanches, partiellement coupée par le bord droit de la photo; […] elle est vraisemblablement attachée à un piquet et ne semble pas s’apercevoir qu’on est en train de la photographier; b) ma tante; […] elle tient dans ses bras c) un chevreau blanc à tête noire qui ne semble pas autrement enchanté et qui regarde vers la droite, en direction de la chèvre qui est sans doute sa mère; d) moi-même; de la main gauche, je tiens l’une des jambes du chevreau; de la main droite, je tiens, comme si je voulais en présenter l’intérieur à la personne qui est train [sic] de nous photographier, un grand chapeau blanc […]. Assez nettement à gauche et en arrière du groupe formé par ma tante, le chevreau et moi-même se trouvent e) une poule
16 Düwell liest dagg. die »procédés mnémotechniques« als Hinweis auf die v.a. räumlich strukturierte antike Mnemotechnik und deren legendäre Erfindung durch Simonides von Keos (vgl. dazu Stefan Goldmann: Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos. In: Poetica 21 (1989), S. 43-66) und versucht, von dort ausgehend die Beziehungen zwischen dem fiktionalen und dem autobiografischen Teil von W zu erfassen (Susanne Düwell: »Fiktion aus dem Wirklichen«. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 111 ff.).
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blanche, à demi masquée par f) une paysanne […] g) un cheval […] coupé à mi-corps par le bord gauche de la photographie.« (WSE, S. 139 ff.)
Bernard Magné hat im Rückgriff auf Perecs Vorarbeiten zu W gezeigt,17 dass sich in dieser Passage die Hinweise auf das Fehlen der Mutter häufen. Schon der anfängliche Hinweis, dass drei der Fotografierten zur »espèce humaine« gehören, ruft mit Robert Antelmes gleichnamigem Buch, das für Perec auch sonst von einiger Bedeutung war, das Konzentrationslager auf.18 Auch die zweimalige Verwendung des Ausdrucks »en train de« kann als Hinweis auf die Deportation gelesen werden, zumal seine erste Verwendung seltsam unmotiviert erscheint, aber ausgerechnet mit der Ziege verknüpft wird, während die zweite mit einem Bild des Fehlens, der leeren Innenseite eines Huts verknüpft ist.19 Von der Ziege heißt es nicht umsonst, sie sei »sans doute« die Mutter des Jungtiers in den Armen der Tante. Das Fehlen der Mutter, die wirklich »en train« deportiert wurde, und die neue, nicht immer geliebte Bindung an die Tante, die Perec nach dem Krieg adoptieren sollte, sind hier durch die Beschreibung in die räumlichen Verhältnisse auf dem Bild übersetzt,20 prägen 17 Zu den Vorstufen vgl.: Georges Perec: Le petit carnet noir. In: Cahiers Georges Perec 2: W ou le souvenir d’enfance: une fiction. Séminaire 1986-1987 (= Textuel 21 (1998)), S. 157-169. 18 Vgl. Bernard Magné: Les Descriptions de photographies dans W ou le souvenir d’enfance. In: Le Cabinet d’amateur 7-8 (1998), S. 9-20, S. 17; vgl. zu Antelme auch Georges Perec: Robert Antelme ou la vérité de la littérature. In: Ders.: L.G. Une aventure des années soixante. Paris: Seuil 1992, S. 87-114; Antelme ist neben Flaubert, Nizan und Barthes auch einer der Schriftsteller, an denen Perec sich nach eigener Aussagen bei seinem ersten Roman, Les Choses, orientierte, vgl. Neefs/Hartje: Georges Perec, images, S. 64. 19 Ob es sich bei dem fehlenden »en« bei der zweiten Verwendung um einen Druckfehler oder eine Verstärkung des Verweises auf die Deportationszüge handelt, kann hier nicht entschieden werden. Beim Zitat der Passage in Magné: Les descriptions, S. 20 fehlt das Wort nicht. Die von ihm verwendete Ausgabe war mir leider nicht zugänglich. Magné selbst kommentiert den Ausdruck nicht. 20 Vgl. Magné: Les descriptions, S. 16; Magné weist zudem darauf hin, dass »chèvre« auch die Bezeichnung für ein Gestell ist, das zum Sägen von Holz verwendet wird und das an anderer Stelle in W Anlass für eine ausgedehnte und komplexe »géométrie fantasmatique« (WSE, S. 110) über den Buchstaben X gibt. Diese wiederum ist selbst ein Beispiel für eine Art mnemotechnisches System im Material der Sprache. Die Basisfigur des X stellt dabei das V dar – dessen verdoppelte Form eben jenes »double vé« des Titels ist – durch deren Variation und Kombination Perec nacheinander ein Hakenkreuz, eine SSRune und einen Judenstern gewinnt (vgl. WSE, S. 110); vgl. zu den Buchstabenspielen in W auch Obergöker: Écritures du non-lieu, S. 165 ff.
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aber auch deren Form insgesamt. Schon das durch die Aufzählung fast zwanghaft anmutende Bemühen um Vollständigkeit bei der Beschreibung deutet darauf hin, dass die beschriebene Szene gerade nicht vollständig ist,21 was die Erwähnung der am Rand abgeschnittenen oder nur halb sichtbaren Tiere noch verstärkt, während die viermalige Verwendung von »blanc« bzw. »blanche« die weiße Seite in der Mitte des Buches und die Leere, die das Verschwinden der Mutter hinterlassen hat, aufruft.22 Magné weist auch auf die Richtung der Beschreibung hin, die hier ja wieder mit dem schon bekannten Hinweis, dass es sich um die Richtung auf dem Bild handele, verbunden ist. Sie verläuft von rechts nach links, »c’est-à-dire non point selon le parcours ordinaire d’un regard déchiffrant une image mais bien selon le sens de lecture d’une page écrite en hébreu ou en yiddish.«23 Dieser Hinweis scheint mir auch im Fall der »gaucherie contrariée« von Bedeutung. Der Wechsel der Schreibhand von links nach rechts verweist auf die unterschiedlichen Schreib- und Leserichtungen im Hebräischen bzw. Jiddischen und der lateinischen Schrift.24 Perec, der sich zwar als Kind beim frühreifen Lesen jiddischer Zeitungen und beim Schreiben hebräischer Buchstaben imaginiert,25 jedoch keine der beiden Sprachen tatsächlich beherrschte, musste als Kind seine jüdische Herkunft um seiner Sicherheit willen ›vergessen‹,26 so wie er in der zitierten Erinnerung seine Linkshändigkeit aufgeben musste, nicht ohne daraus beschädigt hervorzugehen. Die Neigung des Kopfs, die er auf den Zwang in der Schule zurückführt, wird allerdings schon auf dem Foto mit seiner Mutter, im Alter von circa drei Jahren (das Bild wird auf 1939 datiert), vermerkt und wiederholt dort die Haltung seiner (jüdischen) Mutter. Auch die Hinweise auf die Rechts-Links-Umkehrung, je nachdem, welche Perspektive bei der Beschreibung des Fotos eingenommen wird, lassen sich so vor dem Hintergrund der ›versteckten‹ jüdischen Herkunft Perecs lesen. Bei der Beschreibung eines Fotos aus der Zeit des »Exode« ԟ der Evakuierung des Kinds aus Paris während der Kampfhandlungen im Juni 1940 ԟ ist jener Hinweis auf die nun 21 Aufzählungen sind freilich ein häufiges Verfahren bei Perec, vgl. dazu auch in allg. Hinsicht: Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin u.a.: de Gruyter 2003, zu Perec v.a. S. 37 ff., S. 59 f. 22 Vgl. Kasper: Sprachen des Vergessens, S. 224. 23 Magné: Les descriptions, S. 17. 24 Vgl. auch Nelly Wolf: Georges Perec: La Cicatrice ou le visage de l’exil. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 32/1-2 (2008), S. 105-112, S. 110, die dies allerdings eher auf das Exil und die Richtungen der Exilorte von Juden auf der Karte bezieht. 25 Vgl. WSE, S. 26. 26 Vgl. Bellos: Georges Perec, S. 552: »that he had been told to forget that he was Jewish, for his own safety […] is stated nowhere in the text, but is implied on almost every page by the author’s oblique insistence on memory gaps.«
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schon bekannte Neigung des Kopfes bezogen: »Je penche légèrement la tête vers la gauche (vers la droite sur la photo)« (WSE, S. 77). Die die Bildbeschreibung ergänzende Anekdote bezieht sich direkt auf die Gefahr, der ein jüdisches Kind zu dieser Zeit ausgesetzt war, ohne dies allerdings explizit auszusprechen: »Elle [d.i. die Bekannte der Familie, die Perec begleitete] raconta à ma tante […] que les Allemands qui occupèrent le village m’aimaient beaucoup, jouaient avec moi et que l’un d’eux passait son temps à me promener sur ses épaules. Elle avait très peur, disait-elle à ma tante qui me le raconta par la suite, que je ne dise quelque chose qu’il ne fallait pas que je dise et elle ne savait comment me signifier ce secret que je devais garder.« (WSE, S. 77)
Neben der grausamen Ironie, dass der Junge, dessen Vater ungefähr zur selben Zeit im Kampf gegen die Wehrmacht getötet wird, ausgerechnet mit deutschen Soldaten spielt, fällt auf, wie das Thema des Verschweigens in dieser Anekdote angesprochen wird. Was zu verschweigen ist, nämlich, dass der kleine Junge Jude ist, wird selbst nicht gesagt, und schon innerhalb der berichteten Situation ist es unmöglich, auch nur das zu Verschweigende als solches zu thematisieren – eine Konstellation, die an Perecs ausgedehntes Lipogramm La Disparition erinnert, jenen Roman, der vollständig ohne den Buchstaben E auskommt und in dem das Verschwinden dieses Buchstabens ständig thematisiert wird, ohne dass die Protagonisten sagen könnten, was fehlt.27 Auf die Verbindungen, die diese contrainte, wie im Oulipo eine einschränkende und darin textgenerierende Regel genannt wird, zu W ou le souvenir d’enfance unterhält, das immerhin die Widmung »pour E« (lies: »pour eux«, die toten Eltern) trägt und damit das Fehlen des Buchstabens in La Disparition als formalen Nachvollzug des Verschwindens der Eltern lesbar macht, wurde in der Forschung bereits oft hingewiesen.28 W weist keine vergleichbare contrainte auf,29 doch auch dieser Text kreist um etwas Fehlendes, das auf der Textoberfläche meist unausgesprochen bleibt, das aber im Nachvollzug der Prozesse des Verschweigens 27 Vgl. Georges Perec: La Disparition. In: Ders.: Romans et récits. Hg. v. Bernard Magné. Paris: Livre de poche 2002 (La Pochothèque), S. 305-562, u.a. S. 328, S. 407. 28 Vgl. u.a. Orlich: Buchstäblichkeit, S. 187, Orlichs Hinweis, dass im fehlenden Vokal E auch ein Hinweis auf Perecs jüdische Herkunft liegt, da »im Jiddischen wie Hebräischen« keine eigentlichen Vokalzeichen existierten, ist auch in Bezug auf die zitierte Stelle aus W interessant (im Jiddischen allerdings werden Vokale notiert, dem Laut [e] entspricht hier der Buchstabe Ayen (ʲ)). 29 Nach Martinez gibt es allerdings eine Analogie zwischen den Fotos in W und den contraintes in anderen Texten, insofern auch hier, der generierenden Regel vergleichbar, das Bild nicht Teil des Textes ist, sondern erst später, in der Zeitschrift L’Arc, abgedruckt wurde (vgl. Martinez: Un Trompe-l’œil photographique, S. 536; der größte Teil der Fotos ist wieder abgedruckt in: Neefs/Hartje: Georges Perec, images, S. 33 ff.).
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und Verschwindens in den kryptischen Hinweisen und in der Komposition als Fehlendes präsent bleibt. Die Unmöglichkeit, von der Abwesenheit der Eltern durch die Abwesenheit der Erinnerung zu sprechen, wird im Zusammenhang der Beschreibungen des Fotos vom Vater und der akribisch in den Anmerkungen konjizierten biografischen Skizzen der Eltern selbst thematisiert: »Je ne sais pas si je n’ai rien à dire, je sais que je ne dis rien; je ne sais pas si ce que j’aurais à dire n’est pas dit parce qu’il est indicible (l’indicible n’est pas tapi dans l’écriture, il est ce qui l’a bien avant déclenchée); je sais que ce que je dis est blanc, est neutre, est signe une fois pour toutes d’un anéantissement une fois pour toutes. C’est cela que je dis, c’est cela que j’écris et c’est cela seulement qui se trouve dans les mots que je trace, et dans les lignes que ces mots dessinent, et dans les blancs que laisse apparaître l’intervalle entre ces lignes: j’aurai beau traquer mes lapsus […], ou rêvasser pendant deux heures sur la longueur de la capote de mon papa, ou chercher dans mes phrases, pour évidemment les trouver aussitôt, les résonances mignonnes de l’Œdipe ou de la castration, je ne retrouverai jamais, dans mon ressassement même, que l’ultime reflet d’une parole absente à l’écriture […].« (WSE, S. 63)
Die Vergeblichkeit der genauen Beschreibung führt, wie beim Foto des Vaters gezeigt wurde, zu einer Bewegung des Aufschubs und Entzugs, bis hin zu jenem Foto mit der Mutter, in dessen Beschreibung deren Tod und das lebensnotwendige Verschweigen der eigenen jüdischen Herkunft aufgehoben ist. Nannicini Streitbergers Bemerkung, »l’application scientifique demandée par la pratique descriptive, volontairement adoptée et même exagérée, permet de donner forme à l’indicible, tout en couvrant de détails précis et concrets une ›parole absente à l’écriture‹«,30 trifft zu, wenn man die Dialektik von Formgebung des Unsagbaren und ›Zudecken‹ der Abwesenheit als Spur dieses Abwesenden versteht. Was Perec in einem Interview von seinem Schreiben allgemein sagt ԟ »Tout le travail d’écriture se fait toujours par rapport à une chose qui n’est plus, qui peut se figer un instant dans l’écriture, comme une trace, mais qui a disparu«31 ԟ, potenziert sich durch den Rekurs auf die Fotografien in W. »Si la photographie peut être dite originaire dans l’œuvre de Perec, c’est […] au sens où elle peut figurer, comme trace, des origines familiales disparues. La photographie redouble alors une absence première«, 32 und dies nicht nur,
30 Chiara Nannicini Streitberger: La revanche de la discontinuité. Bouleversements du récit chez Bachmann, Calvino et Perec. Brüssel: Lang 2009, S. 115. 31 Georges Perec: Le travail de mémoire (entretien avec Frank Vernaille). In: Georges Perec: Je suis né. Paris: Seuil 1990, S. 81-93, S. 91. 32 Christelle Reggiani: Perec: Une Poétique de la photographie. In: Littérature 129 (2003), S. 77-106, S. 101, vgl. auch S. 105 f.
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insofern sie nicht abgedruckt, also im Text abwesend ist,33 sondern auch, indem sie als Gedächtnissupplement die fehlende Erinnerung ersetzen muss und darin sich an die Stelle der Abwesenheit der Eltern setzt. So macht Perec bei der Beschreibung einer Studiofotografie, die ihn im Alter von ungefähr zwei Jahren mit seiner Mutter zeigt, auf seine Frisur aufmerksam, einen »très joli cran sur le front«, und fügt hinzu: »(de tous les souvenirs qui me manquent, celui-là est peut-être celui que j’aimerais le plus fortement avoir: ma mère me coiffant, me faisant cette ondulation savante)« (WSE, S. 74). Dass er hiervon keine Erinnerung behalten hat, ist angesichts seines Alters auf dem Bild im Grunde eine Banalität. Was weder das Foto zeigt noch der Wunsch nach dieser Kindheitserinnerung expliziert, was hier aber im Hintergrund steht, ist das spurlose Verschwinden der Mutter nach ihrer Deportation vom Sammellager Drancy nach Auschwitz. Der Gedächtnisverlust vertritt den Verlust der Eltern und die Fotografie dient als Medium eines Schreibens, das seinerseits »eine durch fehlende Erinnerungen verursachte Leerstelle supplementieren soll.«34 Die fehlende Erinnerung gibt, wie im Beispiel der Haartolle auf dem Foto, Anlass für Wünsche und Erfindungen. Zu Beginn der zweiten Hälfte von W wird die Phantasie einer unmöglichen Erinnerung in einiger Parallelität zur einsetzenden Fiktion der Insel W erzählt. Am Ende eines Kapitels, das von der Ort- und Zeitlosigkeit der isolierten Erinnerungen an die Zeit handelt, die Perec in den Alpen, bei Villard-de-Lans, versteckt verbrachte, heißt es: »Moi, j’aurais aimé aider ma mère à débarasser la table de la cuisine après le diner. Sur la table, il y aurait eu une toile cirée à petits carreaux bleus; au-dessus de la table, il y aurait eu une suspension avec un abat-jour presque en forme d’assiette […]« (WSE, S. 99). Der Konditional, in dem dieser Traum einer häuslichen Idylle erzählt wird, ist, wie Dana bemerkt, »un mode essentiel dans W ou le souvenir d’enfance. Comment s’en étonner, puisqu’il est le mode du fictif, d’une projection imaginaire, indépendante de toute validation […].«35 Ihr Gegenstück findet die erwähnte Passage am Beginn der Beschreibung des Sportstaats W: »Il y aurait, là-bas, à l’autre bout du monde, une île. Elle s’appelle W« (WSE, S. 93). Die Bewegung verläuft hier in die entgegengesetzte Richtung, vom Konditional zum Präsens, vom Indizieren der »Welt des Phantasmas« zur Suggestion einer »Halluzination, die die unverwechselbare Präzision eines Alptraums besitzt.«36 In dieser gegenläufigen Bewegung schlägt sich die gesamte Komposition von W ou le souvenir d’enfance nieder. So wie die formal 33 Vgl. ebd., S. 83. 34 Thomas Klinkert: Das Schreiben des Nicht-Erlebten: Georges Perec und Patrick Modiano. In: Segler-Meßner (Hg.): Vom Zeugnis zur Fiktion, S. 321-336, S. 324. 35 Catherine Dana: Fictions pour mémoire. Camus, Perec et l’écriture de la shoah. Paris: L’Harmattan 1998, S. 156. 36 Orlich: Buchstäblichkeit, S. 193.
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wie inhaltlich geschlossene fiktive Welt von W der faktisch stattgefundenen Vernichtung immer ähnlicher wird, so nähern sich die von faktual konnotiertem Material wie den Fotografien ausgehenden Erinnerungsversuche immer wieder der reinen Erfindung an. Im letzten Erinnerungsbild, das im Rahmen des autobiografischen Teils erzählt wird, gehen der Bezug auf fotografische Dokumente, die verfälschten Erinnerungen und der Verweis auf den fiktionalen Text eine eigentümliche Verbindung ein. Perec erzählt vom Besuch einer Ausstellung über die Konzentrationslager zusammen mit seiner Tante: »Je me souviens des photos montrant les murs des fours lacérés par les ongles des gazés […]« (WSE, S. 215). Der tatsächliche Ort der Vernichtung, die Gaskammer, ist hier verschoben an den Ort, an dem man die Toten verschwinden ließ. Das Bild der von den Nägeln der Sterbenden zerkratzten Wände ruft zugleich das letzte Kapitel der fiktionalen Erzählung vor dem Ende der ersten Hälfte von W auf, die Beschreibung des Schiffbruchs vor Feuerland. Caecilia, die Mutter des verschwundenen Jungen (Perecs Mutter nannte sich in Frankreich Cécile), versuchte vergeblich, mit gebrochenen Beinen zur Tür ihrer Kabine zu gelangen und sie zu öffnen: »lorsque les sauveteurs chiliens la découvrirent, son cœur avait à peine cessé de battre et ses ongles en sang avaient profondément entaillé la porte de chêne« (WSE, S. 84). Es wird abermals deutlich, wie eng Fiktion und Dokument in W miteinander verbunden sind. Das reale Dokument des Massenmords verwandelt sich in der Erinnerung in ein Bild des Verschwindens, von dem nur noch Spuren übrigbleiben, die ihrerseits als Spuren dessen in die Fiktion eingehen. Das fragliche Foto ist im Unterschied zu den anderen Bildern in W das Bild des Ortes, an den Perec selbst, wenn man ihn nicht rechtzeitig versteckt hätte, gekommen wäre und an dem seine Mutter wahrscheinlich den Tod fand. Während die anderen Bilder eine mögliche, aber letztlich rein spekulative und oft unwahrscheinliche Erinnerung anstoßen können, verweist dieses Bild auf eine unmögliche Erinnerung, die ihrerseits aber auf eine für einen Juden im Europa der vierziger Jahre nur zu wahrscheinliche Erfahrung verweist. Eine vergleichbare Konstellation hat Perec in einem anderen Projekt umgesetzt. In einem Interview, in dem er die Bedeutung der Fotos für W ou le souvenir d’enfance unterstreicht,37 antwortet Perec auf die Frage des Interviewers, ob er nicht auch ausgehend von Fotos von Unbekannten eine Fiktion hätte konstruieren können, dass er genau dies ebenfalls getan habe. Im Film La vie filmée des Français habe er beim Kommentar zu anonymen Amateurfilmen in einem Film über Belle37 »Cette autobiographie de l’enfance s’est faite à partir de descriptions de photos, de photographies qui servaient de relais, de moyens d’approche d’une réalité dont j’affirmais que je n’avais pas le souvenir. En fait, elle s’est faite à travers une exploration minutieuse, presque obsédante à force de précisions, de détails. A travers cette minutie dans la décomposition, quelque chose se révèle.« (Perec: Le travail de la mémoire, S. 84).
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ville, das Viertel seiner Kindheit, die Möglichkeit seiner eigenen Vergangenheit im Bild gesehen,38 und ein Filmprojekt zusammen mit Robert Bober über Ellis Island, die Insel vor New York, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Durchgangsstation für europäische Immigranten fungierte, sei ebenfalls eine Art »mémoire fictionelle, une mémoire qui aurait pu m’appartenir.«39 Das aus der Arbeit am Film hervorgegangene Buch stellt auch mit einem Album von historischen Fotos, vor allem von Lewis H. Hine, eine solche »mémoire potentielle, / [ ]une autobiographie probable« dar: »nos parents ou nos grands-parents auraient pu s’y / trouver«,40 wenn sie nach Amerika ausgewandert wären. Die Recherche auf Ellis Island ist damit mehr als eine Spurensuche zur europäischen Migration in die USA; es verweist beide, Bober und Perec, auf ihr Verhältnis zum Judentum und dessen Geschichte im 20. Jahrhundert zurück. Für Bober stellt das Judentum dabei durchaus eine lebendige Tradition dar. Neben einer Fotografie seines Urgroßvaters, dem die Einreise in die Vereinigten Staaten verweigert wurde, heißt es: »photographies précieusement conservées: / signes d’appartenance sur lesquels se fonde / son enracinement dans l’Histoire«.41 Dass Fotografien im Fall Perecs sehr viel problematischer zu bewerten sind, hat die Lektüre von W gezeigt. Das Gleiche gilt für sein Judentum.42 Der Text neben einem Foto, das Perec allein in der verwahrlosten Wartehalle der ehemaligen Aufnahmestation auf Ellis Island zeigt, lautet: »ce qui pour moi se trouve ici ce ne sont en rien des repères, des racines ou des traces, mais le contraire: quelque chose d’informe, à la limite du dicible, quelque chose que je peux nommer clôture, ou scission, ou coupure, et qui est pour moi très intimement et très confusément lié au fait d’être juif.«43
38 Vgl. dazu auch das Zitat in Neefs/Hartje: Perec images, S. 26. 39 Perec: Le travail de la mémoire, S. 85. 40 Georges Perec avec Robert Bober: Récits d’Ellis Island. Histoires d’errance et d’espoir. Paris: P.O.L. 1994, S. 55 (der Text im Buch stammt von Perec); vgl. dazu auch Annelise Schulte Nordholt: Perec, Modiano, Raczymow. La génération d’après et la mémoire de la Shoah. Amsterdam, New York: Rodopi 2008, S. 297 ff. 41 Perec/Bober: Récits d’Ellis Island, S. 60. 42 Vgl. zu Perecs Verhältnis zum Judentum: Marcel Bénabou: Perec et la judéité. In: Cahiers Georges Perec 1. Paris P.O.F. 1985 (= Colloque de Cerisy 1984), S. 15-31. 43 Perec/Bober: Récits d’Ellis Island, S. 56.
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Wieder ist es der Begriff der »clôture«, der hier nicht nur den Ausschluss aus dieser Geschichte bedeutet, sondern zugleich ein Eingeschlossen-Sein: »d’avoir été désigné comme juif, / et parce que juif victime, / et de ne devoir la vie qu’au hasard et à l’exil.«44 Es verwundert daher nicht, wenn bei der Beschreibung von Ellis Island Auschwitz assoziiert wird:45 Der Ort, der eine Möglichkeit der jüdischen Geschichte repräsentiert, verweist auf die andere Möglichkeit, die das »être juif« jenseits aller Fragen der Zugehörigkeit zu einer Tradition im 20. Jahrhundert aufwirft. Die Fotos im Zusammenhang mit der Arbeit zu Ellis Island mögen von einer »mémoire fictionelle« zeugen, die Bilder der realen Autobiografie lassen sich angesichts dieser Möglichkeit nur noch mithilfe der Fiktion in so etwas wie eine Erinnerung überführen.
44 Ebd., S. 58. 45 Vgl. ebd., S. 49; vgl. hierzu auch Dunker: Die anwesende Abwesenheit, S. 199 f.
Exkurs: Autobiografie, Fotografie, Fiktion
In beiden vorangehenden Kapiteln spielte in die Diskussion der Fotografie als Gedächtnismedium im Text immer auch die Verbindung autobiografischen und fiktionalen Schreibens herein. Insofern sowohl Fotografien als auch autobiografische Texte gewöhnlich als authentische, referentielle oder faktuale Formen der Darstellung wahrgenommen werden (wobei die jeweiligen Qualifizierungen sehr unterschiedliche Konzepte implizieren können), ist diese Verbindung zumindest auffällig. Zu einem gewissen Grad scheint sich das Verhältnis von fiktionalem und autobiografischem Schreiben im Zugang des Texts zur Fotografie zu spiegeln. Auf die Parallelen zwischen Autobiografie und Fotografie wird in der entsprechenden Forschung immer wieder hingewiesen. Unter dem Stichwort »Gemeinsame[r] Diskursmerkmale« nennt Susanne Blazejewski in ihrer Studie zur »Photographie in autobiographischer Literatur« drei Punkte: eine »paradoxe Beziehung zu Wirklichkeit und Fiktion«, die gerade als »ungelöste Spannung […] beiden Medien ihre ›ungewöhnliche Kraft‹ bei der Selbstdarstellung des Menschen verleiht«; eine »gemeinsame fragmentarische Grundstruktur«; und schließlich werde »beiden Medien […] gleichermaßen die Aufgabe der Identitätssuche beziehungsweise -stiftung zugeschrieben.«1 Über die fragmentarische Grundstruktur ließe sich sicherlich streiten, doch ist dieses Merkmal im vorliegenden Zusammenhang ohnehin nicht der wichtigste Aspekt. Die Fragen der Wirklichkeitsbeziehung und der Identitätssuche scheinen aber gerade im Fall der Autobiografie denkbar eng aneinander gekoppelt: Das Subjekt, das seine Identität im Schreiben entwirft oder Rechenschaft darüber ablegt, steht auch ein für den Realitätsgehalt des Erzählten. Timothy Dow Adams sieht daher »autobiography’s most salient feature ԟ an attempt at reconciling authors’ sense of self with their lives through an art that simultaneously reveals and
1
Susanne Blazejewski: Bild und Text – Photographie in autobiographischer Literatur. Marguerite Duras’ »L’amant« und Michael Ondaatjes »Running in the family«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 103 f.
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conceals ԟ […] at the heart of the photographic act as well.«2 Zugleich sehen sich Ansätze, Fotografie und Autobiografie gemeinsam zu untersuchen, mit der Dekonstruktion der jeweiligen Referenzversprechen in beiden Fällen konfrontiert. Rugg, die das Problem zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung macht,3 geht dabei von einer Art Dopplung der Rezeptionsangebote von Fotos im autobiografischen Text aus: »the presence of photographs in autobiography cuts two ways: it offers a visualization of the decentered, culturally constructed self; and it asserts the presence of a living body through the power of photographic referentiality.« 4 Die Frage nach dem Bild des Subjekts der Autobiografie hinsichtlich der Präsenz seiner Fotos im Text steht zwar nicht im Zentrum der vorliegenden Untersuchung,5 die angesprochene Doppelperspektive von Referenz und Identitätskonstruktion ist allerdings auch ohne den Abdruck von Fotos von Bedeutung.
2
Timothy Dow Adams: Light writing & life writing. Photography in autobiography. Chapel Hill u.a.: University of North Carolina Press 2000, S. 21.
3
Vgl. Rugg: Picturing ourselves, S. 1; die Frage nach dem Zusammenhang der Referenzproblematik in Fotografie und Autobiografie stellt sich auch Hild, beschränkt sich im entsprechenden Kapitel ihrer Dissertation aber vor allem auf ein Theoriereferat zu Sontag, Barthes und Baudrillard und den Hinweis, dass Fotografien in ihrer Bedeutung von ihren sprachlichen Einrahmungen abhängig sind (vgl. Cornelia Hild: »Not Blood Relations, Ink Relations«. Autobiographie und Fiktion. Dissertation München 2007, (http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:19-98666 (zuletzt geprüft am 26.8.2010)), S. 42 ff.).
4
Ebd., S. 19; zur Parallelität von autobiografischen und fotografischen Auseinandersetzungen mit der kulturellen Codierung des Selbst vgl. Peter Jay: Posing: Autobiography and the Subject of Photography. In: Kathleen Ashley/Leigh Gilmore/Gerald Peter (Hg.): Autobiography & postmodernism. Amherst (Mass.): University of Massachusetts Press 1994, S. 191-211.
5
Aufgrund dieses unterschiedlichen Ausgangspunkts kommt Rugg bei der Untersuchung von Benjamins Berliner Kindheit und Wolfs Kindheitsmuster z.T. auch zu anderen Ergebnissen als ich. Hinzu kommt, dass die jeweiligen Texte hier nicht als Autobiografie im engeren Sinn gelesen werden, so dass ich Ruggs Deutung der Abwesenheit von Fotos in Benjamins und Wolfs Texten als Auseinandersetzung mit dem Überwachungssystem totalitärer Staaten (vgl. ebd., u.a. S. 7 f., S. 18, S. 232) nur sehr bedingt folgen kann. Die Abwesenheit persönlicher Fotos in diesen Texten ist dagegen konsequent, wenn das Gewicht der Lektüre eher auf die Momente der Verallgemeinerbarkeit der jeweils erzählten Biografien gelegt wird (vgl. auch die Auseinandersetzung mit Rugg v.a. oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Benjamin).
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Um eine systematische Erarbeitung autobiografietheoretischer Fragestellungen kann es dabei freilich nicht gehen;6 die Implikationen autobiografischer Elemente in den behandelten Texten interessieren hier vor allem im Hinblick auf die literarische Auseinandersetzung mit der Fotografie. Dies auch vor dem Hintergrund, dass einige dieser Texte – insbesondere die Romane Sempruns ԟ sich ohnehin nicht dem Genre Autobiografie, wie immer es definiert wird, zuordnen ließen. Gerade diese Romane sind allerdings auch die einzigen der untersuchten Texte, in denen die Fotografien in einen Zusammenhang mit der Identität des empirischen Autors gestellt werden. In W werden zwar Fotos von Perec beschrieben, aber die Identität des Autors kommt dabei nicht unmittelbar ins Spiel.7 Fotografien dienen bei beiden Autoren dort, wo die Texte autobiografisch verfahren, eher noch als Hinweis auf eine Faktizität, die sich nicht anders als im fiktionalen Schreiben konfrontieren lässt. Wenn Semprun in L’écriture ou la vie angesichts der Dokumentaraufnahmen aus den Konzentrationslagern auf die Notwendigkeit fiktionalen Schreibens hinweist und Perec im autobiografischen Teil von W ou le souvenir d’enfance ausgehend von den Fotos eine Spekulation über die Erinnerung entfaltet, die den Text dem fiktionalen Teil des Buchs annähert, dann scheinen diese Texte sich im selben Zug einer Faktizität zu versichern, wie sie diese durch das fiktionale Schreiben supplementieren. Der Bezug auf die Fotografie und die autobiografische Ebene der Texte scheinen also durchaus in einem Zusammenhang zu stehen, der sich als Spiel an der Grenze von faktualen und fiktionalen Darstellungsmodi beschreiben ließe. Gerade dieses Spiel ist, folgt man dem Vorschlag Gabriele Schabachers, konstitiv für die Gattungszuschreibung »Autobiografie«: »Die Inszenierung und Frage nach der Unentscheidbarkeit bzw. Entscheidung von Faktizität/ Fiktion ist selbst als ›Gattungsmarkierung‹ der Autobiographie zu verstehen. Insofern kann gerade das Aufkommen der Frage fact oder fiction als Indiz für die Zugehörigkeit eines Textes zur Gattung ›Autobiographie‹ gewertet werden.«8
6
Vgl. hierzu den guten Überblick bei Schabacher: Topik der Referenz, S. 109 ff.; vgl. einführend auch Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, v.a. Kap. II (S. 18 ff.).
7
Einzig bei Perecs Foto in Récits d’Ellis Island scheint mir Ruggs Perspektive anwendbar: Das Bild des Autors in seiner Vereinzelung korrespondiert mit den nebenstehenden Reflektionen über die Problematik und Fremdbestimmtheit der eigenen jüdischen Identität, und dies v.a. wegen des Kontrasts zum Foto des aschkenasischen Großvaters von Bober auf den folgenden Seiten, das dessen Zugehörigkeit zur Tradition illustriert (vgl. Perec/Bober: Récits d’Ellis Island, S. 56 ff.)
8
Schabacher: Topik der Referenz, S. 181.
306 | A UTOBIOGRAFIE
Im Hinblick auf Sempruns Buchenwald-Bücher und den autobiografischen Teil von Perecs W trifft dies auch zweifellos zu, und nicht umsonst weist Schabacher auf die Shoah-Autobiografik als ein Feld hin, in dem diesen Problemen besonderes Gewicht zukommt.9 Gewinnbringender im Hinblick auf die hier zu behandelnden Texte ԟ insbesondere im Fall der folgenden Kapitel zu Hubert Fichte und Christa Wolf ԟ ist es allerdings, die von Schabacher erwähnte Inszenierung als in den Texten selbst wieder inszenierte in den Blick zu nehmen. Die Texte werden demnach von vornherein unter der Option ›Fiktion‹ betrachtet, um anschließend den Wiedereintritt der Unterscheidung Fakt/Fiktion als Strategie des Textes zu beobachten.10 Für die vorliegenden Zwecke empfiehlt es sich, die Differenzierung von fiktionalen und faktualen Darstellungsmodi pragmatisch anzugehen, anhand eines operablen, pragmatischen Kriteriums, das es erlaubt, spezifische Textstrategien zu beschreiben und interpretativ fruchtbar zu machen. Die eigentlichen Probleme, die für eine Theorie der Autobiografie hier erst anfingen, werden demnach von der Untersuchung ihrer poetologischen Funktion in der Inszenierung des jeweiligen Texts ausgeblendet. Die Fakt/Fiktions-Problematik wäre im vorliegenden Fall vor allem auf die Frage nach dem empirischen Autor/der Autorin zu beziehen, als dem Bereich, in dem sich das Problem von Fiktion und Fakt bzw. Autobiografie bei den behandelten Texten vornehmlich stellt. Faktuale und fiktionale Darstellungsmodi sind in dem Sinn durch die Identität bzw. Nicht-Identität von Autor und Erzähler voneinander unterschieden.11 Ließen sich so im Fall Perecs und Sempruns – bei dem sich die Sache im Hinblick auf seine anderen Buchenwald-Texte freilich verkomplizierte ԟ noch relativ klare Entscheidungen über den fiktionalen oder autobiografischen Status der jeweiligen Texte oder Textteile im Sinne eines ›autobiografischen Pakts‹ vornehmen, so ist dies bei Christa Wolf und Hubert Fichte wesentlich schwieriger. Fichtes Protagonisten Jäcki und Detlev sind in eindeutiger Parallele zum Autor konstruiert, durch die Namensgebung aber als fiktive Gestalten gekennzeichnet; in Wolfs Kindheitsmuster tritt eine Erzählerin auf, wird aber durch die Anrede in der zweiten Person 9
Vgl. ebd., S. 168 ff.; vgl. hierzu auch Manuela Günter: Writing Ghosts. Von den (Un-) Möglichkeiten autobiographischen Erzählens nach dem Überleben. In: Dies. (Hg.): Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoah. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 21-50, v.a. S. 44.
10 Vgl. zu einem solchen Vorgehen Schabacher: Topik der Referenz, S. 39 ff.; vgl. auch Bunia: Faltungen, S. 99: »Man entscheidet anhand möglicher Resultate für eine der beiden Optionen, die jeweils vorliegen, doch muss man, egal wie die Wahl ausfällt, die andere Option als latente Möglichkeit mitführen.« 11 Vgl. Gérard Genette: Fiktion und Diktion. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. München: Fink 1992, S. 80 ff.; Genette beruft sich auf Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris: Seuil 21996, S. 26.
