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German Pages 262 Year 2015
Darwins Erben in den Medien
Sebastian Linke (Dr. rer. nat.) arbeitet als Postdoctoral Fellow in der Initiative »Public Learning and Understanding of Science« der Technischen Universität Chalmers und der Universität Göteborg an der Sektion »Science and Technology Studies«.
SEBASTIAN LINKE
Darwins Erben in den Medien Eine wissenschafts- und mediensoziologische Fallstudie zur Renaissance der Soziobiologie
[transcript]
Das Buch wurde mit freundlicher Unterstützung der FAZIT-Stiftung publiziert.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:j jdnb.ddb.de abrufbar.
©
2007
transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Vorwort I
Einleitung Soziobiologie- ein Konzept in der Krise Soziobiologie und Massenmedien Untersuchungsaufbau
9 11 11 16 19
1. TEIL: SOZIOBIOLOGIE UND WISSENSCHAFTSKOMMUNIKATION. ZWEI EXKURSE
II Entstehung und Wirkungsgeschichte der Soziobiologie
25
1. Einführung
25
2. Die Wissenschaft Soziobiologie und ihre Gegner
27
3. Die Rezeptionsgeschichte der Soziobiologie
37
4. Resümee
42
III Wissenschaftskommunikation in der Öffentlichkeit
45
1. Wissenschaft und Öffentlichkeit in historischer Perspektive
49
2. Forschungen zur Wissensvermittlung im 20. Jahrhundert
53
3. Der deutsche Wissenschaftsjournalismus
59
2. TEIL: EMPIRISCHE UNTERSUCHUNGEN IV Diskursdynamiken 1975-2003 1. Intensitätsverlauf der wissenschaftlichen Diskussion
67 67
2. Der mediale Diskursverlaufzur Soziobiologie
72
V Die Darstellungen in der Wissenschaft
77
1. Einführung und Methodisches Vorgehen
77
2. Evolutionäre Verhaltensbiologie und Soziobiologie in Nature und Science
79
3. Der deutsche Kontext: Verhaltensbiologie und Soziobiologie in Naturwissenschajien
123
VI Die Soziobiologie in den deutschen Medien
133
I. Die Soziobiologie in der FAZ
135
1.1 Rubriken und Quellen der Berichterstattung
135
1.2 "Die Rache der Gene" - Zur inhaltlichen Einbindung der Soziobiologie in der FAZ
140
Phase I: Soziobiologie als WissenschaftDie Darstellungen bis 1995 Phase II: Dissens Konsens Nonsens?- Der neue Umgang mit der Soziobiologie ab 1996
140 145
1.3 Resümee zur Soziobiologie in der F AZ
160
2. Die Soziobiologie im Spiegel
163
2.1 "Die Gene sind's. Immer sind es die Gene"Der Umgang mit der Soziobiologie im Spiegel
165
2.2 Zeitliche Entwicklung und Resümee zur Soziobiologie im Spiegel
181
3. TEIL: RESÜMEE, DISKUSSION UND AUSBLICK VIIResümee
187
I. Zusammenstellung der quantitativen Analysen
187
2. Resümee der inhaltlichen Untersuchungen
188
VIII Diskussion
195
1. Die deutsche Reserviertheit in den 1970er und 1980er Jahren
198
2. Bio-Konjunkturen zur Jahrtausendwende
202
3. Der deutsche Wissenschaftsjournalismus und die Soziobiologie
210
IX Epilog: Die Renaissance der Soziobiologie in der ,Bio-Medien-Kultur'
215
3. Ergänzende Daten zur Medienanalyse
221 221 224 226
Literatur
233
Anhang I. Auswahl der Medien 2. Methodenbeschreibung
Vorwort
The lacerations resulting from the ensuing ideological conflict have not healed, andin many places ,Sociobiology' is either a battlecry or a term of abuse. (Patrick Bateson 1982) Sociobiology is one case in which a few individuals managed to define a scientific event, and a few others to produce anational controversy, through their control ofthe narrow communications channel between science and the media. (Allan Mazur 1981) It is particularly interesting to observe the many synonyms denoting studies of adaptive behavior. One wonders whether this results from the ever-present attempt to avoid the Iabel ,human sociobiology' [ ... ]outside ofbiology, interest in "sociobiology" seems to have been synonymaus with "intellectual suicide".
(I ver Mysterud 2004)
Die Studie untersucht, wie die sogenannte Soziobiologie in der Wissenschaft und in den deutschen Medien im Verlauf der vergangenen drei Jahrzehnte kommuniziert wurde. Angestoßen durch das gleichnamige Buch von Edward 0. Wilson, das im Sommer 1975 erschien, evozierte die Soziobiologie seit Mitte der 1970er Jahre eine anhaltende Kontroverse über die biologische, insbesondere über die genetische Deutung komplexer menschlicher Verhaltensweisen. In dem Begriff Soziobiologie verdichtete sich damit die umfassendere Natur-Kultur Debatte im ausgehenden 20. Jahrhundert. Der Ausgangspunkt und die wichtigste Forschungsmotivation für diese Studie war die Beobachtung einer aktuellen Konjunktur naturalistischer Deutungsmuster, die sich in verschiedenen inner- und außerwissenschaftlichen Bereichen, wie zum Beispiel in den Medien zeigt. Die vorliegende Arbeit analysiert nun erstmalig im Rückblick über drei Jahrzehnte -wann und in welcher Form ver-
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schiedene wissenschaftliche und öffentliche Medien über die Soziobiologie und ihre Kontroverse berichteten. Insgesamt zeigt die Studie damit einen außergewöhnlichen Fall von Wissenschaftskommunikation: Die auf theoretischer Ebene, insbesondere seitens der Kommunikationswissenschaften oft bemängelte "Fehlorientierung des Wissenschaftsjoumalismus" an der Wissenschaft kann hier, im Fall der Soziobiologie, auf eindrückliche Weise widerlegt werden: Eine "Übersetzung" oder "Vermittlung" der wissenschaftlichen Ereignisse hat nur an wenigen, marginalen Stellen im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre stattgefunden. Die intensive Berichterstattung über die Soziobiologie Ende der 1990er Jahre ist dagegen als Artefakt einer rein kulturell bestimmten Medienkultur zu verstehen, zu der keine Referenzen in der Wissenschaftsdiskussion zu finden sind. Der wissenschaftliche Diskurs zur Soziobiologie ist von den deutschen Medien damit letztlich so gut wie unbeachtet geblieben. Der Renaissance der Soziobiologie, die in Deutschland ca. zwanzig Jahre nach ihrer wissenschaftlichen Debatte einsetzte, wird in dieser Arbeit anhand detaillierter empirischer Analysen nachgegangen.
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Einleitung
Soziobiologie- ein Konzept in der Krise Ausgehend von der Erforschung sozialer Insekten versuchte der amerikanische Evolutionsbiologe Edward 0. Wilson mit einem im Sommer 197 5 veröffentlichten Buch ein anspruchsvolles Forschungsprogramm zu begründen. Unter dem Titel Sociobiology: The New Synthesis weitete er Forschungskonzepte der Evolutions- und Populationsbiologie auf die Säugetiere aus und bezog dabei auch den Menschen explizit mit in das Programm ein. Der Begriff ,Soziobiologie' wurde erstmalig Ende der vierziger Jahre des vergangeneu Jahrhunderts benutzt, tauchte danach hin und wieder auf Kongressen und in Fachzeitschriften auf, hinterließ aber bis 1975 keinen nennenswerten Eindruck in- und außerhalb der Wissenschaftswelt Dies änderte sich mit Wilsons Werk grundlegend und dauerhaft (vgl. Weber 2003). Seine "neue Synthese" bot zunächst einen umfassenden Überblick über die Evolution des Sozialverhaltens im Tierreich und wollte verschiedene Ansätze der Evolutions-, Populations- und Verhaltensbiologie in die "einheitliche Disziplin Soziobiologie" integrieren. Wilson stellte sich vor, dass die Soziobiologie über die gesamte Biologie expandieren, die Sozialwissenschaften revolutionieren und andere Disziplinen wie die klassische Ethologie oder die vergleichende Psychologie bald vollständig überholen würde (s. Schaubild 1): "One of the functions of sociobiology is to reformulate the foundations of the social sciences [... ] Sociology and the other social sciences, as well as the humanities, are the last branches of biology, waiting to be included in the Modem Synthesis." (Wilson 1975a: 4) Rückblickend ist eher das Gegenteil als eine Synthese eingetreten und die Versuche, unter dem Begriff ein einheitliches Forschungsprogramm
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zu etablieren, sind letztlich gescheitert. Die maßgebliche Aufmerksamkeit gegenüber Wilsons Sociobiology richtete sich nicht auf die groß angelegte 700-seitige und reich illustrierte Abhandlung evolutionstheoretischer Erklärungen über Tierverhalten, sondern auf zwei kühne Ausweitungen des Insektenforschers: die im kurzen letzten Kapitel vollzogene Erweiterung der Soziobiologie auf den Menschen sowie die damit verbundene Forderung Wilsons an die Sozialwissenschaften, seine evolutionstheoretischen Begründungen aufzunehmen. 1 Wilson spekulierte vor allem über Inzuchtvermeidung, sexuelle Promiskuität, Geschlechterrollen und Kindstötung und brach dabei mit einem liberalen Konsens der Nachkriegszeit: In Reaktion auf die eugenischen Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts und die Exzesse des Nazi-Regimes wurde menschliches Verhaltens noch vorrangig als Folge sozialer Prozesse und Prägungen betrachtet (Weber 2003: 4). Insbesondere im kulturellen Klima der 1970er Jahre galten biologische oder gar genetische Erklärungen menschlicher Fähigkeiten als verpönt oder politisch reaktionär. Die Folge von Wilsons provokantem Vorstoß war eine politisch motivierte Kontroverse, die bis heute noch in der Verhaltensbiologie und verwandten Denkschulen nachwirkt. In den 1970er Jahren warfen die linksintellektuellen Kritiker der USA Wilson und anderen Soziobiologen - mit Verweis auf Hitlers Völkermord- vor, mit einem genetischen Determinismus rassistische und eugenische Theorien wiederzubeleben (Allen et al. 1975). Neben heftigsten Attacken in der Presse kamen auch vereinzelt physische Angriffe vor. So wurde Wilson bei einem Vortrag auf dem Jahrestreffen der American Associaton for the Advancement of Science 1978 von Rassismusgegnern gar mit einem Eimer kaltem Wasser übergossen. Bis heute, nach 30 Jahren Diskussion über die Erklärungsansätze der Soziobiologie, hat sie sich nicht behaupten können und ist letztlich in eine schwere Krise geraten (vgl. dazu Exkurs in Kap. II). Weder hat sie sich als eigenständige Disziplin formieren können, noch ist der Terminus breit etabliert. Er gilt heute für viele Fachwissenschaftler, besonders aber außerhalb der Biologie, eher als diskreditiert (vgl. Mysterud 2004). Die Umbenennung des Journals Ethology and Sociobiology in Evolution and Human Behavior im Jahr 1996 und auch die Auflösung der European Sociobiological Society (ESS) im September 2000 spiegeln dies Die letztgenannte Forderung ist durch den ersten Schritt bereits implizit bedingt, da mit der Ausdehnung einer holistischen Theorie wie der Soziobiologie auf den Menschen die Inkorporation der Sozialwissenschaften nachgerade erforderlich ist. Dieser Übergriff Wilsons auf die Geistes- und Sozialwissenschaften wurde mehrfach als "disziplinärer Imperialismus" gewertet (Dugger 1981: 229; Rosenberg 1980).
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EINLEITUNG
wider. 2 Das ursprüngliche Konzept der Soziobiologie wird heute unter verschiedenen Titeln fachwissenschaftlich weitergeführt. Die meisten Wissenschaftler einigten sich schnell auf andere Begriffe flir evolutionäre Verhaltensstudien, die parallel zur Soziobiologie existierten, wie Verhaltensökologie (behavioural ecology) oder einfach Tierverhalten (animal behaviour), um der Mehrdeutigkeit der Soziobiologie zu entkommen.3 In den 1990er Jahren etablierte sich die Evolutionäre Psychologie, die für viele den Platz der Soziobiologie übernehmen sollte. Trotzdem die Soziobiologie wiederholt als missverständlich deklassiert worden ist, wird sie von einigen F arsehern nach wie vor gebraucht und teilweise auch heftig verteidigt. 4 1950
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Schaubild 1: Abbildung aus Wilsons Sociobiology, worin er seine Vision von der Expansion der Soziobiologie über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt (Wilson 1975a: 4).
2
3 4
Der "Final Newsletter" der ESS (Nr. 53) erschien im September 2000, worin der Herausgeber Johan van der Dennen die Angliederung der ESS an die International Society for Human Ethology bekannt gibt. Vgl. Mysterud 2004: 104-05. Zum Begriff "Verhaltensökologie" ausfuhrlieher in Kap. II. Z.B. Wilson 2000; Alcock 2001; Wuketits 2002; Hrdy et al. 1996; siehe dazu auch Kapitel II.
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In dem Begriff ,Soziobiologie' spiegelt sich damit eine hochinteressante wissenschaftskulturelle Problematik. Durch die Ausweitung einer primär fachwissenschaftliehen Diskussion entzündete sich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit ein Politikum: Bekennenden Soziobiologen galt der Terminus zunächst als Bezeichnung flir fachwissenschaftliche Konzepte, die sie mit der Vorstellung einer wertfreien Wissenschaft zu verteidigen und auszuweiten versuchten. Den Gegnern diente die Soziobiologie dagegen als - medial äußerst wirksames - Ziel flir ihre ideologisch und politisch motivierte Kritik mit dem Vorwurf eines genetischen Determinismus in der menschlichen Verhaltensforschung. Mittelsmänner wie die britischen Verhaltensökologen John Krebs oder Patrick Bateson, die sich weder auf die Seite der Soziobiologen noch auf die der Gegner stellen wollten, betrachteten den Begriff daher sehr bald als "Schlachtruf' oder nutzlosen Terminus, der bewusst missbräuchlich verwendet wird (Krebs 1977; Bateson 1982). Ähnlich wie beim Zirkulieren von Metaphern stellt sich hier die Frage, welche Art von Wirkungen der Gebrauch derartig "unscharfer Begriffe" wie Soziobiologie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen hat. 5 Innerhalb der Fachdisziplin wird Soziobiologie meist nur noch in Anführungszeichen gebraucht. Im öffentlichen Diskurs taucht sie dagegen gerade in jüngerer Vergangenheit vermehrt wieder auf. Verschiedene Verlage hierzulande haben unter dem Titel Soziobiologie neue populärwissenschaftliche Bücher publiziert, 6 und, wie bisherige Beobachtungen zeigen, tritt der Begriff in den letzten Jahren auch in anderen öffentlichen Medien verstärkt auf. So beobachtet Frank Wiehert, dass die Soziobiologie im Nachrichtenmagazin FOCUS im Zuge der zur Leitwissenschaft ausgerufenen Biologie gehäuft "gesellschaftliche und individuelle Phänomene aus einer biologistisch verkürzten Perspektive erklärt."7 Auch Axel Heinrich versucht anhand einer Analyse der Soziobi5
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Zu "unscharfen Begriffen" vgl. Löwy 1993; hier wird vermerkt, dass "unscharfe Begriffe" bei der Konstruktion von Wissen sowie der Verbreitung von Innovationen in den biomedizinischen Wissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Ludwik Fleck bemerkte bereits 1935, dass wissenschaftliche Ausdrücke, wenn sie von verschiedenen "Denkkollektiven" gebraucht werden, Bedeutungsverschiebungen erfahren, die ihm zufolge wiederum zu wissenschaftlichen Innovationen fuhren können (Fleck 198011935). Zu diesen Büchern zählen beispielsweise Wuketits 1997; 2002; Weber 2003; mit stärker akademischer Ausrichtung: Voland 200011993; Heinrich 2001; Illies 2006. Mit der Begriffsbenutzung scheinen die Verlage hier allerdings gerade die damit verbundene Zwiespältigkeit und die Kontroverse als Aufmerksamkeit zur Steigerung ihrer Verkaufszahlen ausnutzen zu wollen (T.P. Weber pers. Komm.). Wiehert (1997) untersuchte die Darstellung der Soziobiologie nur ausschnittsartig im Jahr 1994, wobei er 27 Artikel als dem "soziobiologischen
EINLEITUNG
ologie in verschiedenen Wochenmagazinen "die Aufdringlichkeit des Naturalismus in der Printmedienlandschaft" aufzuzeigen. 8 In der etwas allgemeiner gehaltenen Studie Biologistische Diskursstrategien im Feuilleton 2000 geht Stefan Metzger insbesondere auf die Symbiose der ,Dritten Kultur' mit dem FAZ-Feuilleton ein9 und fragt dabei, "was die alte Tante FAZ zu solch modernistischem Abtanzen auf der BiotechParty" treibt (Metzger 2001: 73). Diese anekdotischen Betrachtungen legen nahe, dass in der jüngeren Vergangenheit eine besondere Dynamik in der medialen Darstellung der Soziobiologie stattfand. Auch ist von forschungspolitischer Seite in den vergangenen Jahren mehrfach ein ,neuer Biologismus' bzw. ,Naturalismus' angemahnt worden, der dem Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft Emst-Ludwig Winnacker zufolge gar zu einer "neuen Religion" geworden sei. 10 Bisher sind jedoch kaum Untersuchungen zur öffentlichen Rezeption dieses ,neuen Naturalismus' durchgeführt worden und wenn, sind sie auf einer rein deskriptiven Ebene stehen geblieben. 11 An dieser Renaissance soziobialogischer Konzepte in der Öffentlichkeit setzt die vorliegende Untersuchung an. Sie liefert eine Fallstudie für die Kommunikationen, die innerhalb der breiteren Naturalismusdiskussion der vergangenen drei Jahrzehnte unter dem konkreten Begriff ,Soziobiologie' geführt wurden.
Thema relevant" zuordnet. Allerdings geht er nur auf einen einzigen Beitrag zur Beziehung zwischen Eltern und Kindern exemplarisch näher ein. 8 Heinrich 2001: 1. Heinrich weist den FOCUS als "besonders ergiebig" aus. Die Beiträge von Wiehert und Heinrich lassen sowohl bezüglich ihrer Ausschnittsartigkeit, ihrer methodischen Ausführung (unklare Auswahl der untersuchten Beiträge) als auch im Hinblick auf ihre explizite Polemik gegenüber der Soziobiologie eindeutige und wertfreie Aussagen vermissen. 9 Die sogenannte ,Dritte Kultur' hat der New Y orker Literaturagent John Brackman als eine neue Populärkultur der Naturwissenschaften ausgerufen (vgl. im Internet: www.edge.org). Neben bedeutenden populärwissenschaftlichen Autoren wie Richard Dawkins oder Stephen Jay Gould gehört auch der Feuilleton-Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, diesem Kreis an. 10 17. Sinclair-Haus-Gespräch "Wem gehört der Mensch?" 9./10. November 2001 Bad Homburg, s. FAZ 12. Nov. 2001. In einer Betrachtung über das Verhältnis von Biologie und kultureller Entwicklung gehen Bernhard Kleeberg und Tilmann Walter genauer auf einen "neuen Naturalismus" und dessen "mediale Virulenz" ein (Kieeberg et al. 200 I: 7/21 ). 11 Vgl. Wiehert 1997; Heinrich 2001; Metzger 2001; explizit zum "neuen Naturalismus" Quitterer 1999; Kleeberget al. 2001.