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Singular bereits auf der Ebene der Erzählung in Distanz gesetzt.12 Bei aller Nähe zur Autorin kann von einer Identitätsbehauptung im Text allein schon wegen der von den Namen in Wolfs Familie abweichenden Bezeichnung des näheren Umfelds nicht ausgegangen werden.13 Wenngleich die Texte im Folgenden als fiktionale Texte gelesen werden, gilt es, die Möglichkeit einer autobiografischen Lesart als konstitutives Element der Romane selbst im Blick zu behalten. Es geht dabei nicht um Identität, sondern höchstens um Ähnlichkeit.14 Die nach Lejeune im ›autobiografischen Pakt‹ behauptete Identität von Autor, Erzähler und Protagonist wird in den analysierten Texten allerdings funktionalisiert, um Brüche in der personalen Identität der Protagonisten oder Protagonistinnen zu reflektieren. Eine vergleichbare Konstellation ist uns bereits im Rahmen des metafiktionalen Spiels von Sempruns L’Algarabie begegnet. Auf der Ebene der Erzählinstanzen ließe Fiktionalität sich demnach, nun hermeneutisch gewendet, in Entsprechung zur Konstitution der fiktiven Welt und ihrer Figuren setzen. Mit dieser Wendung wird allerdings die Frage nach autobiografischen und fiktionalen Darstellungsmodi zu einer Frage der rhetorischen Strategien des Textes, in deren Rahmen auch der Bezug auf Fotografien zu lesen ist. Gegen Lejeunes Konzept eines autobiografischen Pakts hat bereits Paul de Man eingewandt, dieser übersehe, indem er den Autornamen als Teil einer Vereinbarung mit den Lesenden fasst, dessen tropologische Dimension.15 Gerade im Blick auf die rhetorische Eigenlogik des Textes frage sich, ob hier ein Autor eine Autobiografie 12 Zu einer detaillierten Analyse der Erzählinstanzen in Kindheitsmuster vgl. Björn Schaal: Jenseits von Oder und Lethe. Flucht, Vertreibung und Heimatverlust in Erzähltexten nach 1945 (Günter Grass ԟ Siegfried Lenz ԟ Christa Wolf). Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006, S. 107 ff. 13 Dies betrifft vor allem die Tochter Lenka, eine wichtige Dialogpartnerin innerhalb der Erzählung, auf deren »reales Gegenstück«, Wolfs Tochter Katrin, die Widmung von Kindheitsmuster »Für Annette und Tinka« (Christa Wolf: Kindheitsmuster. Berlin, Weimar: Aufbau 61981, S. 5) hinweist und zugleich durch die ähnlich gebildete Kurzform des Namens Ähnlichkeit und Differenz als bestimmende Faktoren des Buchs einführt. Die Widmung kann damit als Fiktionssignal gewertet werden. Als – allerdings ziemlich paradoxes ԟ Indiz könnte auch auf eine Äußerung Wolfs hingewiesen werden: »ich meine, ich kaschiere an keiner Stelle, daß es sich sozusagen um Autobiographisches handelt; das wird nicht verschwiegen. Wobei dieses ›sozusagen‹ wichtig ist, es ist nämlich keine Identität da.« (Christa Wolf: Erfahrungsmuster. Diskussion zu »Kindheitsmuster«. In: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 19591985. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1987, S. 806-843, S. 814). 14 Vgl. hierzu Lejeune: Le pacte autobiographique, S. 35 f. 15 Vgl. Paul de Man: Autobiography as De-facement. In: Modern Language Notes 94/5 (1975), S. 919-930, S. 920.
308 | A UTOBIOGRAFIE
hervorbringe oder nicht umgekehrt diese das beschriebene Leben selbst hervorbringe: »can we not suggest […] that the autobiographical project may itself produce and determine the life and that whatever the writer does is in fact governed by the technical demands of selfportraiture and thus determined, in all its aspects, by the resources of his medium? And since the mimesis here assumed to be operative is one mode of figuration among others, does the referent determine the figure, or is it the other way around: is the illusion of reference not a correlation of the structure of the figure, that is to say no longer clearly and simply a referent at all but something more akin to a fiction which then, however, in its own turn, acquires a certain degree of referential productivity?«16
Was de Man als Einwand gegen eine klare Unterscheidbarkeit von Autobiographie und Fiktion formuliert, ist in den hier behandelten Texten bereits poetologisches Prinzip. Fiktionalität meint in dem Kontext allerdings nicht allein eine Unterbrechung in der Referenz auf einen real existierenden Autor, sondern das textinterne, prinzipiell referenzlose Spiel der Signifikanten. Zugleich führt gerade de Mans eigene Rhetorik ironischerweise wieder die Figur einer Referentialität in seinen Text ein, die über die ›referentielle Produktivität‹ des fiktionalen Textes hinauszugehen scheint: »But are we so certain that autobiography depends on reference, as a photograph depends on its subject or a (realistic) picture on its model?«17 Rugg nimmt diese Passage zum Anlass, um eine Art paralleles Referenzbegehren in der Wahrnehmung von Fotografien und Autobiografien zu konstatieren, dem im Fall der Fotografie selbst Poststrukturalisten wie de Man und Barthes nicht entgehen könnten.18 Das ist als Erklärung eher unbefriedigend. Bereits bei der Lektüre von La Chambre claire war deutlich geworden, dass die Insistenz auf der Spezifik fotografischer Referentialität im Rahmen textueller Strategien stand, die gerade aus der radikalen Differenz von Foto und Text heraus Letzteren an seine eigenen Grenzen führen. Um solche Grenzen mag es de Man vielleicht nicht direkt gehen, aber auch hier ist die Fotografie bzw. das Bild das konstitutive Außen des textuellen Signifikantenspiels, das mit der Hereinnahme dieses ›Außen‹ als Trope der Differenz eine ganz ähnliche Operation vollzieht wie Barthes. In vergleichbarer Weise gilt dies für das Verhältnis von Autobiografie und Fiktion bei den behandelten Texten. Es geht hier nicht um Referenz als Bezug auf die ›Welt da draußen‹, den wir in der Lektüre (nach-)vollziehen könnten, sondern zunächst um die Funktionen, die der Einbezug als referentiell wahrgenommener Darstellungsmodi ԟ seien dies nun die Fotografie oder autobiografische Elemente ԟ im 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Rugg: Picturing ourselves, S. 11 ff.
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fiktionalen Text hat. Dies ist kein Plädoyer, wieder das selbstreferentielle Zeichenspiel als einzigen Bezugspunkt zu akzeptieren, sondern Fiktionalität als Möglichkeit der Darstellung ernst zu nehmen. Wir konnten schon beobachten, wie sehr sich Semprun und Perec der »resources of [their] medium« bewusst sind und diese einsetzen. Auch bei Hubert Fichte verdankt sich gerade die Fiktionalisierung des Autobiografischen einem Bewusstsein für dessen vorgängige Determinierung durch Sprache. Was Rugg als die beiden widersprüchlichen Gegenstände der Fotografie im autobiografischen Text benannt hat ԟ »the decentered, culturally constructed self« und »the presence of a living body«19 ԟ kann unter fiktionalen, literarischen Vorzeichen, obgleich in enger Auseinandersetzung mit der Fotografie, auch als Umschreibung der zentralen Gegenstände bei Hubert Fichte gelten.
19 Ebd., S. 19.
Hubert Fichte: Momentaufnahmen und Fragmente
Angesichts von Fichtes Zusammenarbeit und Partnerschaft mit der Fotografin Leonore Mau,1 die mit der Figur der Irma ihr fiktives Äquivalent in Fichtes Texten findet, liegt es nahe, sein Werk auf Beziehungen zur Fotografie hin zu untersuchen. Die oben angedeutete Parallele zu Ruggs These zur Fotografie in der Autobiografie wäre allerdings eher struktureller Art, eine Analogie, die in Fichtes Schreiben durchaus reflektiert werden kann. Zentraler Aspekt von Fichtes Schreiben ist seine Positionierung als Außenseiter. 1935 als Sohn eines jüdischen, noch vor der Geburt emigrierten Vaters geboren, wuchs er im nationalsozialistischen Deutschland unter der ständigen Bedrohung durch die Deportation auf, in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit sah er sich als Homosexueller durch die fortbestehende Geltung des Paragraphen 175 einer zwar anders gearteten, jedoch als vergleichbar erlebten Marginalisierung ausgesetzt. Dies, zusammen mit Fichtes Aufmerksamkeit für die ›Ränder‹ der Gesellschaft,2 wäre in stofflicher Hinsicht bereits ein Hinweis auf jenes »decentered, culturally constructed self«, das Rugg in der Fotografie ausmacht und dessen Gegenstück, der Körper des Schriftstellers, in der gerade in ihrem Bezug auf Körperlichkeit radikalen Selbstentblößung gesehen werden könnte, als die Fichtes Texte auch oft gelesen wurden. Eine solche Lektüre übersieht in der autobiografischen Festlegung das Artifizielle dieser Lebensbeschreibung. Das Außenseitertum mag in Fichtes Leben tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt haben, in seinen Texten wird 1
Vgl. zu den gemeinsamen Arbeiten von Fichte und Mau: Peter Braun: Die doppelte Dokumentation. Fotografie und Literatur im Werk von Leonore Mau und Hubert Fichte. Stuttgart: M & P 1997, S. 163 ff.
2
Vgl. hierzu Andreas Erb/Bernd Künzig: »zurückfinden in frühere Schichten«. Schreibweisen bei Hubert Fichte. In: Sven Kramer (Hg.): Das Politische im literarischen Diskurs. Studien zur deutschen Gegenwartsliteratur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 8094.
312 | HUBERT FICHTE
es jedoch nicht einfach als authentischer Stoff einer Lebensbeschreibung aufgegriffen, sondern als literarisches Prinzip erst gestaltet. Die Insistenz, mit der Fichtes Protagonist Jäcki immer wieder auf Selbstbezeichnungen wie »Ich bin Halbjude und schwul«3 zurückgreift, kann als Hinweis darauf gelten, wie die Heteronomie der Identitätszuschreibungen im Text aufgegriffen, zitiert und performativ in einer Literatur umgesetzt wird, die »den Kunstcharakter des Realen ebenso hervorheb[t] wie den Realitätsgehalt von Kunst«.4 Die Problematik von Identitätszuschreibungen, denen Fichte ebenso wie seine Protagonisten immer wieder unterworfen waren, reflektiert sich in einem Werk, das die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist nie vollständig einlöst, aber auch nie vollständig negiert. »Einerseits erweist die Unterminierung der Unterscheidung von Authentizität und Fiktionalität jede Vorstellung einer feststehenden Identität als Konstruktion, andererseits wird dieses Moment der Konstruktion in den Texten derart herausgestellt, daß selbst ein in viele Teile aufgespaltenes ›Ich‹ […] als Verweis[ ] auf den Autor und den Kontext, in dem er sich bewegt, gelesen werden.«5
Das Bild des Autors wird in den Texten so nicht als Bericht seines Lebens sichtbar, sondern in den Verfahren der Verkünstlichung, Literarisierung und Fiktionalisierung. Ein selbst wieder fiktionales Modell dieser Verfahren der »Transformation«6 findet sich im Roman Forschungsbericht. Der Roman handelt von Jäckis und Irmas Forschungen zu einem karibischen Ritus, die von Anfang an unter keinem guten Stern stehen und sich mehr und mehr als gescheitert herausstellen. Der Misserfolg lässt in Jäcki den Entschluss heranreifen, den gesamten Gang der Forschung als Roman zu erzählen: »Einen Prozeß in der Natur erleben, den man nur herauszulösen braucht, und er ist Kunst. / ԟ Wir können uns das vornehmen. Eine Woche lang leben wir einen Roman. / ԟ Ich glaube, das haben wir eben hinter uns.«7 Die mise en abyme wird explizit, wenn Jäcki nicht nur den Titel des vorliegenden Romans nennt, sondern auch die ersten Zeilen zu Papier bringt. Die aus der metaleptischen Anlage des Texts resultierenden 3
Hubert Fichte: Der kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs. Die Geschichte der Empfindlichkeit II. Hg. v. Gisela Lindemann. Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 158.
4
Martin Büsser: Der von Zuweisungen befreite Mensch. Der Autor Hubert Fichte. In: testcard 7: Pop und Literatur (1999), S. 186-199, S. 190.
5
Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 199.
6
Vgl. Jan-Frederik Bandel: Nachwörter. Zum poetischen Verfahren Hubert Fichtes.
7
Hubert Fichte: Forschungsbericht. Roman. Die Geschichte der Empfindlichkeit XV. Hg.
Aachen: Rimbaud 2008, S. 30. v. Gisela Lindemann. Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 141.
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Probleme hinsichtlich der »Dynamik von Kontingenz und Sinnsetzung«,8 die Jäcki sein Entschluss bereitet, lassen sich als ironischer Kommentar zur autobiografischen Ebene von Fichtes Œuvre, vor allem der großangelegten Geschichte der Empfindlichkeit, lesen. Problematisch wird es für Jäcki nun, die bisher bei der Feldforschung vorgefallenen Ereignisse ebenso wie die noch folgenden in eine Sinnstruktur einzupassen, die der durchkomponierten Geschlossenheit einer fiktiven Welt eher entspricht als den zufälligen Ereignissen und Enthüllungen, mit denen der Ethnologe konfrontiert ist (die er freilich seinerseits auf ihren kulturellen Sinn hin interpretieren müsste). Bei der Befragung einer Figur gegen Ende des Romans, als dessen Konstruktion auf der Handlungsebene sich für Jäcki langsam herauszukristallisieren beginnt, heißt es dementsprechend: »ԟ Sie hinkt, wenn sie niederkommt. Frau Nicholas’ Erzählung paßt nicht in den Roman. Sie steht zu schwer am Ende. Die Umkehrung des Ödipus-Komplexes – wie absichtlich. Sie macht mir die anderen Füße vorne kaputt.«9 Es ist ein tatsächlich witziger Kunstgriff ԟ den die Doppeldeutigkeit der Metaphern noch unterstützt ԟ, das Gemachte, Artifizielle der gesamten Konstruktion offenzulegen, indem ein einzelnes Element aus der komplexen Motivstruktur des Romans zum Verhältnis zu Müttern und zu Vätern, deren mythischer Grundierung und Umkehrung, und damit aus einem Themenkomplex, der in Fichtes Werk omnipräsent ist, herausgegriffen und als ein zufälliges Detail dargestellt wird, das eine ausgewogene Komposition zerstört, weil es im fiktionalen Text zu absichtlich erschiene. Bandel spricht in dem Zusammenhang nicht zufällig von den »an die Fotografie als Aufzeichnungsmedium erinnernden [ ] Sorgen um die unpassend durchs Bild laufenden Nebenfiguren«.10 Die häufigen Dialoge des Schriftstellers Jäcki mit der Fotografin Irma dienen im Forschungsbericht, wie in vielen anderen Romanen der Geschichte der Empfindlichkeit auch, in der Tat der Reflektion des Textes über seine eigenen Verfahren. Die poetologische Relevanz der Auseinandersetzung mit der Fotografie bei Fichte allgemein ist in der Forschungsliteratur natürlich nicht unbeachtet geblieben, oft verbunden mit dem Hinweis auf die biografischen Konstellationen und auf entsprechende Interview-Äußerungen Fichtes: »Da ist die Welt der Wörter und die Welt der Bilder. Irma, die andere Hauptfigur des Ganzen, ist Fotografin, und es geschieht eine sehr seltsame, sehr mörderische Auseinandersetzung zwischen dem Schriftsteller und der Fotografin. Wer gewinnt die Oberhand? Wird jetzt die Fotografin vom Essayisten gegängelt in allen ihren Lebensbezügen und in ihrem Beruf, oder
8
Bandel: Nachwörter, S. 30.
9
Fichte: Forschungsbericht, S. 147.
10 Bandel: Nachwörter, S. 25.
314 | HUBERT FICHTE geht der Kampf zugunsten der Fotografin aus, wird sie ihn mit Bildern so zuschwemmen, daß er seinen eigenen artistischen Impuls verliert?«11
Bei aller Vorsicht gegenüber Selbstauskünften von Schriftstellern, zumal, wenn das entsprechende Werk unmittelbare Übertragbarkeiten nahelegt, ist die angesprochene Konkurrenz zwischen den Medien, durchaus auch in Verbindung mit einer latenten Aggression von Seiten des Schriftstellers, in den Texten nicht zu übersehen. Zugleich dürfen angesichts der Drastik von Fichtes Aussagen die anderen Momente, die Faszination des ›ganz anderen‹ Mediums und jene von Bandel angedeutete Parallelität, nicht aus dem Blick geraten.
1. P OETOLOGISCHE AUSEINANDERSETZUNGEN Bereits die Eingangsszene der Geschichte der Empfindlichkeit steht im Zeichen eines ganz spezifischen Zugriffs auf die Fotografie: »Er zerschnitt ihre Fotos. / Irma ließ ihn.«12 Im Einklang mit der zitierten Interview-Äußerung Fichtes wurde diese Tätigkeit als Hinweis auf »die Konkurrenz des Schriftstellers Jäcki und der Fotografin Irma und den Ritualmord, den dieser Satz in magischer Perspektive benennt«,13 gelesen bzw. als »ritueller Mord in effigie ԟ: eine Ermordung Irmas, die Zerstörung ihrer Kunst.«14 Der Hinweis auf das Magische oder Rituelle von Jäckis Tätigkeit, das ins Ästhetische transferierte »›Verschmähen‹ davon, wirklich zu töten – Irma, die Mutter, uns«15 ԟ, mithin also die Stellvertreterfunktion der Collage, mag angesichts von Fichtes Beschäftigung mit dem Synkretismus der afroamerika11 Gisela Lindemann: In Grazie das Mörderische verwandeln. Ein Gespräch mit Hubert Fichte zu seinem roman fleuve »Die Geschichte der Empfindlichkeit«. In: Sprache im technischen Zeitalter 25/104 (1987), S. 308-317, S. 314. 12 Hubert Fichte: Hotel Garni. Die Geschichte der Empfindlichkeit I. Hg. v. Torsten Teichert. Frankfurt a.M.: Fischer 1987, S. 7. 13 Manfred Weinberg: Akut. Geschichte. Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis 1993, S. 379. 14 Hartmut Böhme: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart: Metzler 1992, S. 48. 15 Ebd.; in seinem Nachwort zu Fichtes frühem Stück Ödipus auf Håknäss (auf das an der Stelle in Hotel Garni angespielt wird) weist Böhme darauf hin, dass Jäcki nur die Abzüge, nicht die Negative, zerschneidet (vgl. auch Fichte: Hotel Garni, S. 7): »Dies ist ein Unterschied ums Ganze: von sich selbst und anderen stellt Fichte ›Abzüge‹, ›Kopien‹, ›Doubles‹ her; und diese, nicht die Originale, werden zerschnitten, seziert, ausgestellt.« (Hartmut Böhme: Der junge Fichte: Auf den Spuren des Mythos. In: Hubert Fichte: Ödipus auf Håknäss. Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 117-132, S. 120).
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nischen Religionen einleuchten, er überspringt allerdings, dass dieser ›Mord‹ innerhalb des Romans Hotel Garni am Anfang der Partnerschaft von Jäcki und Irma steht, im Zusammenhang der gesamten Geschichte der Empfindlichkeit sogar die gemeinsame Arbeit einleitet. Der rituelle Sinn des hier auch im beschriebenen Verfahren umgesetzten Synkretismus von »Nonnen aus Venedig, Häuser[n] von Le Corbusier, Korkeichen, ein[em] Kinderheim«16 ԟ den Motiven, die Jäcki aus Irmas Fotos ausschneidet ԟ lässt sich ebenso sehr, wie er auf das Verhältnis zur Fotografin verweist, auf eine sehr spezifische ›Magie‹ der Fotografie beziehen. Die Rede vom »magischen Wert« der Fotografie, die sich so nicht nur bei Benjamin oder Barthes findet17 und kann als feststehender Topos der Fotoliteratur angesehen werden.18 In einem Artikel über den Fotografen James van der Zee stellt Fichte diesen Topos sehr konkret in den Kontext von Praktiken des Berührungsund Reliquienzaubers: »Der Fotograf ist ein säkularisierter Zauberer. / […] Das Foto wird betrachtet als ein Partikel des Originals – es gibt einem, wie Fingernägel und Haarbüschel, Macht über andere.«19 Werden Collage und Montage zwar zunächst als Verfahren beschrieben, »das neue unheimliche Medium heimeliger zu machen«,20 so eignet doch auch diesen Praktiken etwas Magisches: »Der Fotograf durchbricht, wie der Schamane, die Schalen von Raum und Zeit, durch ein Material, die Klebe, er beschwört Abwesende und Tote, up to date und archaisch.«21 Es geht hier nicht darum, die Fotografie tatsächlich als Zauberkunst zu beschreiben, sondern um die Transformation dessen, was im Kontext von Ritualisierungen als Zauber erscheint, in ein künstlerisches Verfahren. Eine vergleichbare Engführung von Zerlegen, Ritualisierung und künstlerischer Arbeit prägt bereits Fichtes letzten zu Lebzeiten erschienenen Roman Versuch über die Pubertät. Auch dort zielt die Verbindung des Erzählens der eigenen Pubertät mit der Rahmenerzählung von der Sektion einer Leiche in der Gerichtsmedizin der brasilianischen Stadt Salvador und dem Versuch, den »mich in dreißig Jahren enger und enger schnürenden Körper16 Fichte: Hotel Garni, S. 7. 17 Vgl. GS II.1, S. 371 f., CC, S. 1170. 18 Vgl. Stiegler: Bilder der Photographie, S. 125 ff.; Koppen: Literatur und Photographie, S. 127 ff.; Diekmann: Mythologien der Fotografie, S. 176 ff. 19 Hubert Fichte: Schwarz/Weiß ԟ doppelt belichtet. Kleine Chronologie zum Werk des afroamerikanischen Fotografen James van der Zee. In: Frankfurter Rundschau 12.1.1980, S. III (der Artikel ist in die Geschichte der Empfindlichkeit aufgenommen, allerdings ohne Hinweis auf die Kürzungen, denen auch der zitierte Abschnitt zum Opfer fiel (vgl. Hubert Fichte: Die geklebten Götter. In: Ders.: Die schwarze Stadt. Die Geschichte der Empfindlichkeit o. Nr. Hg. v. Wolfgang von Wangenheim. Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 277-280)). 20 Fichte: Schwarz/Weiß, S. III. 21 Ebd.
316 | HUBERT FICHTE
zauber« zu lösen, auf die Destruktion eines geschlossenen Bildraums, das »Auseinanderfallen des Bildes, das mich ausmacht«,22 ab. Zerlegen und Zerschneiden werden hier zu Verfahren einer literarischen Erinnerung, die sich als säkularisiertes Ritual begreift. Die Arbeit an der Collage zu Beginn von Hotel Garni ist so Teil der »Zerstückelungsphantasien […], die das Romanwerk Fichtes durchziehen«,23 und partizipiert an deren Verbindung von Körperlichkeit »ԟ es macht hier wenig Sinn, zwischen Leib und Bild zu unterscheiden ԟ«24 und Gedächtnis. Hinzu kommt – dies ist bei Fichte nicht von den übrigen Dimensionen der Erinnerung zu trennen – die intertextuelle Verknüpfung mit dem übrigen Werk, die diese Eingangsszene der Geschichte der Empfindlichkeit zu einer Scharnierstelle von Fichtes gesamtem literarischen Projekt macht. Das betrifft sowohl die einzelnen Motive, die Jäcki aus Irmas Fotos ausschneidet,25 als auch die Bestimmung der Collagen: »Jäcki hatte ein Theaterstück verfaßt und wollte es illustrieren. / Er hatte gesehen, daß ein Avantgardist in Stockholm für eine Luxusausgabe von ›Der Schatten des Körpers des Kutschers‹ alte Stiche zerschnitt.«26 Angesichts der bei Fichte üblichen Praxis, immer wieder frühere Texte aufzurufen, liegt es nahe, dieses Theaterstück als Ödipus auf Håknäss zu identifizieren, einen von Fichtes frühesten Texten, in dem bereits wesentliche Themenkomplexe seines Schreibens präsent sind.27 Im Zerschneiden der Fotos zu Beginn von Hotel Garni verbinden sich also intertextuelle Verweise auf das übrige Werk Fichtes bzw. die Biografie Jäckis mit der montierenden Arbeit am Material. Man kann hierin die Figuration zweier Tendenzen in Fichtes Poetik sehen, die in allgemein-theoretischer Perspektive jüngst Bernd Stiegler gegeneinander profiliert hat: Während die Theorie der Intertextualität – insbesondere poststrukturalistischer Provenienz ԟ »die Metaphern des Gewebes, der Verknüpfung und auch des Netzes favorisiert, setzt die Montage vor allem Schnitte und mit ihnen das Zerschneiden eines mehr oder weniger dicht gewobenen
22 Hubert Fichte: Versuch über die Pubertät. Hamburg: Hoffmann und Campe 1974, S. 17, S. 294; zum Komplex von Zerstückelung und Anatomie bei Fichte vgl. auch Böhme: Hubert Fichte, S. 132 ff., S. 191 ff. 23 Gerd Schäfer: Seh-Texte/Hör-Bilder. Hubert Fichte als Rundfunkautor. In: Hartmut Böhme (Hg.): Leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen. Studien zum Werk Hubert Fichtes. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 50-69, S. 61. 24 Ebd., S. 62. 25 Vgl. Weinberg: Akut. Geschichte. Struktur, S. 361 ff. 26 Fichte: Hotel Garni, S. 7. 27 Vgl. zu dem Bezug: Böhme: Hubert Fichte, S. 49, S. 299 ff. (auf S. 300 ist auch eine der Collagen abgebildet); Jonas Engelmann: »Welches Vergessen erinnere ich?«. Auschwitz im Werk von Paul Auster und Hubert Fichte. Marburg: Tectum 2007, S. 104 ff.; Braun: Die doppelte Dokumentation, S. 127 ff.
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Netzes voraus.«28 In Fichtes Texten, die Stiegler bei seinem Entwurf einer Theorie der Montage wohl kaum im Sinn hatte, treten die beiden Ansätze in eine spannungsreiche Konstellation.29 Zum einen entwerfen sie ein komplexes internes Verweisungsgefüge mit wiederkehrenden Motiven, die vorgängige Kontexte aufrufen und durch neue Kontexte ständig umgewertet und neu verknüpft werden, ebenso wie sie sich ständig, kryptisch oder offen, auf fremde Texte beziehen.30 Dieser mit Bachtin31 dialogisch zu nennende Charakter von Fichtes Schreiben stiftet Kontinuitäten und Übergänge zwischen den Texten. Auf der anderen Seite stehen die für Fichte typischen unvermittelten Brüche, die auf der Textoberfläche unmittelbar sichtbare Zusammenstellung des Disparaten. »Zwischen den Textblöcken sind Positionswechsel sichtbar, dadurch entstehen die Schnitte und Leerstellen, eine Freifläche für den Leser, der sie überbrücken will.«32 Dies gilt nicht nur für die ethnologischen Texte, auf die sich Schoeller hier bezieht, sondern betrifft auch die Anlage der Romane, wie etwa die Zusammenstellung von Interviews und fiktionalen Passagen in Versuch über die Pubertät oder Hamburg Hauptbahnhof, und deren Mikrostruktur. »Sprünge, Widersprüche, das Unzusammenhängende nicht kitten, sondern Teile unverbunden nebeneinander bestehen lassen, mit zwei falschen,
28 Bernd Stiegler: Montage als Kulturtechnik. In: Ders.: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik. Paderborn u.a.: Fink 2009, S. 285-320, S. 285. Die Unterscheidung, die bei Stiegler zwei Ansätze, Kultur zu konzeptualisieren, betrifft, hat hier freilich nur den Status einer analytischen Abstraktion, um zwei zusammengehörige Techniken bei Fichte zu perspektivieren. 29 Vgl. auch Jonas Engelmann, der von »Bruch und Kontinuität« (Engelmann: »Welches Vergessen«, S. 102 ff.) als bestimmendem Kontrast bei Fichte spricht, dies allerdings in erster Linie auf die traumatischen Brüche im Leben der Opfer und die (bundesdeutschen) Kontinuitäten auf der Seite der Täter des Nationalsozialismus bezieht. Mir geht es hier stärker um die formale Verfasstheit des Werks. 30 Vgl. für eine Untersuchung dieses Aspekts am Beispiel der Auseinandersetzung mit Hans Henny Jahnn z.B.: Christian Riedel: Der geöffnete Bleisarg. Hans Henny Jahnn als literarischer Intertext bei Hubert Fichte. Marburg: Tectum 2008. 31 Vgl. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel, übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 154 ff.; vgl. zu einer Untersuchung der Intertextualität bei Fichte in diesem Sinn: Martin Klaus: Intertextualität und ihre Funktionen in Hubert Fichtes Detlevs Imitationen »Grünspan«. Dissertation 2006 (http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de: hbz:361-8315; zuletzt geprüft 1.7.2010). 32 Wilfried F. Schoeller: Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schriftsteller und die Fotografin. Eine Lebensreise. Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 256.
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übertriebenen Aussagen die Tatsachen anpeilen«33 heißt es in einer Passage des Versuchs über die Pubertät. Die außerordentliche Dichte von Fichtes Schreibweise resultiert daraus, dass beide Ebenen – die intertextuellen Verbindungen und die darin aufgehobenen Erinnerungs-»Schichten«, wie dies oft in Übernahme einer Formulierung aus dem Versuch über die Pubertät genannt wird,34 ebenso wie die ›Schnitte‹ oder Brüche favorisierende Montage-Struktur der Texte ԟ koexistieren und in ihrer Kombination ständig neue Ordnungsmuster bieten. Hier soll zunächst die Bedeutung der Montage im Vordergrund stehen, auch im Hinblick auf die entsprechenden Kapitel zu Benjamin, Brecht und Kracauer.35 Im Prolog zu Hotel Garni werden Jäckis Collagen schon in eine gewisse Tradition gestellt, wenn Peter Weiss als »Avantgardist« aufgerufen wird. Mehr als eine ohnehin recht deutliche Anspielung für Eingeweihte dürfte mit der bei Fichte nicht seltenen andeutenden Ellipse auf den exemplarischen Status des Autors von Der Schatten des Körpers des Kutschers hingewiesen sein, als einem der prominentesten Beispiele der Surrealismus-Rezeption in der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Sicherlich sind die eigenen »avantgardistischen Illustrationen«36 in ihrer direkten Orientierung an Weiss und dessen Orientierung an Max Ernst recht epigonal – Jäcki steht schließlich noch am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere ԟ, doch setzt hier eine produktive Rezeption ein, die nicht zuletzt in Fichtes (bzw. Jäckis) ethnografischer Praxis das in der Montage-Praxis der Avantgarden liegende positive Moment von deren Primitivismus, den Verzicht, das Fremde »in einem dominanten Diskurs des Eigenen aufgehen zu lassen«,37 weiterführt.38 Der eigenen Einordnung 33 Fichte: Versuch über die Pubertät, S. 304; Gillett bezieht diese Stelle im Gegensatz zur hier vorgeschlagenen Perspektive wiederum unmittelbar auf das Konzept der Dialogizität bei Bachtin und Kristeva, vgl. Robert Gillett: Huberts Imitationen. Intertextualität in und um Grünspan. In: Hartmut Böhme/Nikolaus Tiling (Hg.): Medium und Maske. Die Literatur Hubert Fichtes zwischen den Kulturen. Stuttgart: M & P 1995, S. 303-333, S. 319. 34 Vgl. Fichte: Versuch über die Pubertät, S. 304: »Schichten statt Geschichten«. 35 Vgl. oben, Abschnitt 2 im Kapitel zu Kracauer und Abschnitt 1.2 im Kapitel zu Benjamin und Brecht. 36 Fichte: Der kleine Hauptbahnhof, S. 41. 37 Jan Gerstner: »die absolute Negerei«. Kolonialdiskurse und Rassismus in der Avantgarde. Marburg: Tectum 2007, S. 64. 38 Vgl. Fichtes entsprechende methodische Entwürfe: Hubert Fichte: Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen. In: Ders.: Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen. Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 359-371, v.a. S. 364; Hubert Fichte: Mein Freund Herodot. In: Ders.: Homosexualität und Literatur I. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena I. Hg. v. Torsten Teichert. S. 381-407, v.a. S. 401; vgl. dazu u.a. Christa Karpenstein-Eßbach: Kulturtopographie in der Erfahrung von Massentourismus und erzwungener Migration.
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in eine Nachfolge der klassischen Avantgarden, die bei Fichte im vorliegenden Zusammenhang um barocke Traditionen und seine Arbeit für den Rundfunk zu ergänzen wäre,39 folgt im Text ein zweiter historischer Verweis, der etwas ungewöhnlicher ist: »Jäcki hatte keine Ahnung von Fotografie. / Er wußte nicht, daß Hans Christian Andersen vor hundert Jahren aus Illustrierten Fotos zu einem Paravent zusammengeklebt hatte.«40 Nach Braun ist auch der Bezug auf Andersens Arbeit an einem achtflügeligen Wandschirm, dessen einzelne Teile je ein Thema (»Kindheit«, »Dänen«, Dänemark«, »Frankreich«, »Der Orient«…) erschöpfend in Bildern behandeln sollten – wobei durchaus nicht nur Fotos zum Einsatz kamen ԟ, ein »Hinweis auf das eigene Vorhaben […] – ein Werk, das in seiner Totalität der Geschichte der Empfindlichkeit ebenbürtig ist.«41 Das Streben nach Totalität hat sich freilich im 20. Jahrhundert als die Illusion erwiesen, die es bereits zu Andersens Zeit gewesen sein dürfte. Auch davon zeugt Fichtes Schreiben – und dies sollte bei einer allzu emphatischen Bewertung der Geschichte der Empfindlichkeit bedacht werden. Die Collage weist nicht zuletzt auf die Unzugänglichkeit einer ihrer Darstellung vorgängigen Welt hin.42 Dass Andersen ausgerechnet einen Paravent als Bildfläche wählte, zeugt in dem Zusammenhang von einer wahrscheinlich ungewollten Ironie. Bei Fichte hingegen wird es zu einem zentralen Problem: »Das schriftliche Abbild der Welt, das zur Zeit des Herodot menschlich, unzulänglich hinter der Welt zurückblieb, hat in der New York Times die Welt überholt, der Einzelne ist nicht mehr fähig, das schriftliche Abbild der Welt, ebensowenig wie Herodot die Welt selbst, zu beherrschen.«43 Die Feststellung, dass die Wirklichkeit sich in ihrer medialen Überbietung dem Einzelnen nicht nur entzieht, sondern die Medien selbst zur zweiten Natur werden, die ebenso unbeherrschbar ist wie es die erste einmal war, schlägt sich im fiktionalen Text in einer anderen Referenz an Montage-Praktiken der zwanziger Jahre, in expliziter Abgrenzung zum Surrealismus, nieder:
Zur Literatur Hubert Fichtes. In: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart u.a.: Metzler 2005 (= DFGSymposion, 2004), S. 698-723, S. 715 ff.; Sabine Röhr: Hubert Fichte. Poetische Erkenntnis. Montage, Synkretismus, Mimesis. Göttingen: Herodot 1985. 39 Vgl. zum Montage-Komplex auch Böhme: Hubert Fichte, S. 44 ff. 40 Fichte: Hotel Garni, S. 7. 41 Braun: Die doppelte Dokumentation, S. 93. 42 Vgl. hierzu in Bezug v.a. auf die deutsche Literatur nach 1945: Volker Hage: Collagen in der deutschen Literatur. Zur Praxis und Theorie eines Schreibverfahrens. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1984, S. 157 ff. 43 Fichte: Mein Freund Herodot, S. 382.
320 | HUBERT FICHTE »Jäcki beginnt die Zeitung zu zerschneiden, wie er ehemals Irmas Bilder zerschnitt. Rolling Stones, Perez Jimenez, Henri Ford II. Aber nicht, um sie zu sogenannten surrealistischen Collagen neu zusammenzusetzen. Bilder, die das Innere außen sichtbar machen. Illustrationen zu Wörtern. Sondern Wörter, Artikel, die er sammeln will damit Peter Ladiges es dann schön für den Rundfunk in Wellen setzt, welche die Außenwelt beschildern. Newsreel, nannte es Dos Passos. Ein Bild, aus tausend widersprüchlichen Fitzeln. Für seine Funkfeatures. Die Wahrheit.«44
Der an der historischen und sozialen Darstellung der Gegenwart orientierte Bezug auf Dos Passos’ Manhattan Transfer löst die vermeintliche Innerlichkeit der Collagen im Gefolge von Max Ernst ab.45 In der Hinsicht lässt sich Fichtes Ästhetik durchaus in eine Reihe mit den oben referierten Montage-Entwürfen der zwanziger und dreißiger Jahre stellen. Die angestrebte reflektierte Form der Bildlichkeit, die nicht mehr subsidiär zum Text steht, sondern diesen konstituiert, erinnert an das von Kracauer in den Angestellten angestrebte »Mosaik«46 oder an Brechts Forderung »›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Gestelltes‹« (BFA 21, S. 469). In dem Zusammenhang wurde auch auf die Spannung zwischen Authentizität und Artifizialität hingewiesen: Bei aller Betonung der Konstruktion, des Eingriffs und der Hervorhebung des ›Gemachten‹ liegt doch dem ein Vertrauen auf die Authentizität und den Realitätsgehalt der verwendeten Teile zugrunde.47 Konstitutiv für diese Auffassung ist die wechselseitige Bedingung von Künstlichem und ›Echtem‹. In gleicher Weise, wie der Abbildrealismus durch das Ausstellen der Bruch- und Schnittstellen unterlaufen werden soll, erhöht sich der Eindruck des roh Materiellen, Unbearbeiteten der Teile, der die unvermittelte Zusammenfügung des Heterogenen erst als solche kenntlich macht. Eine vergleichbare Spannung lässt sich für Fichtes Literatur insgesamt konstatieren, vor allem hinsichtlich des Verhältnisses 44 Hubert Fichte: Explosion. Roman der Ethnologie. Die Geschichte der Empfindlichkeit VII. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 18. 45 Vgl. zu Explosion in der Hinsicht auch Miriam Seifert-Waibel: »Ein Bild, aus tausend widersprüchlichen Fitzeln«. Die Rolle der Collage in Hubert Fichtes Explosion und Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 62 ff., S. 70 ff., Seifert-Waibel argumentiert gegen die Anwendung des Begriffs der Collage auf den Roman, was allerdings an ihrem eng umgrenzten, auf klare Zuordnung angelegten CollageBegriff (vgl. ebd. S. 46) liegt. 46 Kracauer: Die Angestellten, S. 222; vgl. oben, Abschnitt 2 im Kapitel zu Kracauer. 47 Vgl. oben, Abschnitt 1.2 im Kapitel zu Benjamin und Brecht.
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von Autobiografie und Fiktion. Schumacher spricht in dem Zusammenhang ԟ unter umgekehrten Vorzeichen ԟ davon, dass »der Maxime, nicht mit erfundenem, sondern mit vorgefundenem Material zu arbeiten, die Haltung [korrespondiert], das Schreiben als Konstruktionsarbeit aufzufassen und auszustellen, die den Realitätsgehalt des Materials immer auch der Artifizialität der literarischen Verarbeitung und damit der Realität der Literatur aussetzt.«48 Der Fotografie wird bei alledem jedoch, im Unterschied zu den behandelten Texten der zwanziger und dreißiger Jahre, nicht mehr so sehr die Funktion einer weitgehend negativ besetzten Metapher für die Unmöglichkeit, die komplexe gesellschaftliche Wirklichkeit einfach abzubilden, zugewiesen. Als Aufzeichnungsmedium tritt sie vielmehr in eine spannungsvolle Konstellation mit der Literatur, die sich durchaus nicht in einer abwehrenden Geste des Zerschneidens oder Abwertens erschöpft. »Die Photographie ist ein Spiegel, in dem sich die Schrift wiedererkennt und verfremdet, sie ist ihr Double, Verdopplung und Umkehr in einem.«49 Dies bedeutet auch bei Fichte, dass fotografische Metaphern zur Beschreibung des eigenen Schreibverfahrens herangezogen werden. Bei aller immer wieder deklarierten Nähe der Geschichte der Empfindlichkeit zu Prousts Recherche ist (nicht nur) in diesem Punkt allerdings eine deutliche Differenz zwischen beiden literarischen Großprojekten erkennbar. Entwicklungsmetaphern, wie sie für Prousts Erinnerungspoetik so zentral sind, finden sich bei Fichte nicht, so wie auch die Gedächtniskonstruktion seiner Geschichte der Empfindlichkeit zwar notwendigerweise auf der nachträglichen Überarbeitung des Erlebten beruht, dieser Überarbeitung aber keine Vergessenslatenz vorangeht. Stattdessen wird auch innerhalb der Texte ständig auf das vorherige Schreiben Bezug genommen, das Teil des erzählten Lebens ist. Parallelen zu Proust sind zumindest in der Hinsicht weniger in der Konstruktion des überspannenden Bogens der Erinnerung zu suchen als in einer Sensibilität, die bereits in Prousts Metapher der »impressions« Parallelen zur Fotografie aufwies.50 Torsten Teicherts Hinweis zum Titel von Fichtes Spätwerk: »das französische Verb ›sensibilisier‹ [sic] bezeichnet im Kontext der Fotografie den Vorgang, eine Sache lichtempfindlich zu machen: Beobachtungsschärfe, Wahrnehmungspräzision«,51 wird durch eine Interview-Äußerung Fichtes noch um eine diachrone Perspektive ergänzt:
48 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 192. 49 Rainer Guldin: Das Double der Schrift. Photographie und Schreibprozeß. In: Böhme/Tiling (Hg.): Medium und Maske, S. 87-103, S. 96. 50 Vgl. oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Proust. 51 Torsten Teichert: »Herzschlag aussen«. Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt a.M.: Fischer 1987, S. 27 f.
322 | HUBERT FICHTE »Und es heißt genau, wie Sie sagen, nämlich Schichten, wie sie so auf empfindlichem Fotopapier Schichten von Silber Empfindlichkeit darstellen und in diesen Schichten wieder ein Ablauf, denn natürlich stellt sich mir ja die Schicht einer bikontinentalen Empfindlichkeit in den afroamerikanischen Religionen, wie ich sie erlebe, ja auch wieder als Ablauf, als Chronologie, als Geschichte dar; in diesem doppelten Sinne.«52
Die hier behauptete Orientierung der »Empfindlichkeit« an der Fotografie hat – auch darin liegt eine Parallele zu Proust ԟ verschiedentlich Anlass zu Vergleichen von Fichtes Schreibweise mit fotografischen Aufnahmen gegeben. David Simos Versuch, unter Berufung auf Erwin Koppen »Darstellungsweisen, die man durchaus als photographisch charakterisieren kann«,53 bei Fichte zu identifizieren, geht in der Hinsicht wohl am weitesten, kann den Eindruck der willkürlichen Setzung aber nicht immer vermeiden. Einige der von ihm zitierten Beispiele legen allerdings mit ihrer Konzentration aufs Visuelle und der in ihrer Knappheit statisch wirkenden Beschreibung in der Tat einen Vergleich mit der Fotografie nahe, gerade angesichts von Fichtes Zusammenarbeit mit Mau bzw. der prominenten Rolle Irmas in den Romanen. In eine ähnliche Richtung deutet Brauns Bemerkung in seiner Einführung in Fichtes Werk: »Die Lakonie seines Stils und sein Programm der Sprachverknappung, das manchmal nur den Namen nennt, um die Dinge kurz zu belichten, ist ohne das Medium Fotografie nicht vorstellbar.«54 Dass Braun selbst auf eine Metapher der Fotografie zurückgreift, sollte allerdings zu denken geben. Die Vergleichbarkeit des lakonischen Stils mit der Fotografie bezieht ihre Berechtigung erst aus dem Bezug auf die Fotografie in den Texten; dem Stil allein ist sie nicht inhärent. Wie der Sekundärtext den Rekurs auf die Metapher benötigt, um den behaupteten Zusammenhang hervorzubringen, so ist in Fichtes Texten selbst die Frage der Beziehung von literarischem Schreiben und Fotografie Teil der Selbstreflektion des 52 Gisela Lerch/Claus-Ulrich Bielefeld: Freiheit kann ja nur Ritenlosigkeit heißen. Ein Gespräch mit Hubert Fichte über sein Romanprojekt »Geschichte der Empfindlichkeit«. In: Frankfurter Rundschau, 23.3.1985, zitiert nach: Mario Fuhse: Von der Utopie über deren Scheitern zur Utopie ԟ Zum Konzept der Geschichte der Empfindlichkeit von Hubert Fichte. In: Jan-Frederik Bandel (Hg.): Tage des Lesens. Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Aachen: Rimbaud 2006, S. 27-72, S. 28 f.; zu einer Metapher in diese Richtung vgl. Fichte: Hotel Garni, S. 121 f. 53 David Simo: Interkulturalität und ästhetische Erfahrung. Untersuchungen zum Werk Hubert Fichtes. Stuttgart u.a.: Metzler 1993, S. 142 (der Exkurs »Weitwinkel und Teleobjektiv – Hubert Fichte und die Photographie« (S. 127-152) ist identisch mit Simos gleichnamigem Aufsatz in: Welfengarten 1 (1990), S. 62-83); vgl. auch Erwin Koppen: Literatur und Photographie, S. 68 ff. 54 Peter Braun: Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 9.
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Textes. Wenn Jäcki in Eine glückliche Liebe über den Stil eines projektierten Artikels über die Kneipe »Palette« nachdenkt, greift er durchaus auf einen – relativ konventionellen ԟ Vergleich mit der Fotografie zurück: »ԟ Adjektive? / ԟ Aussagesätze? / ԟ Momentaufnahmen? / ԟ Kommentare?«55 Eine glückliche Liebe ist zugleich der Roman in der Geschichte der Empfindlichkeit, der vielleicht am stärksten von der Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Fotografie geprägt ist. Die Fotografie stellt dabei als Aufzeichnungsmedium durchaus ein Ideal dar – ein Ideal freilich, das in erster Linie literarische Projektion ist und auch als solche gekennzeichnet wird: »Das sind so Ideen eines Schriftstellers, der einen Fotografen beschreibt«,56 antwortet Irma in Eine glückliche Liebe auf Jäckis wiederholten Wunsch, sie solle Eier vor einer weißen Wand fotografieren. Dass das meiste, was Jäcki in dem Roman zur Fotografie zu sagen hat, »so Ideen eines Schriftstellers« sind, wird in den Diskussionen zwischen den beiden immer wieder deutlich. Simo stellt richtig fest – und fällt von daher mit seiner späteren These fotografischer Schreibweisen hinter die eigenen Erkenntnisse zurück –, dass es sich bei den in diesen Diskussionen vertretenen Positionen um »Paradigmen zweier unterschiedlicher Arten der Wahrnehmung und Wiedergabe der Wirklichkeit« handelt, »die man aber nicht ohne weiteres als eine schriftstellerische und eine photographische identifizieren kann. Hier kommt vielmehr die Poetik Fichtes zum Ausdruck.«57 Die primär poetologische Prägung der fotografischen Wahrnehmung im Text wird unmittelbar nach Irmas Vorwurf deutlich: »Jäcki setzte sich den Weitwinkelsucher ans Auge. In ein Bild von der Ausdehnung einer Erinnerungsbriefmarke kippte jetzt alles herein: Der Lavahügel, die Spitzel, das Hotel, die Fische in Mustern, mit allen ihren Namen, die Flotte, der Schuhputzerthron, die schwarzen, flatternden Tücher, die Spalten des Kliffs und Phyllis Smith und hinten in der Mitte sogar noch ganz scharf die Werften, die Betonkuben des Hotelneubaus, die Schiffsruine, der Depp mit seinem Fisch. ԟ Da hast du jetzt alles auf einen Dudd. Ohne syntaktische Schwierigkeiten und ohne Spondeus und ohne Adjektive und V-Effekt. Cezimbra wie es ist. Ganz. Klick. Fertig. Die ganze Geschichte in einer tausendstel Sekunde. Die Welt als reines Bild. Das ist die wahre Kunst. Nichts weiter mehr als ein Apparat. 55 Hubert Fichte: Eine glückliche Liebe. Die Geschichte der Empfindlichkeit IV. Hg. v. Gisela Lindemann. Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 21; Klaus weist im Zusammenhang mit Detlevs Imitationen auf Robbe-Grillets Instantanés (1962) hin, das Fichte 1963 rezensierte (vgl. Klaus: Intertextualität, S. 81, Anm. 37). Der erzählten Zeit von Eine glückliche Liebe (1964) läge der Bezug sehr nahe; die Foto-Metapher wäre also selbst wieder literarisch vermittelt. 56 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 27 f. 57 Simo: Interkulturalität und ästhetische Erfahrung, S. 130.
324 | HUBERT FICHTE ԟ Dann könnte ich ja alle meine Objekte [sic] ins Wasser schmeißen. ԟ Das kannst du auch. Eine Kamera soll in einem Augenblick ein scharfes Bild herstellen. Es ist Kunst, weil es überhaupt keine Kunst ist, weil es immer in jedem Augenblick Kunst ist. Meine Wörter – die kannst du vergessen.«58
Braun weist darauf hin, dass der Satz »Das ist die wahre Kunst« »nicht nur ironisch zu verstehen« ist: »Er enthält auch ein dokumentarisches Ideal des Schriftstellers Jäcki: unverzerrt festzuhalten und aufzubewahren, was ist; die eigene Empfindlichkeit und das Sprachvermögen soweit zu steigern und zu verfeinern, daß sie zum Medium einer ungetrübten, reinen Weltwahrnehmung werden, wie es die mechanische Apparatur der Kamera für Jäcki zu verwirklichen scheint.«59
Der fotografische Wahrnehmungseffekt muss aber doch wieder sprachlich vermittelt werden, die Namen der Fische evozieren, Adjektive und eine Syntax verwenden, die bei aller scheinbaren Einfachheit doch zeigt, dass der Verfasser es sich durchaus nicht leicht gemacht hat. Ähnlich verhält es sich mit dem V-Effekt. Einige Seiten zuvor sieht Jäcki schon einmal durch den Weitwinkelsucher und das »Hotelzimmer verwandelte sich in eine Opernbühne, wo Irma den Auszug der Fotografin vorführte. / Die Kleiderarie. / Die Triolen des Haarfestigers. / Koloraturen: / Welches Kopftuch?«60 Der parodistische Impetus dieser in intermedialer Hinsicht recht komplex gestalteten Passage61 ist, gerade auch wegen der Mischung von Theatralik und Alltäglichkeit, durchaus mit einer Brecht’schen Verfremdung vergleichbar. Zwar scheinen diese Beschreibungen, indem sie ihre medialen Bedingungen hervorkehren, negativ Jäckis Meinung von der Unmittelbarkeit und Transparenz der Fotografie gegenüber der Literatur zu bestätigen, die fotografische Wahrnehmung aber bleibt letztlich doch eine Chimäre der Literatur. Explizit wird das spätestens dann, wenn Irma darauf aufmerksam macht, dass auch der Weitwinkel nicht voraussetzungslos ist und der Streit sich scheinbar auf die Wahl des richtigen Objektivs verlegt:
58 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 28. 59 Braun: Die doppelte Dokumentation, S. 98. 60 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 26. 61 Es sei zur Illustration der literarischen Beschreibung eines visuellen Eindrucks mittels der Simulation eines musikalisch-theatralischen Genres nur auf das Wort »Koloraturen« hingewiesen: Der musikalische Begriff bezeichnet hier die Frage nach der richtige Kopftuchfarbe, wird also durch die literarische Vermittlung auf den Bereich des Visuellen (dem er ja auch entstammt) zurückgeführt.
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»Deine Fischer, dein Berg, deine Spalte, verloren, wie Brösel in einem großen beliebigen Salat. Nur wenn ich in diesem Augenblick das Tele nehme, wird es ein Foto. Ich löse mir das Foto raus. […] Was soll ich mit den ganzen Abständen. Mit dem Tele klebe ich das Schiff an den Berg, den Deppen an das Schiff und den Fisch an den Deppen. […] ԟ Mit dem Tele. Das heißt ja doch wieder Auffassung, Verwandlung. Synthese. Proust. Die eleganten Flocken von Professor Höllerers Frau, Frau von Mangold. Die Kunst ist die Welt. Nicht: Die Welt ist gleich das Bild, ist gleich dem Bild. Ausschnitte, das kann ich auch. Ranholen.«62
Obwohl mit dem Verweis auf Renate von Mangold ԟ eine weitere Fotografin, die mit einem Schriftsteller zusammenlebt63 ԟ der Bezug zur Fotografie gewahrt bleibt, ist nicht zu übersehen, dass die ästhetische Frage, die mit der Wahl zwischen Weitwinkel- und Teleobjektiv verhandelt wird, auch eine literarische ist. Indem die Auseinandersetzung von Fotografie und Literatur sich nun über die Objektive auf die Ebene allgemeiner ästhetischer Konzeptionen verschiebt, rücken statt ›fotografischer‹ Schreib- und Wahrnehmungsweisen, deren Scheitern bzw. literarische Eigenlogik die Beschreibungen des Blicks durch den Sucher demonstriert haben, eher strukturelle Anschlüsse der Literatur an die Fotografie in den Blick. Das Gegenbild zur mit Proust und dem Teleobjektiv assoziierten synthetisierenden Ästhetik, das auch in Jäckis vorhergehendem Vorschlag, das Treibgut am Strand aufzunehmen,64 zum Ausdruck kommt, ist jene im Zusammenhang mit den Collagen am Anfang von Hotel Garni angesprochene Ästhetik des Heterogenen, der disparaten Bruchstücke, die sich nicht in einem organischen Ganzen aufheben.65 Weniger der konstruktive Gestus der Montage steht hier im Mittelpunkt ԟ dieser träfe sich auch mit Irmas Formulierungen, sie »klebe« die Dinge aneinander ԟ als die Zufälligkeit der Konstellationen, die den Authentizitätseffekt der Einzelteile unterstützt. Was demgegenüber als Synthese mit Proust verbunden wird, dürfte am ehesten auf dessen
62 Ebd., S. 29. 63 Vgl. auch das Interview mit Walter Höllerer in: Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit III. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 107 ff., vgl. auch ebd., S. 271; auf was die »Flocken« anspielen, erschließt sich mir allerdings nicht. 64 Vgl. Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 27. 65 Vgl. in eine ähnliche Richtung zu der Stelle: Simo: Interkulturalität und ästhetische Erfahrung, S. 132.
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Konzept der »métaphore« abzielen,66 und wie in der Recherche der synthetisierenden Poetik der Erinnerung eine Ästhetik des Flüchtigen und Kontingenten gegenübersteht, kann umgekehrt Jäcki bei aller Vorliebe für die unmittelbare Transposition des Lebens in die Kunst den Synthesen nicht entgehen. Im Forschungsbericht, wo das Verhältnis von Literatur und Leben ja ein zentrales Thema ist, wehrt Jäcki sich gegen das Entsprechungssystem, das sich in seine Forschungen einschleicht. Nachdem er über die rätselhafte Geschichte eines Hotelangestellten, die möglichen familiären Verstrickungen innerhalb der beobachteten Religionsgemeinschaft und die afroamerikanischen Mythen, die dabei im Spiel sind, nachgedacht hat, gehen seine Gedanken zur eigenen Lebensgeschichte über: »Jäcki weigerte sich, über seinen Vater nachzudenken und was wirklich geschehen war. […] Der Vater, der floh, dessen Gebiß mit den kleinen Mäusezähnen in einem Stacheldraht ausbleichte. ԟ Ein Roman mit dem Titel Raubvogel und Seefische. ԟ Synthesen! Neunzehntes Jahrhundert. Der Sturm. Freud. Joyce. Döblin. Ich habe immer gegen sowas angeschrieben! ԟ Schule von Dakar! Der Phallos der Großmutter und der Penis der Tante. ԟ Der blanke Kolonialismus!«67
Es ist nicht nur der ›Kolonialismus‹, die sogenannte Dritte Welt zur Bereicherung des europäischen Universitäts- und Wissenschaftssystems auszubeuten,68 der Jäcki Unbehagen bereitet, sondern auch die Kombinatorik der ästhetischen Form, die es erlaubt, unterschiedslos karibische Luft- und Seemythen mit einem Fragment von Empedokles (auf das der Titel des noch hypothetischen Romans anspielt), das Verschwinden des Vaters vor der eigenen Geburt und damit auch den Stacheldraht von Auschwitz aufzurufen und in ein eigenständiges Werk zu verwandeln. Auch als er sich endgültig entschließt, die misslungene Forschung in einen literarischen Text zu überführen, finden das nun angenommene Entsprechungssystem und die Sorge um die richtige Komposition ihr Gegenlager in der Maxime: »Fakten. Keine Entsprechungen.«69 Die tatsächliche Anlage des Romans zeigt dann freilich eine Fülle von 66 Vgl. RTP, S. 467: »[…] en rapprochant une qualité commune à deux sensations, il [l’écrivain] dégagera leur essence commune en les réunissant l’une et l’autre pour les soustraire aux contingences du temps, dans une métaphore.« 67 Fichte: Forschungsbericht, S. 132. 68 Vgl. in dem Zusammenhang zur »Schule von Dakar«: Hubert Fichte: Psyche. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit o. Nr. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 74; zum »Phallos« vgl. Fichte: Ketzerische Bemerkungen, S. 360. 69 Fichte: Forschungsbericht, S. 151.
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Entsprechungen. Jäckis poetologische Überlegungen stimmen nicht unbedingt mit der Poetik des Forschungsberichts überein, ebenso wie die übrigen ästhetischen Reflektionen in der Geschichte der Empfindlichkeit oft eine Reflektion früherer Stadien der schriftstellerischen Tätigkeit Jäckis betreffen, die durch den Text selbst wieder einer Revision unterzogen werden kann. Der Streit über das geeignete Objektiv in Eine glückliche Liebe ist dabei auch als metaphorische Darstellung einer allgemeinen Polarität bei Fichte lesbar:70 Nicht allein der Vorsatz, das Heterogene als solches in den Text zu übernehmen und nebeneinander bestehen zu lassen, wie mit dem Weitwinkel, ist in den Texten erkennbar,71 sondern auch eine Tendenz, die in den Texten mit Stichworten wie Teleobjektiv, Proust oder Synthese umschrieben ist. Wolfgang von Wangenheim hat auf diese Tendenz in Fichtes Schreiben hingewiesen: »Synthese in diesem Sinn enthält Synästhesis, Wahrnehmung des Gemeinsamen im Verschiedenen, Verbindung des Disparaten. […] Fichtes Kunst ist die Synthese des Synthetischen, sowohl Manierismus: der Gestus des Trennens, des Weitspannens, des Nichtglättens; als auch Realismus: die Mitteilung des schwer Mitzuteilenden.«72
Letzteres ließe sich freilich in dem emphatischen Ton, der hier angeschlagen ist, von Kunst generell sagen. Die Stelle aus dem Versuch über die Pubertät, auf die sich Wangenheim hier vor allem bezieht, steht im Zusammenhang der ersten Proust-Lektüre,73 ist also auch innerhalb des Textes als Station der Entwicklung des eigenen Schreibens zu lesen. Der Bezug auf Proust, der sich ja dann auch in der Glücklichen Liebe einstellt, ergänzt die poetologische Metapher des Teleobjektivs. 70 Vgl. Braun: Die doppelte Dokumentation, S. 88: »[…] so wäre es dennoch falsch, die Ansichten Jäckis kritiklos mit denen Hubert Fichtes zu identifizieren. […] Letztlich ist auch Irma, wie Jäcki, ein literarischer Wurf des Autors und die Geschichte der Empfindlichkeit ein ästhetisches Gebildes [sic], das, wie jeder Roman, mit sich selbst diskutiert.« Vor diesem Hintergrund ließe sich vielleicht auch die etwas rätselhafte Zuordnung Jäckis erläutern: »ԟ Frauen gebrauchen ein Teleobjektiv, sagte Jäcki: / ԟ Männer den Weitwinkel.« (Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 83). Am Ende des Romans nimmt Jäcki in einem Pariser Dampfbad zum ersten Mal zugleich die ›passive‹ und ›aktive‹ Position beim Sex ein – diese ›Dopplung‹ wird als existentielle Verwandlung dargestellt, als eine Bisexualität (im Sinne der gleichzeitigen Existenz als Mann und Frau), der strukturell die Verbindung beider ästhetischer Positionen im Text entspräche (vgl. ebd., S. 107 f.). 71 Das wird auch deutlich, wenn Jäcki in Eine glückliche Liebe sagt: »Ich will mich nicht in einen Weitwinkelsucher verwandeln.« (S. 94). 72 Wolfgang von Wangenheim: Zum Stil Hubert Fichtes. In: Text + Kritik 72: Hubert Fichte (1981), S. 23-29, S. 27. 73 Vgl. Fichte: Versuch über die Pubertät, S. 221.
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Während dieses das räumlich Ferne in einem Bild zusammenführt, erlaubt die Literatur auch die Verknüpfung des zeitlich Fernen. Bei Fichte leitet sich, was hier nun als Synthese zu profilieren ist, allerdings nicht nur, wie bei Proust, aus sinnlichen Eindrücken und Erinnerungen ab, »sondern auch durch die mit Wörtern verhafteten Assoziationen.«74 Dies betrifft etwa das wiederkehrende Bild der »Mäusezähne« des Vaters in der zitierten Stelle aus Forschungsbericht und seine Einbindung in die Forschungen in der Karibik. Mit dem Begriff der Synthese als verbindendem Element innerhalb des Werks ließe sich so eine Variation dessen umschreiben, was oben als die intertextuelle und dialogische Anlage von Fichtes Texten in analytischer Abgrenzung vom Montage-Prinzip der Texte beschrieben wurde. Allerdings erfüllt auch diese intertextuelle Bewegung nicht allein synthetisierende Funktion, im Sinne einer verdichtenden Zusammenführung verschiedener Komplexe, sondern tendiert ihrerseits dazu, vorliegenden Sinn zu zerstreuen. Einerseits aktualisiert die Erwähnung der »Mäusezähne« ein Element aus Jäckis Biografie und verbindet auf diese Weise die Forschungssituation, getreu Fichtes »wissenschaftliche[r] Forderung, die Voraussetzungen aufzudecken«,75 mit der Situation des Forschers. Andererseits verkompliziert sich mit dieser Verknüpfung der vorliegende Kontext ebenso wie der gesamte dadurch aufgerufene Komplex des Verhältnisses zur eigenen Mutter, von der die entsprechende Formulierung stammt,76 und des Problems des unbekannten jüdischen Vaters. In der Anbindung an andere Werkkomplexe, die die prägnante Verdichtung der Anspielung erlaubt, ›franst‹ der Text, um im Bereich der Gewebemetapher zu bleiben, auch aus. Die Phänomene der »Verdichtung« und der »Sinndispersion«, wie man es in Anlehnung an Renate Lachmanns Theorie der Intertextualität nennen könnte,77 lassen sich über den Bereich der gegenläufigen Bewegungen in den Beziehungen zu eigenen wie fremden Texten hinaus an Schumachers Beobachtung einer »Kopplung von fixierender Konzentration und dezentrierender Bewegung«, von »Prägnanz und Zerstreuung« in Fichtes Schreibverfahren anschließen. Diese Kopplung, die auch den häufigen »Vergleich mit fotografischen und filmischen Verfahren«78 motiviere, stellt Schumacher, unter Bezug auf eine Stelle in Detlevs Imitationen ›Grünspan‹, 74 Teichert: »Herzschlag aussen«, S. 98 f. 75 Fichte: Ketzerische Bemerkungen, S. 362. 76 Vgl. Hubert Fichte: Detlevs Imitationen ›Grünspan‹. Reinbek: Rowohlt 1975, S. 105: »ԟ Dein Vater war ein frivoler Mensch. Er wollte sich Mädchen halten und beim Lachen kamen seine kleinen Mäusezähne zum Vorschein.« Dass diese Bemerkung im Zusammenhang der sexuellen Aufklärung des Protagonisten Detlev fällt, zu der auch das Wissen um die Homosexualität zählt, sei dabei nur erwähnt. (Die angegebene Ausgabe von Detlevs Imitationen wird künftig mit der Sigle DIG im Text zitiert). 77 Vgl. Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 509. 78 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 178 f.
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auf die noch zurückzukommen sein wird, in den Zusammenhang von Reflektionen über die »Strukturierung von Zeit, […] den Zeitindex der sinnlichen Wahrnehmung, die Zeitlichkeit des Schreibens und des Lesens.«79 Auch dies ist für die poetologische Funktion der Fotografie relevant. Jäcki fasziniert nicht zuletzt auch die Plötzlichkeit80 des Fotografierens: »Die ganze Geschichte in einer tausendstel Sekunde. Die Welt als reines Bild« bzw.: »Die Welt ist gleich das Bild, ist gleich dem Bild.«81 Eben diese »von Fichte [sic] unterstellte Simultaneität von Objekt und Objektiv« lässt, wie Böhme schreibt, »Jäcki […] mit der Ungleichzeitigkeit von Erzählung und Erzähltem« hadern: »darum versucht Fichte immer wieder, diese Ebenen zu verschmelzen, z.B. im durchgängigen Präsens des Erzählens«.82 Eindrücklicher als im präsentischen Erzählen schlägt sich die literarische Auseinandersetzung mit fotografisch modellierten Zeitwahrnehmungen aber vielleicht in einem kalkulierten Einsatz der Tempora nieder, der die jeweilige Leistung beider Medien in ihrer Grenzziehung fruchtbar macht. Am Ende ihrer Auseinandersetzung über den richtigen Gebrauch der Objektive funktioniert die Zusammenarbeit von Jäcki und Irma plötzlich reibungslos: »Dann der Augenblick, wo Jäcki Irma nicht mehr anstieß. Irma ihm gleich das kleine Tele herüberreichte und er ohne zu zögern den kleinen Weitwinkel herausgab. Irmas Auge starr, wie der Glaskörper des Weitwinkelsuchers. Metallrosetten zucken auf, schließen sich genau nach dem Bruchteil einer Sekunde. Drei weiße Nonnen vor der gekalkten Wand mit silbrigen Schellfischen auf dem Kopf waren schon vorüber.«83
Neben der Tatsache, dass Irma nun wirklich einmal das Weitwinkelobjektiv verwendet und im Motiv sowohl Jäckis Vorschlag, weiße Eier vor einer Kalkwand zu fotografieren, wie Irmas Präferenz für Menschen84 ihren Niederschlag finden, fällt vor allem auf, wie sehr hier der Akt des Fotografierens und viel weniger das Bild selbst in Szene gesetzt ist. Nach dem Spannungsaufbau durch die Reihung der ersten beiden Sätze und einem verblosen Satz, der gleichsam den Atem anhält, steht der Moment des Fotografierens im Präsens, benennt aber nur das Funktionieren des 79 Ebd., S. 180. 80 Vgl. zur Vorgeschichte des Begriffs in der klassischen Moderne: Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, v.a. S. 43 ff., S. 180 ff. 81 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 28, S. 29. 82 Böhme: Hubert Fichte, S. 51. 83 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 29. 84 Vgl. ebd., S. 25, S. 27.
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Apparats. Das tatsächliche Bild, der Augenblick, auf den es doch auch im Schreiben ankäme, ist vorbei und kann nur als vergangener erzählt – wie freilich auch auf dem Bild betrachtet – werden. Böhme weist darauf hin, dass zwar die »Zeitform der tausendstel Sekunde, in welcher der Apparat arbeitet und in die er die ganze Geschichte faßt, […] aufs genaueste jenen Drei Sekunden ganz (Kleiner Hauptbahnhof, 195, 198ff) [korrespondiert], in welche Fichte die Geschichte des einen Jahres im Waisenhaus kondensieren will«, letztlich aber dieser Wunsch nach einem »magischen Augenblick der Koinzidenz« am »postfesten Charakter der Literatur« scheitern muss.85 Allerdings ist auf der anderen Seite auch die im Text profilierte Zeitform der Fotografie nicht fähig, die »ganze Geschichte« aufzunehmen. »Ich kann hinterher davon reden. / ԟ Irma hat nur eine Fünfhundertstel-Sekunde Zeit, und sie ist eine Gurke oder die berühmteste Fotografin der Welt«,86 heißt es im Forschungsbericht. Im Fall der drei Nonnen ԟ die wie eine Reminiszenz auch im Forschungsbericht kurz auftauchen87 ԟ ist die Gegenwärtigkeit der Fotografie im Text noch als eine dem Schreiben unzugängliche Zeit, als Leerstelle des Erzählens, inszeniert; hier tritt deren Kehrseite, die Gefahr des Scheiterns, gegenüber der Nachträglichkeit des Erzählens hinzu. Die entsprechende Passage im Roman erweist sich allgemein als versteckte Auseinandersetzung mit der Zeitgebundenheit von Fotografie und Sprache. Kurz nachdem er über die Abhängigkeit der Fotografin vom ›entscheidenden Augenblick‹ nachgedacht hat, schlägt Jäcki ein Bildmotiv vor, bereut diese offensichtliche Überschreitung seiner Kompetenzen jedoch sofort: »Jetzt hatte er doch wieder geredet. / Ein Negativ kann man verbrennen, ohne daß es jemand gesehen hat.« Dies gälte für die schriftliche Fixierung des Gesprochenen natürlich genauso, aber das scheint nicht der zentrale Punkt zu sein. Unmittelbar darauf spricht Irma die Problematik der Zeitlichkeit an: »Du darfst nicht vergessen, beim Foto fehlt die Bewegung und die Geschichte, der ganze Nachmittag, unser Gang durch die Stadt.«88 Die Bemerkungen deuten darauf hin, dass die Fotografie hier auf einen reinen, aus der Zeit genommenen Moment konzentriert ist. Vor allem der schiefe Vergleich mit dem Negativ – denn dass der Akt des Fotografierens ebenso wie der Sprechakt durchaus nicht folgenlos ist, wird im erzählten Zusammenhang, wenn die Einheimischen vor der Kamera fliehen oder posieren, nur allzu deutlich ԟ legt es nahe, dass hier eher zwei Konzepte von Zeit als die wesentlichen Eigenschaften zweier Medien gegeneinander profiliert werden. Wenn mit dem Verbrennen des Negativs die Aufzeichnung ungeschehen gemacht werden könnte, dann stünde auch das Bild außerhalb der Zeit. 85 Böhme: Hubert Fichte, S. 51. 86 Fichte: Forschungsbericht, S. 41. 87 Vgl. ebd., S. 149 f., vgl. auch Braun: Die doppelte Dokumentation, S. 96 f., S. 115. 88 Fichte: Forschungsbericht, S. 42.
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Weinberg hat gegen Böhmes These einer Entsprechung des fotografischen Moments und des Augenblicks, aus dem heraus ein ganzes Jahr im Waisenhaus erzählt wird, eingewandt, die Fotografie habe »weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft, sie ist bezugsloser Jetztpunkt, zeitlos, geschichtslos«.89 Der Einwand ist nicht unberechtigt, beraubt die ästhetischen Verfahren Fichtes jedoch, wenn er gegen ein solches Zeitkonzept die Literatur »als Daseins-Schreibung«, die »der genuinen Geschichtlichkeit dieses Daseins verpflichtet ist«,90 anführt, seinerseits einer geschichtlichen Dimension, die vom existenzphilosophisch inspirierten Interpretationsrahmen und dessen Prämisse einer eher abstrakten Geschichtlichkeit des Daseins nicht erfasst werden kann.
2. Z EIT , B ILD
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Fichtes Texte zielen durchaus auf »eine spezifische Form der Konstruktion von Gegenwart […], als ein im Akt des Schreibens angelegtes und in der Lektüre entfaltetes performatives Potential« ab,91 aber nicht nur diese wirkungsästhetisch angelegte Charakteristik ist hier relevant, sondern auch die Reflektion über das Zerfallen der Zeit in einzelne Jetztpunkte im Zusammenhang der Texte selbst. Insbesondere in Fichtes drittem Roman, Detlevs Imitationen ›Grünspan‹, wird die ästhetische Faszination der mit der Fotografie assoziierten Zeitlichkeit, ohne extensiv einen Bezug auf das Medium herzustellen, mit historischen Schockerfahrungen konfrontiert. Der Roman erzählt parallel die Entwicklung des Kindes Detlev aus dem Waisenhaus von den letzten Kriegsjahren bis in die Nachkriegszeit und die Gegenwart Jäckis aus der Palette im Jahr 1968, wobei beide Protagonisten als zwei biografische Stufen einer Person bzw. Jäcki als »eine von Detlevs Imitationen« (DIG, S. 53) erkennbar werden.92 An einer zentralen Stelle, die besonders seit W.G. Sebalds Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur einige Aufmerksamkeit erfahren hat,93 geht der Roman auf die Bombardierung Hamburgs im Sommer 1943 ein. Der 89 Weinberg: Akut. Geschichte. Struktur, S. 391. 90 Ebd., S. 387. 91 Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 170. 92 Zu einem Forschungsüberblick zum Verhältnis der Protagonisten vgl. Klaus: Intertextualität, S. 72 ff. 93 Sebald widmet Detlevs Imitationen einige wohlwollende Seiten, die an Fichtes Art der Darstellung des Bombardements allerdings etwas vorbeigehen (vgl. W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien: Hanser 1999, S. 70 ff.; vgl. dazu auch Robert Gillett: Terrorangriff und Terminologie. W.G. Sebald, Volker Hage, Hubert Fichte. In: Kultur und Gespenster 1 (2006), S. 84-97; vgl. auch Herbert Holl: L’effectivité de la guerre aérienne chez Hubert Fichte. In: Marie-Jeanne
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erste Luftangriff wird allerdings nur vermittelt durch die von Detlev im Halbschlaf wahrgenommenen Stimmen der in den Waschkeller ihres Hauses geflohenen Familie dargestellt. Dabei kommt eine Zeiterfahrung zum Ausdruck, die im weiteren Verlauf des Romans immer wieder aufgegriffen wird: »ԟ Aber es hört nicht auf. Es fängt immer schlimmer an. Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt! […] Jetzt ist es aus. […] Die Waschküche noch nicht kaputt. Oma hat ein ganz nasses Gesicht« (DIG, S. 17). 25 Jahre später beginnt Jäcki seine Recherchen zu dem, was er in Übernahme der NS-Begrifflichkeit »Terrorangriff« nennt: »Wer wirft mir das Wort vor? Das Wort ist reingerüttelt in meinen Bregen von einigen zigtausend Kilo Sprengstoff. Das bedeutet für mich kein Kürzel mehr für die Propaganda von Dr. Joseph Goebbels. Für mich: Zebras in der Julius-Vosselerstraße. Der Geruch der Leichen am Krüppelheim. Der Verlust des Begriffs Dauer. Das Wörterbuch des Unmenschen? Was ist ein Unmensch?« (DIG, S. 25)
Das Beharren auf der Terminologie des Nationalsozialismus ist nicht bloß ein Hinweis auf die persönliche Erfahrung, die sich im Begriff niedergeschlagen hat, sondern auch eine Absage an das Ideal einer historisch und politisch unbelasteten Sprache: »Ich kann nicht ohne die Deformationen unserer Sprache über die Deformationen unserer Sprache reden« (DIG, S. 68). Der Notwendigkeit, mit einer von vornherein verdächtigen Sprache umgehen zu müssen,94 kann nicht anders begegnet werden als durch Strategien der »Unreinheit, Hybridität, Montage«,95 im Text durch die Zusammenstellung der Dokumentationen des Bombardements ԟ insbesondere des Berichts von der Untersuchung der Bombenopfer durch den nationalsozialistischen Anatom Siegfried Graeff ԟ, deren Konfrontation, gegenseitige Relativierung und die entlarvende Wiederholung einzelner Formulierungen.96 Die Collage kommt auch auf den benannten »Verlust des Begriffs Dauer« zurück. Nach der Beschreibung eines Film über die Bombardierung, der nach dem »Prinzip ›Spiegelge-
Ortemann (Hg.): Les avatars du réalisme. Colloque de Nantes 3 et 4 décembre 1999. Nantes: Ouest 2000, S. 431-447). 94 »Alle Sprachen kamen ihm verdächtig vor; die üppige, schmatzende, mit fettigen Mützen und kräftigem Händedruck, Dialekteinschübe; die hohe, röhrende, die man in seinem Rücken, in Frankreich so gerne verwendete und die man in Frankreich, wie es Jäcki schien, noch verwenden konnte, dort hatte sie keine Schwimmseife verteilt und trockene Handtücher für Duschen, aus denen nie mehr Wasser kam; sie hatte sich nicht zum Ersticken ganzer Völker hergegeben.« (Fichte: Der kleine Hauptbahnhof, S. 9; vgl. dazu auch Engelmann: »Welches Vergessen«, S. 80, S. 108 ff.). 95 Bandel: Nachwörter, S. 82. 96 Vgl. ausführlich Böhme: Hubert Fichte, S. 164 ff.