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Soziobiologie und Massenmedien Die skizzierte Krise der Soziobiologie, die sich an ihren kommunikativen Unschärfen und damit verbundenen Interpretationsspielräumen zu einer internationalen Kontroverse entzündete, verdeutlicht das Anliegen der Untersuchung: Es wird gefragt, wie die Vermittlung eines so problematischen Konzepts wie das der Soziobiologie zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit erfolgte. Die aktuelle Konjunktur naturalistischer Deutungen in diversen inner- und außerwissenschaftlichen Bereichen (Medien) dient dabei als Ausgangspunkt der Arbeit, die diese Tendenzen bis zum Jahr 1975 rückverfolgt Das letzte Quartal des 20. und der Beginn des 21. Jahrhunderts sind ein Zeitraum, in dem grundlegende Veränderungen in der öffentlichen Kommunikation über Wissenschaft stattfanden. Die Arbeit liefert somit eine Rezeptionsgeschichte des Konzepts Soziobiologie im ausgehenden 20. Jahrhundert für den deutschen medienöffentlichen Raum. Als empirische Fallstudie lmüpft sie an wichtige theoretische Fragen der Wissenschaftskommunikation in der Öffentlichkeit an (vgl. Kap. III): Inwieweit folgt die Medienrezeption dem wissenschaftlichen Diskurs oder verläuft sie unabhängig von ihm? Wie also ist eigenständig die Rolle der Medien zu bewerten? 12 Um die Mediendarstellung aber wirklich unabhängig bewerten und Aussagen über Trends machen zu können, muss ein solcher Vergleich sowohl die wissenschaftliche als auch die mediale Rezeption in Betracht ziehen. Denn nur vor dem Bezugsrahmen (Wissenschaft) können die Entwicklungen in der medialen Berichterstattung aufgedeckt und somit die Veränderungen in der gesellschaftlichen Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit beschrieben werden. 13 Insgesamt kann die Studie damit eine hochgradige Dynamik in der Medienberichterstattung über die Soziobiologie nachweisen, die nicht dem "linearen Modell" von Wissenschaftskommunikation entspricht (s. Kap. III). Ließe sich diese Tendenz auch in anderen Bereichen der Mediendarstellung über Wissenschaft aufzeigen, dann wäre das in der The12 Wenn hier der Begriff "Medien" ohne weitere Erklärungen gebraucht wird, so bezieht sich dieser auf die üblicherweise so bezeichneten öffentlichen Massenmedien (zur Definition von Massenmedien s. unten; vgl. auch Luhmann 1996, insbesondere S. 11 ). 13 Da die Bedingungen der medialen Wissensvermittlung über die Zeit einem stetigen Wandel unterworfen sind, muss laut Weingart (2003) eine "Geschichte der Popularisierung stets beide Seiten im Blick haben und bildet eine wichtige Grundlage für soziologische Analysen des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit" (S. 1151152); hier in Anlehnung an Daum 1998, Habermas 1962 sowie Thompson 1995.
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EINLEITUNG
oriediskussion gängige, traditionelle Modell der ,Wissenschaftspopularisierung' als "berichtender Journalismus" zu korrigieren (vgl. Kohring 2006). Das Verhältnis zwischen Medien und Wissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten in wesentlichen Aspekten verändert, die Peter Weingart mit den Konzepten der Wissenschaft-Medien-Kopplung und einer Medialisierung der Wissenschaft beschreibt (Weingart 2001: 232-283; 2005: 148-205). Weingart zufolge besteht das Neue dabei in der Form und Intensität dieses Verhältnisses und ergibt sich aus der engeren Beziehung zwischen Wissenschaft zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt, ein typisches Phänomen für moderne Massendemokratien. Typische Ausprägungen der Medialisierung sind Vorabpublikationen wissenschaftlicher Ergebnisse in den Medien, das Auftreten von sogenannten "Medienstars" und damit einhergehende Auswirkungen medialer Prominenz auf wissenschaftliche Reputation, sowie "diskursive Überbietungsdiskurse", die, zum Beispiel beim Klimawandel, auch auf die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft zurückwirken können (Weingart 2001). Im Bezug auf diese Veränderungen stellen sich brisante Fragen über die neue Rolle der Medien bei der Vermittlung wissenschaftlicher Konzepte. Angesichts der Selektivität der Medien, ihrer Selbstreferentialität und ihrer operationalen Eigenständigkeit wurden klassische Popularisierungskonzepte wieder verworfen, die von einer hierarchischen und unidirektionalen Verbindung zwischen Wissenschaft und den unterschiedlichen Formen ihrer öffentlichen Kommunikation ausgingen (Kap. III). Stattdessen werden neue Sichtweisen über ein dynamisches und interaktives Verhältnis zwischen diesen Bereichen angestrebt und die bidirektionalen Einflüsse der Wissenskommunikation verstärkt in den Fokus des Interesses gerückt. Hierbei stellt sich die wesentliche Frage, "welche Funktionen die Medien für die Wissenschaft haben und welche Folgerungen sich aus der veränderten Rolle der Medien für die Formen der Vermittlung ergeben" (Weingart 2001: 240). Für den konkreten Fall der Soziobiologie ist demzufolge hier zu klären, inwieweit die deutsche Mediendarstellung eine Art ,Abbildung' des akademischen Diskurses ist bzw. welche Impulse seitens des Mediendiskurses erkennbar sind. In scharfen wissenschaftlichen Kontroversen, wofür die Soziobiologie ein markantes Beispiel darstellt, kann die Presseberichterstattung zu einem wichtigen Bezugspunkt für innerwissenschaftliche Konflikte werden, da diese über die medienöffentliche Darstellung beeinflussbar sind. 14 Wissenschaftler können im Rekurs auf eine außerwissenschaftli-
14 Zur Rolle der Medien in wissenschaftlichen Kontroversen vgl. Nelkin 1995a; Enge1hardt/Cap1an 1987; C1emens 1986; Green 1985.
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DARWINS ERBEN IN DEN MEDIEN
ehe Öffentlichkeit versuchen, Konflikte durch allgemeine soziale Zustimmung zu entscheiden. 15 Laut Massimiano Bucchi ist diese Indienstuahme der Öffentlichkeit von besonderem Interesse, wenn neue theoretische Programme unter den Bedingungen starker Kontroversen innerhalb einer Disziplin etabliert werden sollen. Es geht also um eine mehrfache Legitimitätsbeschaffung für die Wissenschaft, sowohl im Hinblick auf die Sicherung und gegebenenfalls Expansion von Grenzen gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt, als auch auf die Konfliktregelung im Inneren der wissenschaftlichen Gemeinschaft (Bucchi 1996; Weingart 2001: 244). Auf der anderen Seite haben Kontroversenper se einen erhöhten Nachrichtenwert für die öffentlichen Medien, besonders wenn es -wie im Fall der Soziobiologie -um das brisante Thema der ,biologischen Natur des Menschen' geht. Bezüglich der amerikanischen Medienberichterstattung über die Soziobiologie kommt Dorothy Nelkin deshalb zu dem Schluss: "The jouma1ists who write about sociobio1ogy recognize, indeed re1y on, the existence of controversy to en1iven their stories. Yet most articles convey a point of view by giving space to sociobio1ogy's advocates and margina1izing critics, who are described as 'few in numbers but vociferous' or peop1e who are 'unwilling to accept the truth' [... ] in se1ecting this subject for extensive coverage, jouma1ists are in effect using a controversia1 theory to 1egitimize a particu1ar point of view about the importance of bio1ogica1 determinism." (Ne1kin 1995: 21-25) 16 Neben der von Nelkin ausschnittsartig geschilderten amerikanischen Presseberichterstattung ist die Medienrezeption der Soziobiologie bisher weder international noch in einem nationalen Kontext genauer untersucht worden. Diesem Desiderat widmet sich diese Untersuchung und zeigt auf, welche Veränderungen innerhalb der wissenschaftlichen und öffentlichen Kommunikation über die Soziobiologie zwischen den 1970er Jahren und heute stattgefunden haben. Die Kontroverse der Soziobiologie wird also in ihrer gesellschaftsrelevanten Dimension beleuchtet. Die forschungsleitende Frage lautet daher: Wie unterscheiden sich der internationale wissenschaftliche und der deutsche medienöffentliche Diskurs zur Soziobiologie im Verlaufihrer Rezeption von 1975 bis 2003?
15 Beispiele hierfür sind im früheren Streit um den Darwinismus oder in aktuelleren Auseinandersetzungen zwischen Evolutionstheoretikern und den ,Kreationisten' zu finden (vgl. Gieryn et al. 1985). 16 Hier in Anlehnung an Zitate aus der New York Times vom 12. Okt. 1975.
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EINLEITUNG
Bezüglich der aktuellen theoretischen Konzepte zur Wissenschaftskommunikation in der Öffentlichkeit kommen zwei gegensätzliche Formen der Medienberichterstattung in Betracht: A) es gab eine dem sogenannten "traditionellen Modell" von "Wissenschaftspopularisierung" entsprechende starre Abbildung (Übersetzung) der wissenschaftlichen Diskussion um die Soziobiologie in den deutschen Medien. Oder B): Die Pressedarstellung der Soziobiologie war von einer medieneigenen Dynamik geprägt. Diese Thesen stellen Extreme eines weiten Spektrums verschiedener Möglichkeiten von Wissenschaftskommunikation dar und dienen lediglich als Orientierungshilfen. Als solche werden sie in der Arbeit anhand einer empirischen Fallstudie über die drei Jahrzehnte seit 197 5 hinterfragt. 17
Untersuchungsaufbau Im Zentrum der Untersuchung steht das komplexe Beziehungsgefüge zwischen den Darstellungen der Soziobiologie in den wissenschaftlichen und öffentlichen Medien. Ziel dieses Projekts ist es, die Transformationen, welche die Soziobiologie im Verlauf ihrer kommunikativen Verbreitung erfuhr, anhand konkreten Datenmaterials über die Zeit von 1975-2003 empirisch nachzuzeichnen. Hierfür sind die Publikationen zur Soziobiologie in verschiedenen wissenschaftlichen und in den öffentlichen deutschen Printmedien analysiert und die Kommunikationen zwischen den beiden Foren ,Wissenschaft' und ,Medien' hinsichtlich ihrer zeitlichen, quantitativen und inhaltlichen Kopplungen beschrieben. Wie und mit welcher zeitlichen Verzögerung reagierten die deutschen Medien auf die wissenschaftlichen Ereignisse zur Soziobiologie? In welchem quantitativen Ausmaß und mit welcher inhaltlichen Verarbeitung erfolgte die Presseberichterstattung? Die Studie bezieht sich auf ein Textmaterial, das innerhalb der ,Wissenschaft' bzw. in den ,Medien', produziert und kommuniziert wurde (s. Anhang). Die Begriffe "Wissenschaft" und "Medien" werden im weiteren Verlauf der Arbeit in diesem pragmatischen Sinne verwendet und beziehen sich auf den hier geschilderten Analysekontext Die untersuchten wissenschaftlichen Publikationen repräsentieren die Wissenschaft 17 Obwohl das in These A) genannte "traditionelle Modell" mittlerweile als überholt gilt, spiegelt es immer noch die Auffassung vieler Wissenschaftler wider und hat auch in Kampagnen wie Scientijic Literacy oder Public Understanding of Science (PUS) nachhaltig Eingang gefunden (vgl. dazu Kap. III).
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DARWINS ERBEN IN DEN MEDIEN
und die analysierten öffentlichen Printmedien die Medien. Auch der Diskursbegriffbezieht sich direkt auf die hier interessierenden gesellschaftlichen Teilsysteme Wissenschaft und Massenmedien und wird in diesem Sinne als wissenschaftlicher bzw. medialer Diskurs verwendet. In Anlehnung an Peter Weingart et al. (2002: 22) sind Diskurse dann als systemspezifische, thematisch bestimmte Binnenstrukturierungen dieser Systeme zu verstehen, die als zusätzliche Selektionsbeschränkungen von Kommunikationen wirken und sich durch systemspezifische Regularien der Inklusion/Exklusion und Transformation von Informationen auszeichnen.18 Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach dem Teil 1 mit zwei einführenden Exkursen zur soziobialogischen Kontroverse (Kap. II) und dem interdisziplinären Forschungsgebiet zur Wissenschaftskommunikation (Kap. III) werden die empirischen Untersuchungen dargelegt (Teil 2). Zunächst sind, auf der Grundlage quantitativer Analysen, die Diskursverläufe zur Soziobiologie in Wissenschaft und öffentlichen Medien von 1975 bis 2003 dargestellt (Kap. IV). 19 Daran schließen qualitative Inhaltsanalysen an, anhand derer die Darstellungen in den wissenschaftlichen Publikationen und den deutschen Printmedien über den Verlauf der Zeit beschrieben sind (Kap. V und VI). Derartige qualitative Inhaltsanalysen haben das Problem, zwei einander widersprechenden methodologischen Prinzipien gehorchen zu müssen: Offenheit und theoriegeleitetes Vorgehen. In der vorliegenden Studie soll der Verzicht auf ein geschlossenes Kategoriensystem, ein relativ offenes Analyseraster sowie eine weitgehend deskriptive Abhandlung der untersuchten Textinhalte diese Divergenz kompensieren helfen. 20 Anhand eines klar strukturierten, empirisch ausgewerteten Materials wird in dieser Untersuchung ein Problemzusammenhang in Betracht gezogen, der auftheoretischer Ebene in einer langwierigen Forschungsdiskussion über Wissenschaftskommunikation fortwährend Unklarheiten birgt (Kap. III)? 1 Im Gegensatz zu den in der Soziologie und den Korn-
18 Auch nach Foucault (1981) sind Diskurse von bestimmten Regularien der
Inklusion/Exklusion und Transformation sowie den vorgelagerten institutionellen Strukturen bestimmt, die er zusammen als "Formationssysteme" bezeichnet. 19 Unter dem Begriff "Diskursverläufe" sind die Intensitätsveränderungen der Diskussionen über die Zeit beschrieben (vgl. Weingartet al. 2002). 20 Zum Problem des Theoriemangels der üblichen Analysemethoden vgl. Gläser/Laudei 1999. 21 Der Popularisierungsbegriff ist hier lediglich in dem Sinne gebraucht, wie er in der Forschungsliteratur immer noch umfangreich auftaucht. Im Kapitel III wird auf die Problematik des Popularisierungskonzepts ausführlich eingegangen.
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EINLEITUNG
munikationswissenschaften üblichen reinen Medienanalysen, die als Rezeptionsstudien ausschließlich auf die gesellschaftlichen Kontexte bestimmter wissenschaftlich-technischer Entwicklungen fokussieren, werden hier auch die wissenschaftlichen Darstellungen detailliert mitbetrachtet Dies erscheint unerlässlich, da einerseits eine ,Popularisierung' von Wissen (im Sinne kommunikativer Verbreitung) nie linear bzw. eindimensional erfolgt, also erst in den öffentlichen Medien stattfindet, sondern, wie Kapitel III zeigt, nur als Kontinuum von Kommunikationen über verschiedene Ebenen hinweg zu verstehen ist. Bezüglich des Rezeptionsverhaltens der deutschen Medien gegenüber dem wissenschaftlichen Diskurs geht es daher nicht nur um die Frage einer Vermittlung der wissenschaftlichen Ereignisse, sondern ebenso um die Nichtvermittlung, die nur vor dem Bezugsrahmen der wissenschaftlichen Diskussion wahrnehmbar ist. Hieraus erklären sich der doppelseitige Ansatz und der Ablauf der folgenden Untersuchungsschritte: Zunächst wurde, ohne eine von der Mediendarstellung vorab beeinflusste Perspektive, der wissenschaftliche Diskurs zur Soziobiologie eingehend in den Blick genommen, um die Storyfine zur anschließenden Untersuchung der Mediendarstellung abzubilden. In Kapitel V ist die wissenschaftliche Abhandlung sowohl des übergeordneten Themas der ,evolutionären Verhaltensbiologie', als auch der Soziobiologie in den allgemeinwissenschaftlichen Publikationen Nature und Science, sowie in der deutschen Zeitschrift Naturwissenschaften dargestellt. Erst nach der detaillierten Analyse der wissenschaftlichen Zeitschriften von 1975 bis 2003 wurde mit den Untersuchungen zur Darstellung der Soziobiologie in den öffentlichen deutschen Printmedien begonnen. Die im Kapitel VI dargestellte inhaltliche Medienanalyse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F AZ) und des Magazins Der Spiegel (Spiegel) orientiert sich an wesentlichen Leitfragen zur Darstellung der Soziobiologie in den öffentlichen Medien. Im dritten Teil der Arbeit werden die Ergebnisse der quantitativen und inhaltlichen Analysen noch einmal zusammengefasst dargestellt (Kap. VII) und daraufbin diskutiert (Kap. VIII). Dabei werden die Bezüge zwischen den beiden Foren Wissenschaft und Medien geprüft und die zeitliche Entwicklung der Interaktion zwischen dem wissenschaftlichen und medialen Diskurs zur Soziobiologie hinsichtlich aktueller Tendenzen in der biowissenschaftlichen Medienberichterstattung erörtert. Ein kurzer Epilog soll die gesellschaftliche Relevanz der hier gewonnenen Erkenntnisse verdeutlichen (Kap IX).
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1 . Te i I Soziobiologie und Wissenschaftskommunikation. Zwei Exkurse
II
Entstehung und Wirkungsgeschichte der Soziobiologie
1.
Einführung
Was ist die Soziobiologie nun genau? Besonders in jüngerer Zeit kann man in verschiedensten Kreisen dieser Frage begegnen, die kürzlich in der deutschen Publikationslandschaft vermehrt aufgenommen wurde. 1 Auch in dem hier vorgestellten Exkurs soll eine Antwort auf diese Frage und ein Überblick über die mittlerweile fast 30jährige Geschichte der umstrittenen Theorie gegeben werden. Im Sommer 1975 erschien bei Harvard-University-Press das Buch Sociobiology: The New Synthesis des Ameisenforschers Edward 0. Wilson. Es kann als die Geburtsstunde der Soziobiologie und als der Auftakt flir eine bis heute nicht verklungene Kontroverse um diese Wissenschaft gesehen werden. Der Begriff ,Soziobiologie' wurde zwar in den späten 1940er Jahren kreiert (Henting 1948; Alled et al. 1949), erhielt jedoch erst mit Wilsons Buch seine eigentliche Bedeutung. Wilson versuchte unter diesem Begriff, als Erweiterung der von ihm betriebenen Erforschung sozialer Insekten (Wilson 1971a & b), ein Forschungsprogramm zu etablieren, das über Jahrzehnte hinweg flir enorme wissenschaftliche Aufmerksamkeit sorgte. Er definierte die Soziobiologie als "[ ... ] the systematic study of the biological basis of all social behaviour, including humans" (Wilson 1975a: 4). Über den wissenschaftlichen Anspruch und die Inhalte der Soziobiologie entstand schnell eine hitzige Kontroverse, vor allem bezüglich ihDies bezeugen aktuelle Titel bzw. der Bucheditionen wie der Beck'schen Wissens-Reihe: Was ist Soziobiologie? (Wuketits 2002) oder der FischerKompakt Serie: Soziobiologie (Weber 2003). Vgl. auch Weber 2005; Illies 2006.