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schichte‹ von Ilse Aichinger« (DIG, S. 32) auch noch einmal im Rücklauf erzählt wird, folgt ein Zitat des damaligen Leiters der Feuerwehr, Hans Brunswig: »Wer solche Geschehnisse nicht mitgemacht hat, kann schlecht verstehen, daß jeglicher Zeitbegriff in diesen Situationen verlorengeht. Inmitten einer Umwelt, die sich in Sekunden- oder Minutenschnelle wandelt, gibt es wohl auch kein ›rechtzeitig‹ mehr. Oberbrandrat Dipl. Ing. H. Brunswig’s Temps Perdu.« (DIG, S. 32)
Diese verlorene Zeit ist keine, die wiedergefunden und in einer Erzählung aufgehoben werden könnte. Die diskontinuierliche Folge der Zitate und Kommentare trägt dem bereits Rechnung. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, wie die Zerstörung nicht nur des Zeitbegriffs, sondern immerhin auch eines großen Teils der Stadt Hamburg dargestellt werden könnte: »Gibt es einen Ausdruck dafür? Buchstaben verbrennen lassen? Bleilettern schmelzen? Keine Ulanen daraus gießen? Sollen sich Schriftsteller anzünden? […] Lateinische Buchstaben und arabische Ziffern vermitteln nur Mengenangaben und Entfernungen ԟ Unterschiede. Vermitteln Ideogramme das Feuer selbst und die Asche? ԟ Die BBkellerschrumpfleiche. […] Zwei Seiten dieses Buches schwarz einfärben: ԟ Dies sei die Zerstörung! Oder einen schwarzen, fettglänzenden Fleck auf zwei Seiten des Buches drucken ԟ in der Mitte, winzig, den fünfzackigen Stern der Amerikaner aussparen, den Glücksstern an den Waffen ԟ und am Rande des Kleckses Silben rausgucken lassen ԟ ev, ma, o ԟ oder Frau Wichmanns Ohrläppchen? Was in der Literatur eine große Kühnheit, wäre als Grafik wahrscheinlich ziemlich dünn.« (DIG, S. 36)
Der Versuch, die Zerstörung in der Zerstörung der Schrift nachzuvollziehen, die phonetische Schrift, insofern sie sich auf Differenz und Verräumlichung stützt und allein solche vermitteln könne, um einer Schrift der Ideogramme willen aufzugeben, führt letztlich nur aus dem Medium Literatur heraus und sieht sich im Bild mit denselben Aporien konfrontiert. Der Wunsch nach einer monochromen Darstellung tritt später, in Eine glückliche Liebe, in Jäckis Vorschlag, weiße Eier vor einer Kalkwand zu fotografieren, wieder auf.97 Die Stelle ist durchaus nicht so weit von 97 Vgl. Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 25.
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der hier relevanten Frage entfernt, denn es geht dort weniger um eine Kritik an der Fotografie, in der das »Nichts […] keinen Platz«98 habe bzw. die unfähig sei, »manche Motive, die mit Wörtern erfaßbar sind, auf einem Bild zu fixieren.«99 Dieses Motiv ist in der Fotografie ja nur interessant, insofern es die Grenzen des Mediums auslotet. Legt man die Lessing’sche Bestimmung der »Grenzen der Malerei und Poesie« auch an die Fotografie an, so wäre das literarische Gegenstück der Darstellung eines Nebeneianders von Gegenständen, deren Konturen nicht wahrnehmbar sind, die Darstellung von Stillstand durch »aufeinanderfolgende Zeichen«.100 Unmittelbar auf das oben zitierte Ende der Beschreibung des Luftangriffs folgt »einer der seltsamsten und merkwürdigsten Übergänge bzw. Sprünge in der Geschichte der Literatur«,101 der hier etwas extensiver zitiert sei: »Yoruba. Ewe. Haussa. Bergdama. […] Dendé. Azeite de Dendé. Malaguetta-Pfeffer. Fire. A whiter shade of pale. Michel. […] Bewegtes. Toiletten. Mustafa. Colafratze. Philipp. Jeff ist nicht da. Das ›Sahara‹ ohne zeitliche Ausdehnung. Saharalitanei von Bewegungslosem. Sind die kleinsten Teile von Bewegungen Bewegungen oder starr? Adjektive setzen schon die Denkbewegung voraus vom Gegenstand zu seiner Eigenschaft. 98
Weinberg: Akut. Geschichte. Struktur, S. 388.
99
Simo: Interkulturalität, S. 131.
100 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke. Hg. v. Kurt Wölfel. Dritter Band. Schriften II. Frankfurt a.M.: Insel 1967, S. 7-173, S. 89. 101 Braun: Eine Reise, S. 56.
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Was sind die kleinsten Teile der Zeit? […] Auch das Nichtvorhandensein ist ein gedanklicher Ablauf. Es geht also nicht: Das ›Sahara‹ austrennen als zeitlose Wortoberfläche. Die Zeile: ›Whiter shade of pale‹ soll trotzdem nicht das Singen des Songs bedeuten, sondern das Bewußtsein Jäckis beim Verlassen des ›Sahara‹.« (DIG, S. 17 ff.)
Die Darstellung der Kneipe »Sahara«, »wo zu einer bestimmten Zeit Schwarze aus der ganzen Welt zusammenkamen«,102 als Litanei beginnt folgerichtig mit der Aufzählung afrikanischer Bevölkerungsgruppen, nimmt dann immer mehr Wörter, die sich mit einer Hamburger Kneipe Ende der sechziger Jahre verbinden lassen, auf und endet nach knapp zwei Seiten mit dem Grund von Jäckis Besuch: der Suche nach Jeff, den er liebt, aber für den Sex bezahlen muss. All dies wird ebenso wie die Tatsache, dass es hier um Jäcki geht, der das erste Mal im Roman auftritt, erst später deutlich, im Fall Jeffs sogar einige Kapitel später. Auch dass dieses Kapitel mit seiner Reflektion über die Zeit und die (Un-)Möglichkeit, Bewegungslosigkeit sprachlich oder überhaupt gedanklich zu fassen, unmittelbar die Erfahrung des Luftangriffs im vorhergehenden Kapitel aufgreift, wird erst im Licht der späteren Reflektionen erkennbar. Im Textverlauf zielen der abrupte Wechsel zwischen den Kapiteln, die Fremdheit der ersten Worte und der Form auf eine Desorientierung in der Lektüre ab, durch die der Schock der Bomben bis in die Gegenwart verlängert erscheint. Mit diesem Effekt »erstarrter Unruhe« (GS V.1, S. 414), von der Benjamin einmal im Zusammenhang mit Baudelaire spricht, findet die Erfahrung des Luftangriffs einen literarischen Ausdruck, der nicht auf die Beschreibungen des Schreckens in den historischen Untersuchungen, die Jäcki liest, beschränkt bleibt. Der Wunsch, die Kneipe als »zeitlose Wortoberfläche« ›auszutrennen‹, erinnert an Jäckis Wunsch in den späteren Romanen, »alles auf einen Dudd« aufzeichnen zu können oder einen Prozess aus der Wirklichkeit herauszulösen und zur Kunst zu machen. Natürlich lässt sich auch hier das Nacheinander der sprachlichen Zeichen nicht auflösen. Indem aber der Versuch an die Grenzen des Mediums Sprache führt – wie ein Foto von weißen Eiern vor einer Kalkwand an die der Fotografie ԟ, fällt der Verlust des Zeitgefühls mit der Verwüstung der Sprache und ihrer Annäherung an das Bild zusammen. »Die Zerstörung der Zeit führt fortan zu einem Nebeneinander der auseinandergesprengten Partikel der Wirklichkeit und damit zu den ästhetischen Techniken der Collage und des patchwork der willkürlichen Sprachreihen […] und der Wort-Litaneien«.103 Der angestrebte Effekt der Starre in den 102 Hubert Fichte in: Rüdiger Wischenbart: »Ich schreibe, was mir die Wahrheit zu sein scheint.« Ein Gespräch mit Hubert Fichte. In: Text + Kritik 72: Hubert Fichte (1981), S. 67-85, S. 81. 103 Böhme: Hubert Fichte, S. 179.
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Reihungen und Litaneien, bei denen zwar nicht das Nacheinander, doch immerhin die Notwendigkeit der Abfolge aufgehoben ist, wird an späterer Stelle erneut thematisiert und mit einer Erinnerung an die Luftangriffe verbunden. Soweit von einem Handlungsablauf auf der Jäcki-Ebene des Textes gesprochen werden kann, schließt das entsprechende Kapitel unmittelbar an das Sahara-Kapitel an. Dieses endet damit, dass Jäcki vom »Sahara« Richtung »Grünspan« geht, jenes beginnt mit dem Betreten des »psychedelischen Schuppens ›Grünspan‹« (DIG, S. 178). Er beobachtet die Tanzenden im Licht der Projektionsapparate: »Bäumen vergleichbar. Faust II vergleichbar. Titelcovers vergleichbar. Brennenden vergleichbar. BBkellerschrumpfleichen vergleichbar. […] Zwei Stro Zwei Stro Zwei Bo Bo Zwei […] Stro Bo Sko Pe Pe Für das Auge sind die kleinsten Teile von Bewegungen keine Bewegungen, sondern starr. Da Ta Jeff Im Wei Smo […]« (DIG, S. 179)
Wie zwanghaft stellt sich über die Assoziation des flackernden Lichts, des Brennens, der Bezug zu den Recherchen in der medizinischen Bibliothek ein. Unterstützend kommt hinzu, dass hier die vorherigen Reflektionen aus der »Sahara«-Bar ihre
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Entsprechung in einer visuellen Erfahrung finden, die im lustbetonten Kontext einer Disko des Jahres 1968 das »Jetzt! Jetzt! Jetzt! Jetzt!« der Bombennacht von 1943 aktualisiert. Indem der Eindruck der Starre in den fragmentierten Bewegungsbildern durch eine zerstückelte Schrift, bei der nur halbe Worte sichtbar sind, vermittelt ist, nähert sich das Medium der alphabetischen Schrift der von Jäcki ersehnten »ideogrammatische[n] Schreibweise« (DIG, S. 21) an. Dass im Hintergrund der schriftlich fixierten Zeiterfahrung eine mit der Fotografie assoziierte Visualität steht, geht nicht erst aus einer Bemerkung in Alte Welt, dem »Glossen«-Band der Geschichte der Empfindlichkeit, der mit der erzählten Zeit von Detlevs Imitationen übereinstimmt, hervor: »Grünspan mit Irma. / Stroboskop. / Menschen als Fotografien.«104 Auf der Detlev-Ebene von Detlevs Imitationen findet sich auch eine Passage, die die Reflektionen über Bewegung und Stillstand an die Fotografie koppelt und zugleich den von Detlev erlebten Schrecken des Luftangriffs mit dem Schock über die Erkenntnis einer weiteren historischen Bedrohungssituation kurzschließt: »Mutti: ԟ Laß die Zeitung nicht in die Hände des Kindes fallen! Aber die Erwachsenen verstecken sie so schlecht, daß Detlev die Zeitung am nächsten Tag auf der Kohlenschaufel entdeckt. Fotos von Leichenhaufen. Haufen, wie er sie sich vorgestellt hat, als von den Opfern der Luftangriffe geredet wurde. Magerer als Frau Wichmann, knochenähnlich. Fotografiert sieht es schlimmer aus als in Gedanken. Aber die Fotos bleiben stehen, während die Gedanken fortschreiten und zurückspringen. Auch Kinderskelette. […] Ein Haufen von magersten Kinderleichen, die vergast wurden, weil sie nicht in das Parteiprogramm paßten.« (DIG, S. 78)
Auf den Zeitungsfotos nach Kriegsende sieht Detlev, was auch ihm als dem »Halbjuden«, der »nicht in das Parteiprogramm paßte[ ]«, drohte. Im Stillstand der Fotos treten der so oft im Zusammenhang mit den Bildern aus den Konzentrationslagern beschriebene Schock der Evidenz105 und die medialen Eigenschaften der 104 Hubert Fichte: Alte Welt. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit V. Hg. v. Wolfgang von Wangenheim und Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 551. 105 Vgl. oben, im Kapitel zu Fotografie und Literatur nach Auschwitz. In einem Beitrag für die ZEIT anlässlich der Frankfurter Auschwitz-Prozesse benennt Fichte diese Erfahrung auch als prägenden Moment des eigenen Lebens: »Als Zehnjähriger sah ich in den ersten Zeitungen nach Kriegsende Haufen von zermarterten Körpern. Diese Bilder sind heute ebenso deutlich wie damals. Seither versuche ich herauszufinden, was ein Auschwitz ermöglichte, und die einzelnen Komponenten miteinander in Beziehung zu brin-
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Fotografie als Augenblicksbild zusammen. Die beschriebenen Reflektionen über die Möglichkeiten, Bewegungslosigkeit in der Schrift festzuhalten, und die Assoziation der Erstarrung mit dem Bild ԟ was bei Fichte durchaus, wie in der Stroboskop-Szene, auch die Grenzen der Schrift hin zur Schriftbildlichkeit transzendiert ԟ lassen sich nun auf die Konfrontation mit diesen ganz bestimmten Bildern beziehen. Die Engführung von fotografischen Momentbildern und traumatischen Schocks ist uns in den vorhergehenden Lektüren, bei Benjamin, Barthes und, in Verbindung mit denselben Bildern wie bei Fichte, auch bei Sontag,106 bereits mehrfach begegnet. Bei Fichte hat dies Konsequenzen für die narrativen Verfahren und die Reflektion über die Medialität von Schrift. Die Bemerkung, dass die Fotos ›stehenbleiben‹, »während die Gedanken fortschreiten und zurückspringen«, greift den Hinweis auf die unvermeidliche »Denkbewegung« (DIG, S. 19) auf, an der der Versuch, die »Sahara«-Bar als »zeitlose Wortoberfläche« zu beschreiben, scheitern muss. In den Fotos aus den Lagern konkretisiert sich die Unmöglichkeit, das, was in den Lagern geschehen ist, gedanklich einzuholen und abzuschließen. Es ist ein Moment, das aus der Zeitlichkeit des Erzählens wie der Reflektion herausfällt. Die Auseinandersetzung mit Auschwitz ist der andere Strang von Jäckis Beschäftigung mit der Vergangenheit und dies betrifft nicht allein Detlevs Imitationen.107 Bereits in der Palette ist von den Fotos der Leichenberge nach Kriegsende die Rede, und auf diese Szene wird im Zusammenhang mit Jäckis Recherchen zu den Luftangriffen auch angespielt.108 Es geht dabei freilich nicht um den Vergleich des Massenmords in den Konzentrationslagern mit den Bombardierungen deutscher Städte, sondern um die Erfahrungen eines Menschen, der von beidem bedroht war. Detlevs/Jäckis Bewusstsein ist die Ebene, auf der beides, als doppelte Bedrohung, zusammentreten kann. Die Fragen nach der Möglichkeit der Darstellung bei Jäckis Recherchen zu den Luftangriffen sind demnach in doppelter Hinsicht zu lesen. Schon in der Montage der Zeugnisse zur Bombardierung Hamburgs weisen die insistierenden Fragen nach den »lebendige[n] Leichen« (DIG, S. 36) der KZ-Häftlinge, ausgehend von der beiläufigen Erwähnung in einer Quelle, dass sie zum Bergen der Leichen aus den Trümmern herangezogen wurden, auf die im Diskurs über die Bombenschäden ausgeschlossene oder verschwiegene Dimension der deutschen Verbrechen hin. Die Überlegung, eine Seite zur Darstellung der Zerstörung schwarz einzufärben, wird gen: Machtgier, krankhafte Hybris einer Ideologie. Die bürokratische Maschinerie eines modernen Staates. Phantasielosigkeit und Trägheit der Mitbürger. Brutalität. Gewöhnung. / Das erklärt gar nichts. Das macht die Torturen nicht vorstellbar.« (Hubert Fichte: Mit Verlaub Auschwitz. In: Die Zeit 29.5.1964). 106 Vgl. v.a. oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Barthes. 107 Vgl. allg. zu dem Komplex auch Engelmann: »Welches Vergessen«, passim. 108 Vgl. Hubert Fichte: Die Palette. Frankfurt a.M.: Fischer 1978, S. 289; DIG, S. 25.
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bei der Entdeckung der Fotos aus den Lagern wieder aufgegriffen und nachträglich auch auf Auschwitz bezogen, wenn es heißt: »Fotos von Leichen riechen nach Druckerschwärze und nicht nach Weihnachten und Krüppelheim« (DIG, S. 78). Der Hinweis auf Weihnachten und das Krüppelheim bezieht sich auf die Erfahrung der Bombardierung;109 das Wissen um die Leichen bleibt abstrakter als jenes vom Luftkrieg. Aber auch eine monochrome Seite wäre eine reine Abstraktion, auf die sich die Zerstörung höchstens projizieren ließe. An einer späteren Stelle wird die Leere der Vernichtung, der Detlev entkam, wieder in Verbindung mit einer monochromen Fläche imaginativ gefüllt: »Er [Detlev] zeigt Jürgen das Heft mit seinen Aquarellen und Jürgen sagt: ԟ Da sind zuviele Juden! Jürgen führt Detlev in den Duschraum und sagt, er solle seine Ringe ablegen und sich ausziehen. Jürgen nimmt den Besitz in Verwahrung […]. Er gibt Detlev ein blankgeriebenes Stück Kernseife und ein Handtuch. Jürgen schließt den Waschraum luftdicht ab, wo Detlev und seine entkleidete Mutter und die entkleideten Großeltern und Hunderte von anderen Entkleideten warten, daß Wasser aus den Duschen quillt und die Gashähne werden aufgedreht, bis die Zungen schwarz zwischen den Lippen eingequetscht sind. ԟ Warum sagst du Juden? ԟ Das haben wir immer gesagt. Juden sind die weißen Stellen in deinen Aquarellen, wo keine Farbe hingekommen ist. Du mußt die Juden ausmerzen.« (DIG, S. 128).
Auch an diese Stelle, an der Fichte über Detlevs Phantasie an die äußerste Grenze der Imagination geht, ist zu denken, wenn Jäcki Irma vorschlägt, weiße Eier vor einer weißen Wand zu fotografieren. Das Weiße ist zugleich »die Farbe des Vergessenen, des Verschwiegenen und Verdrängten«110 und der Vernichtung, von der nichts übrig blieb. Finden die Überlegungen zu den Möglichkeiten der Darstellungen des Schocks und der doppelten Zerstörung, die Detlev/Jäcki bedrohte, ihre Entsprechung einerseits in den Versuchen, die Zeitform des Erzählens aufzuheben, indem mit Montagen, Aufzählungen und Litaneien (die ja auch durch ständige Wiederholung auf einen Effekt der Zeitlosigkeit abzielen können) eine privilegierte Abfolge des Geschrieben suspendiert ist, so ist dies durch den Bezug auf bildliche Darstellungsformen ergänzt. Über die verworfene Überlegung, eine ganze Seite schwarz einzufärben, hinaus betrifft dies die Tendenz zur Bildlichkeit in der Seitengestaltung.111
109 Vgl. DIG, S. 23. 110 Guldin: Das Double der Schrift, S. 98. 111 Am prägnantesten hat Fichte diese Tendenz sicherlich in Der Platz der Gehenkten verwirklicht, wo z.T. bis auf ein Wort oder sogar nur einen Buchstaben die Seite weiß ge-
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Wenn bei der Beschreibung des Stroboskops ein großer Teil der Seite weiß bleibt, trägt dies nicht nur zum Effekt der zerstückelten Sicht bei, der hier schriftlich nachgebildet ist, sondern es ist auch als eine Art komplementäre oder negative Darstellung einer Leere lesbar, der Anwesenheit der Vergangenheit, die die beschriebene Szene grundiert. Dass Schwarz und Weiß bei Fichte in mehrfacher Hinsicht besetzt sind, hat Böhme bereits ausführlich herausgearbeitet.112 Dies betrifft ebenso das Verhältnis von schwarzer Schrift und weißer Seite, die Schwarz-Weiß-Fotografie, die erotische Faszination der dunklen Hautfarbe wie eben auch den Schrecken der Bombardierung und das mehrfach konnotierte Weiß nach Auschwitz. Die dabei zutage tretenden Ambivalenzen äußern sich nicht allein in den widersprüchlichen symbolischen, erotischen und ästhetischen Besetzungen von Schwarz und Weiß, sondern treten auch in anderen Zusammenhängen auf. So ist in Eine glückliche Liebe die Erwähnung, dass Jäcki beim Betreten des Saunabades, in dem er eine Art sexuelle Neugeburt erleben wird, »ein Stück Seife«113 ausgehändigt bekommt, angesichts von Detlevs Gaskammerphantasie nicht nebensächlich, zumal die Eisentür zum Saunabad mit der »zu einem Luftschutzkeller«114 verglichen wird. Eine andere, explizitere Parallelführung von Schrecken und Faszination ist für unseren Zusammenhang besonders interessant, handelt es sich hier doch um eine der wenigen nochmaligen Erwähnungen der Fotos aus den Zeitungen in Fichtes Werk – was insofern ungewöhnlich ist, als in Fichtes Schreiben ständige aktualisierende Anspielungen auf Momente des vorherigen Werks eine wichtige Rolle spielen. Bei seinem ersten Besuch eines Candomblé in Brasilien ist Jäcki vom Gesehenen so überwältigt, dass er kaum noch die Blitze für Irmas Fotos bedienen kann: »Und heraus treten drei schwarze Mädchen mit weißen Punkten bemalt. Sie zittern leicht. […] Sie ergreifen Jäcki mehr als Meerstern ich dich grüße und Es ist ein Ros entsprungen. Schrecklicher als das Rosa der Bombenteppiche. Sie sind die Hofdamen im ›Glas Wasser‹. Sie sind die dürren Leichen auf den Fotos der Zeitungen der Militärregierung. Sie sind das ganz andere. […] lassen ist (vgl. Hubert Fichte: Der Platz der Gehenkten. Die Geschichte der Empfindlichkeit VI. Hg. v. Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt a.M.: Fischer 1989). 112 Vgl. Böhme: Hubert Fichte, S. 238 ff., S. 264 ff.; vgl. Böhmes Ergebnisse resümierend und mit Bezug auf die Fotografie auch Guldin: Das Double der Schrift, S. 97 ff. 113 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 104. 114 Ebd.
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Die Alte Welt zerfällt für Jäcki Die Neue Welt tritt auf Jäcki zu«115
Zumindest angesichts dieser Stelle ist Brauns Einschätzung zu korrigieren, die Erfahrung beim Anblick der Fotos aus den Konzentrationslagern bleibe »eine einzelne erratische Szene innerhalb des Werks«116 von Fichte. Sie wird in der Tat selten erwähnt, doch gerade in dieser Szene tritt sie als absolute Steigerung der aus der Biografie des Protagonisten genommenen Vergleiche auf, bis die beiden Mädchen zum ›ganz anderen‹ stilisiert werden, zu Repräsentantinnen einer ›Neuen Welt‹, der Entdeckung der afroamerikanischen Kulturen für Jäckis Schreiben. Bereits in Eine glückliche Liebe wurde der Moment, in dem Jäcki sich zum ersten Mal penetrieren lässt und der, wie gezeigt, ebenfalls mit Anspielungen auf die beiden Schrecken der Kindheit konnotiert war, als »das ganz Andre«117 empfunden. Darin eine Banalisierung von Auschwitz zu sehen, wäre ein Missverständnis. Die Anwesenheit des Schreckens in den Momenten höchster ästhetischer, kultureller und erotischer (soweit sich das bei Fichte trennen lässt) Faszination und Überwältigung deutet eher noch auf eine traumatische Grundkonstellation hin, in der die Grenze zwischen Lust und Grauen verschwimmt; es figuriert im Werk – um weniger psychologisierende Begriffe zu verwenden ԟ aber auch als Chiffre dafür, dem Tod entkommen zu sein, die mit den ›Neugeburten‹ an biografischen Bruchstellen aktualisiert wird.
3. F OTOGRAFIE
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G EDÄCHTNIS
Nachdem die poetologische Funktion der Fotografie vor allem im erzählten Verhältnis von Irma und Jäcki und die Bedeutung der Fotografie in der Zeitbehandlung in Detlevs Imitationen ›Grünspan‹ herausgearbeitet wurden, soll abschließend auf die bisher kaum untersuchte Funktion von Fotos als Gedächtnismedien in Fichtes Texten genauer eingegangen werden. Mit den Fotos aus den Konzentrationslagern wurde der Komplex bereits angesprochen. Allerdings fungieren diese Bilder im weiteren Werk weniger als konkrete Gedächtnismedien denn als selbst wieder erinnertes Schockmoment, bei dem der Stillstand im Bild mit dem der Zeit im Schreck zusammentrifft. In der Hinsicht ist Fichtes Schreiben von ›fotografischen Momenten‹, wie man unter Bezug auf Albers’ Studie zu Claude Simon sagen könnte,118 geprägt, bei denen der durch die Fotos vermittelte Schock zwar nicht durch häufige 115 Fichte: Explosion, S. 148. 116 Braun: Eine Reise, S. 60. 117 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 108. 118 Vgl. Albers: Photographische Momente bei Claude Simon, zum vorliegenden Komplex u.a. S. 94 ff., zur Titelformulierung S. 17 ff., S. 199.
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Erwähnung der Bilder Eingang ins Werk findet, aber sich in Erzähltechniken niederschlägt. Dabei lässt sich durchaus, wie im ersten Abschnitt gezeigt, auch im Rückgriff auf andere Stellen bei Fichte, von einer fotografisch vermittelten Augenblicks-Poetik sprechen, die freilich einerseits, durch den historischen Schrecken vermittelt, zwischen den Polen Schrecken und Faszination pendelt, andererseits durch die gegenläufigen Tendenzen der Faszination und Abwehr des Mediums Fotografie bestimmt ist. Einzelne Bemerkungen in den Dialogen zwischen Jäcki und Irma zum Verhältnis von Schreiben und Fotografie erscheinen im Bezug auf die Funktion der Fotografie als Gedächtnismedium doppelsinnig. Wenn Jäcki in Eine glückliche Liebe in Abgrenzung zur Fotografie meint: »Meine Wörter – die kannst du vergessen«119 und Irma im Forschungsbericht sagt: »Du darfst nicht vergessen, beim Foto fehlt die Bewegung und die Geschichte«,120 kann darin auch ein Hinweis auf unterschiedliche Gedächtnisprozesse in beiden Medien – innerhalb der Texte, versteht sich ԟ gesehen werden. Die Worte wären demnach etwas, das vergessen werden kann und darum nicht vergessen werden darf, die Fotos hingegen wären, insofern sie aus jeder narrativen Kontinuität und Kontextualisierung herausfallen, der Dynamik von Erinnern und Vergessen entzogen. Das mag nach einer sehr weitgehenden Interpretation klingen, es charakterisiert aber tatsächlich eine Funktion von Fotos in Fichtes Werk. Dies betrifft nicht nur die Fotos aus den Konzentrationslagern. In einer Szene in Der kleine Hauptbahnhof wird die Unterscheidung von Erinnerung und Fotografie in vergleichbarer Weise relevant. An der betreffenden Stelle zielt die Zusammenarbeit Jäckis mit Irma einmal direkt darauf ab, fotografische Gedächtnisbilder in Parallele zur schriftstellerischen Arbeit zu erstellen. »Jäcki überzeugte Irma, die Laubenkolonien in Lokstedt aufzunehmen«, in denen sich seine Jugend abspielte. Das Ergebnis ist enttäuschend: »Jäcki hoffte, Irmas Fotos könnten etwas von der Stimmung bewahren, von der Schlechten Zeit und von der Währungsreform. / Es wurden Fotos von Leyhäusern, Gartenzwergen und Holztoren. / Sie sahen ganz anders aus als in Jäckis Erinnerung.«121 Zweifellos ist es naiv, zu erwarten, dass Fotos aus der Gegenwart Erinnerungen wachrufen könnten, die sogar sprachlich der Großschreibung, d.h. der Schrift, bedürfen, um die »Stimmung« der »Schlechten Zeit« in all ihrem historischen Selbstverständnis zu bewahren. Ein anderes Foto Irmas aus dem Garten der Großmutter hat aber ungleich stärkere Wirkung:
119 Fichte: Eine glückliche Liebe, S. 28, zu der Stelle, aber mit anderer Wertung vgl. in der Hinsicht auch Weinberg: Akut. Geschichte. Struktur, S. 391. 120 Fichte: Forschungsbericht, S. 42. 121 Fichte: Der kleine Hauptbahnhof, S. 195 f.
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»Irma fotografierte ein Laubenfenster, das im Unkraut lag. Jäckis Mutter hatte es aus den mürben Fenstern gedrückt, um der Großmutter zu beweisen, wie abbruchreif das alles sei. Das Fenster war im Unkraut festgewachsen. Es füllte das ganze Negativ aus. Irma vergrößerte es sechzig mal achtzig. Der Abzug war fast von der Größe des Fensters. Jäcki drehte es in der Dürerstraße gegen die Wand. Es war unerträglicher geworden als die Erinnerung an die Zerstörung der Laube, wo die Schlesier [d.h. die Großeltern] gesessen hatten, auf Opas Kuhkoppel, und selbstgepreßten Apfelmost tranken.«122
Hier zeugt das Foto derart vom Verschwinden eines privilegierten Orts aus Jäckis (bzw. Detlevs) Kindheit und Pubertät, dass es sich offensichtlich nicht in eine individuelle Erinnerung und deren Möglichkeiten zur Verarbeitung und Gewöhnung an das Ende der Vergangenheit einfügen lässt. Das Bild des Fensters in den Pflanzen des Gartens ruft zugleich ein anderes Bild auf. »Das Badezimmerfenster liegt im Rhododendron« (DIG, S. 22) wird in Detlevs Imitationen eine der Folgen des Bombardements beschrieben. Das fast originalgetreu vergrößerte Bild des Fensters der zerstörten Laube verweist so auch auf eine andere Zerstörung, bei der aber gerade die Laube unversehrt blieb.123 Im Bild wird, indem es den Gesetzen der persönlichen Erinnerung entgeht, so etwas wie eine unheimliche Wiederkehr ԟ oder eher ein Beharren ԟ der Vergangenheit sichtbar. In Die Geschichte der Nanã, dem Roman, in dem wohl am extensivsten Fotografien in der herkömmlichen Funktion als Gedächtnismedien eingesetzt werden, gibt es eine Szene, in der dieses Beharren im Bild dem literarischen Erinnern gegenübergestellt wird: »Jäcki hatte geglaubt, die Vergangenheit wäre durch seine Texte wie Kohlepapier geworden, aus dem er, wie die Mutter im Büro, Buchstaben abgeschlagen hatte, deren Erinnerung, spiegelverkehrt, unleserlich durch übertippen und übertippen, im Schwarzen als rauhe Flecken erschien. Vergessen trat ein, wie er es erwartet hatte. Er hatte aufgearbeitet, sagten die Kollegen. Zwei Literaturstudenten entdeckten das ›Waisenhaus‹ und schickten ihm alte Postkarten von Schrobenhausen. 122 Fichte: Der kleine Hauptbahnhof, S. 196, vgl. zu einem entsprechenden Bild von Mau die Umschlagsabbildung des vorliegenden Buchs. 123 Vgl. die Schilderung des Luftangriffs in der Erzählung Der dreiundzwanzigste Juli in: Hubert Fichte: Der Aufbruch nach Turku. Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 56-61, S. 58.
344 | HUBERT FICHTE Er konnte sie nicht durchblättern. Er war dankbar und hätte sie am liebsten verbrannt. Er merkte, das Waisenhaus war nicht vergessen. Er hatte seinen Roman vergessen. Das Haus war zerstört. Es gab nur noch die Postkarte davon und die Reproduktionen der Postkarte. Es war eine Schicht tiefer gerutscht. Es existierte weiter mit schmerzhaften Ecken und Erkern.«124
Das Bild von der Vergangenheit, die wie Durchschlagpapier zum Material der Texte und darin selbst wiederum zur entstellten Erinnerung der Literatur wird, umschreibt sehr schön die wechselseitigen Bezüge von Gedächtnis und Schreiben bei Fichte. Gerade aber der Versuch, die Literatur an die Stelle der Erinnerungsspur zu setzen oder eben, wie es im Text als Klischee der Nachkriegsliteratur-»Kollegen« genannt wird, aufzuarbeiten, erweist sich angesichts der Postkartenfotos des Waisenhauses in Schrobenhausen als gescheitert.125 Jäcki kann seine Wörter vielleicht vergessen, aber der Komplex, im Alter von acht Jahren von der Mutter in ein katholisches Waisenhaus gegeben worden zu sein, bleibt und wird gerade angesichts der Äußerlichkeit und Banalität einer Postkarte reaktiviert. Der gesamte Roman Die Geschichte der Nanã kreist um den Versuch, das bereits in anderen Texten Geschriebene noch einmal anzugehen, es »ist ein Buch der Korrekturen, das nachzutragen versucht, was in den früheren Texten fehlt.«126 Dies betrifft in erster Linie die problematische Beziehung zur Mutter, Dora Mascha, die bei Fichte schon immer in ein komplexes Netz aus intertextuellen und mythologischen Korrespondenzen eingesponnen war: von den griechischen und klassischen Vorbildern Iokaste, Medea, Iphigenie über den katholischen Marienkult bis hin zur afroamerikanischen Mythologie, verkörpert vor allem in der titelgebenden Göttin Nanã, mit der die Mutter schon in Versuch über die Pubertät assoziiert wurde. Nun wird diese Assoziation korrigiert, wobei offen bleibt, ob die Korrektur nun dem Fortgang der ethnologischen Forschung oder einem veränderten Bild der Mutter geschuldet ist: »Als Nanã trat sie [in Versuch über die Pubertät] auf, die Urmutter, Schlammutter, Nachtmutter, der genauen Tagesmutter entgegen. / Nanã der Frösche, mit schwülen Händen. / Sie backt die Welt aus Schlamm zusammen. / Nanã ist der Tod – aber das wußte Jäcki damals noch nicht, so weit war er damals mit seinen Forschungen noch nicht« (GdN, S. 51). Die Ambivalenz der Muttergottheit 124 Hubert Fichte: Die Geschichte der Nanã. Die Geschichte der Empfindlichkeit o. Nr. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 48 (im Folgenden GdN). 125 Vgl. auch GdN, S. 115: »Jäcki hatte geglaubt, durch Schreiben befreit man sich. […] ԟ Nichts wird aufgearbeitet. / ԟ Es rinnt nur tiefer. / ԟ Es sintert weiter nach allen Seiten.« 126 Braun: Eine Reise, S. 63.
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Nanã, zugleich Schöpfung und Tod zu verkörpern, ist schon in früheren Texten mit der Mutter verbunden,127 zum Teil ganz konkret in der Schwierigkeit, zu erkennen, inwiefern bestimmte Handlungen dazu dienen sollten, den Sohn vor der Deportation zu schützen oder ihn nicht eher loszuwerden. Eben diese Unsicherheit wird zum treibenden Faktor des Romans über die Mutter. In quälenden, stets neu einsetzenden Reflektionen versucht Jäcki, das Leben seiner Mutter, ihr Verhältnis zu ihm und zu ihren Eltern zu erfassen. Nicht zuletzt aus dieser ständigen Umschrift der Vergangenheit resultiert ein großer Teil der Ambivalenzen der Mutterfigur. Hartmut Böhme hat darauf hingewiesen, dass »innerhalb der ›Geschichte der Empfindlichkeit‹ der Nanã-Roman das Gegenstück zum ›Forschungsbericht‹«128 darstellt. In der Tat muss Jäcki bei den Gesprächen mit seiner Mutter feststellen: »Er versagte vor ihr als Ethnologe« (GdN, S. 26). Während ein solches Versagen aber im Forschungsbericht in einen Roman überführt werden kann, betrifft es im Roman über die Mutter dessen eigene Bedingungen: »Jäcki konnte nichts mehr erfahren. / Die Mutter sah sich vor. / Sie sagte, sie wollte nicht wieder in einem Roman verarbeitet werden« (GdN, S. 34). Dem trägt die Komposition des Textes Rechnung. Nachdem in einem einleitenden Kapitel auf das Folgende mit der Beschreibung eines Einweihungsrituals für Nanã und mit den Worten »Das Gedächtnis zerbricht« (GdN, S. 9)129 hingeführt und darin das Schreiben selbst als eine Art Ritualisierung gekennzeichnet wurde, stellen die drei zentralen Kapitel des Romans im Grunde immer neue Anläufe dar, die Geschichte der Mutter und die Konflikte mit ihr zu beschreiben. Immer vermittelt durch Jäckis Beschäftigung mit der Vergangenheit und ihrer Aufnahme in seine Texte umfasst das erste dieser Kapitel die Zeit von der Jugend der Großeltern im 19. Jahrhundert bis zur Nachkriegszeit, das zweite zeichnet unter dem Motto von »Doras Theatralischer Sendung« (GdN, S. 53) die Entwicklung der Mutter vor allem unter dem bestimmenden Aspekt des Theaters von der Kindheit bis in ihr Alter nach, bis schließlich im darauffolgenden Kapitel die Reflektionen des alternden Jäcki über sein Verhältnis zur Mutter in der Gegenwartsebene des Frühstückssaals eines Hotels in Agadir gespiegelt werden.
127 Vgl. zu diesem Komplex allg. und im speziellen zu Die Geschichte der Nanã: Böhme: Hubert Fichte, S. 335 ff.; Böhme differenziert allerdings nicht immer klar zwischen Jäcki und Fichte bzw. der jeweiligen Mutter, sondern bezieht auch Fichtes Schreiben auf den Komplex der Mutter. 128 Böhme: Hubert Fichte, S. 352. 129 Die übliche Formel »Obrigação da Consciência« wird in Explosion mit »Zerbrechen des Bewusstseins« (»se quebra a consciência«), nicht des Gedächtnisses, erläutert (vgl. Fichte: Explosion, S. 384 f. u.ö.); dem Synkretismus in Fichtes Texten entsprechend, antwortet die Beschreibung des Rituals unmittelbar auf das vorhergehende Mottogedicht Mutter von Gottfried Benn.
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Hatte bereits das narrative Vorgehen in Detlevs Imitationen den Vergleich herausgefordert, darin werde »Detlevs Heranwachsen wie in einem Fotoalbum«130 vorgeführt, so kann dies mit umso größerer Berechtigung von der Geschichte der Nanã gesagt werden. Insbesondere zu Anfang des ersten Ansatzes, der Erzählung von der Kindheit und Jugend der Großeltern und der Mutter, die Jäcki selbst nur aus wenigen Anekdoten kennt, orientiert sich das Erzählen stark an Fotografien. Das Leben der Großmutter erscheint so wie ein Album: »Die Großmutter in weißer Schürze trägt eine Suppenkelle. In einer Reihe hinter ihr fünf vaterländische Damen. […] Das letzte Standfoto ist von der Silbernen Hochzeit. Die Haare sind weiß geworden ԟ von Frau Moog etwas in Locken gelegt und gelb gebrannt. Idas Augen haben sich nicht verändert. […] Dann kommen die modernen Lichtbilder. Ausdrucksstudien. Paßbilder. Schnappschüsse. Als letztes die Fotos, die Irma gemacht hat. Die Großmutter schenkt Bowle ein. Das zerbrochene Fenster in der Gartenlaube – Unkraut wächst hindurch.« (GdN, S. 25)
Das letzte »Bild in Jäcki […], das erst mit ihm sterben wird« (GdN, S. 25), ist die Erinnerung an die sterbende Großmutter; aber schon das Bild vom Laubenfenster, das hier unter die Bilder der Großmutter einsortiert ist, bezeichnet den Untergang der mit den Großeltern verbundenen Welt, das Haus und den Garten in Lokstedt. In den Erinnerungen an die Großmutter verschränken sich deren Biografie, die technische Entwicklung der Fotografie und die historischen und modischen Umstände, sowohl im Hinblick auf die Art der Bilder als auch auf deren Motivik. In der Hinsicht kommt der Rückgriff auf Fotografien Fichtes Tendenz zur knappen und dichten Charakterisierung entgegen, jener Lakonie seines Stils, die umgekehrt ja wiederum mit der Fotografie verglichen wurde. Zum Teil wird die fotografische Grundlage der Beschreibungen erst im Vergleich mit anderen Stellen deutlich. Wenn bei der Aufzählung von Fotos der Mutter das erste mit den Stichworten »Schillerlocken, Mousselinekleidchen vor dem Menschenfresser aus Manaus« (GdN, S. 78) beschrieben wird, erweist sich der vorher beschriebene Besuch einer »Exotenschau« bei Hagenbeck 1911 als fotografisch vermittelte Phantasie: »Paul mit Gehrock, Ida, einen Paradiesvogel auf dem Kopf, führten ihre Töchter in weißen Mousselinekleidchen, Schillerlocken vor den Menschenfresser aus Manaus« (GdN, 130 Wolfgang von Wangenheim: Hubert Fichte. München: Beck, Text + Kritik 1980 (= Autorenbücher, 22), S. 80.
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S. 53). Die Verschiebung der jeweiligen Positionen in der Exotenschau, wie sie schon der Paradiesvogel-Hut der Großmutter andeutet, geht im Folgenden weiter, wenn es heißt, es handle sich um den »Menschenfresser« aus einem Fragment Kafkas131 und dieser sei eigentlich ein brasilianischer Medizinstudent, der später, zuhause, die beobachteten Deutschen in seinen Tänzen nachahme. Es geht hier also um mehrfache Nachahmungen und Wiederholungen, die intertextuelle im Bezug auf Kafka, die performative im Tanz des Brasilianers und nicht zuletzt, im Text des Romans, der Rückgriff auf vorliegende Bildmotive.132 Die erzählende Erinnerung kann nur vorgängige Anekdoten und Fotos wiederholen und muss sich dabei auf die im Zusammenhang mit Benjamin und Barthes beschriebene Dialektik der Porträtfotografie einlassen, Individualität im selben Zug, wie sie sich als singuläre behauptet, als wesentlich imitatorisch, dem Bildprogramm ihrer Zeit unterworfen, zu zeigen.133 Dementsprechend wird die Hinwendung der Mutter zur Anthroposophie vor allem als Beschreibung einer Reihe von Modellen dargestellt: »Die Veränderung Doras zu Dora Mascha war auf den Fotografien zu erkennen. Die intellektuelle, etwas geschwollene Sylphe aus der Töchterschule, mit Korkenzieherlocken im Matrosenkleid erst ԟ dann hätte es Elisabeth Bergner sein können, die in rasender Starre über Rudolf Forsters Arm hängt ԟ Lulu; Anny Ondra, im Stummfilm, Blackmail, anderthalb Stunden hindurch den Ausdruck mörderischen Entsetzens in Händen und Genick. Auf dem nächsten Foto kein dick, glänzend geschminkter Mund, den Paul Newman mit kräftigem Finger auseinanderschmiert. Im nächsten Foto waren Entscheidungen gefallen, Welten eröffnet, Welten verweigert ԟ Dudd. Paradiesisch entzündeter Blick und ungebügelter Tüll.« (GdN, S. 31)
Mit dem Dudd als Kennzeichen schicksalsträchtiger Entscheidungen ist natürlich schon klanglich eine Komik verbunden, die die Hinwendung zum Wesentlichen 131 Vgl. Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 64; Fichte nimmt dieses Fragment auch in sein Lesebuch auf (vgl. Hubert Fichte: Mein Lesebuch. Frankfurt a.M.: Fischer 1976, S. 141). 132 Auch die Großeltern werden an vorheriger Stelle in gleicher Weise beschrieben und bereits dort legt die Art der Beschreibung nahe, dass es sich um eines der typischen Porträtbilder der Jahrhundertwende handeln könnte: »Ida trug drei Unterröcke. / Auf ihrem Kopf saß ein Paradiesvogel. / Paul im schwarzen Gehrock« (GdN, S. 19) (die Angabe der Anzahl der Unterröcke legt natürlich auch nahe, dass es dazu eine Familienerzählung gibt). 133 Vgl. oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Benjamin.
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nach den durchs Kino vermittelten Modellen ironisierend in Distanz setzt. Allerdings trifft auch keiner der vorhergehenden Filmbezüge so zu. Abgesehen von den sehr genau platzierten Fehlern in den Anspielungen134 lassen sich die angeblichen Vorbilder zwar in eine filmgeschichtliche Reihe einordnen, mit der Entwicklung der Mutter, die bereits 1920 ihren ersten anthroposophischen Abend besuchte,135 lässt diese Reihe sich allerdings nicht synchronisieren. Man kann in den fehlerhaften Filmbezügen sicherlich einen Hinweis auf die Unzugänglichkeit einer Vergangenheit sehen, der Jäcki sich nur durch Mutmaßungen über vermeintliche Vorbilder annähern kann. Der Rückgriff auf Fotos und die Zeitreihe, die dabei angenommen wird, stellen aber auch ein Verfahren dar, die Vergangenheit anders zu rekonstruieren als über Hypothesen der Entwicklung mit all ihren narrativen und psychologischen Implikationen. In allgemeiner Hinsicht hat Matthias Bickenbach auf den »Paradigmenwechsel kultureller Erinnerung« mit dem Aufkommen der Fotoalben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hingewiesen, in dessen Rahmen sich »ein neues Dispositiv des Gedächtnisses« bildet, hin zu »dynamisierten Gedächtnissen, die kontingente Zugänge schaffen.«136 Fichtes literarisches Verfahren trägt dieser Entwicklung (ohne dass hier explizit ein Album im Spiel wäre) nicht nur Rechnung, sondern stellt sie in den Dienst der eigenen, literarischen Gedächtnisinszenierung. Die Aneinanderreihung von Fotos vermeidet kontinuitätsstiftende Übergänge und lässt die einzelnen Momente der Biografie bei der Mutter wie der Großmutter ohne Vermittlung aufeinander folgen. Für die Zeitbehandlung in der Geschichte der Nanã, wie für große Teile von Fichtes Werk überhaupt, kann dies allgemein gelten. »Die Erzählungen der Mutter ergaben keine Renaissanceperspektive mehr« (GdN, S. 27). Auf die Übertragung bildlich-räumlicher Verhältnisse in die zeitliche Dimension des Erzählens wurde oben bereits hingewie134 Elisabeth Bergner spielte nicht die Lulu an der Seite von Rudolf Forster in Leopold Jessners Erdgeist-Verfilmung von 1923 (welche als Vorbild allerdings einen starken Kontrast zur Lehrmeinung Rudolf Steiners abgäbe: »Wedekind, hatte der Dr. verordnet, wirkt wie die Pest!« (GdN, S. 33); vgl. zu Jessners Verfilmung: http://www.filmportal. de/film/erdgeist_3b64566add29407692a913cd84463c12 (zuletzt geprüft am 20.8.2012)); Blackmail (1929) war gerade kein Stummfilm, sondern der erste britische Tonfilm (vgl. den Eintrag »Erpressung« im Lexikon des internationalen Films. Hg. v. Horst Peter Kroll. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2002, Bd. 1, S. 799), und Paul Newmans schauspielerische Karriere begann natürlich nach den hier erzählten zwanziger Jahren. 135 Vgl. GdN, S. 28. 136 Matthias Bickenbach: Das Dispositiv des Fotoalbums: Mutation kultureller Erinnerung. Nadar und das Pantheon. In: Jürgen Fohrmann (Hg.): Medien der Präsenz. Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Köln: DuMont 2001, S. 87-128, S. 115; vgl. zu Fotoalben in der Literatur: Monika Schmitz-Emans: Literatur ԟ Fotografie ԟ Erinnerung. In: Der Deutschunterricht 57/6 (2005), S. 63-72, S. 67.
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sen. An dieser Stelle steht der Metapher der Anekdoten, die sich in ihrer Gliederung nicht mehr auf einen organisierenden Fluchtpunkt hin ausrichten lassen, eine Zeitbehandlung gegenüber, die sich wohl eher mit der flächigen Struktur kubistischer Collagen vergleichen ließe. Im Vorwort der ethnologischen Studie Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão, an der Fichte zeitgleich zur Abfassung der Geschichte der Nanã arbeitete, findet sich die Überlegung: »Kann ich Zeit als Material zerlegen? / Kann Geschichte wie Eis erstarren und zur Erforschung in Schichten zerschnitten werden?«137 Zweifellos weisen diese Metaphern eine gewisse Nähe zur ›gefrorenen Zeit‹ im Foto auf, aber es geht hier nicht um eine medientheoretische Metaphorologie, sondern um die Verfahren eines Erzählens, das ԟ hierin durchaus wieder Proust vergleichbar138 ԟ Chronologie als diskontinuierliche Abfolge von Bildern fasst. An einer späteren Stelle werden die Bilder der Mutter im Rahmen eines Gesprächs mit Irma erneut aufgezählt und im vorhergehenden Dialog mit der Bilderfolge eines Films oder eines Abblätterheftchens verglichen: »Im Quecksilber der Spiegel sieht man die Zeit vergehen, behauptet Cocteau. Auf den Standfotos findet man sie wieder. / […] Wenn man Fotos schnell nacheinander aufblättert, wird es ein Film« (GdN, S. 77). Fotos werden zum Medium und zum Modell einer Erinnerung, die sich aus kolportierten Fragmenten zusammensetzt. Anders als etwa bei Perec erfolgt dies hier nicht über die intensive Beschreibung einzelner Bilder, deren sprachliche Form den Hinweis auf ein in den Fotos Abwesendes und Vergessenes enthält. Auch wenn, wie noch deutlich wird, bei Fichte stellenweise vergleichbare Verfahren zur Anwendung kommen, findet das lückenhafte Wissen von der Vergangenheit seinen Ausdruck hier eher in der ständigen Neuordnung von Versatzstücken und in den Neuansätzen, die teilweise bereits berichtete Ereignisse in einem der späteren Kapitel unter einem anderen Aspekt wieder erzählen. Eine Darstellung, die auf Entwicklung und Kontinuität als Ordnungsprinzipien der Zeit verzichtet, kann Zusammenhänge auf andere Weise, als Korrespondenzen, herstellen. Ausgerechnet im Kontext einer Passage, in der Jäckis Hadern mit dem familiären Erbe seine wörtliche Entsprechung findet, scheint durch solche Korrespondenzen in Fotografien eine andere, unbekannte und unerkannte Genealogie auf. Hatte er bereits früher sich geweigert, wie der Großvater eine Beamtenlaufbahn beim Zoll einzuschlagen oder überhaupt einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen, will Jäcki nun auch nicht das Haus und den Besitz der Familie übernehmen. Lediglich ein Bild des Großvaters nimmt er an: »Ein Bild darf man erben. Es ist dünn, schmal. Es bleibt, wenn sich die Erinnerungen an Bilder auflösen« (GdN, S. 17). Die Stelle kann wieder als ԟ zunächst positiv konnotierter ԟ Hinweis auf das Phantasma eines Beharrens der Vergangenheit im Bild gelesen werden. Das Bild ist al137 Hubert Fichte: Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 2. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 19. 138 Vgl. oben, Abschnitt 5 im Kapitel zu Proust.
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lerdings nicht so handlich wie erhofft: »Es war kein dünnes Bild. / Es hatte einen kotfarbenen Gipsrahmen. / Es war schwer verglast. / Ein Meter im Quadrat« (GdN, S. 17). Das Bild ԟ ein Gruppenfoto aus der Militärzeit des Großvaters um die Jahrhundertwende ԟ kann selbst als Metapher für ein Familienerbe gelesen werden, dessen Wirkung auf den Pazifisten Jäcki in der Farbe des Rahmens wohl hinreichend charakterisiert ist. Bei der weiteren Beschreibung lässt sich den Brauntönen auch ein politischer Sinn unterlegen: »Dahinter, kakaobraun, die Ziegelmauer. / Zu ihren [d.i. der Kompagniekameraden] Füßen, schon auf dem Passepartout, alle Namen, die jetzt auf Grabsteinen standen, auf Massengräbern, Heldengedenktafeln, Listen von Lagermuseen, zerfallen, überwuchert, gepflegt, eingebaggert« (GdN, S. 18). Neben der manifesten militärisch-preußischen Tradition, in der der Großvater, der später Mitglied der NSDAP wurde, auch steht, verweist das Bild zugleich auf die Opfer dieser Tradition, nicht nur die anonymen Gefallenen, sondern jene, denen, weil sie Juden waren, in den dreißiger Jahren auch ihre frühere Zugehörigkeit zum Militär oder ein Veteranenstatus nichts mehr half, deren Namen sich auf den Listen der Konzentrationslager fanden und die in Massengräber geschaufelt wurden. Dem Bild ist so, mit dem Verb ›einbaggern‹, ein anderes Foto unterlegt, das Jäcki als Kind in der Zeitung gesehen haben dürfte: das bekannte Bild der Bagger, mit denen britische Soldaten nach der Befreiung Bergen-Belsens die Leichen in Gruben schieben mussten. Im Weiteren tritt aber auch beim Bild des Großvaters eine Art Überblendung auf, die Kontinuitäten und Korrespondenzen anderer Art aufscheinen lässt. Jäcki vergleicht es bei seiner Betrachtung mit einem anderen Foto: »Hakennase am quadratischen Gesicht des Greises, in Ekstase zur Seite gerissen, Paßfoto. Es war ein weiches Gesicht. Ungenau zu erkennen. Verhohlene Züge. Es hätte das Gesicht von Jäckis Mutter sein können. Als sie noch klein war. ԟ Vor der Bekehrung! ԟ Mein eigenes. Mit acht, vor dem Terrorangriff. Jäcki nahm die Lupe. Tschakkos, Knöpfe, Glanzlichter des Leders waren nicht mehr zu entziffern. ԟ Wenn man ein Raster vergrößert, wird es undeutlicher. Das Gesicht des siebzehnjährigen Fourragiers Paul zerfiel in kakaofarbenes Gewurm. Jäcki legte die Lupe wieder weg. Über dem fingernagelgroßen Gesicht ging eine Veränderung in Jäcki vor. Er begriff, daß unter dem Paßfoto des zeternden Greises ein andres Bild verborgen war, das Bild einer Nymphe oder eines Baumfräuleins.« (GdN, S. 18)
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Die Betrachtung eines Fotos mit einer Lupe und ihre Vergeblichkeit stellen beinahe so etwas wie einen eigenen Topos literarischer und natürlich filmischer Bezugnahmen auf die Fotografie dar. Doch selbst wenn hier die Vergrößerung keine weitere Erkenntnis ermöglicht, ist sozusagen im Abstand zwischen den beiden Bildern des Großvaters etwas zu erkennen, das der militärischen Strenge des Sujets entgeht und den Anschluss an eine versteckte, weiblich und mythenhaft-phantastisch konnotierte Familienähnlichkeit erlaubt. Im Passfoto ist es nicht mehr, nur als Abwesendes, zu sehen, im Jugendbild dagegen nicht genau zu erkennen, tritt aber im Verhältnis beider Bilder und im Bezug auf das eigene Bild und das der Mutter hervor. Dies jedoch als Veränderung im Betrachter, der darin einen Teil seiner selbst erkennt. In einer Erweiterung von Hirschs Konzept der postmemory und der dabei, gerade im Zusammenhang mit Fotos, relevanten Kategorie des ›familialen Blicks‹ hat Silke Horstkotte mit Mieke Bal zwischen zwei Arten des Blicks unterschieden: »dem objektivierenden gaze, der seine historische und körperliche Spezifizität negiert, und dem glance, einer aktiven, engagierten und körperlichen Form des Sehens«.139 Letztere Form kennzeichnet in der Tat auch Jäckis Blick. Allgemein ließe sich Hirschs Bestimmung ihres Konzepts auf die Gedächtnisinszenierung in der Geschichte der Nanã beziehen: »postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation.«140
Fruchtbar wird Hirschs Konzept für die Analyse von Fichtes Roman allerdings gerade dann, wenn man das Augenmerk auf jene Momente richtet, die darin nicht aufgehen. Zentral für die postmemory ist, dass allgemeinere, einem kulturellen Gedächtnis zuzuordnende Zusammenhänge und traumatische Erfahrungen in einem familiären Rahmen verkörpert oder ausagiert werden,141 oder dass sie zumindest als »›affiliative‹ postmemory« die familiäre Konstellation zum Vorbild nehmen: »Familial structures of mediation and representation facilitate the affiliative acts of the postgeneration. The idiom of the family can become an accessible lingua franca easing identification and projection across distance and difference.«142 Nun ist nicht 139 Vgl. Horstkotte: Nachbilder, S. 125; vgl. auch Mieke Bal: Double Exposures: The Subject of Cultural Analysis. New York, London: Routledge 1996, S. 255 ff. 140 Hirsch: Family frames, S. 22. 141 Vgl. Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. In: Poetics Today 29/1 (2008), S. 103-128, S. 111. 142 Ebd., S. 115.
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nur die familiäre Identifikation selbst in der Geschichte der Nanã durchaus problematisch, sondern auch der zentrale Fokus von Hirschs Gedächtnistheorie, die Erinnerung an den Holocaust in der zweiten Generation, ist bei Fichte bzw. seinem Protagonisten aus der Genealogie selbst, durch die frühzeitige Flucht des Vaters, verschwunden. Die Genealogie, die beim Bild des Großvaters projektiv zumindest in Teilen gerettet wird, ist im Hinblick auf den Vater nur als generische, nicht als singuläre Zugehörigkeit, als »Halbjude« nach den Nürnberger Rassegesetzen, erfahrbar. Im Waisenhaus gibt es eine Szene, in der Detlev sein eigenes Bild auf die Kriterien dieser Zugehörigkeit gemäß der Nazi-Propaganda hin überprüft: »ԟ Deine Ohren sind so groß wie Judenohren, sagte die Lehrerin […]. Wenn Detlev allein im Waschsaal war, […] sah Detlev sich in den Spiegeln die Ohren an. Auf dem Abort zog er ein Foto von sich aus dem Brustbeutel, […]. ԟ Meine Lippen sind dick. ԟ Ich habe eine Locke im Haar. ԟ Ich bin weiß im Gesicht. ԟ Mein Kinn steht nicht vor.«143
Während die Identifikation beim Foto des Großvaters noch über ein ins Bild projiziertes singuläres, wenn auch nicht näher bestimmbares, Merkmal lief, ist sie hier zwar nicht weniger phantasmatisch, geht aber vom Besonderen ins Allgemeine. »In dieser kurzen Textstelle […] ist bereits ein ganzes Repertoire an antisemitischen Stereotypen, die sich an körperliche Zuschreibungen heften, festgehalten. […] Detlev ahmt hier den Blick der anderen nach, die seinem Körper bestimmte Merkmale zuschreiben und ihn fragmentieren.«144 Er kann sich nur an den antisemitischen Stereotypen orientieren, da er das Bild seines Vaters nicht kennt. Das Foto des Vaters kann hinsichtlich der Funktion der Fotografie in Die Geschichte der Nanã als zentrales, aber abwesendes Bild angesehen werden. Ähnlich wie die Bilder der Konzentrationslager stellt der jüdische Vater ein prägendes und daher ständig präsentes, aber relativ selten erwähntes Element in Fichtes Werk dar.145 Sein Foto wird bereits in Detlevs Imitationen kurz erwähnt, wenn die Mutter 1945 erzählt, dass sie wegen ihrer Verlobung mit einem anderen Mann ihre Jugendfotos verbrannt habe. »War ein Bild meines Vaters dabei?« (DIG, S. 99), will Detlev daraufhin wissen, worauf sie antwortet, sie wisse nicht, ob sie es jetzt oder schon bei Detlevs Geburt verbrannt habe. In Die Geschichte der Nanã wird die Episode ohne diese Unsicherheit wieder erwähnt: 143 Hubert Fichte: Das Waisenhaus. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 10. 144 Tanja Hetzer: Kinderblick auf die Shoah. Formen der Erinnerung bei Ilse Aichinger, Hubert Fichte und Danilo Kiš. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 97. 145 Vgl. zum Vater auch Engelmann: »Welches Vergessen«, S. 101, S. 106.
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»Von Jäckis Vater wurde nur zwei Mal gesprochen: Als die Mutter sagte, daß er Jude war. Und als die Mutter Jäcki aufklärte. Sie gewöhnten sich an, darüber zu schweigen. […] Die Mutter zeigte einmal ein Foto von ihm. Im Hintergrund ein unscharfer Mann, der lächelte. Dora Mascha verbrannte es nach ihrer Verlobung mit Guschi, […]. 45. Das letzte Feuer des Krieges. Das brennende Bild des Juden. Der Name wurde ein einziges Mal ausgesprochen.« (GdN, S. 35)146
Bedenkt man die auf das Erbe bezogene Bemerkung, dass ein Bild »bleibt, wenn sich die Erinnerungen an Bilder auflösen«, ist es dann nicht umso gravierender, wenn das einzige Bild, das vom Vater blieb, verbrannt ist? Es geht an dieser Stelle freilich nicht um die Sehnsucht nach der Person des Vaters; das Problem ist vielmehr bereits ins Allgemeine erweitert.147 Als ›letztes Feuer des Krieges‹ weist das brennende Bild des Juden schon ins Historische, als ob die Verbrennung der Leichen ihren letzten Nachhall im Verbrennen des Fotos fände und zugleich das Verschweigen und Verdrängen der Nachkriegszeit vorwegnähme. Dass es die Mutter ist, die das Foto verbrannt hat, charakterisiert zweifellos wieder das problematische Verhältnis zur Mutter, im vorliegenden Kontext geht es mir jedoch eher um die Implikationen dessen für das Verhältnis von Fotografie und Erinnerung, das hier in den Rahmen familiärer Konflikte gestellt wird. Die Übertragung der Vernichtung und ihres späteren Verschweigens ԟ aber auch ihres ungreifbaren Fortlebens ԟ in den familiären Kontext folgt einer anderen als der mit Hirschs postmemory beschriebenen Dynamik, insofern sie eine idenfikatorische Projektion vor dem Foto ausschließt. Gleichzeitig radikalisiert die beschriebene Konstellation das Problem der postmemory, denn die persönliche Verbindung zum traumatischen Ereignis ist 146 Dass die Mutter Jäcki tatsächlich einmal ein Bild seines Vaters gezeigt hat, widerspricht der Aussage, es sei nur zweimal von ihm gesprochen worden ԟ jedenfalls dann, wenn man die entsprechenden Situationen, wie sie im Waisenhaus bzw. in Detlevs Imitationen erzählt werden, heranzieht, denn dort ist von einem Foto keine Rede (vgl. Fichte: Das Waisenhaus, S. 164 ff.; DIG, S. 105). 147 Darauf, dass die Vaterlosigkeit bei Fichte eine allgemeinere Konstellation impliziert, hat auch Hans Mayer hingewiesen, dies aber auf den Mangel eines Über-Ich in einer vaterlosen Gesellschaft bezogen (vgl. Hans Mayer: Hubert Fichte: Auf der Suche nach dem Vater. In: Ders.: Zeitgenossen. Erinnerung und Deutung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 188-208, S. 192 ff.).
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durch eine Distanz blockiert, die über den Generationenunterschied hinausgeht und sich in der familiären Problematik spiegelt. Fotografien bieten hier keine Möglichkeit, diese Distanz projektiv zu überwinden,148 sondern sie sind selbst, wie das Bild vom Fenster der Gartenlaube oder die Postkarte des Waisenhauses, Stellvertreter traumatischer Komplexe. Es fällt auf, dass das Motiv des Verbrennens auch in anderen Kontexten mit Fotos verbunden wird: bei den Postkarten vom Waisenhaus, die Jäcki »am liebsten verbrannt« (GdN, S. 48) hätte, bei Jäckis Gedanken, ein Negativ könne man »verbrennen, ohne dass es jemand gesehen hat«,149 aber auch bei den Fotos der Konzentrationslager, die Detlev in Detlevs Imitationen auf der Kohlenschaufel entdeckt.150 Jedesmal steht die Verbindung im Zusammenhang mit Problemen des Erinnerns und Vergessens.151 Dies gilt auch für den Bezug auf das Negativ, der in der entsprechenden Passage im Forschungsbericht ja, wie gezeigt, im Rahmen einer versteckten Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit der Fotografie gelesen werden kann und sich auf deren Status als Gedächtnismedium im Kontrast zur Literatur beziehen lässt. In der Fotografie würde demnach ein Moment sichtbar, das sich der literarisch vermittelten Dynamik von Erinnern und Vergessen entzieht. Fotos sind in den genannten Fällen meist mit traumatisch besetzten Ereignissen verbunden und stehen darin dem literarischen Schreiben nicht einfach entgegen, wie dies in der Literatur zur Fotografie allgemein vor allem unter Berufung auf Proust so oft angenommen und in die Dichotomie von authentischem und medialem Erinnern übersetzt wird. Gerade das Beispiel der Postkarte vom Waisenhaus zeigt, dass auch das literarische Erinnern trügerisch ist. Die Dichotomie von Literatur und Fotografie in Fichtes Werk – soweit sich überhaupt von einer Dichotomie sprechen lässt ԟ ist freilich selbst wieder literarisch vermittelt und funktional äußerst vielfältig. Zentral sind zweifellos jene Stellen, an denen Fotos ein ›Anderes‹ des Gedächtnisses darstellen, das sich dessen erzählerischer Fassung nicht vollständig assimilieren lässt, aber auch nicht vergessen werden kann. Das abwesende Bild des Vaters, das dessen Abwesenheit verdoppelt und durch seine Verbrennung auf die allgemeine Bedrohungssituation verweist, die Detlevs bzw. Jäckis und sicherlich auch Fichtes Leben prägte, ist hier zu nennen, aber ebenso die Bilder, die man mit einem Begriff der antiken Rhetorik imagines 148 Vgl. zu dieser Funktion von Fotos: Hirsch: The Generation of Postmemory, S. 116. 149 Fichte: Forschungsbericht, S. 42. 150 In der Geschichte der Nanã heißt es, die Fotos seien »im Mülleimer« (GdN, S. 45) versteckt worden, was zwar die Motivreihe relativiert, in der Sache aber keinen Unterschied macht. 151 Ein weiteres Beispiel wäre der Matrose Paul, von dem nur noch sein Sohn und ein Foto übrig sind: »Oder vielleicht ist auch alles verbrannt. Der Junge und die Fotografien« (DIG, S. 35). Vgl. zum Matrosen Paul: Engelmann: »Welches Vergessen«, S. 88 ff.
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agentes nennen könnte, die als Stellvertreterbilder aber unerträgliche, traumatische Bilder hervorrufen. In ihrer Wirkung stehen sie dem Schockmoment der Entdeckung der Bilder aus den KZs nahe und wären dem, was Paech »ent/setzte Erinnerungen« nennt,152 vergleichbar. Dieser Schock, der sich für Jäcki mit dem Schrecken der Bombardierung verbindet, führt besonders in Detlevs Imitationen ›Grünspan‹ zu Versuchen, die Zeitlichkeit des Erzählens zu suspendieren und einen selbst wiederum fotografisch konnotierten Effekt des Stillstands zu erzeugen. Das Erzählen nähert sich in seinem eigenen Medium damit bildlichen Darstellungsformen an. In der Geschichte der Nanã kann eine Entsprechung dessen im Rückgriff auf Fotos als Gedächtnismedien in einem eher konventionellen Sinne, als Anstoß für Erinnerungen, gesehen werden. Weniger die visuelle Gestaltung der Seite oder die Reflektionen über die Möglichkeiten des Stillstands in der Sprache stehen dabei im Vordergrund als ein diskontinuierliches Erzählen, dessen Struktur sich an die Überlegungen zur Montage anschließen lässt. Auch hier werden die Brüche zwischen den Fragmenten akzentuiert, jedoch zugleich, wie dies Fichtes Schreiben allgemein kennzeichnet, die über intertextuelle Vernetzungen verfahrende ständige Aktualisierung und neuerliche Verdichtung vorhergehender Komplexe. Auf beiden Ebenen bleibt die Vergangenheit präsent: semantisch in der Wiederholung, strukturell in den Brüchen zwischen Textstücken, die Präsenz punktuell, nicht als Ablauf konzipieren. Die Metaphern für diese beiden Ebenen, die Fichte in den Dialogen von Jäcki und Irma mit dem Weitwinkelobjektiv, das »Teile unverbunden nebeneinander bestehen lassen«153 könne, und dem Teleobjektiv, das Entferntes in einem Bild verdichte, gefunden hat, haben nach seinem Tod eine Art fotografisches Postskriptum gefunden. Es gibt von Leonore Mau zwei »Trauerbilder« aus Portugal.154 Sie zeigen ein schwarz verhülltes Gebäude, aufgenommen aus verschiedenen Perspektiven, einmal ԟ soweit sich das rekonstruieren lässt ԟ mit dem Weitwinkel-, einmal mit dem Teleobjektiv.
152 Paech: Ent/setzte Erinnerung, S. 29; vgl. oben, im Kapitel zu Fotografie und Literatur nach Auschwitz. 153 Fichte: Versuch über die Pubertät, S. 304. 154 Abgebildet in Schoeller: Hubert Fichte und Leonore Mau, S. 452 f.
Fremdheit und Authentizität der Erinnerung in Christa Wolfs Kindheitsmuster
Fichtes Geschichte der Nanã umkreiste mit der Rekonstruktion der Familiengeschichte auch einen Gegenstand, der sich seit den neunziger Jahren zu einem zentralen und äußerst populären Thema der deutschen Literatur entwickelt hat. Zweifellos ist dieses Phänomen »Teil einer größeren Umschichtung im Erinnerungsdiskurs der Berliner Republik, in der in einer Art ›verspäteter Empathie‹ die Nachgeborenen Anschluß an die Leiden und die Kriegstraumata ihrer Vorfahren suchen«,1 und als solche »Umschichtung« nicht immer unproblematisch. Geht das wiedererwachte Interesse für die Leiden der deutschen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges und in seiner Folge bei aller eventuellen guten Absicht im Einzelnen immer auch mit der Gefahr einer Opferkonkurrenz oder gar -relativierung einher, so droht zugleich die Konzentration auf die Familie die entsprechende Erinnerung aus dem Bereich ihrer historischen Kontextualisierung (bzw. Verstrickung) tendenziell herauszuführen: »Den ›Familienroman‹ ›Familienroman‹ zu nennen verstärkt die Illusion des Privaten und verleugnet dessen eminent geschichtlichen Charakter. Der Begriff sollte daher nicht gebraucht werden.«2 Gewiss gibt es eine Tendenz, Geschichte und Nationalität als quasi naturwüchsige Größen in Parallelität zur Familie zu konstruieren, und die veränderte politische Situation Deutschlands nach der Vereinigung trägt zu dieser »Wende des Erinnerns«3 wohl ebenso bei wie die Verände-
1
Helmut Schmitz: Annäherung an die Generation der Großväter: Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land und Thomas Medicus’ In den Augen meines Großvaters. In: Bios 2 (2006), S. 247-266, S. 147.
2
Gerhard Friedrich: Opfererinnerung nach der deutschen Vereinigung als »Familienroman«. In: Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 205-222, S. 219.
3
Vgl. Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin: Erich Schmidt 2006;
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rung intergenerationeller Dynamiken durch den anderen Zugang der ›Enkelgeneration‹ zu ihren mittlerweile zu sogenannten Zeitzeugen nobilitierten Großeltern, mit allen Auswirkungen, die dies auf das kommunikative Gedächtnis innerhalb der Familien hat.4 Wenngleich vor allem die ersten beiden Aspekte in Romanen wie z.B. Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land durchaus ihren Niederschlag finden,5 ließen sich auch Texte wie etwa Marcel Beyers Roman Spione anführen, in denen gerade die Familie als Schauplatz der Geschichte und vor allem des Verschweigens von Geschichte thematisiert wird.6 Dass in beiden Fällen Fotografien eine zentrale Rolle spielen, verwundert nicht angesichts der Bedeutung von Fotos in der familiären Erinnerung, deren literarische Figuration bereits bei Fichte und unter wesentlich katastrophaleren Vorzeichen bei Perec beobachtet werden konnte. Anstelle dieser oder anderer Beispiele aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, die bereits aus dem der vorliegenden Arbeit gesteckten zeitlichen Rahmen
im Vorwort schreiben die Hg. unter Berufung auf einen Tagungsbericht »dass ›das Fragezeichen […] getrost gestrichen werden kann‹« (S. 17). 4
Vgl. hierzu die Untersuchung von Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 2002.
5
Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt a.M.: Fischer 2003.; vgl. dazu u.a. meine allerdings eher polemische Auseinandersetzung: Jan Gerstner: Ein unverzichtbares Land. Der deutsche Familienroman und die Nation. In: testcard 18: Regress (2009), S. 142-148 sowie: Silke Horstkotte: Die Geister von Auschwitz. Fotografie und spektrale Erinnerung in Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land und Neue Menschen. In: Anne De Winde/Anke Gilleir (Hg.): Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Amsterdam: Rodopi 2008, S. 273-297; Matthias Fiedler: Das Schweigen der Männer: Geschichte als Familiengeschichte in autobiografischen Texten von Dagmar Leupold, Stephan Wackwitz und Uwe Timm. In: Weimarer Beiträge 53/1 (2007), S. 5-16; Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: Beck 2007, S. 81 ff.; Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 185 ff.
6
Marcel Beyer: Spione. Köln: DuMont 2000; vgl. dazu u.a. Kai M. Sicks: Die Latenz der Fotografie: Zur Medientheorie des Erinnerns in Marcel Beyers Spione. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 102/1 (2010), S. 38-50; Marie Louise Wasmeier: The Past in the Making: Invented Images and Fabricated Family History in Marcel Beyer’s Spione. In: Julian Preece/Frank Finlay/Ruth J. Owen (Hg.): New German Literature: Life-Writing and Dialogue with the Arts. Oxford u.a.: Lang 2007, S. 343-358; Stefanie Harris: Imag(in)ing the Past: The Family Album in Marcel Beyer’s Spione. In: Gegenwartsliteratur: A German Studies Yearbook 4 (2005), S. 162-184.
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fallen würden,7 steht mit Christa Wolfs Kindheitsmuster im Folgenden ein Text im Mittelpunkt, der als einer der »Vorläufer« gegenwärtiger Familienromane gelten kann.8 Die Familiengeschichte dient hier durchaus nicht der kontinuitätsstiftenden Rekuperation deutscher Geschichte im Rahmen des familiären Zusammenhalts, sondern konzentriert sich mit dessen Einbindung in die Alltäglichkeit des Nationalsozialismus auf den ›gewöhnlichen Faschismus‹ und versucht, die individuellen Prägungen der Erzählerin durch diesen freizulegen: »Kindheit nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch nationalsozialistische Kindheit.«9 Standen in den vorhergehenden Kapiteln vor allem Texte von Autoren im Mittelpunkt, die in der ein oder anderen Weise der Bedrohung durch den Nationalsozialismus als potentielle oder reale Opfer ausgesetzt waren, geht es abschließend also mit der Erinnerung an Täter und Mitläufer um einen Versuch, ein aus entgegengesetzten Gründen problematisch gewordenes Gedächtnis und damit anders geartete Prozesse der Verdrängung literarisch zu erfassen. An die bisher behandelten Texte von Semprun, Perec und Fichte lässt sich Kindheitsmuster anschließen, insofern es auch hier um die fik7
Vgl. zur Fotografie in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur die Untersuchung von Horstkotte: Nachbilder; zu den erwähnten Beispielen Beyer und Wackwitz vgl. ebd. S. 201 ff., S. 253 ff.
8
Vgl. Eigler: Gedächtnis und Geschichte, S. 27 f.; Helmut Schmitz: On their own terms. The legacy of National Socialism in post-1990 German fiction. Birmingham: University of Birmingham 2004, S. 28.
9
Lothar Baier: Wo habt ihr bloß alle gelebt. Christa Wolfs »Kindheitsmuster«, 1994 wiedergelesen. In: Text + Kritik 46: Christa Wolf (4. Auflage: Neufassung) (1994), S. 59-67, S. 64; in der Forschungsliteratur wird immer wieder auf den Gegensatz hingewiesen, in den sich Kindheitsmuster damit zur vorherrschenden Geschichtspolitik der DDR setzte, vgl. u.a. Nury Kim: Allegorie oder Authentizität. Zwei ästhetische Modelle der Aufarbeitung der Vergangenheit: Günter Grass’ Die Blechtrommel und Christa Wolfs Kindheitsmuster. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1995, S. 152 ff.; Robert C. Holub: Fact, fantasy, and female subjectivity. »Vergangenheitsbewältigung« in Christa Wolf’s Patterns of childhood. In: Elke Frederiksen (Hg.): Facing fascism and confronting the past. German women writers from Weimar to the present. Plaza, Albany (NY): State University of New York Press 2000, S. 217-234, der zudem auf den Wandel im Frauenbild hinweist; zu etwas kritischeren Einschätzungen vgl. Anke Pinkert: Pleasures of fear. Antifascist myth, Holocaust, and soft dissidence in Christa Wolf’s Kindheitsmuster. In: German Quarterly 76/1 (2003), S. 25-37; Anne Rothe: Das Dritte Reich als antifaschistischer Mythos im kollektiven Gedächtnis der DDR. Christa Wolfs »Kindheitsmuster« als Teil- und Gegendiskurs. In: Moshe Zuckermann (Hg.): Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Göttingen: Wallstein 2003, S. 87-111; zur weiteren Einordnung in den Kontext der DDR-Literatur vgl. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau 2000, v.a. S. 321 f.