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rer Übertragbarkeit auf den Menschen. Die soziobialogischen Aussagen wurden sowohl in Bezug auf ihren wissenschaftlichen Gebrauch, als auch wegen ihres potenziellen politischen Missbrauchs scharf kritisiert. Zudem implizierte die Soziobiologie einen Übergriff auf andere Fachgebiete, vor allem auf die Sozialwissenschaften. Disziplinen wie die Soziologie müssten die soziobialogischen Theorien inkorporieren, forderte Wilson: "One of the functions of sociobiology is to reformulate the foundations ofthe social sciences [ ... ]" (Wilson 1975a: 4). Wilsons Sociobiology war von einschlagender Wirkung, wenn auch nicht der, die er selbst beabsichtigte (Wilson 1994). Denn es waren die Provokationen im ersten und letzten Kapitel seines 700seitigen Wälzers über das Sozialverhalten verschiedener Tiergruppen, die das Buch und die Soziobiologie bekannt machten. Im ersten Kapitel The Morality of the Gene trägt Wilson den holistischen Anspruch seines Programms vor und prognostiziert der Soziobiologie eine blendende Zukunft. Bis zum Jahr 2000 würde die Soziobiologie Gebiete wie die klassische Ethologie oder die vergleichende Psychologie vollständig überholt haben (vgl. Schaubild I in Kap. I). Im Ietzen Kapitel Man: from Sociobiology to Sociology weitet er die Theorien über tierisches Sozialverhalten auf den Menschen aus. Dies entfachte eine Kontroverse über die ideologischen Hintergründe und politischen Implikationen der Soziobiologie. Im Gegensatz zur Evolutionären Synthese (Mayr/Provine 1980) erlangte die von Wilson proklamierte neue Synthese "Soziobiologie" keine übergreifende wissenschaftliche Akzeptanz. Aufgrund ihres überhöhten Erklärungsanspruchs und einem stark kritisierten genetischen Determinismus geriet sie zunehmend in eine Krise. Außerdem evozierte sie im kulturellen Klima der 1970er Jahre eine moralpolitisch aufgeladene Debatte, die den Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung sprengte. Auf dem Höhepunkt der soziobialogischen Debatte wurde Wilson mit militanten Flugblättern attackiert und während des AAAS-Meetings 1978 von Rassismusgegnern mit einem Eimer kalten Wassers übergossen. Diese negativen Begleiterscheinungen führten letztlich zu einer Spaltung der auf dem Feld tätigen Forscher und nicht zu der Einheit, die Wilsons Vision vorhersah. Viele Wissenschaftler wie beispielsweise Neil Jumonville sehen die soziobialogische Kontroverse als eine Art Projektionsfläche der sogenannten Kulturkriege in den ,Humanities': Im Widerhall einer alten Debatte um den Beitrag der Evolution zum menschlichen Verhalten stritten hier die Vertreter der neuen Linken mit den liberalen Soziobiologen um alte und grundsätzliche Fragen über die menschliche Natur (Jumonville 2002). Im Jahr 2000, zum 25jährigen Jubiläum der Soziobiologie, wurde von verschiedenen Disziplinen Resümee gezogen (vgl. Alcock 2001;
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Segersträle 2000; Yudeii/Desdalle 2000; Wilson 2000). Sogar mit einem Wissenschaftskrimi wurden die neuerlichen Darwin Wars gewürdigt (Brown 1999). Die Bilanzen fallen nach wie vor gegensätzlich aus, sowohl was die Beurteilung des wissenschaftlichen Wertes der Soziobiologie, als auch die Einschätzung ihres Erfolgs betrifft. Im vorliegenden Kapitel werden die divergierenden Positionen aufgegriffen und die wesentlichen Streitpunkte dargestellt. Dazu werden die wesentlichen Theorien der Soziobiologie und deren Kritikpunkte aufgezeigt, sowie persönliche Verstrickungen in der Debatte geschildert. Im zweiten Teil wird auf die Wirkungsgeschichte und den historischen Kontext eingegangen, sowie die Rezeption der Soziobiologie in verschiedenen Kulturkreisen geschildert.
2.
Die Wissenschaft Soziobiologie und ihre Gegner
Das adaptionistische Programm In den 1960er Jahren des vergangeneu Jahrhunderts ist in der angelsächsischen Verhaltensbiologie ein Wandel in den Erklärungsstrukturen zu beobachten, der häufig als Kuhn'scher ,Paradigmenwechsel' interpretiert wurde (Segersträle 2000; Wuketits 1997). Unter dem Einfluss der Populationsgenetik und Populationsökologie entwickelten sich neodarwinistische Tendenzen auch in der Verhaltensbiologie, die zunächst unter dem BegriffVerhaltensökologie gefasst und 1975 von E.O. Wilson, gleichzeitig mit der Übertragung auf den Menschen, als Soziobiologie bezeichnet wurden. 2 In dieser Zeit waren bereits neue Theorien, wie die Verwandtenselektion von William D. Hamilton, zum reziproken Altruismus und über soziale Konflikte entwickelt worden (Hamilton 1964; Trivers 1971; 1974). Außerdem wurde die Spieltheorie zur mathematischen Beschreibung von Verhaltensstrategien hinzugezogen, die als evolutionäre Spieltheorie zu einem Eckpfeiler der Soziobiologie avancierte (Maynard 2
Zur Disziplinenstruktur vgl. Wickler 1979; 1985. Der Begriff "Verha1tensökologie" wurde als eine Art Antwort auf die Soziobiologie-Debatte etabliert, um sich von den terminologischen Problemen abzugrenzen (vgl. Wilbur 1979; Lawton 1979). Im Gegensatz zur Soziobiologie hat sich diese erfolgreich als Disziplin etablieren können. Es existiert eine gleichnamige Zeitschrift, die von der International Society for Behavioural Ecology ab 1990 herausgegeben wird (http://web.unbc.ca/isbe/history.htm). Allgemein zur Geschichte der verschiedenen Termini in der evolutionären Verhaltensbiologie vgl. Mysterud 2004.
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Smith 1982). Dies ermöglichte, adaptive Erklärungen nicht mehr nur für reproduktive Verhaltensweisen wie Partnerwahl oder elterliche Fürsorge zu finden. Auch soziale Verhaltensweisen, die nicht direkt dem Wohl des einzelnen Individuums oder seiner Fortpflanzung zugute kommen, wie Kooperation und Altruismus, konnten nun als funktionelle und damit auch als genetische Anpassungen im darwinschen Sinne beschrieben werden. Bislang stellte dieses Verhalten für die Evolutionstheorie ein ungelöstes Rätsel dar, da mit der Selektionstheorie nicht zu erklären war, warum zum Beispiel manche Individuen Alarmrufe abgeben, wenn sich der Akteur damit in Todesgefahr begibt, das Verhalten also eher dem Tod als dem Überleben förderlich scheint. Als neue Erklärungen hierfür eigneten sich die Theorien der Verwandtenselektion und des reziproken Altruismus, die im folgenden näher erläutert werden. Die Theorie der Verwandtenselektion (kin selection) stammt aus der Forschung an sozialen Insekten und wurde von W.D. Rarnilton 1964 in seinem Artikel The genetical evolution of social behaviour für das Reproduktionsverhalten dieser Tiere erstmals beschrieben. Die Verwandtenselektionerklärt Verhaltensweisen, die nicht direkt der eigenen Fortpflanzung dienen, mit dem Konzept der Gesamtfitness (inclusive fitness): Wenn durch einen altruistischen Akt Verwandten, etwa Geschwistern, die zu einem bestimmten Anteil die eigenen Gene tragen, geholfen wird, dann werden diese Gene damit indirekt verbreitet, auch wenn der Akteur schlimmstenfalls dabei seine eigenen (individuellen) Gene dabei opfert. Die Theorie wurde vielfach zur Beschreibung altruistischen Verhaltens bei verschiedenen Tierarten angewendet. Vor allem bot sie eine geeignete Erklärung für das ausgeprägte Helferverhalten bei sozialen Insekten, wo sich die besonders nahverwandten sterilen Weibchen ausschließlich um die Aufzucht ihrer Geschwister kümmern (Trivers/Hare 1976). Da die Verwandtenselektion altruistische und kooperative Verhaltensweisen mit einer individuenselektionistischen Argumentationsweise in Einklang zu brachte, war sie außerordentlich erfolgreich. Hamiltons Originalwerk von 1964 weist bis in die späten 1980er Jahre einen exponentiellen Zitationsindex auf (Dawkins 1996). Wilson übertrug die Verwandtenselektion dann auch auf den Menschen und deutete sogar homosexuelles Verhalten im Sinne dieser Theorie: Genetisch verankert könne Homosexualität als "Helferverhalten" in nah verwandten Gruppen einen reproduktiven Vorteil bieten (Wilson 1975a). Auch für kooperative Verhaltensweisen bei nichtverwandten Individuen gab es neue Erklärungsansätze, die auf eine individuelle Fitnessmaximierung abzielten. Die zweite Erfolgstheorie der Soziobiologie war der reziproke Altruismus (gegenseitige Unterstützung). Ein Individuum
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verhält sich demnach als ,reziproker Altruist', wenn es zunächst auf eigene Fortpflanzungsmöglichkeiten verzichtet, aber damit rechnen kann, dass sein ,positives' Verhalten bei einer anderen Gelegenheit belohnt wird. Gekoppelt mit der evolutionären Spieltheorie ergab sich daraus die Regel "tit for tat" (wie du mir so ich dir; Axelrodt/Hamilton 1981). 3 Die grundlegenden Ideen und Theorien der Soziobiologie waren keineswegs neu. Vordenker für eine genetische Basis altruistischen Verhaltens sind vor allem die Vertreter der mathematischen Populationsgenetik R.A. Fisher und J.B.S. Haldane. Haldane hatte zwar bereits am Biertisch spaßhaft die Idee geäußert, er müsse theoretischen Berechnungen zufolge sein Leben für zwei Brüder oder vier Cousinen opfern, weil diese seinem ,genetischen Wert' entsprächen. Rarnilton selbst führt sein Konzept der Verwandtenselektion jedoch auf Fisher zurück, da dieser eine streng individuenfokussierte Sichtweise propagierte und Haldane eher gruppenselektionistischen Argumentationen folgte, abgesehen von der Biertischäußerung, die später in der Zeitschrift New Biology abgedruckt wurde (Haldane 1955; Fisher 1930). Auch die Idee des reziproken Altruismus hatte ihre Vorläufer: Das Konzept der gegenseitigen Hilfe bei Tieren formulierte bereits der russische Wissenschaftler Peter Kropotkin Anfang des letzten Jahrhunderts (Kropotkin 1910). Es stellt sich somit die Frage, was das eigentlich Neue an der Soziobiologie war. Die Theorien zur Erklärung sozialer Verhaltensweisen, die von Hamilton, Trivers, Maynard Smith und vielen anderen Verhaltensbiologen in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt wurden, fasste Wilson 197 5 in Sociobiology lediglich zusammen. Seine Grundthese darin ist, dass sich alle noch so komplexen Formen des Sozialverhaltens in der Evolution durch natürliche Auslese entwickelt haben und daher optimale Anpassungen im Sinne der Reproduktion darstellen. Um jedoch Verhaltensweisen wie Aggression, Eifersucht oder Homosexualität als evolutionäre Anpassungen erklären zu können, musste Wilson davon ausgehen, dass diese genetisch bedingt sind und genetisch weitergetragen werden. Er musste sich also für einen starken genetischen Reduktionismus aussprechen. An diesem Punkt entflammte die Debatte um den wissenschaftlichen Wert des ,adaptionistischen Programms' der Soziobiologie. Denn das eigentlich Neue an der Wilsonschen Soziobiologie waren nicht die hier beschriebenen Theorien, sondern die erwähnten Ausweitungen seines Forschungsprogramms auf andere Disziplinen und auf den Menschen. 3
In einem spieltheoretischen Computerexperiment hatte sich die Strategie "Wie du mir so ich dir" als erfolgsreichste für alle Mitspieler erwiesen und wurde irrfolge dessen vielfach zur Erklärung kooperativen Verhaltens bei nichtverwandten Tieren herangezogen; vgl. dazu Krebs/Davies 1993.
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Eine Hauptprovokation war der Anspruch, die Sozialwissenschaften reformieren zu wollen: "Sociology and the other social sciences," so Wilson, "as weil as the humanities, are the last branches of biology, waiting tobe included in the Modem Synthesis" (Wilson 1975a: 4). Mit diesen disziplinären Übergriffen eskalierte die Diskussion. Von einer positiven Darstellung der Soziobiologie in den Medien motiviert, griffen kritische Fachkollegen und vor allem politisch aktive Intellektuelle Wilson so scharf an, dass er und die Soziobiologie schließlich in ein Kreuzfeuer gerieten, welches in der wissenschaftlichen Gemeinschaft eher selten ist.
Die Kritik am adaptionistischen Programm Die erste fachwissenschaftliche Kritik an der Soziobiologie lieferten die Evolutionsbiologen Stephen J. Gould und Richard Lewontin. Sie bemängeln, dass Evolution nicht mit dem Streben nach Perfektion zu verwechseln sei, erst recht nicht, wenn es um komplexe Merkmale menschlichen Sozialverhaltens geht. Damit sich Merkmale überhaupt unter dem Einfluss der natürlichen Selektion herausbilden könnten, müssten diese eine genetische Varianz in der jeweiligen Population aufweisen. Diese genetische Varianz könne aber - zumindest beim Menschen - weder vernünftig gemessen werden, noch gäbe es überhaupt Anhaltspunkte, dass komplexe Merkmale wie Aggression, Xenophobie oder sexuelle Verhaltensweisen genetisch bedingt sind. Wenn die Soziobiologen derartige Verhaltensweisen als biologisch bzw. genetisch determiniert hinstellten und sie als Anpassungen erklären, seien dies lediglich "plausible Geschichten", so Lewontin. In einer für die Auseinandersetzung bezeichnenden Schärfe behauptete er, das adaptionistische Programm der Soziobiologie sei aufgrund seines fiktiven genetischen Determinismus nichts weiter als eine "Übung im Storytelling", jedoch keine Wissenschaft, die testbare Hypothesen liefere (Lewontin 1979: 11; vgl. auch Lewontin et al. 1984). Mit den adaptionistischen Erklärungen, die nur auf die individuellen Vorteile der Verwandtenselektion oder des reziproken Altruismus abzielen, könne man letztlich jedwedes zu beobachtende Verhalten erklären. Alternative Kräfte der Evolution, wie die sogenannte "genetische Drift", multiple selektive Anpassungen oder allametrische Beziehungen würden dabei jedoch ignoriert. Man könne aber das einhörnige Nashorn in Indien und das zweihörnige in Afrika nicht ausschließlich damit erklären, dass im Osten ein Horn besser sei und zwei im Westen. Die Annahme, jegliche organischen Merkmale seien durch Anpassung entstanden, machten das Programm der Soziobiologie tautologisch, es sei untestbar und deshalb unwissenschaftlich.
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Ihre berühmteste Kritik am adaptionistischen Programm übten Gould und Lewontin in dem Artikel The Sprandels of San Marco and the Panglossian paradigm (Gould/Lewontin 1979). Wie in der Architektur, erklärten sie, müssten auch in der Biologie Formen nicht unbedingt mit Funktionen gekoppelt sein. Am Beispiel der Deckendekoration der Kathedrale von San Marco illustrierten sie, wie dort die Bogenspandrillen - als ursprünglich architektonische Nebenprodukte - so wundervoll und detailliert ausgeschmückt sind, dass sie wie ausschließlich zu diesem Zweck geschaffen scheinen. Ebenso seien auch in der Natur zunächst organische Zwänge, wie Köperbau, Skelett oder Extremitäten vorhanden, die von der Lebensweise der Individuen so gut wie möglich ausgenutzt und kompensiert werden. Anstatt in Merkmalen des Sozialverhaltens ausschließlich funktionelle Anpassungen zu sehen, müsse man diese vielmehr als Strategien in einem ganzheitlichen Gebilde, dem biologischen Organismus, betrachten. Gould und Lewontin kritisierten damit das adaptionistische Programm, welches ihrer Meinung nach "seit den 1940er Jahren das evolutionsbiologische Denken in England und den Vereinigten Staaten dominiere" (ebd.: 581). Biologen, die nur nach Anpassungen suchen, würden naturgegebene Zwänge- die Baupläne der Organismen- ignorieren, die in Kontinentaleuropa seit langem als Erklärungen für natürliche Formen, Funktionen und Verhaltensweisen gälten. Die reduktionistische Fehlannahme, man müsse Organismen in Einzelteile zerlegen, um dann adaptive Geschichten darüber erzählen zu können, sei allerdings eine alte Gewohnheit. Schon Alfred R . Wallace sei diesem Irrtum erlegen gewesen, indem er ausschließlich die natürliche Selektion als Ursache für die Evolution von Merkmalen gelten ließ (Romanes 1900; Gould/Lewontin 1979). Als Alternative befürworten die Autoren eine pluralistische Sichtweise, wie sie bereits von Darwin vertreten wurde: "A pluralistic view could put organisms, with all their recalcitrant, yet intelligible, complexity, back into evolutionary biology." (Ebd.: 163) Lewontin kritisierte auch eine mangelnde methodische Reflexion als grundsätzliches Problem der soziobialogischen Beschreibung von Verhalten. Soziobiologen würden kulturelle Kategorien, wie Sklaverei, Dominanz, Aggression oder Territorialität als natürlich gegebene Phänomene beschreiben, ohne ihre historische und ideologische Konstruktion zu hinterfragen (Lewontin 1979). Die erste wissenschaftlich ernstzunehmende Kritik am Adaptionismus der Soziobiologie wurde leider erst in einem Stadium in die Debatte eingebracht, in dem das Diskussionsklima durch moralische und politische Vorwürfe bereits stark belastet war. Die Auseinandersetzung, bis zu welchem Ausmaß adaptive Erklärungen angewendet werden können,
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wurde seither nie endgültig beigelegt. Jüngere Beispiele evolutionärer Epistemologien, die sich am adaptionistischen Paradigma orientieren sind in der Evolutionären P;,ychologie (Barkow et al. 1992), den moderneren Ansätzen einer Evolutionären Ethik (Bayerts 1993), der Evolutionären Erkenntnistheorie (Riedl 1994) und in dem neuerlichen Versuch einerevolutionär begründeten Ä·sthetik (Voland/Grammer 2003) zu finden. Auch diese neueren Ansätze werden kontrovers diskutiert, 4 wenngleich die allgemeine Akzeptanz gegenüber genetischen Argumenten heute weitaus größer ist als in den 1970er Jahren. Die massivsten Einwände gegen die Soziobiologie äußerten in den 1970er Jahren die Vertreter der Sozialwissenschaften, die sich gegen Wilsons "disziplinären Imperialismus" zur Wehr setzten (Dugger 1981: 229). In seinem Buch The Use and Abuse of Biology hält Marshall Sahlins den Soziobiologen entgegen, dass situationsbedingtes Handeln beim Menschen erwiesenermaßen nicht dem soziobialogischen Kalkül folge (Sahlins 1976). Er vermutet, dass die Soziobiologie als "endlose Spiegelung marktwirtschaftlicher Mechanismen" nichts anderes ist als die Projektion bestehender Gesellschaftsstrukturen auf die Natur. Der direkte Angriff dieses "soziologischen Utilitarismus" auf das traditionelle Wissen der Sozialwissenschaften sei zu durchschaubar: Um das neue Programm der Soziobiologie zu verteidigen, musste Wilson - mit der Strategie eines trojanischen Pferdes - versuchen, die Sozialwissenschaften von innen heraus zu attackieren. 5 Die gegenseitigen Vorwürfe und ideologisch beeinflussten Verleumdungen führten zu einer baldigen Eskalation der Kontroverse und überschatteten sachliche Argumente beider Parteien. Als sich 1976, ein Jahr nach dem Erscheinen von Sociobiology, die Kontroverse in Amerika bereits zugespitzt hatte, wurde sie durch das Konzept der egoistischen Gene des Oxforder Zoologen Richard Dawkins weiter geschürt.