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tionalisierende Verarbeitung autobiografischer Erfahrung geht,10 bei der die Schwierigkeit der Erinnerung ihren Niederschlag in der Wahl eines fiktionalen Diskurses findet. »Das Vergangene ist nicht tot; es nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd«11 heißt es gleich im ersten Satz in Anlehnung an ein bekanntes Zitat aus William Faulkners Requiem for a Nun.12 Um von der Vergangenheit überhaupt erzählen zu können, muss diese, gerade weil sie nicht tot ist, in der fiktionalen Form gleichsam verfremdet, auf eine andere Person geschoben werden. Erzählt wird auf drei Zeit- und Handlungsebenen: Zunächst einer Erzählebene,13 die ԟ zumindest im Text ԟ von 1972 bis 1975 die Abfassung begleitet, ihre Schwierigkeiten kommentiert und von Reflektionen zum Begriff des Gedächtnisses und zu tagespolitischen Ereignissen durchbrochen ist. Daneben wird von einer Reise ins polnische »L., heute G.« (KM, S. 10), der Stadt, in der die Erzählerin ihre Kindheit und Jugend verbrachte, im Sommer 1971 erzählt. Auf diesen beiden Ebenen kann von einer Identität der Erzählerin ausgegangen werden, die im Text jedoch wiede10 Vgl. zur Autobiografie-Frage: Linhua Chen: Autobiographie als Lebenserfahrung und Fiktion. Untersuchungen zu den Erinnerungen an die Kindheit im Faschismus von Christa Wolf, Nicolaus Sombart und Eva Zeller. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1991 (Chen geht es allerdings v.a. um eine klare Zuordnung zur Gattung Autobiografie), S. 50 ff.; vgl. auch Walter Rankin: Autobiographical fiction vs. fictional autobiography. Christa Wolf’s »Kindheitsmuster« and J.M. Coetzee’s »Foe«. In: Comparative Literature Studies 36/4 (1999), S. 306-319; Sandra Frieden: »Falls es strafbar ist, die Grenzen zu verwischen«: Autobiographie, Biographie und Christa Wolf. In: Angela Drescher (Hg.): Christa Wolf. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt a.M.: Luchterhand 1990, S. 121-139. 11 Christa Wolf: Kindheitsmuster. Berlin, Weimar: Aufbau 61981, S. 9 (Künftig als KM im Text zitiert). 12 In der deutschen Übersetzung von 1956 heißt es: »Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.« (William Faulkner: Requiem für eine Nonne. Roman in Szenen. Aus dem Amerikanischen von Robert Schnorr. Zürich: Diogenes 1982 (= Werkausgabe Bd. 15), S. 106); zur Karriere des Zitats, das auch Anlass für etwas kuriose Plagiatsvorwürfe von Alfred Andersch gegen Wolf war, vgl. Helmut Peitsch: »The past is never dead. It’s not even past«. Ein Faulkner-Zitat und deutsch-deutsche Vergangenheitsbewältigung. In: Jochen Vogt (Hg.): Das Amerika der Autoren. Von Kafka bis 09/11. München: Fink 2006, S. 279-298. 13 Auch wenn auf den anderen Handlungsebenen erzählt wird, ist es diese metanarrative Ebene, der auch der eigentliche Akt des Erzählens zuzuordnen wäre. Wolf selbst benennt in ihren Tagebüchern vier Ebenen, indem sie das, was hier als Erzählebene bezeichnet wird, weiter in »Manuskriptebene« und »Gegenwartsebene« unterteilt (vgl. Sonja Hilzinger: Entstehung, Veröffentlichung und Rezeption. In: Christa Wolf: Werke. Hg. v. Sonja Hilzinger. Band 5: Kindheitsmuster. München: Luchterhand 2000, S. 647-659, S. 649)
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rum durch die Anrede in der zweiten Person Singular in eine Distanz zur übergeordneten Erzählinstanz gesetzt ist. Schließlich gibt es die dritte, eigentliche Vergangenheitsebene, die von der Kindheit und Jugend der 1929 geborenen Nelly Jordan, dem ›abgetrennten‹ Alter Ego der Erzählerin, bis 1947 handelt. In der Verbindung mehrerer Zeit- und Erzählebenen, der Einbindung von Nachrichten zur aktuellen Tagespolitik der Erzählgegenwart, Teilen der Personenkonstellation (v.a. den Dialogen zwischen Mutter und Tochter in der Gegenwart) und der thematischen Konzentration weist Kindheitsmuster Parallelen zu Uwe Johnsons zum Teil vor bzw. während der Abfassung des Textes erschienenen Jahrestagen auf,14 unterscheidet sich von diesen allerdings durch eine stärkere autobiografische Grundierung und die daran gekoppelte ständige Problematisierung des Schreib- und Erinnerungsprozesses. Zu den Recherchen der Erzählerin in Bibliotheken, um die alten Zeitungen ihres Heimatorts zu lesen, und ihrer Lektüre von Schulbüchern der dreißiger und vierziger Jahre, für die sich auch Parallelen in den Nachforschungen von Johnsons Gesine Cresspahl finden ließen, kommt bei Wolf noch die topografische Vermittlung der Erinnerung durch die Reise in die Geburtsstadt hinzu.15 Fotografien, die in Johnsons Roman ebenfalls eine schon öfters untersuchte Rolle spielen,16 nehmen bei der Annäherung an die eigene Vergangenheit in Kindheitsmuster eine 14 Vgl. zu einem kommentierenden Überblick zur entsprechenden Diskussion: Kristin Felsner: Perspektiven literarischer Geschichtsschreibung: Christa Wolf und Uwe Johnson. Göttingen: V&R unipress 2010, S. 15 ff., v.a. S. 17, Anm. 8, S. 199; Felsner geht es demgegenüber weniger um die Ähnlichkeiten als um »die Ursachen für die Unterschiede in beider Werk« (ebd., S. 19); zum Vgl. von Kindheitsmuster und Jahrestage vgl. ebd., u.a. S. 199 ff., S. 420 ff., S. 466 ff., S. 588 ff., S. 636 ff.; vgl. außerdem: Odile Jansen: Die Wahrheit der Erinnerung. Trauma, Identität und Geschichtskonstruktion bei Uwe Johnson und Christa Wolf. In: Johnson-Jahrbuch 12 (2005), S. 145-155; Stefanie Gödeke-Kolbe: Die zwiespältige Schmerzbehauptung des mütterlichen Mitläufertums. Charaktertypen in Uwe Johnsons »Jahrestagen« und Christa Wolfs »Kindheitsmuster« im Vergleich. In: Johnson-Jahrbuch 11 (2005), S. 177-190; Robert K. Shirer: Difficulties of saying »I«. The narrator as protagonist in Christa Wolf’s Kindheitsmuster and Uwe Johnson’s Jahrestage. New York u.a.: Lang 1988, S. 47 ff. 15 Vgl. dazu Schaal: Jenseits, S. 236 ff. 16 Vgl. dazu Frank Mardaus: Fotografische Zeichen. Uwe Johnsons Bildprogramm in den »Jahrestagen«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008; Neumann: Eine Literaturgeschichte der Photographie, S. 283 ff.; Zetzsche: Die Erfindung photographischer Bilder, S. 218 ff.; Wolfgang Martynkewicz: Doppelt belichtet. Einige Bemerkungen zum Stellenwert von Photographie und Bildfiktion in den »Jahrestagen« von Uwe Johnson. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum 4 (1996), S. 143-154; Johan Nedregard: Gedächtnis, Erfahrung und »Foto-grafische Perspektive«. Zu den »Jahrestagen«. In: Text + Kritik: Uwe Johnson 65/66 (1980), S. 77-86.
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wichtige Rolle ein, die allerdings über den bloßen Status als Erinnerungsanstoß hinausgeht. Ungewöhnlich ist bereits die Form, in der die Fotos vorliegen. Der größte Teil von ihnen ist verschwunden: »Du begannst Fotos zu sichten, die nur spärlich zur Verfügung stehen, denn das dicke braune Familienalbum wurde wahrscheinlich von den späteren Bewohnern des Hauses an der Soldiner Straße verbrannt« (KM, S. 16). Bei der Flucht vor der heranrückenden Roten Armee hat die Familie 1945 das Album zurückgelassen. Wenn die Erzählerin darüber nachdenkt, weshalb Charlotte Jordan, die Mutter, damals in letzter Minute entschied, nicht mit der übrigen Familie im Lieferwagen nach Westen zu fahren, sondern das Haus der Familie zu bewachen, dann liegt dem nicht nur die bange Frage zugrunde, ob die Mutter bei einer vollständigen Einschätzung ihrer Lage nicht doch für die Sicherheit ihrer Kinder gesorgt hätte. Es stellt sich auch die Frage nach der Möglichkeit, etwas von der Vergangenheit aufzubewahren: »Hätte sie, Charlotte, es auch nur im entferntesten für möglich gehalten, daß sie ihr Haus nicht mehr betreten, kein Stück seines Inventars je wiedersehen würde ԟ hätte sie dann nicht das dicke braune Familienalbum eingepackt, an Stelle des ganzen Plunders, den sie doch nach und nach aufgaben […]?« (KM, S. 38). Die Fotos treten an die Stelle des Besitzes, ihr Verlust scheint einem Verlust der Vergangenheit insgesamt gleichzukommen. Anders aber als etwa beim verbrannten Foto von Jäckis Vater in Fichtes Geschichte der Nanã lässt sich hier nicht einfach eine Parallele zwischen dem Verlust eines Teils der Vergangenheit und dem der Fotos herstellen. Nicht das Bild »bleibt, wenn sich die Erinnerungen an Bilder auflösen« (GdN, S. 17), sondern »Fotos, die man oft und lange betrachtet hat, brennen schlecht. Als unveränderliche Standbilder sind sie dem Gedächtnis eingedrückt, es ist bedeutungslos, ob man sie als Beweisstück vorlegen kann« (KM, S. 39). Die Fotos werden selbst zu Gedächtnisbildern und das bedeutet in Wolfs Roman umgekehrt auch, dass es Gedächtnisbilder gibt, denen eine ähnliche Evidenz und Faktualität wie Fotos zugesprochen wird. »Die Kombination ›…Familie (alte Fotoalben, Erinnerungen)‹ [KM, S. 316] geht in die Sprache der Erinnerungen ein.«17 So wie die Erinnerung an die Fotos eine der Fotografie vergleichbare Authentizität bekommt ԟ bis hin zur Übertragung der Spur-Metaphorik als wichtigem Element fotografischer Authentizitätsbegründungen ԟ, wird auch an anderen Stellen die Semantik des Beweises und des Dokuments unterschiedslos auf Fotos und Gedächtnisbilder angewandt: Ist einerseits etwas »durch das Foto belegt« (KM, S. 112), so kann es andererseits dort, wo »es […] keine fotografischen Belege gibt, […] genaue Erinnerungsbilder« (KM, S. 425) geben, es kann ein »inneres Bild, 17 Jörn Rietsch: Versuch über einen Versuch. Gedanken über den Blick auf Geschichte in Christa Wolfs Roman ›Kindheitsmuster‹. In: Weimarer Beiträge 38 (1992), S. 68-84, S. 72; vgl. auch ebd. zu weiteren Beispielen für diese Tendenz.
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dessen Authentizität unleugbar ist« (KM, S. 211), angeführt werden und beim Fehlen einer exakten Erinnerung werden äußere und innere Bilder in einem Atemzug genannt: »es gibt weder Fotos noch Gedächtnisbilder« (KM, S. 53). Auf dieser Ebene der Gedächtnisinszenierung des Textes gibt es keine Zweifel am Realitätsgehalt der Fotografie; die Problematik des Bildes liegt, wie sich zeigen wird, woanders. Fotos stoßen außerdem, wenn sie vorliegen, Erinnerungen an, etwa, wenn die Erzählerin im Hotel der polnischen Stadt G. vor einem Bild des Stadttheaters sich an ihre ersten Theaterbesuche erinnert.18 Während der Reise fotografiert die Erzählerin oder erwirbt Fotos und Postkarten,19 um mit dieser »zweiten Generation von Fotos« die Erinnerung anhand der »Anhaltspunkte, des belichteten Zelluloids, der Schriftzüge in vielerlei Papieren, der Notizbücher, Briefe, Ausschnittmappen« (KM, S. 112) erhalten, aber freilich nie ganz einholen zu können. Ein Versuch, den fotografischen Moment schreibend in der Erinnerung einzuholen, findet sich gleich im zweiten Kapitel. Eines der verschwundenen, aber dem Gedächtnis ›eingedrückten‹ Fotos aus dem Album zeigt Nelly im Alter von drei Jahren bei einem Familienausflug: »Das Bildchen ԟ vermutlich von Onkel Walter Menzel bei einem Familienausflug der Jordans am Bestiensee geknipst, denn die Jordans besaßen keine Kamera ԟ bringt Bewegung in das System der Nebenfiguren […]« (KM, S. 39). Das Foto hat so eine klare Funktion im Text. Die familiären Konstellationen werden aber nicht durch ein Gruppenfoto, sondern ausgehend von einem Bild der Hauptperson und der daran anknüpfenden Imagination der Aufnahmesituation in die Erzählung eingeführt: »Wen interessieren diese Leute? Der Vorgang der Namensgebung setzt Bedeutung voraus, verleiht aber auch Bedeutung. […] Die Macht, die du dir über sie nimmst, indem du ihre richtigen Namen in die wirklichen verwandelst. […] Jetzt sollen sie ihr eigenes Leben führen dürfen. Onkel Walter Menzel, Charlotte Jordans jüngerer Bruder, der immer noch seine Kodak gezückt hält, gegen Nelly, seine Nichte. Direkt neben ihm wird Tante Lucie gestanden haben, glückstrahlend mit Walter verlobt ԟ wir schreiben das Jahr 32 […]« (KM, S. 40)
Mit der Imagination einer längst vergessenen Aufnahmesituation ԟ schließlich bleibt nur das fertige Bild als »Standbild« im Gedächtnis ԟ geht die Erinnerung im Text in die eingestandene Fiktion über. Erst diese aber kann der Erzählung eine Bedeutsamkeit verleihen, die im erzählerischen Akt der Namensgebung, der die »richtigen« Namen durch die »wirklichen« ersetzt, eine eigene Authentizität für sich beansprucht. Das im Bild sichtbare Kinderglück freilich ist bereits bei der Beschreibung der Familienkonstellationen, die sich durchaus nicht so harmonisch gestalten, wie es scheinen könnte, gebrochen. Unmittelbar nach der nicht anders als ironisch 18 Vgl. KM, S. 130. 19 Vgl. KM, S. 20, S. 110, S. 160, S. 348.
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lesbaren phrasenhaften Kommentierung »Friede Freude Eierkuchen« (KM, S. 41) folgt das Eingeständnis, dass ein anderer Onkel, Alfons Radde, in der Familie »nicht beliebt« ist, und daran anschließend die Erzählung der kommenden Familienkonflikte. Wie sich in der Jahresangabe die politische Katastrophe schon ankündigt, so wird die Familienidylle des Fotos von diesem Ausblick durchbrochen. Solche Entsprechungen ergeben sich allerdings nur in der nachträglichen Erzählung. Für die Familie Jordan selbst ist 1933 mit keinen größeren Problemen verbunden. Zwar sozialdemokratisch eingestellt, aber politisch nicht sonderlich aktiv, arrangieren sich Nellys Eltern mit den neuen Verhältnissen, lassen sich in die entsprechenden Organisationen eingliedern, von einem Bekannten des Vaters, Leo Siegmann, mit völkischer Literatur samt Hitlerbild ausstatten und profitieren schließlich von der beginnenden Militarisierung durch die Eröffnung eines neuen Ladens in der Nähe der Kasernen. Die Haltung zum System ist durch eine verhohlene leichte Distanz, vor allem aber – von einigen Ausbrüchen der Mutter abgesehen ԟ durch Verschweigen gekennzeichnet. Dies schlägt sich in den Beschreibungen der Fotos nieder. Konnte in den vorhergehenden Analysen der Texte von Opfern des Nationalsozialismus immer wieder festgestellt werden, dass bei Fotobeschreibungen diese auf ein Abwesendes, auf etwas, das der Erinnerung nie vollständig zugänglich ist, verweisen, so bekommt das Abwesende und nicht Gesagte im vorliegenden Fall ein ganz anderes Gewicht. Ein Familienfoto wird im Text zweimal beschrieben: »Eine gute Ehe, so wird es Charlotte später nennen, im ersten Nachkriegsjahr, wenn Bruno Jordan sich noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befinden und Charlotte ein Familienfoto herumzeigen wird, auf dem auch er, in Unteroffiziersuniform, zu sehen ist. Wir haben eine gute Ehe geführt. Ein Geschäftsmann, mein Mann, wie er im Buche steht. Was der anfaßte, klappte. Zwischen den Eheleuten steht – auf dem Foto – der neue niedrige Couchtisch, mit sechzehn Kacheln belegt (in ›bleu‹), von denen die Eckkacheln je ein Segelschiff bei bewegter See aufweisen. Hinter ihm, steil aufgerichtet, auf der rostfarbenen geblümten Couch die Kinder.« (KM, S. 164)
Heinrich Böll führt diese Fotobeschreibung als Indiz dafür an, wie »selbstzufrieden und selbstsicher diese Welt war«,20 und konfrontiert sie mit der später auf der Erzählebene geäußerten Vermutung, »daß Transporte mit Menschen, die für diese Lager [Chełmno, Treblinka und vielleicht Majdanek] bestimmt waren, auch über L. geleitet wurden« (KM, S. 309): »Familienidylle und Vernichtungslager ԟ und die, die in die Lager verschleppt wurden, hatten wahrscheinlich auch ähnliche Familien-
20 Heinrich Böll: Wo habt ihr bloß gelebt? In: Drescher (Hg.): Christa Wolf, S. 91-100, S. 98.
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fotos, die sie mit ähnlichen Kommentaren herumzeigten.«21 Im Kontext illustriert das Bild freilich zunächst einmal das Verschweigen der tatsächlich vorliegenden Eheprobleme der Jordans, das der Hinweis, der Couchtisch stehe »auf dem Foto« zwischen den Eheleuten ԟ als ob sonst nichts zwischen ihnen stünde ԟ in der Beschreibung ironisch nachahmt. Doch spricht dies im Prinzip ebenso wenig gegen Bölls Parallelisierung wie die Tatsache, dass das Bild offenbar Ende 1939 aufgenommen wurde, also noch vor Beginn der »Endlösung«. Diese Datierung zumindest legt die spätere Beschreibung nahe, die zugleich die Frage nach dem, was auf dem Bild nicht zu sehen ist, aufwirft: »Es gibt ein Jordansches Familienfoto, angefertigt vom Unteroffizier Richard Andrack, der nach dem Polenfeldzug, als die älteren Jahrgänge in den Heimatdienst versetzt worden waren, mit Bruno Jordan an einem Schreibtisch im Wehrbezirkskommando saß und der von Berufs wegen Fotograf, nebenberuflich Hypnotiseur war. […] Auf zwei Sesseln und der Couch sitzen Eltern und Kinder nebeneinander und einander gegenüber. Eine gewisse Steifheit vor der Kamera kommt auf Kosten der Ungeübtheit der Fotoobjekte. Immerhin: Steil aufgerichtet blicken sie lächelnd aneinander vorbei, in die vier Ecken des Herrenzimmers. Niemals wird man beweisen können, daß Millionen solcher Familienfotos, übereinandergelegt, etwas mit dem Ausbruch eines Krieges zu tun haben können.« (KM, S. 228 f.)
Hier kommt die Beweiskraft eines Fotos an ihr Ende, wenn man sie – um Barthes zu paraphrasieren ԟ auf das bloße »Das ist gewesen« festlegt, aber vom wissenschaftlichen Diskurs der Geschichte abkoppelt.22 Was in der vorherigen Bildbeschreibung ausgeblendet wurde ԟ die ins Bild der harmonischen Familie kaum passenden verlorenen Blicke der Abgebildeten ԟ, wird nun erwähnt, aber die Uniform des Vaters, die immerhin, zumal im Verbund mit Millionen ähnlichen Bildern, starkes Indiz für einen Kriegsausbruch wäre, bleibt unerwähnt. Die Beschreibung der Bilder verdankt sich nicht allein der heutigen Perspektive; sie ist zum Teil auch eine Art empathischer Beschreibung, wie die häufig verwendete erlebte Rede der Nachvollzug des zeitgenössischen Selbstbetrugs im Umgang mit den Bildern. Diese Art der Beschreibung konterkariert der Text durch die Erwähnung des Fotografen und des Grundes seiner Bekanntschaft mit dem Vater freilich selbst, denn hier kann der Krieg nicht unerwähnt bleiben. Gerade solche Erzähl- und Beschreibungsstrategien, durch unvermittelten Perspektivwechsel Widersprüche zu schaffen, betonen die Anstrengung, die es gekostet haben muss, den wirklichen Charakter des Regimes, unter dem man lebte und das man mittrug, nicht wahrzunehmen. Der ›Nebenberuf‹ des Fotografen Andrack wird an späterer Stelle relevant, wenn er anlässlich der Konfirmation Nellys, zu der er wieder als Fotograf bestellt 21 Ebd., S. 99. 22 Vgl. oben, im Kapitel zu Barthes, Abschnitt 6.
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ist, eine Probe von seinen Künsten bietet und eine Cousine Nellys hypnotisiert. 23 Da die Szene in deutlichem Rückgriff auf die einige Seiten zuvor erwähnte Schullektüre der Tochter der Erzählerin, Thomas Manns Mario und der Zauberer,24 konstruiert ist, kann sie als ein Art Miniaturmodell nationalsozialistischer Verblendung gelesen werden.25 So problematisch dieses Interpretationsangebot des Textes ist, das den gängigen Klischees von Hitler als dem Massenverführer entspräche, gibt es doch auch Hinweise, die auf eine etwas komplexere Verschränkung von Selbst- und Fremdbestimmung hindeuten.26 Bereits Nelly kann sich bei aller Skepsis des Gefühls der Faszination und der Sehnsucht nach Überwältigung nicht entziehen, auch wenn sie sich ԟ im Gegensatz zu ihrem begeisterten Engagement in der HJ ԟ bei der Hypnose doch für die sichere Position entscheidet, »die eine zu beobachten und ein wenig zu beneiden, den anderen zu durchschauen. Und alles ԟ die geheime Sehnsucht, den Neid, das Gefühl von Überlegenheit ԟ vor jedermann zu verbergen« (KM, S. 353). Bei aller Distanz immunisieren die genannten Gefühle kaum vor autoritärer Vereinnahmung, das Verbergen bewirkt da nicht viel mehr. Doch auch eine gelungene Hypnose beruht nicht allein auf der Überwältigung eines Opfers, sondern erfordert, wie Andrack betont, eine gewisse »Sensitivität der Medien« (KM, S. 340). Ob trotz dieser Hinweise auf die Disposition der Beteiligten mit der Hypnose nun wirklich eine geeignete Parabel für den Faschismus gefunden ist – eine Frage, die bereits an Manns Novelle zu richten wäre ԟ, sei dahingestellt. Nellys Reaktion auf Andracks Hinweis zur »erforderlichen Sensitivität der Medien« kann jedoch auch über die skizzierte Lesart hinauswiesen: »Damals hat Nelly das Wort ›Medium‹ zum erstenmal gehört und sofort begonnen, ihm zu mißtrauen. […] Nelly weiß sofort: Sie will kein Medium sein« (KM, S. 340 f.). Bezogen auf die Faschismus-Parabel trifft dies in gewisser Weise zu: Als Scharführerin des BDM arbeitet sie aktiv mit, ist nicht nur passiv getrieben. Die Bemerkung ließe sich zugleich auf den Text anwenden. Als Entwurf der Erzählerin ist Nelly durchaus so etwas wie ein ›Medium‹ zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber auch der Text beruht mit den durch die Erinnerung vermittelten Fotos auf einem von vornherein medial geprägten Gedächtnis und setzt zugleich selbst als Medium dessen Prozesse der Verdrängung und des Vergessens in Szene. Die Vergangenheit liegt nie einfach vor, sie ist durch ihre Medialität bestimmt. Indem sich in den Tätigkeiten der Figur Andrack zwei Aspekte des Begriffs Medium treffen, erweist sich die Szene auch als metaphorische Schnittstelle zwischen der 23 Vgl. KM, S. 339 ff., S. 350 ff. 24 Vgl. KM, S. 321. 25 Vgl. zu einem genaueren Vergleich v. Manns und Wolfs Text: Annette Firsching: Kontinuität und Wandel im Werk von Christa Wolf. Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 108 f. 26 Vgl. im Folgenden Rugg: Picturing ourselves, S. 206 f.
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nationalsozialistischen Prägung der Gesellschaft und der daran anknüpfenden Erinnerung. Rugg deutet in eine ähnliche Richtung, wenn sie die fotografische Darstellung mit dem Leben im Nationalsozialismus zusammenführt: »photographs act as a metaphor for the strictly enforced (framed) limits placed on lives under National Socialism.«27 Es geht mir hier allerdings weniger um eine Entsprechung visueller Repräsentationen zum Leben unter der Diktatur als um den Übergang von internalisierten und äußeren Einschränkungen, mithin von Verhaltensweisen, zu Gedächtnisprozessen. Die Fotos können das Wegsehen, stumme Mitmachen und aktive Verschweigen figurieren und in diesem Sinn durchaus Metaphern für den Alltag der dreißiger und vierziger Jahre in Deutschland bereitstellen: »Diese Sprach-Unmächtigkeit. Gut beleuchtete Familienbilder ohne Worte. […] Keine Aussagen, auch später nicht. Wir hatten alles, was wir uns wünschen konnten. Der Sprache mächtig zu sein stand nicht auf ihrem Wunschzettel« (KM, S. 201 f.). Die Schwierigkeiten, offen zu sprechen, halten sich bis in die beschönigende Erinnerung der Nachkriegszeit durch und bedrohen noch den Versuch, den verdrängten Erfahrungen im Schreiben wieder eine Sprache zu geben: »In der Nacht erst […] wurde dir klar, daß du die Erinnerung, dieses Betrugssystem, zu fürchten, daß du, indem du sie scheinbar vorzeigst, in Wirklichkeit gegen sie anzugehen hast. Die Nachrichtensperre ist noch nicht aufgehoben. Was die Zensur passiert, sind Präparate, Einschüsse, Fossilien mit einem furchtbaren Mangel an Eigentümlichkeit. Fertigteile, deren Herstellungsprozeß ԟ an dem du, wie du nicht leugnen wirst, beteiligt bist ԟ zur Sprache gebracht werden muss.« (KM, S. 202)
Die Metaphern der Zensur, die zweifellos auch die DDR-Gegenwart der Erzählerin treffen könnten, sind hier wohl eher als Übertragung aus dem Nationalsozialismus zu lesen.28 Der metaphorische Verweis auf die internalisierten Zwänge der Vergangenheit führt gleichzeitig die wohl bekannteste Zensur-Metapher des 20. Jahrhunderts, die psychoanalytische,29 auf ihren Herkunftsbereich zurück und schließt beide kurz. Die ehemaligen Redeverbote sind längst Mechanismen der Verdrängung geworden, die die Bewusstwerdung der eigenen Verstrickung ins NSSystem verhindern.
27 Ebd., S. 193. 28 Zu den geologischen Metaphern vgl. die Ausführungen bei Sabine Wilke: Ausgraben und Erinnern. Zur Funktion von Geschichte, Subjekt und geschlechtlicher Identität in den Texten Christa Wolfs. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 50 ff. 29 Vgl. zur Herkunft des Begriffs bei Freud: J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 21975, Bd. 2, S. 640 f.
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Dass Wolfs Kindheitsmuster auch als Versuch eines Durcharbeitens im psychoanalytischen Sinne gelesen werden kann, der sich insbesondere an Alexander und Margarete Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern orientiert, wurde bereits des Öfteren bemerkt.30 Inwiefern dieser Versuch im Text zu einem Abschluss kommt, wird noch zu diskutieren sein. Es geht dabei selbstverständlich nicht um eine eventuelle therapeutische Wirkung literarischen Schreibens, sondern zunächst einmal um die Verfahren, mit denen der Text innerpsychische und politische Zensur verbindet und in seinen Gedächtnisentwurf integriert. Bereits im Zusammenhang mit den Familienfotos wurde gezeigt, wie durch die verschiedenen Kommentare zum Bild dieses, gerade weil es dazu geeignet ist, dessen Realitäten auszublenden, als Hinweis auf den beginnenden Krieg gelesen werden kann. Umso mehr gilt das für die Zeit der deutschen Kriegsvorbereitungen, »was wir später ›Vorkrieg‹ nennen werden« (KM, S. 186): »Nellys Assoziation zu dem Stichwort ›Vorkrieg‹ würde wohl lauten: Das weiße Schiff« (KM, S. 189).31 Auf die Lösung für das lange rätselhafte Bild eines weißen Schiffes und dessen Verbindung zum Krieg stößt die Erzählerin erst im Rahmen ihrer Recherchen in der Staatsbibliothek: »Im April 1937 hat also der ›General-Anzeiger‹ die Nachricht verbreitet, Guernica sei nicht bombardiert, sondern von den Bolschewisten mit Benzin übergossen und angezündet worden. Kein Foto natürlich. Dagegen ist der Stapellauf des KdF-Schiffes ›Wilhelm Gustloff‹ fotografiert worden, und der ›General-Anzeiger‹ bringt das Bild, das dir, wie du es so ansiehst, gar nicht fremd vorkommt. Ganz im Gegenteil sogar. Ein weißes Schiff, aus dessen Schornstein freudiger Rauch quillt und dessen Bugwelle ein weiß schäumendes Dreieck bildet… Schneller blätterst du die großen brüchigen Blätter um: Lief hier nicht Nellys weißes Schiff vom Stapel?« (KM, S. 192)
Hier ist es ganz wörtlich die Zensur bzw. Propaganda der nationalsozialistischen Zeitung, die ein Bild des deutschen Kriegsverbrechens unterdrückt und so beim Kind für die Assoziation des spanischen Bürgerkriegs mit dem danebenstehenden 30 Vgl. u.a. Barbara Dröscher: Subjektive Authentizität. Zur Poetik Christa Wolfs zwischen 1964 und 1975. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, S. 128 ff.; auf die Orientierung an Freud weist auch Wittstock in seiner seinerseits entwicklungspsychologisch orientierten Lektüre hin, vgl. Uwe Wittstock: Über die Fähigkeit zu trauern. Das Bild der Wandlung im Prosawerk von Christa Wolf und Franz Fühmann. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, v.a. S. 109; zu einer psychoanalytisch orientierten Interpretation des Romans vgl. auch Christel Zahlmann: Christa Wolfs Reise »ins Tertiär«. Eine literaturpsychologische Studie zu »Kindheitsmuster«. Würzburg: Königshausen & Neumann 1986; vgl. auch Margarete Mitscherlich-Nielsen: Gratwanderung zwischen Anspruch und Verstrickung. In: Drescher (Hg.): Christa Wolf, S. 114-120. 31 Vgl. zu der Episode auch Schaal: Jenseits, S. 246 ff.
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Bild des Schiffes sorgt. Dem psychischen Vorgang der Verschiebung, wie er in der Traumdeutung beschrieben wird,32 geht die Ersetzung und Kontiguität der Zeitungsmeldungen voraus. An die Verbindung Krieg-Spanien-Schiff wird das Kind sich später erinnern, wenn sich im anschließenden Sommerurlaub anlässlich der Bombardierung eines deutschen Schiffs in Spanien Kriegsfurcht verbreitet. 33 Auch diese Geschichte ist, da ein Vetter der Mutter Mitglied der Legion Condor war, wieder mit der Familiengeschichte verbunden. Und natürlich hat nach dessen Rückkehr aus Spanien »keiner aus der ganzen Familie den Vetter, Sohn, Bruder und Onkel Hannes in eine verschwiegene Ecke gezogen und ihm im vertraulichen Ton Fragen gestellt […]. Der spanische Krieg genügte ihnen so, wie er sich im ›General-Anzeiger‹ und im Deutschen Rundfunk abgespielt hat« (KM, S. 197). Das erwähnte Misstrauen gegen das Wort »Medium« ist so auch auf die Medialität der Erinnerung zu beziehen, in dem Sinn, dass diese selbst schon von vorgängigen Medien bestimmt ist, in ihnen die eigenen Verdrängungsvorgänge vorgebildet findet und schließlich in den einzelnen Erinnerungsbildern dem Medium Fotografie vergleichbar verfährt. Die Prozesse des Vergessens und der verschobenen Erinnerungen treten natürlich nicht nur im Verbund mit den Medien der NS-Propaganda auf. Die ohnehin oft fotografisch gefasste Erinnerung stellt mediale Metaphern auch und gerade dann heraus, wenn es um die nationalsozialistische Prägung der eigenen Kindheit und Pubertät – die titelgebenden »Kindheitsmuster«34 ԟ und um das Imaginarium der entsprechenden Propaganda geht. Auch wenn nicht immer Schocks oder eine starke emotionale Besetzung der erinnerten Szene Grund für die quasi fotografische Qualität der Gedächtnisbilder sein müssen, scheint ein solcher Fall vorzuliegen, wenn es heißt: »Auf einmal wird das Bild-Gedächtnis ganz scharf, wie die Linse einer Kamera, und verharrt auf einer einzigen Einstellung: Leo Siegmann, leicht vorgebeugt, die Hand am Weinglas, seitlich von der Stehlampe angestrahlt, die auf seinem blanken Schädel Reflexe macht: Was ihn betrifft, hatte er in seiner Klasse ԟ Realgymnasium, Kaiserzeit, wohlgemerkt! ԟ einen Itzig, einen Judenbengel.« (KM, S. 177)
Die sich anschließende Geschichte, in der Siegmann, ein fanatischer Nationalsozialist, erzählt, wie damals die ganze Klasse aus »Instinkt« morgens dem jüdischen Mitschüler »eine reinhaun« (KM, S. 178) musste, zwingt Nelly dazu, sich in die gleiche Lage zu imaginieren. Die Vorstellung, die ihr letztlich ihre Unfähigkeit vor Augen führt, den »blinden Hass« der antisemitischen Propaganda in den darin im32 Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, S. 305 ff. 33 Vgl. KM, S. 191. 34 Vgl. KM, S. 52.
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plizierten »sehenden Hass« der realen Gewalttat zu übertragen, nimmt die Form eines Films an, der »immer im entscheidenden Augenblick«, dem Moment des Zuschlagens, »reißt« (KM, S. 178). In der Folge verbinden sich diese gescheiterten Versuche eines imaginativ in Gewalt umgesetzten Antisemitismus mit einer Kette von Assoziationen, dem Penis eines Exhibitionisten, Eidechsen, vor allem ihren abgelösten Schwänzen, und Spinnen; eine Signifikantenkette, die um das Wort »unrein« kreist.35 Aus dem Unbehagen, der »Scheu« (KM, S. 181)36, die dies bei Nelly auslöst, heraus stimmt sie »laut, vielleicht überlaut« in ein grausames antisemitisches Lied ein. Zugleich versagt die Imagination auch in Verbindung mit diesem Lied: »Nelly ԟ hat sie je den Kopf des blassen Judenjungen, des ihr schmerzlich bekannten, rollen sehen? Die Antwort lautet nein, und zum Glück ist sie wahr« (KM, S. 181). Die Erleichterung, mit der dies festgestellt wird, lenkt jedoch auch vom tatsächlich vorliegenden Unbehagen ab, dass jenseits dessen die Struktur der »pathischen Projektion«37 des Antisemitismus weiterbesteht: »Heikel bis heute, der Verbindung nachzugehen, die sich damals zwischen dem namenlosen Judenjungen […] und der weißen Schlange [d.i. der Penis des Exhibitionisten] hergestellt haben muß. Was hat der blasse picklige Junge mit Kröten, Spinnen und Eidechsen zu tun? […] Nichts, möchtest du sagen, nichts haben sie miteinander zu tun. So muß die richtige Antwort lauten, und was gäbest du darum, wenn sie auch noch wahr wäre.« (KM, S. 180 f.)
Dies ist die andere ›wahre Antwort‹, die keine Erleichterung verschafft. Die Signifikantenkette des ›Unreinen‹ existiert parallel zur Kette der ›Filmbilder‹, die auf die Demütigung oder gar Ermordung des Juden hinauslaufen, aber vor dem letzten Bild abbrechen. Anstelle dieses fehlenden Bildes steht im Gedächtnis das Bild, von dem die Erinnerung an den antisemitischen Komplex seinen Ausgang nahm: das wie mit einer Kamera erfasste Gedächtnisbild des Antisemiten Siegmann. Wie bei den meisten Gedächtnisbildern in Kindheitsmuster – seien sie nun tatsächlich fotografisch vermittelt oder nicht ԟ müssen dieses Bild und die ihm nachfolgende Imagination auf der Erinnerungsebene erst in der Erzählung auf eine damit verbundene Struktur bezogen werden, die aus der bloßen Gegebenheit der Erinnerung selbst nicht unmittelbar abzulesen ist. In ihrem poetologischen Essay Lesen und Schreiben spricht Wolf von solchen Erinnerungsbildern, die sich im Lauf der Jahre zu festen Klischees verfestigt haben, als »Medaillons«:
35 Vgl. KM, S. 178 ff. 36 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Pinkert: Antifascist Myth, S. 29 f. 37 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 201.