Richard Dawkins und die mutmaßlichen Einheiten der Selektion Hinter den soziobialogischen Theorien zur natürlichen Auslese und Adaptation steht die grundsätzliche Frage nach den tatsächlichen Einheiten der Selektion. Ob die natürliche Auslese an Gruppen oder an einzelnen Individuen ansetzt, wurde noch in den 1960er Jahren intensiv disku4 5
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Zur Kritik an den jüngeren evo1utionären Epistemo1ogien: Rose/Rose 2000; Stere1ny/Griffiths 1999; Horgan 1995; Breidbach 2003; Linke 2004. Zum Verhältnis zwischen Soziologie und Soziobiologie vgl. auch Groß 2006.
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tiert, wobei sich die meisten Evolutionsbiologen im Sinne Ernst Mayrs auf die Individuenselektion als wirksamste Kraft der natürlichen Auslese einigten: "Das Gen ist die Einheit der Vererbung, das Individuum die Einheit der Selektion und die biologische Art die Einheit der Evolution" (Mayr 197 5: 173 ). Dies bedeutet, einzelne Lebewesen werden selektiert, ihre Gene mutieren und Arten evolvieren. In seinem an Laien gerichteten Buch The selfish Gene mischte sich der britische Verhaltensbiologe und Tinhergen-Schüler Richard Dawkins mit einer brisanten und provokanten Idee in den sogenannten unitof-selection-dispute ein (Dawkins 1976). Er ging davon aus, dass nur einzelne Gene von der Natürlichen Selektion ausgelesen werden, da nur diese im Laufe der Evolution langfristig erhalten bleiben. Allein die Gene, welche nicht in jedem Individuum neu gemischt werden, könnten sich an ein ,Über-Leben', genauer gesagt an ein ewiges Fortbestehen anpassen und müssten mit ihresgleichen darum konkurrieren. Dawkins führte damit die Idee einer Genselektion weiter, die vorher schon von Williams geäußert wurde (Williams 1966): Einziger Angriffspunkt der Natürlichen Auslese seien die Gene bzw. ,Replikator-Einheiten', wie Dawkins die kleinste konsistente Einheit des Genoms bezeichnete. Der phänotypische Organismus sei nichts anderes als ein "vergänglicher Behälter" für die potenziell unsterblichen Gene. Die egoistischen Gene erhalten Dawkins zufolge eine allumfassende Bedeutung: "There is really only one entity whose point matters in evolution, and that entity is the selfish gene" (Dawkins 1976: 14 7). Indem er die Idee der egoistischen Gene mit dem Determinismus der Soziobiologie verband, führte er letztlich auch komplexe tierische und menschliche Verhaltenseigenschaften auf materielle Einheiten zurück. Mit populären Metaphern und gewandter Rhetorik beschreibt Dawkins die Macht der Gene, die gegeneinander um ihr Überleben kämpfen und sich daher egoistisch verhalten: Beim Verlieben, der Eifersucht oder in Aggressivität - stets seien es die selbstsüchtigen Gene, die ihre Überlebensmaschinen manipulieren und somit unser Verhalten dirigieren. Mit derartigen Äußerungen goss Dawkins heftig Öl in das angefachte Feuer um den genetischen Determinismus der Soziobiologie. Während er mit seinem "Vehikelkonzept" von Organismen als "Überlebensmaschinen" einen enormen populärwissenschaftlichen Erfolg erlangte, fand er wissenschaftlich wenig Zustimmung. Die führenden Evolutionsbiologen kritisierten das Konzept der Genselektion, für sie stellte nach wie vor der gesamte Genotyp, also der individuelle Organismus, die wesentlichste Einheit der Selektion dar. Andere Forscher wie Nils Eldredge betrachteten die Natürliche Auslese alternativ als "Multi-Level-Phä-
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nomen", wonach die Selektion auf verschiedenen Ebenen wirksam ist (Eidredge 1985). Selbst gleichgesinnte Soziobiologen wie Wilson distanzierten sich vom Prinzip der egoistischen Gene (Segersträle 2000). Denn obwohl Dawkins einerseits die Bedeutung der Interaktionen zwischen Individuum und Umwelt betont, scheint er sie bei der Verfolgung seiner gendeterministischen Argumentation zu vernachlässigen. Wie aber sollten Gene, als eigenständige Akteure, in Verbindung zu ihrer Umwelt treten? Bereits Daniel Lehnnann hatte darauf hingewiesen, dass die Interaktionen eines sich entwickelnden Lebewesens nie zwischen Genen und Umwelt, sondern stets nur zwischen Organismen und Umwelt stattfinden - Organismen, die in jeder Phase der Entwicklung verschieden ausgeprägt sind und anders reagieren (Lehnnan 1953). Zum vehementesten Kritiker von Dawkins avancierte Stephen Jay Gould. Der ,Dawkins-Gould-Disput', der bis zu Goulds Tod im Jahr 2002 währte, bot selbst wiederum Stoff für diverse Studien (vgl. Shanahan 2001; Sterelny/Turney 2001). Während Gould Dawkins' Realitätsverlust vorwarf, bezichtigte ihn dieser, zu sehr an einer darwinistischen Logik festzuhalten. Goulds wesentlichste Kritik an Dawkins Theorie war, dass die natürliche Selektion nie auf einzelne Gene abziele, sondern immer nur auf ganze Körper, die nicht in genetische Einzelteile zerlegt werden könnten. Aus darwinistischer Perspektive seien nur Individuen die Einheiten der Selektion, ein Prinzip, das weder "von oben", durch Wynne-Edwards Gruppenselektion, noch "von unten", durch Dawkins' egoistische Gene, widerlegt würde (Gould 1977). Auch in seiner philosophischen Dimension ist Dawkins' Konzept mehrfach ad absurdum geführt worden. Denn die Tatsache, dass Dawkins' Selektionsmodell direkt auf die Gene Bezug nimmt, garantiert nicht, dass damit auch die wirklichen Bezugsobjekte getroffen werden. Dawkins mikroreduktionistischer Ansatz stellt somit eine Vereinfachung dar, die in die Irre leitet: Ebenso wie die Gene könne jedes andere Merkmal als Bezugspunkt herangezogen werden. Doch wie einzelne Körpennerkmale, etwa Beine, Arme oder Flügel nicht per se angepasst sein können (sie pflanzen sich ja nicht selbständig fort), können auch nicht einzelne Gene selbst angepasst sein bzw. einen eigenen Selektionswert besitzen. Die Genselektionisten Dawkins und Williams versuchten diesen Widerspruch durch eine Entkopplung von materieller und informeller Einheit zu lösen: "A gene is not a DNA molecule, it is the transcribable infonnation coded by the molecule" (Williams 1992: 11). Was also bei der Replikation überlebt sei Information, wenn auch, wie Dawkins und Williams zugeben, nur durch ihre materiellen Träger. Eine Erklärung, wie derartige ,Nichtentitäten' überleben, von etwas profitieren
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oder gar eigene Interessen haben können, bleiben die Genselektionisten allerdings schuldig. Mahner und Bunge tun die Idee, materielle von informellen Einheiten zu trennen, daher als gescheiterten Versuch eines "informationalistischen Platonismus" ab (Mahner/Bunge 2000: 331 ).
Persönliche Interessen wissenschaftlicher Autoritäten Im Laufe der Debatte um die Soziobiologie wurden immer wieder die vielen Missverständnisse zwischen den beteiligten Wissenschaftlern als Ursache des anhaltenden Streits angemahnt. Vor allem die bekennenden Soziobiologen versuchten mit steter Wiederkehr diese richtig zu stellen, um damit den "wahren Wert" der Soziobiologie zu erhellen. Auch John Alcock leitet sein Buch The Triumph of Sociobiology in diesem Sinne em: ,,I will try to identify the misconceptions that contribute to the unnecessary hostility toward sociobiology, so that they can be removed and the real nature of sociobiological research can be seen more clearly." (Aicock 2001: 21)
Diese Sichtweise ist typisch für viele Soziobiologen, die ausschließlich auf ihr fachwissenschaftliches Paradigma fokussieren. Der Wissenschaftsphilosoph David Hull dagegen bezeichnete diese Sinnverdrehungen und Missverständnisse in der Soziobiologie-Debatte als "[ ... ] not only routine in science, but a hollowed method of debate" (Hull 1980: 78). In besonders detaillierten Analysen widmete sich die Wissenschaftssoziologin Ullica Segersträle den wissenschaftlichen und moralischen Motiven der beiden Hauptkontrahenten der soziobialogischen Kontroverse, E.O. Wilson und Richard Lewontin (Segersträle 1986; 2000; 2001). Ihr zufolge zeigen sich die verschiedenen Ideologien der beiden angesehenen Harvard-Wissenschaftler am deutlichsten in der Auseinandersetzung über die von Wilson vorgeschlagene Koevolution von Natur und Kultur. In dem Gemeinschaftswerk mit Charlses Lumsden Genes, Mind, and Culture (1981) versuchte Wilson eine Lücke in der soziobialogischen Theorie zu schließen: Der ,Multiplier Effect' sollte eine Antwort liefern, wie die kleinen genetischen Unterschiede zwischen Populationen die großen kulturellen Verschiedenheiten erklären könnten - bisher ein wesentlicher Kritikpunkt an der soziobialogischen Theorie. Mit komplizierten mathematischen Modellen versuchten die Autoren zu zeigen, dass ein Feedbackmechanismus von kulturellen Unterschieden auf genetische Veränderungen wirkt und dass dieser letztlich die genetische Basis für kulturelle Veränderungen sei.
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In der Buchrezension Sleight of hand holte Lewontin zur bisher schärfsten Kritik an Wilson aus. Ohne näher auf Details einzugehen, klagt er die reduktionistische Methode per se an und bringt seine Abscheu gegen Wilsons Auffassung zum Ausdruck: Die zentrale Aussage von Genes, Mind, and Culture sei ebenso absurd wie das Modell, die Herangehensweise ein "vulgärer Reduktionismus" und die mathematischen Gleichungen "willkürlich gewählt". Die Autoren hätten nach Taschenspielerart versucht, die Soziobiologie mit dem ,Multiplier Effect' zu retten. Das Problem sei jedoch, dass jeder Schritt in dem Modell ausschließlich dazu vollzogen wurde, dieses Ziel zu erreichen: "The authors have tried to cover their tracks by dusting their paths with epsilons and deltas, but the plan is clear" (Lewontin 1981: 26). Obwohl auch andere Forscher deutlich machten, dass Wilson und Lumsden mit dem ,Multiplier Effect' falsch lagen, die polemische Rhetorik Lewoutins ist hier als Ausdruck seiner Ideologie zu sehen. Die Auseinandersetzung über die Koevolution zeigt, wie die Weltbilder der Kontrahenten mit ihren wissenschaftlichen Attitüden verbunden sind. Segersträle sieht dies als Folge der unterschiedlichen wissenschaftlichen Herkunft beider Forscher. Wilson wie Lewontin hätten die Eigenschaft, wissenschaftliche und moralische Werte zu verbinden, von ihren Mentoren geerbt. So eiferte Wilson der Begeisterung seiner Lehrer L.J. Henderson und M.W. Wheeler für holistische Erklärungen nach, deren Traum es war, die Sozial- und Naturwissenschaften auf der Basis der Gleichgewichtstheorie zu verbinden und versuchte, diese holistische Mission mit Sociobiology weiterzuführen. Gleichzeitig verbindet er moralische und ethische Werte mit seinem naturwissenschaftlichen Weltbild: "A genetically accurate and hence completely fair code of ethics must wait for further contribution of evolutionary sociobiology" (Wilson 1975a: 575). Auch Lewontin habe das Denken seines Lehrers Theodosius Dobzhansky übernommen, so Segersträle. Wie dieser versuchte er, typologisches Denken in der Wissenschaft abzulehnen und gegen Rassismus in der Gesellschaft vorzugehen. Als bekennender Marxist wollte Lewontin durch populationsgenetische Studien nachweisen, dass genetische Unterschiede innerhalb von Gruppen größer sind als zwischen Gruppen was ihm für menschliche Blutgruppen auch gelang (Lewontin 1972). Wilsons wissenschaftlichem Holismus, der Ethik, Moral und Kultur zu inkorporieren versuchte, stand Lewoutins marxistisches Weltbild unvereinbar gegenüber. Es ging demnach nicht mehr nur darum, "Missverständnisse" über fachwissenschaftliche Fragen aufzuklären, sondern um die Verteidigung grundsätzlich verschiedener Ideologien. Im Aufeinanderprallen der beiden angesehenen Evolutionsbiologen eine ernsthafte
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wissenschaftliche Auseinandersetzung zu sehen, wäre daher verkürzt. Die Forscher versuchten vielmehr, über die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung hinaus, die soziobialogische Debatte als Plattform zu nutzen, um eigene Standpunkte zu stärken und die außerwissenschaftlichen Motive ihres Gegenspielers herauszustellen. Beide Seiten profitierten somit in einer Art Symbiose von der Kontroverse (Segersträle 1986). Wilson wurde so als ,Adaptionistischer Reduktionist' denunziert und Lewontin als , Tabula-Rasa-Marxist' verschrieen.
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Die Rezeptionsgeschichte der Soziobiologie
Die Soziobiologie in der Natur-Kultur Debatte Der bisherige Überblick soll zeigen, welche Theorien zur Soziobiologie gehören, wie die ,Scientific Community' darauf reagierte, und wie persönliche Ideologien damit verbunden waren. Historisch betrachtet sind die Inhalte der Soziobiologie nichts grundsätzlich Neues und maßgeblich auf die Entwicklungen im Zuge der Evolutionären Synthese zurückzuführen (s.o.). Ihre ideengeschichtlichen Vorläufer reichen aber noch deutlich weiter zurück. Paul Crook zeigt in seinem Artikel über die Anticipations of Sociobiology 1880-1919, dass fast alle Themen über Krieg und menschliche Aggression aus Wilsons Sociobiology und On Human Nature bereits im angloamerikanischen ,Bio-Social-Discourse' um die Jahrhundertwende existierten (Crook 1998). Krieg wurde dort als Instinkthandlung angesehen und Genozid als eugenische Kraft der menschlichen Evolution interpretiert. Mit klarer soziobialogischer Rhetorik sei Krieg als adaptives Verhalten im Kampf um Ressourcen und Reproduktionsvorteile erklärt worden, so Crook. Während die modernen Soziobiologen zwar gerne auf die Autorität Darwins und die Evolutionäre Synthese als ideengeschichtliches Erbe verwiesen, seien sie eigenartig schweigsam über ihre intellektuellen Vorläufer um 1900 (ebd.: 264). Die Soziobiologie nach E.O. Wilson hat dann letztlich auch eher das Gegenteil bewirkt als die von ihm proklamierte ,Neue Synthese': Aufgrund der negativen Konnotationen spalteten sich sowohl der Begriff, als auch die wissenschaftlichen Aktivitäten in diesem Feld wieder auf. 6 Die Forschung über menschliche Verhaltensweisen aus evolutionärer Perspektive wurde seit Beginn der 1990er Jahre unter dem Namen Evolutionäre hychologie weitergeführt. Die Modelle nichtmenschlicher
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Zur Begriffsgeschichte evolutionärer Epistemologien vgl. Mysterud 2004.
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Soziobiologie behielten dagegen ihren angestammten Platz in der traditionellen Verhaltensökologie, deren Vertreter den Begriff bald wieder vermieden: "[ ... ] ,sociobiologic theory' (which I call natural selection) [ ... ]" gab J.R. Krebs bereits 1977 bekannt (Krebs 1977). Aus diesem Blickwinkel ist die Soziobiologie nichts weiter als ein Meilenstein in der historischen Auseinandersetzung, der sogenannten ,Natur-Kultur Debatte', die von Beginn an eine überzogene Ausdehnung der neodarwinistischen Erklärungsansätze darstellte (vgl. Junker/Roßfeld 2001). Die Diskussion um die unterschiedlichen Einflüsse von Genen (Natur) und Umwelt (Erziehung) wurde seit Darwins Selektionslehre unter verschiedenen Erkenntnishorizonten immer wieder geführt. So zum Beispiel Anfang des letzten Jahrhunderts bei der Darwinrezeption und der Eugenik (vgl. Paul 1998), Mitte des 20. Jahrhunderts in den gegensätzlichen Verhaltenswissenschaften Behaviorismus und Ethologie (vgl. Barlow 1991) oder heutzutage im Rahmen der Genetik. Mit der modernen Humangenetik scheinen die ,Natur-Argumente' wieder eine Konjunktur zu erleben (Beyler 2001) und immer häufiger wird in jüngerer Zeit auch eine Entspannung der ,Jahrhundertdebatte' verzeichnet. 7 Dass die Trennung in angeborenes und erlerntes Verhalten grundsätzlich in die Irre führt, ist zwar eine alte Erkenntnis (vgl. Rinde 1969). Da jedoch jedes Argument für Gene oder Umwelt auch politisch ge- und potenziell missbraucht werden kann, wird die Diskussion sehr emotional geführt. Vom jeweiligen Zeitgeist beeinflusst, ist das Pendel zwischen ,Natur' und ,Kultur' als vorherrschende Erklärung menschlichen Verhaltens im letzten Jahrhundert mehrere Male hin- und hergeschwungen (vgl. Degler 1991). Im Laufe der Zeit wurden dabei so gegensätzliche Ideen wie das ,Tabula-Rasa-Konzept' der Reformer, die uneingeschränkte Flexibilität menschlicher Entwicklung, oder die Fixierung auf Blut, Rasse und Gene bei den konservativen Strömungen vertreten (Weingart et al. 1988). Da die soziobialogische Argumentation strikt auf einer genetischen Basis von Verhaltensweisen beharrt, entfachte sie den Disput über die Einflüsse von Natur und Kultur erneut, obwohl die Unzulänglichkeiten dieser Dichotomie längst deutlich waren. Indem die Soziobiologie mit Theorien über ,Gene für' Aggressivität, Kriminalität oder Promiskuität zu einseitig die Rolle der Erbfaktoren betonte, hat sie sich letztlich in dieser Form als unhaltbar erwiesen. Zudem hat die an ihrer Seite geführte politisch-ideologische Kontroverse der Verhaltensbiologie insgesamt schweren Schaden eingebracht (Bateson 200 I).