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»Jedermann führt mit sich eine Kollektion kolorierter Medaillons mit Unterschriften, teils putzig, teils grauslig. Bei Gelegenheiten werden sie hervorgeholt und herumgezeigt, weil wir Bestätigung brauchen für unser eigenes beruhigend eindeutiges Empfinden: schön oder häßlich, gut oder böse. Diese Medaillons sind für die Erinnerung, was die verkalkten Kavernen für den Tuberkulosekranken, was die Vorurteile für die Moral: ehemals aktive, jetzt aber durch Einkapselung stillgelegte Lebensflecken. Einst scheute man die Berührung, man verbrannte sich die Finger daran; nun sind sie kühl und glatt, manche kunstvoll zurechtgeschliffen, manches besonders wertvolle Stück hat die Arbeit von Jahren gekostet, denn man muß viel vergessen und viel umdenken und umdeuten, ehe man sich immer und überall ins rechte Licht gerückt hat: das ist es, wozu wir sie brauchen, die Medaillons.«38
Im Anschluss beschreibt Wolf als Beispiel für ein solches »Medaillon« eine eigene Erinnerung wie »ein Stückchen Film«, 39 um dann zu fordern, die »Prosa sollte danach streben, unverfilmbar zu sein. Sie sollte von dem gefährlichen Handwerk ablassen, Medaillons in Umlauf zu bringen und Fertigteile zusammenzusetzen.«40 Eben solche »Fertigteile« (KM, S. 202) sind es nicht zuletzt in Kindheitsmuster, die durch die Erzählung transzendiert werden sollen. Die Metapher der Medaillons, mit ihrer deutlichen Nähe zu Fotos,41 erinnert an die »instantanés« (RTP IV, S. 444), gegen die Proust seine Poetik der mémoire involontaire entwirft. Auch in Kindheitsmuster gibt es Momente, die einem unwillkürlichen Erinnern nahe kommen,42 doch stehen weniger diese Momente im Mittelpunkt des Texts als der Versuch, den »Panzer der Erinnerungsmedaillons zu verflüssigen […], die in ihnen geborgen liegenden Bilder beredt zu machen, mit dem Medium der Sprache hinter jene angeblich unhintergehbare Grenze sich vorzuarbeiten, welche von dem schönen Schein der Medaillons gezogen wird.«43 Lutz Köpnick weist dabei auf die Nähe der Erinnerungsprozesse in Kindheitsmuster zu Benjamins – schließlich ebenfalls an Proust orientierter ԟ in Über einige Motive bei Baudelaire umrissener Gedächtnistheorie hin44 und verknüpft dies weiter mit dessen Überlegungen zur Geschichte.45 38 Christa Wolf: Lesen und Schreiben. In: Dies.: Die Dimension des Autors, S. 463-503, S. 478 f. 39 Ebd., S. 479. 40 Ebd., S. 481. 41 Darauf weist auch Rugg: Picturing ourselves, S. 192, hin. 42 Vgl. KM, S. 94, S. 109. 43 Lutz P. Köpnick: Rettung und Destruktion. Erinnerungsverfahren und Geschichtsbewußtsein in Christa Wolfs Kindheitsmuster und Walter Benjamins Spätwerk. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 84/1 (1992), S. 74-90, S. 79. 44 Vgl. dazu oben, im Kapitel zu Benjamin, Abschnitt 1. In Kindheitsmuster wird gleich zu Anfang auf das »Bucklicht Männlein« aus der Berliner Kindheit angespielt (vgl. KM,
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Auch wenn Benjamins theologisch imprägnierter Begriff des Eingedenkens sich mit Wolfs doch eher traditionell marxistisch geprägter Sicht wohl nicht ganz so leicht auf einen Nenner bringen lässt,46 gibt es Passagen, in denen mit dem Versuch, ein vergangenes Glück durch die Erzählung zu retten, ein Benjamin’sches Motiv erkennbar ist.47 Per Øhrgaard hat, allerdings ohne dabei Benjamin heranzuziehen, auf ein Jugendfoto von Nellys Mutter hingewiesen, auf dem diese mit einem Hut ԟ »(der ihr stand – und wie er ihr stand! doch seit wann achten Mütter darauf, was ihnen steht?)« (KM, S. 122) ԟ zu sehen ist. Die im Bild erkennbare jugendliche Unbeschwertheit der Mutter verschwindet angesichts der Lebensumstände bei Kriegsende ebenso, wie diese Nelly eine vergleichbare Jugend verwehren – das »unnachahmliche Foto« zeigt aber »immerhin eine Möglichkeit, sich das Leben anders vorzustellen.«48 Da das Foto im Gedächtnis jedoch zugleich mit einem Bild des Vaters und seiner künftigen Schwiegermutter verknüpft ist,49 ist es von vornherein auf das Ende dieser Jugend in den Verpflichtungen einer kleinbürgerlichen Ehe verwiesen. Ein Ende freilich, das die Bedingung für die Möglichkeit von Nellys Existenz ist. Als Bild eines Glücks, das aufblitzt, bevor es endgültig vorbei ist, ließe sich das Foto der Mutter aber durchaus im Sinn Benjamins lesen. Weiter führen dürfte der Rückgriff auf Benjamin allerdings bei den Verbindungen der Erinnerung mit den Bezügen auf politische Ereignisse in der Gegenwart der Erzählebene, wie den Vietnamkrieg oder den Putsch in Chile. Sie ließen sich ԟ allerdings mit einigen Abstrichen ԟ unter Bezug auf Benjamins Theorie der Lesbarkeit historischer Momente lesen: »Jede Gegenwart ist durch diejenigen Bilder bestimmt, die mit ihr synchronistisch sind: jedes Jetzt ist das Jetzt einer bestimmten Erkennbarkeit« (GS V.1, S. 578).50 Abstriche sind hier insofern nötig, als gerade der Versuch, Beziehungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit herzustellen, S. 20). Vgl. außerdem Bernhard Greiner: Die Schwierigkeit, »ich« zu sagen: Christa Wolfs psychologische Orientierung des Erzählens. In: DVjs 55 (1981), S. 323-342, der das Buch ausgehend von einer an Benjamin orientierten Darstellung von Freuds Gedächtnistheorie liest; zum Versuch eines expliziten Gegenentwurfs zu Greiner, der dann allerdings nur ein anderes psychologisches Modell an den Text heranträgt, vgl. Arnold Blumer: Identitätsbildung als Bildschöpfung. Am Beispiel von Christa Wolfs Roman »Kindheitsmuster«. In: Acta Germanica 19 (1988), S. 136-143. 45 Vgl. hierzu auch Wilke: Ausgraben und Erinnern, S. 41 ff. 46 Vgl. Greiner: Die Schwierigkeit, S. 333, Anm. 52. 47 Vgl., allerdings nicht immer überzeugend, Köpnick: Rettung und Destruktion, S. 87. 48 Per Øhrgaard: Ein Foto mit Hut - Bemerkungen zu Christa Wolf: Kindheitsmuster. In: Orbis litterarum 42 (1987), S. 375-387, S. 384. 49 Vgl. KM, S. 121. 50 Vgl. auch Köpnick: Rettung und Destruktion, S. 80 f. (Köpnick zitiert eine Stelle aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte).
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bei Wolf fragwürdige Formen annehmen kann, etwa, wenn die Erzählerin unmittelbar nach der Erwähnung des Aufstands im Warschauer Ghetto über die Möglichkeit eines Aufstands der »Schwarzen in ihren Ghettos« (KM, S. 335) in den USA nachdenkt.51 Geht es Benjamin um die Erkennbarkeit eines Moments der Vergangenheit ԟ und was lässt sich hier über den Überlebenskampf der Warschauer Juden erfahren? ԟ, so dienen diese ›Synchronisierungen‹ in Kindheitsmuster eher der Anbindung der Erinnerungserzählung an die Gegenwart der Erzählerin. In diesem Sinn hat Gary Lee Baker die Zitate aus Nachrichtensendungen und die Beschreibungen von Pressefotos auf der Erzähl- und der Reiseebene des Texts wiederum auf Benjamins Kritik der Presse und seine Theorie des Erzählens bezogen.52 Im Gegensatz zu den geschichtsphilosophischen Entwürfen, mit denen der Text nur schwer in Einklang zu bringen ist, trifft der Versuch, das Erzählen an eine Theorie der Erfahrung anzubinden,53 dessen eigenes Vorgehen, die tagespolitischen Meldungen mit dem Prozess des Erzählens der Erinnerung zu vermitteln. Die Pressemeldungen sind im Bezug auf die Gegenwart das, was die »Medaillons« hinsichtlich der Erinnerung sind: Klischees, dazu geeignet, »die Ereignisse gegen den Bereich der Erfahrung abzudichten, in dem sie die Erfahrung des Lesers betreffen könnten« (GS I.2, S. 610). Erst durch die Erzählung müssen sie der Erfahrung assimiliert werden und können so ihrerseits zu einer ›Geschichtsschreibung der Gegenwart‹ beitragen (was die problematischen Parallelisierungen freilich nicht abmildert). Mit einem emphatischen Begriff des Erzählens gegenüber einem Gedächtnis, dessen Bilder als »Andenken« konzipiert werden, in denen die »Vergangenheit als tote Habe inventarisiert« (GS I.2, S. 681) ist, lassen sich auch Formulierungen erklären wie: »Es ist der Mensch, der sich erinnert – nicht das Gedächtnis« (KM, S. 157). Die auf den ersten Blick befremdlich wirkende Trennung betrifft zunächst die Vorstellung vom Gedächtnis als Speicher im Gegensatz zum Erzählen als 51 Vgl. dazu auch Wilke: Ausgraben und Erinnern, S. 68 ff., die diese Parallelisierung allerdings wieder zu retten versucht; vgl. weiter Stefanie Gödeke-Kolbe: Subjektfiguren und Literaturverständnis nach Auschwitz. Romane und Essays von Christa Wolf. Frankfurt a.M. u.a.: Lang 2003, v.a. S. 299; Gödeke-Kolbe weist auf weitere problematische Aspekte der Auseinandersetzung mit Auschwitz hin, allerdings scheint sie manchmal auch literarische Verfahren wie die erlebte Rede oder indirekte Zitate als Aussagen der Erzählerin zu lesen oder gar Wolf selbst anlasten zu wollen (vgl. z.B. ebd. S. 293). 52 Gary Lee Baker: Auntie Times and Elvira’s tears. The montage effect in Uwe Johnson’s »Jahrestage« and Christa Wolf’s »Kindheitsmuster«. In: Internationales Uwe-JohnsonForum 3 (1993), S. 121-138; vgl. zu Benjamin oben, im entsprechenden Kapitel Abschnitt 1 und im Kapitel zu Benjamin und Brecht Abschnitt 2.2. 53 Greiner nennt »Erfahrung« einen »Schlüsselbegriff« für Wolfs Erzählen, stellt ihn aber v.a. in eine Linie mit Bergson und Freud (wobei Benjamin natürlich nicht allzu fernliegt), vgl. Greiner: Die Schwierigkeit, S. 329 f.
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kommunikativer und erfahrungshaltiger Form der Tradierung. In Kindheitsmuster gibt es nun allerdings keine bloße Dichotomie zwischen einem magazinierenden Speichergedächtnis und einem lebendigen, erst im Erzählen zu sich kommenden Erinnern, sondern gerade die sozusagen verstellten54 und unzugänglichen Inhalte des Gedächtnisses sind es, die das Erzählen nötig machen: »[Du wirst] dich fragen müssen, was aus uns allen würde, wenn wir den verschlossenen Räumen in unseren Gedächtnissen erlauben würden, sich zu öffnen und ihre Inhalte vor uns auszuschütten. Doch ist das Abrufen der Gedächtnisinhalte […] wohl keine Sache der Biochemie und scheint uns nicht immer und überall freizustehen. Wäre es anders, träfe zu, was manche behaupten: Daß die Dokumente nicht zu übertreffen sind und den Erzähler überflüssig machen.« (KM, S. 95)
Dass die Zensur der Gedächtnisinhalte bereits die Ebene der Vergangenheit betrifft, wurde gezeigt. Bei einer späteren Überlegung, in deren Rahmen auch das erwähnte Familienfoto vom Kriegsanfang beschrieben wird,55 werden die Dokumente der Vergangenheit dementsprechend auf dieser Ebene in Frage gestellt. Es geht darum, was sich denn geändert hätte, wenn den Menschen in Deutschland alle Dokumente, die spätere Historiker zusammentragen konnten, vorgelegen hätten: »Die Frage stellen heißt sie beantworten« (KM, S. 228). Der pessimistische Befund, der im Familienfoto, in dem trotz des Vaters in Uniform nichts »auf den Ausbruch eines Krieges« (KM, S. 229) hinweisen soll, in ähnlicher Form wiederkehrt, impliziert auch, dass gerade in den historischen Beweisstücken eine wesentliche Dimension, die Verdrängung und der Widerstand, den diese der Erinnerung entgegensetzt, fehlt. Gerade weil Erinnerung keine reine Reproduktion der Vergangenheit, sondern von Vergessen und Verdrängen ebenso gekennzeichnet ist wie von der nachträglichen Bearbeitung, ist das Erzählen nötig, um diesen Prozess nachzuvollziehen. Wolf hat diesen Begriff des Erzählens mit dem in der Folge immer wieder mit ihrem Schreiben assoziierten Begriff der »subjektiven Authentizität« gefasst: »Ich hatte nämlich erfahren […], was es bedeutet, erzählen zu müssen, um zu überwinden; hatte erlebt, daß der Erzähler […] gezwungen sein kann, das strenge Nacheinander von Leben, ›Überwinden‹ und Schreiben aufzugeben und um der inneren Authentizität willen, die er
54 »Verstellung« und »Verstellen« sind wichtige semantische Felder in Kindheitsmuster, vgl. v.a. S. 139 ff.; vgl. dazu Elizabeth Boa: Wolf, Kindheitsmuster. In: Peter Hutchinson/Michael Minden (Hg.): Landmarks in the German novel. Oxford: Lang 2010 (= Britische und irische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 47), Bd. 2, S. 77-92, S. 88 ff. 55 Vgl. KM, S. 228.
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anstrebt, den Denk- und Lebensprozeß, in dem er steht, fast ungemildert (Form mildert aber immer, das ist ja eine ihrer Funktionen) im Arbeitsprozeß mit zur Sprache zu bringen […]«56
Auch wenn dies wie eine Einladung zu rein autobiografischen Lesarten klingt, schließt es die Fiktionalisierung nicht aus.57 Almut Finck, die Wolfs Text als Autobiografie unter dem Aspekt Freudscher Nachträglichkeit liest, weist auf die dabei wirksame »Verquickung von fiktiven und realen Elementen« hin, dank derer die Erinnerungen »nicht konstativ, sondern performativ«58 gestaltet werden: »Eine solche Authentizität beruht nicht auf dem Bemühen, die Erfahrungen des Subjekts in der Vergangenheit möglichst authentisch zu reproduzieren. Es geht vielmehr darum, Erinnerungen als Erfahrungen in ihrer subjektiven Authentizität erst herzustellen, Erfahrungen, die ›gemacht‹ werden, indem Leben und Schreiben, Vergangenheit und Gegenwart, Fakt und Fiktion aufeinandertreffen und ineinander übergehen.«59
In Lesen und Schreiben, an das die zitierten Bemerkungen im Gespräch mit Hans Kaufmann anschließen, findet sich dementsprechend die Formulierung, es sei Aufgabe des Erzählers, »wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung.«60 So naiv die Formulierung »subjektive Authentizität« auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag, in der ein oder anderen Form gehört ein vergleichbarer Anspruch
56 Vgl. Christa Wolf: Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: Dies.: Die Dimension des Autors, S. 773-805, S. 778, zum Begriff »subjektive Authentizität« vgl. auch S. 781. 57 In dem Punkt wäre auch Ackrills Darstellung von Kindheitsmuster zu widersprechen: »In dieser Erzählung sieht sich der Leser mit einer Erzählinstanz konfrontiert, die ihm Fiktionalität und alle damit verbundenen Erfahrungen, wie interesseloses Wohlgefallen und folgen- und verantwortungslose Beteiligung, kurzerhand verbietet. Man merkt, dass es die Ernsthaftigkeit dieses Themas ist, die das auktoriale Spiel mit der Fiktionalität verdrängt. Die Fiktionalität selbst wird da als das kleinere Übel toleriert, als ein Effekt, dem sich die Erzählung nicht entziehen kann, wenn sie überhaupt zur Sprache kommen soll.« (Ursula Ackrill: Metafiktion und Ästhetik in Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.«, »Kindheitsmuster« und »Sommerstück«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 63). Ob Fiktionalität tatsächlich mit »interesselosem Wohlgefallen« beschrieben werden kann, darf angezweifelt werden. 58 Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin: Erich Schmidt 1999, S. 81; zur Nachträglichkeit vgl. S. 57 ff. 59 Ebd., S. 101. 60 Wolf: Lesen und Schreiben, S. 481.
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zum Inventar moderner Poetiken61 und ist zum Beispiel von Überlegungen, wie wir ihnen etwa bei Semprun begegnet sind, nicht weit entfernt. Auch hier bestimmt die von Wolf beschworene »Dimension des Autors«,62 wie gezeigt, nicht nur die autobiografischen Romane, die mehr als das Faktische das Nachleben der Vergangenheit vermitteln wollen, sondern auch die fiktionalen Texte. Sempruns Beharren auf der »fiction« und der Erfindung auch in seinen autobiografischen Texten – »la réalité a souvent besoin d’invention, pour devenir vraie« (EoV, S. 336 f.) ԟ leitet sich dabei nicht zuletzt aus der Diskrepanz der Filmbilder und der eigenen Erfahrung ab.63 In Kindheitsmuster ist die vergangene Erfahrung zunächst einmal tatsächlich oft in fotografisch konnotierten Erinnerungsbildern konserviert und muss erst nachträglich wieder in die Erfahrung des Erzählens überführt werden. Während für Semprun die Notwendigkeit der Fiktion, mithin der Gegensatz von Erfahrung und filmischer Repräsentation, jedoch vor allem an die Schwierigkeit gebunden ist, die eigene Erfahrung des Konzentrationslagers verarbeiten und insbesondere anderen vermitteln zu können, geht es bei Wolf um die Verstrickung in das NS-System. Authentizität, die in Sempruns Fall vor allem aus der Zeugenschaft resultiert und in erster Linie als Kategorie der Rezeption zu betrachten wäre,64 hat für Wolf daher als Forderung an die Textproduktion »zugleich eine literarische und eine moralische Dimension.«65 Als moralische Kategorie, im Sinne absoluter Aufrichtigkeit,66 ist sie für die Textanalyse zunächst wenig ergiebig. Sie kann gleichwohl fruchtbar werden, insofern die moralisch vermittelte Poetik den Text zu widersprüchlichen Lösungen führt. Aufgabe einer »subjektiver Authentizität« verpflichteten Schreibweise wäre es auch, die Klischees der »Erinnerungsmedaillons« aufzulösen und in gelebte Erfahrung zu überführen.67 Anhand einiger der Foto- und Erinnerungsbeschreibungen konnte gezeigt werden, wie diese »Medaillons« tatsächlich im Text auf ihre Ausschlüsse hin befragt und so in eine Erzählung überführt werden. Dies betrifft jedoch 61 Vgl. zum allg. Hintergrund: Knaller: Ein Wort aus der Fremde, v.a. S. 22, zu Wolf vgl. S. 15 f. (naiv erscheint vor dem Hintergrund höchstens noch die Emphase, mit der das Konzept vertreten wird). 62 Vgl. Wolf: Subjektive Authentizität, S. 797. 63 Vgl. v.a. den ersten Teil des Semprun-Kapitels. 64 Vgl. zur damit verbundenen Frage nach der Stellung des Autors: Erich Kleinschmidt: Schreiben an der Grenze. Probleme der Autorschaft in Shoah-Autobiographik. In: Günter (Hg.): Überleben schreiben, S. 77-95, v.a. S. 84 f. 65 Sonja Hilzinger: Nachwort. In: Christa Wolf: Werke. Hg. v. Sonja Hilzinger. Band 5: Kindheitsmuster. München: Luchterhand 2000, S. 599-606, S. 604. 66 Vgl. Felsner: Perspektiven, S. 45 f. 67 Vgl. Wolf: Lesen und Schreiben, S. 481; Felsner: Perspektiven, S. 51 f.; Greiner: Die Schwierigkeit, S. 330.
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in erster Linie die Gegenwart der Erzählebene, die erzählte Ebene der Erfahrung des Kinds Nelly bleibt der Erzählerin dagegen nicht ohne Grund allzu oft fremd. Gerade dort, wo »Nelly am tiefsten beteiligt war, Hingabe einsetzte, Selbstaufgabe, sind die Einzelheiten, auf die es ankäme, gelöscht. […] Weil es nämlich unerträglich ist, bei dem Wort ›Auschwitz‹ das kleine Wort ›ich‹ mitdenken zu müssen: ›Ich‹ im Konjunktiv Imperfekt: Ich hätte. Ich könnte. Ich würde. Getan haben. Gehorcht haben.« (KM, S. 303). Das Wissen, zur Gruppe der Täter gehört zu haben, und sei es nur potentiell, ist mit ein Grund für die fiktionalisierende ›Abspaltung‹ des Kindes in eine Erzählung in der dritten Person und die beinahe konsequente Vermeidung der ersten Person Singular. Die Glaubwürdigkeit auf der Erzählebene verlangt geradezu die ›inauthentische‹ Abspaltung der Vergangenheit, das heißt eine Darstellung, in der die »Dimension des Autors« nur durch dessen Fremdheit zum Gegenstand deutlich werden kann. Auch unter diesem Aspekt ist die Funktion der fotografisch vermittelten Erinnerungen im Text zu betrachten. Im Zusammenhang mit Kracauers Spätwerk konnten wir sehen, dass die Fotografie nicht nur mit dem Versprechen eines ›realistischen Bildes‹ verbunden ist, sondern darin auch der Distanznahme zu dieser Realität dienen kann.68 Der fiktionalisierenden Verfremdung der Kindheit der Erzählerin im Kind Nelly entspricht die häufige Verwendung in ihrer fotografischen Fassung fremd gewordener Erinnerungen. »Christa Wolf’s narrator uses the photographic medium to capture herself both as subject and object of her discourse […].«69 Man kann diesen Prozess der Objektivierung in einer Szene beobachten, die, im Text als alternativer Anfang inszeniert, gleichzeitig recht paradoxe Strategien der Authentifizierung der Erinnerung aufweist. »Frühere Entwürfe«, heißt es, hätten mit dem Moment angefangen, in dem das Kind »zum erstenmal in seinem Leben in Gedanken zu sich selbst ICH sagt« (KM, S. 11). Die Erinnerung an diesen Augenblick ist allgemein recht selten: »Du aber hast eine wenn auch abgegriffene Original-Erinnerung zu bieten, denn es ist mehr als unwahrscheinlich, daß ein Außenstehender dem Kind zugesehen und ihm später berichtet haben soll, wie es da vor seines Vaters Ladentür saß und in Gedanken das neue Wort ausprobierte, ICH ICH ICH ICH ICH […] Nein, kein fremder Zeuge, der so viele unserer Erinnerungen an die frühe Kindheit, die wir für echt halten, in Wirklichkeit überliefert hat. Die Szene ist legitimiert.« (KM, S. 12)
Es ist auffällig, wie sehr zur Bekräftigung der Authentizität der Erinnerung auf Ausdrücke rekurriert wird, die eigentlich auf eines der objektivierten »Medaillons« hindeuten müssten: die Erinnerung ist »abgegriffen«, aber dennoch ein »Original« und »legitimiert«. Im Anschluss versetzt sich die Erzählerin, ganz wie es in Lesen 68 Vgl. oben, Abschnitt 3 im Kapitel zu Kracauer. 69 Rugg: Picturing ourselves, S. 214.
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und Schreiben für eine Prosa, die keine »Medaillons« produziert, gefordert wird,70 in die Perspektive des Kindes, schildert seine Sinneseindrücke und die Umgebung, ohne es jedoch selbst zu beschreiben: »Das Kind selbst aber, das nun zu erscheinen hätte? Kein Bild. Hier würde die Fälschung beginnen. Das Gedächtnis hat in diesem Kind gehockt und hat es überdauert. Du müßtest es aus einem Foto ausschneiden und in das Erinnerungsbild einkleben, das dadurch verdorben wäre. Collagen herstellen kann deine Absicht nicht sein. Vor dem ersten Satz wäre hinter den Kulissen alles entschieden. Das Kind würde die Regieanweisungen ausführen: man hat es ans Gehorchen gewöhnt. […] Aus dem Wohnzimmerfenster hätte die Mutter nun das Kind zum Abendbrot zu rufen, wobei sein Name, der hier gelten soll, zum erstenmal genannt wird: Nelly!« (KM, S. 12 f.)
Für die weitere Erzählung kann es nicht ohne Folgen sein, dass der Name des Kindes im Rahmen einer als Verfälschung abgelehnten und nur im Konjunktiv durchgespielten Erzählhaltung in den Text eingeführt wird. So wie der als Verfälschung abgelehnte Rückgriff auf Fotos auf den folgenden Seiten tatsächlich mehr als einmal die Erinnerung leiten wird, so ist auch die Protagonistin dieser Erzählungen, auch wo sie nicht im Konjunktiv stehen, schon mit ihrem »Taufakt« (KM, S. 13) als die »Nachahmung entlarvt« (KM, S. 14), die eigentlich um der authentischen Erinnerung willen verhindert werden sollte. Doch gerade eine solche Erinnerung ist unmöglich, denn sie würde unweigerlich auf den Moment hinführen, in dem das »Ich«, das mit dem Kind ins Spiel gebracht wurde, zusammen mit Auschwitz gedacht werden müsste. Es bleibt nur der falsche Name. »Nun kannst du sie schon mit keinem anderen Namen mehr anreden: Dabei ist es dein Wunsch und Wille gewesen, sie so und nicht anders zu nennen. Je näher sie dir in der Zeit rückt, desto fremder wird sie dir. […] Nelly ist nichts anderes als ein Produkt deiner Scheinheiligkeit. Begründung: Wer sich zuerst alle Mühe gibt, aus einer Person ein Objekt zu machen und es sich gegenüberzustellen, kann nur scheinheilig sein, wenn er sich später beklagt, daß er sich diesem Objekt nicht mehr aussetzen kann; daß es ihm immer unverständlicher wird.« (KM, S. 278 f.)
»Subjektive Authentizität« als moralische Haltung (soweit sie innerhalb des Textes verwirklicht werden soll) kann hier nur noch darin bestehen, sich die eigene Scheinheiligkeit einzugestehen. Hinsichtlich der Erinnerung aber droht das, was an früherer Stelle als Ziel der Gedächtnisarbeit geschildert wurde, zu scheitern:
70 Vgl. Wolf: Lesen und Schreiben, S. 480 f.
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»man erwirbt sich Rechte auf ein so beschaffenes Material [d.i. die Erinnerung], indem man sich mit ins Spiel bringt und den Einsatz nicht zu niedrig hält. […] Schließlich kann man ein Spiel mit sich um sich beginnen. Ein Spiel in und mit der zweiten und dritten Person, zum Zwecke ihrer Vereinigung.« (KM, S. 209)
Eben auf diese Vereinigung scheint das Ende abzuzielen, wenn die Erzählerin zum ersten Mal die erste Person Singular verwendet: »Das Kind, das in mir verkrochen war – ist es hervorgekommen? Oder hat es sich, aufgescheucht, ein tieferes, unzugänglicheres Versteck gesucht? Hat das Gedächtnis seine Schuldigkeit getan? Oder hat es sich dazu hergegeben, durch Irreführung zu beweisen, daß es unmöglich ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen, die da heißt: sich nicht kennenlernen zu wollen? Und die Vergangenheit, die noch Sprachregelungen verfügen, die erste Person in eine zweite und dritte spalten konnte ԟ ist ihre Vormacht gebrochen? […] Ich weiß es nicht. Nachts werde ich ԟ ob im Wachen, ob im Traum ԟ den Umriß eines Menschen sehen, der sich in fließenden Übergängen unaufhörlich verwandelt, durch den andere Menschen, Erwachsene, Kinder, ungezwungen hindurchgehen. Ich werde mich kaum verwundern, daß dieser Umriß auch ein Tier sein mag, ein Baum, ein Haus sogar […] Halbbewußt werde ich erleben, wie das schöne Wachgebilde immer tiefer in den Traum abtreibt in immer neuen, nicht mehr in Worte faßbaren Gestalten, die ich zu erkennen glaube. Sicher, beim Erwachen die Welt der festen Körper wieder vorzufinden, werde ich mich der Traumerfahrung überlassen, mich nicht mehr auflehnen gegen die Grenzen des Sagbaren.« (KM, S. 530)
Die endgültige Ich-Findung realisiert sich als performativer Widerspruch, in Form von Fragen, die die verwendete Ich-Form selbst wieder in Zweifel ziehen. »Am Ende steht ein Paradox: Ein ›Ich‹ erscheint, das jedoch die Möglichkeit seiner Existenz selbst in Frage stellt.«71 Von einer »Wiedervereinigung von Kind und erwachsener Person, von Erzählerin und Autorin, deren Integration in ein selbstbewußtes Subjekt«72 kann darum kaum die Rede sein. Dass das Ziel einer »Konsolidierung des Ich in der Gegenwart«73 nicht erreicht wird, wurde auch als Hinweis auf ein »Ich« gelesen, »das seine Existenz nicht auf absoluten Gewißheiten, son71 Felsner: Perspektiven, S. 196. 72 Catherine Viollet: Nachdenken über Pronomina. Zur Entstehung von Christa Wolfs »Kindheitsmuster«. In: Drescher (Hg.): Christa Wolf, S. 101-113, S. 111; vgl. zu einer ähnlich optimistischen Einschätzung: Kim: Allegorie und Authentizität, S. 187. 73 Finck: Autobiographisches Schreiben, S. 57.
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dern auf dem prinzipiellen Zweifel an der eigenen Identität gründet«74 und letztlich im »Wunschtraum eines polymorphen Selbst, […] der angstlosen Erfahrung von Alterität im Selbst«75 mündet. »Yet while the hypothetical dreamer speaks of different modalities of existence, there has been nothing in the novel itself that would make such flexibility seem possible.«76 In der Tat ist der Traum, der von Wolf offenbar erst nachträglich ins Manuskript eingefügt wurde,77 als Ende wenig überzeugend. Innerhalb eines Textes, der es sich zum Vorsatz gemacht hat, eine verdrängte Vergangenheit im Medium der Sprache aufzuarbeiten, bekommt der Vorsatz, sich »nicht mehr gegen die Grenzen des Sagbaren« auflehnen zu wollen, einen merkwürdig resignativen Unterton. Dass der Roman aber den »Endpunkt, […] wenn zweite und dritte Person wieder in der ersten zusammenträfen, mehr noch: zusammenfielen« (KM, S. 453), nicht erreicht bzw. selbst in Zweifel zieht, ist indessen nicht als ästhetisches Scheitern auszulegen. Wenn Barbara Dröscher vom »Eindruck eines Scheiterns am großen Entwurf« spricht, das, weil »Christa Wolf auf authentischer Vermittlung der Schreibsituation besteht«, von dieser auch offengelegt werde und im letzten Kapitel zur Rücknahme dieses Entwurfs führe,78 dann scheint sie dem Text eine Prozesshaftigkeit zu unterstellen, die dessen formale Geschlossenheit, bei der das »Ich« am Ende dem Moment des »Ich«-Sagens am Anfang entspricht,79 ignoriert. Überzeugend ist das »Scheitern« von Kindheitsmuster vielmehr darin, dass die leitmotivisch wiederkehrende Frage »Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?« (KM, u.a. S. 276, S. 418) unbeantwortet bleibt. Sie zu beantworten, hätte verlangt, die Geschichte einer gelungenen ›Konversion‹ vom Nazi zur überzeugten Sozialistin zu erzählen.80 Gerade am Ende aber häufen sich die »mechanischen Aufzeichnungen« des ›äußeren Gedächtnisses‹ (KM, S. 363 f.). Indem die Vergangenheit ihre fotografisch indizierte Fremdheit behält, wird die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht zum abgeschlossenen Ergebnis einer vollzogenen Läuterung, sondern zur Aufgabe einer immer neu anzugehenden erzählerischen Auseinandersetzung in der Gegenwart.
74 Schaal: Jenseits, S. 225 f. 75 Finck: Autobiographisches Schreiben, S. 106; vgl. ähnl. auch bei Schaal: Jenseits, S. 226. 76 Judith Ryan: The uncompleted past. Postwar German novels and the Third Reich. Detroit: Wayne State University Press 1983, S. 148. 77 Vgl. Felsner: Perspektiven, S. 196, Anm. 512. 78 Vgl. Dröscher: Subjektive Authentizität, S. 172 ff. 79 Vgl. Felsner: Perspektiven, S. 195, Schaal: Jenseits, S. 225. 80 Greiners These, dass die Antwort auf die Frage schon im früheren Nachdenken über Christa T. gegeben worden sei, erscheint mir dagegen wenig überzeugend (vgl. Greiner: Die Schwierigkeit, S. 335).
Schluss
In einem Aufsatz zum »gewachsenen Interesse gegenwärtiger Literatur an ihrem Konkurrenzmedium« konstatiert Daniel Fulda einen »entscheidenden intermedialitätsgeschichtlichen Einschnitt« im Umgang von »Generationenerzählungen« seit den späten neunziger Jahren mit der Fotografie: »hier wird der Photographie erstmals neidlos zugestanden, etwas zu leisten, was die Literatur selbst nicht vermag, wovon sie aber profitieren kann, und zwar nicht durch Abgrenzung, sondern durch Anschluss, etwa indem sie Photographien ausdeutet oder mögliche Geschichten zu ihnen entwirft. […] Das entscheidende Novum ist, um dies zu unterstreichen, dass die (fast) unbezweifelbare Referentialität der Photographie nicht länger als ›Anderes‹ der Literatur und damit als Widersacher oder – selbstlegitimatorisch gewendet – als Widerlager der literarischen Fiktion betrachtet wird, sondern als Stütze einer nicht unbedingt fiktionalen Literatur, die deren semiotische Möglichkeiten erweitern kann. Vom bislang typischen Umgang der Literatur mit Photographien – also von deren Vermeidung, Herabsetzung oder referentieller Entleerung – setzt sich dies augenfällig ab.«1
Als mögliche Gründe dafür nennt Fulda einerseits eine gegenüber dem 20. Jahrhundert geringere Scheu vor Referentialität in der Gegenwartsliteratur, die sich gerade im Rahmen aktueller Gedächtnisdiskurse stärker auf Konzepte der Überlieferung und (meist sekundären) Zeugenschaft stützt als auf areferentielle Fiktionalität, andererseits das Aufkommen der Digitalfotografie, das nicht nur die ›Konkurrenzsituation‹ zwischen Literatur und analoger Fotografie entschärft, sondern auch die Be-
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Daniel Fulda: Am Ende des photographischen Zeitalters? Zum gewachsenen Interesse gegenwärtiger Literatur an ihrem Konkurrenzmedium. In: Wolf Gerhard Schmidt/Thorsten Valk (Hg.): Literatur intermedial. Paradigmenbildung zwischen 1918 und 1968. Berlin, New York: De Gruyter 2009, S. 401-433, S. 409 f.
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schäftigung mit Letzterer selbst wieder zu einer historischen Angelegenheit werden lässt.2 Beide Begründungskomplexe erscheinen durchaus plausibel. Die Beispiele, die Fulda dann untersucht ԟ die Erzählung »Paul Bereyter« aus Sebalds Ausgewanderten und Marcel Beyers Spione ԟ sind ihm zufolge allerdings noch dem »traditionellen Paradigma literarischer Beziehungen zur Photographie verpflichtet.«3 Dies mag zutreffen, könnte aber ebenso als Hinweis darauf gelesen werden, dass die These des Paradigmenwechsels bestimmte literarische Strategien im Umgang mit Fotos im Rahmen einer weiter reichenden Deutungsperspektive als »neu« deklariert. In ihrer Studie zur deutschen Gegenwartsliteratur, in der sie ebenfalls einige der von Fulda als Beleg für seine These genannten Texte untersucht ԟ unter anderem Stephan Wackwitz’ Ein unsichtbares Land, Ulla Hahns Unscharfe Bilder oder Monika Marons Pawels Briefe4 ԟ, kommt Horstkotte jedenfalls zu etwas anderen Einschätzungen ԟ was die These der Deutungsperspektive bestätigen könnte (sie klammert Sebald und Beyer auch nicht aus dem Kontext der anderen Texte aus). Im Resümee ihrer Arbeit stellt sie fest, »daß Fotografien in der deutschen Gedächtnisliteratur weder als eine die historische Wahrheit vollständig verstellende Gegenoder Deckerinnerung noch als unfehlbare Dokumente eines ›Es-ist-so-gewesen‹ präsentiert werden, sondern als interpretationsbedürftige und notwendig unvollständige Angebote«.5 Auch Horstkotte führt mögliche Erklärungen für die Proliferation von Gedächtnisromanen und die gestiegene Bedeutung von Fotos darin an, die sich teilweise mit denen Fuldas treffen: Der Versuch einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr selbst erlebt hat, sich über Dokumente der Vergangenheit anzunähern, die veränderte Situation nach dem politischen Umbruch von 1989 und als möglichen psychologisch-symbolischen Faktor die Jahrtausendwende.6 Während hinsichtlich eines seit den neunziger Jahren sich vollziehenden Wandels in den Gedächtnisrahmen, an denen auch die Literatur partizipiert, also weitgehend Einigkeit herrscht, scheint die hier mindestens ebenso wichtige Frage nach dem Status der Fotografien im Text doch komplexer zu sein. »Vermeidung«, »Herabsetzung«, »referentielle Entleerung« einerseits, »Gegen- oder Deckerinnerung« und »unfehlbare Dokumente« anderseits sind die Stichwörter, gegen die der Umgang mit der Fotografie in der Gegenwartsliteratur profiliert wird. Die Frage, was denn nun zutrifft, ist hier weniger interessant als die des Rückbezugs auf die Texte, die in der vorliegenden Arbeit im Mittelpunkt standen. Zumindest Fulda hat seine 2
Ebd., S. 411 ff.
3
Ebd., S. 432.
4
Ebd., S. 406, S. 410 f.
5
Horstkotte: Nachbilder, S. 273.
6
Vgl. ebd., S. 274 ff.
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Stichwörter ja explizit auf die Literatur des 20. Jahrhunderts bezogen. Sowohl er als auch Horstkotte beziehen sich dabei auf eine ganz bestimmte Literatursorte, die mit den im zweiten Teil dieser Arbeit untersuchten Texten einige Gemeinsamkeiten aufweist. Von der neueren deutschen Gedächtnisliteratur unterscheiden sich diese durch den autobiografisch vermittelten, im Text reflektierten persönlichen Bezug zur erinnerten bzw. nicht erinnerbaren Vergangenheit. Wenn die Fotografie in den jeweiligen ›Textgruppen‹ unterschiedliche Funktionen erfüllt, dürfte sich das unter anderem daraus ableiten. In einer Literatur, die die Gedächtnisarbeit als Aufgabe der Nachgeborenen darstellt, ist der Bezug auf Dokumente und Überlieferungen sicherlich wesentlich, und dass Fotografien als ԟ durchaus nicht »unfehlbare« ԟ Dokumente eingesetzt werden, ist daher naheliegend. Ob damit allerdings die Literatur sich dank fotografischer Referenz der vergangenen Wirklichkeit versichert oder nicht eher eine Vermittlungsebene eingeschaltet ist, die den Abstand zur Vergangenheit hervorhebt, sei im Bezug auf die Gegenwartsliteratur dahingestellt. Die Antwort könnte neben dem literarischen Programm auch von der ästhetischen Qualität des jeweiligen Texts abhängen. Was aber leisten Fotos in den hier behandelten Texten? Dass es nicht immer um eine Herabsetzung oder Vermeidung zugunsten authentischer Erinnerungen geht, haben die vorangegangenen Analysen gezeigt. Diese Perspektive ließ sich bei den theoretischen Texten von Barthes, Benjamin und dem frühen Kracauer durchaus ԟ allerdings nicht durchgängig ԟ feststellen und von diesen ausgehend dürfte gerade die Vorstellung eines diametralen Gegensatzes von Literatur und Fotografie in viele Deutungen des Verhältnisses beider Medien eingegangen sein. Häufiger Bezugspunkt ist dabei nicht nur für die erwähnten Theoretiker Prousts Recherche, bei deren Analyse allerdings deutlich wurde, dass der Einsatz der Fotografie sich zu komplex gestaltet, um auf einen einheitlichen Begriff gebracht zu werden. Dies lässt sich generell als Ergebnis der meisten Textanalysen dieser Arbeit festhalten. Überraschend ist der Befund nicht, angesichts einer Herangehensweise, der es weniger um quasi-ontologische Festlegungen als um ein funktionales Verständnis der Fotografie und literarischer Bezugnahmen auf diese geht. Positive Aussagen, was das Medium Fotografie ist oder leisten kann, sind demnach zunächst Positionierungen des Mediums innerhalb einer gedächtnismedialen Formation. Für einen textwissenschaftlichen Ansatz bedeutet dies, den Blick auf die konkreten Funktionen der Fotografie bzw. der Reflektion über Fotografie innerhalb des Textgefüges zu richten und nach dem dabei implizit oder explizit artikulierten Selbstverständnis des Textes als Gedächtnismedium zu fragen. Der Verzicht auf klare Auskünfte, was ›die Fotografie‹ nun ›ist‹, aber auch auf die Erwartung, solche Auskünfte von theoretischen oder gar literarischen Texten zu erhalten, kann Begriffe erst in ihrer Beweglichkeit (oder Performativität) fassen, verlangt dabei jedoch ebenso, beispielsweise Konzepte des Realistischen oder Authentischen als Denkfiguren in ihrer Ambivalenz und Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen. Wenngleich dabei eher das
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Einzelne, die Eigenart der jeweiligen Texte, in den Mittelpunkt rückt als das Bemühen um umfassende Systematisierungen, erlaubt es das untersuchte Korpus, zentrale Linien der Arbeit entlang einiger Konzepte, deren Beziehungen untereinander und der Vermittlung durch konkrete Interaktionsformen von Fotografie und Text zu ordnen. Eine Ordnung der Text-Bild-Beziehungen ließe sich zunächst leicht anhand der jeweiligen Bezugnahmen auf und Integrationsformen von Fotografie im Text erstellen; etwa in einer Reihe zunehmender Konkretion als metaphorische Bezugnahmen, explizite Erwähnung und Beschreibung sowie schließlich dem Abdruck von Fotos und der Text-Bild-Kombination. Solche formalen Kategorisierungen müssten allerdings unfruchtbar bleiben, wenn sie nicht mit den jeweiligen Konzeptualisierungen des Fotografischen vermittelt werden und darin ihren kategorialen Charakter aufgeben. So wie die formale Gestalt der Bezugnahmen auf Fotografie in Texten bereits Übergänge und Grenzbereiche erlaubt – etwa metaphorische Qualitäten einer Bildbeschreibung, der Verweis auf allgemein bekannte, aber nicht abgedruckte Fotos oder die Beschreibung eines paratextuell integrierten Fotos –, kann ihre jeweilige gedächtnismediale bzw. -theoretische Funktion andere ›Gruppierungen‹ von Text-Bild-Relationen nahelegen. Bei der Textanalyse hat sich gezeigt, dass rein funktionale, aber oft wertend konnotierte Einordnungen als Gedächtnismedium – etwa entlang von Konzepten wie Gegenerinnerung, Ergänzung, Stütze und Dokument – der Komplexität der Texte ebenfalls nicht gerecht werden. Ein Foto kann, wie beim Foto der Großmutter in Prousts Recherche, zugleich als Gegenerinnerung und Erinnerungsergänzung inszeniert werden und innerhalb der Erzählung in engerer Verbindung mit metaphorischen Bezugnahmen auf Fotos stehen als mit anderen Erwähnungen und Beschreibungen innerfiktional vorliegender Fotos. Insbesondere im Kontext der Erinnerung nach Auschwitz bestätigte sich zudem die geläufige psychoanalytische Einsicht, dass gerade der Status einer »Deck- und Gegenerinnerung« einiges über die referierte bzw. nicht-referierbare Vergangenheit aussagt. Statt allein funktionale Schematisierungen zugrundezulegen, führt es weiter, ergänzend abstraktere, darin aber auch flexiblere Konzepte heranzuziehen und unter Verzicht auf streng systematische Gliederungen deren interne Spannung innerhalb der Textverfahren zu verfolgen. Hier bietet sich vor allem ein Begriffspaar wie Bild und Spur an, auf das im Lauf der Arbeit in verschiedenen Kontexten immer wieder zurückgegriffen werden konnte und das sich als anschlussfähig für verwandte Binarismen wie Oberfläche und Tiefe oder, rhetorisch gewendet, Metapher und Metonymie erwies. Extrempunkte dieser gewiss ebenfalls schematischen Opposition ließen sich in den Fototheorien Kracauers und Barthes’ finden, wobei gerade letzterer auch erkennbar den Abbild-Begriff benötigt, um das eigene, an der Spur orientierte, emphatische Fotografie-Verständnis davon abzuheben. Ein stärkeres Spannungsgefüge beider Konzepte im selben Text ist etwa bei Benjamin zu beobachten, dessen
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Kleine Geschichte der Photographie in Teilen vom Gegensatz der spurhaften »Magie« früher Fotos gegen das Abbild-Sammeln unter der Devise »Die Welt ist schön« angetrieben wird. Generell orientieren sich viele der abwertenden Einschätzungen des Mediums Fotografie an der »Bild-Position«, verstanden als bloße Oberfläche bzw. Abbildung der Oberfläche, als Position der Äußerlichkeit, der, wie zu erwarten wäre, eine Rhetorik der Tiefe oder Innerlichkeit gegenübersteht. In den hier vorgenommenen Textanalysen zeigte sich aber, dass diese Dichotomie sich nicht in eine Gegenüberstellung von mediatisiertem und authentisch-lebendigem Gedächtnis übersetzen lässt, sondern in verschiedener Weise selbst wieder durch – meist metaphorische – Bezüge auf die Fotografie ins Innere des Subjekts verlegt wird. Zuletzt bei Wolf wurden die verwickelten Beziehungen von Fotografie, Erzählen und Gedächtnis deutlich, insofern die Fotografie hier zwar als »authentisches« und »unfehlbares« Dokument erscheint, diesen Status jedoch auch auf die Erinnerung überträgt. Darin steht sie freilich für eine »Deck- oder Gegenerinnerung«, die durch die »subjektive Authentizität« des Erzählens aufgehoben werden müsste. Dass dies nicht vollständig gelingt, dass die Vergangenheit weiterhin fremd bleibt, lässt die fotografisch induzierte Erinnerung aber zum konstitutiven Bestandteil der im Text inszenierten Textproduktion werden und ließe sich, als Aufzeichnen der Widerstände, durchaus als »subjektiv authentisches« Erzählen im Sinne Wolfs interpretieren. Die Beobachtung, dass dort, wo Begriffe wie Erfahrung, Erinnerung oder literarisches Erzählen in der Gegenüberstellung zur Fotografie mehr oder weniger zu Synonymen werden, die darin implizierte Topik von Innerlichkeit und Äußerlichkeit durch andere Bezüge auf die Fotografie durchkreuzt wird, konnte in vergleichbarer Weise bei Semprun und Proust gemacht werden. Sempruns Abwehr der Filmdokumente aus Buchenwald im Namen der eigenen Erfahrung und des fiktionalen Erzählens steht die Verwendung fotografischer Metaphern der Entwicklung eines latenten Bildes bzw. des langsamen Erscheinens eines Polaroid-Fotos gegenüber, mit denen auch die Authentizität der Erfahrung verbürgt werden soll. Das Innere wird selbst wieder mittels der Fotografie konzipiert. Entscheidend ist bei dieser fotografischen Metaphorik aber, wie anhand von Prousts Recherche gezeigt werden konnte, die Nachträglichkeit der Erinnerung, deren Dynamik einem Konzept der Spur näher steht als dem fertigen Bild. Garantiert diese Nachträglichkeit bei Proust eine Fülle der Erinnerung, die dann in ein eminent sprachliches Kunstwerk überführt werden soll, so steht sie bei Semprun allerdings für das traumatische Nachleben von Buchenwald. Wie sehr der Zivilisationsbruch Auschwitz und die damit zusammenhängende Exils- und Bedrohungssituation über das Inhaltliche hinaus die hier eingeführten Konzepte, Theorien und Verfahren tingiert, wird eindringlich anhand von Kracauers geschichtsphilosophischer Reflektion über Fotografie und Film deutlich. Dies betrifft jedoch ebenso die ohne Bezug auf den Holocaust entwickelten theoretischen und literarischen Modelle – etwa die Benjamin’sche These vom Erfahrungs-
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verlust – die nach Auschwitz in einem anderen Licht stehen. Hinsichtlich der fotografischen Metaphern nachträglicher Erinnerung betrifft dies in erster Linie die dabei implizierten Erinnerungsprozesse bzw., genauer, das Erinnerte selbst. Die anhand der Fotografie entwickelten Gedächtnismodelle können so in einem anderen Rahmen weiterhin wirksam bleiben. Gerade im Fall der Nachträglichkeit bietet es sich an, die Fotografie als Modell traumatischer Erinnerung zu verwenden: »[The] possibility that photographs capture unexperienced events creates a striking parallel between the workings of the camera and the structure of traumatic memory.«7 Über die Metaphorik fotografischer Nachträglichkeit hinaus gilt dies besonders im Fall der meist ebenfalls metaphorischen Funktion der Fotografie als Gegenmodell zur gelingenden Erinnerung, wie sie uns bei Benjamin und Proust mit der Momentaufnahme begegnet ist. Die traumatischen Schocks, die diskontinuierliche, in einzelne Bilder oder »instantanés« zerfallende Zeit der Moderne, finden vielleicht ihre extremste Entsprechung in Fichtes Beschreibung des Luftangriffs und der daran anschließenden Momente fragmentierter Zeit. Es sind dabei nicht allein Analogien der Zeitlichkeit von Schock und Momentaufnahme, in denen sich die Theorien eines modernen Erfahrungsverlusts nach Auschwitz radikalisieren. Mit den Fotos aus den Konzentrationslagern tritt die fotografische Schockerfahrung aus der Metaphorik heraus. In diesem Sinn verbindet sich bei Fichte der Anblick der Bilder aus den Lagern mit der Zeiterfahrung des Bombardements. Ein solcher Bezug auf die Fotografie ist in der Literatur nach 1945 durchaus nicht singulär. In Johnsons Jahrestagen ist ein Foto aus Bergen-Belsen das »Schockmittel«,8 das dafür sorgt, dass Gesine Cresspahl noch im New York des Jahres 1967 nicht unbefangen Juden gegenübertreten und das in der Kindheit gelernte Nazi-Vokabular nicht vergessen kann. Von »referentieller Entleerung« kann bei diesen Bildern weniger gesprochen werden. Anders als in Kracauers Theorie vom empathischen Eingedenken oder Standhalten vor dem Bild kommt hier auch nicht die medial ermöglichte Distanz zum Tragen, die es dem Betrachter erlauben würde, »to […] incorporate into his memory the real face of things too dreadful to be beheld in reality« (TF, S. 306), sondern tatsächlich eher eine schockhaft empfundene Referenz, die Barthes’ »ça-a-été« recht nahe kommt. Die Fotografie wird in dem Zusammenhang tatsächlich oft zu einem ›Anderen‹ der Literatur und auch der Erinnerung. Wie bei der Lektüre von La Chambre claire deutlich wurde, kann eine solche Stilisierung im Dienst eines literarisch zu fassenden Gedenkens stehen, das seinen Referenten gerade nicht im Schreiben aufhebt, sondern durch die ›wesentlich‹ andere Referenz der Fotografie als abwesenden Anderen in seiner Fremdheit belässt. Die hier im Zusammenspiel 7
Baer: Spectral Evidence, S. 8.
8
Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, Bd. 1, S. 232; vgl. dazu auch Zetzsche: Die Erfindung photographischer Bilder, S. 256 ff.
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von Text und Fotografie entworfene Ethik der Erinnerung steht in ihrer Haltung der distanzierten Aufmerksamkeit für die Phänomene bei Kracauer vielleicht gar nicht so fern, wie es zunächst scheint. Die Darstellung soll den Dingen nicht auf den Leib rücken, sondern sie über die Repräsentation in ihrer Distanz belassen. In beiden Fällen läuft der theoretische Realismus nicht auf die Hypostase unmittelbarer Realität und Präsenz im Bild hinaus, sondern ist auch im Text der Theorie mit Strategien des Aufschubs verbunden. Bei Kracauer äußert sich dies im Bezug auf Proust als Intertext und vor allem in den metaphorischen Übertragungen von der Fotografie auf die Geschichtsschreibung, welche mit der Metapher des »Anteroom«, des »Vorraums« selbst wieder als Zone des Aufschubs charakterisiert ist. Stärker als bei Barthes, dessen Theorie auf der indexikalischen Spur aufbaut, steht bei Kracauer allerdings die Repräsentation, das Bild, im Vordergrund. In gewisser Weise entspricht dies den jeweiligen Verfahren der Texte. Arbeitet Kracauer stark mit Metaphern und Vergleichen – »Verbildlichungen« also ԟ, so herrschen bei Barthes metonymische Prozesse der Verschiebung vor (auch ein Index funktioniert metonymisch). Dass die schematische Unterscheidung von Bild und Spur über ein fototheoretisches Modell hinaus auf Textverfahren bezogen werden kann, lässt sich im Anschluss an die Verfahren in La Chambre claire anhand einiger hier untersuchter Bildbeschreibungen nachvollziehen. Fotos dienen dort oft der indirekten Annäherung an einen Komplex, mit dem das Bild nicht zwingend in einer unmittelbaren Beziehung stehen muss, den es aber vertritt oder auf den es durch die Beschreibung bezogen wird. Schon im Fall von Benjamins Umgang mit Fotos wurde deutlich, dass dessen Modell historischer Erkenntnis auch die Fotobeschreibungen der Kleinen Geschichte der Photographie und der Berliner Kindheit bestimmt. Wenn Benjamin in den Bildern aus der Frühzeit der Fotografie den historischen Moment eines Umbruchs in den Repräsentations- und Wahrnehmungstechniken der Moderne erkennt, oder wenn er das Porträt des Kinds im Fotoatelier auf die darin entstellten Erfahrungen der frühen Kindheit bezieht, setzt sich sein Postulat einer Lesbarkeit von Bildern in einer Beschreibung durch, die im Bild die Spuren einer darin nicht unmittelbar präsenten Erfahrung sucht. Das beschriebene Foto rückt in die Nähe zum dialektischen Bild, welches hier als sprachliches aus der Kombination von Bild und Text hervorgeht. Auch im Fall der Spuren auf dem Foto aus einem Ghetto bei Ida Fink, der Bilder vom Fenster der Gartenlaube oder vom Waisenhaus bei Fichte, der Beschreibung der Familienfotos in Perecs W und der Fotos von der Verleihung des Prix Formentor oder von Deanna Durbin bei Semprun werden Fotografien erst durch den Text zu Gedächtnismedien für ein Vergessenes oder nie vollständig der erinnernden Aufarbeitung Zugängliches, das verschoben im Bild wiederkehrt. In Kindheitsmuster geht es in ähnlicher Weise um einen Versuch, den ›fotografischen‹ Erinnerungen etwas abzugewinnen, was in diesen selbst verdrängt wird. Die Fotos rücken dabei, besonders bei Perec, in die Nähe zu Deckerinnerungen, die im Fall
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von W freilich die Schreibstrategien des Textes allgemein betreffen. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Auschwitz stellen Fotografien so durchaus ein ›Anderes‹ der Literatur dar, eine Art der ›Gegenerinnerung‹, dies aber vor allem in dem Sinn, dass sie oft umweghaft auf das, was dem Gedächtnis nicht vollständig zu assimilieren ist, verweisen oder zeigen, dass es etwas gibt, bei dem das Erzählen an seine Grenze kommt. Um eine »referentielle Entleerung« handelt es sich bei den dabei zum Einsatz kommenden Beschreibungsstrategien nicht unbedingt, eher um den Hinweis auf etwas, auf das nicht einfach referiert werden kann. Die Fotografie kann dabei auch als sozusagen externes Gedächtnisbild figurativ für eine Erinnerung stehen, die dem erinnernden Subjekt fremd bleiben muss. In Sempruns Romanen wurde sie von allen hier untersuchten Texten vielleicht am weitreichendsten in diesem Sinn eingesetzt. In dieser Funktion ließen sich Fotos in der Erzählung wieder an einen metaphorischen Diskurs zum Trauma anschließen; auch sie deuten in ihrer Eigenschaft als Gedächtnismedium auf eine »unmögliche Geschichte« hin, die die Protagonisten »nicht gänzlich in Besitz nehmen können.«9 Als konkrete Objekte der Gedächtnisarbeit innerhalb einer Erzählung werden sie in den meisten der hier untersuchten Texte aber zum Gegenstand einer Ekphrasis, der es oft weniger um das Abgebildete selbst als um die Spur eines Abwesenden geht, auf die das Bild hinweisen könnte. Mit den Fotos wird eine zusätzliche, meist nicht unproblematische Vermittlungsebene in die Annäherung an die Vergangenheit eingeschaltet. Düwell spricht in dem Zusammenhang, mit explizitem Bezug auf Perec, von der »Erfahrung eines Umschlagens ihrer scheinbaren Evidenz und Dignität in Bedeutungslosigkeit, ohne Kontextualisierung und zusätzliches Wissen erscheinen sie beliebig. Das Paradox der Erfahrung besteht darin, dass gerade positive Fakten mit dem Phänomen der Abwesenheit konfrontieren.«10 Die spezifische Funktion der Fotografie kann so gerade in einem Referenzversprechen liegen, das sie nie vollständig einlösen kann und das daher der sprachlichen Supplementierung in der Beschreibung bedarf. Wie eng dabei Bild und Text verbunden sind, verdeutlicht der Blick auf den Umgang mit in den Text integrierten Fotos. In Barthes’ Chambre claire scheinen die abgedruckten Bilder zwar zunächst die behauptete essentielle Fremdheit von Text und Foto zu bestätigen, insofern gerade dort, wo die Bilder das im Text mitgeteilte punctum illustrieren sollen, dies nicht immer nachvollziehbar erscheint. Zugleich findet die eigentliche Faszination der Fotografie ihr Äquivalent in metonymischen Prozessen, die nicht nur jenseits der jeweiligen Sinnstrukturen von Bild und Text liegen, sondern auch quer zu deren Unterscheidung verlaufen. Während dieses Wechselspiel in La Chambre claire den Abdruck der Fotos verlangt (und ebenso 9
Cathy Caruth: Trauma als historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen. In: Baer (Hg.): ›Niemand zeugt für den Zeugen‹, S. 84-98, S. 86.
10 Düwell: »Fiktion aus dem Wirklichen«, S. 22.
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das Fehlen des einen, zentralen Fotos hervorhebt), erscheint es bei Benjamin stellenweise beinahe sekundär, ob die Fotos mit dem Text abgedruckt sind, wie in der Kleinen Geschichte der Photographie, oder nur durch die Beschreibung vermittelt, wie in der Berliner Kindheit. Der Akzent liegt hier deutlich auf der Beschreibung, die dem Konzept einer Lesbarkeit von Bildern verpflichtet ist. In dem Zusammenhang treffen sich Benjamins Überlegungen teilweise mit zeitgenössischen Einsatzformen der Montage, insofern sie in der Zusammenstellung von Text und Bild diese einander wieder annähern. Anhand von Brechts Kriegsfibel und seiner Journale konnte gezeigt werden, dass der Topos einer Lesbarkeit von Bildern in der Kombination von Fotografie und Text auch die Lesbarkeit dieser Kombination und damit der Texte selbst impliziert. Der ideologiekritische Umgang mit den Pressefotos in der Kriegsfibel zielt dabei wiederum auf die Medialität der Überlieferung und einen aktiven Umgang mit ihr ab, der sich in eine Parallele zu Benjamins Entwürfen historischer Erkenntnis setzen lässt. Interpretiert man Brechts Zugriff auf die Fotos, wie hier geschehen, als Versuch, diese zum Medium eines aktualisierenden Zugangs zur Vergangenheit im Sinne Benjamins zu machen, so ergeben sich zwar Anknüpfungspunkte zu den Texten im zweiten Teil der Arbeit, aber auch wichtige Unterschiede. Der »historische Index« der Fotos in den Texten, die sich mit dem Gedächtnis an den Holocaust auseinandersetzen, kann nur im Fehlen, im Mangel und dem nicht zu Erinnernden liegen. Vielleicht liegt hier auch einer der Gründe, weshalb entsprechende Fotos in diesen Texten nicht abgedruckt sind. Zugleich lässt sich im Hinblick auf die mediale Verbreitung bestimmter Fotos von den literarischen Texten auf kollektive Gedächtnisprozesse rückschließen. So wie die Art der Erwähnung und Beschreibung von Fotos generell differieren kann, je nachdem, ob es sich um fiktive oder reale Fotos handelt, so ließe sich unter Umständen auch aus der Art ihrer Erwähnung – etwa kursorisch oder detailliert beschreibend – Aufschluss gewinnen über den Stand eines kollektiven Bildgedächtnisses. Dies verlangte allerdings eine stärkere Verklammerung der literaturwissenschaftlichen mit einer sozial- und mediengeschichtlichen Herangehensweise, die jenseits des Fokus dieser Arbeit lag. Hinsichtlich der Textverfahren erlaubt die Bekanntheit von Fotos wie etwa denen aus dem Lager Bergen-Belsen das Aufrufen eines ganzen Vorstellungskomplexes durch ein Detail, wie wir dies bei Fichte mit dem Verb »einbaggern« beobachten konnten. Doch auch unabhängig von den durch den Bekanntheitsgrad kultureller Artefakte generell eröffneten Möglichkeiten verknappter Anspielungen sind die hier untersuchten Texte vor einem weiteren Hintergrund sozialer und medialer Gedächtnisbildung zu betrachten. Die Fotografie ist schließlich ebenfalls Gedächtnismedium, indem sie in bestimmte Praktiken des individuellen und kollektiven Gedenkens eingebunden ist, seien dies nun die familiäre Erinnerung oder öffentliche Diskurse. Die Auseinandersetzung mit der Fotografie in der Literatur ist im 20. Jahrhundert immer auch die Auseinandersetzung mit Prozessen kollektiver Gedächtnisbildung, an denen literarische Texte partizipie-
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ren und die sie zugleich reflektieren. Die spezifische Leistung der Literatur ԟ oder, allgemeiner, der Kunst ԟ als Gedächtnismedium kann darin bestehen, auf etwas hinzuweisen, was weder im individuellen noch in einem kollektiven Gedächtnis Platz finden kann. In den meisten der behandelten Texte findet dies seinen Ausdruck in der Differenz zwischen Text und Bild, aber auch der Konfrontation von individueller und fotografischer Erinnerung, die nicht zwingendermaßen in die Gegenüberstellung von authentischem und mediatisiertem Gedächtnis übersetzbar ist. Diese Konfrontation wird in der Gegenwartsliteratur zumindest hinsichtlich des im zweiten Teil der Arbeit schwerpunktmäßig untersuchten Komplexes, der Erinnerung an Auschwitz und den Nationalsozialismus, immer seltener. Dies hängt zum einen natürlich mit dem Verschwinden derer zusammen, deren Biografien noch unmittelbar mit den entsprechenden Ereignissen verbunden sind. Fotografien werden zu Medien einer mehr oder weniger abgeschlossenen Vergangenheit, eines bereits sedimentierten kulturellen Gedächtnisses. Damit dürfte auch ein allgemeiner Statuswandel der Fotografie in der gegenwärtigen Gedächtniskultur verbunden sein. Fotografien sind fester Bestandteil kollektiver Gedächtnisse und werden zunehmend in dieser Rolle wahrgenommen und reflektiert. Der sogenannte »visual turn« in den Kulturwissenschaften – von dem die neue Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft für die Fotografie und Fragen der Bildlichkeit allgemein ja ein Teil ist ԟ kann ebenso als Indiz dafür gelten wie die starke Präsenz von Fotos in der Gegenwartsliteratur. Das von Fulda und Horstkotte konstatierte Interesse gegenüber Fotografien in der Gegenwartsliteratur mag auch daraus resultieren, dass mit dem Historisch-Werden der analogen Fotografie ein eher historisierender oder ästhetischer Zugang zur indexikalischen Referenz aufkommt,11 der ein Barthesches ›Erstaunen‹ als bereits historische Haltung neben einer eher skeptischen Position gleichberechtig zulässt. Hinzu kommt sicherlich gerade im Fall der Holocaust-Fotos, dass mit deren ›Ikonisierung‹ sich der Schock der ersten Betrachtung, von dem die zitierten Texte zeugen, abgenutzt hat. Die spezifische fotografische Referenz ist aber weniger ein mittlerweile historisches als vor allem ein sprachlich produziertes Versprechen. Indem sie in Texten mit einer dem Gedächtnis widerstrebenden Alterität in Verbindung gebracht werden kann, werden sie nicht bloß einem ›medialen Anderen‹ der Literatur, sondern sie vertreten ein unmögliches Gedächtnis des Anderen.
11 Vgl. Beat Wyss: Das indexikalische Bild. In: Fotogeschichte 76 (2000), S. 3-11.
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Brecht, Bertolt: Kriegsfibel. Erweiterte Neuauflage. Berlin: Eulenspiegel 1994. — Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht u.a. Berlin, Weimar, Frankfurt a.M.: Aufbau/Suhrkamp 1988-2000. Dauthendey, Max: Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd. 1. München: Langen 1925. Faulkner, William: Requiem für eine Nonne. Roman in Szenen. Aus dem Amerikanischen von Robert Schnorr. Zürich: Diogenes 1982 (= Werkausgabe Bd. 15). Fichte, Hubert: Alte Welt. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit V. Hg. v. Wolfgang von Wangenheim und Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1992. — Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 2. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1989. — Das Waisenhaus. Frankfurt a.M.: Fischer 1984. — Der Aufbruch nach Turku. Frankfurt a.M.: Fischer 1988. — Der kleine Hauptbahnhof oder Lob des Strichs. Die Geschichte der Empfindlichkeit II. Hg. v. Gisela Lindemann. Frankfurt a.M.: Fischer 1988. — Der Platz der Gehenkten. Die Geschichte der Empfindlichkeit VI. Hg. v. Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt a.M.: Fischer 1989. — Detlevs Imitationen ›Grünspan‹. Reinbek: Rowohlt 1975. — Die geklebten Götter. In: Ders.: Die schwarze Stadt. Die Geschichte der Empfindlichkeit o. Nr. Hg. v. Wolfgang von Wangenheim. Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 277-280. — Die Geschichte der Nanã. Die Geschichte der Empfindlichkeit o. Nr. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1990. — Die Palette. Frankfurt a.M.: Fischer 1978. — Die zweite Schuld. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit III. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 2006. — Eine glückliche Liebe. Die Geschichte der Empfindlichkeit IV. Hg. v. Gisela Lindemann. Frankfurt a.M.: Fischer 1988. — Explosion. Roman der Ethnologie. Die Geschichte der Empfindlichkeit VII. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1993. — Forschungsbericht. Roman. Die Geschichte der Empfindlichkeit XV. Hg. v. Gisela Lindemann. Frankfurt a.M.: Fischer 1989. — Hotel Garni. Die Geschichte der Empfindlichkeit I. Hg. v. Torsten Teichert. Frankfurt a.M.: Fischer 1987. — Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen. In: Ders.: Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen. Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada. Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 359-371. — Mein Freund Herodot. In: Ders.: Homosexualität und Literatur I. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena I. Hg. v. Torsten Teichert. S. 381-407. — Mein Lesebuch. Frankfurt a.M.: Fischer 1976. — Mit Verlaub Auschwitz. In: Die Zeit 29.5.1964.
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— Psyche. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit o. Nr. Hg. v. Ronald Kay. Frankfurt a.M.: Fischer 1990. — Schwarz/Weiß – doppelt belichtet. Kleine Chronologie zum Werk des afroamerikanischen Fotografen James van der Zee. In: Frankfurter Rundschau 12.1.1980, S. III. — Versuch über die Pubertät. Hamburg: Hoffmann und Campe 1974. Fink, Ida: Die Spur. In: Dies.: Eine Spanne Zeit. Übers. v. Klaus Staemmler. München: Piper 1992, S. 158-160. — ĝlad. In: Dies.: Skrawek czasu. London: Aneks 1987, S. 100-101. Hennings, Emmy: Das Brandmal. Ein Tagebuch von Emmy Hennings. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt a.M.: Fischer 1992. Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Reinbek: Rowohlt 2004. Kracauer, Siegfried: Die Angestellten. In: Ders.: Werke Bd. 1. Hg. v. Inka MülderBach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 213-310. — Freedom from Fear. An Analysis of popular film trends. In: Werke Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932-1961. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 479-485. — Das Grauen im Film. In: Werke Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932-1961, S. 312-313. — History. The Last Things Before the Last. New York: Oxford University Press 1969. — Der Mann mit dem Kinoapparat. In: Werke Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928-1936. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 247251. — [»Marseiller Entwurf« zu einer Theorie des Films]. In: Werke Bd. 3: Theorie des Films. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 521803. — Das Ornament der Masse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. — Das Ornament der Masse. In: Ders.: Das Ornament der Masse, S. 50-63. — Die Photographie. In: Ders.: Das Ornament der Masse, S. 21-39. — Ein soziologisches Experiment? Zu Bert Brechts Versuch: »Der Dreigroschenprozeß«. In: Schriften. Bd. 5.3. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 33-39. — Tentative Outline of a Book on Film Aesthetics. In: Siegfried Kracauer/Erwin Panofsky: Briefwechsel 1941-1966. Mit einem Anhang: Siegfried Kracauer
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»under the spell of the living Warburg tradition«. Hg. v. Volker Breidecker. Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 81-92. — Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York: Oxford University Press 1960. — Tonbildfilm. In: Werke Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928-1931, S. 122125. — Vorläufige Übersicht über ein Buch zur Ästhetik des Films. In: Werke Bd. 3: Theorie des Films, S. 852-845. — Die Wartenden. In: Ders.: Das Ornament der Masse, S. 106-119. — Wir schaffens. In: Werke Bd. 6.1: Kleine Schriften zum Film 1921-1927. Hg. v. Inka Mülder-Bach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 411-413. — Zu den Schriften Walter Benjamins. In: Ders.: Das Ornament der Masse, S. 249-255. Kraus, Karl: Die Fackel 16/400-403 (1914). Levi, Primo: Se questo è un uomo/La tregua. Turin: Einaudi 1989. — I sommersi e i salvati. Turin: Einaudi 1986. Mallarmé, Stéphane: Le Tombeau d’Edgar Poe. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. v. Henri Mondor u. G. Jean-Aubry. Paris: Gallimard (Pléiade) 1984, S. 189. Perec, Georges: La Disparition. In: Ders.: Romans et récits. Hg. v. Bernard Magné. Paris: Livre de poche 2002 (La Pochothèque), S. 305-562. — Robert Antelme ou la vérité de la littérature. In: Ders.: L. G. Une aventure des années soixante. Paris: Seuil 1992, S. 87-114. — Le petit carnet noir. In: Cahiers Georges Perec 2: W ou le souvenir d’enfance: une fiction. Séminaire 1986-1987 (=Textuel 21 (1998)), S. 157-169. — Le travail de mémoire (entretien avec Frank Vernaille). In: Ders.: Je suis né. Paris: Seuil 1990, S. 81-93. — W ou le souvenir d’enfance. Paris: Gallimard (L’imaginaire) 1993. Perec, Georges avec Robert Bober: Récits d’Ellis Island. Histoires d’errance et d’espoir. Paris: P.O.L. 1994. Proust, Marcel: À la recherche du temps perdu. Hg. v. Jean-Yves Tadié, Paris: Gallimard (Pléiade) 1987-89. — À la recherche du temps perdu. Hg. v. Pierre Clarac und André Ferré. Paris: Gallimard (Pléiade) 1954. — Jean Santeuil. Hg. v. Pierre Clarac u. Yves Sandre. Paris: Gallimard (Pléiade) 1971. — John Ruskin: Les Pierres de Venise (1906). In: Ders.: Contre Sainte-Beuve. Hg. v. Pierre Clarac u. Yves Sandre. Paris: Gallimard (Pléiade) 1971, S. 520-523. — Unterwegs zu Swann. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Aus dem Französischen v. Eva Rechel-Mertens, revidiert v. Luzius Keller. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 (= Werke II.1). Semprun, Jorge: Adieu, vive clarté… Paris: Gallimard 1998. — L’Algarabie. Paris: Gallimard (folio) 1996.
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L’art contre l’oubli. In: Le Monde des Débats, Mai 2000, S. 11-13. Autobiografía de Federico Sánchez. Barcelona: Planeta 1977. La deuxième mort de Ramón Mercader. Paris: Gallimard (folio) 1984. L’écriture ou la vie. Paris: Gallimard (folio) 1996. L’évanouissement. Paris: Gallimard 1967. Le grand voyage. Paris: Gallimard (folio) 1972. La montagne blanche. Paris: Gallimard 1986. Le mort qu’il faut. Gallimard (folio) 2002. Netchaïev est de retour. Paris: Lattès 1987. Quel Beau Dimanche! Paris: Grasset 1980. Veinte años y un día. Barcelona: Tusquets 2003. [Vorwort]. In: Alain Resnais/Jorge Semprun: Répérages. Photographies de Alain Resnais, texte de Jorge Semprun. Paris: Chêne 1974, o.p. — »…vous avez une tombe au creux des nuages…« In: Ders.: Mal et modernité. Paris: Seuil 1997, S. 68-93. — Yves Montand. La vie continue. Denoël (folio) 1985. Semprun, Jorge/Elie Wiesel: Schweigen ist unmöglich. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Villon, François: Ballade des Dames du temps jadis. In: Ders.: Sämtliche Dichtungen. Aus d. Franz. v. Walther Küchler, bearbeitet v. Marie-Luise Bulst. Frankfurt a.M.: Insel 1988, S. 82. Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt a.M.: Fischer 2003. Wolf, Christa: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959-1985. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1987. — Erfahrungsmuster. Diskussion zu »Kindheitsmuster«. In: Dies.: Die Dimension des Autors, S. 806-843. — Kindheitsmuster. Berlin, Weimar: Aufbau 61981. — Lesen und Schreiben. In: Dies.: Die Dimension des Autors, S. 463-503. — Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: Dies.: Die Dimension des Autors, S. 773-805. Filme: Shoah (Frankreich 1985, R: Claude Lanzmann). Citizen Kane (USA 1941, R: Orson Welles).
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Weitere Literatur: Ackrill, Ursula: Metafiktion und Ästhetik in Christa Wolfs »Nachdenken über Christa T.«, »Kindheitsmuster« und »Sommerstück«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Adams, Timothy Dow: Light writing & life writing. Photography in autobiography. Chapel Hill u.a.: University of North Carolina Press 2000. Adams, William Howard: Prousts Figuren und ihre Vorbilder. Aus dem Amerikanischen von Christoph Groffy. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. — Engagement. In: Ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Bd. 11, S. 409-430. — Erinnerungen. In: Gesammelte Schriften Bd. 20.1, S. 173-178. — Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Prismen. Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, S. 11-30. — Minima Moralia. Nachrichten aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften Bd. 4. — Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften, Bd. 6. — Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer. In: Ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften Bd. 11, S. 388-408. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Aus dem Italienischen v. Stefan Monhardt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Aitken, Ian: Realist film theory and cinema. The nineteenth-century Lukácsian and intuitionist realist traditions. Manchester u.a.: Manchester University Press 2006. Albers, Irene: Das Fotografische in der Literatur. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Ein historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001, Bd. 2, S. 534-550 (= Teil des Artikels »Fotografie/fotografisch«, 1. Teil von Bernd Busch, S. 494-534). — Photographische Momente bei Claude Simon. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. — Proust und die Kunst der Photographie. In: Nitsch/Zaiser (Hg.): Marcel Proust und die Künste, S. 205-239. — Prousts photographisches Gedächtnis. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 111 (2001), S. 19-56. — Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Emile Zolas. München: Fink 2002. Amelunxen, Hubertus von (Hg.): Theorie der Fotografie IV. 1980-1995. München: Schirmer/Mosel 2000.
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Amelunxen, Hubertus von: D’un état mélancolique en photographie. Walter Benjamin et la conception de l’allégorie. In: Revue des Sciences Humaines 81 (1988), S. 9-23. — Fotografie nach der Fotografie [Ausstellungskatalog]. Dresden u.a.: Verlag der Kunst 1995. — Das Memorial des Jahrhunderts. Fotografie und Ereignis. In: Frizot (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, S. 130-147. — Photographie und Literatur. Prolegomena zu einer Theoriegeschichte der Photographie. In: Peter V. Zima (Hg.): Literatur Intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 209231. — Skiagraphie – Silberchlorid und schwarze Galle. Zur allegorischen Bestimmung des photographischen Bildes. In: Willem van Reijen (Hg.): Allegorie und Melancholie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 90-108. Anderson, Connie: Artifice and Autobiographical Pact in Semprun’s L’Écriture ou la vie. In: Neophilologus 90 (2006), S. 555-573. Anderson, Mark: Fino allo sciogliersi delle cose: la fotografia nell’opera di W.G. Sebald e la prosa della fotografia. In: Grazia Pulvirenti/Renata Gambino/Vincenza Scuderi (Hg.): Le muse inquiete. Sinergie artistiche nel novecento tedesco. Atti del Convegno Internazionale Catania 4-6 dicembre 2001. Florenz: Olschki 2003, S. 141-154. Angehrn, Emil: Beschreibung zwischen Abbild und Schöpfung. In: Boehm/Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung, S. 59-74. Anonym: Eintrag »Erdgeist«. In: filmportal.de (http://www.filmportal.de/film/erdgeist_3b64566add29407692a913cd84463c12, zuletzt geprüft am 20.8.2012). Anonym: Erpressung. In: Lexikon des internationalen Films. Hg. v. Horst Peter Kroll. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2002, Bd. 1, S. 799. Arani, Miriam Y.: Die fotohistorische Forschung zur NS-Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History (Online-Ausgabe) 5/3 (2008) (http://www.zeithistorische-forschun gen.de/16126041-Arani-3-2008, zuletzt geprüft am 26.8.2010). Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982. Arndt, Christiane: Der reproduzierte Tod. Leichenfotografie im 19. Jahrhundert. In: Fotogeschichte 25/97 (2005), S. 47-56. Arnheim, Rudolf: Melancholy Unshaped. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 21/3 (1963), S. 291-297. Assmann, Aleida/Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Mertens/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 114-140.
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Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts
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Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende
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September 2012, 520 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa Oktober 2012, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8
Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre Februar 2013, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0
Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters November 2012, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0
Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus Juli 2012, 356 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7
Januar 2013, ca. 320 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8
Oliver Ruf Zur Ästhetik der Provokation Kritik und Literatur nach Hugo Ball Oktober 2012, 364 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2077-1
Stephanie Schmitt Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik November 2012, 270 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2224-9
Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Dezember 2012, 316 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7
Jan Wilm, Mark Nixon (Hg.) Samuel Beckett und die deutsche Literatur April 2013, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2067-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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