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Dies diagnostizieren beispielsweise Koshland 1987; Voland 2000 sowie de Waal 2002.
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Die länderspezifische Rezeption der Soziobiologie Zunächst war die Soziobiologie sowie die sie begleitende Kontroverse ausschließlich ein angloamerikanisches Phänomen. Beginnend mit Darwins Origin of Species (1859) stammten auch die Vorläufer der soziobiologischen Ideen fast ausschließlich aus England und den Vereinigten Staaten. Wie die Darwirrsehe Evolutionstheorie blieb aber auch die Soziobiologie nicht auf England und Amerika beschränkt, sondern etablierte sich allmählich auch in Deutschland und anderen Ländern. Im Gegensatz zum Darwinismus existieren jedoch bis auf wenige Ausnahmen kaum länderübergreifendende Vergleiche zur Rezeption der Soziobiologie. 8 Norbert Bischof geht in seiner Lorenzbiographie kurz auf die Stellung und Entwicklung der Soziobiologie in Deutschland ein, Tamas Bereczkei gibt eine kurze Einführung in die Rezeption der Soziobiologie in Ungarn und Osteuropa, Osamu Sakura liefert selbige Analyse für Japan und Li Jianhui und Hong Fan für China. Leider liegen die ausführlicheren Abhandlungen dieser Autoren nur in der jeweiligen Landessprache vor. 9 Diese Beiträge zur nicht-angloamerikanischen Rezeption der Soziobiologie verweisen einstimmig auf die Verspätung, mit der die Soziobiologie Einzug hielt, sowie auf das Ausbleiben einer ernsthaften Kontroverse. In Osteuropa und China wird vor allem das politisch-ideologische Erbe des Sozialismus dafür verantwortlich gemacht (Bereczkei 1993; Jianhui/Fan 2003). In Westdeutschland und Japan haben die traditionellen Verhaltensschulen von Konrad Lorenz und Kinji Imanishi die Etablierung der Soziobiologie gebremst (Bischof 1991; Sakura 1998). Nach dem Abtreten von Lorenz und Imanishi konnten die Theorien der Soziobiologie in diesen Ländern dann relativ unproblematisch in die Verhaltensbiologie integriert werden. Sakura führt vier wesentliche Gründe für das Ausbleiben einer Kontroverse in Japan an: Erstens sorgten die verspätete Rezeption und rhetorisch bedachte Übersetzungen für eine De8 9
Zur vergleichenden Rezeption des Darwinismus vgl. Glick 1974. Bezüglich des deutschen Soziobiologie-Kontexts kann die Rolle von Prof. Hubert Mark!, dem ehemaligen Präsidenten der Max Planck Gesellschaft, nicht ausgeklammert bleiben. Damals versuchte er als Professor an der Universität Konstanz, die neue Richtung innerhalb der deutschen Verhaltensbiologie zu etablieren. Bereits 1976 gründete er die Zeitschrift Behavioral Ecology and Sociobiology als internationales - aber auch als deutsches Forum, in demjedoch keine Debatten geführt wurden. In seinen Büchern und Artikeln äußerte sich Mark! zwar zur Soziobiologie, aber auch er konnte der neuen Richtung hierzulande letztlich nicht zu breiter Anerkennung verhelfen.
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Ideologiesierung der Thematik, zweitens wurde, vor allem von jungen Wissenschaftlern, dringend eine Alternative zu Imanishis holistischer Evolutionstheorie gesucht. Außerdem existierte in Japan kein ausgeprägter Wissenschaftsjournalismus, welcher auch von anderen Autoren als wesentlicher Impuls für die disziplinübergreifende Kontroverse gesehen wird (Mazur 1981 ). Viertens sei schließlich das konfuzianische Weltbild in Japan relativ unproblematisch mit dem darwinistischen Denken in Einklang zu bringen, worauf auch der Primatologe Frans de Waal (2002) ausführlich eingeht. Ähnlich wie in Japan die Schule Imanishis, bestimmte in Deutschland lange Zeit die klassische Ethologie von Konrad Lorenz die Verhaltensbiologie, welche von seinen Schülern, maßgeblich Irenäus EiblEibesfeldt, weitergeführt wurde. Lorenz äußerte sich distanziert und kritisch gegenüber der Soziobiologie und ihren Vertretern. Der wesentliche Konflikt bestand darin, dass Lorenz bis zu seinem Lebensende ein Verfechter der Gruppenselektion war, welche von den Soziobiologen als grundlegend falsch erachtet wurde. Erst nach Lorenz' Emeritierung konnten auch in der deutschen Verhaltensbiologie soziobialogische Ansätze aufgenommen werden, die sich zunächst auf Übersetzungsarbeiten beschränkten (Bischof 1991 ). Die vorläufige Zurückhaltung gegenüber der Soziobiologie ermöglichte aber auch, auf die Kritik und mögliche Gefahren dieser Disziplin einzugehen: So beklagt Eibl-Eibesfeldt zwar die "antibiologische Welle", die in den 1970er Jahren auch den Ethologen entgegenschlug (vgl. Tobach et al. 1974), mahnte jedoch ausdrücklich vor den Gefahren, die aus der "allzu simplizistischen Darstellung" der Soziobiologie und dem Einbezug des Menschen erwachsen und grenzt die Ethologie ab: "Allerdings wurden biologische Erkenntnisse oft auch von Ideologien einseitig missbraucht, etwa um einen rücksichtslosen Sozialdarwinismus zu rechtfertigen. In der neuen Soziobiologie stecken Ansätze zu solchem Missbrauch, und da dieses Fach ein Kind der Ethologie ist, sei hier auf diese Gefahr hingewiesen. Die vermutlich richtige Einsicht, dass Individualselektion ein beherrschendes Prinzip der Evolution ist, sollte nicht zu dem vorschnellen Schluss verleiten, dass sie bis zum Menschen hinauf- und bis zum heutigen Tage entscheidend und ausschließlich wirke." (Eibl-Eibesfeld 1978: 655) Auch die deutsche Anthropologie, die traditionell für eine Sonderstellung des Menschen eintrat, stand den biologischen Erklärungen menschlichen Verhaltens äußerst skeptisch gegenüber (Gehlen 1971). Doch schien die Disziplin selbst nicht stark genug zu sein, um eine ernsthafte
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Debatte um die von der Soziobiologie aufgeworfenen Fragen zu etablieren. In jüngster Zeit versuchen auch einige deutsche Autoren das Ansehen und den Stand der soziobialogischen Theorien massiv zu stärken, vernachlässigen dabei aber oft wesentliche Kritikpunkte. 10 Die in Deutschland verbreitete Skepsis gegenüber biologisch-deterministischen Erklärungen wird dabei als "dunkler Schatten der Vergangenheit" interpretiert, den es abzustreifen gälte (Euler/Voland 2001: 277ft), die Gegenreaktion der Sozialwissenschaftler am "disziplinären Imperialismus" der Soziobiologie als unangemessener Versuch einer "Re-Ethisierung" der Fragestellungen gewertet (Rindermann 200 I: 24).
Kontroverse als populärer Erfolg Im Gegensatz zum umstrittenen wissenschaftlichen Paradigma erfuhr die Kontroverse der Soziobiologie einen populären Erfolg. Sie entstand im Zuge der medialen Vermarktung und Rezeption von Wilsons Buch Sociobiology. Dieses wurde bereits am 28. Mai 1975, immerhin noch einen Monat vor seiner endgültigen Veröffentlichung, plakativ auf der Titelseite der New York Times als "Darwinian Update" vorgestellt, welches "revolutionäre Implikationen" trage (Rensberger 1975). Zudem wurden ganzseitige Werbeanzeigen geschaltet, diverse Vorab-Publikationen in angesehenen Zeitungen und Zeitschriften positioniert und Fernsehinterviews gegeben, was die Soziobiologie umgehend in den Fokus der Öffentlichkeit brachte. Als spontane Antwort auf die mediale Präsenz bildete sich die Sociobiology Study Group (SSG), unter ihnen Wilsons Harvard-Kollegen Stephen J. Gould und Richard Lewontin. Die SSG erhob massiv Einspruch gegen Wilson und die positive Darstellung seiner Disziplin in den Medien. Wilson wurde vorgeworfen, einen biologischen Determinismus zu beschwören, der - mit Verweis auf Hitlers Genozid bereits genügend politischen Schaden angerichtet hätte (Allen et al. 1975). Wilson antwortete, er sei missverstanden worden und gab diverse Beispiele, wie er von der SSG im falschen Kontext zitiert wurde (Wilson 1975c). Die SSG antwortete daraufhin wiederum mit einer detaillierteren Kritik an der Soziobiologie (SSG 1976), welche Wilson erneut zu entkräften versuchte (Wilson 1976). Doch für eine Besänftigung der Kritiker war es bereits zu spät, von hier aus nahm die Kontroverse um die Soziobiologie ihren Lauf.
I 0 Wie beispielsweise die breite wissenschaftliche und öffentliche Kritik an dem BuchA natural history ofrape ihrer amerikanischen Kollegen Randy Thomhill und Craig Palmer, vgl. Kap. VI.2.
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Historisch betrachtet stellt sich die Frage, welche Faktoren der Soziobiologie zu dieser ungewöhnlichen Aufmerksamkeit verhalfen und damit Wilson den publizistischen Erfolg bescherten. Denn das Thema wurde zur selben Zeit auch von vielen anderen Autoren aufgegriffen und in Lehrbüchern verarbeitet, die im Vergleich zu Wilsons Werk annähernd unbeachtet blieben(z.B. Brown 1975; Barash 1977). Einige Faktoren, wie der provokative disziplinübergreifende Anspruch und die Übertragung der soziobialogischen Theorien auf die menschliche Gesellschaft, wurden bereits genannt. Vor allem lieferte die intensive Popularisierung in den verschiedensten Medien entscheidende Impulse für die Kontroverse. Zum einen bot Wilson mit seinen biologischen Erklärungen der menschlichen Natur Thesen, die sich in Form einer "Biologie als Schicksal" in den Medien vortrefflich inszenieren lassen. Des weiteren erregte die heftige Auseinandersetzung namhafter Wissenschaftler - als "clash among titans" gedeutet- ein enormes öffentliches Interesse (Wade 1976: 1151). Dorothy Nelkin zufolge wurde den Advokaten der Soziobiologie deutlich mehr Platz in der Presse eingeräumt und die Kritiker marginalisiert. So führten Theorien über genetisch bedingte Unterschiede mathematischer Fähigkeiten zwischen Jungen und Mädchen im Zuge dieser Popularisierung zu Aussagen wie "Männer sind natürlicherweise besser in Mathematik als Frauen", wie Nelkin zeigt. 11 Als ein wesentlicher Faktor für die populäre Ausstrahlung der Soziobiologie werden oft die Impulse des modernen Wissenschaftsjournalismus genannt. Allan Mazur führt den diskursiven Einfluss der Medien in der soziobialogischen Debatte auf die (zu) engen Kommunikationskanäle zwischen Presse und Wissenschaft zurück: "Sociobiology is one case in which a few individuals managed to define a scientific event, and a few others to produce anational controversy, through their control of the narrow communication channels between science and the media." (Mazur 1981: l 09)
4.
Resümee
In diesem Exkurs wurde gezeigt dass es aufgrund der Vielschichtigkeit der Thematik und der verworrenen begrifflichen Zuschreibungen nicht leicht ist, die eingangs erwähnte Frage "Was ist Soziobiologie?" mit einer klaren Definition zu beantworten. Die enorme wissenschaftsinterne II Die Studie über angebliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen
in Mathematik wurde von Benbow und Stanley 1980 in Science publiziert. Zu deren Medienrezeption vgl. Nelkin 1995: 23f. 42
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und -externe Kritik spaltete die "neue Synthese" schnell wieder auf, so dass es nicht möglich ist, eine klare Zuschreibung zu machen - weder bezüglich der beteiligten Personen, noch der konkreten Inhalte. Der Begriff hat sich jedoch bis heute gehalten. Verhaltensbiologen verschiedenster Couleur, die nicht umhin kamen, Stellung zu beziehen, haben die Soziobiologie aufunterschiedlichste Weise definiert und interpretiert (vgl. Bateson 1982; Eibl-Eibelsfeld 1980; Triiimich 2002; Seeley et al. 2002). Nach nunmehr 30 Jahren Kontroverse ist nie eine Einigung über den Gehalt und den wissenschaftlichen Wert der Soziobiologie erzielt worden, vor allem was ihre Übertragung auf menschliche Verhaltensweisen betrifft. Unter den ursprünglich an der Kontroverse beteiligten Forschern ist ihr Stellenwert nach wie vor äußerst umstritten. Während die Soziobiologen fortwährend den "Triumph der Disziplin" verkünden (Alcock 200 I), beanspruchen auch die Gegner stets den Sieg für sich: "Why we have won the debate" explizierte Gould bereits 1984 auf einer Tagung an der Harvard-University (zitiert nach Segerstäle 2000: 119). Mit der intensiven akademischen und medienöffentlichen Verbreitung mischten sich mehr und mehr Vertreter anderer Disziplinen in die Auseinandersetzung ein, vor allem aus der Philosophie und den Sozialwissenschaften. Auch in Deutschland wurden die soziobialogischen Theorien, wenn auch sehr verspätet, von verschiedensten Fachgebieten aufgegriffen, am stärksten von der Theologie, 12 vereinzelt von der Ökonomie (vgl. Koslowski 1999) und den Politikwissenschaften (Flohr/ Tönnesmann 1983; Euchner 2001), wobei die Meinungen über ihren wissenschaftlichen Wert weit auseinander gehen. Die deutschen Sozialwissenschaften haben sich im Vergleich zu ihren amerikanischen Kollegen allerdings erst erstaunlich spät und knapp zur Soziobiologie geäußert.13 Der wesentliche Grund für die soziobialogische Debatte scheint die inhärente Brisanz der immer wieder aktuellen Thematik der Natur des Menschen zu sein, ein Disput, welcher historisch verortet werden kann (s.o.). Ähnlich wie der Darwinismus, die Freudsche Psychologie oder die Phrenologie des 19. Jahrhunderts gewann die Soziobiologie schnell einen erstaunlichen Einfluss beim allgemeinen Laien-Publikum. Dies
12 Zu Beiträgen mit deutlich theologischem Einschlag vgl. Hemminger 1984; Knapp 1989; Quitterer 1999; Heinrich 2001. 13 Für die Anfangszeit der Kontroverse in den 1970er Jahren ist lediglich ein Artikel von Angelika Köster-Lossack (1979) (vgl. Kap. VIII.!). In jüngerer Vergangenheit versuchen nun auch die Soziologen hierzulande, ihrem Defizit in Auseinandersetzung mit der Soziobiologie Rechnung zu tragen (vgl. Richter 2005).
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brachte die beteiligten Wissenschaftler in den Fokus der Öffentlichkeit und verlieh ihnen die Autorität, im Anschein fachlicher Diskussionen persönliche Ideologien zu vertreten. Laut einer Times-Dmfrage zählt E.O. Wilson heute zu den 25 einflussreichsten Personen Amerikas (Wright 1996) und wurde in seiner "Opferrolle" sogar mit Galileo Galilei verglichen (Nelkin 1995). Die intensive Darstellung der soziobialogischen Theorien in den Massenmedien könnte letztlich auch zur heute weitaus größeren Akzeptanz gegenüber biologischen Erklärungen menschlichen Verhaltens beigetragen haben. Bezüglich ihrer wissenschaftlichen, moralischen und politischen Inhalte sieht Segersträle die soziobialogische Kontroverse sogar als eine Art Probe für die heutige Debatte über moderne Humangenetik. Auch hier haben die ursprünglichen Kontrahenten wieder gegensätzlich Stellung bezogen (Wilson 1998; Lewontin 2000). Segersträle interpretiert die Kontroverse um die Soziobiologie mit ihren ,hypothetischen Genen' daher als "[ ... ],dry run' for the discussion that is now ernerging araund the human genome- both its scientific and moral and political aspects" (Segersträle 2001: 553).
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Wissenschaftskommunikation in der Öffentlichkeit
In der jüngeren Vergangenheit wurde aus verschiedenen Bereichen der Wissenschaftsforschung, der Wissenschaftsgeschichte, der Wissenschaftssoziologie sowie von den Kommunikations- und Medienwissenschaften die Verbreitung von Wissenschaft im öffentlichen Raum mit unterschiedlichen Ansätzen und Schwerpunkten beleuchtet. Der Problemhereich wurde dabei vor allem auf theoretischer Ebene neu reflektiert, wobei das sogenannte "traditionelle Modell" einer linearen ,Diffusion' wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Öffentlichkeit verworfen und neuere Sichtweisen über ein dynamisches und interaktives Verhältnis zwischen den beiden Bereichen exploriert wurden. Die vielfältigen politisch intendierten Popularisierungskampagnen wie Scientific Literacy oder Public Understanding of Science (PUS), 1 womit eine ,externe' Öffentlichkeit angesprochen werden soll, die als unwissend aber im Prinzip als wissbegierig gilt, orientieren sich allerdings nach wie vor am soeben beschriebenen sogenannten DefizitmodelL Einen wesentlichen Anstoß zur Neuorientierung in den 1990er Jahren lieferte Stephen Hilgartner mit seinem Beitrag The Dominant View Public Understanding ofSciences (and Humanities) und das dazugehörige Akronym PUSH stehen für die vielfaltigen Projekte, die sich um mehr Verständnis von und für Wissenschaft in der Öffentlichkeit bemühen. Die angelsächsische Pragmatik des PUSH-Konzepts ist jüngst durch eine Ersetzung von Public Understanding in Public Engagement with Science and Technology (PEST) revidiert worden, was einer allgemeinen Demokratisierung Rechnung tragen soll (vgl. Science 298, 2002: 49). Mit PUS, bzw. PUSH wird häufig auch ein wissenschaftliches Arbeitsfeld bezeichnet. Seit 1992 erscheint eine gleichnamige Zeitschrift, die theoretische und empirische Untersuchungen zur Wissenschaftskommunikation publiziert. Zum deutschen Kontext vgl. Bader/Göpfert 1994.
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of Popularisation. Conceptual Problems, Political Uses (Hilgartner 1990). Hi1gartner zeigt die Probleme der "traditionellen Sichtweise von Popularisierung" auf, die von einer hierarchischen Vorstellung von Wissensformen und der unidirektionalen Vermittlung derselben an eine diffus konzipierte Öffentlichkeit ausgeht. Dieses Popularisierungskonzept billigt den Medien kaum eigenständige Funktionen zu und deutet das Publikum als passiv und rein rezeptiv (Whitley 1985: 4). 2 Die Medien werden im "traditionellen Modell" lediglich als Übersetzer und Propagandisten von Wissenschaft gesehen. Im besten Fall wird Popularisierung als "angemessene Simplifizierung" und (minderwertige) Bildungsarbeit angesehen, im schlimmsten Fall als Verzerrung und Versehrnutzung der Wissenschaft durch Außenseiter (Hilgartner 1990: 519). Hilgartner diskutiert die konzeptionellen Probleme dieser übersimplifizierten Sichtweise, hinter der sich eine politische Bedeutung verberge: indem sie Wissenschaftlern und anderen Experten als Ressource im öffentlichen Diskurs dient, kann diese Sichtweise zur Aufrechterhaltung des Monopols der Wissensinterpretation und damit letztlich als Machtinstrument in der sozialen Hierarchie der Expertise genutzt werden. Dieser Dominant View entspringe jedoch einer falschen Trennung zwischen "wahrem wissenschaftlichem Wissen", das gegen "popularisiertes Wissen" kontrastiert würde. Danach kann Popularisierung nur Verzerrung und Entstellung der ursprünglichen Wahrheit bedeuten. Jedoch, so Hilgartner, verlaufe jedwede Popularisierung kontinuierlich und sei nicht aus derartigen Abgrenzungen heraus zu beschreiben. Zwischen angemessener Vereinfachung und Verzerrung ist nicht zu unterscheiden, da letztere stets unweigerlich im Prozess der Vermittlung inbegriffen ist. Statt zu fragen, "wie popularisiert ist Popularisierung" sei vielmehr die Flexibilität des Phänomens zu beschreiben (Ebd.: 529). 3 Hilgartner zufolge behaupten Wissenschaftler lediglich, zwischen Wissenschaftlichkeit und Popularisierung unterscheiden zu können, weil sie diese Unterscheidung letztlich als taktische Argumente, vor allem in Kontroversen, gebrauchen können: Indem gewisse Äußerungen als Popularisierungen ausgelegt werden, ist es möglich, Arbeiten zu diskreditieren, mit
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Auch in dem Sammelband von Shinn/Whitley (1985), in dem dieser Beitrag erschien, wird eine dezidiert interaktionistische Sichtweise propagiert und Wissenschaftler, ,Popularisatoren' sowie die Öffentlichkeit als Akteure wechselseitiger Kommunikationen zwischen Produzenten und Rezipienten beschrieben (s.u.). Hilgartner geht auch auf den Status populären Wissens für die Wissenschaft sowie mögliche Rückwirkungen der Popularisierungen auf die Wissenschaft ein. Vgl. dazu auch Bunders/Whitley 1985; Weingart 2005 oder Fleck 1980 (1935).
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denen man nicht einverstanden ist, zum Beispiel von anderen Wissenschaftlern, Journalisten oder politischen Entscheidungsträgern. Das hier geschilderte ,Aufklärungs-' oder ,Defizitmodell', wonach Popularisierung in hierarchischen Kommunikationen von "oben" nach "unten" stattfindet, ist noch von den Vordemokratischen Gesellschaftsordnungen des 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhunderts geprägt und hat sich in Teilen bis in die 1970er Jahre des Ietzen Jahrhunderts gehalten (Weingart 1998: 870). Mit dem im Verlauf des 20. Jahrhunderts vollzogenen Strukturwandel zu massendemokratischen Öffentlichkeiten und der Ausdifferenzierung der Massenmedien haben sich allerdings entscheidende Veränderungen ergeben. Peter Weingart zufolge finden diese Veränderungen jedoch bislang weder in der Vermittlung von Wissenskonzepten nachhaltigen Niederschlag, noch werden sie überhaupt in ihrer vollen Tragweite wahrgenommen (Weingart 2001: 234). Das "traditionelle Modell" der Popularisierung ist erst mit neueren Erkenntnissen über die Komplexität der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie der Einsicht in die eigenständige Rolle der Medien zunehmend revidiert worden. Zwar war die Einsicht, dass die Medien eigene Selektionskriterien haben, bereits in den 1920er Jahren bekannt (Lippmann 1991/1922). Mit jüngeren Theorien zur Ausdifferenzierung der Medien zu einem gesellschaftlichen Funktionssystem ist die eigenständige Rolle der Medien jedoch dahingehend zugespitzt worden, dass diese nicht eine Realität abbilden, sondern durch eigene Selektionsentscheidungen selbst eine Medienwirklichkeit konstruieren (Luhmann 1996: 9ff). Dieneueren Ansätze gehen daher davon aus, dass die Medien die Gesellschaft bzw. die Öffentlichkeit nicht nur widerspiegeln, sondern sie zugleich auch konstituieren (vgl. Weingart 2003: 116/120), womit sie als geeignetes Analyseobjekt zur Untersuchung der gesellschaftlichen Rezeption einer bestimmten Thematik dienen. Medienwissenschaftler haben indes die Selektionskriterien identifiziert, nach denen Journalisten den ,Nachrichtenwert' einer Meldung beurteilen. Zu den sogenannten Nachrichtenfaktoren gehören vor allem Aktualität, Sensation, Personalisierung und Lokalbezug. 4 Augenscheinlich sind diese Kriterien völlig verschieden von denen, die innerhalb der Wissenschaft zur Kommunikation von Informationen verwendet werden, weshalb es letztlich auch gar keine im wissenschaftlichen Sinn ,adäquate' Medienberichterstattung geben kann. 4
Luhmann (1996) nennt die Aufmerksamkeitskriterien der Medien "Selektoren", wobei er zehn Unterteilungen angibt, z.B. Neuigkeit der Information, Konflikthaftigkeit, Sensationen in Form von Normversäßen und Skandalen, Quantität der Ereignisse, Lokalbezug sowie Personalisierung und Moralisierung (S. 58-72). Vgl. auch Staab 1990; Schulz 1976. 47
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Die Eigenständigkeit der Medien hat weitreichende Implikationen für die Popularisierung. Aufgrund des hohen Verbreitungsmonopols der modernen Massenmedien und der damit einhergehenden Fokussierung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf spezielle Ereignisse bleibt diese Popularisierung wiederum nicht ohne Einfluss auf das Wissenschaftssystem. Die durchaus brisanten Fragen zu möglichen Rückwirkungen der Pressedarstellung auf die Wissenschaft 5 sowie den tatsächlichen Medienwirkungen auf die Öffentlichkeit (vgl. Bonfadelli 1999)6 sind in der vorliegenden Studie jedoch nicht weiter thematisiert. Die hier durchgeführte Untersuchung richtet sich auf die Repräsentation der Wissenschaft in den Medien: Welche Bilder erzeugen die Medien von einer Wissenschaft? Weiche Kriterien bestimmen tatsächlich die Auswahl wissenschaftlicher Themen oder einzelner Wissenschaftler und wie werden diese in der Mediendarstellung umgesetzt? Und letztlich stellt sich die Frage, welche Veränderungen hierbei in der jüngeren Vergangenheit festzustellen sind. Wissenschaft und Medien stellen zwar getrennte gesellschaftliche Teilsysteme dar, doch ist ihre Beziehung im modernen Wissenschaftsjournalismus in vielerlei Hinsicht auffallend gegenseitig: Während es den weitgehend kommerzialisierten Medien darum geht- nach ihren eigenen Selektionskriterien-Neuigkeiten aus der Forschung in Erfahrung zu bringen, haben sie für die Wissenschaft die Funktion, selektiv Aufmerksamkeit zu sichern. Diese Aufmerksamkeit lässt sich wiederum in verschiedener Weise instrumentalisieren, beispielsweise zur Legitimationssicherung in der politischen Arena, um innerwissenschaftliche Kontroversen zu beeinflussen oder, zumindest teilweise, zur Steigerung der
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Rückwirkungen der Medien auf andere gesellschaftliche Teilsysteme wie die Wissenschaft hat Peter Weingart mit dem Konzept der Medialisierung beschrieben: "Damit wird auf die ,Korrumpierungen' verwiesen, die sich daraus ergeben, dass diese Systeme sich an den Medien orientieren, die nahezu ausschließlich den Zugang zu der massendemokratischen Öffentlichkeit vermitteln. Sie geraten damit in den Sog der Operationslogiken der Medien, die unverträglich mit ihren eigenen sind." (Weingart 2005: 12). Konkrete Studien zur Rückwirkung der Mediendarstellung auf die Wahrnehmung in der Wissenschaft liegen z.B. von Kiernan (2003); Philips et al. (1991 ); O'Keefe (1970) und Shaw/Van Nevel (1967) vor. Obwohl häufig die Mediendarstellung zur Untersuchung der gesellschaftlichen Rezeption dient, liegen die konkreten Wirkungen dieser Darstellungen häufig im Dunklen. Die Medienwirkungsforschung steht vor schwierigen Aufgaben, da das Publikum nur in Relation zu einem bestimmten Medium zu definieren ist und sich heute extrem diversifiziert hat. Jenny Kitzinger zufolge ist "[ ... ] any theory about the media incomplete, if it does not take audiences (or ,readers') into account" (2004: 167).
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Reputation innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft. 7 Die Medien bzw. die Öffentlichkeiten, die durch die Medien repräsentiert und konstituiert werden, sind damit eine hochrelevante Umwelt für die Wissenschaft (Weingart 2003: 116; Weingart/Pansegrau 1998; Bucchi 1996). In den folgenden drei Abschnitten wird auf Studien und Entwicklungen in dem soeben skizzierten Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Medien eingegangen. Zunächst wird der Stand der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung über Wissenschaftspopularisierung grob nachgezeichnet. Daraufhin sind Untersuchungen zur Wissensvermittlung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgestellt, die vorrangig aus den Kommunikations- und Medienwissenschaften stammen und abschließend einige Anmerkungen zur Entwicklung des deutschsprachigen Wissenschaftsjournalismus gegeben.
1.
Wissenschaft und Öffentlichkeit in historischer Perspektive
Für die vielschichtigen Phänomene, die fortwährend trotz aller Unschärfen unter "Popularisierung" subsumiert werden, sind verschiedene Definitionen im Umlauf. 8 Die teilweise widersprüchlichen Konnotationen, mit denen der Begriff belegt worden ist, erschweren zudem jede Theorie- Modellbildung (Kretschmann 2003: 9). 9 Aufgrund der unklaren Grenzen zwischen dem, was als ,populär' bzw. ,populäres Wissen' (im Gegensatz zu einem wissenschaftlichen Wissen) bezeichnet wird, ist aber nicht nur die aktuelle Definition von ,Popularisierung' problematisch. Da die Konstruktionen von ,Wissenschaft' und vor allem der ,Öffentlichkeit' von der jeweiligen soziokulturellen Umwelt bedingt sind, ist der Phänomenbereich ,Popularisierung' als solcher auch in historischer Perspektive nicht kontingent. 10 7
An der Universität Bielefeld befasste sich ein Lehrforschungsprojekt mit diesem Thema ("Die Bedeutung der Medien für die Reputation von Wissenschaftlern"; s. www.uni-bielefeld.de/iwt/mw/lf/lehr.pdf). 8 Myers (2003: 265) stellt diesbezüglich fest, dass Popularisierung zumeist nur über negative Zuschreibungen abgegrenzt wird: "[ ... ] popularization of science is defined by what it is not [ ... ] texts about science that are not addressed to other specialist scientists with the assumption that text that are addressed to other specialists are something eise, something much better: scientific discourse" (Hervorhebung S.L.). 9 Kretschmann versucht den Popularisierungsbegriff zu schärfen, indem er ihn durch fünf Parameter abgrenzt, zum Beispiel ein "markiertes Wissensgefälle" (S. 14) was aus moderner Perspektive fragwürdig erscheint. 10 Zur historischen Begriffserörterung vgl. Daum 1998: 33-41; Kretschmann 2003: 8-14; Schwarz 2003: 222-25 oder Hünemörder 2002: 15-19.
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Bei dem Versuch, sich dem Phänomen "Wissenschaftspopularisierung" historisch zu nähern, haben wir es also mit mehreren Problembereichen zu tun: Zunächst ist eine klare Zuschreibung unmöglich, was grundsätzlich unter dem Phänomen zu fassen und wie bzw. ob es überhaupt gegenüber anderen Formen von Wissenskommunikation abzugrenzen ist. Außerdem ist der Bereich als solcher zu historisieren, das heißt jedwede Form von Popularisierung kann nur im jeweiligen sozialgeschichtlichen Kontext verstanden werden. Die Vermittlung von Wissen aus einer wissenschaftlichen Sphäre heraus in eine wie auch immer ausgeprägte Öffentlichkeit hat in jeder Epoche andere Hintergründe und neue Bedeutungen, weshalb sie nur im Hinblick auf die jeweiligen sozialen und kulturellen Umstände betrachtet werden kann. Insofern also kulturelle Umstände die Popularisierung von Wissen bedingen (wie im übrigen auch jede Forschung darüber, vgl. Lewenstein 1995: 345; Dornann 1990), sind Untersuchungen zur Wissenschaftspopularisierung auf getrennte Sprach- und Kulturräume beschränkt. Einen langfristigen historischen Überblick liefert Steven Shapin in seinem Artikel Science and the Public, worin er die historischen Diskontinuitäten im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit über die letzten dreieinhalb Jahrhunderte darstellt (Shapin 1990). Die Kommunikationswege zwischen beiden Sphären sind Shapin zufolge bis ins 19. Jahrhundert diffus, was vor allem dem Umstand zuzuschulden ist, dass die Wissenschaft selbst noch kein eigenständiger gesellschaftlicher Teilbereich, sondern eng mit der Theologie und kirchlichen Institutionen verbunden war. Seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelte sich langsam eine Industrie für die Produktion und Verbreitung ,populärer' wissenschaftlicher Texte, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend institutionalisierte und dann im 20. Jahrhundert durch die Etablierung und Ausdifferenzierung diverser Print- und Nonprint-Medien (z.B. Photographie, Radio, TV, Film, Museum usw.) professionalisierte (ebd.: 1001 ). Einen weiteren internationalen Überblick zur Thematik gibt die Aufsatzsammlung Expository Science von Shinn und Whitley, worin diverse Popularisierungsbeispiele aus den vergangeneu zwei Jahrhunderten dies und jenseits des Atlantiks beschrieben werden (Shinn/Whithley 1985). Die einzelnen Arbeiten zeigen anhand konkreter Fälle die komplexen Interaktionen zwischen den jeweiligen ,Popularisatoren' (beispielsweise Printmedien) und ihrem Publikum auf. Statt der verbreiteten Sicht über Wissenschaftspopularisierung als ein objektives und dem Publikum dienendes Produkt einer Wissenschaftskultur, schlagen Shinn und Whitley
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vor, selbige als eine "Exposition" anzusehen, 11 die sich in jeglichen Darstellungen über Wissenschaft zwischen bestimmten Initiatoren und einem Publikum widerspiegelt. ,Expository Science' wird hier als alternativer Begriff zur Popularisierung eingeführt, wobei es vorrangig um die an der ,Exposition' beteiligten Akteure geht, die - beispielsweise als Wissenschaftler- selbige als "Vehikel" benutzen, um sowohl die wissenschaftliche Gemeinschaft als auch die Gesellschaft zu beeinflussen (ebd.: x). Auch Roger Cooter und Stephen Pumfrey gehen in ihrer Publikation über die "Geschichte der Wissenschaftspopularisierung als kulturelle Praxis" auf die konzeptuellen und terminologischen Probleme des Bereichs ein (Cooter/Pumfrey 1994). Im Gegensatz zu den Versuchen, die Terminologie und Phänomenologie des Popularisierungsbegriffs zu erörtern, schlagen sie sogar die gänzliche Abschaffung des Begriffs "Wissenschaft" vor. Der wissenschaftliche Diskurs habe - im Gegensatz zu alternativen Wissensformen, wie populäres oder popularisiertes Wissen, Pseudowissenschaft, Erfahrungswissen oder handwerkliche Kenntnisse -jede Kultur in der Geschichte seit Aristoteles dominiert. Und stets hat es die Wissenschaft geschafft, die alternativen Wissenskulturen erfolgreich auszugrenzen und das Primat der Expertise fortwährend für sich selbst zu sichern. Auch alle Studien über die Popularisierung bzw. Kommunikation von Wissenschaft spiegeln nur diese Dominanz des wissenschaftlichen Diskurses wider und verhindem letztlich jede autonome Erforschung von Wissenschaft innerhalb einer Populärkultur (ebd.: 253). Während sich Cooter und Pumfrey vor allem auf Großbritannien beziehen, beschreiben John Bumham sowie Bruce Lewenstein die Entwicklungen der Wissenschaftskommunikation im öffentlichen Raum für die Vereinigten Staaten (Bumham 1987; Lewenstein 1992). Bumham vertritt die Ansicht, dass moderne Popularisierung auf Sensationalisierung beruht und leitet daraus die gewagte These ab, sie sei ein Äquivalent zu früheren Formen des Aberglaubens. Lewenstein beschreibt die generelle Entwicklung von Popular Science im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg. In seiner Untersuchung kommt er zu dem Schluss, dass ca. 1960 eine neue Ära einsetzte, in der plötzlich verstärkt Kritik geäußert wurde, während die zwei Jahrzehnte zuvor ein ungebrochener Enthusiasmus gegenüber der Wissenschaft in den Medien der USA vorherrschte (Lewenstein 1992: 62). II Ebd.: viii: "[ ... ] exposition is defined here as a sort of continuum ofmethods and practices utilized both within research and far beyond, for purposes of conveying science-based information, whether as pure cognition, pedagogy, or in terms of social and economic problems."
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Die deutschsprachige historische Forschung zur Wissenschaftspopularisierung hat vor allem die Periode des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Insbesondere ist hier die Dissertation von Andreas Daum Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert zu nennen, die zu weiteren Studien in diesem Forschungsbereich anregte (Daum 1998). 12 Daum bricht mit der traditionellen Sichtweise, nach der Wissenschaftspopularisierung vor allem ein Projekt des liberalen Bürgertums war, das - als Aufklärungsprojekt verstanden - hauptsächlich von Professoren vertreten wurde und arbeitet stattdessen die Rolle der "Vermittler" heraus. Diese "Vermittler" waren Daum zufolge Akademiker ohne universitären Anschluss oder Autodidakten, die sich als Begründer oder Herausgeber von populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Vereinen betätigten und in gemeinverständlichen Schriften über naturwissenschaftliche Themen berichteten. In seiner umfassenden Studie zeigt er die enorme Spannbreite populärer Vermittlungen und beschreibt beispielsweise die Arbeit der sogenannten Humboldt-Vereine und Zeitschriften wie Kosmos oder Natur. Auch Tiergärten, Ausstellungen und die Naturtheater an der Berliner Urania bis hin zu Anleitungen zum Gebrauch von Teleskopen und Mikroskopen bezieht Daum in seine Untersuchung ein. Wie viele andere Autoren verweist auch Daum auf die Pluralität der Phänomene und betont, dass Popularisierung gerade in der "Vielfalt intra-, inter- und extrawissenschaftlicher Kommunikation" aufgehe (Daum 1998: 27), wobei seine Betonung auf der "Dialektik zwischen spezialisierter Wissenschaft und nichtspezialisiertem Publikum" sowie der eigenständigen Rolle der "Vermittler" liegt. Deren Arbeit sei als "Synthese der beiden Sprachwelten" zu verstehen, in der man die Vorläufer des heutigen Wissenschaftsjournalismus erkenne (Ash 2002). Mitchell Ash hat mehrere jüngere deutschsprachige Forschungsarbeiten in seinem Literaturbericht Wissenschaftspopularisierung und Bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert zusammengefasst, wobei er vorrangig auf das "angeblich gestörte Verhältnis" zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit eingeht. Indem Ash die Entstehung, Entwicklung und Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert schildert, kommt er bezüglich der Bedeutung der Wissenschaftspopularisierung zu dem schlichten Schluss, dass es stets darum gehe, "welches Wissen von welcher Natur an welchen Orten von wem und mit welchen Folgen propagiert wurde" (Ebd.: 324). Die meisten Untersuchungen in dem von Ash umrissenen Forschungsfeld beziehen sich auf die Zeit um 1900, 12 V gl. dazu auch die ausführliche Besprechung von Mitchell Ash (2002). In seiner Einleitung bemerkt Daum, dass die Geschichte der Populärwissenschaft bislang kein Thema ftir die deutsche Historiographie war, eine Vernachlässigung die im internationalen Vergleich auffalle (Daum 1998: 141).
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insbesondere auf die Rezeption des Darwinismus, 13 wobei im deutschsprachigen Raum vor allem die Popularisierungen im Umfeld Ernst Haeckels von Bedeutung waren (vgl. Gasman 1998). Jüngere Untersuchungen zur Wissenschaftspopularisierung stellen auch Bezüge zur Gegenwart her, wie beispielsweise der Sammelband Wissenschaji, Politik und Öffentlichkeit von Mitchell Ash und Christian Stifter (2002). Konkrete Studien beschränken sichjedoch hauptsächlich auflokale Kontexte in Wien und Berlin und für die Jahrzehnte nach 1914 fehlen, zumindest in Deutschland, eingehendere Untersuchungen zur Wissenschaftspopularisierung. Somit ist, vor allem für den deutschsprachigen Raum, eine Lücke festzustellen, zwischen der hier zitierten wissenschaftsgeschichtlichen Forschung und neueren Ansätzen anderer Fachdisziplinen, die sich nun verstärkt dem Thema zu nähern beginnen. Letzteres ist Inhalt des folgenden Abschnitts.
2.
Forschungen zur Wissensvermittlung im 20. Jahrhundert
Das Thema der öffentlichen Vermittlung von Wissenschaft stößt in jüngster Zeit auch außerhalb der Wissenschaftsgeschichte auf großes Forschungsinteresse. Dabei wird das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Medien/Öffentlichkeit aus verschiedenen Perspektiven und fachdisziplinären Hintergründen neu beleuchtet. 14 Diese Arbeiten beschäftigen sich entweder mit dem generellen Verhältnis zwischen Wissenschaft und den Medien oder fokussieren auf konkrete Popularisierungsbeispiele und Kontroversen, die besondere Aufmerksamkeit in der Berichterstattung fanden. In jüngerer Vergangenheit wurde vor allem der Rezeption von Gen- und Biotechnologie in den Medien besondere Beachtung gewidmet, die im Rahmen eines großen EU-Verbundprojekts in Deutschland und anderen europäischen Staaten untersucht und in einem internationalen Rahmen verglichen wurden. 15 Diese Untersuchungen betrachten vor allem die Medienbe13 Zur Darwinismusrezeption vgl. Caudill 1987; 1989; Bowler 1996, bzw. international vergleichend Glick 1974. Für den deutschsprachigen Raum Kelly 1981; Michler 1999; Engels 1995; 2000 sowie Nöthlich et al. 2005. 14 Wiederholt werden hier "neue Sichtweisen auf ein altes Problem" gefordert (Felt/Nowotny 1993) oder das "neue alte Forschungsfeld" wieder aufgegriffen (Kretschmann 2003). 15 Für Deutschland vgl. Rampe! et al. 1998; 200 I; zum europäischen Ländervergleich z.B. Gutteling et al. 2002; Görke et al. 2000; einen internationalen Vergleich, der auch die amerikanische Situation berücksichtigt, lie-
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richterstattung in den 1990er Jahren, ziehen allerdings einige ihrer Analysen bis Anfang der 1970er Jahre zurück (vgl. Kap. VIII.2). Über die historische Entwicklung in der Darstellung von Wissenschaft in den Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts existiert immer noch wenig Hintergrundwissen. Empirische Langzeitstudien sind bisher nur aus Großbritannien, den USA und Italien bekannt. Eine umfassende Untersuchung über Wissenschaft in den britischen Printmedien führten Martin Bauer und Kollegen vom Londoner Science Museum durch (Bauer et al. 1995). Dieses ,Medienmonitoring-Projekt' befasste sich mit der Darstellung von Wissenschaft in der britischen Presse, wobei verschiedene Tageszeitungen und Wochenzeitschriften seit 1946 untersucht wurden. Bauer et al. identifizieren quantitative Zyklen der Wissenschaftsdarstellung, wobei sie "Qualitätspresse" von "populärer Presse" unterscheiden. Für die Qualitätspresse stellten die Forscher einen Anstieg der Wissenschaftsberichterstattung nach dem II. Weltkrieg von 400 Prozent (1946-1960) fest, danach eine Abnahme um 50 Prozent bis 1974 und daraufbin bis 1990 wiederum eine "Erholungsphase" mit einem erneuten Anstieg um 50 Prozent. In der populären Presse sind diese Zyklen nicht so stark ausgebildet und zeigen insgesamt, nach einem ersten Anstieg bis in die 1960er Jahre, eine leichte aber stetige Abnahme der Berichterstattung. Auch bezüglich der Bewertung von Wissenschaft in den Medien machen Bauer et al. zyklische Veränderungen aus, die sie, ähnlich wie es Lewenstein für die USA beobachtete (s.o.), grob in zwei Phasen einteilen: eine erste, von 1946 bis 1965, in der die allgemeine Stimmung positiv und enthusiastisch gegenüber Wissenschaft war und eine darauffolgende zweite Phase, in der sich der Ton der Berichterstattung eher ins negative wandelte und im Gegensatz zu wissenschaftlichen Belangen vermehrt öffentliche Interessensangelegenheiten berücksichtigt wurden. Wendepunkte dieser Beurteilungstrends sehen die Forscher in den frühen 1950er Jahren (von negativ zu positiv), den späten 1950ern (von positiv zu negativ) und in den späten 1970ern (wiederum von negativ zu eher positiv). Am Ende der Studie 1990 zeigte sich ein ungebrochener Trend zu einer positiven Berichterstattung (Bauer 2000). Deutlich schwieriger als die allgemeinen Stimmungstrends sind die Darstellungsverhältnisse einzelner Fachgebiete aufzuzeigen, da sich diese über die Zeit auch wissenschaftsintern verändern. In einer groben fern Kohring et al. 1999. Übergreifend für das EU-Verbundprojekt s. Durant et al. 1998; Gaskeil/Bauer 2001 und andere Studien zu Life Seiences in European Society unter: http://www.lse.ac.uk/Depts/lses/outline/index. html. Für Studien, die die öffentliche Meinung zur Biotechnologie betrachten erschien kürzlich im International Journal of Public Opinion Research ein Sonderheft (IJPOR 17 (I), 2005; vgl. dazu Peters 2005).
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Übersicht versuchen Bauer et al. jedoch zu zeigen, dass bis in die 1960er Jahre zunächst die physikalischen und technischen Wissenschaften dominierten und daraufhin eine stetige Verlagerung zur Biomedizin und den Sozialwissenschaften einsetzte. Nachdem Atomkraft, Raumfahrt und Informations- sowie Computertechnologie die wesentlichen Themen darstellten, rückte ab 1986 die "Neue Genetik" in den Fokus der Medien -ein Trend, dessen Ende zum Abschluss der Studie 1990 noch nicht abzusehen war. Obwohl in letzter Zeit vermehrt derartige Evaluationen zur Entwicklung der Wissenschaftsberichterstattung gefordert werden, stellt die hier geschilderte Langzeitstudie des Londoner Science Museums, die über 6000 Artikel von 1946 bis 1990 berücksichtigt, nach wie vor eine Ausnahme dar. In einigen Ländern ist sie bereits nachgeahmt worden, wie zum Beispiel von Massimiano Bucchi und Renato Mazzolini in Italien, die eine ähnliche Untersuchung über die Darstellung von Wissenschaft in der Tageszeitung Il Corriere della Sera von 1946 bis 1997 durchführten (Bucchi/Mazzolini 2003). Auch sie stellen insgesamt eine Zunahme der Wissenschaftsberichterstattung fest, insbesondere seit den frühen 1950er Jahren. Während in der Periode von 1946 bis 1950 lediglich 0,7 Prozent der Artikel wissenschaftlichen Inhalts war, stieg dieser Anteil auf zehn Prozent bis in die 1980er Jahre an und erreichte einen Höhepunkt mit 28,6 Prozent in der Periode von 1991 bis 1997. Vor allem ein enormer Anstieg biomedizinischer Themen machte hier diese sprunghafte Entwicklung aus, wobei die Zunahme seit Ende der 1970er Jahre vor allem in speziellen Beilagen über Wissenschaft und Gesundheit auftrat.16 Im Vergleich ihrer Ergebnisse mit der britischen Studie kommen Bucchi und Mazzolini zu dem Schluss, dass die intensive Zunahme der Wissenschaftsberichterstattung, sowie der Trend von einer Konsensdarstellung, zu einer stärkeren Betonung der möglichen Gefahren von Wissenschaft kein italienisches Phänomen ist. 17 Gegensätze sind dagegen in den nationalen Bezügen zu finden: Während in der britischen Presse mehr als 60 Prozent der Artikel über britische Wissenschaft berichteten, bezogen sich im Corriere della Sera lediglich ca. ein Viertel der Artikel auf wissenschaftliche Themen oder Ereignisse aus Italien. Ein weiterer Unterschied ist, dass Bucchi und Mazzolini die Institutionalisierung der 16 Die Wochenbeilage Corriere Scienza erscheint seit 1965; die Beilage Corriere Salute seit 1989; Bucchi zufolge erschienen die Mehrzahl der Artikel aus seiner Untersuchung in diesen Beilagen. 17 Auch Bauer macht an anderem Ort eine vermehrte Risikoberichterstattung in den 1980er und 1990er Jahren aus, die den Eintritt in die Risikogesellschaft markiere (s. Bauer et al. 2006).
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Wissenschaftsberichterstattung in besonderen Ressorts der Zeitung feststellen, während Bauer et al. betonen, dass viele ihrer Wissenschaftsartikel auch in anderen Sektionen als in den Wissenschaftsteilen erschienen. Bucchi und Mazzolini stellen eine Hypothese zu ihrer Langzeitbeobachtung auf: In der Berichterstattung über Wissenschaft trete ein merklicher Dualismus zwischen zwei unterschiedlichenjournalistischen Genres zu Tage, die man als Wissenschafispopularisierung und Wissenschaft als News bezeichnen könne. Das erstere Genre sei vor allem im Feld der Biomedizin vorzufinden und stellt Wissenschaft als gradlinigen, unkontroversen und zum allgemeinen Fortschritt beitragenden Prozess dar, während letzteres, vor allem im Bereich der Physikwissenschaften, mehr Beachtung auf Kontroversen und nachteilige Konsequenzen wissenschaftlicher Aktivitäten lege (Bucchi/Mazzolini 2003: 21 ). 18 Neben der italienischen Studie wurde auch in Bulgarien eine ähnliche Untersuchung durchgeführt, die einen Vergleich mit der britischen Situation vornimmt. Die Autoren stellen dabei die Wissenschaftsberichterstattung in dem totalitären sozialistischen System der modernen demokratischen Gesellschaft gegenüber und kommen zu dem Schluss, dass es grundsätzliche Unterschiede in der Darstellung der gesellschaftlichen Rolle von Wissenschaft gab, die sich in den 1990er Jahren langsam anglichen (Bauer et al. 2006). Weitere Studien zur Entwicklung der Darstellung von Wissenschaft in den öffentlichen Medien im 20. Jahrhundert sind aus Amerika und Australien bekannt (LaFollette 1990; Pellechia 1997; Metcalfe 1995). 19 Neben den empirischen Untersuchungen über die zeitliche Entwicklung der Wissenschaftsberichterstattung gibt es auch theoretische Annäherungen an die Geschichte dieses Verhältnisses im 20. Jahrhundert. Dabei geht es immer wieder um die grundsätzliche Frage, warum eine bestimmte Öffentlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt was über welche Wissenschaft erfahren sollte oder wollte, sowie um die jeweils an der Kommunikation beteiligten Instanzen und ihre Hintergründe, also wer, aus welchen Gründen was über welche Wissenschaft berichtete. Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, ist man hierbei von einer Aufklärungsidee zu neueren Sichtweisen auf die Komplexität des Phänomens ,Wissenschaftspopularisierung' vorgestoßen und hat dabei fest-
18 Dieser Trend scheint sich mit den neuerlichen Debatten über die Gefahren und Konsequenzen der Genetik allerdings umgekehrt zu haben. 19 Pellechias Ergebnisse zeigen, dass der Umfang der Wissenschaftsberichterstattung von 1966 bis 1999 in den hier untersuchten Tageszeitungen stetig zunahm. Auch Metcalfe kommt zu dem Schluss, dass seit den 1980er Jahren die Medienaufmerksamkeit gegenüber Wissenschaft in Austraben intensiv angestiegen ist.
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gestellt, dass es bei den Interaktionen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit keineswegs um eine unvoreingenommene Vermittlung von Wissen oder Information geht, sondern um Grenzen, die es in und um die Wissenschaft zu ziehen, zu verteidigen oder zu verschieben gilt: Zwischen einzelnen Fachdisziplinen, zwischen dem, was als wissenschaftlich oder unwissenschaftlich deklariert wird, zwischen Expertenund Laienturn sowie zwischen Wissenschaft und Politik (Feit 2002). Derartige Grenzverschiebungen zwischen Erklärungsautoritäten führten im Verlauf des letzten Jahrhunderts zu einer veränderten Balance zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, wobei die Medien eine zunehmend wichtigere Rolle spielten. Während die Qualitätszeitungen zu Beginn des Jahrhunderts bei der Wissenspopularisierung noch hauptsächlich auf Wissenschaftler zurückgriffen, ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Professionalisierung des Wissenschaftsjournalismus, eine neue Gruppe von Akteuren im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in Erscheinung getreten, denen eine zentrale Instanzfunktion zukommt. Ulrike Feit bezeichnet die Phänomene als "Protoprofessionalisierung", die sich stets in den Hybridräumen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit herausbildet und alternative Formen von Wissens- und Erkenntniszusammenhängen anbietet (Feit 2002: 62f). In den sich an den Bedürfnissen bestimmter Öffentlichkeiten orientierenden Massendemokratien findet diese heutzutage eine breite Aufmerksamkeit, was sich besonders eindrücklich in der global geführten Gentechnikdiskussion um die Jahrtausendwende zeige (ebd: 63). Auch die Forschungen im Umfeld des Public Understanding of Science beschäftigen sich mit den historischen wie gegenwärtigen Problemen der komplizierten Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit bzw. Medien (Felt/Nowotny 1993). Einen aktuelleren Überblick liefert hierzu der Sammelband von Meinolf Dierkes und Claudia von Grote Between Understanding and Trust - the Public, Science and Technology (Dierkes/von Grote 2000), der zeigt, dass die Forschungen wie auch die Kampagnen unter dem Begriff PUS bzw. PUSH letztlich politisch intendierte Anstrengungen sind, das Interface zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu kontrollieren. Das Programm ist aus diesem Grund vielfach als fehlgeleitetes Bemühen der Wissenschaft um Akzeptanz kritisiert worden. Peter Weingart zufolge wird die Öffentlichkeit, um deren Zustimmung geworben wird, dabei weder angemessen verstanden, noch dem demokratischen Modell gemäß ernstgenommen (Weingart 2003: 118). Auch Bruce Lewenstein kommt bezüglich dieser Akzeptanzbeschaffung zu dem Schluss, dass "alles Schreiben von Wissenschaftlern über Wissenschaft nur Versuche der Monopolisierung
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von Ressourcen für die Wissenschaft darstelle" (Lewenstein 1995: 349). Sogar ein Großteil des Wissenschaftsjournalismus bleibt Lewenstein zufolge in der positivistischen Sichtweise der Naturwissenschaft (,Seience') verhangen, nach der mit gesicherten Methoden eine naturgegebene Realität aufzudecken sei. Damit würde jedoch ein Bild von der Wissenschaft vermittelt, das mit den Ideen, die von den Vertretern des sozialen Konstruktivismus geäußert werden, unvereinbar ist (ebd.: 345). Zusammenfassend zeigt die jüngere sozialwissenschaftliche Forschung, dass das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit stets ambivalent und äußerst instabil ist und sich im Laufe des Ietzen Jahrhunderts mehrmals grundlegend verändert hat. Die Legitimität der Wissenschaft als eigenständiger Bereich ist dabei wiederholt in Frage gestellt und die Rolle der Öffentlichkeit in dem Verhältnis mehrmals abgewandelt worden. Die Dynamik des Phänomens spiegelt sich auch in dem Forschungsgebiet selbst wider. Aus verschiedenen fachlichen Perspektiven und unterschiedlichen methodischen Hintergründen werden immer wieder Fragen nach der Funktion und Bedeutung von Wissensvermittlung gestellt, wobei die jeweiligen kulturellen und sozialen Kontexte vermehrt in den Vordergrund der Aufmerksamkeit rücken. Seit dem II. Weltkrieg ging eine immer weitere Institutionalisierung in dem Hybridraum vonstatten, den Daum für das 19. Jahrhundert noch schlicht die "Vermittler" nannte, wobei nun viele verschiedene Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Interessen involviert sind. Diese Interessensgruppen, die Lewenstein in kommerzielle Verleger (1), wissenschaftliche Organisationen (2), Wissenschaftsjournalisten (3) und Regierungsorganisationen (4) einteilt, definieren Public Understanding of Science stets unterschiedlich im Sinne ihrer speziellen Belange. Gemeinsam betrachten sie jedoch die vordergründige Aufgabe der Wissenschaftspopularisierung in einer Vereinfachung und verständlichen Darstellung wissenschaftlicher Sachverhalte, wobei sie vorrangig auf den Nutzen der Wissenschaft für die Gesellschaft fokussieren. Diese Konsensdarstellung führte historisch gesehen zu einer positiven Ausstrahlung und enormer Publicity für die Wissenschaft, sowie zu einer über lange Zeit rein enthusiastischen Berichterstattung, in deren Folge die Wissenschaft fortwährend ein hohes Ansehen als "Nutzbringer für die Gesellschaft" genießt (Lewenstein 1992: 45ft).
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3.
Der deutsche Wissenschaftsjournalismus
Im Zuge der Ausdifferenzierung der modernen Massenmedien im 20. Jahrhundert hat sich der Wissenschaftsjournalismus immer weiter professionalisiert, institutionalisiert und ist - insbesondere seit den 1970er Jahren redaktionell wesentlich ausgebaut worden. Was die Printmedien betrifft, haben alle überregionalen Zeitungen seither die Berichterstattung über Wissenschaft erweitert, spezielle Ressorts eingerichtet und zunehmend ausgebildete Wissenschaftsjournalisten eingestellt. 20 Zudem erscheinen diverse populäre Wissenschaftsmagazine seit den 1970er Jahren auf dem deutschen Medienmarkt, die große Leserzahlen gewinnen konnten, 21 und auch in Rundfunk, Fernsehen und Internet sind eigenständige Wissenschaftsformate entstanden.Z 2 Neben diesen Neuerungen gab und gibt es explizite Kampagnen und Förderprogramme zur Entwicklung und zum Ausbau des Wissenschaftsjournalismus in Deutschland. Die Robert-Bosch-Stiftung initiierte 1979 ein Programm zur Förderung des Wissenschaftsjournalismus, ausgehend von der Erkenntnis, dass "Qualität und Umfang des Wissenschaftsjournalismus in den Medien der BRD nicht der zunehmenden Bedeutung entsprechen, die der Wissenschaft für unser individuelles und gesellschaftliches Leben zukommt." (Robert Bosch Stiftung 1979: 62). Ein neueres "Qualifizierungsprogramm Wissenschaftsjournalismus" wurde im Juli 2002 von der Bertelsmann-Stiftung eingerichtet, welches sich zum Ziel setzt, "die Qualität der Berichterstattung über Wissenschaft in Deutschland nachhaltig zu fördern. " 23 Derartige Programme werden in jüngerer Zeit von Bemühungen verschiedenerer Institutionen flankiert, Wissenschaft verstärkt aktiv in die Öffentlichkeit zu tragen, zum Beispiel mit der 1999 vom Stifterverband und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung ins Leben gerufenen Initiative Wissenschaft im
20 Zur redaktionellen Infrastruktur im Wissenschaftsjournalismus ist lediglich eine frühe Studie von Hömberg 1989 bekannt (dort S. 33 ff). Für den Hörfunk liegt eineneuere Arbeit von Lublinski (2004) vor. 21 Bezüglich der Leserzahl kann das 1978 von Peter Moosleitner gegründete PM-Magazin als eine Erfolgsgeschichte bezeichnet werden, weitere Wissenschaftsmagazine mit größeren Auflagen sind Bild der Wissenschaft und Spektrum der Wissenschaji. Seit Anfang 2005 bringen die Zeitungen Süddeutsche Zeitung und DIE ZEIT neue Wissenschaftsmagazine heraus, deren Erfolg momentan noch nicht absehbar ist (SZ-WISSEN und ZEITWISSEN).
22 Für den Rundfunk sind beispielsweise die Sendungen Forschung aktuell (Deutschlandfunk) oder Leonardo (WDR) zu nennen; für Fernsehsendungen vgl. Hömberg/Y ankers 2000. 23 Vgl. www.bertelsmann-stiftung.de/wissenschaftsjoumalismus.de.
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Dialol 4 oder dem massiven Ausbau der Presse- und Öffentlichkeitsabteilungen in Museen und Universitäten. Trotz dieser bemerkenswerten Entwicklungen ist der Wissenschaftsjournalismus als Forschungsgegenstand hierzulande bis heute verhältnismäßig unbeachtet geblieben. Sowohl von theoretischer als auch von der empirischen Seite ist die Forschungsliteratur überaus unbefriedigend und zum größten Teil veraltet. Mehr noch als in den bisher umrissenen Bereichen beklagen die Autoren, die über Wissenschaftsjournalismus schreiben, in Deutschland werde bisher kaum weiterreichende Forschung in diesen innovativen Bereich investiert (Flöhl 1990: 127)? 5 Weder existieren gesicherte Angaben über die quantitative und inhaltliche Entwicklung der Wissenschaftsberichterstattung, noch ist man in der theoretischen Beschreibung des Wissenschaftsjournalismus (mit Ausnahme einer Arbeit von Matthias Kohring, s.u.) über Erfahrungsberichte und "landläufige Annahmen" nennenswert hinausgekommen (Dunwoody 1985: 73). 26 In diesem Abschnitt wird der Versuch unternommen, aus der bruchstückhaften Literatur einige Erkenntnisse über das Gebiet Wissenschaftsjournalismus und seine jüngere Entwicklung zusammenzutragen. Im Gegensatz zu anderen Ländern (s.o.) gibt es hierzulande kaum Studien, die eine längerfristige Darstellung von Wissenschaft in den öffentlichen Medien in den Blick nehmen. Eingehender analysiert wurde die Wissenschaftsberichterstattung im deutschsprachigen Raum nur für die Österreichische und schweizerische Presse (Römer 1986; Schanne 1986). Für Deutschland sind bis auf die Fallstudie von Mathias Kepplinger zur Technikdarstellung (Kepplinger 1991) und die Medienanalysen zur Biound Gentechnologie (Kap. VIII.2) keine Langzeituntersuchungen über Wissenschaftsberichterstattung bekannt. Vorläufige Erkenntnisse können jedoch einem Evaluationsbericht der Robert-Bosch-Stiftung von 1998 entnommen werden (Göpfert/ Schanne 1998). 27 Darin wurden sieben Tageszeitungen auf ihre Darstellung von Wissenschaft in den Jahren 1980 und 1995 hin analysiert. Demzufolge hat die Wissenschaftsberichterstattung insgesamt zugenommen, was vor allem an der Steigerung in den überregionalen Qualitätszeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeut-
24 Vgl. http://www.wissenschaft-im-dialog.de. 25 Kohring (2006) liefert einen aktuellen Überblick über die deutsche und angloamerikanische Wissenschaftsjournalismus-Forschung. 26 V gl. hierzu Göpfert 1998 sowie die weiteren Publikationen zu den Colloquien der Rohert-Basch-Stiftung (z.B. Rohert-Basch-Stiftung 1985). 27 http://www.kommwiss.fu-berlin.de/fileadmin/user/upload/wissjour/ bericht.pdf.
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sehen Zeitung liegt. Die Wissenschaftsdarstellung fände vor allem in speziellen Rubriken auf gesonderten Seiten statt, wobei die Bedeutung dieses strukturellen Rahmens über die Zeit gewachsen sei: Während 1980 nur 29 Prozent der Wissenschaftsberichterstattung auf den dafür vorgesehenen Seiten zu finden war, lag der entsprechende Anteil 1995 bei 52 Prozent. Auch Bucchi und Mazzolini betonen die Bedeutung der Sonderseiten für ihre italienische Studie (s.o.). 28 Göpfert und Schanne kommen weiterhin zu dem Schluss, dass die Wissenschaftsberichterstattung in den deutschen Tageszeitungen eine äußerst faktische und informationsvermittelnde Berichterstattung ist, bei der wissenschaftliche Information klar im Mittelpunkt stehe und wenig Experimente mit Formen und Genres gemacht werden. Zudem sei eine Dominanz der "klassischen" Themen Medizin, Gesundheit, Umwelt und Technik feststellbar. Die Naturwissenschaften dominieren die Berichterstattung vor allem mit dem typischen Format "aktuelle Meldungen aus Wissenschaft und Forschung" (Göpfert/Schanne 1998: 27). Zu konstatieren sei ferner eine "starke Hinwendung zum Quellsystem der Wissenschaft'', mehr als die Hälfte der Wissenschaftsberichterstattung sei durch herkömmliche wissenschaftliche Veröffentlichungen wie Artikel in Fachzeitschriften, Kongressvorträge, öffentliche Präsentationen usw. veranlasst. Unterschiedliche Themen werden allerdings unterschiedlich präsentiert, im Gegensatz zu den streng wissenschaftlich kontextualisierten Naturwissenschaften würden Themen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften zurückhaltender dargestellt und "häufiger mit den verschiedenen Aspekten des akademischen Lebens verknüpft" (Ebd.: 28). Während der Evaluationsbericht leider ausschnittsartig bleibt, geht die theoretische Arbeit von Matthias Kohring der Funktion des Wissenschaftsjournalismus nach und fragt aus einer systemorientierten Perspektive wofür bzw. für wen selbiger zuständig ist (Kohring 1997; 1998)?9 In Anlehnung an die Systemtheorie von Niklas Luhmann, kontrastiert Kohring das "Paradigma Wissenschaftsjoumalismus" dem "Paradigma Wissenschaftspopularisierung". Letzteres beleuchtet Kohring aus einer kritischen Perspektive, wobei er Wissenschaftspopularisierung rein funktional als Vermittlung, Übersetzung und Akzeptanzbeschaffung von Wissenschaft in der Öffentlichkeit definiert (Kohring 1998: 176ff;). 28 Bader (1990) vergleicht die Berichterstattung in amerikanischen Zeitungen mit und ohne Wissenschaftstei1en. 29 In den 1990er Jahren sind eine ganze Reihe neuer Ansätze zu einer systemtheoretischen Journalismustheorie entstanden. Die Arbeiten von Kohring (1997; 1998) und Görke (1999; 2000) entwickeln die Ansätze von Rühl (1980) und Marcinkowski (1993) fort. Weitere Entwürfe liefern Blöbaum (1994) und Luhmann (1996). Für eine zusammenfassende Diskussions. Kohring 1997: 230-242.
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Dies wiederum sei Ausdruck einer Kommunikations- bzw. Vermittlungskrise zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, die letztlich eine Akzeptanzkrise der Wissenschaft widerspiegele (Kohring 1998). Als Vermittler zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit solle nun der Wissenschaftsjournalismus die Probleme lösen, der infolge auf eine "Akzeptanzfunktion" flir Wissenschaft und Technologie verpflichtet würde. Dies stelle jedoch eine "Zweckprogrammierung" des Journalismus dar, weil die Vermittlungs- und Akzeptanzprobleme der Wissenschaft in die Probleme des Wissenschaftsjournalismus umgedeutet werden, dessen Aufgabe angeblich darin liege, Wissenschaft zu popularisieren. Diese wissenschaftszentrierte Sichtweise der Kommunikationsforschung führte zu einer falschen Funktionszuweisung des Wissenschaftsjournalisten als "Dolmetscher der Wissenschaft" (Hömberg 1980: 46). Vor allem ältere Arbeiten konzipieren Wissenschaftsjournalisten vorrangig als Übersetzer, seine Arbeitsmethode sei die "berichtende Vermittlung wissenschaftlicher Aussagen mit Hilfe von Transfertechniken" (Haller 1987: 313). Eine systemtheoretische Journalismustheorie geht hingegen davon aus, dass die Funktion des Wissenschaftsjournalismus darin besteht, die "unabhängige Ausbildung von gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber dem Wissenschaftssystem zu ermöglichen" (Kohring 1998: 175). Somit ist der Wissenschaftsjournalismus gerade auf Distanz zu den Kriterien des von ihm beobachteten Systems (Wissenschaft) angewiesen und nicht auf eine Ausrichtung an demselben (Lublinski 2004: 22ft). Die "normative Zweckprogrammierung", nach der die (deutschsprachige) Kommunikationsforschung den Wissenschaftsjournalismus als "Postulat einer wissenschaftszentrierten Aufklärung" konzipiert, bewirkt dagegen den Verlust der unabhängigen journalistischen Beobachterrolle gegenüber dem Wissenschaftssystem. Journalismus müsse jedoch ein autonomes System sein, dessen Funktion in der Beobachtung des Gesellschaftssystems besteht, so Kohring. Die Aufgabe des Wissenschaftsjournalismus sei dementsprechend die unabhängige Beobachtung und Thematisierung der Interdependenzverhältnisse zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. 30 Wenn gesellschaftlicher Widerstand gegen Wissenschaft, beispielsweise in Form sozialer Bewegungen, pauschal als Forschritts- und Technikfeindlichkeit diskriminiert wird, thematisiere
30 Ähnlich argumentieren Collins und Pinch (1993: 144): "What should be explained is methods of science, but what most people concemed with the issues want the public to know is the truth about the natural world - that is, what the powerful believe to be the truth ab out the natural world [ ... ]. We agree that the citizen needs tobe informed [ ... ] but the information needed is not about the content of science, it is about the relationship of experts to politicians, to the media and to the rest ofus."
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man damit die Folgen einer verwissenschaftlichten Gesellschaft einseitig aus der Perspektive eines um seinen Führungsanspruch bangenden Wissenschaftssystems (Kohring 1998: 182; Noelle-Neumann/Hansen 1988). Kohring sieht daher das wesentliche Problem in der Missachtung des Wissenschaftsjournalismus als autonomes System: "Mit der grundsätzlichen Diskriminierung journalistischer Selektivität steht und fällt vielmehr die gesamte Konzeption des Wissenschaftsjournalismus im Paradigma. Es ist bemerkenswert, daß Journalismuswissenschaftler eine Theorie des Wissenschaftsjournalismus ausgerechnet mit der Entscheidung einleiten, ihrem genuinen Forschungsgegenstand die Autonomie abzusprechen." (Kohring 1997: 203) Wie wir sehen, ergibt sich aus einer derartigen systemtheoretischen Herangehensweise eine notwendige Trennung der Funktionsbereiche Wissenschaftsjournalismus und Wissenschaftspopularisierung, da beide verschiedenen gesellschaftlichen Systemen zuzuordnen sind. Kohrings Grundthese lautet, dass sich die deutsche Wissenschaftsjournalismusforschung immer noch viel zu sehr an der Wissenschaft orientiert. Eine zukünftige Theorie des Wissenschaftsjournalismus müsse diesen aber strikt vom "Paradigma der Wissenschaftspopularisierung" entkoppeln (Kohring 1998: 175). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass auf quantitativer Ebene auch in Deutschland eine Steigerung der Wissenschaftsberichterstattung über die Ietzen Jahrzehnte stattgefunden hat. Dieser Trend steht im Einklang mit einer Studie aus Österreich (Römer 1986) und mit den umfassenderen Forschungsarbeiten zur Darstellung von Wissenschaft in den Medien anderer Nationen (s.o.). 31 Die Feststellung gilt jedoch zunächst unter Vorbehalten, da bis auf Untersuchungen zu speziellen Issues wie Biotechnologie und roter Gentechnik (s. Kap. VIII) oder der Risikokommunikation bislang kaum konkrete Daten über die zeitliche Entwicklung der Wissenschaftsberichterstattung hierzulande vorliegen. 32 Auf theoretischer Ebene werden nach wie vor hohe Divergenzen bezüglich der Aufgabe des Wissenschaftsjournalismus sichtbar. Neben der 31 Jüngere Studien, die die Berichterstattung zur Humangenomforschung
hierzulande mit der in anderen Ländern vergleichen (für OB: Rödder 2005; Irland: O'Mahony/Schäfer 2005) deuten darauf hin, dass Deutschland in der Wissenschaftsberichterstattung nicht mehr hinterherhinkt, was auf dem Colloquium der Robert Bosch Stiftung 1985 noch festgestellt wurde (Robert Bosch Stiftung 1985; vgl. auch Bader/Göpfert 1994). 32 Zur Risikoberichterstattung vgl. Göpfert/Bader 1998; Dunwoody/Peters 1992.
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systemtheoretischen Zuschreibung einer "Funktion des Wissenschaftsjournalismus", wie sie Kohring vorschlägt, wird auf eine Reihe von weiteren, zum Teil widersprüchlichen wissenschaftsjournalistischen Aufgabenbereichen verwiesen. So unterteilt beispielsweise Michael Haller den Wissenschaftsjournalismus noch in drei Typen: Eine "berichtende Vermittlung wissenschaftlicher Aussagen", ein "faktenkritisches Überprüfen von Informationen und Ereigniskontexten" sowie ein "aussagenkritisches Überprüfen der Begründungshypothesen" (Haller 1987: 313). Eine konkrete Definition zum Wissenschaftsjournalismus bleibt daher vorerst offen. Wie Bucchi und Mazzolini für den italienischen Kontext eine Trennung zwischen Wissenschaftspopularisierung und Wissenschaft als News vorschlagen (s.o.), charakterisiert auch Hans Peter Peters mehrere Modi des journalistischen Umgangs mit Wissenschaft. Peters klassifiziert die massenmediale Thematisierung von Wissenschaft in "wissenschaftsorientierte Popularisierung" einerseits und "problemorientierte Berichterstattung" andererseits, wobei er letztere wiederum in eine "konsensvermittelnde Aufklärung" und eine "konfliktbetonende Berichterstattung über wissenschaftlich-technische Kontroversen" unterteilt (Peters 1994: 169ft).
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2. Teil Empirische Untersuchungen
IV Disku rsdynamiken 1975-2003
1.
Intensitätsverlauf der wissenschaftlichen Diskussion
Dass die wissenschaftlichen Kommunikationen unter dem Begriff ,Soziobiologie' wirklich erst ab 1975 ins Leben gerufen wurden, kann mit bibliometrischen Daten belegt werden. Aus Abbildung IV.1 ist zu ersehen, dass erst die breite wissenschaftliche Rezeption des Buches von Wilson ab 197 5 zu einem nachhaltigen wissenschaftlichen Begriffsgebrauch von "Soziobiologie" führte: Beginnend mit den Zitierungen von Wilsons Buch (untere Grafik) hat sich eine nennenswerte wissenschaftliche Diskussion unter diesem Begriff etabliert (obere Grafik). Die intensive Rezeption von Sociobiology: The New Synthesis kann damit als Auslöser des wissenschaftlichen Diskurses zur Soziobiologie belegt werden. Das Hauptaugenmerk der hier durchgeführten Analyse liegt auf den allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften Nature und Science (vgl. Kap. V.l & Anhang), die sowohl zum übergeordneten Thema der ,evolutionären Verhaltensbiologie', als auch konkret zur Soziobiologie von 1975 bis 1980 und von 1990 bis 1995 ausgewertet wurden. In Abbildung IV.2a) sind diejenigen Artikel gezeigt, die in den untersuchten Zeiträumen in Nature und Science explizit zur Soziobiologie publiziert wurden.1 Im Zeitraum 1975 bis 1980 wurden insgesamt 39 Artikel zur der Soziobiologie publiziert, 17 davon in Nature und 22 in Science. Im Zeit-
Diese Publikationen beschäftigen sich entweder explizit mit der Soziobiologie oder der Kontroverse (als Kommentarartikel, Korrespondenz oder Buchbesprechung) oder stellten unter dem Begriff ,Soziobiologie' originäre Forschungsarbeiten vor (lediglich drei von insgesamt 37 Artikeln). Diese Originaldaten sind in Kapitel V dargestellt (Tabelle V.l & V.2)
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raum 1990 bis 1995 lassen sich dagegen in Nature keine und in Science lediglich zwei Artikel finden, die sich explizit auf die Soziobiologie beziehen. Als Vergleich sind in der Grafik IV .2b) die Artikelhäufigkeiten zur evolutionären Verhaltensbiologie gezeigt, wobei eine ähnliche Verteilung der Publikationen zwischen den 1970er und 1990er Jahren zu sehen ist. Obwohl hier nur die zwei Sechsjahres-Zeiträume von 1975 bis 1980 und 1990 bis 1995 ausgewertet wurden, kann mit Daten aus dem Web of Science belegt werden, dass der scharfe Trend einer abnehmenden Darstellung der Soziobiologie über den gesamten Untersuchungszeitraum besteht. 16 14 Z"
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